Spielarten des Gottes-Genusses: Semantiken des Genießens in der europäischen Frauenmystik des 13. Jahrhunderts 9783666367274, 9783525367278, 9783647367279


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German Pages [376] Year 2015

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Spielarten des Gottes-Genusses: Semantiken des Genießens in der europäischen Frauenmystik des 13. Jahrhunderts
 9783666367274, 9783525367278, 9783647367279

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Historische Semantik

Herausgegeben von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz

Band 25

Andrea Zech

Spielarten des Gottes-Genusses Semantiken des Genießens in der europäischen Frauenmystik des 13. Jahrhunderts

Vandenhoeck & Ruprecht

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-2953 ISBN 978-3-525-36727-8 ISBN 978-3-647-36727-9 (E-Book) ISBN 978-3-666-36727-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Die Pastellkreidezeichnung mit dem Titel »Zwei – Eines« (2015) wurde von der Künstlerin Marlies Zech für diese Arbeit entworfen und ausgeführt. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Theoretische Vorüberlegungen I.1 Zur Wortanalyse: Plädoyer für einen erweiterten Begriff von ›Bedeutung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.2 Zur Bildanalyse: Zwischen mittelalterlichen Selbstbeschreibungen und kognitiven Metapherntheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.3 Zu den performativen Inszenierungen: Genuss im Vollzug kraft Ausdehnungen einzelner Bilder über ganze Bildfelder . . . . . . . .

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Teil II: Textanalysen II.1 Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens . . . . . . . . . II.1.1 Erste Wortanalyse: Der vielseitige Gebrauch von gebruchunge und gebruchen im Fließenden Licht . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2 Zweite Wortanalyse: Die dynamisierende Verwendung von ghebrukelecheit, ghebruken und ghebrukeleke in den Visioenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.3 Dritte Wortanalyse: Die wohldosierte Einsetzung von fruiction im Mirouer des simples ames . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

II.2 Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens . . . . . . . . . . . . II.2.1 Bilder der »Trunkenheit« im Fließenden Licht und im Mirouer II.2.2 »Genießender Umgang durch das Rosenherz« in den Visioenen und »Saugen vom Zedernmark« im Mirouer . . . . II.2.3 »Sturz« in den »Strudel des Genießens« in den Visioenen und »Fall« in den »Abgrund der Vernichtung« im Mirouer . . . . . II.2.4 »Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech) als Intensivierung des Begehrens und Genießens II.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3 Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.1 Mystische Landschaften als Topographien des Genießens . II.3.2 Genuss Gottes im textuellen Vollzug: Inszenierungen von Gegenwärtigkeit und Ewigkeit des Genießens . . . . . . . . II.3.3 Genießen als »Nahrung aufnehmen«: Erkenntnis Gottes im Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 197 211 218 235 246

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249 257

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289

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

… meinem Doktorvater Prof. Burkhard Hasebrink für immer wieder neu faszinierende Inspiration, unendliche Geduld und konstante Unterstützung. … der Gerda-Henkel-Stiftung für die Bewilligung eines zweijährigen Stipendiums inklusive Forschungsreisen nach Antwerpen, Paris und Leiden. … Dr. Geert Warnar für alle Anregungen und Gespräche sowie seine spontane Hilfsbereitschaft ganz am Schluss. … Prof. Veerle Fraeters und Prof. Frank Willaert für interessante Diskussionen. … Prof. Nigel F. Palmer für das Wechselspiel aus Verunsicherung und Ermutigung bei wissenschaftlichen Fragen, ebenso für die netten Einladungen zum Kaffee in der Freiburger Fußgängerzone. … Dr. Almut Suerbaum für ihre klugen Anmerkungen und ihre dezente, freundliche Begleitung. … meinen ehemaligen Kollegen Dr. Bent Gebert, Susanne Bernhard, Dr. Nadine Krolla und Imke Früh sowie Dr. Bal‚zs J. Nemes für unsere hitzigen und witzigen Unterhaltungen bei Kaffee und Pralinen inklusive ihrer Bereitschaft, Korrektur zu lesen. … meinem Bruder Markus für kritische, aber nützliche Hinweise. … und natürlich meinen Eltern.

Vorwort Von Dr. Geert Warnar (Univ. Leiden, NL)

»Spielarten des Gottes-Genusses« präsentiert sich als ein ambitiöses Projekt, das ein außerordentlich weites Forschungsfeld umspannt, nämlich die Literatur der sogenannten mittelalterlichen »Frauenmystik«. Die Autorin hat hierfür drei literarische Hochkaräter aus dem 13. Jahrhundert ausgewählt, denen internationale Bedeutung im deutschen, französischen und niederländisch-flämischen Sprachraum zukommt: Mechthilds von Magdeburgs Fließendes Licht der Gottheit, die Visioenen der südniederländischen Hadewijch und den Mirouer des simples Ames von Marguerite Porete. Diese Texte haben – ebenso wie die mit ihnen verbundenen Autorinnen – alle ihre eigenen, reichen Forschungstraditionen, die literaturwissenschaftliche, theologische, historische Ansätze sowie Gender Studies umfassen. Genau zwischen diesen drei Texten wurden häufig in der Forschungsliteratur Bezüge hergestellt, obgleich keinerlei historische Indikatoren für direkte Kontakte oder Verbindungen vorliegen. Es ist ein besonderes Verdienst dieser Untersuchung, dass es der Autorin gelungen ist, kreative und innovative Lesarten zu entwickeln, um so zu einem Verständnis der einzelnen Texte zu gelangen, das neue Modelle für komparative Analysen bereitstellt, die thematisch Texte miteinander verbinden. In dem Punkt kann dieses Buch zu einem produktiven Fortschritt in der Erforschung mittelalterlicher Frauenmystik beitragen, wobei diese neue Perspektive auf die drei Texte und damit deren Autorinnen lediglich eine Voraussetzung für die Untersuchung beinhaltet. Im Zentrum des Buches steht die Bedeutungsvielfalt von »Gottes-Genuss« oder »Genießen Gottes« in den drei ausgewählten Texten. Die Autorin verwendet hierfür ein semantisches Verfahren, das im ersten Teil der Untersuchung in seinen drei Dimensionen ausgeführt, doch schon in der Einleitung und Hinführung gebündelt präsentiert wird. So wird deutlich, dass die Autorin in der Regel auf Bezüge zur Autorfrage und Textgeschichte zugunsten von einem auf die Texte fokussierten Verfahren verzichtet. Stattdessen entwickelt sie im zweiten Teil des Buchs eine konkret umgesetzte »Semantik des Genießens« durch analogische Bezüge: Zuerst wird in den spezifischen Wortanalysen in separaten Kapiteln das einzelsprachliche Deutungspotential von »Genuss« und »Genie-

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Vorwort

ßen« entfaltet, bevor die Untersuchung allmählich zur Bildlichkeit übergeht, die sowohl Metaphern als auch Allegorien einschließt und die Texte zunehmend aufeinander bezieht. Durch die Bildlichkeit werden neue Bedeutungsdimensionen sichtbar, die im Zusammenspiel der drei Texte entstehen. Zuletzt werden die performativen Semantiken von »Genuss« bzw. »Genießen« aufgezeigt. Dem Ganzen wird eine knappe Skizze über die lateinischen Äquivalente vorausgeschickt. Zusammen ergibt sich infolgedessen ein komplexes und vielschichtiges, polyphones Kaleidoskop von »Gottes-Genuss« bzw. »Genießen Gottes«. Dieses Buch ist ein substantieller Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Genießens, ebenso eine (unbeabsichtigte) Studie über berühmte Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts. In meiner Rolle als Niederlandist möchte ich besonders die Aspekte hervorheben, die für die Hadewijch-Forschung gewinnbringend sind: Indem die Untersuchung durch ihr komparatistisches Verfahren Forschungszweige zusammenführt, wird niederländisch-flämisches Material in andere theoretisch elaborierte Kontexte, nämlich die der germanistischen Mediävistik, integriert. Speziell für die Visioenen ist diese neue semantische Agenda äußerst erhellend und aufschlussreich. Folgendes trägt zu einem besseren Verständnis des mittelniederländischen ghebruken bei: Zum einen die sorgfältige und detaillierte Interpretation des Textes, welche mit einer soliden Wortanalyse des »Genießens« am Anfang des zweiten Teils beginnt, zum anderen die luziden Beobachtungen zur Bildlichkeit bei Hadewijch, die schließlich durch die gustalen Dimensionen und eucharistischen Bezüge erweitert und vertieft werden. Es verdeutlicht die außergewöhnliche Verdichtung von Bild und Wort, Metapher und Bedeutung des visionären Diskurses. Hervorzuheben sind auch der kunstvolle lineare Aufbau oder die Programmatik der ersten Vision etc. Die Untersuchung eröffnet innovative Perspektiven sowohl in Bezug auf Details in den einzelnen Visionen als auch auf den Text als Ganzes betrachtet. Vielleicht erscheint das bewusste Aussparen von Hadewijchs Gesamtwerk anfangs als Verlust, der jedoch durch die gründliche Studie der Visioenen in einen expliziten Gewinn verwandelt wird. Indem neue Modelle der Lektüre und des Verstehens solcher Koryphäen wie z. B. Hadewijchs Visioenen entfaltet werden, bieten sich in Anschluss an dieses Buch zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte für die Forschung (z. B. der Vergleich mit Van seven manieren van minnen der Beatrice von Nazareth). Zusammenfassend: Das vorliegende Buch entwickelt ein inspirierendes Modell für die komparative Analyse von elaborierten literarischen Texten. Gleichzeitig bietet es eine Erweiterung für die Semantik des mystischen Genießens im Spätmittelalter, sogar noch mehr : Die Untersuchung zeigt auf eindrückliche Weise, wie moderne Lesearten einige (vielleicht schon ein wenig versteinerte) Monumente mittelalterlicher Literatur beleben können.

Einleitung

Die Bedeutung von Genuss im heutigen Sprachgebrauch lässt sich auf den scheinbar einfachen Nenner ›gutes Essen, guter Alkohol und guten Sex‹ bringen. Offenbar ist Genuss in erster Linie unmittelbar an Körper und Sinnlichkeit gekoppelt, was sowohl seine kulinarischen als auch physischen Ausprägungen zeigen. Künstlerisch inszenierten, ästhetisch organisierten Genussformen wie Film, Theater, Tanz, Musik, Literatur, Malerei kommt insofern eine Sonderstellung zu, als diesen ihre Sinnlichkeit zwar eingeschrieben ist, sie aber gleichzeitig darüber hinausweisen. Der sinnliche Gehalt künstlerischer Gebilde ist nur mit einer gewissen Distanz goutierbar, die durch die Imagination als einen zentralen Katalysator des Genießens freigesetzt wird. Doch streben gerade aktuelle Performances1 oder Aufführungen der Neuen Musik danach, diesen Abstand möglichst zu verringern und den Rezipienten als Teil des Kunstwerks einzubeziehen, so dass Werk, Produktion und Rezeption ineinander aufgehen. Die feinen Unterschiede und ersten Fragestellungen zeigen sich vor allem in der Art und Weise, in der man genießt – bewusst oder selbstvergessen. So kann jemand ›bewusst‹ eine Stimmung, ein Gericht oder eine Berührung genießen, aber Genuss kann auch in dem allmählichen Übergleiten oder plötzlichen Durchbruch von Grenzen entstehen, die zwischen Innen und Außen oder dem Eigenen und dem Anderen liegen.2 Die zum Genuss dazugehörenden Dispositionen wie Konzentration, Aufmerksamkeit und Hingabe können sich bis zur Selbstvergessenheit und bis hin zum Selbstverlust im Rausch steigern. Die Übergänge zwischen diesen beiden Formen sind mitunter fließend, was ab einem bestimmten Punkt zur Überlappung führen kann, wie sich beispielsweise beim Alkohol- oder Liebesgenuss feststellen lässt. Das Verhältnis zwischen Selbsterfüllung und Selbstverlust ist nicht immer spannungsfrei, je nach Per1 Vgl. exemplarisch die Performance »Thomas Lips« von Marina Abramovic´, dokumentiert in folgendem Band: Abramovic´ (1998), S. 98–105. Der Titelname ›Thomas‹ spielt auf den zweifelnden Christusjünger an, der das Heilige berühren wollte, um sich seiner zu vergewissern. 2 Bataille, L’Êrotisme (1957); Foucault, Pr¦face — la transgression (1963).

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Einleitung

spektive kann es bis zur völligen Kongruenz reichen oder eine ausdrückliche Unterscheidung bedeuten. Mit der ersteren Form von Genuss assoziiert man Zustände wie Entspannung, Anregung, Muße, Lust und Ruhe; wobei alles, was potentielle Unlust oder nur Störung verursacht, ausscheidet.3 Dagegen sind für rauschhafte Genüsse jene paradoxen Kombinationen aus polaren Extremen kennzeichnend, die scheinbar diametral Entgegengesetztes wie Stress, Schmerz, Angst, Schwindel, Ohnmacht oder Gewalt integrieren. Solche ineinander überführten Extreme werden in Filmen wie z. B. Ang Lees »SÀ, jiÀ« (2007)4 dermaßen enggeführt, dass (Selbst-) Erweiterung und (Selbst-)Verlust eine einzige Signatur bilden. Auch der überraschende Erfolg eines literarisch eher trivialen Bestsellers wie »50 Shades of Grey« von E. L. James könnte darauf hinweisen, dass auch in der Breite unserer Gesellschaft Wünsche und Phantasien existieren, die etwa im spielerischen Genießen des eigenen Selbstverlusts bestehen. Der Schmerz der Protagonistin wird hierbei zum Katalysator der Lust und zeigt, dass die rein positiven Seiten des Genießens offenbar mit der Langeweile zu kämpfen haben. Die Texte aus der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts allerdings könnten, wären sie dazu imstande, darüber nur müde lächeln – weil sie weit kühner sind, was Inszenierungen und Überformungen des Genießens anbelangt. So steht im Lexikon ästhetischer Grundbegriffe unter dem Stichwort »Genuss/Vergnügen« auch ein Abschnitt mit dem Titel »Mystik des Begehrens«, in welchem der Genuss als »völlige Selbstaufgabe, Aufgehen im Objekt, ein SichVerlieren« beschrieben wird.5 Der Hauptakzent liegt auf dem Selbstverlust, was eine entscheidende Verschiebung markiert, da diese Definition von Genuss sich an einer ambivalenten Schnittstelle befindet, wo Schmerz und Lust sich ge-

3 Ein Gegenbeispiel wäre das französische la petite mort für den sexuellen Orgasmus (jouissance), das ebenso eine semantische Koppelung von höchster Lust und Tod vornimmt. Auch die im film noir gezeigten Verschränkungen von Tod oder Gewalt mit Liebe und Lust verweisen auf solche in der heutigen Kultur existenten und nach wie vor zirkulierenden Energien, vgl. hierzu Bronfen (2004). 4 Der Film wurde von dem taiwanesischen Regisseur Ang Lee nach einer Kurzgeschichte von Eileen Chang gedreht. In »SÀ, jiÀ« (Übers.: Gefahr und Begierde / Lust and caution) geraten nach der Besetzung Chinas durch Japan ein chinesischer Kollaborateur (Herr Yi) und eine patriotische Spionin (Wang Jiazhi), die als Lockvogel auf ihn angesetzt wurde, in eine Verstrickung aus Sex, Gewalt und Begehren, die mit dem Todesopfer der Spionin zugunsten des Kollaborateurs endet. Ang Lee macht in einschlägigen Szenen deutlich (welche 2007 unzensiert nur in Hongkong im chinesischen Kino zu sehen waren), dass zwischen den sadistischen, an Vergewaltigung grenzenden Sexualpraktiken des Herrn Yi und dessen Folterverhören implizite Bezüge bestehen mögen, lässt aber offen, weswegen sich Wang Jiazhi immer intensiver und rückhaltloser, wie von einem inneren Sog getrieben, darauf einlässt. Weil sie den Selbstverlust als Genuss erlebt? 5 ÄGB, Bd. 2 (2001), S. 709–730, bes. S. 717f.

Einleitung

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bündelt ineinander auflösen.6 Sie eröffnet ein paradoxes Grenzgebiet zwischen maximaler Erfüllung und extremem Verlust des Selbst, das äußerst unterschiedlich besetzt werden kann, aber solche Spannungsverhältnisse wie Begehren und Befriedigung, Schmerz und Lust, Entzug und Erfüllung aufwirft, ohne sich jeweils auf eine klare Trennung zwischen den beiden zu beschränken. Als »Hintergrund einer Metaphysik des Genusses« wird diese Kennzeichnung der christlichen Mystik und des Pietismus »schon« für die frühe Neuzeit in Anspruch genommen, was auf eine eklatante Lücke hinweist. Erst zu diesem Zeitpunkt angesetzt, wird bei der Erwähnung jener »schon im 17. Jh. geläufige[n] Version der lateinischen Unio mystica« völlig ausgeblendet, dass in den im Vorfeld entworfenen Diskurslinien bereits ausführliche und überaus kreative »Stimmen […] unaufhörlich murmelten.«7 Eindrücklich lässt sich diese Behauptung für den prekären Grenzbereich der Frauenmystik8 in der Volkssprache9 verifizieren, die ihre Grenzgänge häufig in dem Spannungsfeld zwischen Heiligkeit und Inquisition situierte. Bereits im 13. Jahrhundert entwickelte sie in ihren Texten aisthetische Formen des Genießens, die sich sowohl durch ihre Radikalität und Erotik als auch durch eine spezifische Ausgestaltung in Form zum Teil vielseitig angewandter Bezeichnungen und einer kühnen, »lebendigen«10 Metaphorik auszeichnen. Texte wie Das fließende Licht der Gottheit der Mechthild von Magdeburg,11 die Visioenen der Hadewijch von Antwerpen12 und Le mirouer des simples Ames der

6 Heute, in einer säkularen Kultur, scheinen insbesondere die sexuellen Genüsse mitunter die gesamte Last der sakralen Dimensionen aufnehmen zu müssen. Entgrenzung und Übersteigerung spielen vor allem in den medialen Inszenierungen sexueller Genüsse wie Film, Video, Theater, Literatur eine zentrale Rolle. Dadurch wird ein komplexes Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und deren medialer Vermittlung hergestellt, was sich analogisch mit der kunstvollen Inszenierung des Genießens in den Texten der Frauenmystik verbindet. Largier hat solche analogischen Bezugspunkte zwischen Mittelalter und Moderne in mehreren Einzelstudien entfaltet: Largier, Kunst des Begehrens (2007). 7 Foucault, L’ordre du discours (1971). 8 In dieser Arbeit wird der spezielle Begriff »Beginenmystik« durchgängig durch den allgemeineren der »Frauenmystik« ersetzt. Grundsätzlich vgl. hierzu Wegener (2013), die den Begriff der »Beginenmystik« an sich problematisiert, da sie ein eigenes, separates Konzept dafür bezweifelt. Vgl. darüber hinaus Peters (1988). 9 Vgl. speziell zu der Dynamik und dem größeren Kreativitätspotential der Volkssprache in der Mystik die Untersuchung von Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 32–51. 10 Ricoeur (1975). 11 Sämtliche Zitate des Fließenden Lichts folgen der Ausgabe von Vollmann-Profe (2003). Hinzugezogen wurde außerdem Neumann (1993), der einen Bd. II mit Untersuchungen zum Fließenden Licht verfasst hat, der von Vollmann-Profe herausgegeben wurde. Im Folgenden abgekürzt mit Neumann II (1993). 12 In der Hauptsache wurde wegen der deutschen Übersetzung und des profunden Kommentars die zweisprachige Ausgabe (mnl./dt.) von Hofmann (1998) für die Visioenen ver-

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Einleitung

Marguerite Porete13 stellen jedes Deutungsvorhaben vor hohe Herausforderungen, da sie aufgrund der Komplexität ihrer Sprache, ihrer Gegenstände und Darstellungsarten nicht selten dunkel wirken. Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Vorhaben, eine Semantik des Genießens direkt aus den Texten zu erschließen, setzt keineswegs historisch existente Kontakte voraus, sondern bezieht sich einzig und allein auf die Textgrundlage und die dadurch zugänglichen, vor allem in Bezeichnungen, Metaphorik und Inszenierungen nachweisbaren analogischen Beziehungen. Dennoch ist es hierdurch möglich, eine Semantik des Genießens aus den Texten selbst zu erschließen, die sich gegenseitig deuten können.14 Offenbar gingen die Texte von einem ähnlichen Bestand aus und zeigen Innovatives dann in der Gestaltung und Entwicklung ihres Themas durch Variationen, Sprachspiele und Bruchstellen in den Bezeichnungen, Metaphern und Inszenierungen. Auf diese letztere, performative Dimension dieser komplexen Semantik verweist der Titel dieser Arbeit, der von »Spielarten des Gottesgenusses« spricht. Denn das Genießen Gottes erhält in jedem Text eine spezifische Ausformung, so dass Unterschiede ebenso greifbar bleiben wie Parallelen. »Spielarten des Gottesgenusses« schließen die enorm reichhaltige Palette an beglückend-erfüllenden wie schmerzlich-entbehrenden Facetten mit ein, die in allen Texten eine – im wörtlichen Sinn verstandene – zentrale Rolle spielen. Das Sprechen über das Genießen Gottes, die fruitio dei, trägt die paradoxen Merkmale mystischen Sprechens in sich eingeschrieben.15 Indem es sich als Partizipation an der Heiligkeit und der Ewigkeit der Göttlichkeit begreift, zeichnet sich ein solches Sprechen primär durch ein elitäres Bewusstsein aus, das sich in der Kommunikation einer grundsätzlichen Unsagbarkeit und einer vielstimmigen Verborgenheit, die nur der eigenen Erfahrung zugänglich ist, ausprägt. Die Texte inszenieren ihr Sprechen als eine paradoxe Doppelform aus Reden und Schweigen,16 Enthüllen und Verbergen,17 Erscheinen und Entzug.18

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wendet. Sie gliedert sich in Text/Übers. (Bd. 1/a) und Kommentar (Bd. 2/b). Ansonsten vgl. die sorgfältige Ausgabe von Imme und Willaert (1996). Der Mirouer wird zitiert nach der Ausgabe von Guarnieri (fr.) und Verdeyen (lat.) (1986). Vgl. für die Übers. in der Regel Gnädinger (1987), Abweichungen von ihr habe ich alternativ mit einem eigenen Vorschlag übersetzt. Vgl. folgende Gesamtdarstellungen zu allen drei Texten: Ruh, Frauenmystik (1993), S. 158–232; 245–292; 338–371; McGinn (1999), S. 358–465; Langer, Christliche Mystik (2004). Grundlegend hierzu: Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984); ders., Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens (1986); ders., Überlegungen zur Revision (1997); Haas, Sermo mysticus (1979). Luhmann und Fuchs (1989). Emmelius, Verborgene Wahrheiten (2004). Seel (2003).

Einleitung

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Daher sind semantisch bedeutsame »Leerstellen«19 in Form von Aussparungen, Redeabbrüchen oder Ellipsen mindestens ebenso wichtig wie die Rede selbst, weil sie einen inhärenten und notwendigen Teil der Kommunikation darstellen. Da das Genießen Gottes ausschließlich im Medium der Sprache in den Texten präsent ist, baut sich eine starke Spannung aus Gegenwärtigkeit und Abwesenheit auf.20 Sprache ist an und für sich Medium, nicht die Sache selbst, doch gelingt es den Texten, das Genießen in seiner Abwesenheit in Präsenz zu überführen,21 indem es zu performativen Inszenierungen greift. Von den Arbeiten, die in jüngster Zeit zum Thema Genuss und Begehren erschienen sind,22 ist vor allem der Essayband von Niklaus Largier hervorzuheben.23 Die darin fokussierte Verbindung des Genießens zur kunstvollen, intermedialen Inszenierung spielt in der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle. Ebenso weist das analogische Verfahren, welches Largier in seinen perspektivenreichen Studien anwendet, Parallelen zu der hier zugrundegelegten Rahmung der Untersuchung auf, die das spannungsreiche Verhältnis zwischen (Frauen-)Mystik und (Post-)Moderne ebenfalls auslotet. Largier gelingt es zu zeigen, wie fruchtbar so angelegte Untersuchungen sowohl für die Perspektivierung der Moderne als auch des Mittelalters sein können, da sich das Verhältnis zwischen alt und neu häufig umkehrt. In der Verbindung aus Literatur, Kunst und Film entwirft er ein Panorama des Genießens, das sich in erster Linie aus der Intensität des Begehrens speist und dadurch Bezüge beispielsweise zur mittelalterlichen Mystik herstellt. Die Unterscheidung zwischen authentisch und artifiziell spielt ihm zufolge bei einer spezifischen »Schule der Sinne« keine Rolle mehr, da diese ohnehin gegen die Natur ausgerichtet ist, was Largier an der asketischen Praxis ebenso zeigt wie beispielsweise an dem Roman A rebours von Joris Karl Huymans. Als progressiv, inspirierend und durchdacht hat sich dieser Essayband sowohl in Zustimmung als auch in Widerspruch erwiesen. Die vorliegende Arbeit möchte sich dahingehend von Largier abgrenzen, dass sie die Alterität des mystischen Genießens trotz aller Analogien zur (Post-) Moderne deutlich voraussetzt, was bei ihm mitunter verschwimmt. In einer sinnentleerten Moderne, in welcher der Einzelne ganz auf sich selbst zurückgeworfen war, wurden mit dem Heils- und Verbindlichkeitsverlust aller festen Bezugsgrößen Genuss und Begehren als zweckfreies Spiel, als reiner Selbstzweck oder als Kompensation der individuellen Einsamkeit verstanden, doch im Kontext der mittelalterlichen Texte ist das keineswegs der Fall. Obgleich die 19 Iser (1994). 20 Für die Moderne bot sich genau an dieser Sprachskepsis und in der Redeverweigerung der Mystiker ein interessanter Anknüpfungspunkt, vgl. hierzu: Wagner-Egelhaaf (1989). 21 Gumbrecht (2010); Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit (2007). 22 Rinke (2006). 23 Largier, Kunst des Begehrens (2007).

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Einleitung

Texte das Genießen intermedial und kunstvoll inszenieren, bleiben sie dennoch nachdrücklich auf die Gegenwärtigkeit Gottes und auf Gott selbst ausgerichtet, der finales Ziel und endgültige Ausrichtung allen Handelns und Strebens darstellt und dessen Genuss nach dem Tod ewig sein soll. Die sich daraus ergebende Spanne zwischen Analogie und Alterität bindet Largier nicht nachdrücklich genug in seine Überlegungen ein, besonders bei Hadewijch,24 aus deren Visioenen er nur die siebte Vision herausgreift, die in vieler Hinsicht, vor allem in ihrer unmittelbaren Körperlichkeit, einen Ausnahmefall darstellt. Die heute selbstverständliche, ja sogar elementare Verknüpfung des Genießens mit der Sinnlichkeit bildet eine entscheidende Differenz zu den behandelten Texten. Nach deren Verständnis fand die äußerste Steigerung – und im Grunde einzig anerkannte Form – des Genießens außerhalb der irdischen Sinne statt,25 die im Zuge der Aufstiegs- und/oder Abstiegsbewegungen zurückgelassen wurden. An dieser Stelle möchte ich kurz auf das Konzept der inneren Sinne eingehen, das auf Origines und Gregor von Nyssa zurückgeht. So versteht Origines die inneren Sinne als aisthesis, die sich aus einer anderen Art des Sehens, Hörens, Schmeckens und Riechens zusammensetzt und dadurch eine geistlichspirituelle Erkenntnis von Christus vermittelt, die aber, und das ist zu betonen, aisthetisch vermittelt wird. Durch die Vereinigung von der Seelenbraut mit dem göttlichen Bräutigam entstehen die inneren Sinne und dadurch neues Erkenntnispotential und Wahrnehmungsformen. Durch die Sünde aber verliert ein Mensch seine geistlichen Sinne, die erst durch eine Aufstiegsbewegung zum Göttlichen wiedererlangt werden können. Geistliche Sinnlichkeit dagegen bietet die einzigartige Möglichkeit, Gott zu erkennen, indem man ihn beispielsweise schmeckt. Genau diesen Weg gehen die Texte auf vielfältige Weise.26 Durchgängig sind die Texte von einer paradoxen Doppelbewegung aus Sinnlichkeit und Entsinnlichung gekennzeichnet: Auf der einen Seite inszenieren sie das Genießen mit einer Vielfalt von Metaphern, Synästhesien und Rhythmen, auf der anderen Seite entwickeln sie Widerrufungs- und Verweigerungsgesten, die die aufgebaute Sinnlichkeit zwar wieder zurücknehmen, aber nicht mehr vollständig nivellieren können, da diese trotzdem in den Texten weiter schwingt. Im Sinne der von Augustin geprägten christlichen Jenseits24 Ebd., S. 54–58. Im Zusammenhang mit der siebten Vision zeigt sich eine einseitige Fokussierung auf erotische Sinnlichkeit, ohne dass das grundsätzliche Kippverhältnis angemerkt oder das Ausnahmeverhältnis angeführt wird, das gerade die siebte Vision im gesamten Visionszyklus einnimmt und von daher nicht als typisch oder gar exemplarisch zu gelten hat. 25 Vgl. zur Differenzierung zwischen äußeren und inneren Sinnen, die aufgrund literarischer Techniken ineinander verfließen können und zu einer Intensivierung der Texte entscheidend beitragen: Langer, Die übersinnlichen Sinne (2002); Largier, Inner Senses – Outer Senses (2003). 26 Vgl. hierzu Langer, Christliche Mystik (2004), S. 87–91; ders., Die übersinnlichen Sinne (2002); Largier, Inner senses – outer senses (2003).

Einleitung

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perspektive, welche Welt und Körperlichkeit nur als vorübergehende, vergängliche Stationen einer Reise in die Ewigkeit ansah, war der ganze Genuss allein in der Ewigkeit situiert, der im Diesseits allenfalls punktuell und gnadenhaft erfahren werden konnte. Der Körper wurde zwar nicht verteufelt, aber als sterblich und irdisch angesehen, während sich nur über die privilegierte Seele Augenblicke des erstrebten Genießens der ewigen Göttlichkeit herstellen ließen. Diese Trennung von Leib und Seele wird nun in den Texten vielfältig umspielt und aufgebrochen. Das Konzept der inneren Sinne nimmt hierbei eine bedeutende Rolle ein, wird jedoch so kunstvoll variiert und unterlaufen, dass die Texte ihre eigenen Bewegungen nicht mehr rückbindend einzuholen vermögen.27 Ausgehend von den teils zurückgenommenen, teils entfesselten Paradoxien eines mit sinnlichen Mitteln inszenierten, doch außersinnlichen Genießens Gottes soll das Genießen in seinem vielfältigen Spannungsfeld verortet werden. Hierfür sollen am Ende der Hinführung (post-)moderne Theoretiker als Impulsgeber herangezogen werden, da sie für die Frage nach der Situierung des Genießens in der eigenen Kultur(-theorie) geeignet scheinen. Denn es fällt auf, dass bei all diesen Theoretikern Sexualität und Erotik bei ihrer Konzeption eines rauschhaften Genießens eine frappierende Rolle spielen, selbst in Bezug auf mystisches Genießen. Als eine Hilfe, derartige Texte zu deuten, können sie daher weniger verstanden werden, eher als ein Hinweis auf die eigene Kultur.28 Schon Goethe übernahm die bereits in der Mystik des 13. Jahrhunderts einschlägig vorgeprägte Überlappung von Genießen und Begehren, Befriedigung und Rastlosigkeit nicht nur im »Werther«, sondern in zugespitzter Form auch im ersten Teil seines »Faust«. In jenem berühmten Ausruf Fausts29 pointiert er die darin eingeschriebene Paradoxie, genießend zu begehren und begehrend zu genießen. Aufgrund der Säkularisierung erfährt das Genießen ebenso wie das Begehren eine Umakzentuierung, deren Folgen noch in postmodernen Sehnsüchten nach der verlorenen Fülle erkennbar sind. Die enorme Aufmerksamkeit, die gerade dem Körper,30 speziell seiner Se27 Grundlegend und exemplarisch vgl. hierzu Bynum, Fragmentierung (1996); dies., Holy Feast (1988). 28 Foucault, Histoire de la sexualit¦ (1976–1984). 29 Goethe, Faust (1994), S. 78, V. 1765f.: »Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede. / Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss.« Beide Verse drücken paradoxe Verhältnisse des Genießens aus, zum einen wie oben Genuss und Schmerz, zum anderen, wie folgt, Begierde und Genuss in chiastischer Steigerung: »So tauml’ ich von Begierde zu Genuss, / Und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde.« (Ebd., S. 141, V. 3249f.) Die Wette zwischen Faust und Mephisto dreht sich im innersten Kern um den Genuss, von dem beide ein unterschiedliches Verständnis haben, so heißt es S. 76, V. 1694–1698: »Kannst du mich schmeichelnd je belügen / Dass ich mir selbst gefallen mag, / Kannst du mich mit Genuss betriegen: / Das sei für mich der letzte Tag! / Die Wette biet’ ich!« 30 Schmitz-Emans (2001).

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xualität, in der heutigen Kultur zukommt,31 verdeutlicht im Vergleich zu den im Spätmittelalter entstandenen Texten deren Alterität, die sich zugleich mit einer ungebrochenen Vitalität verbindet: Letztere zeigt sich in der sinnlichen Kraft und enormen Konsequenz, mit der das volle Genießen Gottes gefordert oder sein schmerzlicher Entzug ertragen wird. Hierbei spielen vor allem die kunstvollen und bildreichen Inszenierungen des Genießens eine hervorstechende Rolle. Die Andersartigkeit des Genießens wird dadurch akzentuiert, dass es sich den Dimensionen seiner entfalteten Sinnlichkeit zu entziehen weiß, ohne sich auf erotisch-sexuelle Aspekte reduzieren zu lassen. Es bleibt dagegen in seinen paradoxen Widerständen erhalten. (Am deutlichsten wird das vielleicht im fünften oder sechsten Buch des Fließenden Lichts, in denen das Genießen sowohl seines Glanzes als auch seines Schmerzes beraubt und in seiner Umwandlung in die klösterliche Alltagspraxis gleichsam ›buddhistisch‹32 fahl wird – Aspekte, die in den westlichen Konzepten von Genuss völlig fehlen.) Eine weitere inhaltliche Konfliktlinie, aus der ein zentrales Spannungsfeld entsteht, ist das Verhältnis von Genuss und Begehren, das sich teils voneinander scheidet, teils überlappt und sogar wechselseitig überformt. Aus plausiblen Gründen hat Largier seinen Essayband »Die Kunst des Begehrens« genannt, obgleich dieser vom Genießen handelt, und bereits im Titel auf diese zentrale Verbindung aufmerksam gemacht. Die Intensivierung des Genießens schließt offenbar in den Visioenen oder dem Fließenden Licht zugleich eine Steigerung des Begehrens in sich ein, um sich so selbst seine Widerstände, ja sogar sein Ausbleiben einzuverleiben. Im Mirouer dagegen wird als Endpunkt des Genießens die völlige Auslöschung des Selbst gestaltet, das einen enthobenen oder versunkenen Frieden genießt. Das Genießen ist daher gleichzeitig durch das zitternde Begehren und durch seine gelassene Ruhe gekennzeichnet. So bleibt das Interaktions- und Kräfteverhältnis zwischen Genuss und Begehren dynamisch und verschiebbar, das sich nicht nur von Text zu Text unterschiedlich ausprägt, sondern auch in den einzelnen Passagen Umakzentuierungen vornimmt. Die Untersuchung situiert den Genuss Gottes, der in den Texten der Frau31 Baudrillard, De la s¦duction (1979). 32 Haas, Dichtung in christlicher Mystik (2007), S. 187. Den Bezug der Einheitserfahrung zum Alltag führt er für das Haiku folgendermaßen aus: »Wenn auch jener, der seine Einheits- und Nichtserfahrung als eine Rückführung zum geheimnislos Alltäglichen, zum Mit-SichIdentischen der Natur verstehen sollte, ist der Leser in jedem Fall staunenswillig auf die Eröffnung eines Geheimnisses aus«. M. E. ist Haas hier von dem westlichen Blickwinkel der Innerlichkeit und des Geheimnisses geprägt, während das japanische Haiku eher das Besondere im Banalen oder das Banale als das Besondere betont. Im Gegensatz zur europäischen Tiefendimension präsentiert es eine gleitende (Ober-)Fläche von Erscheinungen, die flüchtig verfließen und genau darin ihre spezifische Schönheit zeigen. Von daher ist Haas’ Ausdruck der »Rückführung zum geheimnislos Alltäglichen« eher zutreffend.

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enmystik präsentiert und inszeniert wird, im Spannungsfeld einer vergleichenden Textanalyse zwischen dem Fließenden Licht, den Visioenen und dem Mirouer. Dadurch soll die Semantik des Genießens der Göttlichkeit eine andere Breite und Dichte gewinnen, als wenn man einem einzigen Text verhaftet bleibt. Dazu tragen zum einen deren jeweils einzigartiges sprachliches und literarisches Niveau bei, zum anderen – damit zusammenhängend – die unterschiedlichen Volkssprachen, in welchen die Texte verfasst sind. So gab das intensive, ja fast obsessive Kreisen um ghebruken in den Visioenen der Hadewijch erst den Anlass zu der Frage, wie eigentlich das Fließende Licht oder der Mirouer mit dem Thema umgehen, und ob es, und wenn ja, wie, überhaupt eine Rolle spiele. Das Ergebnis dieser Frage ist die vorliegende Dissertation, welche zuerst die Bezeichnungen für Genuss und Genießen in den einzelnen Texten analysiert, bevor sie deren Einzelbilder zueinander in analogische Beziehung setzt und schließlich die performativen Dimensionen ganzer Bildflächen erschließt. Um diesen analogischen Vergleich zu erleichtern, wurde auf das Briefwerk und die Lyrik der Hadewijch gänzlich verzichtet; zumal die Visioenen in ihrer verdichteten Prosa mehr als genug Material für eine umfassende Analyse des Genießens bieten. Entscheidend für das Vorhaben, eine Semantik des Genießens aus den Texten selbst zu entwickeln, war das von Burkhard Hasebrink 2007 initiierte Projekt einer Semantik der Gelassenheit, das erstmals vorführte, wie produktiv und erschließend eine solche Kombination aus linguistischer Analyse und performativer Interpretation sein kann.33 Dem Projekt ist es gelungen, eingehende und gründliche Studien zu liefern, die anhand eines scheinbaren Details, nämlich des Wortes gel–zenheit bei Heinrich Seuse34 oder gelossenheit bei Johannes Tauler,35 nicht nur ein semantisches Wort-, sondern auch ein semantisches Kraftfeld eröffnen, das die Lektüre- und Interpretationspraxis der Mediävistik vor allem in der Mystikforschung entscheidend beeinflussen und verändern kann. Doch im Unterschied zu der relativ klar konturierten und als Neuprägung wahrgenommenen gel–zenheit ist Genuss in seinen semantischen Variationen verschwommener und schwieriger zu fassen, da die Texte ihn aisthetisch inszenieren und häufig durch ein Bild deuten. Insgesamt ergänzt die implizite Semantik die explizite entscheidend, wie diese Arbeit zeigen wird. Deshalb wurde aufgrund der mit dem Genießen eng verbundenen performativen Dimensionen im Einzelnen die Semantik etwas anders entfaltet. Es ist eine Grundvoraussetzung dieser Untersuchung, möglichst ausschließlich an den Texten zu arbeiten, während Bezüge zur Autorfrage und Textgeschichte nicht oder nur vereinzelt hergestellt werden. Zwar bieten die perfor33 Hasebrink, Bernhard und Früh (2012). 34 Bernhardt (2012). 35 Früh (2012).

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mativen Inszenierungen der Texte Anknüpfungspunkte zu Fragen hinsichtlich der Interaktion zwischen Produktion und Rezeption, doch werden solche Fragen nicht weiterführend verfolgt. Interessant aber ist in dem Zusammenhang, dass die Texte selbst verschlüsselte Hinweise auf in ihnen eingeschriebene Handlungsanweisungen geben. Diese Arbeit betreibt keinerlei Einflussforschung und setzt auch keine historischen Austauschkontakte voraus. Somit wird die Semantik des Genießens hier anhand analogischer Beziehungen zwischen den drei Texten entwickelt. Im Einzelnen sollen diese Texte hier kurz vorgestellt werden: Das Fließende Licht der Gottheit besteht aus insgesamt sieben Büchern, die nicht nur alle Arten von Textsorten, sondern auch eine große Heterogenität an Themen sowie Stilen bieten. Es ist außerordentlich umfangreich und umfasst Lyrik, Dialoge, Lieder, Visionen, Schauungen, Exempel, Mahnungen, Briefe und Gebete, um nur einige aus der Textfülle zu nennen. Außerdem lassen sich mehrere Stimmen nachweisen, was den Text außerordentlich modern erscheinen lässt, da er quasi simultan aufgebaut ist. Durch den häufigen Sprecherwechsel und die gelegentlichen perspektivischen Brüche in einzelnen Sätzen schafft er zudem eine unvergleichbare Unmittelbarkeit. Die Visioenen dagegen sind ein äußerst schmales Werk aus kunstvoll komponierten und klar aufeinander bezogenen Visionen, die insgesamt vierzehn umfassen, wobei der letzten eine Lijst de volkomenen beigefügt ist. Sie enthält eine Liste all derjenigen, die bis zur Perfektion gelangt sind oder dies noch werden. Das unterstreicht, neben der artifiziellen und bezugreichen Sprache, den elitären und exklusiven Charakter der Texte. Sie enthalten nicht nur Offenbarungen subtilster Art, sondern sind auch als eine Art geistlicher Lehrgang zur Vollkommenheit des sprechenden Ichs zu verstehen. Doch ist es wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass die außerordentliche Perfektion des Ichs von Anfang an gegeben ist und außer Frage steht. Auch im Mirouer des simples ames spielt die Vervollkommnung der Seele im Modus der Vernichtung eine herausgehobene Rolle. In insgesamt 139 lose aneinander gefügten Mirouers bietet auch er eine unterschwellig vielfältige Textfülle. So unterläuft der Text seinen Charakter als Lehrspiegel permanent, indem er zugleich Passagen, die eher der Bekenntnis- oder Offenbarungsliteratur zugehören, einblendet. In insgesamt sieben Stufen gelangt die Seele zur absoluten Perfektion, die gleichzeitig völlige Vernichtung darstellt. Dadurch wird sie unterschiedslos eins mit Gott, was der Text an zahlreichen kühnen Metaphern und Umdeutungen veranschaulicht. Auch lyrische Züge weist der Text auf, ebenso wie eine starke Dialogisierung. Jeder einzelne Text ist für sich bereits so anspruchsvoll, dass er ohne Mühe Stoff für eine ganze Dissertation bietet. Daher liegt der Fokus entschieden auf den Texten und deren fordernder Lektüre. Die Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit

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der drei Texte wurde in der Forschung immer wieder betont, so dass sowohl Monographien,36 verschiedene Aufsätze37 als auch Darstellungen zur Geschichte der Mystik38 diese zueinander in Beziehung setzen. Wirklich in größerem Stil umgesetzt wurde ein solcher Vergleich bisher allerdings nicht, was diese Arbeit jetzt unternimmt und ihren besonderen Vorzügen anrechnet. Die in der Forschung existenten und immer wieder veränderten Mechthild-, Hadewijch- oder Marguerite-Porete-Bilder sollen durch solch eine textfokussierte und zugleich komparatistische Lektüre bereichert und ergänzt werden. Um das zu erreichen, ist äußerste Vorsicht im Umgang mit außertextuellen Faktoren geboten. Kritisch in Bezug auf Beginenmystik äußerte sich auch Wegener.39 Die in der Forschung mehrfach konstatierte Polyvalenz des Ichs,40 welches genießt, leidet, erstirbt oder/und lehrt, wird grundsätzlich als vielseitiges Rollenangebot/-repertoire, insgesamt als variables und multifunktionales Ich verstanden, das zwar Bezüge zum Autor-Ich aufweisen kann, jedoch in der Interpretation kaum eine Extra-Berücksichtigung erfährt. Wie im obigen Abschnitt verdeutlicht, ist Versuch und Ziel dieser Arbeit, intensiv an den Texten selbst zu arbeiten, die sich durch eine Art close reading wechselseitig ergänzen, ohne dass deren spezifische literarische Qualität, die sich vor allem in Form und Sprache ausdrückt, hierbei eingeebnet oder ›gleich gemacht‹ werden soll. Bei der Wortanalyse im textanalytischen Teil wird gelegentlich eine textgeschichtliche Perspektivierung eingeflochten, jedoch verfolgt die Untersuchung ihre Spur nicht weiter, da der Schwerpunkt dieser Arbeit ein anderer ist und die hier praktizierte Textlektüre in dieser Intensität nicht möglich gewesen wäre. Dennoch finden sich bisweilen Verweise auf die lateinische Tradition und damit 36 Vgl. exemplarisch den Exkurs zu Marguerite Porete: Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 97–103; ebenso Stadler (2001), S. 182–191; umfangreicher Hollywood (1995). 37 Neumann (1965); Ruh, Beginenmystik (1977); Largier, Von Hadewijch (2000). 38 Ruh, Frauenmystik (1993), S. 158–232; 245–292; 338–371; McGinn (1999), S. 358–465. Eine jeweils andere Akzentsetzung zeigt sich bereits in der Anordnung: Während McGinn die drei »großen Beginenmystikerinnen« in einem Großkapitel direkt aufeinander folgen lässt und auch verschiedene Bezüge der Texte untereinander anmerkt, wird bei Ruh die Hauptgewichtung eher auf die spezifischen Kontexte und die Einzelanalysen gelegt. Dennoch haben beide auf die auffallende innere Verwandtschaft der Texte hingewiesen und sie auch zueinander in Beziehung gesetzt. 39 Vgl. Wegener (2013), bes. S. 427f., wo sie auf den Problemcluster eingeht, dass die sogenannte »Beginenmystik« weder eine nachweisbare, klar abgesetzte kulturelle Identät ausbildete noch im allgemeinen als häretisch angesehen wurde oder sich selbst so betrachtete. 40 Exemplarisch zum Fließenden Licht: Peters (1988), S. 53–67 und S. 116–129; Nemes (2010), S. 318, Anm. 31. Des Weiteren: Poor (2004). Zu der Konzeption des Ichs vgl. vor allem: Fraeters, Mi smelten mine sinne (2003); dies., Gender and Genre (2004). Im Mirouer dagegen wird durch den Aufbau in Lehrdialoge das Problem des Ichs in Rollen und Figuren entschärft, da er sich nicht deutlich als Bekenntnisbuch geriert, sondern in der Hauptsache die Amour oder die Ame Adnientie sprechen lässt.

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auf einen Zirkulationskontext,41 ebenso ist die Kultur der Postmoderne mit ihrer Faszination für das mystische Genießen in die Arbeit integriert. Das angestrebte close reading verbindet sich somit punktuell mit dem New historicism, was heißt, dass die textinterne Struktur mitunter durch eingeblendete Traditionsbezüge ergänzt wird. Kurze Spiegelreflexe auf die eigene Kultur finden sich ebenso wie Anmerkungen zur lateinischen Tradition. Somit erwiese es sich im Anschluss an diese Untersuchung mit Sicherheit als überaus gewinnbringend, zu der hier entwickelten Semantik in einer eigenen Forschungsarbeit die Überlieferung einzubeziehen und das Bild einer Mechthild von Magdeburg, einer Hadewijch von Antwerpen und einer Marguerite Porete, das aus einer ausschließlich textfokussierten Analyse trotz aller Zurückhaltung zwischen den Zeilen entstehen wird, damit zu vergleichen und gegebenenfalls zu korrigieren. Doch ist die Methodik hierbei eine andere. Denn eine in bewusstem Ausschlussverfahren entstandene komparatistische Lektüre dreier Texte, die sich in ihren außergewöhnlich starken Autorbilder, der damit verbundenen Auratisierung und hohen literarischen Qualität ähneln, kann neue Akzente setzen. Für eine solche komparatistische Lektüre, um eine aisthetisch geprägte, performativ inszenierte Semantik des Genießens in der europäischen Frauenmystik aufzuzeigen, möchte die Ausrichtung dieser Untersuchung ein deutliches Zeichen setzen. In diesem Maße wurde ein derartiges Vorhaben mit vergleichbarer Intensität und Umfang in der mediävistischen Forschung bislang noch nicht realisiert, da der sprachlich-literarische Anspruch der Texte immens ist. In einem so über die Fächergrenzen einzelner Philologien hinaus eröffneten Kommunikationsraum, der vielfältig vorführt, wie anders die Texte bei ihrer Ähnlichkeit und wie verwandt sie in ihrer Verschiedenheit sind, zeigt sich das Potential eines solchen Ansatzes. Die Arbeit ist von der Hoffnung begleitet, ein Anstoß für mehr Kooperation, mehr Diskussion, mehr Begegnung über die Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen hinaus zu sein. Dass ich mich hierbei dankend auf die bisherige gewinnbringende Forschung stützen kann, steht außer Frage. Davon ausgehend möchte diese Untersuchung aufzeigen, wie fruchtbar sich eine solch interdisziplinäre Anlage für spezifische Themenkomplexe wie Genuss erweisen kann, da auf diese Weise sowohl Tiefenschärfe als auch Horizontbreite gewährleistet werden.

41 Vgl. hierzu Greenblatt (1990), von dessen Forschungen die »Zirkulations«-Metapher entlehnt wurde. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird sie vor allem auf die Bildlichkeit bezogen, die verblüffende Analogien aufweist.

Hinführung

Gliederung der Untersuchung Wie bereits in der Einleitung anhand des Eintrags in das Lexikon ästhetischer Grundbegriffe deutlich wurde, stellt eine Semantik des Genießens vor dem 17. Jh. ein Desiderat dar. Eine solche möchte die vorliegende Arbeit anhand sorgfältiger Textanalysen und -beobachtungen entwickeln. Grundsätzlich lässt sich die Untersuchung in zwei Blöcke untergliedern: Im ersten Teil werden die gesamten theoretischen Grundlagen im Einzelnen erläutert, im zweiten folgen dann die jeweils direkt daran anschließenden konkreten Textanalysen. Zuerst wird die komplexe Kombination aus Wortsemantik, Bildsemantik und performativer Semantik theoretisch aufbereitet, wobei unterschiedliche und gelegentlich heterogene Ansätze miteinander verknüpft werden. Das theoretische Setting reicht von mediävistischen bis zu kognitiven Ansätzen. Das Procedere versteht sich insofern als innovativ, als die Semantik unmittelbar aus dezidierten Textanalysen hervorging und bislang in dieser Weise noch nicht durchgeführt wurde. Die Arbeit versteht sich zwar als Beitrag zur historischen Semantik, allerdings unter bestimmten Prämissen: So sieht sie ihre hervorstechende Leistung vor allem in den präzisen Textanalysen des zweiten Teils, die das theoretische Vorgehen entscheidend geprägt haben. Um die spezifische Semantik dieser hermetischen und singulären Texte schärfer profilieren zu können, wird eine basale Unterscheidung zwischen expliziter und impliziter Semantik vorgenommen. Unter expliziter Semantik verstehe ich die einzelsprachlichen Bezeichnungen des Genießens, die sich auf der Textoberfläche deutlich abzeichnen, während implizite Semantik sich auf unterschwellige, in den Texten enthaltene, indirekt transportierte Aspekte bezieht. Implizite Semantik umfasst demzufolge sowohl Bilder des Genießens als auch dessen vielfältige performativen Inszenierungen. Die Besonderheit dieser mystischen und zudem hochliterarischen Texte ließ eine solche Erweiterung der Semantik als unumgänglich erscheinen, da sonst viel Deutungspotential ungenutzt geblieben wäre.

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Hinführung

Das erste Kapitel des Theorieteils zieht für die Wortanalyse Ansätze aus der historischen Semantik (Andreas Blank, Dietrich Busse, Gerd Fritz) heran, die sich jedoch vorrangig mit semantischem Wandel beschäftigen. Da es bei dieser Untersuchung darum gehen soll, die komplexen Semantiken des Genießens anhand der einzelsprachlichen Bezeichnungen in den Texten zu erschließen, kommt dem Pilotprojekt von Burkhard Hasebrink zur »Semantik der Gelassenheit« eine besondere Stellung zu. Im Rahmen dieses Projekts wurde eine spezifische Kombination von semantischer Theorie und konkreter Textarbeit vorgenommen, die keine festgefügten Begriffe auf die Texte zu heften versucht, sondern deren eigene Semantisierungsstrategien integriert. Im geistigen Klima dieses Lehrstuhls entstanden, schließt diese Untersuchung trotz einer anderen Textauswahl und demzufolge anderen Inszenierungsstrategien methodisch an den daraus hervorgegangenen Sammelband an.1 Während das erste Kapitel des Theorieteils die Basis für die Wortanalyse und damit die explizite Semantik bereitet, steht im zweiten und dritten Kapitel des Theorieteils die implizite Semantik im Zentrum. Anhand verschiedener Theorien zur Bildlichkeit wird zuerst zwischen den Selbstbezeichnungen der Texte bzw. mediävistisch geprägten Bildbegriffen und moderner Metapherntheorie differenziert, die aber als gegenseitige Ergänzung verstanden werden. Das uneigentliche Sprechen in Bildern kann nach allgemeinem Forschungskonsens als zentrales Kennzeichen mystischen Sprechens bezeichnet werden, das im Kontext des unsagbaren Genießens eine starke Gewichtung erhält. Eine besondere Paradoxie entsteht dadurch, dass die Bildgebung im Bild zugleich der Bildlosigkeit eingedenk bleibt. Daher kommt der Bildlichkeit eine exponierte Rolle zu. Eine spezifische Spannung entsteht durch das komplex akzentuierte Feld zwischen Literarizität und Körperlichkeit, in dem sich das in den Texten entworfene Genießen bewegt und das sich letztlich nie ganz auflösen lässt. Hierbei ist die Kombination verschiedener theoretischer Zugriffe von besonderer Bedeutung. Im dritten Kapitel des Theorieteils werden Einzelbilder unter performativen Gesichtspunkten zu ganzen Bildfeldern erweitert, die Angebote für den (Mitund Nach-)Vollzug des Genießens enthalten. In Anlehnung an die von FischerLichte aufgezeigte sogenannte »Materialität«, die eine Aufführung und deren Inszenierung prägen, werden unter den Schlagworten »Räumlichkeit«, »Zeitlichkeit« und »Körperlichkeit« die vorher präsentierten Bilder in einen größeren Zusammenhang integriert.2 Unterschiede zu einem für die Theaterwissenschaften entwickelten Performativitätsbegriff werden zu Anfang diskutiert und dessen Verwendung begründet. Theoretisch ergibt sich so ein Setting aus performativen Ansätzen aus den Theater- und Kulturwissenschaften sowie spezi1 Hasebrink, Bernhard und Früh (2012). 2 Fischer-Lichte (2005).

Gliederung der Untersuchung

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fisch mediävistischen Forschungsarbeiten, die Performativität für die mittelalterliche Kultur und Literatur untersucht haben. Durchgehende Zielsetzung für den gesamten ersten Teil ist hierbei, eine für die getroffene Textauswahl geeignete theoretische Basis bereitzustellen, die geschmeidig genug ist, sich deren Komplexität anzupassen – und keineswegs, die schillernde Vielschichtigkeit der Texte zugunsten einer bestechenden Theorie zu verkürzen. Im ersten Kapitel des textanalytischen zweiten Teils lassen sich bei den Wortanalysen sowohl thematische als auch morphologische Analogien bei den Umschriften der lateinischen fruitio in die Volkssprache(n) durch die Frauenmystik des 13. Jahrhunderts feststellen. Auf die lateinische Tradition von uti und frui wird dennoch nur am Rande eingegangen, da sie ein eigenes Forschungsfeld darstellt, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Dasselbe gilt für Traditionsbezüge wie Richard von St. Victor, Dionysius Pseudo-Areopagita, gelegentlich Bernhard von Clairveaux. Grundsätzlich wird die Substantiv- von der Verbform mit eigenen Bedeutungsfacetten unterschieden. In allen drei Texten wird die Substantivform gebruchunge, ghebrukelecheit, fruiction verwendet, um das Genießen Gottes in seiner Fülle und in Ewigkeit zu bezeichnen, das sich in der Gegenwärtigkeit Gottes als besondere Gnade dem Menschen eröffnet. Doch während gebruchunge im Fließenden Licht vor allem den Zustand des verzehrenden Genusses zwischen Gott und Mensch kennzeichnet, wird ghebrukelecheit in den Visioenen eher abstrakt verwendet und tritt daher häufig in …dat ist dat…-Sätzen auf, die eine genaue Bestimmung des Genießens vornehmen. Häufig semantisiert der Text hierbei den Begriff durch ein Bild und erzeugt damit eine gewisse Vagheit, doch zugleich eine Fülle an Konnotationen durch sich anlagernde semantische Nuancen. Die Verbform ghebruken intensiviert und dynamisiert das Vollzugsgeschehen des Genießens, während im Fließenden Licht das Verb gebruchen das Genießen vervielfältigt, ja selbst in scheinbar entfernte Kontexte einsetzt und hierbei zentrale Abgrenzungen und Festschreibungen vornimmt.3 In den Visioenen bleibt das Genießen emphatisch, verzehrend, intensiv, während es im Fließenden Licht alltäglich, pragmatisch und ›fahl‹ werden kann. Zusätzlich ergänzt in den Visioenen die Adjektiv- oder Adverbform ghebrukeleke die Substantiv- und die Verbform, ganz im Gegensatz zum Mirouer, der nicht nur die sparsamste Verwendung praktiziert, sondern auch allein die Substantivform fruiction einsetzt, was mit als ein Indikator für die Gewichtung dieser Thematik in den einzelnen Texten gelten darf. Die Visioenen verfügen somit als einziger Text über drei morphologisch voll ausgebildete Formen, um Genuss auszudrücken. Insgesamt 3 Interessanterweise bei den beiden Volkssprachen, die zwischen dem Doppelsinn von benutzen/gebrauchen und genießen changieren können, da sie nur eine Verbform für die beiden im Lateinischen getrennten Bedeutungen haben.

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nimmt das Genießen in den Visioenen auf relativ schmalem Raum eine sehr dichte Fläche ein, während vor allem die ersten beiden Bücher des Fließenden Lichts hinsichtlich ihrer sechsfachen Substantivverwendung als besonders intensiv auffallen, während vor allem im fünften und sechsten Buch im Anschluss an augustinische Terminologie mit einer zwischen Gebrauchen und Genießen oszillierenden, fast inflationär verwendeten Verbform gearbeitet wird, die bestrebt ist, das ›richtige‹ vom ›falschen‹ Genießen und damit die Geister zu unterscheiden. Im Mirouer dagegen lässt sich eine dreimalige Verwendung der Substantivform an jeweils exponierter Stelle, wie beispielsweise im Prolog, ausmachen, die aber im Kontext mit der Vernichtung und der impliziten Semantik verstärkte Bedeutung gewinnt. Bei den Wortanalysen wird außerordentlich nahe an jedem einzelnen Text gearbeitet, um eine stabile Basis für die anschließenden Untersuchungen aufzubauen. Es wird keine Auswahl getroffen, keine Hierarchisierung vorgenommen, sondern jede einzelne sprachliche Erscheinung wird gleichermaßen erfasst und integriert. So lässt sich das Genießen auf der Textoberfläche in sämtlichen seiner expliziten Ausprägungen beschreiben. So stellt gerade die sorgfältige Wortanalyse sicher, dass Momente einer fast alltäglichen Spiritualit zugunsten der intensiven, alles absorbierenden Formen von Begehren und Genießen nicht vernachlässigt werden. Da in der Wortanalyse keine hierarchisierende Wertung vorgenommen wird, kommt eher unscheinbaren Stellen dieselbe Beachtung zu wie den seit jeher in der Forschung besonders berücksichtigten. Semantische Phänomene, die nicht metaphorisch und performativ inszeniert werden, rutschen demzufolge dank der gründlichen Wortanalyse nicht durch das Raster. So wird im Fließenden Licht erst durch die scheinbar unscheinbaren Stellen das Genießen Gottes paradox umgestülpt. Darüber hinaus erweist sich die Arbeit an den Bezeichnungen des Genießens in den verschiedenen Volkssprachen als unverzichtbar für die daran anschließende implizite Semantik. Verschiedentlich wird nämlich an Bezugspunkte der Wortanalysen in den beiden folgenden Kapiteln ausführlich angeknüpft, da das Genießen erst durch eine Kombination aller Facetten sein eigentliches Profil gewinnt, das mitunter wörtlich, aber zugleich metaphorisch und performativ in die Texte eingeschrieben ist. Häufig überlagern sich an einzelnen Stellen konkrete Bezeichnungen und bildhafte Evokationen, indem sie sich zu einem Bezugsfeld verdichten. Sich ausschließlich auf die Bezeichnungen für das Genießen zu konzentrieren, greift daher zu kurz. Denn das Genießen ist entscheidend durch seinen Vollzug, durch die Teilhabe an diesem Erfahrungswissen, charakterisiert, das nur durch seine Süße oder Bitterkeit ›verstanden‹ werden kann. Die in den Texten eingespeicherten, verkapselten performativen Handlungsanweisungen müssen dementsprechend decodiert werden, um das gesamte Bedeutungsfeld abzustecken.

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Im zweiten Kapitel des textanalytischen zweiten Teils weitet sich die semantische Analyse konsequenterweise auf die Bildlichkeit aus, welche mit dem Genießen in Verbindung steht. Ausführlich behandelt werden für das Genießen vor allem die Bildlichkeit von Trunkenheit und Sättigung sowie die dionysische Metaphorik von Abgrund und Strudel, an welcher man die enge Verknüpfung zwischen Vernichtung und Genuss besonders gut studieren kann. Die Intensität des Genießens hängt zugleich direkt von dem Verlangen der Seele ab, was sich besonders deutlich bei Mechthild und Hadewijch zeigen lässt.4 Sowohl die Visioenen als auch das Fließende Licht greifen spezifische Metaphern auf, die dem Liebessehnen Ausdruck verleihen. Sie chiffrieren das brennende Begehren durch Bilder von Liebeswahnsinn und Liebeskrankheit,5 welche den Menschen in seiner Gesamtheit ergreifen, und stellen daher die äußerste Ausprägung leidenschaftlichen Genießens und verzehrenden Selbstverlusts dar. Insgesamt zeigen die bildlichen Ausdrucksformen des Genießens vor allem die Innovationskraft und Dynamik der volkssprachlichen Höhepunkte in der Frauenmystik. Die in den Bildern eingelagerten und durch den Rezipienten entfaltbaren Bilderketten sind immense Bedeutungsträger, aber gehen zugleich weit über eine bloße Bedeutungszuschreibung hinaus. Plastische Versinnlichung der Metaphorik verbindet sich mit den einzelsprachlichen Bezeichnungen zu einer vielschichtigen und flexiblen Semantik. Eine kreative Auseinandersetzung mit den lateinischen Traditionslinien findet sowohl bei den expliziten Bezeichnungen als auch bei der impliziten Bildlichkeit statt. Durch ihren Bezug zur Sinnlichkeit changieren die Bilder zwischen Literarizität und Körperlichkeit, was sie zu Grenzgängern werden lässt. Das dritte Kapitel des textanalytischen zweiten Teils fokussiert sich auf die performativen Dimensionen einer Semantik des Genießens. Die bereits für die Visioenen auf der Bezeichnungsebene deutlich gewordene Vernetzung der Abgrundmetaphorik mit dem Genießen wird in eine breitflächig entworfene Topographie des Genießens eingegliedert, die sowohl Berg, Abgrund als auch mitunter die Ebene umfasst. Dadurch wird das Genießen dreidimensional, räumlich vorstellbar und imaginativ ›begehbar‹. Gleichzeitig wird die durch die Wortanalyse gewonnene Semantik durch ›Randzonen‹ des Genießens ergänzt, die damit nur indirekt in Beziehung stehen, aber das Gesamtprofil des Genießens verdichten und dessen Radius in einem performativen Zugriff verbreitern. Durch diese Ausdehnung der impliziten Semantik kann im Textfluss vom Re-

4 Vgl. ergänzend den Prolog bei Marguerite Porete, in welchem die Geschichte des Königs Alexander ein Bild für die Liebessehnsucht der Seele darstellt. 5 Gerade bei diesen Bildern sind die Grenzen zur emotionalen oder psychosomatischen Wirklichkeit fließend, was ebenso für die Wechselwirkungen von sprachlichem Ausdruck und realer Reaktion gilt.

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zipienten der Berg des Genießens ebenso erstiegen werden wie der Sturz in den Abgrund erfolgen. Im Zusammenhang mit der durch die Räumlichkeit erlangten Dreidimensionalität steht auch die Zeitlichkeit, da Raum und Zeit Grundachsen für die menschliche Orientierung darstellen. Das Genießen gehört per se natürlich der Ewigkeit Gottes zu, bricht aber als besondere Gnadenerfahrung in die Zeitlichkeit des Menschen ein und überformt diese auf die Ewigkeit hin. Die Gegenwärtigkeit Gottes im Genießen stellt daher eine besondere Herausforderung für die Texte dar, die in der Spannung von transitorischen Momenten und dauernden Elementen stehen und diese ausbalancieren müssen. In diesem Zusammenhang finden immer wieder Verschiebungen Richtung Ewigkeit oder Richtung Gegenwärtigkeit statt, die sich trotzdem als eines begreifen. So können die Rezipienten in einem präsentischen Modus das Genießen Gottes produktiv mit- und nachvollziehen. Die ambivalenten Bezüge zur Körperlichkeit und Sinnlichkeit bilden einen basalen Nenner zum Genießen Gottes, die mit ihren Paradoxien diese ganze Arbeit durchziehen. Im Anschluss sowohl an Bezeichnungen der Süße (süeze, doulceur, suete), Geschmack (smake), Wonne und Lust (wollust, delice) aus dem ersten als auch an die Metaphorik der Trunkenheit und der Sättigung im zweiten Teil sollen die Kontexte der eucharistischen Praxis herausgearbeitet werden, bei der das Schmecken Gottes im Genießen eine wichtige Rolle spielt. Hierbei prägen sich analog zur Gottesferne nicht nur süße, sondern auch saure/bittere Formen aus, die ebenso wie das Genießen entscheidend durch das Begehren bestimmt werden. Hierbei baut sich besonders an Stellen, welche sinnliche Aspekte in den Text einschmelzen, eine Spannung auf, da das Genießen sich grundsätzlich als ein den Sinnen enthobenes versteht: eine Irritation und Paradoxie, welche diese Arbeit ebenso entscheidend prägt wie die Spannung zwischen Semantik und Performativität, zwischen Ästhetik/Aisthetik und Spiritualität, zwischen (post-)modernem Bezug und mittelalterlicher Mystik.

Exkurs: Mystischer Genuss als Inspirationsquelle für die Postmoderne Auf jenen Bezug soll in diesem Exkurs näher eingegangen werden. Denn die intensiven und rückhaltlosen Formen des Genießens, die aus einem Zustand der Einheit hervorgehen, haben auf (post-)moderne Theoretiker wie Bataille oder Baudrillard eine große Attraktivität ausgeübt. In ihren vieldeutigen Werken verbindet beispielsweise Baudrillard eine bis zum Zynismus reichende Skepsis mit den Sehnsüchten einer massiv entleerten, stark dissoziierten (Post-)Mo-

Exkurs: Mystischer Genuss als Inspirationsquelle für die Postmoderne

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derne nach Fülle und Einheit, die bei Bataille vor allem im Zustand des Rausches und der Ekstase ihren Ausdruck findet. In diesem Kontext wird die Mystik zum beliebten Referenzobjekt, das willkürlich und eklektisch eingesetzt wird. Ihre Verwendung mystischer Texte und Autoren sind daher in erster Linie als Kommentierungen der eigenen Zeit zu begreifen. Zwar versteht sich diese Arbeit, wie bereits in der Einleitung hervorgehoben wurde, in besonderem Maße als dezidierte Analyse des ausgewählten Textcorpus, doch möchte sie darüber hinaus jenen auffallenden Nexus zwischen Postmoderne und Frauenmystik skizzieren. Denn aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist das Genießen nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart aus zu perspektivieren: Was für Eigentümlichkeiten weist das mystische Genießen auf, dass es uns Heutigen dermaßen ins Auge sticht? Was finden französische Theoretiker an diesen ganz dem Göttlichen zugewandten Texten? Was für Versatzstücke werden daraus entnommen und wo werden sie in welcher Absicht eingesetzt? Was sagt diese Fokussierung auf Rausch, Ekstase, Genuss über unsere eigene Kultur aus? Wieso interessiert sich die kulturwissenschaftliche Forschung für die Emotionen – wohl das schwer Greifbarste und Flüchtigste überhaupt – vergangener Jahrhunderte? Handelt es sich beim Genießen überhaupt um emotionale Dispositionen, inwiefern verbindet es sich mit intellektuellen? Solche Fragen möchte dieses Exkurskapitel anstoßen, um den eigenen Standort selbstreflexiver und damit klarer zu profilieren. Selbstverständlich heißt das nicht, dass sich Beobachtungen über unseren eigenen Kulturraum auf postmoderne Theoretiker beschränken müssen. Aber meines Erachtens können sie durchaus als Referenzpunkte herangezogen werden, da sie Reflexe der eigenen Kultur vielleicht etwas überpointiert, aber durchaus authentisch verarbeiten. Indem diese Theoretiker Aussagen über die Moderne treffen, dazu punktuell aus mystischen Texten zitieren oder anderweitige Bezüge zu Mystik und Ekstase herstellen, geben sie zugleich Bestimmungen des Genießens oder des ekstatischen Sprechens ab, wobei sie folgende Einzelaspekte akzentuieren: So die Überschreitung von Grenzen (transgression) bei Bataille oder das Unterlaufen der Oppositionen (Absorption) bei Baudrillard, die Generierung eines rauschhaften, abgründigen und bruchstückhaften Diskurses der Liebe bei Barthes oder die betonte Eigensemantik der Ekstase (au-del— du phallus) bei Lacan, die sich jeder Bestimmung entzieht. In unterschiedlicher Weise kreisen alle um das Problem der Bedeutung in Form von Verweigerung oder Entzug von Bedeutung, indem sie die Leerstellen von Genuss oder Ekstase markant herausstellen (Baudrillard, Lacan6) oder eigene Semantiken generieren (Bataille, Barthes). Die Bewertung von Genuss, Ekstase und Rausch fällt sehr unterschiedlich aus: So 6 Lacan (1975), S. 86–98.

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Hinführung

wird bei Baudrillard die Ekstase negativ mit der Obszönität wuchernder Dinge verbunden, während bei Lacan die weibliche Ekstase einer Teresa von õvila einen absolut positiven Gipfelpunkt darstellt. Im Folgenden sollen drei von ihnen exemplarisch dargestellt werden (außer Lacan). Georges Bataille (1897–1967) inszeniert in seiner Monographie »L’Êrotisme«7 die transgression als entscheidende Voraussetzung und Begleiterscheinung von Ekstase, da hierdurch eine ungeheure Intensität und Spannung erzeugt wird.8 Die Überschreitung eines Tabus weckt zwar Angst und verbindet sich häufig mit einem Akt der Gewalt, der entweder an einem selbst oder am anderen vollzogen wird, doch zugleich verschmelzen darin Schmerz und Lust, die, einige Sekunden lang, zur Ekstase führen. Grundsätzlich geht Bataille von einem engen Nexus von Erotik und Tod aus und grenzt sich daher deutlich von dem Sexualakt zum Zweck der Reproduktion ab. Gleichzeitig ist dieser Todesform in der Erotik eine Steigerung des Lebens eingeschrieben. So heißt es wie folgt: »De l’¦rotisme, il est possible de dire qu’il est l’approbation de la vie jusque dans la mort.«9

Erotik und Tod schließen gleichzeitig das Leben ein, da durch diese Verbindung eine erhöhte Intensivierung im Selbstverlust gesucht wird, der Ekstase und Einheit aus dem Schmerz zieht. Indem Bataille Religion und Erotik eng miteinander verknüpft, zeigt er, dass für den modernen Menschen die einzige Chance, Trennung und Isolation zu überwinden, in der rauschhaften Überschreitung von tabuisierten Bereichen besteht.10 Erotik ist für ihn daher mit scheinbar entgegengesetzten Zuständen wie Furcht und Schrecken, Gewalt und Zerstörung besetzt, die aber gegeben sein müssen, um die ersehnte Entgrenzung zu gewährleisten. Im Grunde kreiert er eine Form moderner Mystik, indem er den Sexualakt sakral überhöht, bei dem die Grenzen des Selbst überschritten werden:11 »L’exp¦rience int¦rieure de l’¦rotisme demande de celui qui la fait une sensibilit¦ non moins grande — l’angoisse fondant l’interdit, qu’au d¦sir menant — l’enfreindre. C’est la sensibilit¦ religieuse, qui lie toujours ¦troitement le d¦sir et l’effroi, le plaisir intense et l’angoisse.«12 7 Bataille, L’Êrotisme (1957). 8 Zu Bataille vgl. Galimberti (2007), S. 31–37. Galimberti qualifiziert den »Rausch« als etwas, das »unwissentlich und absichtslos zum Bösen als Wesen der Lust« zurückführt (S. 37), doch weicht er der Provokation in Batailles Werken, das in dem Versuch einer Engführung von Erotik und Tod, Sexualität und Sakralität liegt, verhalten aus. 9 Bataille, L’Êrotisme (1957), S. 17. 10 Ebd., S. 100–103. 11 Vgl. ausführlicher zu Bataille und der Frauenmystik: Zech, Grenzüberschreitendes »Genießen Gottes« (2010). 12 Vgl. Bataille, L’Êrotisme (1957), S. 45.

Exkurs: Mystischer Genuss als Inspirationsquelle für die Postmoderne

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Die Beschäftigung mit dem Subjekt prägte vor allem die späteren Arbeiten Batailles, wobei er seinen Begriff der inneren Erfahrung (l’exp¦rience int¦rieure) entwickelte, der anzeigt, dass alles, was das Subjekt scheinbar äußerlich begehre, nur aufgrund seiner inneren Ausrichtung oder Disposition begehrt werde.13 Die Empfindlichkeit (la sensibilit¦) bildet für die Erotik eine wesentliche Voraussetzung, und zwar die religiöse Empfindlichkeit, die sich Bataille zufolge im Klaren darüber ist, was es heißt, gegen ein Verbot zu verstoßen, doch zugleich von dem Begehren dazu getrieben sein muss. Angst und Begehren müssen demzufolge gleich stark sein. Anstatt das Gesetz zu befolgen, muss es überschritten und vollendet werden.14 Besonders in der Überschreitung verdichten sich Begehren und Schrecken, Genuss und Angst. An der Stelle zeigt sich bereits die enge Verknüpfung zwischen der religiösen und erotischen Sphäre, die im Verlauf des Textes zunehmend ineinander überführt werden. Durch den Akt der Zerstörung in der Überschreitung wird zugleich eine ungeheure Fülle freigesetzt, indem die von Gewalt begleitete Transgression durch die ungeheure Verschwendung und Verausgabung des Subjekts rauschhafte, entgrenzte Zustände schafft, die den Einzelnen mit der Welt verbinden: Bataille zufolge bewirkt erst die Entmachtung des Subjekts dessen völlige Souveränität.15 Die von Bataille geschilderte Doppelung aus Angst und Genuss, Begehren und Schrecken, welche den Grenzübertritt nicht nur markieren, sondern während seines Vollzugs begleiten, lässt sich insofern modifiziert auf die Texte übertragen, die das Genießen als ein organisches Zusammenspiel aus Schmerz und Lust, Angst und Sicherheit, Begehren und Ruhe, Schwäche und Stärke inszenieren. Die Überschreitung der Grenzen zwischen Gott und Mensch, Seele und Körper, Mann und Frau, die nach dem Übertritt in eine Einheit verschwimmen, produzieren jene Doppelung, deren Elemente einander bedingen und für einen kurzen Augenblick ineinander verschmelzen. In diesem Kontext bietet die paradoxe Verknüpfung von Selbstverlust und Selbsterfüllung sowie die Steigerung der Intensität durch den Tod Parallelen zu der Frauenmystik, die ebenfalls Tod und Vernichtung organisch einbindet, doch gleichzeitig noch über jenen Bezug zur Transzendenz verfügt, den Autoren wie Bataille auf erotischem Wege zu ersetzen suchen. Eine weitere Parallele ergibt sich durch die Bildpraxis, die als Vermittlung und Katalysator eingesetzt wird, um, wie bei Bataille anhand der Illustrationen, die rauschhafte Entgrenzung durch Transgression an sich selbst zu vollziehen, oder, wie in der Frauenmystik, durch sprachliche Bilder am Genießen Gottes in seinen 13 Vgl. Wiechens (1995), S. 67–80. 14 Vgl. Bataille, L’Êrotisme (1957), S. 71: »La transgression n’est pas la n¦gation de l’interdit, mais elle le d¦passe et le complÀte.« 15 Vgl. Land (1992).

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paradoxen Facetten performativ teilzunehmen. Gleichzeitig wird in einer solch kurzen Zusammenfassung deutlich, dass Batailles von Marquis de Sade und Nietzsche mitinspirierte Überlegungen zur Transgression in sich selbst höchst grenzwertig sind. So sind in seine Monographie zahlreiche Bilder gewalttätiger Szenen eingefügt,16 die sich geradezu als Anleitung zur Selbstpraxis verstehen. Sie zeigen meistens bunt gemischt verschiedene Ausprägungen der Überschreitung in obszönen oder gewalttätigen Szenen.17 Auch von Bataille selbst sind solche Experimente bekannt, die berechtigte Diskussionen auslösten.18 Sie zeigen in hässlicher Deutlichkeit, welche Gestalt die Praxis seiner Ideen annehmen kann. Trotz aller Reserve sollte der utopische Charakter seines Denkens und Schreibens nicht verkannt werden, der auf eine Erfahrung von Totalität und Einheit in einer brüchigen Moderne abzielt. Das ästhetisch Produktive ist leider keineswegs, wie Batailles anregendes Werk19 deutlich zeigt, automatisch das ethisch Korrekte.20 ›Im Gegenteil‹, wäre man fast versucht zu erwidern. Das soll hier auf keinen Fall in Abrede gestellt werden. Dennoch muss man Batailles Schriften zugestehen, dass sie selbst Grenzgänge des Denkens und hierbei Überschreitungen vollziehen, deren Strukturen den Versuch einer Übertragung lohnend erscheinen lassen. Außerdem können Batailles Interesse und Sensibilität für verschobene Randzonen und abgedrängte Grenzgebiete das eigene Bewusstsein für deren Existenz in jedem Fall schärfen. Auf ihre ganz eigene Weise loten auch die Texte der Frauenmystik das verminte Feld einer entgrenzten Gottesbegegnung aus,21 das den Menschen zugleich in Alles und Nichts auflöst. 16 Bataille, L’Êrotisme (1957) und ders., Les larmes d’Êros (1962). 17 Vgl. Bataille, L’Êrotisme (1957), S. 301f.: Die letzte Illustration zeigt Berninis Teresa von Ývila; zusätzlich bekräftigt Bataille hier noch einmal den Zusammenhang zwischen Erotik und Mystik, wenn es auf der Rückseite des Bildes heißt: »Il y a des similitudes flagrantes, voire des ¦quivalences et des ¦changes entre les systÀmes d’effusion ¦rotique et mystique.« 18 Wiechens (1995), S. 72: »Die Photographie eines gemarterten Chinesen, die Bataille 1926 von dem Psychoanalytiker Adrien Borel erhielt und die ihm als ›Meditationsstütze‹ diente, vermittelt diese Erfahrung der radikalsten Form der Überschreitung der eigenen Grenzen.« Später veröffentlichte er diese Photographie in: Bataille, Les larmes d’Êros (1962), S. 233f. und 237. Dort wies er auf den Zusammenhang dieser Photographie mit von ihm durchgeführten Yogapraktiken hin, die eine Ekstase auslösten, die ihm zufolge zugleich religiös und erotisch durchmischt war. Kritisch dazu: Bourgnon (2004). 19 Besonders interessant für die Literaturästhetik: Bataille, La litt¦rature et le mal (2007). Vgl. in dem Zusammenhang: Kristeva (1989), S. 351. Die Paradoxie des Batailleschen Denkens und Schreibens leitet Kristeva folgendermaßen ein: »Man könnte dazu neigen, die erotischen Erfahrungen Batailles einem Katholizismus zuzuschreiben, der bis ans Ende seiner Sündenlogik getrieben wird und sich schließlich in sein absolutes Gegenteil kehrt. Dieser für Batailles Schreiben sicherlich wichtige Aspekt sollte jedoch nicht die allgemeine Logik verdecken, die darin enthalten ist.« 20 Vgl. bes.: Bischof (1978). Ebenso: Bürger (1992). 21 Als ein gutes Beispiel für eine Überschreitung wäre die Verabschiedung der Tugenden in

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Während Bataille auf der Überschreitung insistiert, was eine klare Trennung von erlaubten und tabuisierten Bereichen impliziert, die Texte der Frauenmystik dagegen von Überschreitung zu Überschreitung schreiten und dabei jede einzelne hinter sich zurücklassen, zeigt Jean Baudrillard (1929–2007) die Auflösung jeglicher Grenze in der Ekstase, die in eine völlige Absorption mündet. Im Folgenden wird ein sehr schmaler Ausschnitt aus dem umfangreichen Werk von Baudrillard einbezogen, aus dem lediglich ein Grundgedanke interessiert, und zwar betrifft dies seine Überlegungen zu Ekstase und Trägheit in »Les strat¦gies fatales«.22 Im ersten Kapitel bestimmt er die Ekstase als etwas, das alles beinhalten kann, sofern sie eine Leidenschaft als Grundzug aufweist und nicht mehr auf ein Gegenteil bezogen ist, sondern sich stattdessen verdoppelt und steigert: »Passion […] de l’exstase – de quelque qualit¦ que ce soit pourvu que cessant d’Þtre relative — son contraire (le vrai du faux, le beau du laid, le r¦el de l’imaginaire), elle devienne superlative, positivement sublime parce qu’elle a comme absorb¦ toute l’¦nergie de son contraire. Imaginez quelque chose de beau qui aurait absorb¦ toute l’¦nergie du laid: vous avez la mode …«23

Sowohl die Unterscheidung zwischen erlaubten und verbotenen Bereichen als auch die Überschreitung des Tabus, welche bei Bataille eine so große Rolle spielen, entfallen bei Baudrillard. Tendenziell ist alles möglich, aber genau in dieser Vagheit liegt ein Problem, da Baudrillard sich grundsätzlich auf nichts festlegt, sondern seine Überlegungen in einem schwebenden Fluss hält. Die Auflösung klarer Unterscheidungen im Extrem beziehungsweise in der Vereinigung zweier Extreme ist das einzige Merkmal für die Ekstase, die ihrer Exklusivität verlustig geht und alles und jeden betreffen kann, ja, für Baudrillard zur Signatur einer wuchernden und krebsartig überfüllten und zugleich entleerten Postmoderne wird. Wucherung und Potenzierung treten an die Stelle des Sinns und der Bedeutung, die sie übersteigern und dadurch paradoxerweise aushöhlen. Hier entsteht Ekstase, die gleichsam als schwindelerregender Rausch der Leere freigesetzt wird,24 wodurch sie einen Modus des Verschwindens darstellt.25 Durch die Aufhebung ihres Gegenteils, dessen Energie die ekstatische Form in sich aufgenommen habe, unterscheide sie sich Baudrillard zufolge von der ästhetischen Form, da diese noch eine moralische Unterscheidung beinhalte,

22 23 24 25

Mirouer 6, 8, 21, 56 und 66 und die frohlockende Freude der Seele oder der Liebe darüber, oder der Verzicht auf die göttliche Süße während der Gottesverlassenheit in FL IV, 12. Doch zieht in den Texten der Frauenmystik eine kühne Überschreitung die andere nach sich. Baudrillard, Les strat¦gies fatales (1983), S. 9–33. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12: »L’exstase est cette qualit¦ propre — tout corps qui tournoie sur lui-mÞme jusqu’— perte de sens et qui resplendit alors dans sa forme pure et vide.« Blask (2005), S. 57–88.

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welche die ekstatische Form hinter sich gelassen habe. Jedoch fallen an dieser Stelle die Bestimmungen Baudrillards der ekstatischen Form inkonsequenterweise in genau die Oppositionen zurück, die er zu vermeiden trachtete, nämlich (forme) morale und (forme) immorale. Wenn die ekstatische Form tatsächlich die Energie ihres Gegenteils absorbiert hat, dann ist sie etwas Drittes, ein Anderes, weder morale noch immorale. Außerdem verkürzt Baudrillard mit dieser Aussage nicht nur die ekstatische, sondern auch die ästhetische Form, die mitunter ineinander verfließen kann:26 »Forme immorale, alors que la forme esth¦tique implique toujours la dinstinction morale du beau et du laid.«27

Die ekstatischen Formen der Gegenwart skizziert Baudrillard als Teil eines auf Extreme gerichteten Universums,28 die alle Energie seines Gegenteils absorbiert haben und dadurch schlimmer als schön29 werden. Denn in der Ekstase verlieren die herkömmlichen Unterscheidungen ihre Bedeutung, indem sie neue eingehen und andere schaffen, die aus der Kraft des Entgegengesetzten leben. Die Energie der Ekstase besteht darin, dass sie nicht mehr zwischen Lust und Schmerz, Exklusivität und Banalität, Heiligkeit und Verworfenheit, Entbehrung und Erfüllung unterscheidet, sondern wie ein riesiger Schlund alles in sich einsaugt, verschluckt, aufnimmt. Das ist nicht unbedingt positiv gemeint, sondern versteht sich als Kennzeichnung der Gegenwart ohne mystische Überhöhung. Baudrillard spricht als Zeit- und Kulturkritiker, wenn er die Ekstase als Überfülle dessen, wo gleichzeitig nichts mehr ist, beschreibt,30 aber zugleich verweist er mit seiner Bestimmung ekstatischer Formen als totale Absorption der Energie des Gegenteils auf eine Eigenart mystischen Sprechens, die besonders in Kombination mit der Theorie der Transgression von Bataille eine plausible Bestimmung des Genießens ergeben kann. Denn die mystische Sprache, der ihr innovativer Charakter zu Recht zugestanden wird, nimmt Überschreitungen vor, um zugleich das Überschrittene ineinander aufgehen zu lassen; sie kennzeichnet zwar die Grenzlinien, ohne jedoch an dieser Stelle zu stagnieren,31 26 Bereits in der Romantik wird das Hässliche ästhetisch inszeniert, was Poes Erzählungen über die Nachtseiten der menschlichen Psyche wie Mord, Folter oder Inzest hinreichend belegen, beispielsweise »Berenice«, »The Fall of the House of Usher«, »The Pit and the pendulum«, »The Tell-Tale Heart«, in: Poe (1998), S. 13–20; 49–65; 135–148; 193–197. 27 Vgl. Baudrillard, Les strat¦gies fatales (1983), S. 11. 28 Ebd., S. 9: »L’univers n’est pas dialectique – il est vou¦ aux extrÞmes, non — l’¦quilibre. Vou¦ — l’antagonisme radical, non — la r¦conciliation ni — la synthÀse.« Andererseits wird m. E. genau dieser radikale »antagonisme« durch die Absorption eines Gegenteils aufgebrochen. 29 Ebd., S. 12: »›Je ne suis par belle, je suis pire‹, dit Marie Dorval.« 30 Ebd., S.15: […] »toujours quelque chose de redonant s’installe l‚ o¾ il n’y a plus rien.« 31 Vgl. exemplarisch das Gespräch der Seele mit den Sinnen und später mit dem Leib im Laufe des Minnewegs in FL I, 44.

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sondern sie entfaltet eine eigene Sogkraft auf die Einheit hin,32 was einen eklatanten Unterschied zu Baudrillard darstellt. Roland Barthes (1915–1980) nähert sich dem Phänomen der abgründigen, rauschhaften und ernüchternden Liebe, indem er einen leidenschaftlichen discours amoureux eines einsam(en) Liebenden und Begehrenden entwirft,33 den er aus Fragmenten mosaikartig zusammensetzt, so dass dieser flexibel und verschiebbar bleibt, indem er immer wieder neue Deutungsmöglichkeiten zulässt:34 was es extrem erschwert, einzelne Abschnitte herauszugreifen. Der Text speist sich aus einer Fülle von Zitaten, die miteinander zu etwas Innovativem verwoben werden, indem sie in einen unaufhörlichen Dialog zueinander treten und sich wechselseitig kommentieren. Barthes selbst bezeichnet die einzelnen Abschnitte als bris de discours,35 die als einkreisbare und erinnerbare Figuren den Liebenden, der sich an ihnen abmüht und sein Denken in ihrem vielstimmigen Chor entwickelt, zeigen. In den einzelnen figures oder bris de discours zitiert er verschiedentlich den niederländischen Mystiker Ruysbroek; so im Kapitel »Toutes volupt¦s de la terre« dessen Schilderungen einer Wollust, die alles Irdische übertreffe und nach Barthes erst im Überfluss Erfüllung spende.36 Damit skizziert Barthes eine Befriedigung, deren einzig gültiges Maß das Übermaß darstelle, und zeigt dadurch, dass für denjenigen, der begehrt, erst in der Überfülle eine volle Befriedigung liege, nur ein trop genug sei, nicht aber ein juste. Doch bricht er dieses Zitat durch seine Anmerkung, dass ihm wenig an Chancen für Erfüllung gelegen sei, doch sei der Wunsch danach ausschlaggebend. Denn während Befriedigung allein im Schweigen ihre adäquate Entsprechung finde, ringe nur die Klage um sprachlichen Ausdruck, so dass dadurch eine Liebesbeziehung in ein fälschliches Licht getaucht erschiene: »›Or, prenez toutes les volupt¦s de la terre, fondez-les en une seule volupt¦ et pr¦cipitezla tout entiÀre en un seul homme, tout cela ne sera rien auprÀs de la jouissance dont je parle.‹ Le comblement est donc une pr¦cipitation: quelque chose se condense, fond sur moi, me foudroie.«37

Diese Übersteigerung des Begehrens, das nur in einer Überfülle seine Erfüllung und volle Befriedigung findet, lässt sowohl an die gerunge im Fließenden Licht als auch an die begherte in den Visioenen denken, vor allem natürlich in der 32 Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993). 33 Vgl. Röttger-Denker (1997), bes. S. 69–91. 34 Vgl. Barthes, Fragments (1977). In diesem Fall wird die deutsche Übersetzung in den folgenden Fußnoten alternativ angeführt, da sie in grundlegenden Punkten vom Original abweicht: Ders., Fragmente (1988). 35 Ebd., S. 7; alternativ : S. 16. 36 Ebd., S. 65–67; alternativ : S. 93–95. 37 Ebd., S. 65f.

36

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siebten Vision. Ebenso ergeben sich an diesem Punkt Anknüpfungspunkte an Richard von St. Viktor, der in seinem Traktat De quattuor gradibus violentae caritatis die Steigerung des unersättlichen Verlangens bis hin zum Liebeswahnsinn geschildert hat.38 Eine selbstverständliche Verbindungslinie ist in Barthes’ Text unmittelbar durch Ruysbroek gegeben, dessen ekstatische Genussschilderung ihre Faszination gerade aufgrund einer Leerstelle gewinnt, einer Unmöglichkeit, selbst den äußersten denkbaren Superlativ mit jenem Genießen zu vergleichen, das außerhalb irdischer Bezirke stattfindet. Ein weiterer Bezug zur Mystik wird durch die Abgrundmetapher in dem Kapitel »Je m’ab„me, je succombe« hergestellt, das durch eine französische Übersetzung aus dem »Werther« eingeleitet wird.39 Barthes definiert darin s’ab„mer als Wunsch des Subjekts, aufgrund von Verzweiflung oder Beseligung vernichtet zu werden. Entscheidend ist die Anwandlung einer Lust zugrunde zu gehen,40 die Barthes sodann mit einer douceur verbindet:41 Die Süße der Vernichtung lässt sich im Fließenden Licht beispielsweise an pointierter Stelle in IV,12 finden, wo die Seele das Sinken als süß empfindet, oder in Mirouer 28, wo die Seele im Meer der Freude schwimmt und große Lust, Wonne und Freude erfährt, nachdem sie – ein Zeichen des Selbstverlusts – ihren Namen verloren hat, so wie ein Fluss ins Meer einfließt. Barthes verbindet den Abgrund explizit mit Ekstase, Rausch, Schwindel, Selbstauflösung, der Form eines sanften, halben Todes. Insgesamt spielt der Selbstverlust in seinem discours amoureux eine zentrale Rolle, indem er das stammelnde, brüchige Sprechen eines liebenden Ichs über einen Anderen durch ›zusammengeliehene‹ Rede inszeniert, die, wie die Briefe Werthers, ohne Erwiderung bleiben. Die Ekstase, gekoppelt an den Abgrund, schwankt zwischen Verzweiflung und Entzückung, die durch den geliebten Anderen hervorgerufen werden, und findet sich dicht eingeschrieben zwischen Lust und Verlust, Abwesenheit und Präsenz, Begehren und Erfüllung. Der Text vibriert stellenweise zwischen allen verzweifelten und beglückenden Abgründen der Angst und der Sehnsucht des Liebenden, so dass man mitunter eine säkulare Übersetzung eines 38 Richard von St. Viktor/Schmidt (1969). 39 Barthes, Fragments (1977), S. 15–17; alternativ : S. 268–271. Die hier tiefgreifende Änderung der Anordnung in der Übersetzung wäre zu diskutieren. So ist im französischen Original dieses Kapitel das erste und in der deutschen Übersetzung, um die alphabetische Reihenfolge wiederzugeben, das letzte. Ob Barthes Statement einer »absolut bedeutungslosen Gliederung« (Barthes, Fragmente [1988], S. 21), auf welches sich der Übersetzer stützt, unbedingt zutreffen mag, sei dahingestellt. M. E. ist es entscheidend, ob man beispielsweise mit dem Abgrund anfängt oder aufhört, und ob Barthes sein Statement tatsächlich wörtlich gemeint hat, ist zu bezweifeln. 40 Barthes, Fragmente (1988), S. 268. 41 Ergänzend: Ders., Fragments (1977), S. 16, wo er jene paradoxe »douceur de l’ab„me« thematisiert.

Zusammenfassung

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mystischen Textes zu entziffern glaubt, was Barthes mittels seiner Zitattechnik stellenweise suggestiert.42 Diese Doppelung aus Begehren und Genießen, Selbstverlust und Vollständigkeit, Abgrund und Süße schreibt sich in den Genuss Gottes ebenso vielfältig und vielstimmig ein wie in Barthes »Fragments d’un discours amoureux«.

Zusammenfassung ›Genuss‹ oder genauer jouissance lässt sich den hier vorgestellten Theoretikern zufolge sowohl als Bewegung der Überschreitung (Bataille) als auch der Absorption (Baudrillard) begreifen. Die beiden Konzepte ergänzen einander gegenseitig, da sie auf jeweils unterschiedliche Aspekte Bezug nehmen, die sich im Genießen ausprägen können. So trennt die Bewegung der transgression die Bezirke des Erlaubten und Tabuisierten zu stark und zu eindeutig voneinander, während die Absorption sie ineinander aufgehen lässt. Durch die Aufnahme aller existenten Energien verdoppelt sich die Kraft des Genießens durch den Schmerz, die Intensität der Lust durch den Tod, die Bataille zwar deutlich konstatiert, aber deren Unterscheidungen selbst nach der Überschreitung beibehält, ohne die Bewegung einer Überschreitung der Überschreitung einzubeziehen. Diese fortschreitende Überschreitung aber vollzieht sich in den Texten permanent: So im Fließenden Licht in den einzelnen Büchern, welche das verzehrende Genießen und seine dunklen Schlagseiten über die Gottesverlassenheit bis zur frommen Alltagspraxis übersteigern; im Mirouer durch die spiralförmigen Überstülpungen von Tod in Süße, von Süße in Vernichtung, von Vernichtung in Genuss, die sich immer höher und zugleich immer tiefer über die einzelnen der sieben Stufen steigern. In den Visioenen prägt sich eine solche Überschreitung der Überschreitung im Verlauf der einzelnen Visionen aus, in denen erst das ghebruken leidenschaftlich bis zur siebten Vision verlangt, dann freiwillig entbehrt wird, bis es zugleich vollends gesüßt und vollends gesäuert durch das liebende Misstrauen in der dreizehnten Vision erscheint, bis in der vierzehnten Genießen und Begehren eine einzige Signatur bilden. Bei Barthes ergeben sich nicht nur durch seine Einblendung verschiedener Zitate aus der mystischen Literatur, sondern auch durch seine Sprach- und Bildtechnik Anschlussmöglichkeiten an die Texte aus der Frauenmystik. So 42 Ebd., S. 277: »Accent mystique: Vin le meilleur et le plus delectable, comme aussi le plus enivrant […] duquel, sans y boire, l’–me an¦antie est enivr¦e, –me libre et ivre! Oublieuse, oubli¦e, ivre de ce qu’elle ne boit pas et ne boira jamais!« Selbst das im Mirouer innovativ ergänzte Bild des berauschenden Weines, von dem man trunken ist, ohne davon getrunken zu haben, wird in einem weiteren Ruysbroek zugeschriebenen Zitat angeführt – und zwar als letztes, was seine Bedeutung steigert.

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verwendet er die Metapher des Abgrunds und die der Trunkenheit bei Ruysbroek, die genauso im Mirouer in der Form der Trunkenheit durch etwas NieGetrunkenes auftritt. Hierdurch werden sowohl der Selbstverlust als auch die süße Lust daran veranschaulicht, die Barthes durch seinen fiebrigen discours in Szene setzt und diesen besonders mit der Frauenmystik verbindet. Hierzu trägt in dem Zusammenhang die Übersteigerung des Begehrens bei, das nur in der Maßlosigkeit das ihm einzig entsprechende Maß findet und nur, wie besonders in den Visioenen vertreten, im Überfluss seine volle Befriedigung erfährt. In »Le plaisir du texte« unterscheidet Barthes zwischen Plaisir du texte und Textes de jouissance, die er folgendermaßen voneinander absetzt:43 »Plaisir du texte. Classiques. Culture […]. Intelligence. Ironie. D¦licatesse. Ma„trise. S¦curit¦: art de vivre. […] Textes de jouissance. Le plaisir en piÀces; la langue en piÀces, la culture en piÀces. Ils sont pervers en ceci qu’ils sont hors de toute finalit¦ imaginable – mÞme celle du plaisir […].«44

Barthes liefert an dieser Stelle die Beschreibung für das, was er in »Fragments d’un discours amoureux« performativ umsetzt: Einen bruchstückhaften texte de jouissance, in dem alles fragmentiert auftritt, sogar das Genießen, und in dem aufgrund der intertextuellen Zitat- und Einschreibetechnik sich alles in fortwährender Bewegung befindet, die nie zu endgültiger Ruhe kommt – nicht einmal das plaisir. Hier zeigt sich ein Unterschied zu den Texten der Frauenmystik, welche sowohl die Zerrissenheit durch das Verlangen als auch die Ganzheit des Genießens schildern, die sie jedoch ineinander überführen und so ebenfalls in einem transgressiven Modus halten. Dennoch ließe sich der Ausdruck textes de jouissance mit Sicherheit gewinnbringend auf sie anwenden, da sie in einer gleichfalls aufgebrochenen Sprache das Genießen im Begehren umkreisen und zwischen Sehnsucht und Vollzug oszillieren. Besonders diese Bewegung hat Barthes herausgestellt.45 Insgesamt liefern die (post-)modernen Theorieansätze für die Untersuchung einen wichtigen, wenngleich im Hintergrund existenten Bezugspunkt, der eine aktuelle Verortung in der eigenen Kultur vornimmt.46 Mittelalter und Postmoderne sollen hierbei keineswegs nahtlos ineinander aufgehen, es ist nicht beabsichtigt, Alteritäten zu verwischen. Denn die Andersartigkeit und Eigenheit 43 Barthes, Le plaisir du texte (1973). 44 Ebd., S. 82f. 45 Vgl. hierzu C. Müller (1999), bes. S. 144 und 149, wo sie ebenfalls Bezüge zwischen dem Mirouer und Barthes’ »texte de la jouissance« aufgrund der Stimmhaftigkeit, der Sangbarkeit, der Polyphonien herstellt. 46 Vgl. hierzu Stadler (2001), S. 33–41, die das weibliche Sprechen anhand der Theorien von Luce Irigaray problematisiert und hierdurch eine Verknüpfung von Frauenmystik und (Post-)Moderne vornimmt.

Zusammenfassung

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des Genießens in der Frauenmystik zeigt sich vor allem in der alleinigen Ausrichtung auf Gott und den transzendenten Sinnbezügen, die in den Texten zusammen mit versinnlichenden Inszenierungen ein paradoxes Kippverhältnis erzeugen. Das hebt sie deutlich von einer sinnentleerten oder, genauer, von einer polyvalenten, unbestimmten, um ihren Sinn kämpfenden Moderne ab, die sich immer mit einer Pluralität von Werten, Formen, Stilen konfrontiert sieht. Das Verbindliche muss in der Gegenwart stets neu geschaffen werden, während Gott als einziger Fixpunkt in den Texten selbst in ihren Extremen unverrückbar feststeht. Genau in den Themenfeldern von Überschreitung und Absorption, Eigensemantik der Ekstase und Liebesdiskurs im genussvollen Selbstverlust wird sichtbar, wie klar in postmodernen Theorien trotz aller selbstzugeschriebenen Radikalität Grenzen beibehalten werden, während das Genießen in der Frauenmystik im Sprechen zugleich mit- und nachvollzogen wird und dabei eine einzigartige Konsequenz und Dynamik der Texte vorführt. Für den an der mittelalterlichen Mystik geschulten Beobachter hat es den Anschein, als ob postmoderne Werke, die sich mit dem ekstatischen Genießen befassen und hierbei willkürliche Textanleihen vornehmen, eine Sehnsucht nach etwas bekunden, für das Erotik eine bloß symbolische Worthülse darstellt und das sie lediglich im Mittelalter, dem sogenannten »fernen Spiegel«,47 mehrfach gebrochen aufblitzen sehen. Umso aufschlussreicher und lohnender könnte demzufolge die Beschäftigung mit Konzeptionen des Genießens Gottes aus der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts sein, um die verloren oder eher verschütt gegangenen Dimensionen wieder aufzuzeigen.

47 Vgl. Tuchman (2001).

Teil I: Theoretische Vorüberlegungen

I.1

Zur Wortanalyse: Plädoyer für einen erweiterten Begriff von ›Bedeutung‹

Oft wurde in der mediävistischen Forschung die sogenannte »Vagheit« mittelalterlicher Bezeichnungen angemerkt, teils klagend, teils erfreut, ebenso die als »Unschärfe« konstatierten Auswirkungen auf die historische Semantik.1 Eindeutiger Systematisierung entziehen sich solche Selbstbezeichnungen ebenso wie die Begriffe, die sie repräsentieren. Wenn man im Sinne der Kulturwissenschaften jedoch diese »Vagheit« als spezifisches Kennzeichen der mittelalterlichen Kultur versteht, ist sie »von beträchtlichem historischen Aufschlusswert«,2 da sie gerade deren Alterität an der Stelle besonders verdeutlicht. Im Anschluss an Kienings Überlegungen wird hier historische Semantik auch als »ein Mittel zur kontrollierten und reflektierten Entfaltung der Alterität ihres Gegenstands« verstanden.3 Gleichzeitig sollte diese »Vagheit« nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden, sondern wird in dieser Arbeit als Herausforderung begriffen, ein differenziertes Instrumentarium zur Entfaltung der spezifischen Alterität des Genießens zu entwickeln. Ähnlich wie für »Gegenwärtigkeit«4 trifft diese Beobachtung einer Verschwommenheit für das mystische Genießen in hohem Maße zu, da es sich per se als etwas Unsagbares versteht, was ausschließlich dem gnadenhaften Erfahrungswissen zugehört und dementsprechend nur im Vollzug erfasst werden kann. Genau diese Unsagbarkeit aber wird paradoxerweise sprachlich verschlüsselt und performativ ausgeweitet. Um zuerst eine stabile Basis aufzubauen, der zugleich zentrale Funktion zukommt, sollen im wortanalytischen Teil die einzelsprachlichen Bezeichnungen in ihren jeweiligen Kontexten untersucht werden. »Bezeichnung« und »Wort« werden hierbei als vielfältige konkrete einzelsprachliche Ausprägungen im Gegensatz zu dem Terminus »Begriff« bevorzugt, der ein Konzept repräsentiert. Um deduktive, überstürzte Fehlschlüsse zu vermeiden, muss ein induktives 1 Vgl. Dicke, Eikelmann und Hasebrink, Historische Semantik (2006), bes. S. 4f. sowie Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), bes. S. 20. 2 Hasebrink, Dicke und Eikelmann (2006), S.5. 3 Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), S. 22. 4 Ebd., S. 33–46.

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Zur Wortanalyse

Verfahren angewandt und konsequent praktiziert werden. Grubmüller hat legitimerweise angemahnt, »weiträumige, nicht nur auf einzelne prominente oder zufällig herausgegriffene Stellen bei der Wortanalyse als Basis der zu erschließenden Vorstellungen« zu verwenden.5 Erst auf der soliden Grundlage sämtlicher Belegstellen kann das Profil des Genießens schärfer akzentuiert hervortreten, bevor es sich mit seinen impliziten Dynamisierungen weitergehend anreichert. Wenn das Genießen auf seiner Unsagbarkeit beharrt, während es gleichzeitig sprachlich in Erscheinung tritt, muss diese paradoxe Spannung in die Wortanalyse integriert werden. Dies gelingt, wenn man die Bezeichungen des Genießens innerhalb ihres Kontextes sorgfältig interpretiert und sie anschließend in Beziehung zueinander setzt, ohne künstlich zu glätten oder zu vereinheitlichen. Die »Vielfältigkeit der Wortverwendungen«6 ist hierbei auffallend weitläufig, mitunter sogar disparat bis widersprüchlich und muss entsprechend berücksichtigt werden. Hierbei hat sich die grammatikalische Differenzierung als ausgesprochen hilfreich erwiesen, da, zum Teil ähnlich der mystischen »Gelassenheit«,7 die Substantive, welche »Genuss« bezeichnen, dezidiert emphatischer eingesetzt werden als die flexiblere und oft dynamischere Verbform. Auch der analogische Vergleich mit den drei Volkssprachen kann dazu beitragen, die komplexen Facetten des Genießens genauer zu profilieren. Gleichzeitig verkomplizieren die drei Volkssprachen das Unternehmen, da die Bezeichnungen des Genießens verschiedenen Sprachwelten zugehören. Deshalb wird bei der Wortanalyse jeder Text für sich behandelt, was im Gegensatz zu der Bildanalyse steht. Aber die explizite Semantik des Genießens gewinnt meines Erachtens durch eine sorgfältige Detailanalyse, um so im Anschluss an Kiening »zunächst einmal das Spektrum der Wörter und Begriffe zu entfalten«.8 Direkt danach können die Bezeichnungen der verschiedenen Einzelsprachen aufeinander bezogen werden, um reliefartig sowohl in ihrer Eigenart als auch Gemeinsamkeit hervorzutreten. Erschwerend kommt noch die singuläre Literarizität der einzelnen Texte hinzu, die eher verdunkeln und zugleich überblenden. Aufgrund der spezifischen Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstands erweitert diese Arbeit daher das traditionelle Verständnis von »Bedeutung« und verzichtet auf eine Zusammenstellung festgefügter Merkmale. Denn diese kann der Komplexität des Genießens nicht gerecht werden, was man bei der Vielzahl heterogener Textstellen konstatieren muss, in denen die einzelne Wortform gebracht wird. Die explizite Semantik, die unmittelbar auf der Textoberfläche 5 6 7 8

Vgl. Grubmüller (2003), bes. S. 48. Ebd., S. 67. Vgl. Hasebrink, Bernhard und Früh (2012), S. 14. Vgl. Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), S. 27.

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arbeitet, versammelt somit ohne vorherige Prämissen und Unterschiede sämtliche Textstellen. Dadurch bietet sie durch eine Rückkoppelung die Möglichkeit, Interpretationsthesen kritisch zu überprüfen und eventuell zu korrigieren. So überwiegt die Anzahl an Publikationen, die sich mit den ersten beiden Büchern im Fließenden Licht beschäftigen; ebenso kam Hadewijchs siebter Vision in der Forschung stets eine besondere Aufmerksamkeit zu. Sicher nicht ohne Grund, aber gerade bei einer Thematik wie dem Genießen ist es von entscheidender Bedeutung, eine breite Basis aufzubauen, welche die Disparatheit und Vielschichtigkeit des Gegenstands sichtbar macht. So lässt sich feststellen, dass emphatische, ihre Außergwöhnlichkeit betonende Wortverwendungen neben beinahe gleichgültigen, alltäglichen auftreten. Was das für das Genießen Gottes zu bedeuten hat, lässt sich gerade an der Wortanalyse zum Fließenden Licht ablesen. Genau solche scheinbar banalen oder bedeutungslosen Stellen fallen gerne durch die Deutungsraster, obgleich sie das Potential haben, genau diese Deutung gegen den Strich zu bürsten. Mit Hilfe der expliziten Semantik ist es dagegen möglich, ein sehr differenziertes Spektrum des Genießens zu entfalten. Daher erweist sich, trotz anfänglich starker persönlicher Reserve, ausgerechnet die gründliche, jede Textstelle ausbuchstabierende Wortanalyse als gewinnbringend und tiefenschärfend für die gesamte Untersuchung. Sie verhindert auch, sich vorschnell von der impliziten Semantik blenden zu lassen – umso mehr, da die Texte implizite Semantisierungsstrategien wie Bildgebung und performative Inszenierung artifiziell ausgestalten. Da Bezeichnungen und Bilder je nach Text – teils selten (Mirouer), teils manchmal (Fließendes Licht), teils oft (Visioenen) – im gemeinsamen Kontext auftreten, werden die Bilder zugleich als eine Art Scharnier verstanden, eine Gelenkstelle, die die jeweiligen Bezeichnungen mit den großflächigen, performativ aufgeladenen Bildketten verknüpft. Vor dem oben skizzierten Hintergrund sieht sich das Vorgehen historischer Semantik demzufolge vor eine doppelte Herausforderung gestellt: Es gilt, die explizite Semantik der diversen Bezeichnungen des Genießens mit einer impliziten Semantik der sinnlich aufgeladenen Bildgebung und der performativen Dimensionen zu verbinden. Damit soll das semantische Netz des Genießens, das die Texte mit einer erstaunlichen Dichte, Varianz und Flexibilität überzieht, freigelegt werden. Jedoch sind historische Semantik und Dimensionen des Performativen einander nicht selbstverständlich zugeordnet, sondern befinden sich in einem latenten Spannungsverhältnis zueinander. Das heißt, auch die explizite Semantik der konkreten Wortanalyse weist mit der impliziten Semantik der performativen Inszenierungen der Texte scheinbar kaum Kongruenz auf. Denn während die historische Semantik generell ein klar umreißbares Wort beziehungsweise einen

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Begriff voraussetzt, den sie sowohl morphologisch als auch kontextuell in seinem vielteiligen Wandel erforscht,9 ist das in den Theorien ästhetischer Performativität10 keineswegs der Fall. Dagegen prägen Begriffe wie »Präsenz«, »Ereignis«, »Wahrnehmung« (alternativ »Aisthesis«), »Aura«,11 »Materialität«12 und »Transgressivität«13 deren Diskussion.14 Der prozessuale Charakter des Vollzugs oder der Erfüllung, der häufig die Grenzen zwischen Werk-, Produktions- und Rezeptionsästhetik auflöst, absorbiert oder ›verfärbt‹ oft das einzelne Wort, das völlig in der Wahrnehmung des »Erscheinens«15 aufgeht. Ein einzelnes Wort wäre nicht mehr aus dem komplexen und zugleich flüchtigen Gefüge des Ereignisses einer Aisthesis abzulösen, die sich vor allem für das »Unverfügbare« interessiert.16 Die Bewegung und die Wandelbarkeit, somit das Flüchtige, werden hierbei zentral. Eine Wortanalyse wäre demzufolge überflüssig, weil sie zu kurz griffe. Dem schließt sich die vorliegende Untersuchung nicht an, sondern beharrt auf der Basis der Wortanalyse darauf, dass genau dadurch das performative Potential der Texte überhaupt erst sinnvoll entfaltet werden kann, ohne in Beliebigkeit abzugleiten. In der germanistischen Mediävistik fanden ebenfalls Auseinandersetzungen mit Performanz und Performativität statt, die durch solche Texte wie die anfangs zitierten zwar zentrale Impulse erhielten, aber modifiziert weiterentwickelten.17 Auf eine semiorale, multimediale Kultur der Vormoderne übertragen, deren Texte Zeugen eingeschriebener Performativität in Form von »Vollzugshaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit, Situationalität, Inszenierungen, Ritualisierungen und audio-visuelle, körperbezogene Praktiken«18 sind, wird Vokabular wie »Ereignis«, »Aufführung« oder »Vollzug« dahingehend angewandt, dass die Texte als Träger und Vermittler performativer Energien begriffen werden. Im Gegensatz 9 Exemplarisch: Fritz (2006); A. Blank (2001), bes. S. 69–101; Busse, Historische Semantik (1987); ders., Semantik (2009). 10 Allgemein: Fischer-Lichte (2005); Krämer (2004); Mersch (2002). 11 Vgl. bes. zu den Begriffen »Ereignis«, »Aisthesis«, »Aura«: Mersch (2002), wobei dieser sich in der Hauptsache auf zeitgenössische Kunst bezieht. 12 Vgl. zu »Materialität«, »Ereignis«, »Aufführung«: Fischer-Lichte (2005), für welche ihr »Konzept der Theatralität« einen Leitbegriff darstellt, da sie eine dezidiert theaterwissenschaftliche Ausrichtung hat. 13 Vgl. zu »Transgressivität«, aber auch zur »Bipolarität des Wahrnehmens, Korporalität, Ereignischarakter«: Krämer (2004), S. 21. 14 Die für die Analyse und Beschreibung des Performativen verwendeten Begriffe weichen vor allem in ihrer Akzentuierung voneinander ab, die von dem jeweils vorherrschenden Theoriemodell geprägt ist. 15 Zum Begriff vgl. allgemein Seel (2003). Speziell zur Theorie der Wahrnehmung als eine Theorie des Erscheinens vgl. Mersch (2002), S. 10. 16 Ebd., S. 9–53. 17 Vgl. exemplarisch: Suerbaum und Gragnolati, Medieval Culture (2010); Gertsman, Introduction (2008); Kiening und Herberichs, Einleitung (2008). 18 Kiening und Herberichs (2008), S. 16.

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zur Postmoderne, welche die Entdeckung der textuellen Performativät für den letzten Schrei hält, muss allerdings nüchtern bilanziert werden, dass, ähnlich wie beim Genießen, die Texte der Vormoderne über sämtliche performative Strategien ebenso selbstverständlich verfügen wie sie Genuss als vielseitige Kippvorlage begreifen. Kiening und Herberichs zufolge sind diese Texte zugleich »prekär und reichhaltig«, da sie lediglich »Modelle von Vollzügen und Wirkungsmöglichkeiten von performativen Akten« böten.19 Die vorliegende Untersuchung schließt sich diesen Prämissen an, die zum einen zeigen, dass das semantische Verfahren aus expliziter und impliziter Analyse die mittelalterliche Kultur integriert, die ganz selbstverständlich performativ ausgerichtet war. Zum anderen aber verweisen sie auch darauf, dass diese »Modelle« und »Wirkungsmöglichkeiten« erst in den Texten freigelegt werden müssen. Diese Freilegung vollzieht sich in einem doppelten Vorgehen: Zum einen durch die einzelsprachliche Analyse direkt am Wort in dessen unmittelbarer Umgebung, zum anderen mittels der Entschlüsselung der performativen Energien der Texte, die als in diese eingeschriebene »scripts for performance«20 begriffen werden. Demzufolge sind explizite und implizite Semantik nicht konträr zueinander, sondern komplementär einzustufen. Jede für sich würde nur einen Teil erfassen, der das Gesamtbild entspechend verzerren würde. Deshalb ist es so wichtig, beide zu verbinden. Kiening hat am Beispiel des Wortes gegenwfflrtikeit im Fließenden Licht sehr anschaulich gezeigt, dass Wortsemantik und performative Semantik sich bei manchen Wörtern im Mittelhochdeutschen sogar überlagern können.21 Was für Gegenwärtigkeit gilt, trifft für den Genuss noch mehr zu: Die Entfaltung der Bedeutung von »Genuss« geschieht im Vollzug. Dennoch bleibt das Wort selbst auf der Textoberfläche klar erkennbar. Das Spannungsverhältnis zwischen performativer und Wortsemantik ist somit nicht in jedem Fall, nicht in jeder Kultur gegeben. Unterstützt wird diese Ansicht inhaltlich-methodisch auch durch das Projekt »Semantik der Gelassenheit«.22 Obgleich aufgrund der anderen Textauswahl anders akzentuiert, knüpft es eng daran an. Eine Semantik der Gelassenheit geht nicht »von einem abstrakten Bedeutungsgehalt« aus, sondern »fokussiert die jeweiligen Semantisierungsstrategien in den unterschiedlichen literarischen und pragmatischen Kontexten«.23 Ausdrücklich werden hierbei neben der »Etablierung« auch die »Verschiebung oder Transformation von Bedeutungen« genannt, worunter »Akte der literarischen Performierung« oder »Prozesse

19 20 21 22 23

Ebd., S. 11; Hervorherbung i.O. Suydam, Women’s texts and performances (2008), bes. S. 151–153. Vgl. Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), S. 33–46. Vgl. Hasebrink, Bernhard und Früh, Einleitung (2012). Ebd., S. 9f.

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Zur Wortanalyse

poetischer Desemantisierung« fallen.24 Demzufolge wird nicht zwischen semantischen und asemantischen Elementen unterschieden, sondern das sogenannte Asemantische, Präsentische, Performative wird als ein zentraler Bestandteil von Bedeutung begriffen. Erst in der Koppelung von expliziter und impliziter Semantik aus Bezeichnungen, Bildern und performativen Inszenierungen wird die semantische Fülle des Genießens deutlich. Es wäre in dem Zusammenhang zu überlegen, inwiefern die semantische »Unschärfe« oder »Vagheit« mittelalterlicher Selbstbezeichnung aus dieser Kombination von expliziten und impliziten Semantisierungsstrategien der Texte resultieren könnte. Dies stellt für die historische Semantik, welche die Texte ernst nimmt, eine entsprechende, aber produktive Herausforderung dar. Daher möchte die vorliegende Arbeit den Begriff der ›Bedeutung‹ in diesem erweiterten Sinne verstanden wissen – ohne die Wortsemantik zugunsten der performativen Semantik preiszugeben, sondern stattdessen beide zu kombinieren.

24 Ebd., S. 10.

I.2

Zur Bildanalyse: Zwischen mittelalterlichen Selbstbeschreibungen und kognitiven Metapherntheorien

Das folgende Kapitel liefert die theoretischen Vorüberlegungen für die Textanalyse der Bilder im zweiten Teil. Es beschäftigt sich zum einen mit Aspekten mittelalterlicher Selbstbeschreibung hinsichtlich des mystischen Sprechens in Bildern, zum anderen mit der Anwendung moderner Metapherntheorien auf die Texte. Diese wird von spezifisch mediävistischen Arbeiten von Blank und Ohly zum mittelalterlichen Bildbegriff und -gebrauch flankiert. Eine solche Doppelung hat sich als geeignet erwiesen, um das entworfene Spannungsfeld von Literarizität und Körperlichkeit theoretisch auszubalancieren, ohne weder den Texten etwas überstülpen noch auf theoretische Reflexion verzichten zu wollen. Da die mystische Bildrede mit Recht eine Hauptrolle in der Forschung spielt, soll sie in diesem Kontext besonders berücksichtigt werden, weil alle drei Texte zentrale Gedankenkomplexe in vieldeutigen Bildern verschlüsseln. Außerdem verweist die semantische Verknüpfung von Bild und Literatur (-gattung) auf in der mittelalterlichen Kultur bestehende enge Verbindungen zwischen Text und Bild. Texte der Frauenmystik sind, schon aufgrund ihres Gegenstands, im Besonderen als eine Literatur zu verstehen, die bildhaftes mit konkretem Sprechen verbinden, sich dabei selbst zugleich bewusst als ein Sprechen in Bildern begreifen. Zugleich formen sie ein spezifisches Textverständnis, das fließende Übergänge zwischen Text und Bild durch das Einsetzen von Tropen, durch die Affizierung der Imagination, sowie durch Verkörperung und Auratisierung schafft. In der Mystikforschung wurde daher den Bildern von Anfang an stets ein exklusiver Platz eingeräumt, und kaum eine Untersuchung kommt ohne sie aus. Grete Lüers, Michael Egerding und Bardo Weiß haben eine Kartographie der mystischen Bildersprache erstellt und umfangreiche Arbeiten vorgelegt, die hier als Grundlage verwendet werden.1 Mit dem Genießen Gottes wiederum steht diese Bildsprache mit ihren aisthetischen Bezügen in besonderem Zusammenhang, vor allem, da sie diesen Genuss mit rauschhaften, sinnlichen Bildfolgen in gefährliche Nähe zur Häresie 1 Lüers (1926); Egerding (1997a& b); Weiß (2000).

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Zur Bildanalyse

rückt. Gerade zur kühnen, erotischen Bildsprache haben speziell zu Mechthild von Magdeburg zahlreiche Forscher der germanistischen Mediävistik Stellung bezogen, um für das »Skandalon der passionierten Liebe«2 adäquate Ansätze und Konzepte zu erarbeiten. Dieses Kapitel stützt sich hierzu besonders auf die Forschungen von Langer, Köbele und Kasten. Da auf Erstere im Kontext dieser Arbeit vielfach Bezug genommen wird, gehe ich hier lediglich ausführlicher auf Ingrid Kasten ein. In ihrem Aufsatz zu Momenten der Sinnlichkeit in Mechthilds mystischer Sprache begreift sie die Unio als ein performativ inszeniertes Geschehen, das, deckungsgleich mit Langer, »über sinnliche, körperbezogene Vorgänge imaginiert«3 wird.4 Kasten beschreibt präzise diese »körperbezogenen Vorgänge«,5 welche die Sprache der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts auszeichnen. Darunter subsumiert sie Essen, Hungern, Trinken; die Sinne (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken) und Bewegungen (Springen, Tanzen, Fliegen, Schweben, Aufsteigen, Sinken, Jagen, Laufen) und verweist auf das »spezifische Gepräge«, das solche Bilder den Texten verleihen.6 In ihrer Verknüpfung von Körperlichkeit und Textualität schließt die vorliegende Untersuchung direkt an Kasten an, wobei in dem Zusammenhang die damit verbundene Bildlichkeit als zentrale Scharnierstelle zwischen Körper und Text begriffen wird, die zwischen diesen beiden vermittelt und Körperlichkeit und Literarizität ineinander zu überführen sucht. Während die Niederlandistik mit Joris Reynaert einerseits ein exemplarisches Standardwerk aufzuweisen hat, das die Bildlichkeit bei Hadewijch akribisch aufzählt und in verschiedene Traditions- und Forschungszusammenhänge einordnet,7 und andererseits Paul Mommaers das ghebruken zu seinem Hauptthema gemacht hat,8 ist Genuss in seiner Bildgestaltung und überhaupt als Thema für die Mirouer-Forschung im Grunde noch nicht existent. Die Perspektive auf den Mirouer als Lehrspiegel und das Interesse an der Biographie der Marguerite Porete erschwert die Wahrnehmung der in den Text eingespeisten Themenfülle. So ist die sinnliche Schicht der Sprache im Mirouer, welche sich vor allem in den Bildern der Sättigung und Trunkenheit oder in der alles durchdringenden Lust und Süße zeigt, als solche erst noch in den Vordergrund zu rücken. Die Spannung zwischen Literarizität und Körperlichkeit, zwischen Versinn2 3 4 5 6 7 8

Langer, Christliche Mystik (2004), S. 227–252. Ebd., S. 103. Vgl. hierzu Kasten, Körperlichkeit und Performanz (1998). Ebd., S. 103. Ebd., S. 97. Reynaert (1981). Vgl. vor allem zu der Thematik des Genießens bei Hadwijch: Mommaers, Hadewijch (2003); ders. und Dutton, Hadewijch (2004); ders., Hadewijch d’Anvers (1994), bes. S. 99–131.

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lichung und Entsinnlichung, an der sich bereits so viele Forscher abgearbeitet haben, soll hier wieder aufgegriffen werden. In diesem Zusammenhang muss die Diskussion um Verortung und Status des Bildes wieder aufleben, hierbei zwischen mittelalterlichen Selbstbeschreibungen der verwendeten Texte und zwischen modernen Metapherntheorien differenziert und ein Ansatz erarbeitet werden, der die historische Nähe des einen und die begriffliche Schärfe des anderen zu verbinden weiß. Auch sollen die Potentiale der Bilder, sowohl traditionelle als auch innovative Akzentuierungen zu verbinden, ebenso einfließen wie kognitive Ansätze, welche die Bildkomposition zum einen vom Körper her, zum anderen über kulturelle Muster zu begreifen suchen, ohne jedoch die Ästhetik beziehungsweise Aisthetik der Texte außer Acht zu lassen. Dies soll im Folgenden versucht werden.

Selbstbeschreibungen: ghelikenesse, ymage, wortzeichen, kreftig wort Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink und Gerd Dicke haben in einem Aufsatz auf die Notwendigkeit hingewiesen, mittelalterliche Selbstbeschreibungen verstärkt einzubeziehen, und zwar nicht nur in die Interpretationen, sondern auch in die theoretische Beschreibung von mittelalterlicher Literatur.9 Hieran möchte auch dieses Kapitel anschließen und daher nicht mit modernen Ansätzen der Metaphernforschung einsetzen, sondern zum einen eingangs klären, was die mittelalterliche Kultur unter bilde versteht, zum anderen die hier behandelten Texte dazu befragen. Inwiefern nehmen sie explizit Stellung zu ihrem Verfahren der Bilderzeugung? Das Bedeutungsspektrum des mittelhochdeutschen Wortes bil(e)de oder pil(e)de erstreckt sich über Bild, Abbild, Beispiel, Vorbild, Zeichen, Gestalt, Aussehen,10 umfasst sowohl Aspekte der Anschaulichkeit als auch der Zeichenhaftigkeit und reicht vom Konkreten bis ins Abstrakte. Hierbei erfolgt keine Unterscheidung zwischen imaginierten und gesehenen, zwischen inneren und äußeren, zwischen gemalten und sprachlichen, zwischen echten und kopierten Bildern, was dem Wort bilde eine wirksame semantische Breite und eine übergreifende Ausrichtung verschafft. Es bezeichnet die Gesamtheit des Visuellen und vernetzt komplexe und im heutigen Verständnis klar voneinander geschiedene Bereiche.11 In diesem Kontext verfügt das Mittelhochdeutsche über

9 Vgl. Dicke, Eikelmann und Hasebrink, Historische Semantik (2006). 10 Lexer (1872), S. 273f. und Hennig (1993), S. 37. 11 Vgl. exemplarisch hierzu: Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003); Wandhoff, bilde

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zwei weitere Worte, b„spel12 und gl„chnus.13 Das Bedeutungsfeld von b„spel umfasst Literaturtypen wie Gleichnis, Parabel, Sinnspruch, Erzählung oder Zeichenarten wie Sinnbild, Bild, Zeichen, Vorbild, Beispiel, was sich verschiedentlich mit bilde deckt. Das Wort gl„chnus bezeichnet allgemein einen Vergleich und vermittelt daher häufig zwischen zwei Sinnbereichen. Es lässt sich in weiterem Sinne mit Abbild, Ebenbild, Gestalt, Erscheinung übersetzen und wird auch für literarische Formen wie Beispiel, Gleichnis, Vergleich, Rätsel verwendet. Auffallenderweise nehmen alle drei Texte in unterschiedlicher Form Bezug auf die Bilderzeugung und benutzen eigene Bezeichnungen dafür. In den Visioenen wird das Wort ghelikenesse14 dafür verwendet, allgemein Visionen zu bezeichnen, ebenso, um die Unmöglichkeit zu inszenieren, den göttlichen Geliebten angemessen zu beschreiben. Damit verweist der Text auf den bildgebundenen Charakter der Visionen, aber auch auf den Abstand zwischen Gott und Bild besonders in den Momenten der Offenbarung und Erfüllung. Das Göttliche ist sprachlich nicht fassbar, und doch wird es in Sprache gefasst. Paradoxerweise entwickeln die Texte Bilder von großer Absorptionskraft, die sich zugleich dem Bilderstatus verweigern und darauf beharren, Ausdruck der Bildlosigkeit zu sein. Von daher ist verschiedenen Bildern jene eigenartige Doppelbewegung eigen, die sich mit dem von Beardsley geprägten twist15 gut beschreiben lässt: Die Metaphern treten gleichsam mit einem Knick auf, welchen man beispielsweise an der Trunkenheit der Seele durch etwas, das sie nie trank, erkennen kann. Die Brechung zeichnet in den Abgrund die Leere, in den Strudel die Tiefe und verbildlicht das Bildlose.16 Betont wird das durch den plötzlichen Redeabbruch in den Visioenen, das abrupte Stoppen des ebenmäßigen Bildflusses, den deutlichen Hinweis auf den Gleichnischarakter alles Gesagten: Daer en maghic niet af te worde bringhen/. Want die ontalleke grote scoenheit/ ende ouersuete suetecheit vandien werdeleken wonderleken anschine/ dat benam mi alle redene van hem in ghelikenessen/. (Vis. I, 255–259) [(Doch) von diesem Geschehen vermag ich nichts in Worte zu fassen. Denn die unermesslich große Schönheit und die beseligende Lieblichkeit dieses erhabenen, wun-

12 13 14 15 16

und schrift (2002); ders., velden und visieren (1999); Wenzel und Jaeger (2006); Wenzel, Spiegelungen (2009). Lexer (1872), S. 284f. und Hennig (1993), S. 38. Lexer (1872), S. 815 und Hennig (1993), S. 101. Vgl. zu ghelikenesse speziell Vanneste (1959), S. 76–80; Reynaert (1981), S. 35. Beardsley (1962), S. 293–307. Inkonsequenterweise wurde eine kleine Anleihe aus moderner Theorie bereits hier vorgenommen, um jenen auffallenden ›Knick im Bild‹ prägnant zu fassen. Vgl. hierzu Vis. XI, 9–12, die im zweiten Teil im Zusammenhang mit der Metaphorik von Abgrund und Strudel miteinbezogen wird. Die Schilderung des dunklen göttlichen Strudels wird durch die Bemerkung unterbrochen, dass dessen Aussehen unsagbar und nicht in Worte zu fassen sei.

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derbaren Angesichts nahm mir jede Möglichkeit, Ihn durch bildliche Vergleiche zu beschreiben.]

Die göttliche Schönheit entzieht in ihrer Totalität jegliches sprachliche Ausdrucksvermögen. Der Text gebraucht an der Stelle das Wort ghelikenesse, was allgemein vergelijken (Vergleich, Ähnlichkeit) bedeutet, konkret eine redekunstige figuur (rhetorische Figur) und spezifisch ein dichterlijke vergelijking, worunter besonders beeld, gelijkenis, parabola (Bild, Gleichnis, Parabel) fallen.17 Die Nähe zum Mittelhochdeutschen ist an der Stelle deutlich, da solche Worte ein breites Bedeutungsfeld abdecken und sowohl ein literarisches Verfahren wie auch das literarische Produkt selbst bezeichnen können. Durch die Kombination aus Redeabbruch und Verweis darauf, in ghelikenessen zu sprechen, inszeniert der Text zugleich mit seiner literarischen Technik deren Paradoxie und Grenzen: Die Einsetzung von bildlichen Vergleichen zur Veranschaulichung des unanschaulichen, des unvergleichlichen, des bilderlosen Gottes. Das Wort ghelikenesse vermittelt nicht nur zwischen Innen und Außen, sondern auch zwischen Hören und Sehen.18 In diesem Fall dienen die gheliken als Möglichkeit, auserlesene Gotteserfahrungen in Form von Offenbarungen und Visionen an die anderen weiterzugeben. Es ist von einer Begnadung durch viele gheliken, also Vergleiche und Bilder, die Rede, deren Zahl das Ich exklusiv von allen anderen abhebt. Zugleich sind diese zusätzlich durch ein ästhetisches Moment gekennzeichnet, denn sie werden ausdrücklich mit dem Attribut des Schönen verbunden. Doch die atemberaubende Schönheit im Angesicht Gottes selbst duldet kein noch so schönes Bild, keinen noch so kühnen Vergleich mehr, da sie alles andere in Schatten stellt. Implizit wird daher bereits in der ersten Vision deutlich, dass alle Bilder und Vergleiche Gottes, alle seine Gnadengaben überwunden, das heißt, ausgelöscht werden müssen, um ihn in seiner Fülle zu genießen: Scone gheliken ende mirakelen sijn di van dinen daghen meer ghesciet/ sonder noet/ dan eneghen mensche/ die geboren wart seder ic starf. (Vis. I, 372–375) [Während deines Lebens sind dir aus reiner Gunst mehr schöne Visionen19 und Wunder widerfahren als irgendeinem Menschen sonst, der geboren wurde, seit ich starb.] 17 Vgl. Vanneste (1959), S. 76–80; ergänzend: Middelnederlandsch Woordenboek, 2. Bd. (1889), S. 1254–1261 [gelike]. 18 Vgl. Vis. VI, 40–42: Ende daer hoerdic 7J7 stemme spreken vreseleec te mi/ ende onghehoert, bi enen ghelikenesse sprekende te mi, die seide/: Sich wie ic ben/. [Und da hörte ich eine unerhörte Stimme auf furchterregende Weise zu mir sprechen, welche, indem sie sich in einer geistigen Vorstellung kundtat, zu mir sagte: Sieh, wer ich bin!] 19 Statt »Visionen« für ghelike(n) wäre an der Stelle bspw. »Bilder«, »bildhafte Offenbarungen« oder »exemplarische Bildfolgen« zu übersetzen, da die Grenze zwischen Bild und dem, wofür es steht, in dem Wort »Visionen« verschwimmt.

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Zur Bildanalyse

Die Visioenen sind von Bildern durchdrungen, die sich häufig auf der expliziten Ebene mit den Bezeichnungen vermischen und diese dynamisieren. Sie verwenden aber nicht nur Bilder, sondern sind selbst als solche zu begreifen, obgleich im Text Gnadengaben im Allgemeinen während des Reifeprozesses des Ichs relativiert werden, um die Liebe stattdessen höher zu positionieren.20 Doch bleibt der Text zugleich auf vielfältige Weise seines Sprechens über das Unsagbare in Form von Bildern eingedenk, dessen Spannung offen durch plötzlichen Sprachentzug, paradoxe Metaphern und Überbietungsgesten ausagiert wird. Zugleich signalisiert der Text ein deutliches Bewusstsein für den Vermittlungscharakter durch ghelikenesse, für den Abstand zwischen dem Ereignis des Genießens selbst und seiner verbildlichenden Vermittlung – was ihn allerdings nicht daran hindert, Bilderfolgen von enormer Sogkraft zu schaffen. Doch ist in diese Bilderfolgen zugleich ein Bewusstsein eigentlicher Bildlosigkeit eingeschrieben. Sie verstehen sich nicht als die Sache selbst, sondern als Brücke zu der Sache. Indem sie ein Ereignis des Genießens re-inszenieren, ist ein Überschlag in das Genießen selbst möglich. Einen anderen Weg, um zu vergleichbaren Schlussfolgerungen Anlass zu geben, schlägt der Mirouer ein, der Text und Bild in einer allegorischen Erzählung – im Text selbst als petit exemple bezeichnet – doppelt miteinander verschmilzt: Zum einen durch die (weltliche) Allegorie, zum anderen in der (geistlichen) Übertragung, welche das Buch als ymage bezeichnet und damit ein Bild im Bild darstellt. Doch tragen alle Bilder gleichzeitig ein Moment der Distanz in sich eingeschrieben; denn das Buch, welches als (Ab-)Bild des göttlichen Geliebten bezeichnet wird, ist nicht der Geliebte selbst, sondern eine Repräsentation, und die Seele beharrt zudem darauf, sich nach wie vor in einem fremden Land aufzuhalten: Or entendez par humilit¦ ung petit exemple de l’amour du monde, et l’entendez aussi pareillement de la divine amour. Exemple: – Il fut ung temps une damoyselle, fille de roy, de grant cueur et de noblesse et aussi de noble courage; et demouroit en estrange pas. Si advint que celle damoiselle oit parler de la grant courtoisie et noblece du roy Alixandre, et tantost sa volent¦ l’ama, pour la grant renommee de sa gentillesse. Mais si loing estoit ceste damoiselle de ce grant seigneur, ouquel elle avoit mis son amour d’elle mesmes, car veoir ne avoir ne le povoit; par quoy en elle mesmes souvent estoit desconfortee, car nulle amour / fors que 20 Vgl. Vis. XI, 113–115 und 121–123: Menech groet dinc uan wondere ende van wesene hebbic daer toe ghehatet, om dat ic allene der minnen wesen woude […]. Met dus meneghen groten wondere ben ic gode allene in purre minnen ende minen heileghen in minnen, ende dan allen heileghen. [Viele wunderbare Dinge und große Erlebnisse habe ich gering geachtet, weil ich allein der Liebe gehören wollte […]. Ungeachtet manch solcher großen wunderbaren Begebenheit gehöre ich Gott allein in reiner Liebe an, meinem Heiligen in Liebe, und danach allen Heiligen.]

Selbstbeschreibungen: ghelikenesse, ymage, wortzeichen, kreftig wort

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ceste cy ne luy souffisoit. Et quant elle vit que ceste amour loingtaigne, qui luy estoit si prouchaine ou dedans d’elle, estoit si loing dehors, elle se pensa que elle conforteroit sa masaise par ymaginacion d’aucune figure de son amy dont elle estoit souvent au cueur navree. Adonc fist elle paindre ung ymage qui representoit la semblance du roy, qu’elle amoit, au plus pres qu’elle peut de la presentacion dont elle l’amoit et en l’affection de l’amour dont elle estoit sourprinse, et par le moyen de ceste ymage avec ses autres usages songa le roy mesmes. (Mirouer 1, 14–33) [Nun vernehmt in Demut eine kleine Beispielerzählung von der Weltliebe und wendet sie dann entsprechend auf die Gottesliebe an. Es war einmal ein Edelfräulein, eine Königstochter. Sie hatte ein großes und edles Herz und einen ebenso edlen Mut; doch lebte sie in einem fremden Land. Da geschah es, dass dieses Edelfräulein vom großen Adel und der Hoheit des Königs Alexander erzählen hörte. Und alsbald liebte sie ihn aus ganzem Gemüt wegen seiner großen Berühmtheit und Vortrefflichkeit. Doch befand sich das Edelfräulein so weit weg von diesem mächtigen Herrn, dem sie ihre ganze Liebe geschenkt hatte, dass sie ihn nicht sehen und nicht mit ihm zusammen sein konnte. Darum war sie in ihrem Inneren untröstlich; denn keine Liebe, außer eben dieser, vermochte ihr zu genügen. Und als sie gewahr wurde, dass diese ferne Liebe, welche ihr innerlich ganz nahe war, äußerlich sich so weit weg befand, überlegte sie bei sich, wie sie ihrem Kummer dadurch abhelfen könnte, dass sie sich die Gestalt ihres Freundes, durch den sie so oft in ihrem Herzen verwundet war, in einem Bildnis vorstellte. Sie ließ sich also ein Abbild malen, das die Züge des Königs, den sie liebte, wiedergab, so getreu als möglich nach ihrer Vorstellung, in der sie ihn liebte, und gemäß der Zuneigung, von der sie ergriffen war. Und durch die Vermittlung dieses Abbildes wie auch durch andere Kunstgriffe stellte sie sich den König selbst vor.]

In dieser allegorischen Beispielerzählung tritt bereits die ganze Programmatik des Mirouer verdichtet auf.21 Das Bild des Königs, ein Bild der Liebe, wird als Gedächtnisstütze etabliert, um die Distanz zwischen Innen und Außen, Vorstellung und Wirklichkeit zu überbrücken und möglichst einzuebnen. Doch verweisen Ausdrücke wie semblance oder presentacion darauf, dass eine voll21 Vgl. hierzu Bertho (1993), S. 47–63, die darauf hinweist, dass der Mirouer von dem roman all¦gorique courtois sowohl sein allegorisches Verfahren (Roman de la Rose) als auch das Motiv der Queste und das Bild des Geliebten als Loing-Pres (Roman d’Alexandre) entlehnt. Die intermediale Inszenierung wird wie folgt beschrieben, vgl. bes. S. 49: »Peinture mystique, le ›Miroir‹ se pr¦sente alors comme une icúne verbale, une all¦gorie th¦ophorique, l’objet sacr¦ d’une liturgie intime dans la retraite du ch–teau int¦rieur.« Vgl. ebenso Kocher (2008), bes. S. 1–20, wo sie auf die double mots hinweist, die der Mirouer verwendet, um das richtige Verständnis seiner Worte zu problematisieren (S. 6f), sowie auf die Nähe des (v. a. lateinischen) Titels zu einem (Spiegel-)Bild, allerdings einem verwischten, bruchstückhaften, eingetrübten, was die Distanz zwischen Sprache und Gegenstand deutlich hervortreten lässt, indem die Metapher des Spiegels wörtlich genommen wird (S. 8–10): »Throughout the European Middle Ages, mirrors were small, expensive devices made of polished metal, whose surfaces tended to tarnish end were not perfectly flat. They did not offer the viewer a clear reflection. Despite – or perhaps of – their material rarity, medieval mirrors accrued complex layers of meaning as a symbol.«

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ständige Identität nicht gewährleistet wird. Zwischen ymage und ymaginacion besteht zudem ein enger semantischer Zusammenhang, denn das eine bezeichnet das Vorgestellte oder Imaginierte, das andere den Akt der Imagination selbst. Das Buch versteht sich nicht nur als ein (Ab-)Bild des abwesend-anwesenden Gottes, sondern zugleich als eine Anleitung zur Kreation dieses Bildes selbst für die damalige Zuhörer- und Leserschaft. Es wird eine detaillierte Rezeptionsanweisung mitgeliefert, die zugleich offen lässt, wie weit der oder die Einzelne diesem Bild (nach-)folgt und es in sich (ein-)zeichnet: Semblablement vrayement, dit l’Ame qui ce livre fist escrire, au tel vous dis je: je oy¨ parler d’ung roy de grant puissance, qui estoit par courtoisie et par tres grant courtoisie de noblece et largesse ung noble Alixandre; mais si loing estoit de moy et moy de luy, que je ne savoie prandre confort de moy mesmes, et pour moy souvenir de lui il me donna ce livre qui represente en aucuns usages l’amour de lui mesmes. Mais non obstant que j’aye son ymage, n’est il pas que je ne soie en estrange pas et loing du palais ouquel les tres nobles amis de ce seigneur demourent, qui sont tous purs, affin¦s et franchix par les dons de ce roy, avec lequel ilz demourent. (Mirouer 1, 34–44) [So ist es, spricht die Seele, welche dieses Buch schreiben ließ. Genau so, ich bestätige es euch! Ich hörte berichten von einem großmächtigen König, der war an Vornehmheit, ja an ganz großer adliger Vornehmheit und Großmut ein edler Alexander. Jedoch befand er sich so weit von mir und ich von ihm, dass ich mir selbst nicht zu helfen wusste. Und um mich an ihn zu erinnern, gab er mir dieses Buch, das gewissermaßen seine Liebe darstellt. Aber wenn ich nun auch sein Bildnis habe, so bin ich dennoch in fremdem Lande und weit entfernt vom prachtvollen Haus, in dem die überaus edlen Freunde dieses Herrn wohnen, die alle unverstellt, geläutert und frei geworden sind durch die Gaben dieses Königs, mit dem sie zusammen wohnen.]

Die Analogie zwischen paindre ung ymage und (faire) escrire ce livre zeigt, dass Text und Bild, Buch und Porträt deutlich einander zugeordnet werden. Der Mirouer figuriert als (Ab-)Bild des abwesenden Königs, um die göttliche Liebe zu repräsentieren und die Erinnerung wach zu halten (pour moy souvenir). Zugleich soll das Buch dazu dienen, die Seele über ihren Schmerz um den abwesenden Geliebten zu trösten. Doch wird die Distanz zwischen Edelfräulein und König beziehungsweise zwischen Seele und Gott einerseits dadurch überwunden, andererseits aber verstärkt, da die Seele nach eigenen Worten trotzdem nicht in ihrer Heimat, sondern in der Fremde sich aufhält. Anstatt in der ihr zugehörigen Umgebung des Palastes bleibt die Seele in der Ferne und auf Nähe vermittelnde Kunstgriffe angewiesen. Dadurch wird in der dichten und schlüssigen Bildfolge ein Moment der Krümmung oder der Brechung eingefügt, das irritiert. Der göttliche Geliebte bleibt zugleich nahe und fern, und die Bildgebung drückt damit nicht nur eine Anwesenheit und Veranschaulichung, sondern zugleich Abwesenheit und Entzug aus, weshalb der Mirouer den der

Selbstbeschreibungen: ghelikenesse, ymage, wortzeichen, kreftig wort

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höfischen Sprache entnommenen Ausdruck Loing-Pres,22 der Fern-Nahe, für Gott einsetzt und ihn dadurch mit einem anderen semantischen Akzent versieht, da die Ferne ebenso wie die Nähe transzendente Dimensionen gewinnen und rein immanente Bezüge überschreiten. Somit verschwimmen nicht bloß die Grenzen zwischen Text und Bild, sondern – gelegentlich fast ununterscheidbar – zwischen Nähe und Distanz, Verbildlichung und Verweigerung. Im Fließenden Licht wird im zweiten Buch in einem Gespräch zwischen der Seele und der Erkenntnis das Problem adäquaten Sprechens über heiligste Gegenstände thematisiert. Wie in den Visioenen verweist der Text hier auf die Zeichenhaftigkeit alles Gesagten und unterscheidet deutlich zwischen dem, was mitgeteilt werden kann, und dem, was verschwiegen werden muss, da es das unsagbare Geheimnis23 zwischen Gott und Mensch berührt. Allgemein ist von wortzeichen die Rede und nicht von Bildrede im Speziellen, jedoch scheint mir die Stelle passend zu sein für die Frage, inwiefern die Texte ihre Sprachproblematik selbst reflektieren und das Schweigen in die Leerzeichen zwischen die Worte eintragen: »Eya vro brut, went ir mir noch ein wortzeichen sagen der unsprechlicher heimlicheit, die zwfflschent got und fflch lit?« »Vrovwe bekantnisse, das tuon ich nit. Die brfflte muessent alles nit sagen was in beschiht. Dffl helig beschovwunge und dffl vilwerde gebruchunge sont ir han von mir, die userwelte bevindunge von gotte sol fflch und allen creaturen iemer me verborgen sin sunder alleine mir.« »Vrovwe sele, fflwer wunderschovwen und fflwer hohffl wort, dffl ir in gotte hant gesehn und gehoert, wen ir mich dar zuo twingent, das ich des ein kleine ffflr bringe, so setz ich des keysers lieht in einen vinstern fulenden stal.« (S. 106f.; II, 19, 3–13)

Bezeichnenderweise greift der Text zu einem Bild, um die Unmöglichkeit des Sprechens auszudrücken: Zum einen konstrastiert er Helle und Dunkelheit, zum anderen Kaiser und Stall, um die unauslotbaren Abstände zu veranschaulichen, die zwischen den von Gott offenbarten hohen Worten und deren geringer Umsetzung durch die eigenen sprachlichen Mittel liegen. Zwar macht die Seele der Erkenntnis Zugeständnisse, doch setzt sie zugleich deutlich ihr Geheimnis der erlesenen Erfahrung Gottes davon ab und umzirkelt es mit einem Schweigekreis. Damit ist dem Text durch eine rhetorische Strategie gelungen, sein SchweigenWollen zu versprachlichen. Ein weiteres Beispiel für eben diese Kunst findet sich in der Problematisie22 Hierzu Gnädinger, Margareta Porete (1987), S. 232–236, die im Kontext der Liebeslehre des Mirouer darauf hinweist, dass der Text hierbei sowohl Einflüsse aus der provenzalischen Troubadourlyrik, nämlich die Fernliebe, als auch augustinisches Gedankengut aus den Bekenntnissen [III, 6, 11] aufgreift, kombiniert und kreativ weiterentwickelt. Ebenso Robinson (2001), S. 53f., 73, 91. 23 Haas, Mechthilds dichterische heimlichkeit (1989).

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rung des Sender-Empfänger-Modells, wenn das Ich im ersten Visionskapitel des Fließenden Lichts die grosse zunge der gotheit von den eigenen wenigen oren miner snoedekeit absetzt: Dffl grosse zunge der gotheit hat mir zuo gesprochen manig creftig wort; dffl han ich enpfangen mit wenigen oren miner snoedekeit. (S. 80f.; II, 3, 4–6)

Durch den Kontrast zwischen der gewaltigen Redekraft Gottes und der geringen Aufnahmefähigkeit des Menschen wird verdeutlicht, wie eingeschränkt dessen Wiedergabe sein muss. Demzufolge häufen sich in der darauffolgenden Aufzählung der geschauten Wunder verneinte Adverbien wie unsprechlich, unzellich und unbegriflich, die auf die Unsagbarkeit und Unvermittelbarkeit verweisen. Die manig creftig wort der Gottheit werden dem Text zufolge gebrochen durch die schwachen Ohren des Menschen, der das ihm Offenbarte nun in seine eigenen dürftigen Worte kleidet und nur darauf verweisen kann, dass er nichts mitteilen kann, indem er paradoxerweise mitteilt. Die Distanz zwischen Wissen und Sprechen, zwischen Empfangen und Weitergeben wird an der Stelle besonders eindrücklich betont.24 Zusammenfassend lässt sich in allen drei Texten ein reflektiertes Bewusstsein für die Problematik ausmachen, das, was sich nur durch Schweigen adäquat ausdrücken lässt, paradoxerweise doch zu versprachlichen. Daher verweisen die Texte auf den Abstand, der das Gesagte von dem damit Gemeinten trennt, was sie sowohl durch die klare Benennung ihrer Mittel wie wortzeichen, ghelikenesse oder ymage anzeigen als auch durch eine in die Rede eingegliederte Sprachverweigerung, die den Entzug der Sprache angesichts der Offenbarungen, der Wunder und der Gnadenerfahrungen performativ vorführt. Den Texten gelingt dadurch der Spagat zwischen Reden und Schweigen, Andeuten und Enthüllen, da sie sich in einem komplexen und beweglichen Zwischenraum ansiedeln, der aus Worten und den Leerstellen zwischen ihnen entsteht.

24 Bei Mechthild von Magdeburg findet sich eine Fülle von Selbstbeschreibungen, die zugleich auf die eigene Unwürdigkeit und Unbildung verweisen, die vor allem an das Geschlecht gebunden ist. Hierauf wurde in diesem Kapitel verzichtet, das sich vornehmlich für die Selbstbeschreibungen der Sprache interessiert, vgl. weiterführend: Peters (1988), S. 57, Anm. 35, wo zahlreiche Stellen aufgezählt werden. Ergänzend FL V, 4, 1f., wo sich das Ich als armes, bäuerliches Wesen schilt, das die Gnade erfahren durfte, die edle Dame Minne jemals zu erblicken: Wol mir armen doerperinne, das ich dich, vrouwe, je gesach!

Textnah entwickelte mediävistische Bildbegriffe: Ohly und Blank

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Textnah entwickelte mediävistische Bildbegriffe: Friedrich Ohly und Walter Blank Friedrich Ohly darf wohl mit Fug und Recht als ein Verwalter des Mittelalters in der Moderne gelten, der mit unermüdlichem Eifer dessen Bedeutungsräume in einer Vielzahl von Studien entfaltet hat. Eine besondere Rolle nimmt hierbei der vierfache Schriftsinn im Kontext einer hermeneutica sacra ein, der das mittelalterliche Denken Ohly zufolge nachhaltig prägte und gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.25 Indem der »im Buchstaben verborgene geistige Sinn des Wortes« enthüllt wird,26 kommt die eigentliche Bedeutung erst zum Tragen. Grundsätzlich wird jedes Wort als etwas gesehen, das auf etwas anderes verweist, und zwar, wie Walter Blank27 es aufgegriffen hat, von der Ding- auf die Bedeutungsebene, von der Anschaulichkeit auf die Beispielhaftigkeit, vom Besonderen auf das Allgemeine. Ohly hat häufig betont, dass im Mittelalter diese allegorischen Strukturen klar ausgeprägt und präsent waren, bis sich eine deutliche Hinwendung zum Diesseits vollzog. Die Signatur für das Mittelalter ist bei Ohly durch die Bibel und demzufolge durch die Theologie gegeben, und er merkt verschiedentlich »Vorsicht hinsichtlich des Geltungsbereichs von Anwendungen der modernen Wortfeldtheorie für das Mittelalter« an.28 Und doch sorgt Ohly immer wieder für Überraschungen. So differenziert er in seiner Untersuchung der Bildfelder von Perle und Edelstein29 en passant zwischen Metaphern, deren Aussage »bis zum totalen Wegfall jeden Vergleichsmoments« gesteigert ist,30 und solchen, welche »die Bindung der Vergleichsbeziehung lockerer« handhaben.31 Er unterscheidet zwischen Bildern mit einer einnehmenden Energie und zwischen solchen, die klar als Metapher erkennbar sind. Für die im Zentrum dieser Untersuchung stehenden Texte ist besonders der erste, flüchtig skizzierte Metapherntypus interessant, den Ohly wie folgt charakterisiert, nämlich »dass ihre Bildkraft das Bewusstsein von ihrer metaphorischen Funktion vollends auslöschte«.32 Er sieht hierbei »viele Grade von Intensität in der Suggestion, mit der das Bild die Stelle des Gemeinten einnimmt«.33 Auf die hier thematisierten Texte angewendet, produzieren derartige Bilder einen Effekt der Uneinholbarkeit und machen eine glatte Rück25 26 27 28 29 30 31 32 33

Ohly, Vom geistigen Sinn (1977). Ebd., S. 4. W. Blank (1992). Ohly, Vom geistigen Sinn (1977), S. 24. Ohly, Das Wort aus Edelstein (2002). Ebd., S. 7. Ebd., S. 19. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18f.

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koppelung unmöglich, da sie in ihrem Gefolge noch andere Bedeutungsfacetten mit sich führen, die sich vermischen. Häufig trifft dasselbe auf die Allegorie zu, welche gleichfalls, mit Metaphern gespickt, poetische Eigendynamik gewinnt. Mit einem solchen Metapherntypus, dessen blendende Bildkraft eine derart absorbierende Wirkung entfaltet, dass man deren Status vergisst, bietet Ohly eine Beschreibung für die Bilder selbst34, für deren Bewegungen im Text oder deren Wirkungen auf den damaligen Rezipienten – obgleich es vielleicht nicht in seiner Absicht gelegen haben mag, seiner klar gegliederten und sauber aufzulösenden Bedeutungsforschung ein solch unkontrollierbares Moment hinzuzufügen. Blank hat das von Ohly dargestellte »theologische Deutungsverfahren der Allegorese« auf die weltliche Dichtung übertragen,35 und ich werde im Folgenden das, was Blank für die narrative Bildstruktur eines Romans um 1200 entwickelt hat, auf die Texte der Frauenmystik beziehen: In seinem Aufsatz bestimmt er die Verwendung und Einsetzung eines Bildes in Allegorie und Narrativik unterschiedlich, da er bereits in ihrer Struktur etwas grundlegend Anderes zu erkennen meint. Er nimmt eine vermittelnde Position ein, da er zwar eine Anwendung auf poetische Kontexte vornimmt, zugleich aber das Gedankengut Ohlys für Allegorie und Allegorese stark und vielleicht etwas zu unflexibel einbezieht. Seiner Unterscheidung zwischen Bildstruktur in Allegorie und Narrativik stimme ich nicht zu, da gerade die Allegorie beispielsweise im Fließenden Licht oder im Mirouer zeigt, dass sie sich in diesem Fall gerade nicht »in einem System-Vergleich, der bereits im voraus die Anlage oder Erfassung des Bildes bestimmt«,36 erschöpft. Dagegen lässt sich seine Bestimmung des »narrativen Bildes«, welche »durch eine lineare, progressive Entfaltung« gekennzeichnet ist und die »auf eine im Bild selbst liegende Grundstruktur« verweist,37 viel eher für die Bilddeutung der behandelten Texte fruchtbar machen. Die Bedeutung des poetischen Kontextes, aus dem die formale Verweisstruktur des Bildes, das »aus sich heraus Handlungsdynamik initiiert«,38 erst herausgearbeitet werden muss,39 entspricht der dynamischen und vieldeutigen Bildverwendung der Texte. Denn diese vermischen nicht nur Metaphern und Allegorie, sondern setzen diese Bildcluster in Bewegung, so dass alle Facetten, die in jedem einzelnen Bild schwingen, anschließend nicht mehr bruchlos und eindeutig in die Ausdeutung überführt werden können. Daher stellen sie einen 34 Es ist zu bedauern, dass Ohly diesem Aspekt nicht in einem ausführlichen theoretischen Aufriss nachgegangen ist. 35 W. Blank (1992), S. 25. 36 Ebd., S. 40. 37 Ebd., S. 40. 38 Ebd., S. 28. 39 Ebd., S. 26.

Moderne Metapherntheorien oder: ›Vermitteln Metaphern Gerüche?‹

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deutlichen Gegensatz zu dem von Blank geschilderten, vergleichsweise starren, im Vorfeld bereits festgelegten »allegorische(n) Sinn-Überbau«40 dar. Denn sobald eine Allegorie für sich die Eigenschaften eines »poetischen Kontextes« beanspruchen darf – und das ist in den ausgewählten Texten der Fall –, ist die von Blank vorgenommene Unterscheidung so nicht haltbar, sondern wird hinfällig. Festzuhalten bleibt als inspirierender Impuls, dass die Bildlichkeit aus dem jeweiligen poetischen Kontext entfaltet werden muss, damit sie ihr volles Spektrum zeigen kann. Hierbei kommt dem Rezipienten eine gesteigerte Bedeutung zu, der das im Bild verkapselte Wissen performativ im Textverlauf erschließen muss, um der sich oft gleichzeitig entziehenden Bildlichkeit ›auf die Spur zu kommen‹. Aus der Kombination von Ohly und Blank ergibt sich, dass die poetische Eigendynamik der Bilder beziehungsweise von Metapher und Allegorie ebenso wie deren Verankerung in der geistlichen Tradition berücksichtigt werden muss. Ein Bildtypus oder eine Bildstruktur, die sich sowohl im Text als auch beim Rezipienten entfaltet, ist etwas fundamental anderes als etwas im Vorfeld Fixiertes, wie Blank es für die allegorische Bildstruktur vorgeschlagen hat. Hierbei können sich Mischformen ergeben: Ein traditionelles Bild wie das der Trunkenheit lässt sich im Fließenden Licht allegorisch einsetzen, dabei aber vielfältig dynamisieren und uneinholbar anreichern. Die Kraft des Bildes erweist sich hierbei als unterschiedlich stark, doch weisen die pulsierenden Metaphern und Allegorien der Texte darauf hin, dass eigendynamische Entwicklungen, besonders im Bereich der erotisch-sexuellen Vereinigungsmetaphorik, nicht mehr nahtlos und ohne Bedeutungsverlust rückzukoppeln waren. Partiell ließe sich hier von einer poetischen Emanzipation gerade im Bereich der geistlichen Literatur sprechen.

Moderne Metapherntheorien oder: ›Vermitteln Metaphern Gerüche?‹ Metapherntheorien sind nahezu unübersehbar geworden und »lassen sich«, wie Haverkamp sich in der Einleitung zu seinem Sammelband ausdrückte, »nicht zu einer übergreifenden Theorie zusammenfassen, sondern bleiben als Teile alternativer Ansätze unvereinbar«.41 Seit der Antike ist die Metapher in der Rhetorik präsent, wo sie eine »eigentümliche Sonderstellung« behauptet hat, und 40 Ebd., S. 28. 41 Haverkamp, Theorie der Metapher (1983), S. 2.; ders., Metapher (2007). Vgl. ergänzend Rolf (2005).

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nachdem sie deren »Schiffbruch im 19. Jahrhundert« überlebt hatte,42 avancierte sie im 20. Jahrhundert zur Signatur der Moderne43 und Postmoderne44 schlechthin. Eine beeindruckende Karriere, die sowohl von ihrer Flexibilität als auch von ihrer Außergewöhnlichkeit zeugt. Gleichzeitig erschwert es das Bemühen, sie zur Gänze zu erfassen oder wenigstens einzugrenzen, was Haverkamp anhand einer altägyptischen Kopfplastik des sogenannten Ketzterpharaos Echnaton veranschaulicht, die nur noch als Fragment erhalten ist, dessen Lippenlinien klar hervorstechen.45 Einen allgemeinen Überblick zu skizzieren, kann daher im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich sein. Lediglich die drei Theorieansätze moderner Metaphernforschung sollen hier miteinander kombiniert werden, welche die für die Texte der Frauenmystik zentralen Punkte Ästhetik (Weinrich), Körperlichkeit (Lakoff/Kohl) und Performanz (Haverkamp/Derrida) aufgreifen. Sie stellen die Impulsgeber für ein eigenes Theoriedesign dar, wobei Gedanken und Ideen der betreffenden Autoren in der Hauptsache als kreative Steinbrüche genutzt werden, weshalb sich das Ergebnis weit von deren Ausgangspunkt entfernen kann. Eine Metapherkonzeption, welche den Anforderungen der hier behandelten Texte entspricht, darf aufgrund deren Literarizität weder ihre ästhetischen Bezüge verleugnen noch die zur Körperlichkeit, welche die Texte so kunstvoll miteinander zu verbinden wissen, wobei der performativen Inszenierung eine Sonderrolle zukommt. Denn diese nimmt eine Scharnierposition zwischen Literarizität und Körperlichkeit ein, da sie beide miteinander verbindet. Die Theorieansätze der vorliegenden Kombi42 Haverkamp, Theorie der Metapher (1983), S. 3 und ders., Metapher (2007), S. 53–67. 43 Die Bestimmung des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne ist aufgrund deren Überlappungszonen schwierig, doch würde ich Haverkamp deren Vertretern zuordnen, weil er nach wie vor der Hermeneutik verpflichtet bleibt und die Anwendung des Performanzbegriffs auf die Untersuchung der Metapher, obgleich er deren Vollzugscharakter einräumt, strikt ablehnt: vgl. Haverkamp, Metapher (2007), S. 109–116. 44 Vgl. zur Metapher der Postmoderne exemplarisch: Bossinade (2000), S. 104–125. Sie skizziert die Metapher bei Derrida als »Supplement« aufgrund ihres doppelten Zuges (»le re-trait de la m¦taphore« als Entzug/Rückzug und Wiederholung/Rückkehr), was Derrida im Verlauf seiner Untersuchung zugleich performativ vorführt (S. 107–111); bei Lacan als »Substitution« aufgrund ihrer permanenten Verschiebung in den Bahnen des Begehrens mit dem Unterbewussten als einzigem Fixpunkt (S. 111–116); bei Kristeva als »amouröse Sublimation«, welche es dem Subjekt ermöglicht, sich auf »den Anderen hin zu öffnen«, indem es die sprachliche Leistung der Metapher als Stütze benutzt, um ein haltbares Begehren und Liebesobjekte zu bilden (S. 116–119). Sowohl bei Lacan als auch Kristeva dominiert demnach der Gedanke einer Substitution, der zugleich mit der Bewegung einer Verschiebung kombiniert wird. Paul de Man dagegen zeigt in seinem Allegoriekonzept eine radikale Erkenntnisskepsis, welche die Literatur und ihre Lektüre in einer aporetischen und geradezu asemantischen Struktur zeigen. Hermeneutische Lesarten werden hier so weit wie möglich aufgegeben und die Literatur stattdessen als ihr eigenes Rätsel etabliert, so dass am Ende eine »Unmöglichkeit des Lesens« steht (S. 120–125). 45 Haverkamp, Metapher (2007), S. 7–16 inklusive Titelbild.

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nation reagieren demzufolge auf die spezifischen Anforderungen und markanten Besonderheiten der Textsorte ›Frauenmystik im 13. Jahrhundert‹. Seine Beschreibung der kühnen Metapher und der Bedingungen ihres Zustandekommens entwickelt Harald Weinrich46 speziell anhand der modernen französischen Lyrik. Hierbei stellt er fest, dass keineswegs immer die größte Entfernung oder die weiteste Bildspanne zwischen »Bildempfänger« und »Bildspender«47 ausschlaggebend für die Kühnheit einer Metapher sein müssen. Oft handelt es sich nur um ein Detail, eine Winzigkeit, welche eine fulminante Wirkung erzielen kann, die nach Weinrich vor allem auf jener »Abweichung von der sinnlichen Realität«48 und damit auf jener Portion »Widersprüchlichkeit« basiert,49 die jeder Metapher eigen zu sein scheint. Solche »Abweichungen von der sinnlichen Realität« auf der Basis einer gewissen Widersprüchlichkeit lassen sich auch in den Texten der Frauenmystik ausmachen, wo im Mirouer die Seele mehr als trunken wird durch etwas, was sie nie trank,50 oder wenn im Fließenden Licht der Hunger als süß bezeichnet wird.51 Doch finden sich Metaphern, die sich durch eine außerordentlich weite Bildspanne auszeichnen, beispielsweise wenn im Fließenden Licht die Dreifaltigkeit als Schenke, Becher und Wein bezeichnet wird.52 Hier prägt natürlich der poetische Kontext die Bild- und damit die Suggestionskraft der Metapher entscheidend mit. Demzufolge ist Weinrich bis zu diesem Punkt durchaus zuzustimmen. 46 Weinrich, Semantik der kühnen Metapher (1976); ders., Allgemeine Semantik der Metapher (1976). Zur Zusammenfassung und Kritik vgl. Rolf (2005), S. 68f. und Haverkamp, Metapher (2007), S. 55. 47 Die m. E. inadäquate Stasis dieser Begriffe könnte dadurch aufgehoben werden, dass man die performative Inszenierung von Metaphern, die einen Anspruch auf Vollzug durch den Rezipienten stellen, miteinbezieht. Auch Egerding verwendet zwar die Termini von »Bildempfänger« und »Bildspender«, wobei er hauptsächlich deren Relation betont, aber hervorhebt, dass die beiden nicht gleichwertig seien: vgl. Egerding (1997a), S. 25–27. Zusätzlich bettet er sie in eine Interaktionstheorie ein, die aber die Dynamik und Kraft, welche in der physischen Dimension der Metapher selbst liegt, nicht berücksichtigt. 48 Weinrich, Allgemeine Semantik der Metapher (1976), S. 327: »Wenn aber eine Wortfügung um ein geringes von den Erfahrungen der sinnlich erfahrbaren Realität abweicht, dann nehmen wir den Widerspruch stark wahr und empfinden die Metapher als kühn: ›schwarze Milch‹«. 49 Ebd., S. 326: »Aber man darf auf keinen Fall die Banalität unterschlagen, dass Lippen gewöhnlicherweise eben nicht grün sind, sonst zerstört man die ganze Spannung der Metapher. Wir stehen also aufs Neue vor der Widersprüchlichkeit, die allen Metaphern zugrunde liegt und ihren Reiz ausmacht. Metaphern sind immer widersprüchlich, nur zeigen sie es mehr oder minder.« 50 Vgl. Mirouer 23, 41f.: […] mais plus que yvre de ce oncques ne beut ne ja ne beuva. 51 Vgl. FL VII, 45, 3f.: Nochdenne behaltet die sele iren suessen hunger und lebet ane kumber. 52 Vgl. FL II, 24, 25–29: Swenne ich gedenke, das der himmelsche vatter da ist der seligen schenke und Jhesus der kopf, der helig geist der luter win, und wie dffl ganze drivaltekeit ist der volle kopf und minne dffl gewaltige kellerin, weis got so neme ich gerne, das mich dffl minne da ze huse bete.

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Zur Bildanalyse

Doch in seinen weiteren Überlegungen zur kühnen Metapher verkürzt Weinrich seinen eigenen Radius, wenn er die Bedingungen, unter denen eine Metapher nicht oder nur selten kühn ist, in drei Punkten wie folgt zusammenfasst: a) eine starke Determination des bildempfangenden Kontexts, b) gleichgesinnte Metaphern in der Nachbarschaft des Textes und c) Vertrautheit mit dem traditionellen Bildfeld.53 Als Beispiele führt er sogenannte Renaissancemetaphern an, die aber gleichwohl in den Texten der Frauenmystik aus dem 13. Jahrhundert zu finden sind, wie Liebeskrankheit (FL III, 2), Liebesjagd oder Liebesfeuer (FL II, 25).54 Paradoxerweise trifft für die Metaphorik der hier behandelten Texte alles zu, was er angeführt hat, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Kennzeichnung der kühnen Metapher als auch für die Kriterien von deren Gegenteil. Doch muss das Verhältnis zwischen Innovation und Tradition für die mittelalterliche Literatur anders ausgelotet und bestimmt werden, als es bei der französischen und deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts der Fall ist, deren ästhetisches Gesetz des Neuen oft dazu zwang, die gleichwohl mitschwingenden Bezüge zur Tradition zu kaschieren. Das Innovative und das Traditionelle55 schließen sich ebenso wenig aus wie für Weinrich das Attribut des Kühnen für eine Nahmetapher.56 So handelt es sich besonders bei der Mystik um einen Kontext, der trotz Bekanntheit immer etwas Fremdes umgreift,57 dessen Metaphern demzufolge um eine Verschlüsselung des Unsagbaren kreisen, so dass sie als Doppelchiffrierungen zwischen Bild und Bildlosigkeit vibrieren. Weinrichs Ausdruck der »Abweichung von der sinnlichen Realität« verweist auf den engen Bezug zwischen sprachlichen Bildern und der sinnlichen Welt, der besonders im Anschluss an kognitionswissenschaftliche Metapherntheorien58 zunehmende Bedeutung gewinnt. So spricht Katrin Kohl von der »Tendenz der 53 Weinrich, Allgemeine Semantik der Metapher (1976), S. 336. 54 Ebd., S. 335f. 55 Vgl. hierzu Egerding (1997a), S. 28–33, wo er sich mit den »Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von kreativem und konventionellem Metapherngebrauch« auseinander setzt. Besonders aber Lüers (1926), bes. das Kapitel S. 40–44, das bezeichnenderweise als »Spontane Metaphorik, über bildhaft weitergeführte ererbte Metaphern« betitelt ist. Lüers zeigt hier sehr deutlich, dass Innovation und Tradition sich nicht grundsätzlich entgegenstehen. 56 Weinrich, Semantik der kühnen Metapher (1976), S. 318: »Gerade die Nahmetaphern sind befremdend und verfremdend und erscheinen uns kühn. Fernmetaphern sind ungefährlich. Wir sind in der Sprache Rechtgläubige, die Heiden eher verzeihen als Häretikern.« 57 Ebd., S. 334: »Vom Kontext hängt es wesentlich ab, ob eine Metapher sich selber deutet oder rätselhaft bleibt.« Entweder-oder-Konstruktionen sind gerade in der Mystik wenig hilfreich, da deren Texte immer Sowohl-als-auch-Konstruktionen (mitunter inklusive entweder-oder) umgreifen. 58 Vgl. Lakoff und Johnson, Leben in Metaphern (2008); dies., Philosophy in the flesh (2007). Zur allgemeinen Debatte zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vgl. exemplarisch Sturma (2006).

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Metapher, abstrakten Vorstellungen eine physische Struktur zu geben«, da »eigene Erfahrungen von der physischen Welt eingesetzt« werden.59 An solche Gedanken anknüpfend soll hier die Frage gestellt werden, inwiefern sprachliche Bilder durch den Akt der Imagination auch physische Effekte erzeugen können, zum Beispiel Übelkeit, Schauer, Hitze oder Erregung.60 Wie weit erstrecken sich die Wirkungen der Imagination – bis hin zur körperlichen Übelkeit, dem gerochenen Duft eines Parfums oder dem gefühlten Milchfluss aus den Brüsten? Um eine besonders starke Wirkung zu beschreiben, kann man davon sprechen, dass ein Bild einem ›nachgegangen‹ ist, sich ›eingebrannt‹ hat, es hat einen ›geschüttelt‹ oder einem ›auf den Magen geschlagen‹– Metaphern, die alle Intensität und Körperlichkeit mit der Wirkung bezeichnen. Der ›physische Begleitakkord der Metapher‹ kann sicherlich unterschiedlich stark ausfallen und hängt sowohl von der Disposition des Rezipienten als auch von der Qualität des Textes ab, der durch seine poetische Kraft Intensität schafft, so dass die Überschreitung der Grenzen zwischen Körper und Sprache sowie zwischen Text und Rezipient gelingt.61 Um solche Metaphern entsprechend zu decodieren, muss sich der Leser oder Hörer auf deren sinnlich-physische Wirkung einlassen, da diese Wechselbeziehung zwischen Sprache und Physis die Metapher entscheidend prägen kann, zum Beispiel die der Krankheit oder der Sättigung. Das gilt nicht in jedem Fall, doch stellen die physische Erfahrbarkeit und sinnliche Dimension einer Metapher, insbesondere wenn sie aus der Welt des Körpers und seiner Zustände genommen wurde, einen entscheidenden Teil ihrer Bedeutung dar, die zwar sprachlich vermittelt, aber nicht sprachlich begrenzt bleibt, sondern vom Körper und seinen Sinnen entziffert, gelesen, entschlüsselt und erst dadurch vollzogen wird. In besonderem Maße gelten diese Überlegungen für die hier behandelten Texte, welche Körperlichkeit und Literarizität performativ miteinander verschmelzen. Damit in Zusammenhang steht Haverkamps Gedanke, dass die Metapher als

59 Vgl. Kohl (2007), bes. S. 146–170, wobei der Titel des Kapitels »Die Metapher in der imaginativen Zusammenwirkung von Körper und Geist« bezeichnend ist. 60 Ebd., S. 158f.: Sie geht in ihrer Darstellung nicht so weit, sondern beschränkt sich auf die »seit der Antike festgestellte Eignung der Metapher für die mentale Stimulation der Sinne« und skizziert in dem Zusammenhang das »Zusammenspiel von sprachlichem Denken und anderen, sinnlich-imaginativen Formen des Denkens«. 61 Vgl. hierzu aus der zeitgenössischen Literatur : Süskind (1985). Was die Attraktivität und den Reiz des Textes entscheidend bestimmt, ist dessen Versuch, synästhetisch sowohl die widerwärtigen Gerüche, denen Grenouille mit seiner übersensiblen olfaktorischen Wahrnehmung ausgesetzt ist, als auch jenes unwiderstehlich duftende Parfum in das Medium der Sprache zu überführen. Hier ist es möglich, Gerüche oder Düfte als Metaphern zu begreifen, die Begehren oder Ekel auslösen. Für eine wissenschaftliche Analyse vgl. Holz (2005).

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Zur Bildanalyse

Vollzug verstanden werden kann »und sich von Fall zu Fall […] je neu schafft«.62 Er grenzt seine Ausführungen zwar von der »bis heute weiter geisternde[n] performative[n] Alternative« ab,63 was aber dennoch nicht daran hindern soll, seine Gedanken an dieser Stelle einzublenden, da sie die obigen Ausführungen in einer wesentlichen Hinsicht ergänzen: Metaphern müssen performativ vollzogen werden, um zu funktionieren, was Derridas Texte eindrücklich vorführen, doch bezieht sich dieser Vollzug nicht nur auf das sprachliche Erfassen ihrer eigentlichen Bedeutung, sondern erstreckt sich auf die körperliche Ausdehnung (was Derridas Texte weniger vorführen). Zumindest bieten sie hierzu das Potential, inwieweit dieses dann entfaltet wird, hängt ganz vom Rezipienten ab. Kapselartig löst sich die Metapher in immer weiteren Ringen aus dem sprachlichen Gehäuse, bis sie den Rezipienten, radikal formuliert, im Extremfall ›nach ihrem Bilde‹ erschaffen hat: Zumindest wenn, wie im Fall der hier behandelten Texte, die damaligen Rezipienten am Genuss der Einheit oder am Genuss des Verlustes sowohl durch das Medium des Textes als auch durch das des Körpers teilnehmen wollten. In den Textanalysen werden anhand einzelner Bilder vor allem die körperlich-sinnlichen Dimensionen des Genießens aufgezeigt, die dessen Bildlichkeit entscheidend prägen, ohne sie entgültig darauf festzulegen. Dadurch wird für den entsprechend disponierten Rezipienten eine weitaus umfassendere und intensivere Partizipation möglich.

Zusammenfassung Eine Untersuchung, die sich auf die Erschließung einer historischen Semantik des Genießens spezialisiert hat, sollte, wenn sie die in Bildern eingespeisten Bedeutungscluster freizulegen versucht, hierbei auch die in den Texten selbst enthaltenen Selbst-Semantisierungen berücksichtigen. In diesem Kapitel wurde das bei allen drei Texten in die Tat umgesetzt. Die in der mystischen Literatur häufige, selbstreflexive Tendenz des eigenen Sprechens verfolgt auf vielfältige Weise implizite Begründungen der hermetischen Bildrede. Dabei fällt auf, dass das hierfür verwendete Vokabular sich im Einzelnen ganz unterschiedlich gestaltet. Um die begriffliche Schärfe zu steigern, wurden die Selbstbeschreibungen anschließend durch mediävistisch geprägte Bildbegriffe ergänzt, die sehr textnah entwickelt wurden. Im Anschluss daran folgten moderne Metaphern62 Vgl. Haverkamp, Metapher (2007), S. 109–116, wo er sich mit der »Metapher als Vollzug« auseinandersetzt: »Die Metapher der Übertragung ist nach Lipps folglich nur die exemplarische Illustration des (Sich-)Vollziehens als eines Vollzugsgeschehen ohne Ursprung: eines Voll-Zugs, mit anderen Worten, der seinen Ursprung von Fall zu Fall, wie der Urteilsspruch das Gesetz, neu schafft.« 63 Ebd., S. 114.

Zusammenfassung

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theorien, die speziell die plastische Körperlichkeit bzw. Sinnlichkeit sprachlicher Metaphern und deren Potential auszuloten versuchen. Zentral hierfür war die Kapselmetapher, die zugleich mit Kiening und Herberichs als Vollzugsmodell begriffen werden kann.64 Denn kapselartig kann das Potential der Texte aus dem Bild heraus entfaltet werden und auch auf die sinnliche Ebene übergreifen. Insgesamt sollte so eine differenzierte theoretische Basis für die im zweiten Teil folgenden Bildanalysen der einzelnen Texte entstehen.

64 Kiening und Herberichs, Einleitung (2008), S. 16.

I.3

Zu den performativen Inszenierungen: Genuss im Vollzug kraft Ausdehnungen einzelner Bilder über ganze Bildfelder

Implizite Semantik, wie in der Zusammenfassung am Schluss des letzten Kapitels deutlich wurde, erschöpft sich nicht in einzelnen Bildern, sondern erweitert diese performativ und übergreifend zu dynamischen Bildfeldern. Daher besteht zwischen diesem und dem vorigen Kapitel ein besonders enger Zusammenhang. Wie bereits im ersten Kapitel dieses Theorieteils erwähnt, hat die Forschungsliteratur zu Performanz und Performativität mittlerweile uferlose Ausmaße angenommen, die Bestimmung des Begriffs in den Sprach- und Kulturwissenschaften nicht minder.1 Für die grundsätzlich heterogen und interdisziplinär angelegte Mediävistik, die immer schon mit der Schwellensituation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ihrer Texte konfrontiert war, hat sich durch die ›Entdeckung‹ der Performativität die Möglichkeit ergeben, das Potential dieses Begriffs auszuloten und theoretische Ansätze, die vor allem aus Linguistik, Dekonstruktion und Kunsttheorie stammen,2 fruchtbar zu übertragen. Das Ziel dieses Kapitels besteht nicht darin, einen Forschungsbericht hierzu anzufertigen, sondern eine Anwendung im Kontext des Genießens in der Frauenmystik zu zeigen, wobei sich jedoch zwischen theoretischen Bestimmungen von Performativität und den performativen Inszenierungen der Texte ein Spannungsverhältnis ergibt. Denn für den hier eingesetzten Begriff von Performativität wird in der Hauptsache die Ästhetik des Performativen von Erika Fischer-Lichte zugrunde gelegt, die ihre Bestimmung für die Theaterwissenschaften entwickelt hat. Das Kernstück ihrer Theorie der Performativität bildet die »Aufführung«,3 die sie als »Ereignis« begreift, das alle Anwesenden involviert.4 Zum einen gestaltet sie die 1 Vgl. allgemein und exemplarisch Suerbaum und Gragnolati, Medieval Culture (2010); Gertsman, Visualizing Medieval Performance (2008); Kiening und Herberichs (2008); Kiening, Mediale Gegenwärtigkeit (2007); Wirth (2007); Krämer (2004); Kertscher (2003); Mersch (2002); Früchtl (2001). 2 Vgl. hierzu Kertscher (2003), S. 7–15. 3 Ebd., S. 42–65. 4 Ebd., S. 243–283.

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»Aufführung« als Schlüsselbegriff, die das Publikum als Co–Mitspieler integriert, zum anderen betont sie die »Materialität«, die wesentlich zum Kunstcharakter der Aufführung beitrage. Letztere entsteht durch »Körperlichkeit«, »Räumlichkeit«, »Lautlichkeit«5 und »Zeitlichkeit«, die zusammen die zentralen Achsen bilden, welche eine Aufführung konkret präsent und taktil machen. Die Dimension der Körperlichkeit ist durch die physische Anwesenheit der Schauspieler und des Publikums präsent, die der Räumlichkeit in Form von Bühne, Ausstattung und Saal, die der Lautlichkeit durch die Stimmen und Betonung der Schauspieler, die der Zeitlichkeit durch das konkrete Verfließen der Zeit während der Aufführung. Für die Texte aus der Frauenmystik ergeben sich verschiedene Anknüpfungspunkte, wobei im Vorfeld deren andersartige Situation und Medialität berücksichtigt werden muss. Daher können basale Abgrenzungen nicht ausbleiben. Theaterstücke werden durch die Körper und Stimmen der Schauspieler, die sich auf der Bühne bewegen, vor dem daran beteiligten Publikum in Szene gesetzt.6 Dieses komplexe Zusammenspiel ergibt erst die sogenannte Aufführung. Was hier als Untersuchungsgegenstand vorliegt, sind Texte, deren Medium die Schrift ist. Im Unterschied zu einer Theateraufführung äußern sich daher performative Bezüge in Texten verhaltener, verschlüsselter und hängen stärker von den Dispositionen der Rezipienten ab, da das Publikum in Form einer Leserund Hörerschaft immer erst kreiert werden muss, während es im Theater

5 Auch wenn die Texte besonders für den Aspekt der »Lautlichkeit« reichhaltiges Material böten, da alle in Form von nahezu bruchlos szenisch vermittelten Dialogen verschiedene Stimmen zum Einsatz bringen und häufig durch Repetition bestimmte Schlüsselausdrücke aufgreifen, die durch Klangästhetik geprägt sind, habe ich mich entschieden, mich auf die drei anderen Aspekte zu beschränken, da Dimensionen von Klanglichkeit im Verlauf der gesamten Untersuchung immer wieder eingeblendet werden. Für den Mirouer vgl. hierzu bes. C. Müller (1999), S. 133–169 und Valette (2007), die Genuss und Gesang als eine zunehmend verdichtete Engführung begreifen, ohne aber explizit darauf einzugehen. Die Inszenierung des Schweigens, worauf bereits im Vorfeld hingewiesen wurde, spielt jedoch im Kontext des Genießens eine gleichfalls herausragende Rolle, vergleichbar mit den verschiedenen Pausen und Zäsuren in der Musik. 6 Vgl. hierzu Schneider (2003), S. 179. Schneider stellt die These auf, dass das frühe Christentum in umfassendem Maß auf Performatives angewiesen war, das durch »einen festlichen bild- und ereignisreichen Aufwand im Ritus und eine reiche Bildlichkeit des deutenden Sprechens und Darlegens entfaltet wurde. Beide Bereiche steigerten sich dabei wechselseitig, so das einerseits das Rituell-Performative neue reichere Vorführungen des Deutens der Texte heraufrief«. Des Weiteren führt Schneider zur Begründung des Performativen den mystagogischen Lehrer Johannes Chrysostomos an, der von der Literatur sogar als dem »Teatron aplaston kai pneumatikon« sprach und sie damit als »ungegenständliches, geistiges Theater« begriff. Eine versteckte Verbindung zur Theatralität war ihm zufolge durch die Liturgie gegeben.

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selbstverständlich gegeben ist – eine Aufführung ohne Zuschauer wäre schlichtweg absurd.7 Die Texte sehen sich aufgrund ihrer Thematik mit der medialen Herausforderung konfrontiert, zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen Bild und Bildlosigkeit zu vermitteln und die Paradoxien dieser Vermittlung zugleich im Sprechen über das Unsagbare offenzulegen.8 Ihre spezifische Form der »Materialität« haben sie ›kapselartig‹ in sich aufgenommen, welche durch den entsprechend disponierten Rezipienten erst entfaltet werden muss. Dem Zuschauer einer Theateraufführung wird diese Materialität dagegen in unmittelbarerer Form dargeboten: als greifbare Körper und hörbare Stimmen in einem konkreten Raum. In den Texten der Frauenmystik ist diese Unmittelbarkeit in den sprachlichen Bildern angelegt, die plastische, physische, synästhetische Dimensionen ausprägen und im Akt der Imagination Gefühle ›erfahrbar‹, Raum ›begehbar‹, Zeit ›aufgehoben‹ und Süße ›schmeckbar‹ machen und somit als besonders verdichtete und schillernde Speicher gelten können. Doch die Rezipienten hierfür müssen erst mit den Mitteln und Techniken der Sprache geschaffen werden. Indem sie es adressieren und dadurch einbeziehen, kreieren die Texte durch ihre Inszenierungen ein potentielles Publikum, dessen Reaktionen sie zugleich vorwegnehmen und damit die Rezeption entscheidend durch ›Regieanweisungen‹ steuern. So ist im Fließenden Licht die Rede von den geistlichen Leuten (VI, III), einem Kanoniker (VI, II) oder einer Begine im Fegefeuer (V, V), aber es liefert zugleich Rollenvorlagen in Form der geringsten (I, VIII) oder der liebenden Seele (II, 25).9 Briefe sind keine Seltenheit, so wird in I, 44 der Minneweg an den Gottesfreund adressiert.10 In den Visioenen wird besonders am Schluss ein Du angesprochen, auf dessen Bitten hin das Ich seine unerhörten Gnadenerfahrungen in einer Auswahl mitteilt.11 Eine exklusive Gemeinschaft wird besonders durch die Liste der Vollkommenen hergestellt, welche die Visioenen abschließt,12 und zuvor in der dreizehnten Vision die Gruppe derer, welche sowohl die hohe, die mittlere und die tiefe Seite der Liebe in sich vereinigen. Dem wird in der zehnten Vision schon die in der heiligen Stadt anwesende Gruppe der Lebenden vorausgestellt. Im Mirouer werden unter anderem13 die unbekannten 7 8 9 10

Kiening und Herberichs, Einleitung (2008). Vgl. grundlegend für diesen Teil Fischer-Lichte (2005). Vgl. FL II, 25. Vgl. Lieber gottes frfflnt, disen minneweg han ich dir geschriben, got muesse in an din herze! Amen. (FL I, 44, 25f). 11 Vgl. Vis. XIV, 110–124. 12 Vgl. Lijst der volmaakten als Appendix von Vis. XIV. 13 Vgl. allgemein zum Komplex der Hörerschaft McGinn (1999), S. 442–444 und exemplarisch folgende Stelle: Hee, tres noble gent adnientie et eslevee par grant admiracion et esbayssement par conjunction de union de Divine Amour, ne vous desplaise se je touche aucune chose pour

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Herrinnen (dames nient cogneues)14 angesprochen, welche die Rede der Liebe verstehen, oder allgemein die Hörer dieses Buches (auditeurs de ce livre).15 Die Texte stiften Gemeinschaft und können als identitätsbildende Medien fungieren, so dass Genuss und Teilhabe einander zugeordnet werden können. Die von Fischer-Lichte als »Materialität« umfassenden Komponenten Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit tragen zu einer solchen Gemeinschaftsbildung im durch den Text geteilten und mitgeteilten Genießen Gottes entscheidend bei. Denn in der Vorstellung entstehen Topographien des Genießens, die ›begehbar‹ sind und dadurch beliebig abrufbar bleiben. Die Texte entwerfen ganze Landschaften, um das Wesen Gottes zu veranschaulichen und sogar seine Unzugänglichkeit in Bilder zu übersetzen. Damit verbinden sich Praktiken des Selbst wie Vernichtung oder Vervollkommnung, die nach außen verräumlicht werden, beispielsweise das Ertrinken im Meer der göttlichen Liebesgüte im Mirouer, das zugleich Lust und Freude schenkt. Partiell verbindet sich die Räumlichkeit im Akt der Imagination mit der Körperlichkeit, andernfalls wäre sie nicht decodierbar. Doch umfasst das Vokabular der Räumlichkeit in allen Texten nicht nur extreme Höhe und Tiefe, sondern auch graduelle Abstufungen, zum Beispiel der Ebene. Zu Abgrund und Strudel stoßen Meer, Berg, Ebene und Baumgarten les petis, car je parleray assez tost de vostre estre. Et non pour tant, quant il advient que blanc et noir est ensemble, l’en voit mieulx ces deux coulours l’une pour l’autre, que checun par soy. – Or vous esleuz et appelez ad ce souverain estre, entendez et vous hastez […]. (Mirouer 60, 14–21) [Ach, ihr sehr edlen Leute! Vernichtigt zwar, aber erhoben durch die große Verwunderung und das Erstaunen in der Vereinigung der göttlichen Liebe! Lasst euch nicht verdrießen, wenn ich der Kleinen wegen auf einige Dinge nun eingehe. Sehr bald werde ich auf euren Stand zu sprechen kommen. Immerhin, wenn es sich trifft, dass Weiß und Schwarz beisammen sind, so erkennt man die beiden Farben, die eine gegen die andere gehalten, besser als jede für sich. – Nun, ihr Auserwählten und ihr Berufenen zu dieser höchsten Lebensweise, hört her und beeilt euch!] Hier differenziert der Text zwischen zwei Arten von Zuhörern, den edlen und den kleinen, auf deren Bedürfnisse er jeweils eingehen möchte, um einen Kontrast zwischen Schwarz und Weiß zu erzeugen, was von der Zusammenstellung an die Elsternfarbe aus dem Prolog im Parzival erinnert. Er gibt sich dadurch zugleich elitär und ›leutselig‹. 14 Vgl. exemplarisch: Hee, dames nient cogneues, dit l’Ame qui ce livre fist escrire, qui estes en ester, et en estant sans vous separer de l’Estre nient cogneu, vraiement nient cogneus estes vous. (Mirouer 119, 5–8) [Ja, ihr mir unbekannten Herrinnen!, spricht die Seele, welche dieses Buch schreiben ließ. Ihr, die ihr im Sein seid, und im Zustand, in dem ihr euch vom nichterkannten Sein nicht trennt, ihr seid wahrlich nicht erkannt!] Diese Zentralstelle verbindet sich mit einer Zuordnung des Buches zu der vernichteten Seele als Autorin, die für andere vernichtete Seelen schreibt, deren Zustand durch ein Sprachspiel mit nient performativ in Szene gesetzt wird. 15 Vgl. exemplarisch: Entendez ces mots divinement, par amour, auditeurs de ce livre! (Mirouer 58, 24f). [Versteht diese Worte göttlich, um der Liebe willen, ihr Hörer dieses Buches!] Es wird durch solche direkten Publikumsansprachen nicht nur eine spezifische Zuhörerschaft geschaffen, sondern auch eine Rezeptionsanleitung erteilt. Daher werden die auditeurs de ce livre meistens nach diffizilen, entscheidenden Schlüsselstellen angesprochen.

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hinzu, die gleichzeitig die verschiedenen Facetten der Gottesbegegnung verschlüsseln. Häufig, aber keineswegs immer, steht das Genießen im Zentrum dieser Topographien, so vor allem in den Visioenen; während im Mirouer die indirekt auf das Genießen bezogene Praktik der Selbstvernichtung diesen herausgehobenen Platz einnimmt. In diesem Zusammenhang spielen Signalwörter aus dem Umkreis des Genießens wie Süße, Freude, Lust, Liebe, Wonne, Ruhe und Frieden eine signifikante Rolle, so dass sich der in der Vernichtung verschlüsselte Genuss implizit dadurch zeigt. Eine weitere Form, Räumlichkeit zu inszenieren und damit eine plastische Dreidimensionalität zu schaffen, besteht in der Durchmessung des Raums durch physisch anmutende Bewegungen der Seele.16 So schwebt und sinkt, tanzt und springt die Seele im Fließenden Licht, sie fällt in die Tiefe, steht aufrecht und sitzt im Mirouer, sie wird verschlungen und stürzt in den Visioenen. Mit der Bildlichkeit solch konkreter körperlicher Bewegungen wird ein weiteres Angebot für die Rezipienten geschaffen, Vernichtung und Vervollkommnung auf das Genießen hin an sich selbst imaginativ zu vollziehen. Zusätzlich unterstützt die den Alltagshandlungen des Körpers entnommene Bildlichkeit, welche die komplexen Vollzüge der Mystik in eingängige Bewegungsmuster übersetzt, die Memorierbarkeit des Geschilderten. Der Genuss wird in einem künstlich geschaffenen, obgleich natürlich anmutenden Raum verankert, der nicht nur in Einzelheiten vor Augen gestellt, sondern dessen Begehbarkeit inszeniert und damit erfahrbar gemacht wird. Das Genießen wird räumlich und zeitlich verortet, indem sich die Texte den Paradoxien aussetzen, Ewigkeit zu gestalten, die immer wieder von den Schmerzen der Zeitlichkeit durchbrochen wird – und umgekehrt Zeitlichkeit, die immer wieder von der Kraft und dem Glanz der Ewigkeit überformt wird. Der Mensch ist, trotz seines Anteils am ewigen Genießen Gottes, zugleich noch der Zeitlichkeit und der Leiblichkeit unterworfen, so dass offenbar doppelte Formen von Zeit und Sein in den Texten existieren: mystische und irdische Zeit,17 seelisches und körperliches Sein. Der »Chronotopos«18 des Genießens ist daher doppelt codiert: Es verordnet sich grundsätzlich in der Ewigkeit, als Urbestandteil und Urausdruck des göttlichen Wesens, das sich unaufhörlich selbst genießt, macht sich aber gleichzeitig plötzlich verfügbar und überwältigt den Menschen. Das Genießen Gottes, als etwas Raumumfassendes und Zeitenthobenes, »erscheint«19 auf einmal als plenitudo temporis: unerwartet plötzlich und pa16 Vgl. Kasten, Formen des Narrativen (1995). 17 Mit dem Ausdruck ›mystische Zeit‹ ist die ›göttliche Ewigkeit‹ gemeint, an welcher der Mensch Anteil genießt. 18 Vgl. Bachtin (2008). 19 Vgl. Seel (2003).

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radoxerweise jederzeit neu. Im Text wird das Erscheinen aisthetisch inszeniert, um in seiner Leuchtkraft sichtbar zu werden. In dieser grundlegenden Spannung zwischen Zeit und Außer-Zeit bewegen sich die Texte, welche die Simultanität des Genießens in Ewigkeit und im Augenblick zu gestalten suchen, wobei sie sukzessive ein Kippverhältnis zwischen transitorischen und dauernden Elementen erzeugen. So veranschaulicht einersseits das blitzartige Entrücken von der fünften zur sechsten und dann zur siebten Stufe im Mirouer die augenblicksartige Kürze der vollkommenen Gottesnähe und Gotteserkenntnis; andererseits betont besonders der Mirouer, dass der vollständige Genuss Gottes erst auf der siebten Stufe in Ewigkeit möglich sei. Die Körperlichkeit selbst bildet nahezu die Basis aller im Kontext des Genießens aufgeführten Bildfelder. Denn eine unmittelbare Verbindung zur physischen Sinnlichkeit wird sowohl durch Trunkenheit und Sättigung, durch Krankheit und Wahnsinn oder durch Sturzbewegungen in den Abgrund geschaffen. Besonders dicht an die physische Welt angekoppelt scheint das Essen, Trinken, Schmecken, Hungern, welche die Texte durchziehen. Diese enge Verbindung zur Körperlichkeit in der Bildlichkeit stellt erneut den Bezug zu den modernen Metapherntheorien aus dem vorigen Kapitel her, wie sie ausgehend von Katrin Kohl in Anlehnung an Lakoff/Johnson20 weiterentwickelt wurden, nämlich dass die Wahrnehmung der physischen ›Ränder‹ einer Metapher erst deren volles Verständnis abrundet. Doch ist hierbei sowohl die oszillierende Sinnlichkeit als auch deren Zurücknahme innerhalb der Bildlichkeit zu berücksichtigen, denn dadurch entziehen sich die Texte fortwährend festen Zuschreibungen, indem sie die dichte Verschränkung von Literarizität und Körperlichkeit verschiedentlich anders ausloten oder paradox ergänzen.21 So stellen vor allem Trunkenheits- und Sättigungsmetaphorik direkte Bezüge zu den Praktiken des Abendmahls her, besonders durch die auf dem Geschmack (gustus) basierende Einverleibung des Heiligen. Gott schmecken und Gott erkennen sind ein- und dasselbe.22 Bei der eher verhalten versinnlichenden Marguerite Porete ist in dem Zusammenhang von der divine nourriture oder pasture die Rede, bei Hadewijch von Antwerpen kommt dem (konsteleken) smake eine entscheidende Bedeutung zu. Beides signalisiert grundsätzlich die Präsenz der Göttlichkeit und vermittelt eine besondere Innigkeit zwischen Gott und Mensch. Außer der Sexualität gibt es keine vergleichbar starke Vereinigung als etwas zu verzehren, was impliziert, es sich ganz zu eigen zu machen und in sich aufzunehmen. Gleichzeitig ist diese Metaphorik, obwohl stark körperlich und in20 Lakoff/Johnson (2008). 21 Wie es zum Beispiel bei der Trunkenheit, ohne selbst etwas getrunken zu haben (Mirouer 23), oder der Verlassenheit, die süß mundet (FL IV 12, 15–24), der Fall ist. 22 Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), S. 109–146; Mommaers, Hadewijch (2003).

Zusammenfassung

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tensiv, eher frei von den erotischen Konnotationen der Brautmystik.23 Doch thematisieren die Texte nicht nur Nahrung und Schmecken, sondern auch Hunger und Begehren, wodurch sie zentrale Umwertungen vornehmen. Während das Leiden Christi und die Praktiken der Imitatio Christi in erster Linie durch Bitterkeit gekennzeichnet sind, stellt die Süße hierzu einen Gegenpol dar, wobei die Texte dieses Verhältnis alle pointiert umkehren. Allgemein kann die Süße als Zeichen und Ausdruck der göttlichen Gegenwart betrachtet werden, die verschiedentlich freigesetzt wird.24 So entsteht sie im Mirouer als eine Quelle der Lust (d¦lice) aus eben dieser Nahrung, während im Fließenden Licht das Kontrastprogramm einer unmittelbar gekosteten Verlassenheit entfaltet wird. Grundsätzlich ist die Süße als eine synästhetische Wahrnehmung schlechthin zu betrachten, die sich aus den verschiedenen Sinnen zusammensetzt, vor allem dem Geruchs-, Geschmacks- und Gehörsinn. Deshalb lässt sich mit ihr besonders gut die Entgrenzung und Durchdringung ausdrücken, welche die Seele beim Genuss erfährt, der sie mit Gott vereinigt. In der Empfindung der Süße werden der menschliche und der göttliche Partner eins, weshalb in den fast durchgängig liturgisch gerahmten Visioenen das ghebruken häufig mit dem Kosten des Abendmahls einsetzt und das Ich überwältigt.

Zusammenfassung Durch die Dreier-Achse aus Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit ist es für die Texte möglich, sich in einer vielseitigen Materialität zu inszenieren und dadurch in einer dreidimensionalen und vielstimmigen Weise für die Rezipienten greifbar und vorstellbar zu werden. Durch gezielte und punktuelle Einblendung von mystischen Landschaften und Praktiken des Abendmahls ist es möglich, das Genießen ›begehbar‹ und ›schmeckbar‹ zu machen und es gleichzeitig in seine verschiedenen Einzelaspekte auszudifferenzieren, so dass eine flexible Anwendung für eine entsprechend disponierte Zuhörer- und/oder Leserschaft möglich war. Somit verbindet sich Räumlichkeit mit Körperlichkeit. Der Spannung zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit verschließen sich die Texte keineswegs, sondern agieren diese kreativ aus und zeigen hierbei auch die Bruchstellen zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit. Das Genießen Gottes, das in sich die Aspekte von beiden Ordnungen vereinigt, stellt einen einmaligen Aus23 Selbstverständlich lässt sich die Sättigungsmetaphorik erotisch aufladen, wenn noch andere Bilder oder Nuancen ergänzt werden, so dass sexuelle und nährende Metaphorik einander einschmelzen. Die Visioenen sind hierfür ein gutes Beispiel, nicht aber der Mirouer, der insgesamt zwar die Sättigungsmetaphorik am stärksten einsetzt, aber eher verhaltene Untertöne anschlägt. 24 Vgl. Ohly, Geistige Süße bei Otfried (1977), bes. S. 102–109; Rinke (2006), bes. S. 64–67.

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nahmezustand dar, nämlich die Trennung nach dem Gesetz der Zeit und den Genuss nach dem Modus der Ewigkeit. Diese beiden einander ausschließenden Modi auszubalancieren, bildet eine der zentralen Herausforderungen der Texte, die zwar eine Materialität aus Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit generieren, gleichzeitig aber mit allem Nachdruck darüber hinausweisen, da sie das Sinnliche zugleich als Außer-Sinnliches begreifen – wodurch ein grundlegender Unterschied zu Fischer-Lichte entsteht. Während im vorigen Kapitel die theoretischen Grundlagen für die einzelnen Bilder präsentiert wurden, spielten in diesem Kapitel deren performative Dimensionen eine zentrale Rolle, die sich erst aus den komplex ausgreifenden Bildketten erschließen lassen. Grundsätzlich versteht sich ›Bedeutung‹ in dieser Arbeit als komplexes Konstrukt aus expliziter und impliziter Semantik, die sich aus Wörtern, Bildern, performativen Inszenierungen im erweiterten Sinn zusammensetzt, ohne dabei den Bezug zum einzelsprachlichen Wort aufzugeben.

Teil II: Textanalysen

II.1 Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Allgemeine Vorbemerkungen zur lateinischen Tradition Durch die Wortanalysen wird nicht nur die unbestreitbare literarische Qualität, sondern auch die innovative Sprachverwendung der drei Texte sichtbar. Da sich solche Innovationen vor dem Hintergrund der komplexen lateinischen Traditionslinien reliefartig abheben, soll, um die kreative semantische Eigenleistung der Texte adäquat zu würdigen, ein kurzer Hinweis auf die lateinische Tradition erfolgen. Insgesamt konzentriert sich diese Untersuchung zwar auf ein close reading, das jedoch, wie bereits in der Einleitung erwähnt, durch gelegentliche Hinweise auf außertextuelle Kontexte ergänzt wird, da eben diese komplexen Traditionsstränge in den Texten kunstvoll aufgegriffen und weiter verarbeitet werden. Einer der folgenreichsten wird hier exemplarisch skizziert.1 So geht die zentrale Unterscheidung zwischen den beiden Verben uti und frui auf die Augustinus zugeschriebenen Texte De trinitate2 und De doctrina christiana3 zurück. Aus der Fülle von Belegstelle habe ich folgende herausgegriffen:4 Frui est enim amore inhaerere alicui rei propter se ipsam. Vti autem, quod in usum uenerit, ad id, quod amas obtinendum referre, si tamen amandum est. (DC I, IV [4])

Gleichzeitig wird dadurch, beispielsweise in DT X, 10f., eine weitreichende Differenzierung des Genießens vorgenommen. Das Genießen wird im Gegensatz

1 Wobei hier die speziellen Stilisierungsmöglichkeiten der lateinischen Sprache keineswegs in Abrede gestellt werden sollen. Ein Vergleich der volkssprachlichen Texte mit dem Lux divinitatis oder dem Speculum simplicium animarum wäre in jedem Fall lohnend, um die unterschiedlichen Redetraditionen und Inszenierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Allgemein zum Vergleich von lateinischer Tradition und Umschrift(-en) in die Volkssprache am Beispiel der Mystik s. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (2003). 2 Augustinus, De trinitate (1968). 3 Ders., De doctrina christiana (1962). 4 Küpper (2002); ebenso Rinke (2006), S. 23–28.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

zum Gebrauchen als Selbstzweck gekennzeichnet, das sich in der Freude (gaudium) und der Lust (delectatio) an der Sache selbst äußere:5 Uti est enim assumere aliquid in facultatem voluntatis; frui est autem uti cum gaudio non adhuc spei sed iam rei. (DT X, 11 [17])

Während das Gebrauchen stets auf ein anderes Ziel ausgerichtet bleibe, finde der Genuss in Gott einzig durch ihn selbst Ruhe und Erfüllung.6 Diese Unterscheidung greifen die drei Texte aus der Frauenmystik in spezifischer Weise auf und entwickeln sie weiter. Einladend für volkssprachliche Umschriften im Mittelhochdeutschen und Mittelniederländischen war sicherlich die Doppeldeutigkeit von gebrauchen und genießen, die nur im Lateinischen klar getrennt verwendet werden müssen. In den beiden Volkssprachen des Mittelniederländischen und des Mittelhochdeutschen dagegen ist es für die Texte möglich, mit dem Doppelsinn und seinen einzelnen Facetten zu spielen. Das Fließende Licht übernimmt vor allem die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem gebruchen, was sie durch ihre Adverbverwendung hinreichend kennzeichnet, während die Visioenen mit dem Verb ghebruken das Genießen auch als ein dynamisiertes wechselseitiges In-Gebrauch-Nehmen entwickeln, wodurch sich die Möglichkeit der Ebenbürtigkeit mit dem göttlichen Partner öffnet. Der Mirouer dagegen schließt deutlich enger an das Lateinische an und verzichtet ganz auf eine Verbform des Genießens, sondern bleibt ausschließlich bei der Substantivform fruiction, die er, ganz augustinisch, in der Ewigkeit Gottes nach dem Tod verortet. Gleichzeitig aber greifen versinnlichende Substantive wie doulceur, delice und joie bei Augustin genannte Umschreibungen für den Gottesgenuss bzw. für dessen Abglanz wie gaudium, delectatio und suavitas auf. Auch die Adjektive, mit denen die Visioenen das mitunter substantivierte ghebruken eingehender bestimmen, sind vor allem auf die Ewigkeit, die Vollkommenheit und die Ganzheit ausgerichtet,7 was die Besonderheit betont, in der Zeitlichkeit die Ewigkeit zu genießen bzw. an Gottes ewigem Genießen teilzu-

5 Voluntas autem adest per quam fruamur eis vel utamur. Fruimur enim cognitis in quibus voluntas ipsis propter se ipsa delectata conquiescit; utimur vero eis quae ad aliud referimus quo fruendum est. Nec est alia vita hominum vitiosa atque culpabilis quam male utens et male fruens, de qua re non est nunc disserendi locus (DT, X, 10 [13]). 6 Bezüge ergeben sich an der Stelle besonders zum Mirouer, in dem der Berg als Ort der erhabenen Ruhe und das Meer als Ort der lustvollen Freude an Gott erscheinen. Die impliziten Verbindungslinien zum Genießen sind durch Ruhe/Frieden oder Freude/Wonne gegeben, die einander häufig überlappen und begleiten. 7 Das mittelniederländische Adjektiv gheheel bedeutet ganz, vollkommen, unteilbar, was an die lateinische Lombardus-Beschreibung des Genießens in Ewigkeit denken lässt: perfecte et plene. Vgl. hierzu Middelnederlandsch Woordenboek, Bd. 2 (1889), Sp. 1123f.

Erste Wortanalyse

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haben. Damit greifen sie zentrale Charakteristika der fruitio dei auf, die sich ebenfalls bei der Substantivform ghebrukelecheit finden. Die Beschreibung und Analyse lateinischer Traditionslinien böte mit Sicherheit ausreichend Material für eine eigenständige Untersuchung. Hierzu zählen auch Richard von St. Victor, Wilhelm von St. Thierry oder Bernhard von Clairveaux. Sie werden bei den einzelnen Analysen punktuell eingeblendet. Aufgrund anderer Zielsetzung, die sonst unmöglich zu leisten wäre, soll es aber bei diesen Bemerkungen bleiben.

II.1.1 Erste Wortanalyse: Der vielseitige Gebrauch von gebruchunge und gebruchen im Fließenden Licht Allgemeiner Überblick über die Wortanalyse des Fließenden Lichts Eine Wortanalyse für das Fließende Licht zu erstellen, bedeutet aufgrund des Umfangs und der Vielfalt des Textes eine große Herausforderung. Im Gegensatz zu den Visioenen, die ein schmales, außerordentlich dicht und außerordentlich kunstvoll komponiertes Werk darstellen,8 weist das Fließende Licht eine Heterogenität an Stilen und Gattungen auf, die ihresgleichen sucht und für das Bestreben einer kohärenten Analyse ein basales Problem darstellt.9 Doch kann man durchaus die Fülle der Themen aufzeigen, die sich anhand einer einzigen, durchgängig durchbuchstabierten Thematik ergeben, wie hier Genuss und Genießen. Daher werden in der Wortanalyse sämtliche Stellen aus dem Fließenden Licht, in denen gebruchunge oder gebruchen vorkommt, angeführt und erläutert. Statt eine Vorauswahl zu treffen, werden alle Bücher in diesen Untersuchungsteil gleichberechtigt einbezogen. Im Hinblick auf die Akzentuierungen der einzelnen Bücher treten hierbei beträchtliche Unterschiede auf: so beträchtliche, dass die Frage aufkommen mag, inwiefern sich der thematische Kern dadurch noch zusammenhalten lässt, ohne gesprengt zu werden. Doch vielleicht ist eine Sprengung des thematischen Kerns genau das, worauf das Fließende Licht abzielt. So verweist in den ersten beiden Büchern des Fließenden Lichts die Substantivform gebruchunge fast ausschließlich auf ein Genießen Gottes in der Einheit, was die zwei Pole der überwältigenden Erfüllung und des verzehrenden Zugrunde-Gehens miteinander organisch verbindet. Sie lässt sich am besten mit Genuss, Erfüllung, Entrückung, Teilhabe oder lustvolle Erfahrung übersetzen, 8 Vgl. hierzu den Hinweis von Warnar (1998). 9 Vgl. grundlegend hierzu Mohr (1963); Haas, Struktur der mystischen Erfahrung (1979); Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984).

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

während die Verbformen ein breites Spektrum des Gebrauchens entwickeln, das als eine Umakzentuierung oder Erweiterung des mystischen Genießens gedeutet werden kann. Entscheidend hierfür ist, dass man den Text als Komposition oder zumindest als bewusste Anordnung voraussetzt und dessen Verlauf bei der semantischen Deutung folgen kann. Diese Hypothese kann auf der Basis der Textgeschichte problematisiert werden;10 trotzdem hält sich diese Untersuchung an die Ausgabe von Gisela Vollmann-Profe. Es soll im Rahmen meiner Arbeit nicht diskutiert oder entschieden werden, ob die einzelnen Kapitel ursprünglich in dieser Reihenfolge angeordnet waren und wer im Einzelnen an der Textgenese beteiligt war. Die dynamische Doppelpoligkeit aus Lust und Schmerz, Erfüllung und Verlust, die in den ersten beiden Büchern eine organische Einheit bildet und in einem Schmelzgestus inszeniert wird, erfährt in den folgenden Büchern eine deutliche Umakzentuierung: Zuerst wird das Entbehren Gottes und das FernSein von dem göttlichen Partner mit dem Genießen der Gegenwart Gottes verbunden und im dritten und vierten Buch zunehmend enggeführt. Das beglückende Genießen Gottes verschwindet nahezu ganz im schmerzlichen Begehren, deren Höhepunkt die Gottesferne darstellt. Auf der Textoberfläche zeigt sich dieser Entzug in dem Verschwinden der Substantivform gebruchunge, an deren Stelle jetzt die Verbform gebruchen tritt, die mit genießen, nutzen/gebrauchen, Gebrauch machen, sich befleißigen, sich erfreuen, Vorteil/Freude aus etwas/jemandem ziehen übertragen werden kann. Die in den vorigen Büchern geprägten Extreme werden im fünften und sechsten Buch noch einmal überstiegen und überformt. Anstatt gebruchunge als verzehrende Überwältigung wie in den ersten beiden Büchern zu inszenieren oder gebruchen in Begehren und Gottesferne aufzulösen, rücken in den folgenden beiden Büchern pragmatische Handlungsanweisungen wie (der dinge) nach irem rehte gebruchen beziehungsweise der sfflnden gebruchen in den Mittelpunkt, ohne vorige Bezüge zu verleugnen. Wohl und Lehre der Mitmenschen ergänzen das Verlangen nach erlesenen Gnadenerfahrungen. Während in den vorigen drei Büchern eine recht sparsame Verwendung der Verbform sichtbar wird, explodiert diese im sechsten Buch geradezu inflationär. Insgesamt treten nur noch vereinzelte Stellen mit gebruchunge auf,11 vor allem im siebten Buch, 10 Vgl. grundlegend Nemes (2010). 11 Verschiedentlich tritt das (ge-)niessen ab dem fünften Buch hinzu, vgl. FL V, 25, 4: Eines dinges genfflsse ich in dem himmelriche allermeist und FLVII, 42, 5–7: Do sprach ein stimme: »Du solt mir honges trank behalten, der liget in maniger valden. Ich wil in ufscliessen, des sol noch maniger geniessen.« Beide Verwendungsweisen bieten Bezüge zum Genießen, erstere bezeichnet sogar die himmlische Freude, während letztere gustale Verbindungen zur Süße des Kostens herstellen und direkt an Gott anschließen. Eventuell deuten sich schon hier die fließenden Übergänge zur späteren Verwendungsweise an. Vgl. Weiß (2000), S. 780. Er hat

Erste Wortanalyse

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das eine Art Bündelung der in dem Kontext des Genießens entwickelten, oft disparaten Stränge darstellt. Das Genießen im Fließenden Licht ist auf der Wortebene dadurch gekennzeichnet, dass alles, was in einem oder zwei Büchern kunstreich entwickelt und vorgeführt wird, im nächsten durch eine andere Akzentuierungen überformt wird. Erst prägen sich die Extreme zwischen Lust und Schmerz zunehmend intensiv aus, bevor sie allmählich in eine derart unspektakuläre Form übergehen, dass man die Übersteigung der Übersteigung kaum mehr erkennt.12 Das Alltägliche wird außergewöhnlich, das Banale das Sakrale, um es überspitzt zu formulieren. Die Unterschiede werden aufgehoben: Jedes ist Alles. Die Übersteigung des Höchsten (Genuss Gottes in der Einheit wie in I, 44) durch das Tiefste (Entbehrung in der Gottesferne wie in IV, 12), was äußerste Höhenunterschiede zusammenzwingt, wird im Fließenden Licht fast milde eingeebnet, ohne dass vorige Bezüge ganz aufgegeben werden. Als entscheidender Bestandteil dieser ›Verflachung‹ oder ›Einebnung‹ der Extreme kann der Ausbau der didaktischen Komponente betrachtet werden, wie sie sich in den späteren Büchern zeigt.13 Die auf Gott und Seele bezogene Einheit im Genuss wird aufgebrochen, doch nicht mehr auf den freiwilligen Verlust, sondern auf den Nächsten hin bezogen.14 Zunehmend rückt das ›richtige‹ in Abgrenzung zum ›falschen‹ Genießen ins Zentrum, wodurch das Verhältnis zu allen Dingen mit in den Fokus gerät. Gleichzeitig findet man in diesem letzten Buch noch einmal das gesamte Spektrum inklusive der aus den ersten Büchern bekannten Formen gebündelt, die zeigen, dass das eine das andere keineswegs ausschließen muss, sondern dass mehrere Zentren und Formen des Genießens nebeneinander koexistieren. Doch wollen diese Vorbemerkungen lediglich Leitlinien entwerfen; es bleibt der Eigentümlichkeit des Fließenden Lichts geschuldet, dass sich immer wieder Ausnahmen finden, welche besagte Koexistenz bereits in früheren Büchern vorführen.

darauf hingewiesen, dass in niezen/geniezen zu dem Zeitpunkt ein pejorativer Beigeschmack eines unersättlichen Genussmenschen mitschwingen konnte. 12 Was m. E. einen entscheidenden Unterschied zu Batailles Theorie der Überschreitung darstellt, die beim Fließenden Licht in jedem Fall nur auf die ersten und nicht auf die letzten Bücher angewendet werden kann, die zeigen, dass eine Überschreitung immer wieder eine Überschreitung fordert, dabei aber die Bereiche des Erlaubten und Tabuisierten zunehmend verwischt und nicht immer von Tod, Angst und Gewalt flankiert sein muss, sondern völlig unspektakulär und fast unbemerkt sich vollziehen kann. 13 Vgl. hierzu Suerbaum, Paradoxie mystischer Lehre (2009). 14 Vgl. hierzu FL VII, 7.

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Entfaltung der Extreme im Gottesgenuss in den Büchern I und II Besonders die ersten beiden Bücher sind auf ein breites Forschungsinteresse gestoßen, was zum einen an dem Kernthema der Unio liegt, zum anderen mit deren kunstvoller Inszenierung zusammenhängt, die durch Vermischung und Vervielfältigung von Gattungen, Sprecherinstanzen und Tonhöhen geprägt ist. Zahlreiche Untersuchungen thematisieren die versinnlichenden Formen15 der Einheit mit Gott, die rhetorischen Sprachstrategien einer unsagbaren Unio, zu denen vor allem Dialog und Dialogizität16 sowie die Inszenierung von Unmittelbarkeit und Präsenz gehören. Hierbei spielt das Hohelied eine entscheidende Rolle, das als Experimentiervorlage dient und häufig zu lyrisch-dramatischepischen Umsetzungen Anlass gibt.17 Speziell auf die gebruchunge nehmen nur vereinzelte Forscher wie Margot Schmidt,18 Marianne Heimbach-Steins19 und Mark Amtstätter20 Bezug, ebenso hat Burkhard Hasebrink21 in einem Aufsatz im Zusammenhang mit der Süße im Anschluss an Kurt Ruh darauf hingewiesen. Doch da die Passagen aus den ersten Büchern zugleich Kernstellen der Forschung darstellen, wird die gebruchunge oft erwähnt, aber kaum näher ausgeführt, sondern vorausgesetzt. Allenfalls verbindet es sich mit dem Kosten Gottes und der Erkenntis durch Süße.22 Problematisiert wird die Einheit, nicht der Genuss, obwohl der Genuss als Spezialform der Einheit deren provokatives Potential der Sinnlichkeit in Form der Süße oder des Schmeckens noch weit direkter in sich aufgespeichert hat. Einheit

15 Vgl. Amtstätter (2003); Ankermann (1998); Haas, Mechthild von Magdeburg (1979); Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007); Hellgardt (1996); Kasten, Körperlichkeit und Performanz (1998); Keul (1998); Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993); M. Schmidt, Elemente der Schau (1985); dies., »die spilende minnevluot« (1986); dies., Versinnlichte Transzendenz (1990). 16 Vgl. vor allem Andersen, The voices of Mechthild (2000); Dicke (2003); Grubmüller (1992); Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984); Michel, »Quomodo amor excitet animam pigram« (1995); Suerbaum, Dialog und Brautmystik (2003); Tillmann (1933); Volfing (2003). 17 Vgl. Haas, Struktur der mystischen Erfahrung (1979), vgl. bes. folgende berühmte Formulierung auf S. 110: »Sie interpretiert nicht mehr das Hohelied, sie experimentiert es« (Hervorhebungen im Original). Daran anschließend: Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 71–96. 18 Vgl. M. Schmidt, Elemente der Schau (1985); dies. »die spilende minnevluot« (1986); dies. Versinnlichte Transzendenz (1990). 19 Vgl. Heimbach-Steins (1989). 20 Vgl. Amtstätter (2003), S. 32f. und S. 63–69. 21 Vgl. Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007). 22 Vgl. Heimbach-Steins (1989), S. 28: »Nichts anderes ist auch gemeint, wenn es von der Seele heißt: ›bekantnisse ane gebruchunge dunket si ein helle pin‹; denn die wahre Erkenntnis des Göttlichen erwächst der Seele eben aus dem Verkosten Gottes in der ekstatischen Erhebung.«

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und Trennung sind daher in der Forschung ebenso selbstverständliche Paare wie Steigen und Sinken, Liebesverschmelzung und Gottesferne. Die Wortanalyse stellt vorerst keine Ausnahme hierzu dar, da erneut jene in der Forschung so beliebten Schlüsselstellen wie I, 44 oder IV, 12 bemüht werden müssen, da sie aufgrund ihrer Verdichtung zahlreiche Themenfelder miteinander verbinden. Doch soll im Verlauf der Untersuchung darüber hinausgegangen werden, indem auch andere, weniger eingängige oder populäre Stellen des Fließenden Lichts für die Analyse hinzugezogen werden und jene Grundstruktur ergänzen können.23 Trotz aller Sorgfalt werden ausschließlich die Linien des Genießens im Text zu verfolgen sein, wobei deren komplexes Profil entsteht. Besonders in den späteren Büchern gibt sich die Verbform gebruchen zunehmend spröder und entleert von jenem Oszillieren zwischen Sinnlichkeit und Entsinnlichung, das die spirituelle Rede in den ersten Büchern kennzeichnet. An jene fast von allen Interpreten zur Kenntnis genommene Eigentümlichkeit des Fließenden Lichts, die Grenzen zwischen Sinnlichkeit und Spiritualität, zwischen Körperlichkeit und Literarizität aufzuheben oder zu unterlaufen, wird hier unmittelbar angeschlossen. Besonders die ersten beiden Bücher entwickeln einen Schmelzgestus, welcher die Unio im Genuss in all ihren beseligenden und schmerzhaften Facetten vorführt, was in der Doppelung aus Überwältigt- oder Vernichtet-Werden zum Ausdruck kommt. Zugleich machen sie Angebote zur performativen Teilhabe im Mit- und Nachvollzug, wozu vor allem die dialogische Inszenierung und die Präsenzeffekte beitragen, welche die Gesetze von Zeit in der Re-Kreation von Gegenwärtigkeit aufzuheben suchen. Doch ist dieser plötzliche Umschlag gelegentlich auch in den späteren Büchern zu finden, die weit heterogener und weniger spröde sind, als man mitunter – vor allem nach erster Lektüre – meint.

Buch I: gebruchunge als Ausdruck von überwältigender Gottesnähe und verzehrendem Zugrunde-Gehen Im ersten Buch finden sich insgesamt drei Stellen, in denen die Substantivform gebruchunge auftritt. Jedes Mal wird der Genuss literarisch anders inszeniert; in I, 2 episch, in I, 21 gnomisch und in I, 44 dialogisch; doch ist er an allen drei Stellen durch eine Bewegung der Übersteigerung gekennzeichnet, die das Übersprungene noch einmal zu überspringen sucht. Gleichzeitig entsteht durch die zusammen mit der gebruchunge auftretenden Schlüsselwörter wie minne/ beschowunge und bekantnisse zwischen ihnen ein dichtes semantisches Netz. 23 Vgl. für ein solches Vorgehen vor allem Heimbach-Steins (1989); Suerbaum, Dialog und Brautmystik (2003), die beide bewusst auch weniger populäre Stellen in die Analyse miteinbeziehen.

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Erkenntnis und Genuss schließen sich demzufolge ebenso wenig aus wie Liebe und Erkenntnis, sondern bedingen einander und steigern sich in ihrem Zusammenspiel.24 Genuss ist demnach auch als eine besondere, exklusive Form des Wissens zu verstehen, das nicht lehrbar, sondern nur erfahrbar, nicht sagbar, sondern nur andeutbar ist. Am Anfang des ersten Buches steht ein kunstvoll inszenierter Dialog zwischen der Seele und der Minne, in welchem die Seele sich über das schonungslose Beraubt-Sein (rouberinne) von Kindheit und Jugend – sozusagen der ›besten Jahre‹ – Freunden und Verwandten, Besitz und Reichtum, den weltlichen Lebensstil und das damit verbundene Prestige, Gesundheit und Wohlbehagen des Leibes klagt. Nicht die glückselige Vereinigung oder die berauschende Ekstase, sondern der Verzicht auf alles, was das Leben angenehm machen könnte, stehen am Beginn dieses Heiligkeit beanspruchenden Bekenntnisbuches. Das Buch setzt also mit dem deutlichen Markieren eines Extrempols ein, indem die Entäußerung und Verarmung des Selbst durch die Minne in einer performativen Klage der Seele und der Forderung nach adäquater Entschädigung seitens der Minne vorgeführt wird.25 Das Kapitel kann durchaus als eine Einstimmung des damaligen Rezipientenkreises verstanden werden, vor dem ersehnten Genuss Gottes alles aufzugeben und den vollen Preis dafür zu zahlen. Selbstaufgabe und Gottesgenuss stehen also von Anfang an in dichter, wechselseitig aufeinander bezogener Verbindung. I, 2 schildert den gottes gruos, der eine Chiffre für die begehrte Einheit mit Gott in Form von Liebe, Erkenntnis und Genuss darstellt. Die Seele trennt sich vom Leib und entgleitet voll göttlichen Glanzes in die Höhe zu Gott, wobei sie Schritt für Schritt in seine verborgene Heimlichkeit eingeführt wird. Der Körper dagegen bleibt zurück, um die kräftezehrenden Begleiterscheinungen des Gottesgrußes auf sich zu nehmen, wie nach der Rückkehr der Seele in seiner Klage deutlich wird. Zwar koppelt sich die Seele vom Körper ab, bleibt ihm aber trotzdem verbunden, indem sie einen kleinen Teil von sich zurücklässt. Außerdem formuliert der Körper klagend die Konsequenzen dieser Überschreitung wie folgt: Din wandelen hat mir benomen minen smak, ruowe, varwe und alle min maht (I, 2, 31f.). 24 Vgl. zum inneren Zusammenhang von minne und bekantnisse Ruh, Frauenmystik (1993), S. 268–270. 25 Bereits an dieser Stelle findet sich eine Parallele zu den Visioenen der Hadewijch, die vor allem in den ersten Visionen, nämlich Vision II und III, die Minne in den Vordergrund stellen und unter den Aspekten des ellende erörtern, was notwendigerweise zum ghebruken, also zur genussvollen Teilhabe an der Göttlichkeit, dazugehört. Die Kraft und Motivation dazu gewinnt das Ich der Visioenen aus der Stärke und Intensität seiner Minne, was im Fließenden Licht lediglich performativ in der allumfassenden Klage vorgeführt, aber nicht expliziert wird.

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Offenbar trägt der Leib die schmerzlichen Aspekte des Genießens wie Schwäche, Fahlheit, Kraftlosigkeit an sich aus; während die Seele sich an der göttlichen Umarmung erfreut, deren Intensität26 die Dimensionen des Körpers überschreitet.27 Die Spaltung ist nicht eindeutig, sondern die gesamte Passage zeigt eine durchgängige Spannung zwischen Körper und Seele, die halb verbunden, halb getrennt agieren. Entgegen der Abgrenzungsbestrebungen der Seele sind sie keineswegs völlig undurchlässig voneinander geschieden, sondern vollziehen bestimmte Bewegungen des Genießens der Göttlichkeit ›am eigenen Leib‹ mit und nach – vor allem die des Schmerzes und Todes.28 Die Bewegung des Überschreitens29 wird somit zu unterschiedlichen Teilen in Körper und Seele eingeschrieben, die sie jedoch beide auf ihre Weise und nach ihren Möglichkeiten ausführen.30 Abschließend folgt eine neutrale Charakterisierung des höfisch anmutenden göttlichen Grußes mittels einer auffallenden physischen Bildlichkeit, welche von einem emphatischen Ausruf unterbrochen wird, um in einen finalen Ausruf zu münden, der das sprechende Ich miteinschließt. Es findet ein Wechsel der Sprecherpositionen statt, die sich schlussendlich ineinander verschränken, sodass sowohl allgemeine als auch persönliche Aussagen gemacht werden, gleichzeitig aber das Sprecher-Ich den Wunsch nach einer Steigerung ganz unverhüllt äußert, um nicht nur das kennenzulernen, was die Geringsten erhalten haben, sondern auch das, was die Großen geschenkt bekamen, zu bekommen: 26 Das schließt allerdings nicht aus, dass der Text andere Anordnungen und Verteilungen von Körper und Seele, von Lust und Schmerz vornehmen kann. An Stellen, wie z. B. der gotzvroemedunge (Buch IV, 12) trägt die Seele bereitwillig den Schmerz des Verlassenseins und weist die lustvolle Süße sogar zurück, um nur noch den Schmerz zu ertragen. Eine vergleichbar herausgehobene Rolle spielt der Körper in dieser Passage nicht, aber Hinweise auf eine verhüllte Sinnlichkeit ergeben sich aus dem vielsagenden, zwischen olfaktorischem und gustalen oszillierenden Substantiv der suoze. 27 Vgl. hierzu den berühmten Minneweg aus FL I, 44, wo die leiblichen Sinne, weil sie die göttliche Liebesglut nicht ertragen, geblendet zurückbleiben müssen, obgleich sie die Seele noch ein gutes Stück weiter begleiten konnten als der Leib. 28 Das spannungsvolle und vielseitige Verhältnis zur Leiblichkeit, die zwar überschritten, aber nicht total aufgegeben wird, ist besonders bei Mechthild ein fast einzigartiges Phänomen, das sich in verwandter Form auf vergleichbarem Niveau m. E. nur bei Hadewijch findet. 29 An der Stelle könnte sowohl die Anwendung als auch die Begrenzung von Batailles Überschreitung aufgezeigt werden: Die Seele überschreitet sowohl Körperlichkeit als auch Menschsein auf die Vereinigung mit Gott hin, ohne aber das Überschrittene ganz hinter sich zu lassen, denn es wird widerstrebend-lose einbezogen. 30 Die Forschungsliteratur zu den im Zusammenhang mit Mechthild zitierten Stellen ist zu reichhaltig, um sie hier vollständig aufzuführen, daher vgl. exemplarisch zur hier erörterten Thematik Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007); Kasten, Formen des Narrativen (1995); Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), bes. S. 71–96; Langer, Christliche Mystik (2004), S. 227–252; Stadler (2001); M. Schmidt, Versinnlichte Transzendenz (1990), S. 61–88.

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Dis ist ein gruos, der hat manige adern, der dringet usser dem vliessenden gotte in die armen, dfflrren selen ze allen ziten mit nfflwer bekantnfflsse und in nfflwer beschowunge und in sunderlicher gebruchunge der nfflwer gegenwfflrtekeit. Eya sueslicher got, ffflrig inwendig, bluegende uswendig, nu du dis den minnesten hast gegeben, moehte ich noch ervarn das leben, das du dinen meisten hast gegeben! Darumbe wolt ich mich dest langer qweln. Disen gruos mag noch muos nieman enpfan, er si denne fflberkomen und ze nihte worden. In disem gruosse wil ich lebendig sterben. Das moegen mir die blinden heligen niemer verderben, das sint die do minnent und nit bekennent. (S. 22–24; I, 2, 35–9)

Der Gottesgruß integriert die ausgetrocknete Seele durch die zahlreichen göttlichen Adern in seinen Kreislauf, so dass diese durchtränkt und durchfeuchtet wird mit Erkenntnis, Schau und Genuss. Dieses Trikolon impliziert bereits die wechselseitige Durchdringung von gefühlter und geschauter Erkenntnis, die weder nur spekulativ noch bloß affektiv ist, sondern eine Intensivierung von beiden einschließt. Deutlich davon abgesetzt werden die als blind bezeichneten Heiligen, die bloß einseitig lieben, ohne Gott zu erkennen. Die Liebe nämlich macht sehend, nicht blind.31 Über die Bildlichkeit gelingt es, eine enge Bindung zwischen der Seele und Gott herzustellen, indem die Adern der Göttlichkeit die Seele wie einen Körper durchfließen, was einen gemeinsamen Körper suggeriert, obwohl paradoxerweise das ganze Geschehen sich außerhalb des Körpers vollzieht. Bezeichnung und Bild verdichten sich hier gegenseitig. Besonders diese Stelle scheint einen Bezug zur Elsbeth von Oye anzubieten, in deren Offenbarungen die Blutströme zwischen ihren eigenen und Christi Wunden in einem ununterbrochenen Fließprozess kreisen.32 Die gebruchunge ist von den anderen beiden Substantiven durch das Adjektiv sunderlichen (lat. specialis) hervorgehoben, welches sie als eine besondere, nur dieser einen Seele zukommende Erfahrung auszeichnet und beinahe individuell akzentuiert.33 Die Verknüpfung im Genitivattribut mit der Realpräsenz des

31 Vgl. zu einer paradoxen Modifikation FL I, 22, 23f: in dem schoensten liehte ist si blint an ir selber und in der groeston blintheit sihet si allerklarost. Das Licht der göttlichen Erkenntnis bewirkt mit der Gotteserkenntnis zugleich den Selbstverlust, was in die paradoxe Formel des In-der-Blindheit-am-klarsten-Sehen gebracht wird. Nebenbei bemerkt ist dieser Topos vom blinden Seher (Teiresias) oder Dichter (Homer) seit der griechischen Antike geläufig. 32 Vgl. Daz minne wallinde bluot mis suns nuzze ich alle zit minneklich in dem pinlichen ser dines krfflzes. Min bluot blueget in dir unt din bluot bluoget in mir. Daz pinlich ser dines krfflzes sol dir werden ein suesses niezzin in der lebindun maginkraft miner gotlicher natur. Din krfflze suget nicht din marg, es suget min marg (Offb. 20f., 13–9). An dieser Stelle ist auffallend, dass im Gegensatz zum Fließenden Licht deutlich zwischen nuzzen und niezzin differenziert wird. Die göttliche Stimme verspricht nicht nur, den bitteren Schmerz in ein süßes Genießen zu überführen, sondern betont darüber hinaus, dass der Kreislauf aus göttlichem und menschlichem Blut ein einziger geworden ist. 33 Vgl. hierzu Möbuß (1996).

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Göttlichen34 betont ebenfalls ihre Sonderstellung unter den dreien, deren Vollzug der Gegenwart Gottes besonders verbunden ist. Denn Genuss Gottes bedeutet zugleich Präsenz Gottes, welche im Text durch das dreimal wiederholte Adjektiv nfflwe performativ evoziert wird, so dass der Prozess des fortwährenden NeuWerdens von der Erkenntnis, der Schau und des Genusses Gottes im Klangbild des nfflwe in Szene gesetzt wird. Dadurch werden das wechselseitige Auseinander-Hervorgehen und die intensivierenden Verdichtungen der Schau, der Erkenntnis und des Genusses aufgezeigt. Zusätzlich verstärkt der Text die Inszenierung von situativer Unmittelbarkeit durch die emphatische Anrufung Gottes, deren Adjektive und Attribute eine genaue Beschreibung seiner göttlichen Schönheit enthalten: Eya suesslicher got, ffflrig inwendig, bluejende uswendig. Indem diese sowohl zwischen inneren (inwendig) und äußeren (uswendig) Komponenten als auch zwischen visuellen (bluejende), gustal-olfaktiven (suesslicher) und taktil-visuellen (ffflrig) unterscheiden, wird das göttliche Erscheinen synästhetisch in Szene gesetzt und in eine leidenschaftliche Beschwörung, die zum Mitvollzug anregt, integriert. Durch den emphatischen Ausruf wird die überwältigende Schönheit Gottes in den Text überführt und synästhetisch zugänglich gemacht. Doch scheint diese mit allen Fasern ersehnte und erstrebte gebruchunge, welcher der Seele im und durch den Gottesgruß zuteil wird, unabdingbar an großes Leiden gebunden zu sein. Denn in diesem Zusammenhang auftretende Verbformen wie fflberkomen, zenihte werden und lebendig sterben,35 aber auch qweln zeigen allesamt entweder Überwältigung und Vernichtung oder Schmerz und Qual an, die sich überlappen können und mit dem seines smakes beraubten Leib verbinden, dessen vleisch und bluot die Liebe in I, 1 verzert hat.36 Insgesamt fügt die erste Stelle, in der gebruchunge explizit genannt wird, Vernichtung und Genuss, Verzückungs- und Todeszeichen ineinander, ohne diese klar aufzulösen, sondern sie stattdessen ineinander zu vermischen.37 Eine vergleichbare Doppelbewegung wird in dem kurzen Kapitel I, 21, das 34 Vgl. hierzu Kiening, Gegenwärtigkeit (2006). In den Zusammenhang der unmittelbaren Gegenwart Gottes passt auch die dreimalige Wiederholung des nfflwe(r/n), um die ungewöhnliche Gnadenerfahrung und das Neue, was durch die Präsenz des Göttlichen evoziert wird, hervorzuheben. 35 Zwei Übersetzungsmöglichkeiten für lebendig sterben: Entweder wörtlich – in genau dem Augenblick des totalen Überwältigt-Seins von der göttlichen Präsenz den Tod erleiden, oder in übertragenem Sinn als paradoxer Zusammenschluss von Vernichtung und Genuss im Gottesgruß. 36 Dies ist das Einzige, was in dem Kontext eine Art positive Konnotation für den Leib enthielte, sein Verbleiben als in eime suessen schlaffe (I, 2), was jedoch vor allem in I, 5 deutlich dahingehend umakzentuiert wird, dass der Leib beinahe zugrundegeht vor Schmerzen. 37 Zum Begriff ellende und insgesamt zu Leid, Schmerz und Tod im Fließenden Licht vgl. die Dissertation von Erat-Stierli (1985), die aber hauptsächlich eine Aufzählung und Stellensammlung darstellt.

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lediglich aus einem gnomischen Satz besteht, wieder aufgegriffen und betont ausgestaltet:38 Minne ane bekantnisse dunket die wisen sele ein vinsternisse, bekantnisse ane gebruchunge dunket sie ein hellepin, gebruchunge ane mort kan sie nit verklagen. (S. 38f., I, 21, 9–11)

In einer dreigliedrigen Bewegung baut sich die Hierachie aus Liebe, Erkenntnis, Genuss und Tod auf. Wieder sind Erkenntnis und Genuss miteinander verbunden, aber nicht nur die positiven Werte wie Liebe, Erkenntnis und Genuss werden gesteigert, sondern auch die negativen wie Finsternis,39 Höllenpein/ Höllenschmerz und Vernichtung/Tod. Jedes entfaltet seine volle Bedeutung nur durch das Hinzutreten des Anderen, und so ist der Genuss, das Höchste der Skala, nichts ohne den Tod – das Äußerste der Skala. An der Stelle ist unklar, ob der Tod am Ende des Lebens oder schon während des Lebens gemeint ist, wobei ich aufgrund der zahlreichen Belege aus den ersten beiden Büchern das Letztere befürworten möchte, hier ein Beispiel aus I, 22: Die brut ist trunken worden von der angesihte des edeln antlffltes: In der groesten sterki kumt si von ir selber, in dem schoensten liehte ist si blint an ir selber und in der groeston blintheit sihet si allerklarost. In der groesten klarheit ist si beide tot und lebende. Ie si langer tot ist, ie si vroelicher lebt. (S. 38f., I, 22, 21–26)

Das dunkle Feld scheint das helle nicht nur notwendig zu flankieren, sondern fortwährend zu überblenden. Kraft und Selbstverlust, Blindheit und Erkenntnis sind demnach kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig, ebenso wie Leben und Tod. Der Text gestaltet seine enge Verbindung mit dem Genießen, dem eine Form von Tod nicht vor-, sondern unmittelbar zugeordnet zu sein scheint, in der kryptischen Verdichtung dieses ausgesprochen exponierten Lehrsatzes dermaßen aus, dass er zugespitzt folgendermaßen umschrieben werden könnte: Genuss der Göttlichkeit ist nur dann gegeben, wenn auch der Tod gegeben ist. Der Tod lässt erblinden, der Genuss sehen – und das beides 38 Vgl. zu I, 21 besonders Ruh, Frauenmystik (1993), S. 270: »›gebruchunge‹ bedeutet das selige Verkosten, die ›fruitio‹ in der Liebe. Nach ihr verlangt die ›bekantnisse‹ in ungestümer Weise, ist sie doch das Endziel der Liebe. Das bekräftigt die Aussage, dass das höchste und unerreichbare Verkosten der Liebe Vernichtung (was wie ›Vergehen in der Liebe‹ nennen) bedeutet.« Ebenso Amtstätter (2003), S. 32f., der I, 21 direkt auf die Stationen des Liebesweges in I, 44 bezieht und das Kapitel im Anschluss an Hellgardt (1994), S. 327f. gnomisch versteht. Auch Heimbach-Steins (1989), S. 34f. verweist im Kontext von I, 21 auf den Zusammenhang von minne und bekantnisse, welche die gebruchunge bedingen und hervorbringen: »Die ›bekantnisse‹ als besonderes, in der ›minne‹-Begegnung mit Gott geschenkhaft erworbenes Erfahrungswissen der Seele, als ›Kennen‹, das die gesuchte Frucht aus dem Genuss Gottes (›gebruchunge‹, ›gustus‹) ist, wurde bereits ausführlicher dargestellt.« 39 Vgl. hierzu die Visioenen der Hadewijch, in denen auch von deemsterheit die Rede ist (Vis. IV, 126).

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zugleich. Das Selbst stirbt, und Gott erscheint. In der Präsenz Gottes heben sich diese Gegensätze auf und verbinden sich produktiv zu etwas völlig Neuem,40 was durch eben die Gegenwart des Göttlichen evoziert wird (vgl. I, 2). Danach folgen erneut qualvolle Trennung der Seele von dem göttlichen Partner und schmerzhaft durchlebte Spaltung von Körper und Seele. In I, 44, dem berühmtesten Kapitel des Fließenden Lichts, das Amtstätter als eine Verdichtung aller Komponenten aus dem ersten Buch bezeichnet hat,41 nimmt der Text erneut eine Umakzentuierung der vorhandenen Variablen Körper, Sinne, Schmerz, Tod, Genuss, Erkenntnis, Minne vor, indem er einerseits einen anderen literarischen Gestus als in I, 21 wählt, andererseits aber das Modell der hierarchischen (Über-)Steigerung aufgreift und integriert, und zwar sowohl in einem abstrakten als auch performativen Sinne, denn die gebruchunge ist eingebettet in einen rituellen und rauschhaften (Verlobungs-)Tanz, der zugleich als eine sinnliche und konkrete Umsetzung des Genießens gelten kann. Gleichzeitig werden alle bereits bekannten Parameter wieder aufgeboten, wenn der Minneweg zuerst über sieben Stationen wie einerseits den Schmerz die Reue, Beichte und Buße,42 andererseits über die Überwindung der Weltliebe, der Versuchungen, der Unersättlichkeit des Fleisches und des Eigenwillens führt, wovon die Seele eine solch tiefe Müdigkeit davonträgt, dass sie den schönen Jüngling, ihren göttlichen Partner, mit einer stimme, die lutet ein teil von minnen zu rufen beginnt. Dieser charakterisiert die Besonderheit der Seele, welche der Stimmklang ihm ankündigt,43 folgendermaßen: Sffl ist die jene, die kumber und minne mitenander treit, kennzeichnet also das Ineinander von Liebe und Leid als das für sie Spezifische, das sie Auszeichnende, was an den berühmten Minnevers erinnert: Liep –ne l¦it m‚c niht s„n.44 Der lange Weg des Leides und des Schmerzes, den die Seele aus Liebe auf sich

40 Die Bildlichkeit ist an dieser Stelle außerordentlich dicht und weist mannigfaltige Bezüge sowohl zur Blindheit (und Greisenhaftigkeit) in der Vernichtung auf der fünften Stufe bei Marguerite Porete auf (vgl. Mirouer 118), als auch zur Trunkenheit im Kontext des Hohenlieds. Beide führen gleichermaßen zum Selbstverlust, was im Fließenden Licht vielfach thematisiert wird. 41 Vgl. Amtstätter (2003), S. 69–74 und 89–103, bes. S. 96: »Ich I von der minne II in die bekantnisse / von der bekantnisse III in die gebruchunge. Dieser dreistufige Weg – wie er in I, 21 [I, 1 ist m. E. ein Druckfehler] exponiert und in I, 44 zum deklarierten Bauprinzip erkoren wird – zeichnet sich auch durchaus als Hintergrund des ganzen ersten Buches, für dessen loses dialogisches Wechselspiel ab, proportional vergrößert als eine Art zweiter Brautwerbungsweg.« 42 Die Stellung dieser geistlichen Übungen im hierarchischen Gefüge deutet auf eine kühne Eigenakzentuierung im Kontext der Tugenden hin. 43 Stimme und Klang böten reichhaltiges Material für eine performative Aisthetik des Genießens, werden aber in dieser Untersuchung nur gelegentlich angedeutet. 44 Vgl. Dietmar von Eist, Sl–fest du, vriedel ziere? in: Minnesangs Frühling (1988), S. 66.

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nahm, erfährt seine erste angenehme Zäsur in dem suessen touwe,45 in welchem die Seele zuerst die besclossen innekeit mit der Göttlichkeit erfährt. Ihre Sinne, die zugleich die originelle Funktion der Kämmerer für die Seele haben, mahnen sie zur Eile und bekleiden sie hilfsbereit mit dem Hemd der Demut, dem Kleid der Keuschheit und dem Mantel des heiligen Leumunds.46 Danach geht sie in den walt der geselleschaft heliger luten, wo sie den besonders lieblichen Gesang der Nachtigallen hört, ein Topos, der aus dem Minnesang stammt – interessanterweise findet auch hier eine kurze Öffnung vor der exklusiven Zweisamkeit auf eine Gemeinschaft hin statt. Doch spielt der Text weiterhin mit dem theatralischen Modell des Aufschubs, und so sendet die Seele Boten aus, denn sie möchte tanzen, ein schoene loptanzen. Doch als sie die Anweisung erhält, den Tanz wie die auserwählten Heiligen weiterzuführen, weigert sich die Seele und entzieht sich auf elitäre Weise: So sprichet si: »Ich mag nit tanzen, herre, du enleitest mich. Wilt du, das ich sere springe, so muost du selber vor ansingen; so springe ich in die minne, von der minne in die bekantnisse, von bekantnisse in gebruchunge,47 von gebruchunge fflber alle moenschliche sinne. Da wil ich bliben und wil doch ffflrbas crigen.« (S. 60f.; I, 44, 6–11)

Integriert in das Bildfeld des gemeinsamen Lobtanzens, wird eine Verbindung zwischen der dann folgenden abstrakten Hierarchisierung und dem rauschhaften Bildträger hergestellt, die im Dialog präsentisch vergegenwärtigt wird und so die Anwesenheit des Göttlichen inszeniert. Sowohl die Gemeinsamkeit der Beziehung als auch der Gehorsam des menschlichen Ichs werden in ein bewegtes Bild umgesetzt, in welchem dem göttlichen Partner die Rolle des Anführers, Vorgängers und Vortänzers zukommt, dem die Seele willig folgt. Dennoch bleibt die Hierarchie zwischen Gott und Mensch gewahrt, ohne dass Überschreitungen und Überblendungen auftreten, wie sie in den wechselseitigen hymnischen Anrufungen und dem Austausch von Liebescodewörtern48 zum Ausruck kommen, die geradezu eine eigene Sprache zwischen den Liebenden konstituieren und an die hovesprache (I, 2, 3) erinnern. Die dreigliedrige Steigerung stellt erneut hierarchische Zusammenhänge 45 Vgl. hierzu Michel, Durch die bilde fflber die bilde (1986). 46 Zur Bildlichkeit des Kleidens bzw. der Nacktheit vgl. Lüers (1926), S. 206–208; M. Schmidt, Versinnlichte Transzendenz (1990), S. 61–88; Hellgardt (1996); Stadler (2001), S. 136–142. 47 Vgl. Neumann II (1993), S. 23 [I, 44, 34 gebruchunge]: »Man könnte aus Gründen des Reimes vermuten, dass das Wort auf mnd. gebrukinge zurückgeht, doch ist dies angesichts von anzunehmenden Reimen wie sinnen: einunge II, 3, 10; minne: einunge II, 25, 113f.; minne: gerunge IV 12,27; VII 35, 39f. nicht zwingend erforderlich. Allerdings überwiegen im ›FL‹ doch die Bindungen auf -unge; ob dies -unge freilich zu Mechthilds heimischem Dialekt gehörte oder aus der hd. (md.) Nachbarschaft in die Reimsprache übernommen ist, bleibt offen.« 48 Beispielsweise der Liebeskrankheit, die beinahe wie eine wechselseitige Kontamination wirkt.

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zwischen Liebe, Erkenntnis und Genuss her, doch was den Genuss im Gegensatz zu Liebe und Erkenntnis auszeichnet, ist, dass er die anderen beiden bereits voraussetzt bzw. notwendigerweise miteinschließt, denn Gott zu genießen bedeutet natürlich, ihn zu lieben und zu erkennen. Der Genuss ist jedoch die nächste und innigste Form der Gotteserkenntnis, denn die Süße Gottes kann geschmeckt und verinnerlicht werden, er stellt ein besonderes Wissen dar, das die Trennung zwischen Verstehen und Erfahren aufhebt. In einer letzten Bewegung wird der Genuss erneut überstiegen – bzw. sogar übersprungen49 – um noch einmal überboten zu werden, wenn die Seele gleichsam eine stehende Bewegung des unausgesetzten Kreisens postuliert.50 Der Genuss geht über alle menschlichen Wahrnehmungs- und Verstandesfähigkeiten hinaus zu einem relativ unbestimmten Ort, der lediglich deiktisch bezeichnet und nicht näher kontextualisiert wird (da). Als ein Ort des Bleibens und gleichzeitigen Kreisens eröffnet er ein prinzipiell unendlich fortsetzbares Genießen des Göttlichen, das nicht zu erschöpfen ist. Der Tanz dient hierfür als Ausgangspunkt und zugleich als Vollzugsgestus; einerseits fungiert er als Indikator einer exklusiven, intimen Beziehung, zu der kein Dritter Zutritt hat, andererseits evoziert er, besonders durch das Bild des fortgesetzten Kreisens, rauschhafte Zustände und versinnbildlicht das Geschehen einer übersteigenden Übersteigung mit dessen hyperbolischem Überbietungsgestus. Die Bezüge zu den dunklen Schlagseiten des Genießens werden wieder auf der körperlichen Ebene hergestellt, wenn im Dialog mit den Sinnen diese mahnend und warnend versuchen, die Seele davor zurückzuhalten, der Aufforderung ihres Bräutigams zum endgültigen Vollzug der Ehe zu folgen, da sie sonst erblinden und ihrer natürlichen Funktionen beraubt werden.51 Doch ignoriert die vollewahsen brut diese Bedenken mit dem Verweis darauf, dass sie sich, wie Vogel oder Fisch (Alltagsmetaphorik) in ihrem natürlichen Element befinde und ihr deshalb nichts geschehen könne. Die Sinne selber können ihre Aufgaben nur in irdischen Kontexten ausüben, wo sie nach ihrer Rückkehr erneut gebraucht werden. Im Anschluss vollzieht sich eine von seliger Stille geprägte, von zahlreichen Ellipsen unterbrochene bzw. dargestellte Vereinigung,52 nachdem die Seele sich auf das Verlangen des göttlichen Partners völlig entkleidet hat und gänzlich nackt geworden ist. Abschließend werden mit einem plötzlichen Bruch und dem Heraustreten aus 49 Zum gestisch-physischen Vokabular des Tanzens, Laufens, Springens, Schwebens, Sinkens vgl. Kasten, Körperlichkeit und Performanz (1998). 50 Vgl. zum platonischen Bild des Kreisens und dem Zusammenspiel von Bewegung und Ruhe M. Schmidt, »die spilende minnevluot« (1986), S. 84f. 51 Vgl. auch hierzu FL I, 22, 23–25, was das Ineinander von Tod und Leben, klarer (Ein-)Sicht und Blindheit hier an den Sinnen und der Seele zeigt. 52 Vgl. hierzu Zech (2010), S. 23.

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der bis zu diesem Punkt lückenlos inszenierten Zweisamkeit der Seele mit Gott Adressat, Titel und Aussageabsicht von I, 44 genannt: der gottes frfflnt erhält diesen minneweg, den Gott selbst ihm ans Herz legen möge, was sich auch dahingehend deuten lässt, dass bereits im ersten Buch die exklusive Einheit mit Gott auf den bedürftigen Dritten, den Nächsten hin geöffnet und erweitert wird – was ein zentrales Thema der späteren Bücher darstellt.

Zusammenfassung von Buch I Alle drei Stellen, in denen gebruchunge explizit vorkommt, weisen folgende Gemeinsamkeiten auf: Zum einen die Verbindung von Liebe, Erkenntnis und Genuss bei deren gleichzeitiger Hierarchisierung. Zum anderen die damit verbundene Bewegung der Übersteigung, die meist selbst noch einmal gesteigert bzw. potenziert wird. Schließlich die Engführung von Genuss und Schmerz/ Vernichtung/Tod, wobei die dunklen Schlagseiten des Genießens häufig von dem leiblichen oder dem sinnlichen Teil des Menschen ausgetragen – performiert – werden. Dem ersten Buch zufolge konstituiert sich die gebruchunge wesentlich aus einer wechselseitigen Überlagerung, Durchdringung und Dynamisierung von Extremen, die sich mitunter gegenseitig aufheben und gemeinsam ein organisches Feld bilden, in dem die Pole derart interagieren, dass sie stellenweise ununterscheidbar eins werden.53 Insgesamt ist besonders im ersten Buch zu erkennen, wie stark sich Bildlichkeit und Bezeichnungen verdichten und durchdringen, um dichte semantische Schichten des Genießens zu bilden. So verknüpfen sich rauschhafte Bildträger wie ungemischter Wein oder Tanz mit den expliziten Bezeichnungen und bilden mit diesen zusammen ein vielfältiges Gewebe. Eng damit verbunden ist die jeweilige literarische Inszenierung, die sehr unterschiedlich ausfallen kann und Gattungen wie gnomische Lehrsätze, narrative Partien mit lyrischen Einsprengseln und szenische Vergegenwärtigungen54 miteinschließt, die alle als wichtige Bestandteile für eine Semantik des Genießens gelten können. Genuss stellt aufgrund seiner Flankierung durch die Erkenntnis zugleich ein spezifisches Wissen dar, das man gnadenhalber durch seinen Vollzug erhält und das zugleich paradoxerweise an sein scheinbares Gegenteil gebunden ist. 53 In keinem anderen Buch sind diese Aspekte, auf das Genießen bezogen, vergleichbar ausgeprägt dargestellt, weshalb sich besonders dieser Textteil des Fließenden Lichts dafür eignet, in Bezug zu Hadewijchs Visioenen gesetzt zu werden, da diese sich in einem analogen Spannungsfeld bewegen. 54 Insbesondere dem Vergegenwärtigungsgestus oder -modus des Textes kommt im Zusammenhang mit der gebruchunge eine tragende Bedeutung zu, da die Realpräsenz des Göttlichen unmittelbar mit ihr verknüpft ist.

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Buch II: Abmilderung und Verschiebung der Hierarchisierung von gebruchunge Im zweiten Buch werden die Zusammenhänge von Körper/Sinnen und Seele mit einer gebruchunge, die beider Kapazitäten berücksichtigt, ebenso wieder aufgegriffen wie deren Verknüpfung mit dem Schmerz. Doch verschiebt der Text in den vier Stellen mit gebruchunge die im ersten Buch vorgenommene Hierarchisierung, bei der dem Genuss jedes Mal eine herausgehobene Stellung zuteil wurde. In II, 20 wird das Substantiv lediglich verwendet, um den Zustand einer Entrückung auszudrücken. Außerdem werden die Schilderungen abstrakter. So schaut das Ich im ersten, sowohl auditiv als auch visuell geschilderten Visionskapitel göttliche Harmonie, Ehre, Wunder, die alle mit verneinten Adverbien wie unsprechlich, unzellich, unbegriflich kombiniert werden, um deren Unsagbarkeit auszudrücken. Sodann die für den Einzelnen besondere Form des zärtlichen Liebens und höchste Befriedigung, bis schließlich Erkenntnis und Genuss hinzutreten, die jedoch beide entweder durch Zurückhaltung (zuht) oder durch das Vermögen der Sinne (abebrehunge nach der maht der sinnen) eingeschränkt werden: Dffl grosse zunge der gotheit hat mir zuo gesprochen manig creftig wort; dffl han ich enpfangen mit wenigen oren miner snoedekeit. Und das allergroeste lieht hat sich ufgetan gegen den ovgen miner sele. Da inne han ich gesehen die unsprechlich ordenunge und bekante die unzellichen ere, das unbegriflich wunder und das sundertrfflten mit underscheide, die genuegekeit uf das hoehste und die grossen zuht in der bekantnisse, die gebruchunge mit der abebrechunge nach der maht der sinnen,55 die ungemengete froede in der einunge der geselleschaft und das lebende lip der ewekeit, als es nu ist und iemer wesen sol. (S. 80f.; II, 3, 4–14)

Erst danach wird die höchste Position bestimmt: Freude an der Unio und das Leben in Ewigkeit, was mit den kraftvollen Worte der Gottheit verbunden wird. Die Passage differenziert zwischen Einheit (einunge) und Genuss (gebruchunge), da sie für beide unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, was zeigt, dass der Genuss nicht einfach in der Einheit aufgeht und dieser selbstverständlich zugehören muss, sondern eine eigene Besonderheit darstellt. Teils greift der Text aus dem ersten Buch bekannte Bestandteile, wie Liebe, Erkenntnis und Genuss erneut auf, teils erweitert er sie durch andere Gnadengaben, was die im ersten Buch vorgenommenen Gewichtungen verschiebt. Indem Adjektive, Genitivattribute oder adverbiale Bestimmungen hinzutreten, wird jede einzelne genauer charakterisiert, entweder einschränkend (zuht, abebrehunge) oder fast unbe55 Vgl. hierzu Neumann II (1993), S. 30 [II 3, 9f. die gebruchunge – sinnen]: »Die Übersetzung der ›Rev.‹ verschiebt den Akzent auf die Qualifikation der Seele, während Mechthild meint: Die abebrechunge ist notwendig, weil die menschliche Natur keine ununterbrochene Unio erträgt, wie es die Seele nach dem Tod ihrer Leibeshülle vermag.« Gerade bei der gebruchunge und ihren Auswirkungen auf die Seele entsteht eine semantische Diskrepanz.

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grenzt im dionysischen Sinne erweiternd (unsprechlich, unzellich, unbegriflich, ungemenget). Vor allem die unvermischte Freude in dem vertrauten Beisammensein in der Einheit setzt (analog zum intensiven Bild des unvermischten Weins in I, 44)56 einen deutlichen Gegenpol zu dem moderaten Genießen. Diese Einschränkung betrifft besonders Erkenntnis und Genuss; erstere wird durch die vornehme höfische Zurückhaltung (zuht) beherrscht und letztere gemäß dem Vermögen der Sinne (nach der maht der sinnen) begrenzt, die offenbar nicht so viel fassen können wie sie nach dem Willen der Seele eigentlich sollten. Die gebruchunge passt sich an die Kraft der Sinne und dem Vermögen des Körpers an und nicht umgekehrt, was sie deutlich verkürzt, da der Genuss Gottes unendlich und unerschöpflich ist, allerdings erst in Ewigkeit, was erklären könnte, warum das ewige Leben in diesem Zusammenhang die höchste Position in der Aufzählung erhält.57 In den Kontext der Einschränkung durch den Körper lässt sich exemplarisch folgende Mahnung in lyrischer Form aus II, 25 integrieren, in welcher der göttliche Partner das maßlose Sehnen der liebenden Seele mäßigt.58 Denn nicht nur die Maßlosigkeit des Begehrens kennzeichnet das Genießen Gottes, sondern auch die Schonung im Vollzug durch den göttlichen Partner :59 »Ich kan dich nit so kleine beriben: Ich tuo dir unmassen we an dinem armen libe. Soelte ich mich dir ze allen ziten geben nach diner ger, so mueste ich miner suessen herbergen in dem ertrich an dir enbern, wan tusent lichamen moehtin nit einer minnenden sele ire ger vollewern. Darumbe ie hoher minne, ie heliger marterer.« (S. 130f.; II, 25, 3–10)

Die göttliche Berührung, welche der Seele Genuss bereitet, fügt jedoch dem Leib Schmerzen zu. Denn der Körper hat nicht, wie es die Seele verlangte, an Kraft 56 Vgl. FL I, 44, 30f: »Lant mich ungehindert sin, ich wil ein wile trinken den ungemengeten win.« 57 Vgl. hierzu Heimbach-Steins (1989), S. 36f.: »[…] aber jetzt kann sie darin ›ane kumber‹ leben, das heißt die ›gebruchunge‹ wird ihr ›nach wunsche‹ zuteil, in vollkommener Weise, ungehindert durch die in der Gebundenheit des irdischen Seins noch notwendige Einschränkung. Solange die Seele an Leib und Seele gebunden bleibt, stehen die ›fernen Höhepunkte‹ der ekstatischen Erhebung zur Unio Mystica unter dem Vorbehalt der ›gebruchunge mit der abebrehunge nach der maht der sinnen‹«. 58 Vgl. hierzu kontrastiv Hadewijchs Visioenen über das schonungslose Brennen und Verzehren der Gottheit [Vis. XI, 125–133], welche durchgängig die Maßlosigkeit als das einzig gültige Maß festschreiben. 59 Vgl. hierzu FL I, 44, 30, wo die Rede von der getemperten einunge ist, ergänzend vgl. FL III, 10, 17f., das temperunge in einem anderen Zusammenhang verwendet, wenn es in dem abschließenden Satz zum Compassio-Kapitel heißt: Dise marter lidet ein ieglich sele, die in heliger temperunge alles irs tuondes ist werlich durchvlossen mit warer gotz liebi.

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und Stärke zugelegt, sondern muss eher darüber zugrunde gehen, denn, wie es hyperbolisch heißt, selbst tausend Körper können dem Begehren einer leidenschaftlich liebenden Seele nicht genugtun. Auch diese Passage unterstreicht die unlösbare Verbindung von Seele und Körper, die sich paradoxerweise am stärksten zeigt, wenn beide getrennte Wege gehen. Von daher nützt es der Seele im Gegenzug nicht, wenn sie in ihrer Replik ihren Leib als pfuoligen kerker bezeichnet, der von der Göttlichkeit zu viel Schonung erfährt. Körper und Seele bleiben dennoch aufeinander angewiesen, weshalb die gebruchunge in II, 3 ihre abebrehunge nach der maht der sinnen erfährt. In II, 7 wird die Opposition zwischen den leiblichen Fähigkeiten (vleischlich sfflche) und den geistlichen Wünschen (geistlicher gebruchunge) noch deutlicher aufgebaut, da die Schwäche des Fleisches der ersehnten gebruchunge offenbar im Weg steht. Doch signalisiert das verwendete Verb duhen, dass es sich hierbei um eine wohl nicht ganz zutreffende Annahme des Ichs handelt, da Gott auch durch die Schwäche wirken kann. Gleichzeitig ist der Genuss zumindest partiell an die Leistungsfähigkeiten des Körpers gekoppelt, obwohl dieser nicht unmittelbar daran beteiligt ist. Es existieren auf Seiten der Seele widerwillig zugestandene Relationen zwischen Körper, Sinnen und Seele, denn wenn der Leib seinen Part, wie das Ertragen das Schmerzes oder der Schwäche, nicht übernehmen kann, so ist der zagenden Seele zufolge schwerlich die Möglichkeit zum begehrten Aufschwung gegeben. Durch das Adjektiv geistlich nimmt der Text eine Entsinnlichung vor, was eine deutliche Abgrenzung zu vleischlich darstellt, wobei durch die Bildlichkeit die Sinnlichkeit wieder eingeblendet wird: Ich sfflndigffl, tregffl, ich sollte zuo einer stunt betten. Do tet got, als ob er mir enkeinerleie gnade woelte geben. Do wolte mich betrueben jaemerlich umb mine vleischlich sfflche, die mich duhte ein hindernisse geistlicher gebruchunge. »Eya nein«, sprach min sele, »gedenke noch aller trfflwe und lob dinen herren alsust: ›Gloria in excelsis deo.‹« (S. 94f.; II, 7, 15–20)

Das narrative Ich schildert eine Situation, in welcher trotz Gebet keine genussvolle Präsenz Gottes möglich scheint, die als Gnadengabe aufgefasst wird. In dieser kurzen Passage ist die Gefahr der accedia (Trägheit, Schwermut), einer der sieben Hauptsünden,60 für das Ich angedeutet, gegen die es sich erfolgreich zur Wehr setzt, indem es Gott von ganzem Herzen lobt. Diese Handlung evoziert anschließend eine Vision, welche die gebruchunge im Bildfeld des weißen und des roten Weines chiffriert, welche die beiden Seiten des Genießens ausdrücken, nämlich Schmerz (pine) und Trost (trost). Der rote Wein steht für den Nachvollzug des Leidens Christi, der weiße Wein für den empfangenen Trost in der 60 Vgl. allgemein zu den sieben Hauptsünden Schulze (2006) und zu den einzelnen Prose (2009); Blackburn (2008); Epstein (2003).

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Gegenwärtigkeit Gottes, beide verweisen aber zugleich auf Liebesrausch und Liebesleid.61 Implizite und explizite Semantik von Genuss sind an dieser Stelle dicht ineinander verwoben62 und eröffnen zugleich weitere Felder, die vor allem im dritten Buch detaillierter ausgestaltet werden, wie Selbstverlust und Trunkenheit, Rausch und Armut. Auch in II, 19 wird – besonders im Vergleich zu I, 2 – die (sunderliche) gebruchunge von ihrem exklusiven Status verdrängt und stattdessen die (userwelte) bevindunge an die höchste Stelle der Intimität gesetzt, wenn es im Gespräch zwischen der als dreifaltig gekennzeichneten Seele63 und der um Auskünfte bittenden beschowunge folgendermaßen heißt: »Eya vro brut, went ir mir noch ein wortzeichen sagen der unsprechlicher heimlicheit, die zwfflschent got und fflch lit?« »Vrovwe bekantnisse, das tuon ich nit. Die brfflte muessent alles nit sagen was in beschiht. Dffl helig beschovwunge und dffl vilwerde gebruchunge sont ir han von mir, die userwelte bevindunge von gotte sol fflch und allen creaturen iemer me verborgen sin sunder alleine mir.« »Vrovwe sele, fflwer wunderschovwen und fflwer hohffl wort, dffl ir in gotte hant gesehn und gehoert, wen ir mich dar zuo twingent, das ich des ein kleine ffflr bringe, so setz ich des keysers lieht in einen vinstern fulenden stal.« (S. 106f.; II, 19, 3–13)

In dieser Passage findet zugleich eine Metakommunikation über das Sprechen selbst und die Art der hierfür verwendeten Sprache statt, wenn die beschowunge um ein wortzeichen bittet, was den Zeichencharakter des Wortes stärker hervorhebt als die nhd. Übersetzung mit Wort.64 Die Paradoxie dieser Bitte wird gesteigert durch das Adjektiv unsprechlich, was die sprachliche Unsagbarkeit der innigen Vertrautheit mit Gott unterstreicht. Die Seele verweigert nähere Auskünfte, erklärt sich aber dazu bereit, zumindest die helige beschowunge, also die Schau, und die vilwerde gebruchunge, nämlich das kostbare Genießen der Göttlichkeit, mitzuteilen, aber die einzigartige Erfahrung Gottes zu verschweigen. Der erlesene Charakter dieser bewilligten Informationen wird durch die mit den jeweiligen Substantiven verbundenen Adjektive zusätzlich gesteigert, was die beschowunge in ihrer Antwort direkt kommentiert, wenn sie, analog zu der hovesprache aus I, 2, die Worte der Seele als hohffl wort bezeichnet. Sowohl die beschowunge als auch die gebruchunge gehören zu einem Zuge61 Zum Hoheliedbezug vgl. besonders bei der Wein- und Trunkenheitsmetaphorik in FL III, 3 Köbele, Bilder der ungegriffenen Wahrheit (1993), 91f. 62 Hier kann gebruchunge in einem Doppelsinn sowohl als Genuss/Erfüllung wie auch als Entrückung verstanden werden, denn die Bildträger implizieren das erstere und die Vision/ Schau selbst das zweite, was auch zu der Verwendung in II, 20 passen würde. 63 Die Dreifaltigkeit der Seele überschreitet nicht nur die Grenzen zwischen göttlich und menschlich, sondern auch zwischen weiblich und männlich (II, 19, 7–11). 64 Vgl. hierzu Neumann II (1993), S. 35 [II 19, 31 wortzeichen].

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ständnis der Seele, die Schau ist heilig, der Genuss kostbar, aber die einzigartige Erfahrung Gottes übertrifft die beiden Ersteren, denn dieses Wissen über die bevindunge bleibt allein der Seele vorbehalten, was sich in dem Adjektiv des Auserwählt-Seins ausdrückt. In diesem Dialog wird an jener Leerstelle oder jenem weißen Feld65 ein Raum der Heimlichkeit konstituiert, der allein Gott und der Seele zugänglich und vorbehalten bleibt und dessen hervorstechendste Merkmale Intimität und Exklusivität sind.66 Gleichzeitig wird die Tradition des lateinischen Adjektivs specialis miteinbezogen, das genau auf diese gnadenhafte, außerordentlich besondere Erfahrung Gottes referiert. Hierdurch wird der Abstand zwischen der bekantnisse, der Erkenntnis und der bevindunge, einem erlesenen (Erfahrungs-)Wissen, aufgezeigt, der die durch den Genuss gewonnene bekantnisse relativiert. Eine Erweiterung bisheriger Verwendungsweisen stellt II, 20 dar, das die gebruchunge in visionären Kontexten situiert und zum ersten Mal nicht direkt mit Gott, sondern mit einer verklärten Schwester verbindet: Do ich si sach, do bekante ich si in aller gabe, die si enpfangen hat von gotte. Doch luste mich mit ir ze redenne und vragete67 si doch in der gebruchunge,68 uf das ich deste langer bi ir were: »Eya, wa von hastu disen rosenvarwen mantel?« (S. 108–110; II, 20, 23–3)

Hier dient die Frage zum einen dazu, einem inszeniert-spontanen Redebedürfnis des Ichs nachzugeben, zum anderen strategischen Zwecken: nämlich um den lustvollen Entrückungszustand (gebruchunge) durch ein Gespräch mit der Schwester Hildegund im Himmelreich auszudehnen. Im Gegensatz zu den vorigen Stellen ist die gebruchunge hier ein Zustand, der das Ich nicht überkommt und den es passiv empfängt, sondern den es aktiv zu beeinflussen versucht, was einen Unterschied zu den bisher aufgezeigten Bedeutungsspektren von gebruchunge aufzeigt, da sie dieses Mal nicht auf das exklusive Verhältnis zum göttlichen Partner zentriert ist. Die gebruchunge kann demnach unterschiedliche Intimitäts- und Hierarchiegrade für sich beanspruchen: In II, 19 figuriert der Genuss Gottes zwar als Zeichen der Vertrautheit, ist jedoch keineswegs an höchster Stelle in der Auf65 Vgl. Barthes, La Chambre claire (1980); ders., Le Neutre (2002). 66 Vgl. Haas, Mechthilds dichterische heimlichkeit (1989); Heimbach-Steins (1995), S. 84; Emmelius (2004). 67 Vgl. Neumann II (1993), S. 37 [II 20, 11f. vragete – were]: »STIERLING S. 82 schlägt Umstellung vor zu vragete si do, uf das ich deste langer bi ir in der gebruchunge were. Das ist ein erwägenswerter Vorschlag, der durch den lat. Text gestützt wird: Veruntamen delectabar eam alloqui et interrogare ut in fruicione cum ea diucius possem esse.« 68 Vgl. Neumann II (1993), S. 37 [II 20, 11f. gebruchunge]: »So die gewöhnliche Form in E (15 Belege); daneben nur zweimal bruchunge (VII 8,16). Da aber mnd. nur bruginge bezeugt ist, dürfte C mit brvchvnge wohl doch das Ursprüngliche bieten, zumal diese Form mhd. selten ist; vgl. LEXER I, 163 u. Nachtr. 106.«

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stellung angesiedelt wie etwa in I, 2 oder I, 21. Grundsätzlich kann der Genuss im Verlauf des Fließenden Lichts verschieden auftreten, es finden im Zuge einer unausgesetzten Überschreitungs- und Absorptionsbewegung weitere Verschiebungen oder Umakzentuierungen statt: Beispielsweise wenn Kapitel VII, 8 auf der Unsagbarkeit des Genießens beharrt und in dem Zusammenhang lakonisch behauptet: Die bruchunge ist unsprechlich, was einen deutlichen Gegensatz zu dem obigen Dialog zwischen Seele und Erkenntnis aus II, 19 darstellt. Zugleich hat sie im zweiten Buch eine Erweiterung ihrer Bedeutungsspektren zu verzeichnen, da sie in II, 20 eine visionäre Entrückung und den Wunsch einer Verlängerung dieser genussvollen Schau ausdrückt, nicht aber eine unmittelbare Teilhabe am Genießen Gottes.

Zusammenfassung von Buch II Die Stellen zu gebruchunge wirken im zweiten etwas heterogener als im ersten Buch, indem sie verschiedentlich bestimmte Techniken der Anordnung aufgreifen, beispielsweise Hierarchisierungen, Dialogisierungen, Oppositionen, Hyperboliken, woraus sich wie in II, 3 oder II, 7 Spannungsfelder ergeben. Die gebruchunge wird eingeschränkt, sowohl explizit durch das Vermögen der Sinne als auch implizit durch das Hinzufügen anderer Elemente wie der bevindunge oder der einunge. Indem zum einen deren Zahl wie in II, 3 vergrößert wird, zum anderen neue Bezeichnungen für die exklusive, innige und besondere Gotteserfahrung eingeführt werden, erhält die Position der gebruchunge im Gesamtgefüge des Textes eine veränderte Akzentuierung. Was hierzu beiträgt, ist eine im Vergleich zum ersten Buch bereits zurückgenommene Unmittelbarkeit, die bei den Stellen, in welchen die Bezeichnung gebruchunge explizit genannt wird, zu beobachten ist. Sie zeigt sich etwa darin, dass in zwei von den vier Stellen nicht Gott selbst erscheint, sondern zum einen ein Gespräch mit der Erkenntnis, zum anderen eines mit einer in den Himmel aufgenommenen Schwester Hildegund stattfindet. In diesem Zusammenhang ändert sich die Inszenierungsform, da die Dialoge zwischen der begehrenden Göttlichkeit und der liebenden Seele in anderen Passagen geführt werden. Zugleich wird dadurch das Bedeutungsfeld ergänzt, wenn sich, wie in II, 20, andere Übersetzungsmöglichkeiten ergeben, beispielsweise Entrückung, da diese Passage nicht unmittelbar an eine Erfahrung der Göttlichkeit selbst gebunden ist. Eine wichtige Möglichkeit, das Bedeutungsspektrum von gebruchunge zu erweitern, stellt die dichte Verflechtung zwischen Bildlichkeit und Bezeichnung dar, welche die hier auf der Textoberfläche seltener erscheinenden Formen der intensiven Gottesbegegnung in rauschhaftem Genuss und Selbstverlust integriert.

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Entgrenzung und Begrenzung: Koexistenz ineinander verschmolzener Extreme und verstärkt aufgebauter Oppositionen in Buch III und IV Ab dem dritten Buch dominiert die Verbform gebruchen, die sowohl in diesem als auch im folgenden Buch gezielt und sparsam verwendet wird, während die gebruchunge bis zum sechsten Buch überhaupt nicht mehr auftritt. Zwischen der Verwendung der Verb- und der Substantivform bestehen im Fließenden Licht deutlich sichtbare Unterschiede, denn aufgrund ihrer vielfältigen Einsetzbarkeit prägt die Verbform zahlreiche weitere Bedeutungsfacetten aus, die mit der Substantivform nicht einhergehen. So erscheinen auf der Textoberfläche der lateinischen Tradition um Augustinus vergleichbare Abgrenzungsbestrebungen (IV, 2), die sich in den beiden folgenden Büchern beinahe inflationär ausweiten. Gleichzeitig treten aus den ersten Büchern in Substantivformen vorgenommene Verbindungen wie minnen, gebruchen und bekennen nun in Verbformen auf (IV, 12), allerdings im Präteritum. Durch die Kombination mit Adverbialen wird eine nähere Charakterisierung des gebruchens erreicht, das sich zwar nicht ununterbrochen (III, 10), doch mühelos (III, 24) vollziehen kann. Während in den ersten beiden Büchern die gebruchunge hauptsächlich aus sich selbst, das heißt aus der Zweisamkeit zwischen der liebenden Seele und dem göttlichen Geliebten, enfaltet wurde, vervielfältigen sich in den folgenden Büchern die Kontexte und Situationen, in welchen sich diese liebende Seele inszeniert, die sozusagen gleichzeitig zur lehrenden Seele wird und ihren Status verdoppelt, da das Lehren der Anderen Erweiterung und Ergänzung darstellt. Beide Formen und Seinsweisen koexistieren im dritten und vierten Buch nebeneinander und werden erst in den folgenden beiden Büchern, besonders aber im sechsten Buch, das in vieler Hinsicht einen Sonderfall darstellt, stärker in Richtung einer starken didaktischen Tendenz überformt, die ausgewählte Einzelfälle der Geistlichkeit und das implizit berücksichtigte Publikum betrifft. Doch muss betont werden, dass es sich hierbei um Grundlinien handelt, die wiederholt mit der für das Fließende Licht charakteristischen konsequenten Inkonsequenz unterbrochen werden. Infolge dieser Koexistenz lassen sich im dritten und vierten Buch zwei scheinbar entgegengesetzte Bewegungen ausmachen: zum einen eine Zunahme an Höllen- und Fegefeuervisionen, moralisierend-didaktischen Passagen, spezifischen Adressaten und konkreten Nennungen, zum anderen die Fortsetzung von Minnedialogen und -spielen, Intensivierungen der (Com-)Passio-Stellen,69 Anknüpfungen und Verstärkungen bekannter Bildfelder und Bildketten aus dem Hohenlied und Aufgreifung des Spannungsfeldes von Sinnlichkeit und Leiblichkeit. Einerseits verhärtet der Text die Festschreibung von Oppositionen wie 69 Vgl. hierzu Schwarz-Mehrens (1985).

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Himmel und Hölle, Weltliches und Geistliches, Irdisches und Ewiges; andererseits trachtet er danach, die starke Zweipoligkeit seiner Extreme in einem ebenso starken Schmelzgestus ineinander aufzulösen, wobei die dichte Ankoppelung an die Bildfelder eine tragende Rolle spielt, beispielsweise die Koppelung von Verlorenheit und Trunkenheit (III, 3) oder Gottesferne und Süße (III, 3). Die semantischen Zentren um das Genießen treten in der gleichzeitigen Zunahme von Festschreibungen und Unterlaufungen auseinander und bleiben dennoch aufeinander bezogen.

Buch III: Unwillige Abstimmung des Genusses auf die Kapazität des Körpers und müheloses Genießen im Schweigen der Liebe Die Verlorenheit und die Überwältigung der Seele durch die Begegnung mit dem göttlichen Partner werden im dritten Buch direkt fortgeführt und intensiviert.70 So wird in III, 1 der Selbstverlust performativ inszeniert, wenn die Seele mit schmelzendem Herzen ihren Geliebten ansieht und ihn fragt: War bin ich komen? Bin ich nu in dir verlorn? (III, 1, 31f.), ohne eine Antwort zu erhalten. Denn in der Frage selbst drückt sich eine Orientierungslosigkeit aus, bei der sich nicht einmal mehr sicher feststellen lässt, wo man sich eigentlich befindet, wenn Zeit (nu) und Raum (war) in der Präsenz Gottes aufgehoben sind. Das betont die darauf folgende Aussage: Nu hat mich, herre, din ansehen erschlagen (III, 1, 34f), die zugleich den Aspekt der Vernichtung in dem metaphorischen Verb erschlagen impliziert. Die vorherige Absicht der Klage verschwindet beim Anblick Gottes, der sie anschließend in seine Arme fasst. Erneut verbinden sich Vereinigung und Selbstverlust, was sich in den Bildern des Schmelzens und des Küssens zeigt. Der Selbstverlust beim Anblick des göttlichen Partners wird in III, 5 performativ dahingehend umgekehrt, dass nun nicht die Seele in Gott verloren, sondern Gott sich in die Seele hineingestohlen habe. Die Identität von Gott und 70 Ebenso verknüpft sind in III, 3 Rausch und Verlorenheit, Wein und Verarmung, Trunkenheit und Verachtung, wenn die Seele für den Genuss des ungemischten Weines alles geben muss, was sie hat, um danach auf der Straße herumzuirren. In beiden Passagen wird das Begehren zusätzlich durch den Hunger chiffriert; in der ersten ist von der hungerige(n) sele aus dem Munde des göttlichen Geliebten die Rede, in der zweiten muss sie, nachdem sie alle ihre Habe in der göttlichen Taverne verschwendet hat, in der strasse gan hungerig, arm, nakent und also versmehet. Dennoch äußert sie darauf, dass sie nah dem himelschen vatter einen hunger, da inne vergisse ich alles kumbers, nach sinem sun einen turst, der benimet mir allen irdenschen lust und von ir beider geiste ein solich not, die gat boven des vatter wisheit habe. Die Trinität wird somit in Bilder des Hungers, des Durstes und des Schmerzes gekleidet, die um jeden Preis, selbst den der dauerhaften Qual und der Aufgabe jeder irdischen Lust, allem vorzuziehen ist. Zudem bringt der Anblick der Göttlichkeit ein sofortiges, wenn auch nur kurzes Vergessen von allem erlittenen Leid mit sich.

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Mensch in einer Vereinigung wird dadurch dargestellt, dass die Grenzen des Ichs und des Dus ununterscheidbar ineinander verfließen. Zum einen verliert in III, 1 sich die Seele in Gott so zur Gänze, dass sie nicht mehr weiß, wo sie sich befindet, zum anderen füllt Gott in III, 5 die Seele so vollständig aus, dass ihr Selbst darüber zugrunde geht, und daher sagt die Seele: Mer an diner anschouwunge alleine so weis ich nit von leide; so hast du, herre, mich mir benomen und hast dich in mich verstolen (S. 170f.; III, 5, 6–8). Der unmittelbare Anblick Gottes wirkt überwältigend und lässt alles vergessen, denn die Seele weiß in der Gegenwärtigkeit Gottes nichts von Schmerz und Leid, deshalb kann sie nicht klagen (III, 1). Diese dichte Verwebung von Selbstverlust und Vereinigung, Verlorenheit und Trost, Schmerz und Vergessen umfasst und bündelt einige zentrale Aspekte aus dem Fließenden Licht. So bietet III, 10 Schritt für Schritt einen Nachvollzug der Passion Christi, was den Rezipienten zum Mitvollzug einlädt. Es setzt ein mit dem Verrat Christi und endet mit der Auffahrt in den Himmel nach Verspottung, Geißelung, Verurteilung, Kreuzigung und Grablegung. All diese Stationen werden mit den verschiedenen Situationen einer liebenden Seele parallelisiert, die im Imitatio-Modus folgen soll. Jeder Satz ist zweigeteilt, da zum einen der Bezug zur Passion Christi, zum anderen der auf die liebende Seele hin hergestellt wird; zugleich sind viele spezifische Details eingestreut, die auf vorgängige Themen referieren und ein dichtes Gedenkbild erzeugen, in dem sowohl die Passion Christi als auch die Leiden der liebenden Seele gemeinsam vergegenwärtigt werden. So heißt es in dem Zusammenhang: Si wirt gehalsschlaget mit grosser unmaht, das si des ewigen liehtes sunder underlas gebruchen nit mag. (S. 182f.; III, 10, 15f.)

Die große Schwäche, mit der die Seele geschlagen wird, verhindert ein unausgesetztes Genießen des ewigen Lichts71 – ein Bild, welches den unmittelbaren Bezug zum göttlichen Partner als dem Geliebten der Seele wie im ersten Buch zurücknimmt und stattdessen den Aspekt der Erkenntnis im Genuss verstärkt.72 Zugleich 71 Ein Gegensatz zu dem ewigen Licht, das die liebende Seele unausgesetzt genießen möchte, stellen die irdischen Dinge dar, die in ihr verdorren sollen, während sie – gekreuzigt – in der süßen Luft des heiligen Geistes hängt, vgl. hierzu III, 10, 23–26: Si hanget ouch hoch in dem suessen luft des heligen geistes gegen der ewigen sunnen der lebendigen gotheit an dem crffltze der hohen minne, das si vollen dfflrre wirt von allen irdenschen dingen. Auch dieses Zitat verbindet Schmerz und Lust, die sich auf unterschiedliche Referenzobjekte beziehen, nämlich auf ewige und auf irdische. Gleichzeitig aber überlappen sie sich im Bild des Gekreuzigt-Seins in der süßen Luft. 72 Vgl. hierzu aber Ruh, Frauenmystik (1993), S. 269f., der das Licht der Gottheit mit der Erkenntnis der Gottheit verbindet: »Wie ›bekantnisse‹ ist es eine Manifestation des Schöpergottes (›Es werde Licht!‹), ja mit ihr identisch. […] Doch darf zumeist ›Licht‹ als ›bekantnis‹ und ›bekantnis‹ als Licht verstanden werden.« Die durch den Genuss vermittelte Erkenntnis des Göttlichen kann demzufolge nicht von Dauer sein.

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wird ein Bezug zu vorigen Passagen hergestellt, in denen die Schwäche des Leibes oder das Fassungsvermögen der Sinne den Genuss begrenzt haben. Denn im Gegensatz zu dem maßlosen und verzehrenden Begehren der Seele ist der Körper gemäß seiner Fähigkeiten nicht in der Lage, die dafür nötigen Kräfte ununterbrochen aufzubieten. In diesen Kontext lässt sich die Aussage integrieren, die Seele würde mit schmerzlichen Schlägen am Marterpfahl geschlagen, wenn sie zu ihrem Leib zurückkehren muss, was sofort an den Dialog zwischen Leib und Seele aus I, 2 denken lässt.73 In der Form von allgemein anwendbaren und individuell besetzbaren Lehrsätzen, die sich zu Andachts- und Meditationszwecken eignen, wird hier anhand einer liebenden Seele der Weg der (Com-)Passio vorgeführt. In III, 24 werden nach einer Unterscheidung von zweierlei Arten Menschen mit zweierlei Geist sieben Formen der Liebe differenziert und näher charakterisiert, die getrfflwe minne, die gerende minne, die suochende minne, die bekante minne, die lffltende minne, die swigende minne und die luter minne.74 Die Beständigkeit, das Verlangen, die Sehnsucht, die Erkenntnis, das Schweigen und die Lauterkeit werden mit qualifizierenden Merkmalen verbunden, die diese Arten von Liebe kennzeichnen; bei der schweigenden und der lauteren Liebe lauten diese folgendermaßen: […] dffl swigende minne gebruchet sunder arbeit. O, was si stille werket, das es der licham nit enweis! Dffl luter minne ist in got alleine stille, wan sie habent beide einen willen, und ist enkeine creature so edele, die sie moege hindern. (S. 222f.; III, 24, 14–17)

In der Aufzählung wird die schweigende Liebe nur noch von der siebten, der lauteren Liebe nämlich, übertroffen, deren Kennzeichen das Eins-Sein mit dem göttlichen Willen ist, was durch nichts und niemanden verhindert werden kann.75 Die Betonung des Eins-Seins mit dem göttlichen Willen während dem Genießen erinnert an den Mirouer, der ebenso eine Einheit von Gott und Seele im göttlichen Willen konzipiert, welche Ruhe und Frieden freisetzt.76 Das Kennzeichen der schweigenden Liebe ist es demnach, mühelos zu genießen, was im Gegensatz zu den ersten beiden Büchern deutlich vom Körper getrennt wird, der von dem, was sie im Stillen bewerkstelligt, nichts weiß. Doch wird das Genießen wieder in Bezug auf Leib und Sinne verortet, was semantisch mit zu seinen betontesten Facetten gehört. Das Verhältnis hierzu muss jedes Mal von 73 Vgl. FL III, 10, 28f.: Si wirt an der schreigat gesclagen mit grosser sere, wenne si sich muos zuo irem lichamen keren. 74 Vgl. hierzu FL I, 30, das anhand der sieben Tageszeiten ebenso viele Arten von Minne aufzählt, welche diesen zugeordnet werden. 75 Besonders die siebte Form der Liebe erlaubt Bezüge zu Marguerite Porete, welche diese Willensgleichheit in ihrer Einheitskonzeption zu einem entscheidenden Merkmal ausgestaltet hat, die sich vor allem in der Vernichtung ausdrückt. 76 Vgl. exemplarisch Mirouer 91.

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neuem ausgelotet und festgeschrieben werden, wobei es sich in vielfältigen Variationen präsentiert. Zugleich verbindet sich das mühelose Genießen der schweigenden Liebe mit einer der expliziten Stellen aus VII, 8, wo es heißt: Die bruchunge ist unsprechlich. Während es aber im siebten Buch ebenso wie in II, 19 um die Unsagbarkeit des Genießens ging, wird in III, 24 eine andere Akzentuierung vorgenommen, die den schweigenden Vollzug zu einem seiner zentralen Kennzeichnungen macht, was das Genießen wiederum stark mit der selig stilli (I, 44) der Vereinigung verknüpft. Es scheint daher, der Unio vergleichbar, im paradoxen Zwischenfeld zwischen Reden und Schweigen angesiedelt zu sein, die seinen Vollzug schweigend und unsagbar, aber dennoch im Text Sprache werden lassen, die wiederum zum Mit- und Nachvollzug animiert. Mühelos und still – das sind die Kennzeichen des Genießens Gottes in der Liebe, was diese Charakterisierung deutlich vom fünften Buch absetzt, wo eine Begine gebruchete […] mit also unmenschlicher arbeit (V, 5, 1f.), dass sie das langfristig nicht ertragen konnte und starb.

Zusammenfassung von Buch III Im Grunde lebt das Fließende Licht von seinen Unterscheidungen, die es dann wieder zu unterlaufen trachtet, um sich in diesem Gestus in vollster Vielfältigkeit auszuprägen und abzubilden. So werden im dritten Buch bei der Verwendung von gebruchen die Differenzierungen zwischen Körper und Seele und die damit verbundenen Abgrenzungen fortgeführt, da seine Schwäche den unausgesetzten Genuss der Seele begrenzt. Weil sie noch mit der Bindung an den Körper geschlagen ist, der ihr aber gleichzeitig zu einer heiligen Marter verhilft, kann die Seele Gott nicht ohne Unterlass genießen (III, 10). Gleichzeitig wird das Genießen in den anderen Kapiteln auf impliziter Ebene in den komplexen Zusammenhang von Überwältigung und Selbstverlust eingebettet, der sich in dem Compassio-Kapitel (III, 10) ebenso verstärkt wie in den Bildketten der Trunkenheit und Verlorenheit. Was aufgegriffen wird, ist das schwierige Verhältnis von Sprechen und Schweigen, von Wissen und Genießen,77 das sich mit gebruchen/gebruchunge und der Vereinigung verbindet. Das Genießen wird sowohl durch seine Stille als auch durch seine Mühelosigkeit gekennzeichnet, zugleich durch die Verborgenheit seines Vollzugs, wovon der Körper nichts erfährt, was eine Entsinnli77 So heißt es abschließend in III, 24, 18: Dis hat dffl bekantnisse us dem ewigen buoche geschriben, was zeigt, wie dicht ineinander verflochten minne, bekantnisse und gebruchen hier, wenngleich in anderer Form, auftreten: Die Erkenntnis schildert, wie die schweigende Liebe genießt.

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chungsbewegung des Textes darstellt, der erneut die Sphäre der Seele von der des Leibes zu trennen sucht. Allgemein treten mit den Fegefeuer-, Höllen- und Himmelsvisionen78 sowie ersten Abgrenzungen von irdischen und ewigen Dingen Dichotomien und Oppositionen allmählich stärker in den Vordergrund, die in den folgenden Büchern noch erweitert werden und die Konzeptionen des Genießens maßgeblich beeinflussen. Buch IV: Göttliche Süßigkeit als Kontrast zu weltlichen Genüssen und Zurückweisung der Süße in der Gottesferne – das Sinken aber bleibt süß Im vierten Buch wird die Verbform gebruchen an zwei pointierten Stellen verwendet: Zum einen in einem autobiographisch inszenierten Einschub, der durch Kontrastierungen und Oppositionen gekennzeichnet ist (IV, 2),79 zum anderen in dem Kapitel über die gotz vroemedunge (IV, 12), die den äußersten Pol der Verlassenheit und zugleich der Einheit markiert. Die Verstärkung und Verdichtung der Extreme zwischen Gott und Seele, die ununterscheidbar in eins geführt werden, bildet jedoch nur die eine Seite des Textes. Insgesamt ist dieses Buch von zunehmenden Lehren und dezidierten Anweisungen durchzogen, die sich mit Opfergaben für Priester von Laien, den Verhaltensweisen der Christen gegenüber den Juden, den Tugenden des heiligen Dominikus und dem Predigerorden oder dem Problem eines von einem Kranken erbrochenen Leibes des Herrn beschäftigen, aber auch Edelfrauen oder betrübte Mitbrüder thematisieren. Das richtige, der jeweiligen Situation angemessene Verhalten spielt in diesem Zusammenhang eine zunehmende Rolle, was sich in dem Bemühen niederschlägt, das richtige Verhältnis zu den irdischen und ewigen Gegenständen und damit zum gebruchen zu gewinnen. Die Absicht, mit Hilfe dieses Buches zu lehren, wird deutlich expliziert, wenn es heißt: Ich muos sprechen got ze eren und ouch durch des buoches lere (IV, 2, 19f.). Das gottgewollte Sprechen, was bereits im Prolog ausgeführt wurde, wird nun um die Lehre ergänzt, welche das Buch enthält. Die Intention besteht demnach nicht mehr nur in der Verherrlichung Gottes durch den Lobpreis, sondern in der Lehre und Sorge um die Mitmenschen, die auf vielfältige Weise vorgenommen wird. Schon zuvor hieß es im dritten Buch anlässlich der Imitatio der liebenden Seele: Si wirt gestochen von einem blinden ›durch ire siten mit eime suessen spere der unschuldiger minne‹; da vliessent us irem herzen manig heilig lere (III, 10, 20–22). In diesem kurzen Satz wird die Lehre eng an ein physisches Bildfeld angeschlossen, wenn die liebende Seele wie Christus in die Seite gestochen wird. Schmerz und Lehre sind demnach unmittelbar miteinander ver78 Bochsler (1997). 79 Peters (1988), S. 53–67.

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bunden, wenn anstatt Blutströme zahlreiche Lehren fließen. Die Lehre ist demnach nicht etwa ein leicht Gewonnenes oder zufällig Erworbenes, sondern im Gegenteil etwas hart Erschmerztes, das nur durch die Stichwunde freigesetzt wird.80 In IV, 2 besteht die Begründung des Sprechens zum einen in dem Wunsch, Gott zu preisen, zum anderen in der Aufgabe, die Lehre dieses Buches zu verkünden. Direkt daran knüpft sich eine vitenhaft ausgefeilte Schilderung eines Heiligenlebens, der mit dem Gruß des Heiligen Geistes im zwölften Lebensjahr einsetzt. Diese nachträglich gelieferte Information wirft zugleich ein neues Licht auf den gotes gruos aus Buch I, der in solch unmittelbarer, kunstvoller und vielfältiger Manier ausgestaltet und mit der gebruchunge verbunden wird, da ihn das erzählende Ich – genauer eines der vielen – nun für sich selbst beansprucht.81 Doch in diesem Kontext wird der gruos in erster Linie nicht durch Erfüllung und Durchfeuchtung charakterisiert, wenn es heißt, er machte mir minneklich leit aller welte suessekeit und er wahset noch alle tage, sondern seine Kennzeichen entsprechen eher dem Dialog aus I, 1, der von dem Verzicht auf alle weltlichen Freuden geprägt ist. Die Süße kann sowohl für die irdische als auch für die göttliche Lust gebraucht werden, was der Text in dieser Passage als klaren Gegensatz aufbaut. Die eine Süße verdrängt die andere, und das freiwillige Entbehren aller Annehmlichkeiten, die das weltliche Leben zu bieten hat, ist eine Notwendigkeit. In der Schilderung der zunehmenden Einsamkeit und des Verzichts auf den Umgang mit liebenden Angehörigen und Freunden setzt sich der Weltentzug fort, was in eine weitere Steigerung durch Verspottung und Erniedrigung gipfelt. Doch wird dieses Bekenntnis durch ein weiteres abgemildert, das die Entschädigung für all das erlittene Leid enthält und dadurch, dass es an den Schluss positioniert ist, die ertragenen Entbehrungen anders ausleuchtet: Do lies mich got niergen eine und brachte mich in so minnenkliche suessekeit, in so helige bekantheit und in so unbegriflich wunder, das ich irdenscher dingen wenig gebruchen konde. (S. 230f.; IV, 2, 9–12)

In keiner Situation war das erzählende Ich demnach sich selbst überlassen, sondern wurde in eine solch beseligende Süßigkeit versetzt, ihm wurde solch eine heilige Erkenntnis und so unbegreifliche Wunder geschenkt, dass der Genuss von irdischen Dingen ihm völlig fremd wurde.82 Dadurch erhält der zuvor 80 Vgl. hierzu Mirouer 66, 11–2, in welchem es heißt, dass das Buch auf das Pergament der Seele geschrieben wird. 81 Vgl. hierzu grundlegend Peters (1988), S. 53–67; Nemes (2010), S. 347f., Grubmüller (1992); Palmer (1992). 82 Vgl. hierzu Vis. I, 411–424, in welcher das Ich der Visioenen genussvollen Trost durch das Innere der Rose zugesprochen bekommt.

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aufgezählte Verzicht ein anderes Vorzeichen, denn die Süßigkeit Gottes steht weit über derjenigen der Welt, da diese alles andere in Schatten stellt. Darin ähnelt dieses Kapitel dem jubelnden, abschließenden Ausruf der Seele aus I, 1. Verbunden ist diese Süße des Genießens mit der Erkenntnis, was an die einschlägigen Passagen besonders aus den ersten beiden Büchern erinnert, in denen der Genuss aufgrund seiner Intimität und Unmittelbarkeit eine spezifische und besonders erlesene Form der Gotteserkenntnis darstellt. Die Süße verweist hier implizit auf die gebruchunge, die sich mit bekantheit verbindet. Kapitel IV, 12 nimmt in der Forschung beinahe eine I, 44 vergleichbare Stellung ein;83 kaum eine Monographie zum Fließenden Licht verzichtet auf das Bild der sinkenden Minne (amor deficiens) im Vergleich zur schwebenden Minne,84 auf das bis zum Äußersten gespannte Extrem der totalen Gottesferne, welche das in den Text eingeschriebene Programm der Imitatio auf die Spitze treibt, denn die Seele wird ebenso von Gott verlassen und von Finsternis umfangen wie Christus am Kreuz. Zugleich knüpft die Passage zu Beginn an eine Stelle aus dem Hohenlied 3, 1 an, wo die Braut im Schlafe von ihrem Geliebten verlassen wird: In lectulo meo per noctes quaesivi quem diligit anima mea. Brautmystik und Passionsmystik kommen an dieser Stelle zusammen.85 Das Kapitel setzt sofort mit Entzug und Verlust ein, die in einer fortlaufenden Kette gesteigert werden; trotzdem sind in diese Kette Zeichen der Präsenz und Verbundenheit eingeschrieben, wozu vor allem die abgewiesene und dennoch unabweisbare Süße entscheidend beiträgt. Zuerst weist die Seele jede Trostmöglichkeit, alle von den Kreaturen angebotenen Alternativen zu ihrem Geliebten, zurück: zuerst die schoenffl welt (IV, 12, 11) mit ihrer unedelen suessekeit (IV, 12, 15) – welche die Seele ohnehin bereits hinter sich gelassen hat – dann das himmelrich (IV, 12, 17) und schließlich selbst die heligen (IV, 12, 19). Erst gotz sun wird akzeptiert, doch unter Formulierung eines hohen Anspruchs: Sol ich getroestet werden nach miner edelkeit, so sol mich gotz aten in sich ziehen sunder arbeit (S. S. 258f.; IV,

83 Vgl. hierzu Haas, Struktur der mystischen Erfahrung (1979); M. Schmidt, Elemente der Schau (1985); Schwarz-Mehrens (1985); Rinaldi (1986); Heimbach-Steins (1989), S. 50–57; Largier, »in einicheit und in der wüestunge« (1991); Ruh, Frauenmystik (1993), S. 270–272; Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 94–96; Kasten, Formen des Narrativen (1995); Haug, Überlegungen zur Revision (1997); McGinn (1999), S. 424–430; Stadler (2001), S. 147–173; Langer, Christliche Mystik (2004), S. 246f. 84 Vgl. Ruh, Frauenmystik (1993), S. 271, der sogar so weit ging, es als »Mechthilds Eigenstes« zu bezeichnen. 85 Vgl. hierzu Stadler (2001), S. 125–191, welche die brautmystische und die passionsmystische Unio getrennt voneinander vorstellt. Doch überlappen sie sich in IV, 12 durch die Kombination aus intertextuellem Hoheliedbezug und dem Ertragen der Gottesferne (wie Christus am Kreuz).

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12, 27–29).86 Hier wird die edle Art der Seele pointiert von der unedlen Süßigkeit des weltlichen Trostes abgegrenzt, die ihr nicht angemessen entspricht, was in dem emphatischen Ausruf gipfelt, der jeden Anspruch noch weiter steigert und zugleich an die gebruchunge ane mort kan si nit verklagen (I, 21) anknüpft: »Mir smekket nit wan alleine got, ich bin wunderliche tot.« (S. 258f.; IV, 12, 33)

Nur Gott allein mundet ihr, einzig Gott möchte sie genießen, rätselhaft tot ist sie, abgestorben allem Begehren und zugleich sich selbst. Doch dieser ambitionierte Anspruch wird nur gestellt, um sogleich überboten zu werden – eine textuelle Strategie, die das gesamte Kapitel durchzieht. Jede Überbietung wird erneut überboten: Die Süße zuerst verlangt, dann abgewiesen, schließlich – in der Gottesferne – gekostet. Dem Verlangen, nichts außer Gott allein zu kosten, folgt sogleich eine Übersteigerung ins Negative, wenn es heißt: Dis smakes wil ich allerdikost gerne enberen, uf das er wunderlich gelobet werde. (S. 258f.; IV, 12, 34f.)

Zwischen dem leidenschaftlichen, die Grenze des Todes streifenden Begehren und dem freiwilligen Verzicht auf das Verlangte lässt sich kaum eine Trennlinie ziehen, der Umschwung erfolgt unmittelbar nach dem Ausruf und wirkt deshalb umso stärker. Das Schmecken Gottes wird erst mit aller Kraft gefordert und sogleich wird mit ebensolcher Kraft darauf verzichtet. Genuss, Selbstverlust, Vernichtung und Begehren zeigen sich an dieser Stelle besonders eng miteinander verquickt, indem sie sich ineinander auflösen, da sich der jeweilige Referenzpunkt bei jeder neuen zentralen Aussage weiter verschiebt. Das Ziel dieser Entbehrung ist die Verherrlichung Gottes, was an das erste Buch, wo Gott durch den Schmerz des Leibes und der Seele gelobt wird (I, 5), oder das zweite Buch anknüpft, wo die Seele im Schmerz Gott mit Gloria in excelsis deo preist, was die Erscheinung mit dem roten und dem weißen Wein evoziert (II, 7). Auf die Bitten der Seele hin, zu Gottes Ehre sinken zu dürfen, gerät sie – zusammen mit dem Leib – in Finsternis und verliert die bekantnisse, das Wissen um gottes heimlicheit und die vil selige minne, kurz, alle Gnadengaben, die sie auszeichneten, werden mit dem Entbehren des Genusses wieder von ihr genommen. Daher übernimmt die Treue als Kämmerin die Aufgaben der Liebe, während die Seele sich gegenüber dem einfallenden drohenden Glaubenszweifel mit promptem Widerstand zur Wehr setzt, indem eine Gedächtniskultur für Seele und Leib durch die Dreifaltigkeit propagiert wird, wo Gottvater ermutigend zur Seele und Gottsohn zum Leib spricht, während der heilige Geist an das 86 Vgl. hierzu FL III, 24, 14f., wo die swigende minne gebruchet sunder arbeit. Die Mühelosigkeit und die Leichtigkeit sind wichtige Voraussetzungen und Begleiterscheinungen intensiver Gottesnähe.

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buoch gemahnt. Die Antwort von Seele und Leib auf diese Memento-Anreden lautet folgendermaßen: Do antwfflrten beide sele und lip mit der ›stetekeit des waren gelovben‹: »Als ich habe gelovbet, geminnet und gebruchet und bekant, also wil ich unverwandelt varen von hinnan.« (S. 262f.; IV, 12, 11–14)

Der Leib wird in diese Belange ebenso selbstverständlich integriert wie die Seele; und ihrer beider (Glaubens-)Bekenntnis drückt die Einheit von Glauben, Lieben, Genießen und Erkennen aus, verweist also auf die verschiedenen Facetten im Gottesumgang und in der Gotteserfahrung. Nach diesem Bekenntnis setzt die eigentliche Gottesferne ein und umschließt die Seele, welche sich zwei erschwerte Bedingungen ausbittet, um Gott weiter zu verherrlichen: Erstens fordert sie den Verzicht auf die damit verbundene Süßigkeit, denn paradoxerweise fühlt sich die Galle der gotz vroemedunge im Gaumen der Seele an wie Honig. In dieser Umstülpung zeigt sich, wie häufig bei Verbindungen zum Genießen, der enge Bezug zur Sinnlichkeit und Körperlichkeit. Er drückt sich zum einen in dem der physischen Sphäre entnommenen Bild des Gaumens aus, was Leib und Seele metaphorisch eng zusammenschließt, zum anderen in der sowohl gustal als auch olfaktorisch wahrnehmbaren Empfindung der Süße und des Honigs.87 Zweitens erwidert die Seele auf das Verlangen des göttlichen Partners, seine Hitze, sein Begehren und seine Lust an ihr zu kühlen – überdies wieder von Sinnlichkeit vibrierende Bilder – zustimmend und einschränkend, es solle nur ihm wohl dabei sein und nicht ihr. Erst nachdem der Text es so weit getrieben hat, setzt die schrankenlose Gottesferne im Bild der absoluten Finsternis ein und umschließt Leib und Seele so fest, dass Ersterer sich zusammenkrampft und schwitzt vor Schmerz und Qual. Wieder ergibt sich die bereits aus dem ersten Buch (I, 2 oder I, 5) bekannte Konstellation, dass Leib und Seele zusammen den Schmerz austragen. Nach einem kurzen Dialog mit der Dame Schmerz endet das Kapitel in einem letzten emphatischen Anrufen der seligen Gottesferne und ihrer beseligenden Fessel, während die Seele immer tiefer sinkt, da sie Gott nit entsinken kann, und in paradoxer Rätselhaftigkeit abschließend hinzufügt: Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suessor trinke (S. 264f.; IV, 12, 30f.). Was schmeckt die Seele im Sinken, nachdem sie die Süße der Gottesferne zurückgewiesen hat? Ist das Bittere erneut süß, wie die Galle im Gaumen der Seele zu Honig wird? Die Süße, als ein Zeichen der Gottesnähe und Gottesgnade, wird paradoxerweise zurückgewiesen und bleibt in der äußerten Gottesferne dennoch spürbar. Je größer die scheinbare Gottesferne durch die Tiefe des Sinkens wird, desto schmeckbarer wird die Süße als Zeichen intensivierter

87 Vgl. aber hierzu Neumann II (1993), S. 71 [IV 12, 70f. wie – worden].

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Gottesnähe.88 Das zeigt: Die Süße wird in dieser Passage verschiedentlich umcodiert, indem erst die Süße der Gottesferne von der Seele auf ihren eigenen Wunsch hin genommen werden soll, jedoch in ihrem abschließenden Ausruf das Sinken in eine fortgesetzte Tiefe als eine zunehmende Süße begriffen wird und zugänglich bleibt. Genuss ist hier demnach genauso durch Süße bestimmt wie durch die Bitternis, die synästhetisch verschwimmen, ebenso wie die Gottesferne und die Einheit mit Gott.89

Zusammenfassung von Buch IV Im vierten Buch wird das gebruchen auf der Ebene des Schmeckens paradoxerweise im Kontext der Gottesferne entscheidend erweitert, da zum ersten Mal in aller Deutlichkeit Gott genießen mit Gott schmecken verbunden wird. Allerdings besteht die semantische Kühnheit von IV, 12 darin, dass eben nicht Gottes beseligende Gegenwärtigkeit gekostet wird, sondern seine qualvolle Ferne. Das Bindeglied zwischen einer Abwesenheit, die zugleich eine Anwesenheit ist, besteht in der alles durchdringenden Süße, in welche die Bitterkeit umgesetzt wird und die sich, trotz der deutlichen Zurückweisung der verlassenen Seele, im Prozess des Sinkens in ein zunehmend süßes Trinken verwandelt. Dieses Kapitel prägt einen Extrempol der Gottesnähe in der Gottesverlassenheit aus, was in diesem Buch entscheidend zum Charakter der Entgrenzung durch eine weitere Entfaltung der Extreme beiträgt. Zugleich aber verstärkt sich allmählich ein gewisser Zug der Festschreibung, was in IV, 2 ebenfalls mit den zwei Arten der Süße gezeigt wird, einer weltlichen, mit welcher das delikate Ich nichts mehr anfangen kann, und einer göttlichen Süße, die es gekostet hat. Im folgenden Kapitel taucht dieser Aspekt immer wieder auf: So heißt es über diejenigen, die an vergänglichen Dingen nicht satt werden können, dass sie mit dem ewigen hunger (IV, 3, 9–11) gesättigt werden sollen; während einige Abschnitte später der Jaspisstein an den Füßen der 88 Vgl. hierzu M. Schmidt, »Deiformis operatio« (1987), S. 233: »Bei Mechthild von Magdeburg […] ist der von ihr hochgepriesene Liebesgenuss nicht der letzte Höhepunkt in der Vollendung der Liebe in diesem Leben. In der ›sinkenden Minne‹, der ›descensio‹, lehrt sie den Abstieg bis zur letzten Entäußerung im Fleische und im Werk […] aus der verwandelnden Kraft der Minne (›aus Galle in Honig‹)«. Einerseits ist Schmidt darin zuzustimmen, dass die gebruchunge nicht den höchsten Status im Fließenden Licht wie im ersten Buch beibehält, sondern überformt wird durch das Leiden und die Demut. Andererseits ist die klare Trennung zwischen der Bewegung des Sinkens und dem Vorgang des Genießens so nicht aufrecht zu halten, da implizite Bezüge durch die Süße hergestellt werden, die Schmidt bloß der Liebe, nicht aber dem Genuss zuordnet. 89 Vgl. zur Süße grundsätzlich Ohly, Süße Nägel (1989), S. 403–409; ders., Geistige Süße (1977), bes. S. 102–109; Carruthers (2006); Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007), bes. S. 107.

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Jungfrau Christenheit einen reinen smak gibt und reisset den heiligen hunger (IV, 3, 19f.). Häufig entscheiden nur die Adverbien und Attribute darüber, ob eine Sache gut oder verwerflich ist, es gibt einen reinen Geschmack und ein reines Kosten, ebenso wie es ein sündhaftes gibt, und dasselbe gilt von dem Hunger, von der Süße und von dem Genuss. Zugleich wird das Genießen durch die Sättigungs- und Hungermetaphorik in seinen Aspekten der Süße, des Schmeckens, des Entbehrens und des Verlangens weiter ausgeprägt.

Buch V: Sinkende Demut als Leitvokabel und Handlungsanweisung für das richtige gebruchen Wie schon im vierten Buch stellt auch das fünfte Buch Bezüge zu den Themen der Süße und des Sinkens her, die erst im dritten Teil dieser Untersuchung breiträumig entfaltet werden. So steht im fünften Buch vor allem die sinkende Demut im Anschluss an die im vierten Buch intensivierte sinkende Liebe im Zentrum. Das richtige Verhältnis zu den Dingen zu gewinnen, ist ein markantes Bestreben von beiden Büchern, vor allem aber vom sechsten Buch, das in vielfältiger Hinsicht einen Sonderfall darstellt. So ist es von dem Bemühen durchzogen, sich gegen Kritik zu verwahren und unmissverständliche Richtigstellungen vorzunehmen,90 wobei es die in den früheren Büchern eröffneten Paradoxien wieder zurückzunehmen bestrebt ist. Unterlaufene und verwischte Sphären von Sinnlichem und Geistigem, Spritituellem und Körperlichen werden nun hart voneinander geschieden, weswegen das sechste Buch gleichsam wie ein erratischer Block im Gesamtgefüge des Fließenden Lichts steht. Diese Beobachtungen finden sich in der Verwendung der Verbform gebruchen bestätigt. Genau differenzieren die Stellen zwischen sündhaftem, angemessenem, lustvollem, stetigem und lobenswertem Genießen oder Gebrauchen, ebenso klar wird zwischen vergänglichen und ewigen Dingen unterschieden, was natürlich eine Fülle an thematischen Gegenständen umfasst. Daher steigt die Zahl der Stellen mit gebruchen nahezu inflationär an. Der Wille Gottes wird sogar selbst der fruitio dei übergeordnet (V, 5), da der Eigenwille in jedem Fall überwunden werden muss, was eine markante Umakzentuierung im Vergleich zu den ersten Büchern signalisiert. Genießen Gottes ist nicht gleich Genießen Gottes, sondern kann eine verborgene Sündhaftigkeit implizieren. Die Unterordnung unter Gottes Willen, ein zentraler Schwerpunkt des sechsten Buches, verbindet sich mit der im vorigen Buch in den Mittelpunkt gerückten Demut, welche zusammen das Ideal eines Lebens formen, das vollkommen dem göttlichen Willen entspricht. 90 Vgl. hierzu Peters (1988), S. 54, Anm. 25.

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Die Stellen, an denen im fünften Buch die Verbform gebruchen verwendet wird, lassen sich zum einen in den Kontext einer volkssprachlichen Umschrift augustinischen Gedankengutes stellen; zum anderen aber greifen sie die paradoxe Verdichtung aus Verlangen und Verzichten, Entbehren und Genießen, Nähe und Ferne wieder auf. Die Aufnahme augustinisch–lombardischen Gedankenguts wird unter spezifischer Akzentsetzung integriert, wozu die literarischen Formen entscheidend beitragen, beispielsweise wenn eine didaktisch-allgemeine Einleitung plötzlich in einen Dialog zwischen Gott und der Seele umschlägt und dadurch personalisiert wird. Bereits aus den ersten Büchern bekannte Formen der literarischen Vergegenwärtigung, wie Dialogisierung, Versinnlichung, Bildlichkeit, Intensivierung, Rhythmisierung werden teilweise sehr plötzlich eingesetzt und verleihen dadurch einer lehrenden Anweisung einen kontrastiv glänzenden Anstrich. So durchdringen sich Didaxe und Aisthetik oft gegenseitig. V, 1 setzt sogleich mit der Aufzählung und Beschreibung von drei hierarchisch angeordneten Formen der Reue ein, nämlich der rfflwe der schulde, der rfflwe der buosse und der rfflwe der minne; diese Reue über die begangene Schuld äußere sich nun auf dreierlei Weise: Das erste ist rfflwe der schulde, dffl hat drffl ding an ire: die bitterkeit in dem herzen, da dffl sfflnde usgevlossen ist; schamme in den sinnen, die der sfflnden gebruchet hant; guot bilde des lebendes, wa sich der mensche verboeset hat. (S. 318f.; V, 1, 5–9)

Die Reue über die Schuld umfasst die wesentlichen, nämlich die mentalen und physischen Bestandteile des Menschen, wenn er Bitterkeit in seinem Herzen und Scham in den Sinnen, welche die Sünden genossen haben, empfindet. An dieser Stelle wird gebruchen nicht verwendet, um das Genießen Gottes zu bezeichnen, sondern ein sündhaftes, ausschließlich an die Sinne gebundenes und durch diese vermitteltes Genießen, was zu bereuen ist. Anstatt dass sich das Genießen, dem augustinischen Diktum entsprechend, allein auf Gott richtet, ist es durch die Verführbarkeit der Sinne von seiner einen und einzigen Bestimmung abgekommen. Die äußeren Sinne sollen arm werden und der Leib seinen Eigenwillen aufgeben, damit sich die Seele uneingeschränkt auf Gott richten kann.91 Dieser Zustand wird mit einer woestunge gleichgesetzt, was einen Bezug zum ersten Buch herstellt92 und die Verlassenheit mit der Offenheit für Gottes Gegenwart verbindet.93 91 Vgl. hierzu FL II, 24. 92 Vgl. FL I, 35. 93 Vgl. speziell zum Bild der wüestunge Largier, »in einicheit und in der wüestunge« (1991); allgemeiner zur mors mystica und deren spezifischen Ausprägungen bei Mechthild: Haas, Dichtung und Mystik (1979), bes. S. 81–93; ders., Struktur der mystischen Erfahrung (1979), bes. S. 115–119; ders., Mors mystica (1979), bes. S. 446–449.

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Die Sinne aber sind keinesfalls grundsätzlich als verwerflich zu betrachten, wie V, 4 zeigt, welches das Konzept einer Leib und Seele vereinenden Gottesliebe entwirft: O wunderlichffl gottes minne, du hast heilig grosse kraft, dffl erlfflhtest die sele und lerest die sinne und gibest allen tugenden volle maht. (S. 324–326; V, 4, 21–1) Die minne wandelet dur die sinne und stfflrmet mit ganzen tugenden uf die sele. Die wile das die minne wahset an der sele, so stiget si mit girekeit uf zuo gotte und breitet sich alvliessende gegen das wunder, das ir gemuszet. Si smelzet sich dur die sele in die sinne; so muos der lichame ovch sin teil gewinnen, also das er wirt gezogen an allen dingen. (S. 326f.; V, 4, 9–14)

Während die Seele erleuchtet wird, erhalten die Sinne eine Lehre durch die Gottesliebe, die durch die Sinne geht und dann erst auf die Seele zustürmt. Solange die Liebe in der Seele wächst, steigt diese verlangend auf zu Gott und schmelzt sich durch die Seele wieder in die Sinne, so dass der Körper auch seinen Anteil erhält, wie es im Text lautet. Durch die Schmelzmetaphorik werden zugleich Bezüge zur Einheit hergestellt, die Seele, Sinne und Körper umfasst und zu unterschiedlichen Teilen befriedigt. Denn zu Beginn liegt die Gottesliebe in den Sinnen und erfasst die Seele, schließlich greift sie von der aufgestiegenen Seele wieder auf die Sinne über, damit diese nicht leer ausgehen. Somit sind Leib und Seele unterschiedlich beteiligt, was sich im Prozess des Sinkens ausdrückt: Denn nachdem die Seele uf den hohen berg der gewaltigen minne und der schoenen bekantnisse (V, 4, 26f.) gelangt ist und dort die hitze der langen minne und die umbehalsunge der heligen drivaltekeit (V, 4, 31f.) erfahren hat, ist sie schwach geworden und beginnt abkühlend zu sinken. An dieser Stelle nimmt der Text die bekannte, zu unterschiedlichen Teilen ausgetragene, Doppelung von Körper und Seele erneut auf, denn nicht allein die Seele sinkt, sondern auch der Körper, doch sinkt die Seele noch weiter und tiefer hinab, denn, wie der Text lautet, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, sinkt sie wieder in die Nacht, und wenn der Berggipfel erstiegen ist, muss man auf der anderen Seite wieder hinabgehen.94 Diese steigend-schwebende und die sinkende Minne werden vor allem dank der Bildgebung von Berg und Sonne in einen organisch-dynamischen Zusammenhang integriert. Insgesamt ist dieses Kapitel von einer performativen Aufladung geprägt, die Bewegungen des Stürmens, des Steigens, des Sich-Ausbreitens, des Schmelzens, des Ziehens, des Jagens95 und des Sinkens umfasst. Sie machen zum einen die Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit der Passage aus, zum anderen zeigen sie, wie sich die in diesem 94 Vgl. hierzu Heimbach-Steins (1989), S. 63–66, welche besonders diese Schlüsselszene ebenfalls in den Kontext der sinkenden diemuetekeit (V, 4, 9) integriert. 95 Vgl. hierzu Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007), bes. S. 99f.

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Fall die Sinne betreffende Didaxe und literarische Vergegenwärtigung wechselseitig durchdringen können. Die unter alle Dinge und Menschen sinkende Demütigkeit wird in vier, wieder hierarchisch aufsteigende Formen unterteilt, und zwar a) in eine, die Äußerlichkeiten, wie Wohnung und Kleidung, und b) in eine, die das Verhalten in der Gesellschaft umfasst; sodann heißt es über die dritte und vierte Form der Demütigkeit: Die dritte demuetekeit lit an den sinnen, also das si aller dinge nach irem rehte gebruchent und ordenliche minnent. Die vierde diemuetekeit wonet in der sele; das ist die sinkende diemuetekeit, die also manig suesses wunder an der minnerichen sele begat. Si jaget si uf in den himmel und zfflhet si in den abgrfflnde wider. (S. 328f.; V, 4, 14–20)

Wieder stehen bei c) die Sinne und ihr Verhältnis zu den Dingen im Zentrum; in diesem Fall aber soll(en) alle(s) angemessen und sachdienlich gebraucht und geliebt werden.96 Das Konzept der sinkenden Demütigkeit weist erneut Spuren von augustinischem Gedankengut auf, was den Sinnen einen richtigen Gebrauch der Dinge anstatt deren verfehlten Genuss vorschreibt. Zugleich aber schlägt es Bezüge zur Gottesferne (IV, 12), die paradoxerweise eine ungeheure Gottesnähe impliziert. Abgrund und Himmel werden in dynamische Bewegungen des Jagens und Ziehens eingebettet, was deren strikte Trennung zumindest in der Schnelle ihrer Überwindung durch eine liebende Seele zugleich betont und aufhebt, die sowohl unter dem Schwanz des Teufels als auch in den Armen Gottes zu liegen kommen kann.97 Grundsätzlich ist die sinkende Demütigkeit dadurch gezeichnet, dass die Seele alles allein zu Gottes Ehre und um seiner Verherrlichung willen begeht oder 96 Vgl. Neumann II (1993), S. 85 [V 4, 35 Aber – dingen], wo er sich allgemein zu der »Verbindung irden†schffl ding« im Fließenden Licht äußert, die ihm zufolge »im Ganzen 28mal« auftritt, dagegen »irdenischffl wollust VII 7, 3.11; VII 61, 7; VII 62, 19«. 97 Vgl. hierzu Köbele, Vom Lob der Hölle (2008); Heimbach-Steins (1989), S. 63–66 und 91–95. Diese flexible Beweglichkeit in Höhe und Tiefe wird in V, 4 abschließend als eine Vollendung in allen Tugenden kommentiert: Als si alsus ufgestigen ist in das hoehste, das ir geschehen mag, die wile si gespannen ist ze irme lichamen, und har nider gesunken ist in das tieffestem das si vinden mag, so ist si denne vollewahsen an tugenden und an helikeit. So muos si denne gezieret werden mit pine in der langen beitekeit (V, 4, 5–9). Das Element des ErwachsenWerdens und Gänzlich-Reifens durch das geduldige Ertragen von Schmerz und Leid findet sich in scharfer Akzentuierung und deutlicher Pointierung als ein Leitthema der Visioenen, die ebenso die Topographien des Abgrunds, wenngleich in dionysischer Ausgestaltung, und des Berges, als das Zentrum des Genießens, im Sinne der Vereinigung von Höhe und Tiefe, Schmerz und Genuss ausgestalten. Diese Stelle bietet sich besonders für den Vergleich zwischen Hadewijch und Mechthild an, da sie sowohl die Eigenheiten, wie z. B. den integrativen Körper- und Sinnenbezug im Fließenden Licht oder die starke Ausrichtung der Visioenen auf die allmähliche Vollendung im Prozess des Reif-Werdens, als auch deren Parallelen aufzeigen (vgl. auch die in der sele vollewahsene minne aus demselben Kapitel).

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unterlässt.98 Selbst wenn das Sinken die Trennung von Gott bedeutet, ist ihm die Seele durch die völlige Übereinstimmung mit seinem Willen paradoxerweise doch näher, als wenn sie eigenwillig den Genuss Gottes gesucht hätte. Denn die Ausübung des Eigenwillens, der sich mit der Weigerung, einen christlichen Rat anzunehmen, verbinden kann, schädigt selbst heilige Werke, denn einzig in dieser Bereitwilligkeit zeigt sich dem Text zufolge die christliche Demut. Diese Behauptung wird in V, 5 an einer Begine exemplifiziert, deren Leben ganz in das Zeichen der Gottesliebe gestellt zu sein scheint, deren übermäßiger Genuss sogar zum Tod führt: Das han ich vunden an einer frovwen. Die hatte fflnsern herren von herzen lieb und der liebi gebruchete si mit also unmenschlicher arbeit, das ir nature verdorret also sere, das sffl muoste sterben. (S. 330–332; V, 5, 23–3)

Besagte Begine weist demzufolge alle Züge eines heiligmäßigen und ganz auf Gott ausgerichteten Lebens auf, denn ihre verzehrende Gottesliebe und der rücksichtslose Genuss derselben ließen sie alle Lebenskraft verlieren, so dass sie sogar darüber starb. Implizit ist an dieser Stelle zugleich gezeigt, was die Dialoge zwischen Seele und Gott oder zwischen Seele und Körper warnend äußern, nämlich dass die Kraft des Körpers den Genuss nicht ununterbrochen und dem maßlosen Begehren entsprechend zu ertragen vermag. Denn selbst das Schönste und Begehrenswerteste, nämlich der Genuss der Liebe Gottes, muss dem Gehorsam unterstellt sein, selbst wenn das bedeutet, die Schonung des Leibes und die Begrenzung des Genusses entsprechend der Kapazitäten der Sinne hinzunehmen. Von daher ist das Verb gebruchen an dieser Stelle durch ein Detail näher gekennzeichnet, das auf einen verfehlten Akzent hinweist, wenn man andere Passagen aus früheren Büchern hinzuzieht. Die Dame genießt nämlich mit also unmenschlicher arbeit, was einen direkten Gegensatz zur swigende(n) minne aus III, 24, darstellt, die gebruchet sunder arbeit. Anstatt also mühelos die Gnadengabe Gottes zu genießen, bedarf es unmenschlicher Anstrengung. Vermutlich drückt sich darin bereits der Eigenwille aus, der für die Begine nach ihrem Verscheiden als finstere Wolke den Zugang zum ewigen Licht versperrt, da sie zu Lebzeiten keinem christlichen Ratschlag gehorchen wollte. Das durch den Wolkenschatten blockierte ewige Licht kann zudem auf den Mangel an Erkenntnis hindeuten, der das Genießen begleitete. Genuss ohne Erkenntis scheint ebenso unmöglich wie Genuss ohne Tod, was die Seele beides nicht ertragen kann. Sogar das Genießen Gottes lässt sich demzufolge mit Eigenwillen betreiben, 98 Gott zu verherrlichen ist ein wichtiger Bestandteil für den Erwerb von Heiligkeit, der alles andere, inklusive der höchsten Gnadenerweise, in Schatten stellt.

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was den impliziten Hinweis für den Rezipienten enthält, dass es möglich sei, sich sogar durch besonders heilige Werke zu versündigen. Die Trennung zwischen richtigem und falschem gebruchen, die sich zuvor auf weltliche bzw. göttliche Dinge gerichtet hatte, durchläuft jetzt sogar das mystische Genießen, das durch den Eigenwillen verzerrt werden und das Fegefeuer zur Folge haben kann. Zudem zeigt die Passage eindrücklich, dass Genuss Gottes nicht automatisch das Richtige ist, selbst wenn er sich einstellt, sondern dass man ihn auf den göttlichen Willen abstimmen muss, der sich beispielsweise in christlichen Ratschlägen äußert. Selbst wenn die gebruchunge nicht ane mort (I, 21) ist, sondern sogar aufgrund ihrer schonungslosen Intensität zum leiblichen Tod führt, kann sie doch nicht von der Demut begleitet sein, durch welche das Genießen hier entscheidend ergänzt wird. V, 25 schildert den Genuss der Dreifaltigkeit im Himmel, wo man durch eine überaus edle und aufwendige Sache, die in sieben Einzelbestandteile zerfällt, größte Freude gewinnt, so heißt es eingangs des Kapitels, und zwar solle man in der Lage sein, Gott fortwährend zu loben und zu verherrlichen, sei es in armuot, in smacheit, in ellende, in wetagen, in geistlichem armuete, […] in getwange der gehorsami, in aller hande bitterkeit inwendig und uswendig (S. 384f.; V, 25, 6–9). Durch das Erleiden und Ertragen von allen Arten des Unbequemlichen und Schmerzlichen hat man danach Anspruch auf eine umso glänzendere Entschädigung, welche die irdisch-weltliche Lust dafür in geistlich-göttliche umzumünzen scheint, was durch den letzten Satz des Kapitels bestätigt wird, der im Dialog durch den göttlichen Mund geäußert wird und folgendermaßen lautet: Alsus wil ich dir suessen wehsel geben (V, 25, 3f.). Dieser wird nun wie folgt im Vorfeld geschildert: Hie von wirt sele und lip in himmelriche also ahtber und lobsan, das si schoenor singent und minnent denne die andern und claror lfflhtent in der vroeide denne die andern, und das si hoher swebent denne die andern und wunneklicher lebent denne die andern, und das sie notlicher gezieret sint denne die andern und von richtuome grosser wirdekeit habent denne die andern, und das si99 wunneklicher gebruchent und tieffer sugent in die heligen drivaltekeit denne die andern. (S. 384f.; V, 25, 12–20)

In einer fortgesetzten Reihung von Komparativen (schoenor, claror, hoher, wunneklicher, notlicher, grosser, tieffer) steigert sich diese Aufzählung immer höher, da alle Adjektive den exklusiven Charakter der einzelnen Kettenglieder unterstreichen. Durch die Adjektivauswahl und -steigerung entsteht eine enthusiastische, fast berauschte Stimmung. Der vollständige Genuss der Göttlichkeit vollzieht sich, im augustinischen Sinne, in der Ewigkeit, wobei durch das 99 Vgl. aber Neumann II (1993), S. 101 [V 25, 15 das si]: »Schon aus Z. 12 ergibt sich, dass in E der Parallelismus von das si gestört ist, wie dann auch z. T. in B; hier ist se in B kaum ein Rest von das si, sondern stehengebliebener Anfang von begonnenem seliger.«

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Saugen ein unmittelbarerer, intimerer Kontakt hergestellt wird und das gebruchen einen sinnlichen Akzent erhält, der durch die lustvolle Komponente des zweimal wiederholten wunneklich verstärkt wird, da Seele und Leib die Dreifaltigkeit offenbar lustvoller genießen können als andere, die zu Lebzeiten nicht soviel gelitten und entbehrt haben.100 Leiden und Genießen sind als Schmerz und Lust aufeinander bezogen und schließen hierdurch an die ersten Bücher an. Im Gegensatz zu den Stellen aus dem zweiten Buch (II, 3 und II, 19) findet wieder eine Verschiebung der Hierarchisierung statt, da der innige Genuss der Dreifaltigkeit an der Spitze der Aufzählung steht und zusätzlich durch das Saugen oder Trinken verstärkt wird – eine Form des Genießens, die erneut auf die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, die diese Saugbeziehung schmerzlicheindrücklich ausgestalten, vorausweist.101 Zwar geschieht das lustvolle Saugen oder Trinken hier im Himmelreich, während die Offenbarungen es mit einer radikal konzipierten Passionsmystik verbinden, doch sind beide Formen unabdingbar an die Intensität des Leidens und des Schmerzes gebunden. Diese Erweiterung des Genießens durch den lustvollen Vorgang des Saugens knüpft an den Gottesgruß aus dem ersten Buch an (I, 2, 35–1), der in Adern die dürre Seele durchströmt und durchfeuchtet und dadurch einen gemeinsamen Kreislauf zwischen Gott und Seele im Genuss herstellt.102 V, 30 greift verstärkt wieder an die Konzeption der sinkenden Liebe im Kontext der alles ertragenden Demut auf, indem es das inständige Bitten nach dem Genuss der Liebe mit einem ebenso intensiven Verlangen, dem zu entfliehen, verbindet. Es stellt deutliche Bezüge zur Gottesferne (IV, 12) und zum Prozess des Sinkens nach dem Aufsteigen auf den Berg (V, 4) her. Die paradoxe Grundfigur besteht darin, dass die liebende Seele das heftig Begehrte gerade wegen der Stärke ihres Begehrens als äußerster Liebesbeweis entbehrt. Die Passage, die von den zwanzig Wirkkräften der Gottesliebe handelt, inszeniert dieses Entbehren so kunstvoll, dass die Gegensätze des minne gebruchen und der minne vliehen ineinander aufzugehen scheinen. Die unterschiedlichen Anrufungen der Gottesliebe kommentieren sich gegenseitig ergänzend, indem sie eine unmittelbare Verschiebung markieren, was an IV, 12 anknüpft, wo die Seele

100 Dieser Steigerungsgedanke und die darin anklingende Exklusivität ist dagegen nicht Augustinus zuzuordnen, weist aber Parallelen zu den späteren Visioenen der Hadewijch auf, die von dem Gedanken einer elitären, in Liebe und Leid, Begehren und Genießen gleichermaßen kundigen Gemeinschaft/Gesellschaft durchzogen sind. 101 Do wart gesprochin minneklich: ›War umbe vorderst du trinkin von mir? Ist dir nit girlicher, daz ich alle zit min brinnenden turst waglich irkuele von der bluetgiezzindum runs ader dins krfflzes?‹ (Offb. 127, 5–10) Die göttliche Stimme gibt sich unersättlich und stillt ihren Durst unaufhörlich mit dem fließenden Blut des leidenden Ichs, was eine im Vergleich zum Fließenden Licht radikale Zuspitzung bedeutet. 102 Vgl. grundlegend hierzu Bynum, Fragmentierung (1996), S. 109–225.

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in einem Atemzug nichts außer Gott fordert und sofort bereit ist, das ersehnte Schmecken Gottes aufzugeben: O goetlichffl minne, wie sol ich din mit gedult enbern, so du mir wilt vroemde sin. Minne, das ist ein wunnenklich himmelsch homuot, das mir din vroemdi wol tuot. O wunderlichffl minne, wol selig der iemer, den du lerst; das ist sin wunnenklichestffl diemuetekeit, das er, vrovwe, dich es bittet, das du von ime kerest. Eya minne, wie kleine du der vindest, die dich mit aller maht in allen dingen suochent und mit stetem vlisse din gebruchent103 und die dich in minnenklicher gere heissent, das du von inen vliehest. Der ist aber vil, die dir mit dem munde rueffent und mit den werken von dir kerent. (S. 394–396; V, 30, 27–3)

Die erste Anrufung wirft die rhetorische Frage auf, wie man imstande sein könne, die Gottesliebe zu entbehren. Die zweite dagegen nimmt das Fernsein der Liebe auf, aber unter gänzlich anderen Vorzeichen, da die vroemdi jetzt ein lustvolles, himmlisches Hochgefühl weckt. Die semantische Umakzentuierung der vroemde/vroemdi findet im Satzkontext statt, der von der Unerträglichkeit des Fernseins zu dessen wohltuender Wirkung kippt. Die paradoxe Erkenntnis ergibt sich demzufolge aus zwei bejahten Sätzen, die Gegenpositionen vertreten, aber zugleich ineinander übergehen, indem sie die beiden äußersten Pole der Gottesliebe zeigen: den brennend verzehrenden Gottesgenuss und die allem untertänige Gottesferne. Eine vergleichbare Bewegung findet in den folgenden Sätzen statt, wobei die Gruppe derer, die sowohl zu dem leidenschaftlichen Genuss der Gottesliebe als auch zu dessen demütiger Aufgabe in der Gottesferne wie bei Hadewijch104 auf eine sehr kleine Anzahl beschränkt ist. In V, 35 erfolgt ein Dank- und Bittgebet des Ichs, das erneut das Gotteslob ins Zentrum stellt und um den richtigen Gebrauch aller Dinge bittet. Doch da die Bitte um den süßen Flug der Liebe ergänzt wird, mischen sich Spuren der Süße und damit des Genießens in diese Bitte: Eya und gib mir, herre, diner heligen drivaltekeit zuge in dem suessen minnevluge also, herre, das ich lobelich gebruche aller diner milten gaben und ich dich, suesse herre, des niemer bitte, das du mir, herre, zuo dinem lobe nit wellist geben, amen. (S. 408f.; V, 35, 8–12)

Somit soll alles ausschließlich Gottes Lob dienen, was eine Aufgabe des eigenen Willens impliziert, wenn das Ich darum bittet, nicht um etwas zu beten, was es nicht bekommen soll. Zugleich wünscht es sich, wieder von der göttlichen Dreifaltigkeit in einem Zug aufgenommen zu werden und von allen Gaben 103 Vgl. Neumann II (1993), S. 105 [V 30, 22f. suochent – gebruchent]: »Man wird hier an einen Reim elbostfäl. suken: gebruken denken müssen; vgl. STIERLING, S. 52 und LASCH § 159f.« Solche Suggestionen lassen die sprachliche Nähe zum mnl. ghebruken besonders stark hervortreten. 104 Vgl. Vis. XIII, 159–163.

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Gottes lobenswerten Gebrauch zu machen, sich zum einen richtig zu verhalten und zum anderen Gott damit zu verherrlichen. Dieses Bestreben, das im Fließenden Licht zwar von Anfang an gegenwärtig ist, scheint dennoch im Verlauf der einzelnen Bücher zuzunehmen, Gott auf jede mögliche Art und Weise zu loben und zu verherrlichen. Es richtet sich zunehmend von den Extremformen des Leidens und Genießens auf die einfacheren, schlichteren Anwendungen wie Lehren, Ermahnen, Ermutigen, was performativ in zahlreichen Kapiteln in allgemeinem Duktus vollzogen wird. Der Genuss braucht nicht mehr zwangsläufig leidenschaftlich und verzehrend zu sein, muss aber in jedem Fall ›richtig‹ sein, was zunehmend auf den Gebrauch ausgeweitet wird. Doch wird zugleich durch Adverbien und Adjektive wie wunneklich oder suesse der Bezug zum vorher sinnlich inszenierten Genießen gewahrt. Zusammenfassung Buch V Während in den ersten vier Büchern Extremformen wie Schmerz bis zur Gottesferne den Genuss intensivieren und überformen, nehmen die Ausprägungen der sinkenden Liebe in den nächsten beiden Büchern zu, die zunehmend das richtige Genießen ins Zentrum rücken und vom falschen Umgang mit den Dingen warnen. Spuren, die erst nach einer Augustinus-Lektüre vertraut vorkommen, werden stärker sichtbar bei Kombinationen wie lobelich gebruchen (V, 35, 9) und der sfflnden gebruchen (V, 1, 7f), die im sechsten Buch ausgeweitet werden. Selbst pragmatische Punkte der christlichen Alltagswelt erweisen sich nicht als zu geringfügig, um Gott zu verherrlichen, sondern Gott wird, entsprechend dem Demutskonzept, dadurch am meisten gelobt und gepriesen. Sämtliche dieser unterschiedlichen Facetten tragen zur Verherrlichung Gottes bei, wobei bereits in I, 27 ein Hinweis hierauf erfolgt, wenn es bei einer hierarchischen Aufzählung der drei Dinge, die den Menschen dieses hohen Weges der Erkenntnis würdig machen, heißt: Das dritte machet den menschen vollekomen in dem wege, das man allffl ding glichlich gotte ze eren tuo, wan min snoedeste notdurft wil ich vor gotte also hohe reiten als ob ich were in der hohesten contemplacie, da ein mensche in komen mag. Warumbe? Tuon ich es in einer liebin gotte ze eren, so ist es alles ein. Swenne ich aber sfflnde, so bin ich an disem wege nit. (S. 48f.; I, 27, 2–8)

Dieser Hinweis zeigt, dass vor Gott jeder und jedes gleich ist, die höchste Erkenntnis in der Schau ebenso wie die unbedeutendste Pflichterfüllung. Zusammen mit der Dankbarkeit für alles außer der Sünde und dem freiwilligen Verzicht auf alle vom Eigenwillen gesteuerten Dinge bilden diese drei Punkte einen Weg der Vollkommenheit, der aber erst allmählich im Verlauf des Fließenden Lichts seine volle Entfaltung erfährt und die Strahlkraft der genießenden,

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besonderen Einheit mit Gott ergänzt und überformt.105 In diesem Kontext spielen das fünfte und sechste Buch eine entscheidende Rolle, da in diesen beiden die Einheit zugunsten der Lehre und Fürsorge für die Mitmenschen in den Hintergrund rückt, ohne aufgegeben zu werden. Ebenso wie das vierte Buch durch das Entsinken in die Gottesferne die Bewegung der sinkenden Demut im fünften Buch vorbereitet, schließt das sechste Buch produktiv an Facetten der Süße und des Schmeckens im Genießen an, die zu den intensivierenden Momenten des Genießens gehören.

Der Sonderfall Buch VI – Korrektur und Festschreibung? Verschärfung und Verstärkung des richtigen gebruchens mittels augustinisch inspirierter Gegensatzpaare Das sechste Buch nimmt grundsätzlich eine Sonderposition im Gesamtgefüge ein, da es auch als Kommentar und Richtigstellung in Bezug auf durch die Geistlichkeit geäußerte Kritik zu verstehen ist und daher seine Linien sehr klar und seine Position überaus deutlich formuliert. Zumindest behauptet es das von sich selbst, was entweder dem Bild einer angefeindeten und unverstandenen Heiligen entspricht und/oder Aspekte der tatsächlichen Situation widerspiegelt. In diesen Kontext lassen sich zahlreiche Stellen zu gebruchen integrieren, die in markanter Weise Abgrenzungen und Unterscheidungen vornehmen, welche sich von den vorherigen Büchern rein quantitativ aufgrund ihrer rapide steigenden Anzahl absetzen. Hierbei nehmen die Übersetzungen von gebruchen mit Gebrauch machen oder gebrauchen deutlich zu, da die Angemessenheit des Gebrauch-Machens oder aber die Sündhaftigkeit verfehlten Genießens im Zuge der Unterscheidung und Festschreibung des ›richtigen Genießens‹ stärker zum Thema werden. Aufgrund der Themen- und Adressatenauswahl entsteht der Eindruck, dass das sechste Buch in vielfacher Hinsicht das politischste und konkreteste im Fließenden Licht darstellt. So erwähnt es nicht nur massive Anfeindungen, sondern ebenso oft ratsuchende geistliche Würdenträger und inszeniert sich in einer anerkannten und gefragten Rolle. Häufig verschärft sich der Ton oder es werden starke Trennlinien gezogen, was nach der in den vorigen Büchern erfolgten Auflösung und Unterlaufung aller Grenzen wie eine starre Festschreibung anmutet. Gleichzeitig inszeniert sich gerade dieses Buch nicht nur im Zusammenhang massiver Anfeindungen, sondern präsentiert sich, indem es oft 105 In Anlehnung an den Minneweg in I, 44 könnte man sagen, dass dieser Weg aufgegriffen und überformt wird, bis er sogar die Gottesferne und selbst die alltägliche Frömmigkeitspraxis miteinschließt.

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ratsuchende geistliche Würdenträger erwähnt, in seiner anerkannten und gefragten Position. Die erteilten Weisungen aus dem göttlichen Mund können exemplarischen Rang für die gesamte Hörer- und Leserschaft beanspruchen. So nimmt VI, 1 das im vorigen Buch zentrale Thema der Demütigkeit wieder auf und versetzt es in den Kontext hoher geistlicher Positionen (wie Prior/ Priorin und Prälaten), um seine Bedeutung für die Ausübung von geistlicher Macht herauszustellen. Dem Vorbild Christi folgend sollen geistliche Würdenträger Fußwaschungen für ihre Untergebenen vornehmen, bei den Kranken sauber machen und deren Notdurft entsorgen, also auch niedrige Dienste verrichten und ihre Pflichten gleichmäßig-freundlich versehen. Die sinkende Demut wird praktisch und konkret im Text praktiziert. Im Anschluss daran nimmt das Fließende Licht eine Umakzentuierung der Einheit vor, indem der Text eine Konzeption der Eins-Werdung mit der Trinität vorführt, die in der Hauptsache darauf ausgerichtet ist, allffl ding, dffl gotte loblich sint und dem menschen muglich sint zu tuende. Diese drei Dinge umfassen Gebet, Arbeit und Dienst am Nächsten, durch welche die Dreifaltigkeit verherrlicht wird. Der Text spielt die Vergöttlichung des Menschen im Kontext einer unaufhörlich gelebten Demütigkeit in allen drei Aspekten durch, wenn es in parallelistisch gebauten Konditionalsätzen heißt: Swen der mensche bettet in cristanem gelovben mit einem also demuetigen herzen, das er enkein creature beniden im enmag erliden, und mit also ellendiger sele, das im allffl ding muessent entwichen in sime gebette ane got alleine, so ist er ein goetlich got mit dem himmelschen vatter. […] Swenne aber der mensche erbeit in rehter nutz durch ware not mit der selben liebin, da er mitte gebettet hat, so ist er ein menschliche got mit Christo. […] Swenne ‹der mensche alleine› dur gotz liebi und nit durch irdensche miete den tumben leret und den sfflnder bekeret und den betruebten troestet und den verzwivelten wider zuo gotte bringet, so ist ein geistlich got mit dem heligen geiste. Eya, der vil selige mensche, der allffl ding, dffl gotte loblich sint und dem menschen sint mugelich ze tuende – das er die tuot in glicher liebi got ze lobe mit steter meinunge alles sines herzen, so ist er ein gantz persone mit der heligen drivaltekeit. (S. 424f.; VI, 1, 15–20; 24–26; 29–38)

In das Konzept der Unio wird in dieser Passage nicht nur das exklusive Verhältnis der Seele mit Gott, sondern zugleich der Dritte eingeschrieben, denn die Seele gewinnt das Eins-Sein mit Gott durch den unermüdlichen, untergebenen Dienst am Nächsten, der immer auf Gott als einzigen Fixpunkt hingeordnet bleibt. Der Mensch vollzieht alle drei Teile der Dreifaltigkeit an sich selbst nach und vergöttlicht sich sowohl menschlich als auch göttlich: Im Gebet muss man vor Gott ganz und gar entblößt und hingegeben sein, um zum göttlichen Gott mit Gott zu werden; und wenn der Mensch eine notwendige Arbeit mit derselben Einstellung verrichtet, so wird er ein menschlicher Gott mit Christus. Lehre,

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Bekehrung und Trost, also der Dienst am Mitmenschen, der allein um Gottes willen ausgeführt wird, macht ihn zum geistlichen Gott mit dem Heiligen Geist. Zusammenfassend vereinigt ihn alles, was er tut, um Gott zu verherrlichen, mit der Dreifaltigkeit. Dadurch wird der Genuss Gottes entscheidend ergänzt, denn der Mensch soll nicht allein nach dem Genuss Gottes, sondern insgesamt nach seinem Willen leben und handeln, so bleibt er mit ihm vereint. In dieser Passage fällt auf, dass der Akzent nachdrücklich auf das Tun gelegt wird, was einen pragmatischen Aspekt stärker in den Vordergrund rückt. Das Versunken-Sein in Gott wird konkret und praktisch, dabei aber so unauffällig, dass diese Extremform der Heiligkeit als geradezu durchschnittliche Frömmigkeit erscheint – Dinge wie regelmäßig seine Gebete sprechen, seine Arbeit verrichten und sich um den Nächsten kümmern. Was in I, 27 behutsam angedeutet wird, gewinnt ab dem fünften Buch eine ausführliche und performative Ausgestaltung, die sich im sechsten Buch noch einmal verstärkt, da extreme Zustände wie gebruchunge und vroemdunge erneut überstiegen werden, um pragmatischer Frömmigkeit das Wort zu reden. Diese ließe sich nach jubilus und alienatio als Präferenz der vita activa verstehen, in der sich das Genießen Gottes performativ im Tun realisiert.106 Gleichzeitig werden aus den ersten Büchern bekannte Bilder und Themen – wie der göttliche Gruß, das maßlose Liebkosen durch den göttlichen Partner bis zur Schwäche der Seele, die Durchdringung von Leib und Seele mit der göttlichen Süßigkeit, die Liebeskrankheit als Chiffre des heftigen, unerfüllten Begehrens – in einer Art Bekenntnisbericht des liebenden Ichs direkt im Anschluss aufgenommen.107 In VI, 2 werden erneut Verhaltensregeln formuliert, dieses Mal für einen Kanoniker, dem das sprechende Ich auf Weisung des göttlichen Mundes drei Punkte verkündet. Allgemein verlangt seine gerunge, wie schon in VI, 1, nach einem sinkendig ze diemuetigen lebene. Das in IV, 12 entfaltete Sinken der liebenden Seele, welches die Extremform der Gottverlassenheit einleitet und fortsetzt, wird nun in andere Zusammenhänge gestellt, die stärker von der Alltagswelt anstatt von dem Ausnahmezustand geprägt sind. Daher wird die sinkende Demut gemäß dem Verlangen des Kanonikers konkret kontextualisiert, wozu die pragmatischen Details wie genaue Anweisungen, wie man sich zu kleiden und nachts zu betten hat, entscheidend beitragen. Des Weiteren erfährt er folgende göttliche Botschaft durch die Vermittlung des Ichs, die zugleich 106 Vgl. hierzu Hasebrink, Gegenwart im Klang? (2011). 107 Vgl. FLVI, 1, 16–24: Da verlfflret dffl sele alle ir schulde und allen iren jamer, und so beginnet er si ze lerende allen sinen willen, so beginnet si ze smekende sine suessekeit. Und so beginnet er si ze gruessende mit siner gotheit, das die kraft der heligen drivaltekeit ir sele und iren lip alles durgat, und da enpfat si die waren wisheit. Und so beginnet er si ze trffltende, das si krank wirt, so beginnet si ze sugende, das er minnesiech wirt. Und so beginnet er die masse ze temperende, wan er ir masse bas bekennet denne si selber.

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fordert und verspricht. Erneut wird an die bereits seit dem vierten und fünften Buch prägende Süße angeknüpft, dieses Mal aber unter eindeutig abgrenzenden Vorzeichen: »Er sol betten iemer alsemer als ane underlas nach pfaeflicher ordenunge. Da zuo wil ich im geben mine goetlichen suessekeit; der sol er gebruchen in dem einoete sines herzen.« (S. 432f.; VI, 2, 16–19)

Das einsame Gebet, das sich allein auf Gott richtet, findet in der Verlassenheit des Herzens statt und soll durch die göttliche Süße im wahrsten Sinne des Wortes versüßt werden. Erst in der Öde des Herzens, in dem einzig für Gott Raum ist, kann seine Gegenwart wirken. Hier zeigt sich erneut die enge Verbindung von Süße, Genuss und Schmecken. So empfiehlt die Kleider- und die Schlafordnung ein hartes Gewand direkt auf der Haut wider die manige suessekeit, die er in siner hut enpfangen hat (S. 432f.; VI, 2, 27f.); süße Empfindungen, die man etwa durch irdische Dinge gewinnt, sind in jedem Fall zu vermeiden. Die Süße Gottes und die Süße der Welt werden einander diametral entgegengesetzt: Wo das eine ist, kann das andere nicht sein. Nur die Zuordnung entscheidet über die Qualität der Süße, denn als süß empfindet man die Lust der Welt ebenso wie die an/in Gott. Das Gleiche gilt für Genuss: Sowohl Gott als auch die Welt können ihn schenken, doch nur der eine ist richtig, während der andere zur Verdammnis führt. Vor allem das sechste Buch scheint von dem Anliegen durchdrungen, Unterscheidungen vorzunehmen und Richtlinien zu geben: Die glose sprichet fflnser herre: »Swer des geret, das ich im rehte smeke, dem sol iemer ze allen ziten an allen dingen eisen vor dem smeken sines vleisches, da das herze spilet mit heimlicher wollust.« (S. 434f.; VI, 2, 15–18)

Der Verführbarkeit durch die Genüsse des Leibes soll der Kanoniker dahingehend entgegenwirken, dass er genügsam isst, alleine schläft, sich in weltlicher Gesellschaft unauffällig verhält und seinem Beichtvater in allen Stücken gehorsam ist. Allem, was demnach weltliche Lüste hervorrufen könnte, wie gutes Essen oder sinnliche Liebe, muss mit äußerster Zurückhaltung begegnet werden. Denn der Genuss Gottes im Schmecken und der Genuss physischer Freuden schließen einander wechselseitig aus, da das Herz bei Letzteren mit verborgener Wollust teilhat. Das Herz aber soll allein Gott zugehören, weshalb zuvor die einoete verlangt wird, um Gottes Süße zu kosten. Diese deutliche Abgrenzung von irdischen und göttlichen Genüssen auf der Ebene von Geschmack und Schmecken soll im dritten Teil als Bestandteil der impliziten Semantik des Textes, die sich, so wie hier, häufig mit expliziten Ausdrücken vermischt, zusätzlich ergänzt werden. Doch obwohl die sinnliche Komponente des Genießens gerade im sechsten Buch zurücktritt, bleibt sie paradoxerweise durch den synästhetischen Schmelz der Süße im Text präsent.

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Die Bewahrung der Sinne vor irdischen Dingen und der damit verbundenen permanenten Gefährdung war bereits im fünften Buch ein Thema, erhält aber nun ein verstärktes Gewicht durch die Wiederholung in unterschiedlichen Zusammenhängen. So stehen in VI, 3 die Domherren anlässlich der Ernennung eines neuen Dekans im Zentrum von Mahnung, Tadel und Weisung. Durch dreierlei können die Domherren, über die gesagt wird, dass ihr vleisch stinket von der unkfflscheit (VI, 3, 6f.), zu kleinen Widdern werden, da sie Hörner haben, die ihre geistliche Macht symbolisieren. Über die Ausübung dieser Gewalt wird gesagt, dass sie einen heiligmäßigen oder heilbringenden Gebrauch von ihr machen sollen. Anstatt unkeusche Böcke zu sein, sollen die geistlichen Domherren rein wie Lämmer werden und ihre geistliche Macht richtig anwenden, was das Bild der Widder verdeutlicht: Die horn das ist geistliche gewalt, der si heilekliche gebruchen zuo gottes lobe. Man sol wesen stark und getrfflwen volleklichen gotte, wan er sprichet: »Ich wil selber dis herren schulde helfen gelten mit gelfflke.« (S. 436f.; VI, 3, 16–19)

Das Verb gebruchen unterscheidet hier den richtigen Gebrauch der Macht implizit vom falschen, der durch die Hauptsünde der luxuria (unkfflscheit) gekennzeichnet wird und Genuss erneut dort sucht, wo er nicht sein soll. Zugleich nimmt gebruchen Bezug auf konkrete Angelegenheiten der Kirchenpolitik und das Verhalten ihrer Führungskräfte; ein Aspekt spiritueller Verantwortung, der in den späteren Büchern zunehmend Gewichtung gewinnt.108 Insgesamt traten solche eher alltäglichen wirkenden Belange hinter der Thematisierung von unio und gotz vroemedunge in der Forschung häufig zurück. Obwohl die letzten Bücher im Vergleich zu den ersten weniger schillernd wirken, könnte man sie unmittelbar als Bestandteil einer erweiterten Einheit (wie in VI, 1 vorgestellt wurde) begreifen. Diese Einheit ist nicht mehr ausschließlich auf das eigene Genießen ausgerichtet, sondern umgreift stattdessen den bedürftigen Mitmenschen ebenso wie die marode Geistlichkeit.109 Zu Beginn von VI, 4 klagt das Ich wegen seiner Sündhaftigkeit und seiner Bereitwilligkeit, sich durch irdische Dinge zu einer sündhaften Gier, viel zu haben oder lange zu genießen, verleiten zu lassen. Erneut nimmt der Text Bezug auf den richtigen Umgang mit der Verführbarkeit der Sinne und rät als Hüter Zurückhaltung und Furcht an, um dieser Gefahr entgegenzuwirken: Darumb muos ich ane underlas zwene huoter setzen zwfflschent mine sele und allffl irdenischffl ding, das mir die an minem vleische nit mere smekken denne also vil, als min armffl notdurft bewiset. Si bewarent ovch mine sinne, das mich disffl irdenschffl ding nit verleiten in ein girekeit vil ze habende oder lange ze bruchende. 108 Vgl. Heimbach-Steins (1989), S. 127–161. 109 Vgl. Andersen, Mechthild von Magdeburg (1996).

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Der eine huoter das ist die bescheidenheit, die alle dinge ordenet ze bruchende vollekomenliche nach dem willen gottes, also das der mensche iemer ein vroemedes herze hat zuo allen irdenischen dingen und also vroemde, eb der mensche irdenschffl ding verlfflret, das im denne sin herze also lihte wirt und sin sele also vri und sin sinne also unbekfflmbert, das im rehte also wol ist in gotte, als eb im sin allerliebster vrfflnt hette sin allerswerest burdin abgenomen. Wand swelich menschen irdeschffl ding nit ein swere burdin sint, der mag vor gotte nit heissen ein warer geistlich mensche. Darumbe sprach fflnser herre alsust: »In noeten gebruchet man aller dingen rehte, wand das guot armuete das ist nothaftig, darumbe ist es helig, und da mag die fflbermasse keine vinsternisse bringen in die sele.« (S. 436–438; VI, 4, 26–16)

Die Verbform gebruchen durchzieht die gesamte Passage, in der es insgesamt dreimal fällt. Zusätzlich verstärkt wird die explizite Semantik durch implizite Bezüge wie das smekken. Die Spannung zwischen dem angemessenen und dem sündhaften Gebrauch beziehungsweise Genuss verschärft sich. Irdische Dinge dürfen nur verwendet werden, um die notwendige Bedürftigkeit zu stillen, keineswegs aber, um Lust zu erzeugen, die allein dem Umgang mit Gott bestimmt ist. Zwischen den verführbaren Sinnen, dem gierigen vleische und der Seele sind demnach die Bescheidenheit und die Furcht als Hüter aufgebaut, die zugleich wie eine Glasscheibe einen zu unmittelbaren und vor allem zu ausführlichen Kontakt verhindern. Weder soll Maßlosigkeit einbrechen noch eine Intensität durch Dauer entstehen, dagegen hat man die irdischen Dinge als einen schweren Ballast zu empfinden, was als ein Kennzeichen für geistliche Menschen geltend gemacht wird. Interessanterweise fällt an der Stelle der huoter, den man vornehmlich aus Gottfrieds Tristan oder dem Minnesang kennt; er ist hier aber positiv konnotiert, da er die Seele schützt. Einer der huoter ist die Bescheidenheit, welche alle Dinge so anordnet,110 dass sie genau entsprechend Gottes Willen benutzt werden können, nämlich indem das Herz des Menschen von diesen Dingen abgewandt und fern bleibt,111 ohne ihnen zu verhaften. Deshalb kommt der Armut in diesem Kontext eine wichtige Rolle zu, denn sie macht so bedürftig, dass man alle Dinge lediglich für die notwendigste Befriedigung benutzt, ohne darüber hinauszugehen. Zugleich verhindert die Furcht als anderer Hüter die Freude an irdischen Dingen, indem sie deren Versuchungs- und Gefährdungspotential für die Seele kenntlich macht. Denn das smeken gotz suessekeit kann mit den anderen Gnadengaben wie Friede oder Barmherzigkeit völlig verloren gehen. Die irdischen Dinge werden als unmittelbare Bedrohung für die unvergänglichen Güter dargestellt und in einer diametralen Opposition miteinander scharf konstrastiert, denn wo das eine 110 Bevorzugung der Übersetzung »Bescheidenheit« statt »Klugheit« wie bei Gisela VollmannProfe. 111 Eine weitere Variante der vroemdeunge, die sich jetzt auf die weltlichen Dinge erstreckt.

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lustvoll gekostet wird, kann das andere nicht sein. Die Süße Gottes und die irdische Lust bleiben klar voneinander getrennt.112 Besonders hier zeigt sich die Verschiebung der Akzentuierung im Genießen: Nicht mehr das Genießen Gottes ist das Hauptthema, sondern das richtige im Gegensatz zum falschen Genießen. Auch in VI, 13 steht die Blockade geistlicher Menschen durch ihre äußerlichen Sinne im Mittelpunkt, denn anstatt dass sie sich von der unmittelbaren Vertrautheit mit Gott (goelichen innekeit) entzünden lassen, folgen sie dem Rat ihrer Sinne, die auf ihren Nutzen in den äußeren Dingen verweisen. In dialogischer Form beschreibt das fürbittende Ich Gott gegenüber die verfehlte Auffassung von Weisheit jener geistlichen Menschen folgendermaßen: »Si sprechent, herre, es si wisheit, das man den lichamen spari: Wan din goetlich atem, der us von diner heligen drivaltkeit also suesse har nider swinget und dur die sele so kreftekliche dringet, das der lichame verlfflret alle sin maht, so ist der mensche unberhaft.« (S. 456f.; VI, 13, 24–29)

Verfehlterweise weisen hier ausgerechnet die geistlichen Menschen die in den ersten Büchern vorgeführte Überwältigung und Vernichtung des Menschen in der göttlichen Umarmung von sich, denn sie wollen ihren Leib schonen, anstatt ihn in der Gegenwart Gottes verzehren und entkräften zu lassen. Anstatt wie in I, 44 die Ratschläge ihrer Sinne als der feurigen Seele nicht gemäß zurückzuweisen, geben sie ihnen als einer Form von Weisheit nach. An der Stelle wird zugleich ein starker Bezug zum ersten Buch hergestellt, doch unter Verschiebung von Kontext und Akzent: Anstatt die Relation einer geheimnisvollen Einheit zwischen menschlichem und göttlichem Partner zu zeigen, die Körper und Seele gleichermaßen, doch in unterschiedlicher Beteiligung umgreift, stehen nun die Mitmenschen im Mittelpunkt. Hier handelt es sich um die tadelnswerte Geistlichkeit, die sich dieser göttlichen Nähe aus Sorge um den Körper verweigert und dem einseitigen Rat der Sinne folgt.113 Gott bezeichnet daraufhin seine Gnadengabe als die Speise eines Königs, die erst nach der irdenische notdurft vorgesetzt werden solle, da seine sunderlichffl 112 Vgl. ergänzend dazu Neumann II (1993), S. 113 [VI 4, 23 angel]: »Auch hier steht der verborgene Angelhaken wie so oft im Gegensatz zur vordergründigen Süße der irdischen Dinge.« Neumann verweist im Zusammenhang mit dem Bild der Angel auf die doppeldeutige Süße der irdischen Dinge, vor der man sich dem Fließenden Licht zufolge hüten solle, was besonders im fünften und sechsten Buch zu einer zentralen Thematik entfaltet wird. 113 Es ist ein großer Kontrast, ob der Mensch selbst oder Gott seinen Leib schonen möchte, da als Maßstab vor allem die Übereinstimmung mit Gottes Willen gilt. Stellen wie II, 25, V, 4 oder VII, 8 zeigen, dass gebruchunge und gebruchen sich unterschiedlich vollziehen können, schonungslos oder rücksichtsvoll, dass aber Gott darüber entscheidet und keineswegs der Mensch.

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gabe dem menschen an sele und an libe eine sunderliche wirdkeit gewähre (VI, 13, 30–33). Deutlich wird hier zwischen der göttlichen Gabe und den irdischen Bedürfnissen unterschieden, die erst gestillt sein müssen, bevor der Mensch für den Empfang der ihn auszeichnenden und erhebenden Gnade bereit sei. Gottes Gnade aber vollzieht sich ganz nach seinem Willen, den das Ich nur durch das fortwährende Verbunden-Bleiben erkennen kann, wobei die Schmelzmetaphorik implizite Verweise zur Einheit transportiert. Hierbei werden Akzente aus den früheren Büchern mit denen der späteren produktiv verbunden, da zu bestimmten Zeiten Gottes Willen entsprechend sowohl der göttlichen, überwältigenden Liebkosung nachgegeben als auch Tätigkeit für die Sünder und für diejenigen im Fegefeuer entfaltet werden soll. Diese Weisung erhält eine unedle Seele durch folgenden emphatischen Ausruf: Owe unedel sele, wie mahtu das erliden, das du got von dir wisest, e du in wol genffltzet hast nach sinem willen – wan sin hoehstffl wollust in dir verborgen ist. Wiltu wissen, wie du die helige gotz gabe nffltzen solt und die verzern nach gotz willen? Ja, si sol es dich selber wol leren, ist si dir willekomen. […] Si sol dich smelzen also tief in got, das du sinen willen erkennest: Wie lange du volgen solt siner noetlichen trffltunge an dir selben und ze weler zit und wie du arbeiten solt ffflr die sfflndere und ffflr die in dem vegeffflr sint, und besehen iegeliches menschen not, er si lebende oder tot. (S. 458f.; VI, 13, 5–10; 13–18)

Anstelle des doppeldeutigen gebruchen wird hier das eindeutige nffltzen verwendet, um den Aspekt des Gebrauchens herauszuheben, obgleich diese Form, Gott zu nutzen, mit einer tiefen Lust seinerseits verbunden ist. Besonders diese Stelle zeigt, dass deren VerfasserIn mit der augustinischen Terminologie beschlagen gewesen sein muss, in welcher die Frage erörtert wird, inwiefern Gott als das höchste Wesen, das sich unaufhörlich selbst genießt und von niemandem abhängt, den Menschen genießen könne. Als Antwort darauf wird entwickelt, dass Gott den Menschen, der ihn über alles setzen soll, nutze, und dieser Nutzen wiederum schlage dem Menschen zu dessen Heil und Wohl aus. In einer kühnen Abwandlung, die zugleich die wechselseitige Ebenbürtigkeit von Mensch und Gott in der Verschmelzung zeigt, entsteht Gott selbst von dem nffltzen des Menschen hoehstffl wollust. Ausdrücke wie wollust, smelzen, trffltunge tragen entscheidend zur Versinnlichung bei, so dass besonders in dieser Passage verschiedene Elemente aus den einzelnen Büchern kunstvoll miteinander verdichtet sind, wie fürsorgende Lehre und überwältigender Genuss. Durch die erstmalige Wieder-Verwendung von gebruchunge signalisiert der Text seine eigenwilligen Doppelbezüge zwischen den verschiedenen Büchern auf der Bezeichnungsebene, da die Substantivform in den ersten Büchern für den Genuss zwischen Gott und Mensch in seinen dynamischen Bewegungen verwendet wird. Durch Ausdrücke des Ermüdens durch die Stärke der Lust und die

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den Genuss begrenzende Bindung an den Körper integriert der Text die beiden aus den vorigen Büchern bekannten Pole Lust und Schmerz wieder in eine organische Einheit. Aspekte der Lehre und Fürsorge aus den späteren Büchern werden dabei nicht aufgegeben, sondern produktiv eingeschmolzen, da sich die ganze Passage an ein Du richtet (VI, 13, 8f.), dessen Anrede hier beibehalten wird: Alse du dis hast vollebraht inwendig nach gottes wollust114 und nach diner sele maht – wan si wirt muede in ir selber, die wile si ist in irme toetlichen lichamen behaft –, ›sprichet dffl sele nach dirre gebruchunge‹ alsus: »Herre, vlfflch nu von mir inwendig und stant bi mir uswendig, also das allffl min werk schinen nach diner gabe und ich gerne lide und noete kumber klage.« (S. 458f.; VI, 13, 19–25)

Wenn die Seele nach dem Genuss den göttlichen Partner dazu anhält, sie jetzt zu verlassen, aber ihr doch in ihren Leiden beizustehen, um ihre Werke leuchten zu lassen, liegt eine Verbindung aus trffltunge/wollust und arbeiten/liden vor. Denn nachdem sie ihr Zusammensein mit der Göttlichkeit genossen hat, kehrt sie zurück in eine Welt des Leidens und der Mühe, doch in dem Bestreben, Gott genau dadurch zu verherrlichen, was an die sinkende Demut aus dem fünften Buch anknüpft. Daher stellt besonders diese Stelle eine dichte Verquickung aus Elementen der verschiedenen Bücher dar, die trotzdem eine eigene Akzentsetzung vornimmt, indem Lehre und Genuss miteinander einhergehen. In VI, 28 spielen im Kontext eines zehnfachen Abschieds vor dem Sterben wieder die irdischen Dinge eine Rolle, denn das Ich äußert eine Klage darüber, diese nie angemessen der göttlichen Ordnung entsprechend gebraucht zu haben, was erneut deutlich zeigt, was für eine Gefährdung hiervon für den Menschen ausgeht, da durch das Verhältnis zu den irdischen Dingen zugleich das der göttlichen beeinflusst wird: Ich nim urlop zuo allen irdenischen dingen. Ich klagen got, das ich ir nie gebruhte nach siner heligen ordenunge. (S. 486f.; VI, 28, 26f.)

Als zugleich allgemeines Gebet konnte es allen entsprechend disponierten Rezipienten auf Wunsch als Vorlage dienen, ihre Verhältnisse zu Gott und der Welt zu orden oder zu ›begradigen‹. Die helige ordenunge entspricht dem allgemeinen Duktus zufolge wohl der inneren Abgewandtheit und Entfremdung von irdischen Genussquellen, die nur für das Nötigste erschlossen werden dürfen. In VI, 29 sind die irdischen Dinge, die eine poinitierte Rolle im gesamten Buch spielen, in eine Allegorie des göttlichen Feuers eingebettet, das in seinen zehn 114 Vgl. hierzu Neumann II (1993), S. 119 [VI 13, 43 Alse – wollust]: »Die lat. Tradition ist hier offenbar verdorben; auch Rw wan sye sich also brucht (181r) ist nicht ohne Anstoß, denn man erwartet wan sye sye (die Umarmungen) also brucht ›wenn sie sie so genießt‹; vgl. LEXER 1, 362 und SCHL I, 437a, 1ff. s. v. bruken (LB I s.v.).«

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Erscheinungsformen geschildert wird: Funken, Schein, Kohlen, Fünkchen, sein Meister, sein Rauch, seine angenehme Wärme, seine Bitterkeit und sein Glanz, die, dem Modell der Enneaden entsprechend, aus dem Feuer herausgehen und auch wieder dorthin zurückkehren. Jede Erscheinungsform wird entweder den Engeln, den Heiligen, Christus, den Seligen, der Dreifaltigkeit, der Lust an der Göttlichkeit oder aber dem jüngsten Gericht oder den irdischen Dingen zugeordnet, während das Feuer selbst die fließende Dreifaltigkeit und ihr Wirken illustriert. Daher soll der Mensch sich ins Feuer legen und die Göttlichkeit sehen und erkennen. Über Rauch und Wärme des Feuers wird Folgendes gesagt: Dis vfflres rovch sint allffl irdenschffl ding, der man dike gebruchet mit unrehtere115 wollust. Wie schone si lfflhtent in fflnsern ovgen, wie lustlich si spilent in fflnserm herzen, si tragent doch vil manige bitterkeit in inen verborgen, wan si versindent als ein rovch und machent blint die hohesten; ja, sie machent ovch suroegede die heligosten. Das gemach dis vfflres das ist die wunnenkliche wollust, die fflnser sele innewendig enpfat von gotte mit so heliger wermin des gotlichen vfflres, das wir hie burnen wider in dem gotlichen ffflre und mit tugenden bestan, das wir nit erloeschin. (S. 490f.; VI, 29, 7–17)

Die Flüchtigkeit der irdischen Genüsse wird in dem Bild des Rauchs, der als Feuer erst schön leuchtet und dann als Rauch in den Augen beißt, dargestellt. Diese unerlaubte Lust (unrehtere wollust) trägt vielfache Arten der Bitterkeit in sich verborgen, denn sie verflüchtigen sich und schädigen selbst die heiligsten Werke. Dagegen bietet die Annehmlichkeit des Feuers eine freudige Lust (wunnekliche wollust), welche die Seele mit der Wärme des Feuers empfängt und von dem Brand des göttlichen Feuers entzündet wird. Auch hier operiert der Text mit durch Adjektive gekennzeichneten Gegensatzpaaren einer verfehlten und einer freudigen Lust, was sich unmittelbar an den richtigen und den sündhaften Gebrauch oder Genuss einer Sache anschließt. Es ist in Bezug auf gebruchen/ gebruchunge das Grundthema des sechsten Buches, das in zahlreichen Variationen durchgespielt wird, was seine Gewichtung durch die Wiederholung betont. VI, 30 thematisiert im Rahmen der reinen Gottesliebe, welche vier Kennzeichen aufweist, erneut den angemessenen Gebrauch der von ihm geschenkten Gaben: Man soll man gänzlich mit ihm übereinstimmen (eintrachtig si mit gotte, VI, 30, 2), dann ordenlich gebruchen der gabe, die wir von gotte haben an lip und an sele (VI, 30, 3–5), einen sowohl Leib und Seele einschließenden richtigen Gebrauch von allen Dingen machen, schließlich rein und frei von Sünde leben (luterliche leben in guoten siten ane alle sfflnde VI, 30, 6f.) und zuletzt sämtliche Tugenden in sich vereinen (alle tugenden an fflns haben VI, 30, 7f.). Sowohl der falsche Genuss als auch der richtige Gebrauch der irdischen Dinge stehen ab115 Vgl. Neumann II (1993), S. 130 [VI 29, 23 unrehtere]: »Alte mnd. Suffixform; vgl. SARAUW 2, 80.«

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wechselnd im Fokus des Textes, denen als Kontrastfolie das Genießen Gottes mitunter wie in VI, 13 untergelegt wird. Im zweiten Teil folgt eine leidenschaftliche Bitte um die Verwirklichung der Tugenden in allen Angelegenheiten, was weitaus höher als alle die contemplacie angesetzt wird, denn: Was helfent hohffl wort ane barmherzigffl werk, was hilfet liebin zuo gotte und grimmi zuo guoten lfflten? So sprichestu: »Gebe mir es got, ich tete es gerne.« Hoere nu: Die tugende sint halb gabe von gotte und halb sint si tugende an fflns. Swenne fflns got gibet bekentnisse, so soellen wir der tugenden gebruchen. (S. 492f.; VI, 30, 11–16)

Ohne die entsprechenden Werke gelten die hohen Worte nichts,116 genauso wie die Liebe zu Gott ohne die Liebe zu rechtschaffenen Menschen nichts zählt. Die Tugenden werden als etwas dargestellt, das halb von Gott und halb aus dem Menschen selbst kommt, daher soll er sich, wenn Gott ihm Erkenntnis schenkt, der Tugenden befleißigen. Besonders der Ausdruck der tugenden gebruchen mutet wie eine volkssprachliche Augustinus-Umschrift an, durch welche die vorher geprägte Trias aus Lieben, Erkennen und Genießen nun ergänzt wird. Hier tritt eine Art Alltagspragmatik an die Stelle der hohen Gnadenerlebnisse, eine konkrete Umsetzung wird der außergewöhnlichen Erkenntnis als ebenbürtig beigestellt. Eine schlichte Frömmigkeitspraxis zählt mindestens ebensoviel wie die herausragendste Kontemplation Gottes, was einen zentralen Akzent ausdrückt, auf den das sechste Buch insistiert – warum, darüber kann man nur spekulieren: Zwang von außen, Einsicht von innen? Neue Impulse, veränderte Umgebungen? Ein verschobenes Produktionsensemble, andere Rezipienten? Diese Arbeit möchte solche Fragen nicht beantworten, doch könnte sich das sechste Buch für historisch orientierte Forschungen besonders aufschlussreich erweisen. Der Gehorsam Gott gegenüber als Übereinstimmung mit seinem Willen selbst in der geringfügigsten Alltagspraxis wird zum Grundtenor, ja, zum Programm des sechsten Buches: Das (scheinbar) Unbedeutende wird bedeutend. In VI, 31 wird die aus den ersten Büchern bekannte Verbindung aus Gott lieben, Gott erkennen und Gott genießen wieder aufgegriffen und um Gott gehorchen erweitert, was das vorige Kapitel produktiv ergänzen könnte: Gehorsam als praktizierte Tugend.117 Das Kapitel schildert die Kugelgestalt Gottes vor aller Schöpfung und die Erschaffung der Geschöpfe selbst, deren Bestimmung beim

116 Wird hier etwa eine Rücknahme oder Gewichtsverschiebung der in den ersten Büchern entfalteten hohffl wort oder hovesprache zugunsten entsprechender Werke angezeigt? 117 Vgl. hierzu Heimbach-Steins (1989), S. 91–104, wo sie die »Ausprägung einer Tugendethik« im Fließenden Licht entwickelt. M. E. werden Bezüge zu vorigen Büchern hier zu rasch freigegeben und daher übersehen, weil sie im sechsten Buch nur verhalten und implizit auftreten.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Menschen in seinem Gottesbezug liegt, bei den Tieren dagegen, um ihrer Natur gemäß zu leben: Do got schoepfer wart, do wurden alle creaturen an in selben offenbar : der mensche, got ze minnende, ze gebruchende und ze bekennende, gehorsam ze blibende; vogel und tier, ir nature ze pflegende; die toten creaturen, ze stande in irme wesende. Nu hoere: Was wir erkennen, das ist alles niht, wir minnin denne got ordenlich in allen dingen, als er selber allffl ding in ordenlicher minne geschaffen hat und fflns selben minne gebotten und geleret hat. (S. 494f.; VI, 31, 29–33)

Die Gottesliebe dient als die Basis aller Erkenntnis, denn die Liebe ist der Ursprung der Schöpfung und zugleich göttliches Gebot und Lehre. Im Zusammenhang mit der Gottesliebe spielt die göttliche Ordnung eine bedeutende Rolle, weswegen der Mensch Gott in allen Dingen dieser Ordnung entsprechend zu lieben und den Gottesbezug über alles andere zu stellen hat. Auch die Ordnung wird zu einem Grundprinzip – Genießen nach Gottes Ordnung ebenso wie das Gehorchen entsprechend seiner Ordnung. VI, 32 thematisiert die Frage, inwiefern man Gott, der Muttergottes, den Engeln und den Heiligen gleich werden kann. Das basale Thema des richtigen Genießens und Gebrauchens wird in allen möglichen Kontexten pragmatisch durchgespielt oder in allen denkbaren Zusammenstellungen erörtert. In Bezug auf das Vorbild der Propheten und der heiligen Väter heißt es, man solle Sehnsucht danach haben, Gott zu verherrlichen, Erkenntnis in der Begnadung zu erlangen und den Willen Gottes zu erfüllen, so werde man den begehrten Vorbildern gleich, die sich mit großen Tugenden zu einem gottgefälligen Leben zugerichtet haben: Also vil als wir gerunge haben nach gotz lobe, bekantnisse in der gabe, ordenliche gebruchunge des willen gotz, also vil glichen wir den propheten und den heligen vettern, die sich mit grossen tugenden getwungen hant in gotte. (S. 496f.; VI, 32, 27–30)

Der Genuss (ordenliche gebruchunge) versteht sich somit als angemessenes Handeln, indem man den göttlichen Willen erfüllt, was direkt an die obige Passage anknüpft. Die grundsätzliche Tendenz des sechsten Buches besteht darin, sich nach Inszenierung der emphatischen Formen in den ersten Büchern nun verstärkt den pragmatischen Formen der Gottesliebe, der Gotteseinheit und des Gottesgenusses zu widmen. Hierbei ist auch ein Bestreben erkennbar, die unterlaufenen Grenzen der ersten Bücher wieder festzuschreiben. So werden in VI, 36 die Dichotomien zwischen göttlich – menschlich und vleischlich – geistlich überdeutlich etabliert, um jedem etwaigem Missverständnis entgegenzuwirken.118 Vor allem Aussagen aus II, 4, in welchem Johannes der Täufer für das 118 Vgl. hierzu Peters (1988), S. 54, Anm. 25.

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arme Mädchen eine Messe singt, werden in diesem Kontext wieder aufgegriffen und folgendermaßen korrigiert: Das Johannes Baptista der armen dirnen messe sang, das was nit vleischlich, es was also geistlich, das die sele alleine beschowete, bekante und gebruchte. Aber der licham hatte nit da von, denne er von der sele edelkeit in sinen menschlichen sinnen mohte begriffen; darumb muessent dffl wort menschlichen luten. (S. 504f.; VI, 36, 3–8)

In dieser Passage verweist der Text eindeutig darauf, dass II, 4 geistlich und nicht fleischlich zu verstehen sei, und erteilt konkrete Rezeptionsanweisungen, dass die Seele allein schaute, erkannte und genoss, ohne dass der Körper Teil daran hatte, abgesehen von dem, was er mit seinen menschlichen Sinne begreifen konnte, was immer, dem Sprechen mit menschlichen Worten vergleichbar, Verkürzung und Reduktion darstellen muss.119 Damit aber unterläuft VI, 36 die vor allem in den ersten Büchern profilierte doppeldeutige Ambivalenz von Körper/Sinnen und Seele im Kontext des Genießens, Erkennens und Schauens. Indem dieses Kapitel den Verschmelzungsgestus, der in den ersten Büchern als performative Inszenierung des Überwältigt-Werdens eingesetzt wird, radikal einfriert, gibt es den oft zwischen Sinnlichkeit und Literarizität verfließenden Charakter des Textes preis, um ihn in extrem definitiver Weise vereisen zu lassen. In dieser massiv festschreibenden Hinsicht stellt VI, 36 auf seine Weise eine Art Höhepunkt des Fließenden Lichts dar, das zugleich von deutlichem Selbst- und Sendungsbewusstsein zeugt, wenn das Ich sich gegen weitere Vorwürfe der Geistlichkeit nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit Beschimpfungen wie min pharisei (VI, 36, 9), ir blinden (VI, 36, 22) zur Wehr setzt.120 In VI, 39, wo zum letzten Mal im sechsten Buch explizit die Bezeichnung gebruchen fällt, wird dieser Begriff zweifach für die Muttergottes verwendet, die in der Ewigkeit in solcher Intensität und Fülle die heilige Dreifaltigkeit genießt wie keiner der Heiligen, obgleich diese auch genießen, aber die Auszeichnung der Maria zeigt sich in ihrem Genuss Gottes als himmlischem Lohn. Zugleich ist das Genießen im Anschluss an das erste Buch durch seine Unsagbarkeit oder Unausdrückbarkeit gekennzeichnet und im Kontext der Einheit angesiedelt: Wie fflnser vrovwe gebruchet der heligen drivaltekeit und wie sich got mit ir vereinet ob allen lutern menschen, das ist unsprechlich. Mere also vil alse si hie vereinet waren, also vil gebruchet dort fflnser vrovwe und also vil gfflsset fflnser herre ob allen heligen in si. (S. 512f.; VI, 39, 21–25)

119 Vgl. hierzu auch Neumann II (1993), S. 138 [VI 36, 4 unsehelichen warheit] und [VI 36, 21 unsinnelichem], die beide diese Deutung stützen, da die menschlichen Sinneskräfte die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit nicht leisten können. 120 Vgl. hierzu Heimbach-Steins (1989).

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

In dieser letzten Passage wird gebruchen in klassisch-augustinischem Sinne gebraucht: Nach dem Tod, in Ewigkeit und Seligkeit, genießt Maria ohne Unterbrechung und in ganzer Vollkommenheit, mehr noch als alle Heiligen, was auf graduelle Abstufungen innerhalb des Genießens verweist, welches in diesem Kontext nicht nur als Gnadengabe, sondern auch als eine Art Lohn für Heiligkeit verliehen wird; und da Maria im gesamten Fließenden Licht eine pointierte Stellung innehat, genießt sie demnach mehr als alle Anderen. Zusammenfassung Buch VI Zwar scheint das sechste Buch besonders entfernt von solch prunkvollen und blendenden Inszenierungen der gebruchunge, wie sie in den ersten Büchern geschieht, doch bindet es das Verb gebruchen in pragmatische Anwendungszusammenhänge ein, die anhand einer großen Anzahl von Situationen und Adressaten durchgespielt werden. Anstatt die Fülle des Genießens zwischen göttlichem und menschlichem Partner zu umspielen, das sich zwischen Extrempolen aus Lust und Schmerz in einer organischen Einheit und einer unaufhörlichen Dynamik entfaltet, stellen diese Bücher gebruchen insbesondere vor dem Hintergrund der Abgrenzungen in den Vordergrund und nehmen in dem Zusammenhang vereinzelte Richtigstellungen vor. Gleichzeitig gerät die marode Geistlichkeit ins Kreuzfeuer der Kritik, die nicht angemessen, sondern sündig gebrucht. Das richtige Genießen wird demzufolge ebenso wie das richtige Gebrauchen als Problem aufgefasst und entsprechend gründlich in verschiedenen Varianten erläutert. Daher schließt vor allem das sechste Buch an die lateinische Tradition des frui-uti an, wie sie in den Texten von Augustinus/Lombardus entwickelt wurden, und wird erst vor diesem Hintergrund verständlich. In diesem Kontext wird das Verhältnis zum Mitmenschen verstärkt ausgeleuchtet, da das zärtliche Kosen mit der Gottheit und das lustvolle Kosten ihrer Süßigkeit durch konkrete, tätige Fürsorge in Form von Ratschlägen, Mahnungen, Fürbitten erweitert wird. Gleichzeitig verweisen Passagen wie VI, 13 oder VI, 36 auf durchaus noch existente andere Formen des Genießens, welches sich unmittelbar zwischen der Seele und Gott abspielt, was wie in VI, 13 dennoch verhaltene, wenngleich implizite Bezüge zu den früheren Büchern nicht aufgibt.

Zusammenfassung und Bündelung in Buch VII – Palette der Möglichkeiten der Gottesbegegnung und Gottesnähe im Zeichen des Genießens Im siebten Buch taucht erstmals wieder die Substantivform (ge-)bruchunge in der aus den ersten Büchern des Fließenden Lichts vertrauten emphatischen

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Weise auf, welche auf der Unsagbarkeit des Genießens insistiert und seine verzehrende Kraft herausstellt. Zugleich wird die Verbform gebruchen in dem in den späteren Büchern entwickelten Sinne (etwas oder jemanden) richtig gebrauchen verwendet. Somit werden die im fünften und sechsten Buch hinzugewonnenen Akzente nicht aufgegeben, sondern integriert, sprachlich dagegen in anderen Passagen an die ersten Bücher angeknüpft. Literarische Formen wie die Minneklage (VII, 31),121 die sieben Tageszeiten (VII, 18)122 und der oft liedhafte, lyrische Duktus (VII, 40)123 werden aufgegriffen, ebenso die verzehrende gerunge (VII, 45),124 welche das Sprechen, Lieben und Genießen der Seele entscheidend prägt. Auch die Bilder der Liebeskrankheit (VII, 31),125 der Müdigkeit (VII, 25),126 des Gottesgrußes (VII, 25)127 oder des Lobtanzes (VII, 37)128 121 Vgl. grundlegend zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht und speziell zu II, 25: Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007). 122 Die Einfügung der sieben geistlichen Tageszeiten trägt zudem maßgeblich zu den performativen Dimensionen des Textes bei, da sie die Zeit nicht nur strukturieren, sondern auch inszenieren und damit in den Text überführen, vgl. hierzu I, 30: Mettin: Minnen vol, ein suesse wol. / Prime: Minnen gere, ein suesse swere. / Tercie: Minnen lust, ein suesse turst. / Sexte: Minnen vffllen, ein suesse kuelen. / None: Minnen tot, ein suessffl not. / Vesper: Minnen vliessen, ein suesses giessen. / Conplet: Minnen ruowen, ein suesses vroewen. 123 Im Fließenden Licht erachtet das Ich sämtliche Positionen an Macht und Reichtum im Vergleich zu Christi Anblick für gleichgültig. Die liedhafte lyrische Form verbindet dieses Kapitel mit den ersten Büchern, wobei hier die erotische Bedeutungskomponente verhalten, nur durch Form und Klang des Liedes transportiert wird, das nur durch seinen Bezug zur anschließend beigefügten anonymen Minnesangstrophe signalisiert, dass es ein Liebeslied darstellt und vielleicht gar über das Sehen hinausgeht: Were alle die welt min / und were si luter guldin, / und solte ich hie nach wfflnsche eweklich sin / die alleredelste, die allerschoeneste, die allerricheste keyserin, / das were mir iemer unmere; / also vil gerne / sehe ich Jhesum Christum, minen lieben herren, / in siner himelschen ere! Vgl. hierzu Mohr (1963), der bereits auf die Vielfalt der Formen und Anzahl literarischer Gattungen im Fließenden Licht hingewiesen hat; zudem klingt folgende namenlose Frauenstrophe aus Minnesangs Frühling (1988), S. 21 in dem obig zitierten Lied mit: ›Waere diu werlt alle m„n / von deme mere unze ab den R„n / des wolt ich mich darben, / daz chunich von Engellant / laege an m„nem arme.‹ 124 Vgl. Von den siben dingen der minnenden gerunge (VII, 25) mit Von der klage der minnenden sele, wie ihr got schonont und enzihet sine gabe (II, 25). In letzterem Kapitel wird das drängende Begehren mit der Metapher der Jagd verbunden. 125 Vgl. folgende einschlägige Stellen zur Liebeskrankheit: »Sage minem lieben, das sin bette bereit sie und das ich minnesiech nach im bin« (I, 3); dann: Alse si nfflt mere moegi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuo noch abe (I, 4, 33f.) und: »Herre, du bist ze allen ziten minnesiech na mir, das hast du wol bewiset an dir« (III, 2). Daran wird im siebten Buch sowohl hinsichtlich der lyrischen Form als auch bezüglich der Metaphorik direkt angeknüpft: / »Minnen siech und libes krank, / pinen not und harten twang, / das machet mir den weg ze lang, / zuo minem lieben herren« (VII, 31, 6–9). 126 Ich muos vliegen mit tubenvederen, das sint tugende und guete und heliges gemuete. Ich muos sweben an allen dingen fflber mich selber. Als ich allermuedest bin, so kumme ich wider in. (VII, 25, 17–20) Vgl. zur Müdigkeit der Seele: […] so bist du also muede, das du denn sprichest: ›Schoener jungeling, mich lustet din, wa sol ich dich vinden?‹ (I, 44, 10–12) Mit folgender Erwiderung des göttlichen Jünglings an die Seele: So sprichet der jungeling:

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treten im siebten Buch erneut auf, entweder in sehr poetischer oder eher verhaltener Form. Gleichzeitig finden sich zahlreiche Passagen, die predigtähnlichen Charakter aufweisen, und oft findet ein unmittelbarer Übergang zwischen emphatisch-lyrischen und lehrhaft-spröden Formen mitten im Text statt, so dass das siebte Buch in einem ausgesprochen gemischten Verhältnis verschiedene Text-, Rede- und Begegnungsformen darbietet. Daher kann das letzte Buch ein vielfältiges Kaleidoskop entfalten, das eine Bündelung verschiedener im gesamten Verlauf des Fließenden Lichts entwickelter Facetten darstellt.129 Hierdurch entsteht erneut ein verändertes Profil von gebruchunge und gebruchen, die in seltener Weise koexistieren und die Palette der Gottesbegegnungen im Zeichen des Genießens (und Gebrauchens) veranschaulichen. VII, 1 schildert die Krone, welche am Jüngsten Tag offenbar werden und in verschiedenen Bögen von Patriarchen, Päpsten und Christi menschlicher Natur zusammen mit Maria gebildet werden soll. Sie erscheint dann auf dem Haupt Christi und verherrlicht die Dreifaltigkeit, wobei im Anschluss besonders die Rolle der Menschlichkeit Christi und ihre Bedeutung für den Menschen erläutert werden: Die menscheit fflnsers herren ist ein begriffenlich bilde siner ewigen gotheit, also das wir die gotheit begriffen moegen mit der menscheit, gebruchen geliche der heligen drivaltekeit, halsen und kfflssen und die unbegrifliche gotheit umbevahen, die himmelriche noch ertrich, helle noch vegeffflr niemer begriffen mag noch ir widerstan. (S. 528–530; VII, 1, 34–2)

Die Passage betont entscheidend die Medialität von Christus für den Menschen, der durch seine angenommene Menschlichkeit zwischen Gott und dem Menschen vermittelt und überhaupt erst den Zugang zum Genießen verschafft. Das Wort begriffen wird hier in einem doppelten Sinne verwendet: Zum einen abstrakt im Sinne von verstehen, begreifen, zum anderen aber wird der metaphorische Charakter dieses Wortes belebt und damit konkret gestisch aufgefasst – als umfangen oder umfassen (umbevahen), als ein Umarmen und Küssen (halsen und kfflssen). Paradox zugespitzt wird diese konkrete Geste durch das Hinzufügen des Adverbs unbegrifliche – indem man das Unbegreifliche umgreift (das heißt: berührt), begreift man. Gebruchen kann hier als die Chance – besser : »Juncvrouwe, dirre lobetanz ist fflch wol ergangen, ir sfflllent mit der megde sun fflwern willen han, an ir sint nu innenkliche muede.« (I, 44, 15–17) 127 Vgl. exemplarisch zum Gottesgruß I, 2. 128 Die Metapher des Lobtanzes wird allerdings weitaus zurückgenommener, nicht in einer mit I, 44, 32–11 vergleichbaren Unmittelbarkeit eingesetzt: Swenne die edelen gerihte sint geschehen, da Jhesus Christus selber dienen wil, so sihet man da den allerhoehesten lobetanz. Da sol denne ein ieglich sele und lip tragen iren tugenden krantz, die si hie habent vollebraht mit maniger heliger andaht. (VII, 37, 7–9) 129 Vgl. Nemes (2010), S. 125–131 und S. 246–307.

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die Gnade – verstanden werden, die Gottheit durch die Menschlichkeit Christi zu begreifen und daher doch in ihrer Göttlichkeit genießen zu dürfen, was durch das erotische Vokabular zärtlicher Berührungen noch stärkeren Ausdruck findet und hierdurch Verbindungslinien zu den ersten Büchern herstellt. Dagegen entwickelt VII, 3 eine nüchterne Perspektive auf das jetzt eingetretene Alter, da es sowohl unnffltze an schinenden werken als auch leidor kalt an gnaden (VII, 3, 20f.), vor allem aber unmehtig ist, da es der jugent nit hat, da es die vfflrigen gotz minne mitte tragen mag (VII, 3, 21f.). Das stellt einen deutlichen Bruch inmitten aller Anknüpfungen an die Bücher I und II dar, welche fast ausschließlich um das rastlose Lodern der Gottesliebe und ihre verzehrenden Begleiterscheinungen kreisen. Statt eine brut miner menscheit (VII, 3, 2) ist das Alter nun eine husvouwe miner gotheit (VII, 3, 3) – mit dem Übergang von der Jugend zum Alter hat die Seele die Wandlung von der Braut Christi zur Hausfrau Gottes vollzogen. Dafür stellt dieses Kapitel den Bezug zu den späteren Büchern her, da es erneut Unterscheidungen vornimmt. Dieses Mal betreffen sie die sündigen und die reuevollen Tränen; und während letztere Heiligkeit beanspruchen dürfen, bewirken erstere eine Verfinsterung, so dass ein gebruchen in der richtigen Art und Weise nicht möglich, sondern gänzlich blockiert wird: Die sfflndige trehne rfflwent mich, die man weinot in homuetigen zorne. Da wirt die sele also vinster von, das der mensche die wile keiner guoter dingen rehte kan gebruchen. Die rfflwige trehne sint also helig. (S. 540f.; VII, 3, 5–8)

Die sündigen Tränen stellen einen direkten Bezug zu den sieben Hauptsünden oder Hauptlastern her, nämlich der superbia und der ira. Dadurch wird der Mensch unfähig, den richtigen Gebrauch von den Dingen zu machen, die gut für ihn sind, während die reuevollen Tränen trotz großer Sünden die ewige Verdammnis verhindern. Diese Passage unterscheidet sich deutlich von der vorherigen, da sie Bezüge vor allem zum sechsten Buch herstellt und pointiert, wenn auch mit Bedauern, Abstand zu der Jugend in der Glut der Gottesliebe markiert.130 Unterstützt wird diese Tendenz durch den unscheinbaren Einsatz von gebruchen, bei dem das richtige Handeln, nicht aber der Gottesgenuss eine Rolle spielt. Ganz im Gegensatz dazu schildert VII, 8 das mit nichts vergleichbare Begehren der Seele, worauf der göttliche Geliebte antwortet, indem die Seele ihn plötzlich in ihrer Nähe erkennt. Durch den Kontakt mit der göttlichen Süße, die durch das Berühren und Küssen seiner Füße entsteht, werden Alter und 130 Der Abstand wiederum ist selbst mehrfach gebrochen, da die Sprecherpositionen durch eine weitere ergänzt werden. Der Text nämlich, nachdem zuerst in der ersten Person Plural die eigene Schwäche gescholten wurde, spricht im weiteren Verlauf von der Klage eines betrübten alten Menschen, der dann erst diese oft zitierte Antwort von den drei Lebensaltern und drei Stadien des Zusammenseins mit Gott erhält.

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Schmerzen für die Seele plötzlich irrelevant. Der göttliche Partner erscheint ihr zudem in der Gestalt eines schönen Jünglings,131 und zwar von solch berückendem Wesen, dass die Seele diese Schönheit nicht sprachlich auszudrücken vermag. Schönheit und Genuss verbinden sich hier in ihrer Unsagbarkeit, denn beide entziehen sich der Sprache und sind nur im Schweigen132 verfügbar. So heißt es im Text über den göttlichen Partner : In disem jamer wart die sele irs lieben gewar bi ir, gelich einem schoenen jungeling – also schoene, das es unsprechlich ist. (S. 548f.; VII, 8, 15–17)

Nach einem kurzen liebevollen Wortwechsel zwischen Christus und der Seele folgt ein enigmatisch verknappter Satz, welcher die aus den ersten Büchern bekannte (ge-) bruchunge in ihrer Emphase und ihrem absorbierenden Charakter wieder aufgreift: Do sprach er: »Ich muos din schonen an der bruchunge133 beide din und min.« Die bruchunge ist unsprechlich. (S. 550f.; VII, 8, 1–3)

Genauso wie die Schönheit des göttlichen Geliebten ist der Genuss unsagbar, da durch den Genuss des göttlichen Partners dessen Schönheit in intensiviertem und offenbar fast unerträglichem Maße erfahrbar wird. Gleichzeitig stellt diese Passage einen Bezug zu II, 25 her, wo die Seele über den Entzug von Gottes Gaben klagt, der ihren Leib schonen möchte, da sie sich sonst zu rasch verzehrt, was nicht nur ihr selbst, sondern auch Gott Leid zufügen würde: »[…] Ich kan dich nit so kleine beriben: Ich tuo dir unmassen we an dinem armen libe. Soelte ich mich dir ze allen ziten geben nach diner ger so mueste ich miner suessen herbergen in dem ertrich an dir enbern, wan tusent lichamen moechtin nit einer minnenden sele ire ger vollewern. Darumbe ie hoher minne, ie heliger marterer.« »O herre, du schonest alze sere mines pfuoligen kerkers.« (S. 130f.; II, 25, 3–11)

Beide Ausschnitte handeln in unterschiedlicher Ausführlichkeit von der Schonung der Seele trotz oder gerade wegen ihres heftig geäußerten Begehrens, 131 Später wird das Alter des schönen Jünglings auf genau achtzehn Jahre festgelegt, da zu diesem Zeitpunkt die Schönheit in den Augen der ihn liebenden Jungfrauen am größten sei: Als er was von ahtzehen jaren, so ist sin persone den juncfrovwen allerminnenklichost und er allerschoenost (VII, 37, 1–3). 132 Das gleichwohl im Text und damit paradoxerweise durch Sprache inszeniert wird; damit bildet das Schweigen und Verstummen einen zentralen Bestandteil in der Semantik des Genießens, welche auch von allen hier behandelten Texten ausgelotet wird. 133 Vgl. Neumann II (1993), S. 146 [VII 8, 16 bruchunge]: »In E nur hier, sonst gebruchunge; vgl. I 2, 37; I 21, 3; I 44, 35 u. ö.; s. brukinge SCHL I, 437b (LB I s. v.).«

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dessen Erfüllung sie offenbar nicht unbeschadet überstehen würde, und daher wird sie sowohl in ihrem eigenen als auch im Interesse ihres göttlichen Partners geschont. Doch während in II, 25 von gebruchunge nicht die Rede ist, wird in VII, 8 die Zurückhaltung beim Genuss134 explizit eingefordert. Im Gegensatz zu II, 19, wo die gebruchunge der Erkenntnis mitgeteilt werden kann und nur die bevindunge zurückbehalten wird,135 wird nun in einem kryptischen Satz, dem gnomischen Stil von I, 21 vergleichbar, die Unsagbarkeit des Genießens kommuniziert. Somit verdichten sich in dieser kurzen Passage verschiedene Stränge aus den ersten Büchern miteinander, die zugleich an vorherige literarische Formen anknüpfen: Die für Seele und Gott notwendige Schonung in der rückhaltlosen und verzehrenden Begegnung ergeben zusammen mit der Unsagbarkeit und Exklusivität des Genießens ein derart kunstvolles Gewebe, dass sogar das Alter der Seele darin seinen Platz findet. In VII, 15 wird in dem Gebet eines Menschen, der die Wahrheit liebt, durch zwei unmittelbar aufeinander folgende Bitten ein enger Bezug zwischen der gerunge und dem gebruchen hergestellt. Denn das Gebet umfasst sowohl die Bitte um das brennende Begehren, das eine Art Kompass darstellt, um Gott zu finden, als auch die Ausweitung des Verlangens auf den Genuss aller göttlichen Gaben, die in der Liebe ausfließen und durch diese unaufhörliche Bewegung die Dynamik des Textes erhöhen: Gib mir ovch, herre, das ich dich vinden muesse mit aller miner gerunge brennender und verloeschener! Ich geren ovch, das ich din gebruchen muesse mit vliessender minne aller diner gabe! (S. 560f.; VII, 15, 7–10)

Das geäußerte Begehren erscheint vermittelt und gebrochen aufgrund der Einführung der Figur des Menschen, der die Wahrheit liebt, welche zwar mit dem Ich zusammenfallen kann, aber keinesfalls muss. Der Bekenntnischarakter wird hierdurch stark zurückgenommen, auf den ersten Blick an anderen Stellen im Zusammenhang mit dem Begehren verstärkt, jedoch ohne dass jene Verallgemeinerungen aufgegeben werden, die stattdessen koexistieren.136 In VII, 8 134 Vgl. hierzu die bereits in den ersten Büchern vorgenommene Einschränkung eines ungebrochenen Genießens: die gebruchunge mit der abebrehunge nach der maht der sinnen (II, 3, 11f.). 135 Vgl. hierzu: dffl vilwerde gebruchunge sont ir han von mir, die userwelte bevindunge von gotte sol fflch und allen creaturen iemer me verborgen sin sunder alleine mir (II, 19, 6–9). 136 Vgl. hierzu den Anfang von VII, 16, wo ebenfalls bloß allgemein von einem Menschen gesprochen wird, der lange Zeit unter vielen Schmerzen ein seliges Ende begehrte und von Gott folgendermaßen getröstet wird: »Ich gere din und du begerest min. Wa zwoei heisse begerunge zesamen koment, da ist die minne vollekomen.« (VII, 16, 22–24). Dem Begehren kommt somit wie in VII, 8 oder auch in II, 25 eine exponierte Rolle zu, da das Begehren von Gott und der Seele gemeinsam die vollkommene Liebe stiftet. Die Mischform aus emphatischen Formen und Rückkoppelung von Unmittelbarkeit scheint für das siebte Buch signifikant zu sein.

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wird schon zu Anfang die folgende Auslegung oder Aussageabsicht expliziert, dass ein Mensch, dem Gott fern ist, ihn auf diese Weise suchen soll, während die Besonderheit der Seele dahingehend modifiziert wird, dass ime ein ieglichffl sele, die in sinen hulden gotte dienet, die allerliebeste ist (VII, 8, 25–1). Dem vergleichbar ist VII, 15 allgemein gehalten, da das Kapitel ein Gebet formuliert, dessen Bitten einem jeden zugänglich sind. Die Aufgabe, die Mitmenschen zu lehren und für sie zu sorgen, wird im Zeichen der emphatischen Gottesbegegnung zwischen den beiden Partnern wie in VII, 8 wahrgenommen. Ebenso wird in der folgenden Stelle das gebruchen mit einer Lehre verbunden, wenn im Dialog zwischen Gewissen und Erkenntnis die Voraussetzungen erörtert werden, derer es bedarf, um Gott zu genießen. Nachdem die Erkenntnis die Selbstaufopferung der geistlichen Menschen als höher eingestuft hat als die reichen Almosen der Weltleute, steigert das Gewissen solche Forderungen noch, indem es verlangt, dass man der heiligen Dreifaltigkeit in der Liebe, in der Keuschheit und der Glut nacheifere und als adäquat entspräche: Das gewissede: »Vrov bekantnisse, hie mitte ist es nit genuog. Wellen wir gotz gebruchen in der hoehin, so muessen wir haben die crone der diemuetekeit und die luterkeit der kfflscheit, angeborn oder angenomener, und die hoehi der minne ob allen dingen. Dis selbe wunnecliche cleit treit an ir die helige drivaltekeit: der vatter die hoehi der minne, der sun die diemuetigen lutere kfflschheit – die hat er allen sinen userwelten mitte geteilet – der helig geist das minnenbrennen zuo fflns in allen fflnsern guoten werken.« (S. 562–564; VII, 17, 34–5)

Nur indem der Mensch das Kleid der Dreifaltigkeit anlegt, kann er in den Genuss der Dreifaltigkeit kommen. Doch macht die Aussage der Erkenntnis deutlich, dass es sich hierbei keinesfalls ausschließlich um ein passives Genießen handelt, sondern dass die tätige Liebe als Ergänzung zu den drei oben genannten Punkten hinzutreten muss, um diese abzurunden. Unter der arbeitende(n) minne versteht der Text die stetikeit an guoten dingen (VII, 17, 6f.), die erst die vollgültige Ehre im Diesseits sowie im Jenseits verschafft. Das zeigt erneut die vollzogene und integrierte Akzentverschiebung, die das siebte Buch auszeichnet, das die Tätigkeit im Dienste Gottes – und beträfe es die einfachsten und alltäglichsten Dinge – mit dem höchsten Ziel des vollkommenen Gottesgenusses zu verbinden weiß. Das nächste Kapitel, in dem gebruchen vorkommt, schildert die Vision einer ewigen Hochzeit der Dreifaltigkeit mit den vielen reinen Bräuten Christi. Während die heiligen Jungfrauen von der Gottheit durchdrungen und vom Gottessohn umfangen werden sollen, wird denen, die keine lauteren Jungfrauen sind, zumindest ein genießender Anteil an diesem Fest versprochen, so weit es ihnen möglich ist:

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Die nit lutere megde sint – sie soellent diese hochgezit besitzen und besehen und gebruchen als verre es muglich mag gesin. (S. 604; VII, 37, 22–24)

Die Verbform wird auch im siebten Buch dafür benutzt, weiter gefasste semantische Kontexte zu kennzeichnen, die häufig mit einer Differenzierung und Präzisierung verbunden sind. Hier handelt die Stelle zwar von einem Genießen, doch – im Vergleich zu den eigentlichen Festteilnehmern – ist es ein eingeschränktes, wenngleich die Erlaubnis der Teilhabe am gebruchen bereits eine außerordentliche Gnade darstellt. Das Kapitel zeigt zudem deutlich, dass das gebruchen auf den bedürftigen Nächsten hin geöffnet wird und die exklusive Einheit in der Zweiheit, welche für die ersten Bücher so kennzeichnend war, auf den Dritten hin geöffnet wird. Diese Beobachtung fügt sich erneut in den Horizont einer bereitwilligen Lehre und Fürsorge ein, die zur Vereinigung zwischen dem Menschen und Gott führt.137 Anschließend wird die Verbindung von Begehren und Genuss erneut hergestellt und bekräftigt, wenn die sieben Aspekte des liebenden Begehrens genannt werden und das siebte, welches das höchste und letzte darstellt, erneut in jenen Schleier des Geheimen und Unsagbaren gehüllt wird, der bereits aus VII, 8 bekannt ist: Das sibende mag man kume mit worten rueren; mit cristan gelovben mag man es enpfinden: Wie gros, wie hoch, wie wit, wie wunnenklich, wie erlich, wie vroedenrich, wie unzergenglicher vroeden vol es si. Wol im, der eweclich in im wonen sol! Die vroeliche angesiht vol aller wollust und die helige gebruchunge nach wunsche, die sint vil manigvalt ane zal und geschen iemer me erlich und gezogen, wand si swebent us von dem lebendigen gotte. Die fflbersuesse gerunge, wunnenklich, hungerig, minnenvol, die vlfflsset iemer me in die selen fflberswenkig von gotte. Nochdenne behaltet die sele iren suessen hunger und lebet ane kumber. (S. 616–618; VII, 45, 28–4)

Am Anfang der Passage steht eine Sprachverweigerung, durchsetzt von emphatischen Ausrufen, welche die Schönheit und Wirkung jenes Unsagbaren ausdrücken sollen. Anschließend folgt die Nennung der Schauung und des Genusses von Gott als Gipfelpunkte des liebenden Begehrens, das nun am Ziel sein sollte. Doch der Text nimmt nur einen Anlauf, um schließlich das Begehren selbst an die höchste Stelle zu befördern, das nun über die Maßen süß, freudevoll und sorgenfrei ist. Die Seele aber behält den Hunger ihres Begehrens, doch ohne die auf Erden damit unabweisbar verbundene Qual, die sich nun in Süße äußert, da sie zugleich am Ort der vollständigen Befriedigung, nämlich in Gott, angelangt ist. Besonders hier zeigt sich die Verschmelzung von Genuss und Begehren, denn die gebruchunge ist Teil der gerunge, die mit ihrem süßen Hunger zum 137 Vgl. hierzu Kapitel VII, 7, 11–8, das die Vereinigung mit Gott durch reine und tätige Werke, Gotteslob und Dankbarkeit, vor allem aber durch die Annahme von Gottes Willen begründet.

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Genuss beiträgt und diesen noch steigert. Somit fallen Erfüllung und Aufschub des Begehrens in einer paradoxen Einheit zusammen, die in der Tradition der ersten Bücher steht. In der letzten Passage wird das Genießen explizit nicht mit dem Begehren, sondern stattdessen mit Armut verbunden, die – wie in Buch VI – als ein positiver Gegensatz zum Reichtum konzipiert wird. Eingebettet ist diese Verknüpfung in eine Allegorie, welcher die Rezeptionsanweisung beigefügt wird: Dis sol man geistlich vernemen (VII, 48, 8f.). Sie handelt von dem dunklen Haus des Leibes, in dem die Seele gefangen ist, die ihre Einrichtung folgendermaßen schildert: Uf dem tisch lit ein tischlachen, das ist reine, das heisset ›armuete‹; das hat in ime vil manige helige guete. Wolte man es rehte gebruchen, so hette man es von herzen liep. Die liebin des richtuomes ist ein diep des armuetes. (S. 622f.; VII, 48, 16–19)

Die aus den späteren Büchern bekannte Notwendigkeit, mit einer Sache richtig umzugehen und sie korrekt zu verwenden, erscheint zum Abschluss wieder auf der Textoberfläche. Die Armut, einfach, rein und schlicht, soll im Gegensatz zum Reichtum geliebt werden, dann macht man den richtigen Gebrauch von ihr. Die letzte Stelle, welche zu gebruchunge/gebruchen im Fließenden Licht vorkommt, gibt sich so unspektakulär wie möglich, indem sie an bereits bekannte Themenkomplexe anschließt. Zusammenfassung Insgesamt präsentiert das siebte Buch zahlreiche Anknüpfungspunkte an frühere Bücher :138 Zwei Stellen, die sich mit dem richtigen Gebrauchen mittels der Verbform beschäftigen (VII, 3; VII, 48) und damit den Bezug vor allem zu dem fünften und sechsten Buch herstellen. Dann vier Stellen, die das Genießen Gottes bzw. seiner Gaben und den Wunsch des Menschen, daran teilzuhaben, anhand der Verbform thematisieren, welche sowohl die Bedeutungen des Genießens als auch des Gebrauchens, die Unterschiede von frui und uti in sich schließt (VII, 1; VII, 15; VII, 17; VII, 37). Schließlich greift das letzte Buch die emphatisch pulsierende gebruchunge aus den beiden ersten Büchern wieder auf und verknüpft sie sowohl mit dem verzehrenden Begehren als auch mit exklusiver Unsagbarkeit. Doch werden die im Verlauf der einzelnen Bücher hinzugewonnenen Aspekte, die Öffnung auf den Nächsten hin und die Betonung der tätigen Liebe, keinesfalls aufgegeben, sondern durch Brechungen in der Sprecherperspektive, welche den bedürftigen Dritten kenntlich machen und die Unmittelbarkeit zurücknehmen, integriert. Hierzu zählt die Betonung des fortgeschrit138 Vgl. Nemes (2010), S. 125–131 und S. 246–307.

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tenen Alters, was das letzte Buch deutlich von denen der brennenden Jugend absetzt und eine zusätzliche Möglichkeit der Einteilung des Fließenden Lichts bietet. Das siebte Buch stellt eine Bündelung verschiedener im Kontext von gebruchunge/gebruchen entwickelter semantischer Facetten dar, die zu einem kunstvollen Amalgam verschmolzen werden, ohne ihre ursprüngliche Herkunft zu verleugnen. Es zeigt die unterschiedlichen Möglichkeiten der Gottesbegegnung und der Gottesnähe im Genuss auf, von denen manche bereits am Anfang in Form der gebruchunge existierten, andere dagegen erst im Verlauf der einzelnen Büchern anhand der flexibleren Verbform gebruchen entwickelt wurden.

Fazit der Wortanalyse im Fließenden Licht Erweist sich eine solche Wortanalyse wie bei gebruchunge/gebruchen tatsächlich als sinnvoll? Sprengt die Heterogenität der einzelnen Belegstellen wirklich den thematischen Kern, und wenn ja, mit welchem Effekt? Im Fließenden Licht wird dieser am Anfang so kunstvoll und berauschend entfaltete ›thematische Kern‹ der gebruchunge tatsächlich in den späteren Büchern gesprengt, um durch die Erweiterung mit gebruchen mehrere Zentren beziehungsweise Kerne zu bilden, die parallel koexistieren und sich gegenseitig produktiv aufladen. Die Komposition der einzelnen Bücher, sei es durch deren VerfasserIn, sei es durch deren Rezipienten, wurde für die Analyse vorausgesetzt, was folgende Entfaltung, Entwicklung und Überformung des Genießens performativ vorführt und zusätzlich in die Lebensalter integriert.139 Die überwältigende gebruchunge in der Einheit mit dem göttlichen Geliebten gipfelt in deren äußerster Preisgabe in der Gottesferne, in die paradoxerweise implizite Spuren des Genießens durch die Süße des Sinkens eingeschrieben sind. Produktiv daran angeschlossen wird im fünften Buch durch die sinkende Demut, das zunehmend die Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen im Genießen ins Zentrum stellt. Verstärkt wird diese Tendenz im sechsten Buch, in dem das ›richtige Genießen‹ und in diesem Zusammenhang das richtige Verhältnis zu den Dingen zunehmende Bedeutung gewinnen. Das siebte Buch bündelt sowohl emphatische als auch pragmatische Formen von gebruchunge/gebruchen, was sich in der parallelen Verwendung der Substantiv- und der Verbform ausdrückt, wobei erstere ab dem dritten Buch zunehmend in den Hintergrund rückt und erst im sechsten Buch erneut auf der Textoberfläche erscheint. Semantisch ist die gebruchunge als eine volkssprach139 Ein weiteres Gliederungsmoment für die sieben Bücher besteht in ihrer Integration in mystische und zugleich biologische Lebenszyklen, nämlich glühende Jugend und verzehrende gebruchunge als Braut Gottes in den ersten beiden Büchern, Erwachsenheit in den folgenden beiden, Reife im fünften und sechsten und schließlich das Alter in seiner Weisheit im siebten Buch.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

liche Umschrift der lateinischen fruitio dei zu betrachten, die Liebe, Erkenntnis und Genuss in der Einheit ineinander überführt, gleichzeitig jedoch durch paradoxe Begleiterscheinungen und Nachwirkungen wie Verzehrung, Schmerz und Tod gekennzeichnet ist, die häufig von dem Leib und den Sinnen ausgetragen werden. Dagegen wird die Verbform gebruchen komplexer und heterogener eingesetzt, da sie die Aspekte des lateinischen frui – uti in sich vereinigt und nur in Einzelfällen durch nffltzen oder (ge-)niessen ersetzt wird. Verbindungen zur impliziten Semantik finden sich bereits etliche; besonders hervorstechend sind die Bezüge zur Süße und zum Schmecken sowie zu Bildern aus dem Hohenliedkontext wie Trunkenheit und Liebeskrankheit, die in den folgenden Teilen detaillierter ausgeführt werden. Besonders durch die Süße und das Schmecken ist es dem Text möglich, in späteren, zunehmend spröder wirkenden Büchern, wie dem fünften und dem sechsten, Bezüge zu den versinnlichenden, unmittelbaren Formen des Genießens aus den ersten Büchern herzustellen, was alle Bücher miteinander wie ein feines Adernnetz verbindet, ohne deren jeweilige Eigenakzentuierung zu verwischen.

II.1.2 Zweite Wortanalyse: Die dynamisierende Verwendung von ghebrukelecheit, ghebruken und ghebrukeleke in den Visioenen Vorbemerkungen Die Wortanalyse der Visioenen erfordert eine andere Zugriffsweise als das Fließende Licht, da es sich bei diesem Text um eine außerordentlich dicht angelegte Komposition von vierzehn Visionen handelt, die sowohl im Einzelnen als auch im Gesamten ein genau aufeinander abgestimmtes Panorama entwerfen.140 Sie thematisieren eine lineare Aufstiegsbewegung und inszenieren zugleich die Vollkommenheit des im Zentrum stehenden Ichs141 und dessen exklusive Gottesbeziehung. Beides schließt sich meines Erachtens keinesfalls aus, sondern 140 Vgl. zur Textüberlieferung Kwakkel (1999). 141 Vgl. zur Diskussion um den Status des Ichs bei Hadewijch Fraeters, Mi smelten mine sinne (2003). Besonders hierbei scheiden sich, je nach Hypothese, die Deutungsansätze. Fraeters differenziert zwischen einem Hadewijch-Ich und einem lyrischen Ich, während Willaert grundsätzlich von einem Hadewijch-Ich ausgehen will. Diese Untersuchung betreibt dagegen eine immanente Textanalyse, da sie die Semantik des Genießens ausschließlich aus den Texten selbst erschließen will und auf die Kontextanalyse verzichtet, um das Material nicht im Vorfeld mit Deutungsmustern wie Beginenmystik zu überformen. Daher wird im Folgenden ausschließlich vom »Ich der Visioenen« gesprochen. Im Anschluss an Peters (1988) möchte diese Arbeit vor allem die Literarizität der Texte aufzeigen, die zugleich häufig ein paradoxes Spannungsfeld mit Körperlichkeit und Sinnlichkeit erzeugt.

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zeigt die Komplexität der Visioenen.142 Das Ich wünscht sich bereits zu Beginn der ersten Vision nichts anderes, als mit Gott im Genuss vereint zu sein, und verfolgt diesen Weg durch alle Schmerzen und Tode konsequent bis zum gänzlichen Liebeswahnsinn und gesteigertem Genuss in den beiden letzten Visionen. Im Unterschied zu den anderen beiden Texten hat die Niederlandistik schon früh das ghebruken als einen Schlüsselbegriff der Mystik von Hadewijch erkannt und entsprechend gründlich erforscht. Die These, dass ein dynamisches Verhältnis zwischen Begehren und Genießen, Leiden und Genießen, Entbehren und Genießen bestehe, erzielte einen allgemeinen Konsens, doch wurde das Verhältnis beider Elemente unterschiedlich bestimmt, was mit den gelegentlich verschobenen Gewichtungen in Hadewijchs Texten zusammenhängt. So erhielt vor allem die begherte einen herausgehobenen Status in der Forschung; so lässt Rob Faesen ghebruken in der begherte aufgehen und räumt dem Genuss lediglich einen schmalen Platz in der Analyse ein.143 Auch Frank Willaert streift in seiner beeindruckenden Monographie zur Lyrik Hadewijchs das Genießen nur gelegentlich.144 Dagegen bestimmte Paul Mommaers ghebreken und ghebruken als organische Einheit, die in den Texten zusammenwirkt und zeigt, dass der Mensch, um den Genuss Gottes zu erlangen, zugleich die Leiden Christi an sich selbst (nach-) vollziehen müsse.145 Er etablierte ghebruken in seiner zentralen Bedeutung für Hadewijchs Texte, woran diese Untersuchung ebenso wie an Fraeters Gedanken produktiv anknüpft. Im Anschluss an Mommaers analysierte Veerle Fraeters unter zunehmend literarischen Gesichtspunkten das Begehren in den Visioenen, wobei es ihr gelingt, die Ambiguität aufzuzeigen, die zwischen dem leidenschaftlichen Entbehren und dem ebenso intensiven Suchen des Genießens besteht, da sich das Begehren in den Visioenen ebenso steigert wie das Genießen.146 Das Oszillieren von Begehren und Genießen in einem Verhältnis, das sich nicht festschreiben lässt, sondern vieldeutig und flexibel inszeniert, wird bei der semantischen Analyse bestätigt. Das Verfahren einer semantischen Analyse knüpft vor allem an Robert 142 Vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Warnar und Fraeters um die didaktische und/oder literarische Ausrichtung der Visioenen: Warnar (1998); Fraeters, Visioenen als literaire mystagogie (1999). 143 Vgl. Faesen (2000), bes. S. 212–247. 144 Vgl. Willaert (1984), S. 149–152, 159, 163f., 183, 267f., 367, 375. Willaert verbindet vor allem ghebruken und ghenoechte miteinander, die ihm zufolge gemeinsam mit begheren eine besondere Gruppe bilden, die häufig ineinanderspielt. Leider wird die Art dieses Zusammenspiels nicht in größerem Stil erläutert, was sehr aufschlussreich wäre. 145 Vgl. Mommaers, Hadewijch d’Anvers (1994), bes. S. 99–131; ders., Hadewijch (2003); ders. und Dutton, Hadewijch (2004). 146 Vgl. Fraeters, O Amour, sois tout — moi! (2009).

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Vanneste an, der bereits einige Leitvokabeln bei Hadewijch herausgestellt hat.147 Doch die Kombination aus semantischem Verfahren, literaturwissenschaftlicher Ausrichtung und performativer Akzentuierung, um das Genießen aus den Visioenen zu erschließen, ist so noch nicht angewandt worden und soll in der Kombination seine Entfaltungspotentiale zeigen. Zusätzlich werden diese durch den doppelten Kontext innerhalb der europäischen Frauenmystik des 13. Jahrhunderts und durch verhaltene Bezüge zur postmodernen Theorie verstärkt, wofür gerade die Radikalität, Rückhaltlosigkeit und Leidenschaftlichkeit des Genießens bei Hadewijch inspirativen Anlass geboten haben. So scheint es mir kein Zufall, dass Lacan besonders von ihren Schriften fasziniert war oder Largier ausgerechnet ihre Verdichtungen von Genießen und Begehren aufgreift. Dies führt zu dem letzten Punkt der Forschungsgeschichte, nämlich zu Caroline Walker Bynum,148 Mary A. Suydam149 und Agatha Anna Bardoel,150 die alle, vom englischsprachigen Forschungskontext ausgehend, eigene Akzentuierungen setzen und die Performativität, die Gender-Komponente und die Körperlichkeit in ihren Texten hervorheben. Sie führen hiermit moderne Lesearten vor und machen die Texte im Hinblick auf Sinnlichkeit und Weiblichkeit, Überschreitung und Vollzug, Schmerz und Lust hin lesbar – Tendenzen, denen sich diese Arbeit unbedingt anschließen möchte, da nur in der Interaktion von Semantik, Aisthetik/Ästhetik und Performativiät die Energien des Genießens ausgelotet werden können. Dabei soll nicht eine Perspektive in den Vordergrund gerückt werden, sondern sie sollen einander wechselseitig ergänzen. Daher werden verschiedene Bezüge zur Bildlichkeit oder zur Körperlichkeit, die bereits hier im ersten Teil aufscheinen, erst in den folgenden Teilen ausgeführt. In diesem Zusammenhang wäre im Anschluss an Mary A. Suydam zu überlegen, inwiefern die dezidiert performative Ausrichtung der Visioenen hierzu nicht wesentlich beiträgt.151 Gesetzt, man verstände diesen Text als eine Anleitung zur cognitio experimentalis, dessen Botschaft bzw. Lehre in dem Angebot zur aktiven Teilhabe besteht und zum Mitvollzug auffordert, wird die immens kunstvolle und anspruchsvoll ästhetische Inszenierung der Visioenen in ein neues Licht gerückt. Indem der Text die Regieanweisungen – Suydam bezeichnet

147 Vgl. Vanneste (1959). 148 Vgl. Bynum, Fragementierung (1996). 149 Vgl. Suydam, The Touch of Satisfaction (1996); dies., Women’s texts and performances (2008). 150 Vgl. Bardoel, Hadewijch of Brabant (1987). Bardoel ist zwar dahingehend zuzustimmen, dass love (minne) – desire (begeren, eisen, verlangen) – fruiction/satisfaction (ghebruken, ghenoegen, volmaekt) – union eine zentrale Wortgruppe bilden, die es eingehend zu untersuchen gilt, doch keineswegs ist die Quantität das einzige Signal für Bedeutung im Text, wie Bardoels numerisches Verfahren es suggestiert. 151 Vgl. Suydam, Women’s texts and performances (2008).

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es in ihrem Aufsatz als script for performance152 – für ein solches Erlebnis von Genuss in der Einheit oder von Genuss in der oerewoet liefert, wird seine Lehre in der Erfahrung153 performativ vollzogen. Das lässt das von Warnar hervorgehobene auffallende sprachliche Design, das von komplexen Bildern und Bezügen durchsetzt ist, verständlich werden, da es die Mittel für das visionäre Erlebnis schuf.154 Die in der Hadewijch-Forschung etablierte These von der Aufstiegsbewegung in den Visioenen155 soll in diesem Kontext dahingehend ergänzt werden, dass die einzelnen Visionen als komplexes Themengeflecht und ›Anspielungsraum‹ untersucht werden, das sie untereinander bilden und welches nicht immer chronologisch sein muss, vor allem, wenn man die Bildgebung miteinbezieht. Denn zugleich bildet jede Vision einen in sich abgerundeten Komplex,156 der sich zwar in die allgemeine Linienführung der Komposition einfügt, nicht aber darin erschöpft, sondern jeweils spezifische Facetten in den Vordergrund rückt. Es fällt hierbei auf, dass der Text seine Kohärenzsignale vielfältiger setzt, als es bei der Annahme einer ausschließlichen und linearen Aufstiegsbewegung den Anschein hat. Alle im Zusammenhang mit dem Genießen relevanten Themen werden immer wieder ein- und ausgeblendet, wobei keines den durchgehenden Schwerpunkt in jeder einzelnen Vision bildet. Daher soll hier die in jedem Fall plausible These von der aufsteigenden Linearität der Visionen durch einen Hinweis auf deren kontrapunktischen Charakter ergänzt werden; die jene Geradlinigkeit mitunter durch »kristallförmi152 Ebd., S. 151f.: »I argue that for female visionary performers a transformation from visionary performance to written visions was a powerful vehicle to provide an interpretative framework – with ist ›citational authority‹ – for their ›scripts for performance‹.« 153 Vgl. hierzu besonders Fraeters, Handing on wisdom (2009). Fraeters verbindet »experience« und »knowledge« im Titel ihres Aufsatzes. Diese beiden Begriffe suggerieren ein Wissen, das nicht intellektuell, sondern experimentell erworben wird und den Menschen in seiner Gesamtheit in die Gotteserfahrung integriert. In der deutschsprachigen Wissenschaft ist der Begriff der »Erfahrung« in Verruf geraten, so dass Köbele dezidiert Abstand davon bekundet, vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 26–31. Doch möchte ich auf die performative Kraft der cognitio deo experimentalis hinweisen, die Zusammenschluss und Aufhebung von affektiven und intellektuellen, ja sogar von physischen und psychischen Elementen darstellt, und daher für eine erneute Verwendung dieses Begriffs plädieren. 154 Vgl. Warnar (1998), S. 182–185. 155 Vgl. exemplarisch die sehr sorgfältige Untersuchung der Visioenen, welche nicht nur die literarische Dimension des Textes würdigt, sondern diesen auch einer kohärenten Analyse unterzieht, so dass Struktur und Genre von Visionen deutlich werden: Fraeters, Gender and Genre (2004). Ergänzend dazu: Bardoel, On the nature (1992). 156 Vgl. hierzu Mommaers, Het VIe Visioen van Hadewijch (1975); ders., Het VIIe en VIIIe Visioen van Hadewijch (1975). In seinen beiden Aufsätzen stellt er sowohl Hadewijchs zentrale Themen (Genuss Gottes in Lust und Schmerz ebenso wie als Mensch und Gott) als auch die Verbindung zwischen Vision VII und VIII einzeln heraus.

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ge«157 Zusammenschlüsse unterbrechen, indem sie neue Punkte markieren oder fortsetzen. Zwar wird jedes Thema angeschlagen, oft aber erst zu einem späteren Zeitpunkt in immer neuen oder zumindest veränderten Symbolketten fortgeführt und vervollständigt, häufig in erweiterter und/oder verstärkter Form. Aufgrund der poetischen Sprache, welche die Visioenen als Kunstprosa ersten Ranges auszeichen,158 kann man zu einem musikwissenschaftlichen Ausdruck greifen: Denn die einzelnen Visionen scheinen einer Durchführung der anfangs angeschlagenen Themen zu ähneln, die am Schluss in ein fulminantes Unisono der 29 Vollkommenen münden. Der große Bogen eines unausgesetzten Aufstiegs wird durch verschiedene Kontrapunkte ergänzt.159 Diese Behauptung lässt sich durch die zentrale Funktion der ersten Vision belegen, die als eine Art Exposition dient, die – ähnlich einer Ouverture – verschiedene Hauptelemente der Visioenen präsentiert, welche danach in ausführlicher Form und eigenständiger Akzentsetzung wieder aufgegriffen werden. Hierfür könnte auch die auffallende Länge dieser Vision (380 Zeilen) ein Hinweis sein.160 Anhand der mystischen Baumgartenallegorie wird zuerst ein Panorama der Tugenden entworfen, welche später in immer wieder anderer Bildver157 Vgl. hierzu Brodsky (1988), bes. S. 148, wo er Folgendes zu der Besonderheit von lyrischer Prosa äußert: »Der Leser hat es durchweg nicht mit einem linearen (analytischen) Diskurs zu tun, sondern mit einem kristallförmigen (synthetischen) Anwachsen des Gedankens.« 158 Ebd. Lyrische Prosa kann ihm zufolge diese Kennzeichen aufweisen: Verdichtung, Verknappung, Rhythmisierung, Intensivierung, Klanglichkeit sowie Kreation einer spezifischen Semantik. 159 Doch legen die Visioenen mitunter die Frage nahe, ob jemand derart Vollkommenes überhaupt aufsteigen kann, oder ob nicht bereits die erste Vision per se (als solche) den besonderen und ungewöhnlichen Gnadenzustand repräsentiert, in dem sich das Ich der Visioenen befindet. Denn obgleich verschiedene Visionen auf den Reifeprozess anspielen, werden in beinahe jeder Vision die Exklusivität und die außerordentliche Auserwähltheit dieses Ichs in verschiedenen Aussagen der Engel, Propheten oder Christi betont. Hier lassen sich paradox anmutende Tendenzen ausmachen, die nicht völlig deckungsgleich miteinander sind: Auf der einen Seite der Hinweis auf das Erwachsen- bzw. Reif-Werden, auf der anderen Seite die Betonung einer ungewöhnlichen und von Anfang an feststehenden Auserwähltheit. Eventuell könnte man diese beiden Bewegungen dahingehend ineinander überführen, dass die Ungewöhnlichkeit und die Auserwähltheit im Verlaufe der Visionen noch gesteigert werden – oder dass jede Vision eine neue Akzentuierung dieser Auserwähltheit mit sich bringt. Dagegen Newman (1995), bes. S. 146. Durch eine Unterscheidung zwischen dem irdischen und ewigen Selbst in den Visioenen der Hadewijch entwickelt Newman eine Lösung für diese Paradoxie, ohne diese aber eingehender zu begründen: »Thus she took comfort in the thougt that although her earthly, empirical self might still be immature and far from union, her eternal self was already glorified in the beatitude of perfect love. Her bridal experience, therefore, is staged as a series of encounters between her limited self and her archetypal self, through whom she is united with the Beloved.« 160 Die Genussthematik spielt in der ersten Vision eine maßgebliche Rolle mit insgesamt vierzehn Stellen. Interessanterweise stimmt diese Zahl an Belegstellen genau mit den Visionen überein. Generell sollte die Zahlensymbolik in den Visioenen einmal gesondert untersucht werden.

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schlüsselung, ja sogar in zentralen Umstülpungen wie dem liebenden Misstrauen (ontrouwe) wieder auftreten.161 Im Verlauf der Untersuchung sollen nun die vielfältigen Vernetzungen zwischen Bezeichnung und Bild sichtbar gemacht werden. Die einzelnen Bezeichnungen ergeben untereinander Felder von großer Dichte, die sich gegenseitig verstärken und aufladen. Hierzu zählen im Kontext der Thematik von ghebruken: Begehren (begherte) und Liebeswahnsinn (orewoet), Erkennen (kinnen) und Schmecken (smaken) Gottes, Einheit mit Gottes Wesen im Genießen, das punktuell (nv) und ewig (eweleke) währt, als ein höchstes (overste) und vollständiges (gheheel) beschrieben wird, Reife und Vollendung (volwassenheit), ebenbürtige Befriedigung und vollkommene Erfüllung (ghenoechten; ghenoech doen), Einheit und Entrückung, Schmerz (ellende) und Genuss (ghebruken), Verschlingung und Verlorenheit im Abgrund (afgroont), Sturz (valen) und Strudel (wiel), Tiefe (diepte) und Höhe (hoghe), Liebe (minne) und Misstrauen (ontrouwe), Süßes (met sueten) und Saures (met sueren). Meistens werden einzelne Facetten zuerst erwähnt, jedoch wiederholt aufgegriffen, ergänzt und erweitert, was deren Intensität erhöht.

Untersuchung der Wörter ghebrukelecheit, ghebruken, ghebrukelike nach thematischen Gesichtspunkten Der verdichtete Text der Visioenen erschwert es, das Wortmaterial zu ordnen; hierfür böten sich thematische, morphologische und chronologische Kriterien: Erstens lassen sich die Bezeichnungen thematisch sortieren, was eine schnelle Orientierung erlaubt und zugleich aufzeigt, was auf der Textoberfläche eindeutig dem Genießen Gottes zugeordnet wird. Die Häufigkeit, in der bestimmte Verbindungen auftreten, beispielsweise mit dem Komplex aus Begehren/Entbehren oder dem Wesen Gottes, liefert weitere Indizien für deren Relevanz. Zweitens bieten Position und Verteilung der einzelnen Bezeichnungen im Gesamtgefüge des Zyklus Hinweise für deren Gewichtung. So kommt der thematischen Verknüpfung aus Begehren und Genuss dadurch eine vertiefte Bedeutungsdimension zu, da sie in der ersten, sechsten, siebten, achten, elften und vierzehnten Vision auftritt, ganz im Gegensatz zu der Verbindung aus Genuss und Gefühl, die dreimalig ausschließlich in der ersten Vision nachzuweisen ist. Solche positionsbestimmten Verbindungscluster sind ebenfalls latente Bedeutungsträger. 161 Vgl. hierzu Suydam, The Touch of Satisfaction (1996); Fraeters, Oh, Amour, sois tout — moi! (2009). An der Stelle ließe sich auch ein Bezug zum höfischen Roman herstellen, in dem häufig eine Umwertung oder zumindest eine Problematisierung der etablierten höfischen Werte wie zum Beispiel zuht, triuwe (Nibelungenlied), Þre (Iwein), minne (Tristan; Erec) stattfindet.

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Durch diese expliziten und dezidierten Wortverwendungen entsteht auf der Textoberfläche eine stabile Basis, die es erlaubt, in den folgenden Teilen ergänzend implizite und weiterausgreifende Bedeutungen anzulagern. Drittens ließe sich nach Wortarten differenzieren, denn die Visioenen verwenden, im Gegensatz zu den anderen beiden Texten, bereits drei morphologische Formen, nämlich die Substantiv-, die Verb- und die Adverbverwendung. Eine Sonderrolle spielt hierbei das substantivierte Verb, das neben der Verbform bevorzugt verwendet wird. Grundsätzlich zeigen die Visioenen eine Vorliebe für die Verwendung des im Vergleich zu der eher statischen Substantivform dynamischen Verbs. Besonders in der Verbform ghebruken scheint das gesamte Bedeutungsspektrum von gebrauchen bis hin zu genießen auf, das in diesem Wort verdichtet ist. Somit kann das Genießen, beeinflusst von der lateinischen Bestimmung von uti und frui, als eine Sonderform des exklusiven Gebrauchens bestimmt werden. Jener Doppelsinn aus gebrauchen und genießen schließt einander keineswegs aus-, sondern im Gegenteil sogar oft ein.162 Der Befund zeigt zum einen, welche Bedeutung dem Wort ghebruken in der niederländischen Mystik zukam, da er im Vergleich zu den späteren Form gebruiken und genieten eine deutlich höhere Flexibilität und Nuancierung in der Verwendung gestattete. Genau diese Komplexität erzeugt zum anderen aber eine gewisse Verschwommenheit und stellt eine semantische Analyse vor Herausforderungen. Überschneidungen wurden bei der thematischen Ordnungsweise nach Möglichkeit vermieden, doch da der Text außerordentlich dicht angelegt ist, wurden in Einzelfällen Mehrfachnennungen der Vollständigkeit halber bevorzugt.

Genießen im Begehren/Entbehren Die meisten Belege finden sich für die Verbindung von Genuss und Begehren/ Entbehren, insgesamt neun.163 Die Semantik des Genießens Gottes wird entscheidend durch das Begehren und Verlangen des menschlichen Partners be162 Vgl. hierzu augustinisch geprägte lateinische Traditionslinien, die stark auf die Unterscheidung abheben, die zwischen uti und frui besteht: Nämlich dass zwar der Genuss den Gebrauch einschließt, nicht aber umgekehrt, und dass der Endpunkt oder das Endziel im Genuss erreicht ist, während es im Gebrauch notwendigerweise auf etwas Anderes, nämlich Gott hingeordnet bleiben muss. Nur in Gott selbst findet der Genuss sein letztes, äußerstes und eigentliches Ziel. 163 Vgl. zum Begriff begherte Vanneste (1959), S. 90–94, der gleich zu Beginn die Bedeutung von begherte von der »sinnelijke lust« absetzt und sie stattdessen als »en stark verlangen naar de minne if naar God« bestimmt. Doch besteht m. E. die Besonderheit der begherte bei Hadewijch darin, dass sie, wie der Anfang der siebten Vision deutlich zeigt, sich sinnlich äußert und den ganzen Menschen ergreift, doch zugleich auf die Erfahrung des den Sinnen enthobenen Gottes zielt.

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stimmt. Doch ist deren genaues Verhältnis schwierig zu bestimmen, da mitunter das Begehren den Genuss geradezu einsaugt, doch beide verschiedentlich als selbstständige Größen auftreten, die zwar interagieren und einander wechselseitig bedingen, doch nicht vollends ineinander aufgehen. Eine Steigerung des Begehrens intensiviert auch das Genießen, aber das Genießen ist nicht automatisch mit dem Begehren gleichzusetzen. Ansonsten wäre eine semantische Analyse von ghebruken ohnehin sinnfrei, wenn es dieselbe Bedeutung wie begheren haben sollte. So inszeniert der Text zwar die Überlappungszonen, wo die beiden ununterscheidbar werden, als seltene und besondere Höhepunkte, wie in der vierzehnten Vision im Liebeswahnsinn (orewoet), aber ohne andere Formen im Zyklus aufzugeben, bei denen das Genießen Gottes als erlesenes Schmecken und Erkenntnis seines Wesens konzipiert wird. Die Visioenen inszenieren ein spannungsvolles Zugleich, so dass die Schmerzen des Begehrens und die Wonne des Genießens teils zusammen-, teils auseinandertreten, aber aufeinander bezogen bleiben. Substantive wie begherte und orewoet oder Verben wie begheren, ghebreken, eyschen, darven zeigen, dass das Begehren in einer breiten Palette an Ausdrücken im Text vertreten ist, wobei oft noch weitere Adjektive und Appositionen eingefügt werden, die es genauer kennzeichnen. So hat sich die Forschung besonders mit dem Begehren und seinen vielfältigen und oft ambivalenten Ausprägungen im Werk Hadewijchs beschäftigt. In der Hauptsache hat in dem Zusammenhang nur Paul Mommaers dem Genießen (ghebruken) besondere Aufmerksamkeit gewidmet,164 während Faesen zwar der begherte bei Hadewijch eine profunde Dissertation gewidmet hat, ohne jedoch den Genuss als gleich starkes Pendant zum Verlangen zu gewichten.165 Bei Fraeters dagegen verbinden sich Genießen und Begehren stärker, aber nicht ganz ebenbürtig.166 So sieht Fraeters die Steigerung der begherte zur orewoet in der vierzehnten Vision als Ausdruck des vollzogenen Reifeprozesses. Inhaltlich schließt meine Arbeit dicht an Mommaers und Fraeters an, doch unterscheidet sie sich von ihnen durch ihre dezidiert semantische Ausrichtung, die performative Dimensionen ebenso wenig ausschließt wie aisthetische. Hierfür mögen sich die vielgescholtenen (post-)modernen Theorieansätze als ganz nützlich erweisen, welche die mittelalterlichen Texte für andere Lesearten 164 Vgl. Mommaers, Hadewijch (2003). 165 Vgl. exemplarisch den Schluss bei Faesen (2000), S. 315–319. Faesen räumt ein, dass es Textstellen gebe, in denen ghebruken und das Verlangen im ghebreken als zwei voneinander abgesetzte Momente auftreten, doch dass bei genauerer Betrachtung diese beiden Aspekte unterschiedslos in einen zusammenfielen. Als Beleg hierfür zitiert er folgende Textstelle aus dem Zestiende Brief, 17–19: dat ghebreken van dien ghebrukene dat es dat suetste ghebruken. [Das Entbehren des Genießens ist das süßeste Genießen.] Dass das Verhältnis von Begehren und Genießen sich jedoch oft von Textstelle zu Textstelle verschiebt, indem es teils gemeinsam, teils getrennt auftritt, wird hier unterschlagen. 166 Vgl. Fraeters, Oh Amour, sois tout — moi! (2009).

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öffnen und innovative Bezüge freilegen. So wurden meines Erachtens die sinnlich-erotischen Dimensionen dieses Begehrens zwar angemerkt, aber in ihrer Radikalität noch nicht herausgestellt, vor allem was den Schmerz betrifft, den es auslöst. Die Körperlichkeit zeigt sich darin ungemein heftig. Denn gerade in den Visioenen ist das Begehren durchpulst von dem Verlangen nach Befriedigung und von dem Überschreiten aller körperlichen, seelischen und intellektuellen Grenzen bis hin zum Liebeswahnsinn. In unterschiedlicher Stärke zieht sich das Begehren von der ersten bis zu letzten Vision und wird genau an den entscheidenden Gelenkstellen des Zyklus, nämlich der ersten, siebten und vierzehnten Vision an den Anfang gestellt und zunehmend intensiviert und aufgeladen. In der ersten Vision bildet es gleichsam das Entr¦e und präsentiert die entscheidenden semantischen Verknüpfungen, die im Verlauf der Vision mehrfach wieder aufgegriffen werden, um deren Gewichtung zu unterstreichen: Ende dat eyschen dat ic van binnen hadde/ dat was om een te sine ghebrukelike met gode/. (Vis. I, 7–9) [Und das Verlangen, das ich innerlich hatte, richtete sich darauf, mit Gott im Genießen eins zu sein.]

Kommentar : Dieser prägnante Satz könnte eine Kurzbeschreibung für die gesamte Ausrichtung der Visioenen darstellen. Präsent sind alle hierfür notwendigen Elemente, nämlich Einheit, Genuss, Verlangen, die immer wieder aufgegriffen und umgestaltet werden. Statt ›Elemente‹ könnte man auch ›Spielsteine‹ sagen, die zwar ihre Anordnung ständig ändern, aber im Kern erkennbar bleiben. Dat was// de oetmoedecheit/ die met vroeder vresen/ daerse met bekint gods groetheit/ ende hare nederheit/ alle hare wel ghechierde doeghede mede dect/, om datse gheuoelt/ ende bekint dat hare ghebrect haers lieues te ghebrukene/ ende datse hare ne weet wies verheffen/. Dits puer oetmoet/. (Vis. I, 52–59) [Es war die Demut, die mit weiser Furcht, durch die sie die Größe Gottes und ihre eigene Niedrigkeit erkennt, alle ihre schön geschmückten Tugenden bedeckt; denn sie fühlt und erkennt, dass es ihr am Genießen ihres Geliebten fehlt, und sie weiß von nichts, dessen sie sich rühmen könnte. – Das ist die reine Demut.]

Kommentar : Das Entbehren oder Fehlen des Genießens ist, obgleich das Ich alle Tugenden besitzt, ein Nichts im Vergleich zu der Kenntnis des Gottesgenusses. In der Haltung der Demut ist aber bereits das Potential zum Genießen angelegt. Op die gheweldeghe stad sat die ghene/ dien ic sochte/ ende daer ic een met hadde beghert te sine ghebrukeleke. (Vis. I, 246–248) [Über dieser gewaltigen Stätte thronte derjenige, den ich suchte, und mit dem ich begehrt hatte, im Genießen eins zu sein.]

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Kommentar : Der Satz schließt sich an die Eingangsäußerung (Vis. I, 7–9) an, indem er nach der Bekundung des Verlangens eine zunehmende Annäherung ausdrückt, so wie eine Kamera allmählich heran ›zoomt‹, wenn das Ich den göttlichen Geliebten, den es zu genießen begehrt hat, erblickt. Die ersehnte Erfüllung wird am Anschluss daran aber an ihr scheinbar äußerstes Gegenteil, nämlich das Ertragen von Schmerzen, gebunden. Jc geue die noch/, seide hi/, een nuwe ghebod/: Wiltu mi gheliken inder menscheit/ alse du beghers inder gotheit als te ghebrukene van mi/, Soe saltu begheren arm, ellendech ende versmaedt te sine onder alle menschen/; Ende alle vernoye selen di smaken bouen alle erdsche ghenoechten/. (Vis. I, 288–294) [»Darüber hinaus gebe ich dir«, sprach er, »ein neues Gebot: Wenn du mir in meinem Menschsein genauso gleich sein willst, wie du verlangst, die ganze Gottheit mit mir im Genießen zu teilen, dann musst du danach verlangen, der ärmste, elendste und verachteste von allen Menschen zu sein. Und alles Leid soll dir besser munden als alle irdische Befriedigung.«]

Kommentar : In Anlehnung an das Gebot der Nächstenliebe167 kreiert der Text hier gleichfalls ein neues Gebot für das vollkommene Genießen Gottes. Denn erst indem man durch das Ertragen von Leid die menschliche Seite Gottes in der Imitatio Christi nachvollzieht,168 ist der Genuss der Fülle der Gottheit vollständig. Mit dem Verb smaken wird an dieser Stelle bereits auf implizite Semantisierungsformen des Genießens hingewiesen, die sich paradoxerweise zuerst auf das Leiden beziehen, das aber mit ghebruken in zentraler Beziehung steht. Danach wird das Begehren des Genießens erst wieder ab der sechsten Vision erwähnt, wie um anzuzeigen, dass das Ich nun ausreichend gereift sei, um die Last seines maßlosen Verlangens zu tragen. Es verbindet sich daher mit der Aufstiegsstruktur : Ende ic was te dien tiden in begherten/ ende in ouerstarken eyschene wie god nemt/ ende gheeft in verlorenheiden van hem, in op//nemene van ghebrukenessen, die hem als in allen na sinen wille sijn. (Vis. VI, 4–8) [Auch war ich zu dieser Zeit von dem Wunsch und dem unermesslichen Verlangen erfüllt (zu erfahren), wie Gott bei denen, die in jeder Hinsicht seinem Willen entsprechen, nimmt und gibt, wenn sie, ins Genießen aufgenommen, in Ihm verloren sind.]

Kommentar : Auffallend gesteigert ist an dieser Stelle das Begehren sowohl durch ein Adjektiv (overstarken) als auch durch Hinzufügung eines substantivierten Verbs (eyschene). Mit der Zunahme an Reife gewinnt das Ich der Visioenen 167 Eine gute Beispielstelle für den Versuch des Textes, sich mit bibelgleicher Heiligkeit und Autorität auszustatten. 168 Vgl. hierzu Mommaers, Hadewijch (2003).

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gleichzeitig eine Intensivierung seines Begehrens, das seine Fähigkeit zum Genuss Gottes entscheidend beeinflusst und darauf einwirkt. Jc begherde mijns liefs te vollen te ghebrukene/ ende te bekinnenne, ende te ghesmakene in allen uollen ghereke/: Sine menscheit ghebrukeleke mitter miere/ Ende de mine daer in te ghestane/ ende starc te wesene in onghebrekelecheiden te valne/ dat ic hem weder/ dat onghebrekeleke ghenoech ware/: Suuer ende enech/ ende in allen te vollen ghereke ghenoech te doghene in elker doghet. […] Want dat es dat volcomenste ghenoech doen te wassene god met gode te sine/. (Vis. VII, 21–29; 34–36) [Ich verlangte danach, meinen Geliebten vollständig zu genießen, zu erkennen und zu schmecken mit allem, was dazugehört: (Ich verlangte) seine Menschheit im Genießen mit der meinen vereinigt, und dass die meinige darin standhielte und (genügend) stark sei, um nicht da, wo nichts fehlt, zu versagen, damit ich Ihn im Gegenzug vollkommen befriedigte, indem ich rein und ausschließlich und umfassend zu einer jeden Tugend auf befriedigende Weise fähig sei. […] Denn das vollkommenste Genugtun besteht darin, dass man wächst, um Gott mit Gott zu sein.]

Kommentar : In der siebten Vision, dem Scheitelpunkt des Zyklus, wird das Begehren umfassend ausgedrückt und ausgesprochen: Es richtet sich nicht nur auf den Genuss, die Erkenntnis und das Schmecken Gottes, sondern zugleich auf die wechselseitige Befriedigung, die bis zur eigenen Göttlichkeit reicht. Außerdem wird die Fülle und Vollständigkeit eigens betont (te vollen/uollen), die sich auch in dem Adjektiv gheheel finden, das mit dem Genießen verbunden wird. Gleichzeitig signalisiert dieses umfassend bekundete Begehren eine erneutes Anwachsen der Vollkommenheit und eine stetig zunehmende Intensität des Genießens, das sich auf das Gott-Werden richtet. »Dijn grote daruen van minnen heeft di ghegheuen den ouersten wech in mijn ghebruken/ daer ic van ane beghinne diere werelt na hebbe ghehaect, dattu dicke met swaren begherten ontgouden heues/ ende noch sels/. Dies te daruene datmen bouen al beghert/ ende mi te gherijnne die ongherijnlec ben/: dat es die corte vre die alle langhe vren uerwint.« (Vis. VIII, 37–44) [»Dein großes Entbehren der Liebe hat dich auf den obersten Weg, der in mein Genießen führt, gebracht, wonach ich mich seit Anbeginn der Welt gesehnt habe, und was du oft mit unerträglichem Verlangen bezahlt hast und noch bezahlen wirst. Das zu entbehren, was man über alles begehrt, und mich anzurühren, der ich unerreichbar bin: Das ist der kurze Zeitraum, der alle langen Zeiträume schlägt.«]

Kommentar : Hier wird das Begehren zum einen mehrfach aufgeschlüsselt und zum anderen wiederholt (darven, met swaren begherten, darven), was eine zunehmende Differenzierung und Verstärkung seit dem Scheitelpunkt in der siebten Vision anzeigt. Das Entbehren bildet den Weg in das oberste Genießen und mit dem Verlangen zusammen eine feste Konstante im Text. Paradoxerweise verbinden sich das Berühren und das Entbehren des über alles Begehrten, was

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einen punktuellen Moment bildet, der alle anderen Zeiträume hinter sich lässt. Doch das Verhältnis zwischen Begehren und Genießen ist nicht fest bestimmt, sondern verschiebbar. So kann Begehren eine Form von Genuss sein und damit bis zur Kongruenz reichen, doch auch wie in dem Bild des fünften Weges auf den Berggipfel als eigene, davon abgesetzte Größe sukzessiv zum Genießen hinführen. […] dat was mine meeste raste om dat hijt woude. Maer aldus ghedane wasse, alse hen pleghet te sine die minnen ende ghebruken begaren, ende aldus ghedaen wee daer af hebben alse ic doe/. (Vis. XI, 143–146) [In all dem bestand meine größte Befriedigung darin, dass Er es wollte. Aber sie war von der Art, wie sie bei denen gewöhnlich ist, die lieben und nach Erfüllung verlangen und darunter solche Schmerzen leiden wie ich.]

Kommentar : Hinweis auf die Schmerzen des Begehrens, die sich im Vergleich zu der seligen Freude der Heiligen nur durch den Hinweis auf den Einklang mit dem Willen Gottes ertragen lassen. Doch nach der Schilderung durch Gegensatzpaare wie Weinen – Lachen, Klagen – Sich Preisen, Loben – Verspotten, welche die Heiligen von dem Ich kontrastierend absetzten, erweist sich der Akzent besonders stark auf der schmerzlichen Seite des Begehrens, das sich auf das Höchste, nämlich den Genuss, richtet. Diese im Text durchgängig vorgenommene Verbindung von Begehren und Schmerz, denen zugleich Genießen und Befriedigung zugeordnet sind, wird nicht nur fortwährend umspielt und aufgebrochen, sondern dient dazu, das Ich in vollständigster Exklusivität zu etablieren, so dass es sogar im Vergleich mit den Heiligen eine Sonderstellung einnimmt. Denn sein Begehren verzehrt und verbrennt es ebenso wie der Genuss es verschlingt, doch treten im Kontext der Abgrund-Metaphorik später Zustände der sekerheit und raste für das Ich auf. Die nuwe ghewout, dat was ene cracht van sijn selues wesene/ hem god te sine met minen doeghene na heme/ ende in heme, ghelijc dat hi mi was doe hi mensche leuede te mi; Dat was dat ic soude moghen minne ghedraghen/ alsoe langhe alse mi ghebrake ghebruken van minnen/, Dat ic soude gheweesleke ghedraghen die scaerpe schichte die minne in mi sciet/. (Vis. XIV, 12–20) [Aber die Machtfülle, die Er mir dann verlieh, die ich früher nicht besaß, die neue Macht, das war eine Kraft seines eigenen Wesens: Für Ihn Gott zu sein mit meinem Leiden, Ihm entsprechend und in Ihm, genau so, wie Er es für mich war, als Er um meinetwillen als Mensch lebte. Das besagte, ich sollte fähig sein, die Liebe so lange auszuhalten, wir mir ihr Genuss fehlen würde – dass ich den scharfen Pfeil, den die Liebe in mich hineinschießt, auf Dauer erdulden sollte.]

Kommentar : Am Ziel der Vollendung angelangt, wird dem Ich durch Gott eine ungeheure Macht zugeteilt, die aus dessen gelungenem Nachvollzug von Christi Leiden resultiert. Sie besteht in der erworbenen Kraft, das begehrte und über

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

alles gesetzte Genießen bereitwillig zu entbehren. Besonders hier wird der Unterschied zur ersten Vision deutlich, in welcher das Ich sich den Trost des Inneren der Rose genehmigen durfte, dessen es aber in der vierzehnten Vision nicht mehr bedarf.

Genießen von Gottes Wesen Dicht gefolgt ist die Zahl der Belegstellen zum Begehren/Entbehren von der engen Verbindung von Genießen mit Gottes Wesen. Wesen oder begherte sind Abstrakta, die in Hadewijchs Texten häufig vorkommen und von Vanneste in einer akribischen Wortschatzuntersuchung mit scholastischem Gedankengut verknüpft worden sind, die er in verschiedene Begriffsfelder unterteilte.169 An sein semantisch ausgerichtetes Vorgehen soll in dem Punkt, verschiedene Bezeichnungen zu einem Wortfeld zusammenzustellen und in ihrer Vernetzung zu analysieren, hier direkt angeknüpft werden. So kann die Verbindung von Genuss mit dem Wesen Gottes170 insgesamt durch acht Stellen belegt werden. Gott genießen, heißt Gott erkennen, Gott schmecken – eine Leitidee und ein Leitziel, welche die Visioenen in immer neuen Varianten und Facetten umspielen. Gleichzeitig ist der Preis hierfür ausgesprochen hoch und kommt der Selbstaufgabe171 gleich, da sich das Ich allen Schmerzen und Unruhezuständen aussetzen muss, um eine Zunahme seines Genießens zu erfahren. Denn das zehrende Begehren und Entbehren bringt besondere Schmerzen mit sich. Insgesamt enthalten die acht Belegstellen entweder Zusagen für das Ich, selbst Gott ghebruken zu dürfen, oder Aussagen, wie Gott sich selbst genießt. Gelegentlich werden sie mit Gottes Willen verbunden, der den Genuss maßgeblich regelt, da nur in Übereinstimmung mit seinem Willen der Gottesgenuss zulässig ist.172 Reynaerts Feststellung, dass Genuss Gottes im augustinischen Sinne als Teilhabe am Genießen Gottes aufgefasst wird,173 ist zuzustimmen, diese jedoch dahingehend zu ergänzen, dass das Ich der Visioenen auf das Entschiedenste verlangt, ebenbürtig in diesen Austausch integriert zu werden und Gott völlig zu 169 Vgl. Vanneste (1959). 170 Vgl. hierzu Faesen (2000), S. 65–75, wo er auf die inhaltlichen und thematischen Bezüge Hadewijchs zu Wilhelm von St. Thierry eingeht, beispielsweise die trinitarischen Bezüge des in den Visioenen geäußerten Verlangens. 171 Die allerdings eine massive Ausstattung mit einer Aura der Heiligkeit und Erlesenheit, zusammen mit einem ausgesprochene elitären Bewusstsein des Ichs keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil sogar unterstreicht. 172 Vgl. Vis. I, 203f., Vis. III, 15–17. 173 Vgl. hierzu Reynaert (1981), S. 213–216, bes. S. 215: »Het menselijke ›ghebruken‹. Nu kann m. i. niet anders dan als een deelnemen aan het goddelijke ›ghebruken‹ begrepen worden. […] Dit alles impliceert dato ok het meselijke ›ghebruken‹ in het ›wezen‹ van de godheit zou moeten plaats vinden.«

Zweite Wortanalyse

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genügen, indem es ihn vollständig befriedigt.174 Insgesamt lässt sich eine auffallende Aktivität des Ichs konstatieren, das durch die intensive Verwendung der Verbform ghebruken oder der substantivierten Verbform het ghebruken(e) eine zusätzliche Dynamik gewinnt. Um diese Wechselseitigkeit zwischen dem Ich und Gott zu bezeichnen, wird vorzugsweise das Verb ghenoechten oder ghenoech sijn verwendet.175 Grundsätzlich inszeniert sich das Ich im Text als jemand, der nicht damit zufrieden ist, bloß teilzuhaben, sondern verlangt zugleich in ebensolcher Intensität, dem göttlichen Partner gegenüber ebenbürtig im Spenden von Genuss zu sein – das heißt, selbst in diesen Kreislauf des Nehmens und Gebens, des Genießens und Genossen-Werdens bis zur Ununterscheidbarkeit einzutreten.176 »Blijtt hier alse gheuanghenne tote des di weder sent die di hier ontboden heeft te comene/ ende verstant sinen verhoelnen wille/ daer hi dijns in wilt ghebruken/.« (Vis. I, 201–204) [Und der Engel sagte zu mir : »Bleibe hier als eine Gefangene, bis dass dich der zurückschickt, der dich hierherkommen ließ, und verstehe seinen geheimen Willen, indem Er über dich verfügen (Ergänzung von mir : dich gebrauchen) will!«]

Kommentar : Bereits am Anfang wird angezeigt, dass Gott das Ich gebrauchen (ghebruken) will, ebenso wie das Ich den zunehmend leidenschaftlichen Wunsch verspürt, Gott in jeder Hinsicht und in allen Stücken genoegh te doeghene (Vis. VII, 21–36). Die dynamische Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Gott und Mensch, welche durch den schmerzlichen Nachvollzug der menschlichen Seite Christi die Ebenbürtigkeit der beiden Partner zur Folge hat, wird schon an dieser Stelle eingeführt. Ende met mijns te gheuoelne salic di ghenoech wesen ende du mi/. Dus werke minen wille met verstennesse/, mine alre ghenoechghelecste gheminde/. Dus pleghe mijns met minnen/, mine naehste ghebrukende/ in miere naeheit/. Dus saltu mijns ghebruken/. (Vis. I, 399–404)

174 Vgl. hierzu Suydam, The Touch of Satisfaction (1996). Genuss und Befriedigung werden in ihrem Aufsatz eng miteinander verknüpft, ebenso die Problematik einer adäquaten Übersetzung ins Englische (enjoyment, pleasure, satisfaction) erörtert. 175 Vgl. exemplarisch hierzu Willaert (1984), S. 149–152, bes. S. 151, der hierauf in seiner Untersuchung zu den Strofischen Gedichten hingewiesen hat; ebenso auf die negative Konnotation, die ghenoechten im Gegensatz zu ghebruken anhafte: »Nu blijkt echter dat hun plaats in een belangrijke mate wordt ingenomen door het vaak negatief geconnoteerde ›ghenoechte‹ en de positieve term ›ghebruken‹.« 176 Dieser Punkt findet eine Entsprechung in der dreizehnten Vision, als aus den beiden untersten Siegeln des göttlichen Antlitzes diejenigen treten, welche die Demut (oetmoedigheit) in der Freiheit der Minne zwischen sich und dem geliebten Gottes haben fahren lassen; vgl. hierzu Plassmann (1923), S. 100.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

[Und indem du mich fühlst, werde ich dir genügen und du mir. Führe so meinen Willen mit Verständnis aus, meine allerliebenswerteste (Ergänzung von mir : zutiefst erfüllendste) Geliebte. Mache mich so durch die Liebe zu deinem Lebensmittelpunkt, die du in meiner Nähe den engsten (Ergänzung von mir, um den identischen Klang wiederzugeben: den nächsten) Umgang mit mir hast. Auf diese Weise wirst du im Genießen mit mir vereint sein (Ergänzung von mir : So sollst du mich genießen.]

Kommentar : Das Genießen Gottes wird getragen von der Übereinstimmung mit Gottes Willen, so dass wechselseitige Überformungen von Genuss und Schmerz entstehen. Die Einheit mit Gott, angedeutet durch die Verdoppelung der Nähe und Innigkeit (mine naehste ghebrukende in miere naeheit), bekommt hier paradoxe Züge. Erneut stellt der Text Verbindungen zwischen dem EinanderGenügen bzw. der wechselseitigen Erfüllung, dem Willen und dem Genießen Gottes her, das sich zugleich durch die innigste Nähe auszeichnet. Dabei macht er deutlich, dass diese Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen meistens für den Menschen anspruchsvoll und leiderfüllt ist, da der Genuss Gottes hier an Schmerz, Nächstenliebe und Aufopferung gekoppelt wird. Ende alse du mi di volbringhes puer mensche in mi seluen dore alle weghe van volre minnen, Soe saltu mijns ghebruken wie ic minne ben/. (Vis. III, 15–17) [Und wenn du dich mir vollkommen übergibst, als reiner Mensch mir gleich auf allen Wegen vollkommener Liebe, dann wirst du, mich genießend, erfahren, wer ich, die Liebe, bin.]

Kommentar : Aus dem göttlichen Mund wird dem Ich zugesagt, dass es nach der vollständigen Selbstübergabe, die einer Selbstaufgabe gleichkommt, den Genuss seines Wesens erfahren werde. Der Weg hierfür ist das völlige Gleich-Werden in der Liebe, um Gott, die Liebe selbst, zu erfahren. Insgesamt wird bei jeder Stelle deutlich, dass Schmerz und Genuss, Selbstaufgabe und Gottesgewinn einander bedingen, um das volle Profil des Genießens zu bilden. Vare ende leue dat ic ben, Ende comt weder/ ende bringt mi gheheele godheit/, ende ghebruket wie ic ben. (Vis. III, 23–25) [Gehe hin und lebe, was ich bin, und komme zurück und bringe mir die ganze Gottheit und genieße, wer ich bin.]

Kommentar : Abschließend wird das Ich auf den harten Weg des Lebens in ununterbrochener Liebe geschickt und erhält hierfür die Zusage, danach, in vergöttlichtem Zustand, Gott in seinem ganzen Sein genießen zu dürfen. Paradoxerweise führt der Weg zu Gottes Genuss über die menschliche Seite Gottes in der Imitatio Christi. Doch wird an solchen Stellen ein Genießen versprochen, das sich nicht im Begehren erschöpft, wenn sich auch solche Formen von Gottesgenuss durch den Text ziehen.

Zweite Wortanalyse

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Ende die op den throen sat inden hemel seide te mi/: »Dese 7iij7 throne ben ic in 7iij7 personen/: troen mensche/, cherubin heylighe gheest/, seraphijn in mijn ghebruken daer ic al ben/.« (Vis. V, 59–62) [Und der auf dem Thron im Himmel saß, sprach zu mir : »Diese drei Himmel stellen mich in drei Personen dar : Der Chor der Throne als Mensch, der der Cherumbim als Heiliger Geist, der der Seraphim als mein Genießen, in dem ich ungeteilt bin.«]

Kommentar : Die Trinität wird in drei Himmel bzw. drei Engelschöre aufgefächert, und Gott selbst bestimmt sich als das ungeteilte Genießen: fruitio dei in augustinischer Tradition, in welcher Gottvater derjenige ist, der sich unaufhörlich selbst genießt. »Aldus ghedane ben ic in ghebrukene/ ende in kinnen/ ende in op ghenomenheiden den ghenen die mi ghenoech/ na minen wille sijn/. (Vis. VI, 96–98) [»So bin ich beschaffen im Genießen, in der Erkenntnis und in der Entrückung für diejenigen, die mir (Ergänzung von mir : genügend) in meinem Willen entsprechen.«

Kommentar : An dieser Stelle erfolgt eine Selbstbezeichnung aus dem göttlichen Mund, die das Genießen noch mit der Erkenntnis177 und der Entrückung verbindet, aber nur für diejenigen, die vollständig und genügend dem göttlichen Willen entsprechen. Zugleich wird die Komponente des Erfüllens oder der Befriedigung hierdurch wieder auf der Textoberfläche präsent (ghenoech […] sijn). »Nu ghebruke mijns/ dat ic ben/ metter cracht dijns uerwinnens/, ende die ghesaedde selen eweleke leuen ute di.« (Vis. X, 66–69) [»Genieße mich nun, wie ich bin, mit der Kraft deines Siegens, und die Gesättigten werden auf ewig von dir leben.«]

Kommentar : Das ertragene Leiden schenkt dem Ich das Genießen Gottes bzw. seines Seins in der brulocht und spendet dadurch für die Lebenden Sättigung. Es tritt damit an exponierter Stelle in die Gemeinschaft der edlen Schar ein, da es alle Prüfungen der Liebe siegreich durchlaufen hat. Im Genießen Gottes werden damit zugleich die Gemeinschaftsaspekte explizit profiliert, die sich mit dem Schmecken seines Wesens verbinden. Den heileghen//mindic hare wesen/: dat en was mi maer ene beniedheit, also uele rasten dat hi sijns daer in ghebruuct; maer alsoe ghedane raste heeft mi dicke wee gedaen/, ya/ emmer wel 7xl7 werf wee ieghen 7i7 gherieuen. (Vis. XI, 134–138) [An den Heiligen liebte ich ihr seliges Dasein. So viel selige Ruhe bereitete mir ein einziges Behagen, weil Er sich darin genießt. Doch (andererseits) hat mir eine derartige Ruhe oft Gram bereitet, ja immer bestimmt 40 Mal mehr Gram als Behagen.] 177 Vgl. hierzu die aus den ersten Büchern des Fließenden Lichts bekannten Verknüpfungen aus minne – bekanntnisse – gebruchunge bzw. bekanntnisse – beschowunge – gebruchunge, welche die Kombination von Genuss und Erkenntnis ebenso aufweisen.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Kommentar : Erneut wird explizit gesagt, dass Gott sich unaufhörlich selbst genießt, dass dem Ich jedoch diese Ruhe des Genießens mehr Leid als Freude bereitet, weil es davon ausgeschlossen ist und die Liebe selbst nie als Ruhe, sondern als Rastlosigkeit erlebt. Gottes Sein ist wesentlich durch den Genuss gekennzeichnet, während das Ich dagegen sich seine Ebenbürtigkeit und sein Genügen durch schmerzliches Leiden und Erdulden erwerben muss, ihm dafür aber ein gesteigertes Genießen und eine zunehmende Gotteserkenntnis in der Reife in Aussicht gestellt wird.

Genießen in der Einheit Da das Genießen untrennbar mit dem Wesen Gottes verbunden ist, stellt es zugleich eine besondere Qualität der Einheit mit Gott dar, auf die häufig verwiesen wird.178 Diese wird durch die Adverbverwendung signalisiert, die Komponenten des Lustvollen und Sinnlichen enthalten und sich mit dem Empfangen des Abendmahls verbinden. Doch handelt es sich hierbei um einen den Sinnen enthobene und trotzdem paradoxerweise von sinnlichen Spuren nicht freie Sinnlichkeit. Das Genießen in der Einheit zeichnet sich zudem durch eine absorbierende Kraft aus, die alle anderen Wahrnehmungs- und Verstandesfähigkeiten einnimmt und durch sich völlig ersetzt. Das Selbst geht darin verloren, ohne es zu bedauern, da der Genuss alle anderen Dinge übersteigt. Häufig kündigt der Text die Einheit erst an und rückt sie dann allmählich näher. Das entspricht der Haltung der fortwährenden Erwartung oder der Disposition des nimmermüden Begehrens, die ihn prägen. Die Belege für die Verbindung von Genuss und Einheit sind insgesamt fünf explizite, wovon alle in der ersten Hälfte des Visionszyklus positioniert sind, drei davon sogar in der ersten Vision. Das stellt einen deutlichen Unterschied zu dem sich fast durchgängig durchziehenden Begehren dar, dem offenbar eine gravierendere Bedeutung zukommt.179 Zusammen mit dem Komplex von Genießen und Einheit bildet das Verlangen eine häufige Zusammenstellung, welche sich im Verlauf als dynamisch und flexibel verschieb- und anordbar erweist. Das Geflecht des Textes ist zwar dicht, aber geschmeidig und keineswegs starr. Da die Stellen ähnliche Zusammenhänge thematisieren, wird jeweils nur ein knapper Kommentar gegeben. Die einzelnen Sätze kündigen entweder das Verlangen nach der Einheit im Genießen an oder teilen seinen Vollzug mit, in dem sich Verlust und Genuss verbinden: 178 Vgl. Reynaert (1981), S. 215: »Inderdaat blijkt dit ›ghebruken‹ […] eveneens met de hoogste eenheidsbeleving geassocieerd te zijn: het vindt plaats in de ›grondelose afgroont‹ waar het goddelijk Wezen zijn eigen eenheid realizeert.« 179 Vgl. Fraeters, Oh Amour, sois tout — moi! (2009).

Zweite Wortanalyse

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Ende dat eyschen dat ic van binnen hadde/, dat was om een te sine ghebrukelike met gode/. (Vis. I, 7–9) [Und das Verlangen, das ich innerlich hatte, richtete sich darauf, mit Gott im Genießen eins zu sein.]

Kommentar : Verlangen und Einheit im Genießen verbinden sich an dieser Stelle, welche die erste Vision eröffnet. Das Ich der Visioenen kündigt an, was sich sodann vollzieht und rückblickend wie folgt beschrieben wird: Doen ic onsen here ontfaen hadde/, doen ontfinc hi mi te heme/, Soe dat hi mi op nam alle mine sinne buten alle ghedinckenisse van vremder saken/ omme sijns te ghebrukene in enecheiden/. (Vis. I, 15–18) [Als ich Unseren Herrn empfangen hatte, da empfing Er mich bei sich, indem Er mir alle meine Sinne vollständig der Erinnerung an etwas Fremdes benahm, um Seiner in Einheit teilhaftig zu sein.]

Kommentar : Mit der Einnahme des Abendmahls – den Leib und das Blut Christi – wird das Ich im Gegenzug von ihm in die verlangte Einheit aufgenommen. Das Abendmahl stellt die Initialhandlung dar, um das Genießen einzuleiten. Op die gheweldeghe stad sat die ghene/ dien ic sochte/ ende daer ic een met hadde beghert te sine ghebrukeleke. (Vis. I, 246–248) [Über dieser gewaltigen Stätte thronte derjenige, den ich suchte, und mit dem ich begehrt hatte, im Genießen eins zu sein.]

Kommentar : Erneut zeigt der Text erst Christus, den das Ich über alles begehrt, bevor der Vollzug der Einheit im Genuss mitgeteilt wird. […] dan 7I7 te wesene met hem/, ende dies te ghebrukene; daer in bleuic men dan ene halue vre. (Vis. VI, 87–89) [(…) als mit Ihm eins zu sein und das zu genießen. In diesem Zustand blieb ich weniger als eine halbe Stunde.]

Kommentar : Kurze Schilderung des Verschlungen-Seins im Genießen der Einheit mit Gott mit mystischer Zeitangabe, die auf die relative Kürze der Dauer verweist. Deutlich wird im Vergleich zur ersten Vision eine Intensivierung der Einheit im Genuss. »Gherechte here ende moghende/, Nu tone dine moghende cracht dijnre enecheit te eneghene na ghebruken dijns selues/.« (Vis. VII, 51–53) [Und der Adler wandte sich um, indem er sprach: »Gerechter und mächtiger Herr, nun zeige deine gewaltige Kraft, (den Menschen) durch den Genuss deines Wesens mit deiner Einheit zu vereinigen.«]

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Kommentar : Durch den Adler als göttlichen Boten wird die Einheit im Genuss für das Ich im Vorfeld angekündigt. Diese Einheit im Genuss wird zugleich als Offenbarungsakt der göttlichen Kraft angesehen. Ende ic wart op ghenomen/ ende wart gheuoert op dien berch. Daer saghic een anschijn van eweleker ghebrukenessen/ daer alle die weghe in inden/ ende daer alle die ghene/ die de weghe volbrachten 7J7 in worden/. (Vis. VIII, 9–13) [Und ich wurde aufgenommen und auf diesen Berg geführt. Da sah ich ein Angesicht ewigen Genießens, in das die Wege alle enden und in dem diejenigen eins werden, die die Wege bis ans Ende gegangen sind.]

Kommentar : Vor dem Vollzug des Genießens wird das göttliche Angesicht erst gezeigt, in dem alle Wege eins werden. Die Facetten des Einen und des Ewigen sind hier ineinander verdichtet und ergänzen sich gegenseitig. In Gott endet die Vielheit, und Gott hebt die Zeit auf. Beides zeigt sich verstärkt in der Teilhabe an seinem Genuss. Genießen Gottes verbindet sich mit der Einheit Gottes, die leidenschaftlich begehrt wird und daher fast ebenso häufig auf der Textoberfläche auftritt wie das Begehren. Im Verlauf der Visioenen wird diese Einheit mit Gott zunehmend implizit semantisiert, wobei im Textverlauf das Genießen durch weitere Komponenten ergänzt und detaillierter bestimmt wird, an denen das Ich vollständig teilhaben und ihnen zugleich entsprechen will. Drei dieser Komponenten, die jeweils drei Mal in Adjektiv- oder Adverbform auftreten, sind eweleke, ghehele und overste, die damit einen bestimmten Aspekt in dem Wesen Gottes bezeichnen, der sich ewig selbst genießt und dabei vollkommene Ganzheit, unbegrenzte Ewigkeit und absolut Höchstes in sich schließt. Erst diese drei Attribute machen das perfekte Genießen aus und zeigen deutlich, dass Genuss und Begehren im Text nicht immer ineinander aufgehen. Ewiges Genießen Insgesamt lassen sich vier Belegstellen nachweisen, die, wie die anderen beiden, breit gestreut in den Visioenen auftreten und sie wie ein Geäder durchziehen. Ewiges Genießen signalisiert zum einen ununterbrochene Dauer, die Gottes unaufhörliche Seinsweise außerhalb von irdischer Zeit kennzeichnet. Zum anderen weist es natürlich Bezüge zur ewigen Seligkeit auf, in welcher der Mensch dann dauerhaft das Eins-Sein mit Gott genießen darf. Die Bedeutung des ewigen Genießens steigt mit der Beobachtung, dass bis über die Hälfte des Zyklus hinaus, nämlich bis zur achten Vision, Unterbrechung und Rückkehr des Ichs in den Zustand vor der visionären Entrückung als ausgesprochen schmerzlich und peinigend beschrieben werden. Auch die Unterscheidung zwischen dem punktuellen Jetzt des Genießens und der Zusicherung seiner ewigen Fortsetzung wird

Zweite Wortanalyse

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in der fünften Vision vorgenommen. Mitunter sind overste (Vis. V, 62–65) und eweleke oder gheheele und eweleke (Vis. I., 173–176) miteinander verknüpft, wobei Anklänge an die Einheit (eneghe, Vis. I, 173) nicht fehlen, was die Dichte des Textes bestätigt. Ebenso vernetzen sich die Bezeichnungen mit Bildchiffren des Genießens wie Abgrund/Strudel oder dem Verschlungen-Werden, wodurch weitere Semantisierungen vorgenommen werden: Die derde telch/ was dat ghestade wesen daermen der minnen altoes gheheel met es vte menechfuldeghe doechden in die gheheele eneghe doghet/, die de minnende beide in een verswelghet/ ende worpse inden afgront, daerse soeken ende vinden selen die eweleke ghebrukelecheit. (Vis. I, 170–176) [Der dritte Zweig bedeutet eine beständige Verfasstheit, in der man der Liebe immerzu ganz und gar und außerhalb einer Vielzahl von Tugenden in der ganzen, ungeteilten Tugend angehört, die die beiden Liebenden in eins verschlingt und in den Abgrund wirft, wo sie den Zustand des ewigen Genießens suchen und finden werden.]

Kommentar : Die Liebe wird erst dann zur Vollendung gebracht, wenn sie beständig und stetig ausgeübt wird, und erst dann ist der liebende Mensch in der Lage, sich mit Gott in seiner abgründigen Tiefe zu vereinigen. Auffallend ist an dieser Stelle die Wiederholung von gheheel(e), das durch seine Ganzheit oder Unteilbarkeit bereits die Einheit andeutet, die durch das in een verswelghen dynamisch aufgeladen und expliziert wird. Gemeinsam mit dem Aspekt des Ewigen bildet sich auf diese Weise ein dichtes Bezugsfeld, das beinahe alle zentralen Bestandteile des göttlichen Wesens miteinander verknüpft. Ende hi nam mi op buten den gheeste in dar ouerste ghebruken van wondere sonder redene/; daer ghebroekic sijns alsic eweleke sal/. (Vis. V, 62–65) [Und Er nahm mich aus dem Geist auf in das höchste Genießen, einen wunderbaren Zustand, der dem Verstand verschlossen ist. Da war ich in einem Genießen Seines Seins, wie ich es in Ewigkeit sein werde.]

Kommentar : Hier wird das Genießen von Gottes Sein als der höchste Zustand bestimmt, der später ewig andauern wird, da die Teilhabe am ewigen Genießen Gottes auch die Teilhabe an seinem Wesen impliziert. Der Aspekt des Ewigen beinhaltet meistens eine Zusage für das Ich, die sich auf den Zeitpunkt nach seinem leiblichen Tod bezieht und das punktuelle vom ewigen Genießen absetzt. Zusätzlich findet eine Verschränkung von overste und eweleke statt, die erneut zeigt, wie sich die einzelnen Komponenten miteinander verbinden. »Alsoe dws nv ghebrukes/ saltws eweleec ghebruken/.« (Vis. V, 67f.) [»So wie du ihn jetzt genießt, wirst du ihn in Ewigkeit genießen.«]

Kommentar : Ein weiteres Mal wird die Zusage von Gott für ein ewiges Genießen in der Zukunft gegeben. Das Ich fällt hier aus der irdischen Zeitstruktur heraus

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

und wird für einen Augenblick in Gottes Ewigkeit überführt. Die Passage kombiniert in den Zeitadverbien nv und ewelec punktuelle und dauernde Elemente des Genießens. Ende ic wart op ghenomen/ ende wart gheuoert op dien berch. Daer saghic een anschijn van eweleker ghebrukenessen/ daer alle die weghe in inden/ ende daer alle die ghene/ die de weghe volbrachten 7J7 in worden/. (Vis. VIII, 9–13) [Und ich wurde aufgenommen und auf diesen Berg geführt. Da sah ich ein Angesicht ewigen Genießens, in das die Wege alle enden und in dem diejenigen eins werden, die die Wege bis ans Ende gegangen sind.]

Kommentar : Die Trinität wird durch den Genuss und die Ewigkeit bestimmt, was sich gleichzeitig mit der Einheit verbindet. Genuss in Ewigkeit ist das Endziel aller Wege und zugleich Gottes Wesen selbst. Der Genuss Gottes ist ewig, weil Gottes Wesen ewig ist und Gott sich selbst ewig genießt. Durch die Teilnahme des menschlichen Partners an diesem ewigen Genießen, der zudem auf völlige Ebenbürtigkeit und ganze Befriedigung besteht, wird ghebruken nicht nur durch den Schmerz des Entbehrens und die Verzehrung des Verlangens erweitert, sondern erhält auch punktuelle Momente, wodurch sich die Ordnungen von Zeit und Ewigkeit überlagern.

Vollständig-ungeteiltes Genießen Die Facette der Ganzheit, Vollständigkeit und Vollkommenheit im Genuss wird entweder durch das Adjektiv gheheel/ghehel, durch das zweimal wiederholte Adverb voll oder durch das Substantiv rijcheit in Verbindung mit dem Adjektiv alle ausgedrückt. Das Genießen ist damit als ein Zustand der Fülle gekennzeichnet, den Gott selbst ausmacht und zugleich den Auserwählten zuteil wird. In der siebten Vision wird auch ein Anspruch des Ichs auf das totale Genießen ohne Einschränkungen deutlich. Häufig treten zugleich Verbindungen mit der Bildlichkeit des Genießens auf. Bei der Verwendung von gheheel/ghehel wird zugleich die Unteilbarkeit und das Eins-Sein Gottes impliziert. Insgesamt finden sich hierzu fünf Belegstellen: Dat herte dar in die rose es soe gheheel/, dat es ghebrukelecheit van minnen gheuoelleke. (Vis. I, 422–424) [Das Herz, das so ungeteilt in der Rose ist, bedeutet das Genießen der Liebe im Gefühl.]

Kommentar : Das gefühlvolle Genießen der Liebe wird hier explizit mit dem Bild des Rosenherzens verknüpft, das ganz und ungeteilt ist und damit Aspekte der Trinität ausdrückt. Aufgrund der Bildgebung herte und seiner genaueren Charakterisierung gheheel verbinden sich die Aspekte der Ganzheit mit der Einheit.

Zweite Wortanalyse

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Jc sach in sijn borst dat ghehele ghebruken siere naturen in minnen. (Vis. VI, 72–74) [Ich sah in seiner Brust das ganze Genießen seiner Natur in der Liebe.]

Kommentar : Hier wird – anstelle des Herzens – die Brust als Chiffre des Inneren und Intimen verwendet und mit dem ganzen Genießen der eigenen Natur Gottes verbunden. Wieder wird das Wort ghebruken mit einem unmittelbaren Bild aus der Sphäre des Körpers verknüpft und damit plastisch gemacht. »Aldus ghedane ben ic in ghebrukene/ ende in kinnen/ ende in op ghenomenheiden den ghenen die mi ghenoech/ na minen wille sijn/. Jc gheleide di god/ ende mensche weder in die wrede werelt, daer du salt ghesmaken/ alre doede: des du hier weder coms in den ghehelen name mijns ghebrukens/ daer du in ghedoept best in mine diepheit.« (Vis. VI, 96–103) [»So bin ich beschaffen im Genießen, in der Erkenntnis und in der Entrückung für diejenigen, die mir in meinem Willen entsprechen. Ich führe dich als Gott und Mensch wieder in die grausame Welt, wo du alle Tode durchmachen wirst, bis dass du hierher zurückkehrst in den vollen Namen meinens Genießens, in dem du in der Tiefe meines Wesens getauft bist.«]

Kommentar : Die Äußerung Gottes gliedert sich in drei Teile: a) Gottes Beschaffenheit, b) grausame Rückkehr in die Welt und c) tröstende Zusage. Wie im ersten Buch des Fließenden Lichts verbinden sich Genuss und Erkenntnis (FL I, 21). Der vollständige Genuss Gottes wird dem Ich erst nach einer ebenso vollständigen Folge des Leidens und Sterbens zuteil, bis dass man im Namen des Genießens getauft wird. Gott wird sowohl in seiner Göttlichkeit im Genuss als auch in seiner Menschlichkeit im Schmerz nachvollzogen, um diese Vollständigkeit zu erlangen. Die Tiefe des göttlichen Wesens verweist implizit auf dionysische Aspekte. Jc begherde mijns liefs te vollen te ghebrukene/ ende te bekinnenne ende te ghesmakene in allen uollen ghereke/. (Vis. VII, 21–23) [Ich verlangte danach, meinen Geliebten vollständig zu genießen, zu erkennen und zu schmecken mit allem, was dazugehört.]

Kommentar : In einem kurzen Teilsatz finden sich Wiederholungen von (te) vollen, die sogar mit beim zweiten Mal allen gesteigert werden. Fülle und Schmecken verbinden sich miteinander im Genießen. Das Begehren des Ichs nach der Fülle des Genießens und der Vollständigkeit des Erkennens und Schmecken Gottes wird durch die Wiederholung intensiviert und performativ in seiner Vehemenz inszeniert. Erkenntnis und Schmecken bilden besonders in den Visioenen eine semantische Grundprägung des Genießens. »Sich hier/ hoe ic ben kimpe/ ende rijcleec ghenen ghewareghen anschine/ dat al dore siet/ ende doer licht den volcomenen dienste, dat vollei//det/ ende leret diuiniteit/ ende

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

vroetheit/ ende rijcheit gheeft aller ghebrukenessen van allen vollen consteleken smake/.« (Vis. VIII, 16–21) [»Sieh, auf welche Weise ich ein Streiter bin und mächtig vor jenem wahrhaften Angesicht, das durch alles hindurchsieht und den vollkommenen Dienst durchstrahlt, das zur Vollendung führt und das Wesen Gottes und Weisheit lehrt, und das den Reichtum schenkt des unverminderten Genießens eines jeden in der Fülle der Kenntnis gegründeten Geschmacks.«]

Kommentar : Die Verbindung von Erkenntnis und Geschmack, die sich beide im Genießen Gottes bündeln und ungeschmälert und vollständig sein müssen, um sich in ihrer raffinierten Fülle zu entfalten, wird an dieser Stelle erneut aufgegriffen und mit den Wiederholungen von aller/allen gesteigert. Ergänzend wird das Substantiv rijcheit und das Adjektiv vollen hinzugefügt, das heißt, der Text schafft drei verschiedene Ausdrucksmittel für die Vollständigkeit des Genießens in seinen einzelnen Geschmacksnuancen, die das Ganze ergeben. Somit zeigen die Wiederholungen180 nicht nur eine sich steigernde Intensivierung und zunehmende, fast beschwörende Eindringlichkeit, sondern gewinnen zugleich im Vollzugscharakter der Sprache performativen Nachdruck. Eng mit dieser performativen Dimension verbunden ist der Nexus zum Geschmack und zum Schmecken, der an drei Stellen181 aufgebaut wird und die explizite Wortebene versinnlicht, indem sie diese mit körperlichen Dimensionen überblendet. In der Fülle Gottes erfährt das Ich der Visioenen die Fülle des Genießens und hat damit vollständig Teil an seinem Wesen, ohne jedoch auf Ebenbürtigkeit verzichten zu wollen, sondern diese erst recht einzufordern und leidenschaftlich zu verlangen. Gleichzeitig besteht eine enge Verbindung zwischen der Vollständigkeit des Genießens und der Vollkommenheit des Seins, denn wenn das Ich Gott ungebrochen und eingeschränkt in seiner Totalität genießt, hat es sich selbst sowohl im menschlichen Nachvollzug als auch in seiner Vergöttlichung perfektioniert. Besonders um die Mitte des Visionszyklus finden sich Belege, welche die Fülle und Vollkommenheit explizit thematisieren. Sie markieren den Scheitelpunkt in der Entwicklung des Ichs und seinen Aufschwung auf ein höheres Niveau, was im Bild des Berges aus der achten Vision unmittelbar plastischen Niederschlag findet. Gleichzeitig ist die Verbindung mit der Bildlichkeit von der ersten bis zur letzten Vision nachweisbar.182

180 Vgl. Vis. VII, 21–23; Vis. VIII, 16–21. 181 Vgl. Vis. I, 422–424; Vis. VII, 21–23; Vis. VIII, 20f. 182 In der ersten Vision bspw. im Bild der Rose und in der vierzehnten Vision in dem abschließenden Wort des göttlichen Antlitzes, der dem Ich zusagt, Ihn vollkommen zu kennen.

Zweite Wortanalyse

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Das höchste Genießen Hierarchisierung kann als ein grundlegendes Strukturprinzip der Texte gelten, das sich besonders beim Genießen Gottes immer wieder zeigt. So entwickelt das Fließende Licht im ersten Buch eine dreigliedrige Steigerung aus Liebe, Erkenntnis und Genuss, die von Buch zu Buch verschoben wird, und der Mirouer prägt sieben Stufen oder Seinszustände aus, die Vernichtung und Genuss ab der vierten Stufe ineinander überführen. Die Visioenen dagegen prägen Hierarchien durch Räumlichkeiten aus, die in die höchste Höhe und/oder die tiefste Tiefe ausgreifen. Doch folgt die Anordnung und Zahl der einzelnen Visionen einem hierarchisierenden Prinzip, da sich die Offenbarungen zunehmend steigern, bis das Ich das Angesicht Gottes in seiner Ganzheit erblickt und dem genussvollen Liebeswahnsinn verfällt. In der vom Text verschiedentlich aufgebauten Hierarchie nimmt das Genießen entweder den höchsten oder den tiefsten Platz ein, was unterschiedliche Dimensionen des göttlichen Wesens chiffriert, nämlich seine Erhabenheit und seine Unauslotbarkeit. Doch treffen beide Dimensionen im Punkt der äußersten Unübertreffbarkeit zusammen, denn es gibt nichts Höheres und nichts Tieferes als Gott, was nicht nur im abstrakten Sinne aufgefasst, sondern räumlich versinnbildlicht wird. Hierzu tragen zum einen die entsprechenden Adjektive im Superlativ bei, zum anderen die Bilder wie Berg oder Abgrund, welche die Semantik des Genießens an der Stelle entscheidend verdichten.183 Das Bild qualifiziert mitunter die einzelne Bezeichnung eingehender als es umgekehrt der Fall ist. Insgesamt gibt es drei Stellen, welche das Adjektiv overste mit dem Genießen direkt kombinieren und damit das Genießen als das Höchste qualifizieren, was durch den Superlativ als die höchste Wertung impliziert wird. Gleichzeitig kennzeichnet der Text in einer Parallelbewegung das Tiefste als das Höchste: Ende hi nam mi op buten den gheeste in dar ouerste ghebruken van wondere sonder redene/. (Vis. V, 62–64) [Und Er nahm mich aus dem Geist auf in das höchste Genießen, einen wunderbaren Zustand, der dem Verstand verschlossen ist.]

Kommentar : Das höchste Genießen ist in der fünften Vision ein überwältigender Zustand, der von Unsagbarkeit gekennzeichnet ist. Es findet buten den gheeste statt, was im Text immer ein Signal für eine exklusive Offenbarung darstellt,184 was zusätzlich durch das Substantiv wondere betont wird – solche Wunder werden dem Ich gezeigt, dass sie nicht in Worte zu fassen sind. Auf dichtem 183 Bereits in der ersten Vision tragen die Blätter der obersten Zweiggruppe die goldenen Herzen des Genießens, vgl. hierzu Vis. I, 170–176. 184 Vgl. Fraeters, Gender and Genre (2004); Bardoel, On the nature (1992).

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Raum zeigt der Text ab der fünften Vision ein durch Leid gesteigertes und damit höherwertigeres Genießen, das eindeutig als solches gekennzeichnet wird. »Dijn grote daruen van minnen heeft di ghegheuen den ouersten wech in mijn ghebruken/ daer ic van ane beghinne diere werelt na hebbe ghehaect, dattu dicke met swaren begherten ontgouden heues/ ende noch sels/.« (Vis. VIII, 37–41) [»Dein großes Entbehren der Liebe hat dich auf den obersten Weg, der in mein Genießen führt, gebracht, wonach ich mich seit Anbeginn der Welt gesehnt habe, und was du oft mit unerträglichem Verlangen bezahlt hast und noch bezahlen wirst.«]

Kommentar : Die zunehmende Qualität des Genießens drückt sich in der achten Vision durch den fünften Weg aus, der auf den nur wenigen zugänglichen Gipfel des Berges direkt in das höchste Genießen führt und nur durch das Entbehren in Liebe beschritten werden kann. Hier drückt der oberste Weg, der direkt in das Genießen Gottes führt, die höchste Qualität des Genießens aus, das an dem der Gottheit Anteil hat. Die Bildlichkeit des obersten Weges stattet hier das Genießen mit zusätzlichen Details aus und macht seine herausgehobene Wertigkeit erst deutlich. Die twee ouerste vlieghen in die hoghede daer god die ouerste cracht der minnen met ghebruket. (Vis. XIII, 33–35) [Die zwei obersten fliegen in die Höhe, in welcher Gott die höchste Kraft der Liebe genießt.]

Kommentar : In der dreizehnten Vision verbinden sich die obersten Flügel im göttlichen Angesicht mit der höchsten Kraft der Liebe im Genießen Gottes. Die obersten Flügel fliegen in die Höhe zur höchsten Kraft im Genießen. Die Höhe wird in der Verdopplung (overste vlieghen … overste cracht) performativ gesteigert, was die Besonderheit des Genießens zeigt. Die Position des obersten und zudem in die Höhe fliegenden Flügelpaars versinnbildlicht das Höchste, das erst zusammen mit den mittleren und dem tiefsten Flügeln Vollständigkeit und Vollkommenheit ergibt. Hier reichert die Bildlichkeit die explizite Bezeichnung durch zusätzliche Facetten an und zeigt, wie dicht beide aufeinander bezogen sind und wie sie ineinander übergehen können. Das Genießen wird nur an der ersten Stelle explizit als das höchste bezeichnet, während in den beiden anderen Stellen – die sich in der zweiten Hälfte des Zyklus befinden, in welcher das Ich seine Vollkommenheit zunehmend entfaltet hat – die Bildlichkeit die semantische Detailausstattung übernimmt. Der oberste Weg in das Genießen in der achten Vision kennzeichnet implizit das Genießen als das Besondere, Herausgehobene, was durch die performative Dopplung des Superlativs (overste) beim obersten Flügelpaar in der dreizehnten Vision noch verstärkt wird.

Zweite Wortanalyse

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Abgrundtiefes Genießen Die Hierarchie des Genießens umfasst nicht nur das Höchste, sondern auch das Tiefste, was durch die Abgrund- und Strudelmetaphorik direkt in Verbindung zu den expliziten Bezeichnungen repräsentiert wird, wofür sich insgesamt acht Belegstellen finden. Neben der häufigen Frequenz ist die breite Mannigfaltigkeit ein Indiz für die erhebliche Bedeutung des abgrundtiefen Genießens. So wird die unauslotbare Tiefe zusätzlich durch die Dynamik des Stürzens und des Strudels gesteigert. Der dionysischen Unergründlichkeit Gottes entsprechen besonders das Bild des Abgrunds, das mit dem Genießen verbunden wird, und die unterste Gruppe des göttlichen Antlitzes, die zugleich die exklusivste ist, die sich am stärksten der Unergründlichkeit Gottes und der verzehrenden Minne in ihrer ganzen Bitterkeit ausgesetzt hat (Vis. XIII, 187–194). In den Kontext von Sturz- und Tiefenmetaphorik gehören die Verlorenheit und das Verschlungen-Werden, welche die freiwillig ertragene Verworfenheit aus Liebe zu Gott widerspiegelt, und gleichzeitig die Selbstauflösung und den Selbstverlust im Genuss verbildlicht. Besonders die Beschreibung des liebenden Misstrauens (ontrouwe) aus der dreizehnten Vision verbindet sich mit dem Begehren der Fülle und Totalität des Genießens Gottes. Insgesamt chiffriert das abgrundtiefe Genießen die dunklen Seiten des Gottesgenusses, wenn dionysische Tiefendimensionen und Gottesgenuss explizit miteinander verknüpft werden.185 Hierbei fällt noch stärker als bei overste im vorigen Abschnitt auf, wie sehr die Visioenen in die Bildlichkeit ausgreifen und diese mit den direkten Bezeichnungen des Genießens engführen: Die derde telch/ was dat ghestade wesen daermen der minnen altoes gheheel met es vte menechfuldeghe doechden in die gheheele eneghe doghet/, die de minnende beide in een verswelghet/ ende worpse inden afgront, daerse soeken ende vinden selen die eweleke ghebrukelecheit. (Vis. I, 170–176) [Der dritte Zweig bedeutet eine beständige Verfasstheit, in der man der Liebe immerzu ganz und gar und außerhalb einer Vielzahl von Tugenden in der ganzen, ungeteilten Tugend angehört, die die beiden Liebenden in eins verschlingt und in den Abgrund wirft, wo sie den Zustand des ewigen Genießens suchen und finden werden.]

Kommentar : Das vollständige Angehören der Liebe äußert sich in dem Verschlungen-Werden durch die Liebe, welche den göttlichen und menschlichen Partner im Abgrund miteinander vereinigt, wo sie das ewige Genießen finden. Genuss vernetzt sich hier mit den Aspekten der Ewigkeit, Ganzheit, Einheit, die im Abgrund ineinander aufgehen.

185 Doppelnennung von Vis. I, 173–176, das auch in Verbindung mit eweleke auftritt.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Die diepe wiel die soe vreeseleke donker es/, Dats die godleke gebrukelecheit in haren verhoelnen stormen/. (Vis. I, 243–245) [Der tiefe Strudel, der so furchterregend dunkel ist, das ist das göttliche Genießen in seinen verborgenen Stürmen.]

Kommentar : Die Bezeichnung des Genießens wird mit dem Bild der Strudels und der dionysischen Dunkelheit verbunden, die das Wesen Gottes kennzeichnen und zugleich den Anteil des Ichs daran ausdrücken. Ende ic was te dien tiden in begherten/ ende in ouerstarken eyschene wie god nemt/ ende gheeft in verlorenheiden van hem, in op//nemene van ghebrukenessen, die hem als in allen na sinen wille sijn/. (Vis. VI, 4–8) [Auch war ich zu dieser Zeit von dem Wunsch und dem unermesslichen Verlangen erfüllt (zu erfahren), wie Gott bei denen, die in jeder Hinsicht seinem Willen entsprechen, nimmt und gibt, wenn sie, ins Genießen aufgenommen, in Ihm verloren sind.]

Kommentar : Begehren und Verlangen nach dem Genießen in Gott wird durch den Wunsch nach den Verlorenheiten im Genießen ergänzt und präzisiert. In der darauffolgenden Passage wird der Vollzug des Wunsches geschildert. Ende viel al verloren in die ghebrukeleke borst siere naturen der minnen/. Daer in bleuic verswolghenleke verloren buten aller ver//stannesse van el yet te wetene/ noch te siene/ noch te verstane,/ dan ·I· te wesene met hem/ ende dies te ghebrukene; daer in bleuic men dan ene halue vre/. (Vis. VI, 83–89) [Und ich sank gänzlich verloren an die Brust des Genießens seiner Natur in Liebe. Darin verschlungen blieb ich verloren außerhalb jeglicher Verstandestätigkeit: nichts anderes zu wissen, zu sehen und zu begreifen, als mit Ihm eins zu sein und das zu genießen. In diesem Zustand blieb ich mehr als eine halbe Stunde.]

Kommentar : Verschlungenheit und Verlorenheit im Genießen werden als ein Zustand dargestellt, der völlig außerhalb aller Ordnungen des Verstehens, Sagens und Begreifens steht. Die Einheit mit Gott im Genießen absorbiert alles. Want ic woude bliuen in sine diepste afgronde allene in ghebrukeleecheiden. (Vis. XI, 84–86) [Denn ich wollte in seinem tiefsten Abgrund im genießenden Eins-Sein alleine bleiben.]

Kommentar : Der tiefste Abgrund und die Einheit im Genießen verbinden sich erneut in einem Satz dicht miteinander. Der Wunsch nach Exklusivität und Alleinsein mit dem göttlichen Geliebten wird vom Ich geäußert. Die ontrouwe maectse so diep dasse die minne al verwielen, ende si gaen hare met sueten ende met sueren ane/. Wat die minne gheuet, dats ghesuert ende vertert ende verslonden; watse nempt, dats rike ghemaket van groter ghewout van ghebrukene dies mannens

Zweite Wortanalyse

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der minnen/ alle vren groet effen hare seluen/, Soe oec datse al die list gods besceden en can. (Vis. XIII, 187–194) [Das Misstrauen macht sie so tief, dass sie die Liebe wie in einem Strudel ganz und gar in sich verschlingen und sie ihr sowohl mit Süßem als auch mit Saurem zusetzen. Was immer die Liebe auch gibt, das ist ihnen sauer ; das wird verzehrt und verschlungen. Was die Liebe vorenthält, das wird durch die große Macht bereichert, die darin besteht, nach der Forderung der Liebe zu leben: Jederzeit so groß wie sie selbst zu sein, so dass auch die ganze Kunstfertigkeit Gottes sie nicht mehr (von der Liebe) trennen kann.]

Kommentar : Verschlingung, Verzehrung, Durchsäuerung und das Strudelhafte verbinden sich zusammen zu einem dichten Gewebe des Genießens, das nicht genug bekommen, sich nicht zufrieden geben kann, sondern das Äußerste fordert, nämlich nach der Liebe zu leben und ihr in allem zu entsprechen, ohne sich von Gottes raffinierten Finessen überlisten (die list gods) zu lassen. Doe ghinc mi ghebruken als te voren ende ic viel in die grondelose diepte, ende quam buten den gheeste op die vre daer men nemmermeer af segghen en mach/. (Vis. XIII, 255–258) [Da überkam mich ein Genießen wie zuvor, und ich stürzte in die grundlose Tiefe und kam zur Stunde (in den Zustand) außerhalb des Geistes, worüber irgendetwas auszusagen man niemals imstande sein wird.]

Kommentar : Erneut schildert der Text lakonisch den Vollzug des Genießens und seine absorbierende Kraft durch das Bild des Sturzes in den Abgrund, der einen Zustand buten den gheeste freisetzt, der sich der Sprache vollends entzieht. Jc hebbe op selke ·iij· daghe/ ende also meneghen nacht gheleghen in op ghenomenheiden/ van gheeste in dat anschijn ons lieues, ende dat heuet herde dicke also langhe gheweest/ Ende oec dicke also langhe altemale buten den gheeste/, mi ende allen menschen//hier verloren/ ende hem in ghebrukene. (Vis. XIV, 145–151) [Einst bin ich drei Tage und ebenso viele Nächte im Geist in das Angesicht unseres Geliebten verzückt gelegen; und so lange hat dieser Zustand sehr oft angedauert und (darüber hinaus) oft auch ebenso lange völlig außerhalb des Geistes, mir und allen Menschen hier verloren und Ihm im Genießen hingegeben.]

Kommentar : Zeitangaben des Genießens verbinden sich mit der Schilderung des Zustandes buten den gheeste. Darunter ist eine Form des Selbstverlusts zu verstehen, die zugleich die Hingabe an Gott bewirkt. Vergleichbar stark und intensiv wie die Thematik des Begehrens und Entbehrens zieht sich der Komplex aus Abgrund, Strudel, Tiefe, Sturz, Verlorenheit, Verschlungenheit, Verzehrt-Werden im Genießen Gottes durch die Visioenen. Von der ersten bis zu der letzten Vision ist dieses Bild präsent, obgleich es erst ab der elften Vision spezifisch gesteigert wird. Besonders zeigen dieser und der vorige Abschnitt das performative Potential des Textes auf, die sich mit einer

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

dreidimensionalen Größe wie Räumlichkeit verbindet, die vielfältig erkundet und inszeniert wird. Gleichzeitig lagern sich hierbei an das Genießen zahlreiche weitere semantische Aspekte an wie Ewigkeit, Einheit, Ganzheit. Diese semantischen Anlagerungsvorgänge produzieren komplexe ›Bedeutungscluster‹, welche die Gewichtung der Verdichtung von Bezeichnung und Bild im Text zusätzlich hervorheben und gleichsam einen ›Knotenpunkt‹ des Genießens darstellen. Genießen im Fühlen Zwar lässt sich die Verbindung von Genießen und Gefühl/Fühlen mit fünf Stellen belegen, jedoch kommen alle nur in der ersten Vision vor. Dies legt die Frage nahe, ob es sich in diesem Fall um eine Einschränkung des Genießens handelt, das noch nicht so stark durch Wissen über das Wesen Gottes bzw. die Kenntnis seines Willens gekennzeichnet ist, sondern rein affektiv bleibt. Doch verweist schon das erste Zitat in der ersten Vision auf die enge Verwebung von Gefühl und Erkenntnis (Vis. I, 52–58), die sich demzufolge gegenseitig nicht ausschließen. Ebenso wird das Genießen in einem alles übersteigenden Gefühl angestrebt und für die Zukunft in Aussicht gestellt, nicht aber sofort ermöglicht (Vis. I, 379–381; 416–418). Die Kenntnis des göttlichen Willens, zusammen mit dem Fühlen der Liebe, muss sich mit dem Genießen notwendig verbinden. Jedoch kommt die Gewichtung in jedem Fall nicht thematischen Komplexen wie Begehren oder Abgründigkeit gleich und schließt in Einzelfällen eine gewisse Limitierung nicht aus, da das Ich zunehmend nach der Fülle des Genießens verlangt. Ein weiterer Hinweis für die positive Konnotation der gefühlhaften Dimension wird in der achten Vision gegeben: Derjenige Geist, der das Ich auf den Berg geleitet, scheiterte nach eigenen Worten an der gefühlvollen Dimension der Liebe (minnen met affectien, Vis. VIII, 118) im Leben und kann deshalb von den fünf nur vier Wege betreten. Der fünfte und oberste Weg aber in das Genießen Gottes ist ihm verschlossen.186 Fraeters hat zudem völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass in den Visionen der Hadewijch Elemente der intellektualistischen ebenso wie der affektiven Schau zu finden sind, Aspekte der augustinischen Aufnahme in einen/den Geist ebenso wie plotinische Entrückung aus einem/ dem Geist.187 Daran anknüpfend scheint ghevoeleke/ghevoelen eher eine besondere Qualität des Genießens zu kennzeichnen, das die tröstende Präsenz der Göttlichkeit in einem Gefühl ausdrückt, das Erkenntnis und Gefühl/Geschmack in eins schließt. Doch weisen die Visioenen mehrfach darauf hin, dass sich Genuss und Erkenntnis wechselseitig spenden; daher kann bloße Erkenntnis 186 Vgl. Vis. VIII, 109–123. 187 Vgl. Fraeters, Gender and Genre (2004).

Zweite Wortanalyse

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ohne gleichzeitiges Fühlen kein eigentliches Wissen sein, wie es sich im Genuss kund tut:188 Dat was//die oetmoedecheit/ die met vroeder vresen/ daerse met bekint gods groetheit/ ende hare nederheit/ alle hare wel ghechierde doghede mede dect/, om datse gheuoelt/ ende bekint dat hare ghebrect haers lieues te ghebrukene/ ende datse hare ne weet wies verheffen/. (Vis. I, 52–58) [Da offenbarte er es mir, und ich begriff: Es war die Demut, die mit weiser Furcht, durch die sie die Größe Gottes und ihre eigene Niedrigkeit erkennt, alle ihre schön geschmückten Tugenden bedeckt; denn sie fühlt und erkennt, dass es ihr am Genießen ihres Geliebten fehlt, und sie weiß von nichts, dessen sie sich rühmen könnte.]

Kommentar : Fühlen und Erkennen verbinden sich in der Demut, die durch diese Doppelung begreift, dass es ihr am Genießen Gottes fehlt, welche alle Tugenden in einer einzigen in sich schließt. […] ende ommi heuestu als verteghen/ ende wilt mijns ghebruken in gheuoelne/ dat bouen al gheet. (Vis. I, 379–381) [Wegen mir hast du auf alles verzichtet und willst mich genießen in einem Gefühl, das alles übersteigt.]

Kommentar : Die Einsicht in dieses zentrale Defizit hat den bereitwilligen Verzicht zur Folge, um Genuss in einem alles übersteigenden Gefühl zu erfahren. Genuss wird hier vor allem durch gheuoelne gekennzeichnet. Altoes saltu kinnesse mijns willen hebben/, ende minne gheuoelen ende ter noet mijns ghebrukeleke gheuoelen/. (Vis. I, 416–418) [Immerfort sollst du die Kenntnis meines Willens besitzen und die Liebe fühlen, und, wenn es nötig ist, sollst du mich im Genießen fühlen.]

Kommentar : Über die Kenntnis des göttlichen Willens und das Gefühl der Liebe hinaus, welche fortwährend zugesichert werden, garantiert der göttliche Geliebte dem Ich nötigenfalls das Fühlen seiner im Genießen. Aldus dede mi mijn vader doen ic sijn sone was/. Hi liet mi in node/ ende hi en beghaf mi nye/ Jc gheuoeles in ghebrukene/. (Vis. I, 418–421) [So handelte mein Vater mit mir, als ich sein Sohn war. Er ließ mich im Ungemach, doch verließ Er mich nie. Ich fühle das im beseligenden Umgang (mit Ihm).]

Kommentar : Der Bezug zur Imitatio wird im Anschluss daran direkt hergestellt, denn ein Gleiches tat Gottvater mit seinem göttlichen Sohn, so wie dieser jetzt das Gefühl seiner Gegenwart im tröstenden Genießen dem Ich zusagt.

188 Vgl. hierzu 1. Kor. 13, 1–13, das sog. »Hohelied der Liebe«.

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Dat herte dat in die rose es soe gheheel/, dat es ghebrukelecheit van minnen gheuoelleke/. (Vis. I, 422–424) [Das Herz, das so ungeteilt in der Rose ist, bedeutet das Genießen der Liebe im Gefühl.]

Kommentar : Das Herz in der Rose verbindet sich zugleich mit den Aspekten der Ganzheit und der Innerlichkeit; wird aber begrifflich mit dem Genießen im Gefühl verbunden. Hier zeigt sich die wechselseitige Semantisierung des Begriffes durch das Bild, was umgekehrt ebenso der Fall sein kann. Im Kontext mit dem gefühlvollen Genießen bzw. Erfahren von Gottes Nähe verbinden sich mit den einzelnen Bezeichnungen erneut Bilder wie das Rosenherz (Vis. I, 422–424) oder das des Baumgartens (Vis. I, 52–58). Gleichzeitig wird Christus als Vorbild und Leitfigur an einer Stelle etabliert (Vis. I, 418–421), der Leiden und Genießen miteinander verdichtet. Die beiden Bezüge zum Begehren und Entbehren (Vis. I, 52–58; 379–381) lassen sich in den Zusammenhang aus leidvoller Nachfolge und erstrebtem Genuss integrieren. Doch erfährt das Genießen im Gefühl generell eine positive Wertung, worauf Aspekte der Ganzheit (gheheel) zusätzlich hinweisen.

Genießen in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen Die Verbindung von Genießen in Übereinstimmung oder mit der Kenntnis des göttlichen Willens wird an insgesamt fünf Stellen explizit gemacht: Nur wenn man selbst Gottes Willen entspricht, ist er Genuss das Höchste, aber nur dann, was auch im Fließenden Licht zunehmend in den Vordergrund tritt (FL V, 4). Hierbei treten die Gebrauchsaspekte von ghebruken deutlich an die Oberfläche und überlappen sich miteinander. Wer Gottes Willen kennt und begreift, lässt sich von ihm gebrauchen, was Genuss miteinschließen kann, aber nicht muss. Demzufolge hat Gottes Wille oberste Priorität, was dem Ich des Visionszyklus bereits von Anfang an in aller Deutlichkeit als Weisung von dem Engel mitgeteilt wird und für jeden gilt. In der vierten, sechsten und siebten Vision wird die Kenntnis des göttlichen Willens mit als Voraussetzung für das Genießen Gottes und als Zeichen der Reife genannt, welches das Ich schon erworben hat: […] ende verstant sinen verhoelnen wille/ daer hi dijns in wilt ghebruken/. (Vis. I, 203f.) [(…) und verstehe seinen verborgenen Willen, indem Er über dich verfügen will.]

Kommentar : Genießen-Wollen impliziert Sich-Gebrauchen-Lassen, auch wenn der Wille Gottes im Verborgenen bleibt und dort wirkt. Diese Stelle ist die einzige, in der sich ghebruken auf das Ich und nicht auf Gott bezieht, weshalb hier eine Übersetzung eher im Sinne von uti als von frui plausibel erscheint, wobei ghebruken Überlappungszonen ineinander verfließen lassen kann.

Zweite Wortanalyse

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hare een groet werc daerse mede volwassen sal Dats datse alle die doghede werken sal/ die hare van minen wesenne ghetoent sijn/ Jn scrifturen/ Jn rade/ Jn smake van minnen tusschen hare ende mi/ Biden ghebode dattu heues te hare/ van bande van minnen/ ende bider wider kinnissen/ die du heues mijns ghebrukelecs willen. (Vis. IV, 90–96) [Ihr erstes großes Werk, durch das sie zur Vollendung wachsen wird, besteht darin, dass sie alle Tugenden ausüben soll, die ihr von mir selbst gezeigt worden sind, in der Schrift, im evangelischen Rat, im Schmecken der Liebe zwischen ihr und mir ; durch die Befehlsgewalt, die du ihr gegenüber aufgrund des Bandes der Liebe und durch die umfangreiche Kenntnis besitzt, die du von meinem beseligenden Willen hast.]

Kommentar : Gottes Wille wird durch ghebrukelecs näher bezeichnet, was eine besonders enge Verdichtung zwischen beiden darstellt und auf semantischer Ebene berücksichtigt werden muss. Außerdem verbinden sich erneut Wissen und Genuss in der Kenntnis des göttlichen Willens. Gerade hier ergeben sich im Anschluss Fragen an die Übersetzung, da die Bedeutung für das Genießen Gottes entsprechend seines Willens zwar implizit mit angedeutet wird, deren Ausmaß aber nur vermutet werden kann. In Hoffmanns beseligend aber kommt diese Verbindung sprachlich nicht zum Ausdruck. Zudem schwächt sie Komponenten des Lustvollen, maßlos Verlangenden und Abgründigen, die sich im Schmecken (smake) ausdrücken, meines Erachtens zu sehr ab. Ende ic was te dien tiden in begherten/ ende in ouerstarken eyschene wie god nemt/ ende gheeft in verlorenheiden van hem, in op//nemene van ghebrukenessen, die hem als in allen na sinen wille sijn/. (Vis. VI, 4–8) [Auch war ich zu dieser Zeit von dem Wunsch und dem unermesslichen Verlangen erfüllt (zu erfahren), wie Gott bei denen, die in jeder Hinsicht seinem Willen entsprechen, nimmt und gibt, wenn sie, ins Genießen aufgenommen, in Ihm verloren sind.]

Kommentar : Hier gewinnt erstmals die in der zehnten Vision auftretende Gemeinschaft der Lebenden ihr Profil als diejeningen, die sich durch die völlige Übereinstimmung mit seinem Willen auszeichnen und zudem von Zuständen wie Begehren und Verlorenheit heimgesucht werden, denen sie sich bereitwillig aussetzen und nicht schonungsbedürftig entziehen. Zugleich äußert sich hier ein unverhüllter Wissens- und Erfahrungsdrang nach einer cognitio experimentalis. Aldus ghedane ben ic in ghebrukene/ ende in kinnen/ ende in op ghenomenheiden den ghenen die mi ghenoech/ na minen wille sijn/. (Vis. VI, 96–98) [So bin ich beschaffen im Genießen, in der Erkenntnis und in der Entrückung für diejenigen, die mir in meinem Willen entsprechen.]

Kommentar : Genießen und Erkenntnis verbindet sich für die exklusive, erlesene Gruppe derer, die Gottes Willen entsprechen. Affektive und intellektuelle Merkmale schließen sich demnach nicht aus, sondern notwendigerweise ein, um

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Explizite Semantik – Bezeichnungen des Genießens

Vollständigkeit und Vollkommenheit zu erreichen. Zugleich kann die Stelle in direktem Bezug zu dem vorher geäußerten Wunsch und Verlangen gesehen werden, da sie wie eine Antwort auf das Geschilderte wirkt. Daer bi wart mi wel cont dat men inden hemel noch inden gheeste en ghenen wille ghebruken en mach maer nader minnen wille/. (Vis. XI, 80–83) [Überdies wurde mir ganz klar, dass man weder im Himmel noch im Geist der Lust folgen kann, außer es entspricht dem Willen der Liebe.]

Kommentar : Es gibt keine Ausnahme von der Regel, dass der Wille Gottes oder der Liebe das lustvolle Genießen bedingt, nicht einmal im Himmel, dem Ort der ewigen Seligkeit und des dauerhaften Gottesgenusses. Die Allgemeinheit dieser Regel wird durch die Verwendung der 3. Pers. Sg. und das neutrale man (men) zusätzlich verstärkt. Hier wird die affektive Komponente des Genießens, welche durch das Fühlen der Liebe gekennzeichnet ist, erneut in den Vordergrund gerückt, gleichzeitig aber mit dem Willen Gottes und seiner Kenntnis verbunden. Das Genießen muss sich dem Willen der Liebe anpassen, sonst ist es verfehlt. Nach der Analyse von gebruchunge/gebruchen im Fließenden Licht fällt dieser verhaltene Hinweis besonders auf, der das Genießen Gottes nur in Übereinstimmung mit seinem Willen zulässt. Die Kenntnis des göttlichen Willens bedingt das Genießen der göttlichen Lust ebenso wie das Genießen selbst höchste Erkenntnis und erlesenstes Gefühl in sich vereinigt. Dem Wunsch des Ichs, das Genießen Gottes in der Verlorenheit zu erfahren und kennen zu lernen, wird stattgegeben, doch nur aufgrund seiner Kenntnis des göttlichen Willens. Diese wird von Anfang an als bezeichnender Schlüsselbegriff betont, da das Begehren nach Genuss nur durch diese Übereinstimmung mit Gottes Willen, was zugleich Einheit ausdrückt, erfüllt werden kann. Besonders hier ergeben sich Bezüge zu der Konzeption der Einheit im Mirouer, welche sich am stärksten in der völligen Vernichtung der Seele zeigt, die, sich und ihrem eigenen Willen entfallen, nur noch in Gottes Willen lebt, was paradoxerweise Frieden, Freude, Lust; sogar kurze Entrückungen in Genuss freisetzt. Vollzug des Genießens Der Vollzug des Genießens wird an drei Stellen explizit genannt, in denen die Verbform ghebruken verwendet wird, um in einem kurzen, lakonischen Satz den Zustand des Genießens Gottes zu bezeichnen. Sprachlich wird dadurch zugleich signalisiert, dass der Vollzug des Genießens die Möglichkeiten der Sprache übersteigt und daher nur auf knappstem Raum angedeutet werden kann. So verweist die sechste Vision auf das Übersteigen von allem Verständnis und jeglicher Wahrnehmung, während die dreizehnte Vision auf die Unsagbarkeit

Zweite Wortanalyse

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dieses Zustandes abhebt. Außerdem wird sowohl in der sechsten als auch in der zehnten Vision eine präzise Zeitangabe von einer halben Stunde hinzugefügt; dagegen nennt die achte Vision lediglich allgemein einen Zeitpunkt. Daer in bleuic verswolghenleke verloren buten aller ver//stannesse van el yet te wetene/ noch te siene/ noch te verstane,/ dan ·I· te wesene met hem/ ende dies te ghebrukene; daer in bleuic men dan ene halue vre/. (Vis. VI, 85–89) [Darin verschlungen blieb ich verloren außerhalb jeglicher Verstandestätigkeit: nichts anderes zu wissen, zu sehen und zu begreifen, als mit Ihm eins zu sein und das zu genießen. In diesem Zustand blieb ich mehr als eine halbe Stunde.]

Kommentar : Außer einem Verweis auf die Unsagbarkeit und Unbegreifbarkeit des Genießens macht der Text an der Stelle noch die Zeitangabe von einer halben Stunde, welche für den mystischen Augenblick steht und dessen Kürze im Verhältnis zur Ewigkeit veranschaulicht. Ende ic lach in dien ghebrukene ene halue ure/; maer hier was de nacht al ouer/, ende ic quam weder iamerlike claghende mine ellende/ (Vis. X, 73–75) [Und in diesem Zustand des Genießens lag ich eine halbe Stunde. Doch damit war die Nacht ganz vorüber, und ich kam in jämmerlichem Zustand (zu mir) zurück.]

Kommentar : Hier wird auf die Kürze des Genießens durch die Signalangabe einer halbstündigen Dauer verwiesen. Zusätzlich wird die Kürze durch das Elend unterstrichen, in die das Ich nach dem Ende des Genießens und seiner Rückkehr gerät. Doe ghinc mi ghebruken als te voren ende ic viel in die grondelose diepte, ende quam buten den gheeste op die vre daer men nemmermeer af segghen en mach/. (Vis. XIII, 255–258) [Da überkam mich ein Genießen wie zuvor, und ich stürzte in die grundlose Tiefe und kam zur Stunde (in den Zustand) außerhalb des Geistes, worüber irgendetwas auszusagen man niemals imstande sein wird.]

Kommentar : Hier entzieht sich das Genießen in seiner Unbegreifbarkeit und absorbierenden Gewalt sogar jeglicher Zeitangabe, so dass nur auf seine Unsagbarkeit verwiesen wird. Der Vollzug des Genießens wurde deshalb zu einer thematischen Gruppe zusammengestellt, weil in den Visioenen das Genießen häufig in der Zukunft liegt, das heißt, es wird entweder begehrt oder angekündigt. Das Suchen des Genießens bildet daher im gesamten Zyklus eine durchgängige Konstante, wobei es sich von Vision zu Vision, vor allem ab der siebten Vision, weiter steigert. Daher bilden Sätze, die im Präteritum von dem Zustand des Genießens sprechen und sich durch eine auffallende Knappheit auszeichnen, häufig gepaart mit

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einem Hinweis auf die Unsagbarkeit des Vorganges, eine Sondergruppe hinsichtlich ihrer betont schlichten Inszenierung des Vollzugs. Forderung des Genießens im liebenden Misstrauen (ontrouwe) In der dreizehnten Vision zeigt sich die Ebenbürtigkeit zwischen Gott und dem Ich der Visioenen in der einmaligen Verknüpfung von Genuss und liebendem Misstrauen (ontrouwe). Die unterste von den insgesamt drei Gruppen im versiegelten Antlitz ist durch das Misstrauen gekennzeichnet, das sie der Minne entgegenbringt. Nach der obersten rückt nun die unterste Gruppe in den Mittelpunkt, die nicht das, was die Minne gibt, verlangt, sondern was sie entzieht. Selbstbewusst und kühn fordert die unterste Gruppe das höchste und totale Genießen Gottes. Das höchste Zeichen der Liebe ist die achte Gabe, welche unaufhörlich verlangt wird, denn nur sie wird angereichert (rike ghemaket), was inhaltliche Bezüge zur Vollständigkeit herstellt. Diese besondere achte Gabe enthebt den Menschen seiner Verstandestätigkeit und Begreiffähigkeit, wenn sie ihn mit Gott vereinigt. Das Genießen durch Berührung wird im Geben durch Verbitterung und Verschlingung, im Nehmen durch die Gewalt des Genießens charakterisiert.189 So ist es vor allem die unterste Stufe, die den Bezug zum geschmeckten Genuss herstellt, der zwei Seiten aufweist – Lust und Bitterkeit, genauer, Süßes und Saures (met sueten ende met sueren). Gleichzeitig verdichtet besonders diese Passage verschiedene Bezeichnungs- und Bildfelder, so das VerschlungenWerden durch den Strudel im davon abgeleiteten Verb verwielen, oder den verzehrenden und verschlingenden Charakter der Liebe (vertert ende verslonden). Das Begehren wird in den Forderungen der untersten Gruppe ausgedrückt, so dass sich die verhältnismäßig kurze (Schlüssel-)Passage durch eine Vernetzung mit fast allen zentralen Verbindungen zum Genießen auszeichnet: Die ·VIJ· gauen sijn ·VIJ· tekene der minnen/. Ende dat achtende es gherijnnesse van ghebrukene/ die al af doet datter redenen behoert, ende lief in lief een valt. Maer wantse die gauen hadden ende dat achtende kinnende worden/ ende hen minne dat eischede, so maendense alle vren dat ghebrukenesse//ende en gheloefden haren lieuen minnen niet/ ende dochte hen datse allene minden ende hen minne niet en hulpet. Die ontrouwe maectse so diep dasse die minne al verwielen, ende si gaen hare met sueten ende met sueren ane/. Wat die minne gheuet, dats ghesuert ende vertert ende verslonden; watse nempt, dats rike ghemaket van groter ghewout van ghebrukene dies mannens der minnen/ alle vren groet effen hare seluen/, Soe oec datse al die list gods besceden en can. (Vis. XIII, 179–194) 189 Diese Passage aus der dreizehnten Vision stellt inhaltlich einen Bezug zu Vis. VII, 34–41 und Vis. XI, 125–146 her, in der die Rücksichtslosigkeit und Gewaltsamkeit der verzehrenden göttlichen Minne beklagt und bejubelt wird.

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[Die Sieben Gaben sind die sieben Zeichen der Liebe. Das achte aber ist die Berührung zum Genießen, die alles fahren lässt, was zur Vernunft gehört, und die die Geliebten vereinigt. Aber da sie die Sieben Gaben hatten und allmählich Kenntnis von der achten erlangten und die Liebe sie dazu aufforderte, deshalb forderten sie ihrerseits jederzeit dieses Genießen und glaubten nicht an die Liebe ihrer Geliebten, und sie meinten, dass sie alleine liebten und ihnen die Liebe nichts hülfe. Das Misstrauen macht sie so tief, dass sie die Liebe wie in einem Strudel ganz und gar in sich verschlingen und sie ihr sowohl mit Süßem als auch mit Saurem zusetzen. Was immer die Liebe auch gibt, das ist ihnen sauer ; das wird verzehrt und verschlungen. Was die Liebe vorenthält, das wird durch die große Macht bereichert, die darin besteht, nach der Forderung der Liebe zu leben: Jederzeit so groß wie sie selbst zu sein, so dass auch die ganze Kunstfertigkeit Gottes sie nicht mehr (von der Liebe) trennen kann.]

Die misstrauische Gruppe der Liebenden erweist sich als so schlau und gewitzt, dass sämtliche raffinierte Fähigkeiten Gottes (die list gods) ihnen nachgeben müssen und er ihnen den vollen Anteil an seiner Liebe, das heißt, seinem Wesen und seinem Genießen, gewährt. Das Misstrauen aus Liebe erst bewirkt die Vollständigkeit des Genießens. Süßes und Saures, Verzehrtes und Entbehrtes verdichten sich hier wechselseitig. Der Entzug der Liebe versetzt die unterste Gruppe erst in die Lage, zur Fülle des Genießens zu gelangen; ein Entzug, der in der vierzehnten Vision für das Ich seine äußerste Steigerung im ununterbrochenen Liebeswahnsinn (orewoet) annimmt: Damit aber verschmelzen Verlangen und Genießen an der Stelle fast unauflöslich miteinander und ergeben an dieser Stelle eine zentrale Verknüpfung, an die sich zahlreiche semantische Details in expliziter Bezeichnung und im Bild anlagern können.

Fazit und Zusammenfassung der Wortanalyse in den Visioenen Alle Kombinationen mit dem Substantiv ghebrukelecheit/ghebrukenesse, dem Verb ghebruken und dem Adverb/Adjektiv ghebrukelike/ghebrukeleke weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie das Genießen Gottes detaillierter charakterisieren und aufzeigen, mit welchem Bildmaterial sich die Bezeichnungen vorzugsweise verbinden. Grundsätzlich stellt das Genießen Gottes eine besondere Qualität der Einheit dar, die vor allem durch das Begehren und das überstarke Verlangen des Ichs eine sinnliche und fast erotische Dimension erhält. Diese starke Akzentuierung des Begehrens, des Entbehrens und des Verlangens wird in der siebten intensiviert und in der vierzehnten Vision zur orewoet gesteigert. Es bietet damit eine kreative Auseinandersetzung mit dem Traktat von Richard von St. Viktor über die vier Stufen oder Grade der Liebe. So genießt Gott sich selbst und ermöglicht die Teilhabe an seinem eigenen Genießen. Das Ich der Visioenen hat sowohl an der fruitio dei teil, erhebt aber

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zugleich Ansprüche auf Ebenbürtigkeit, die sich in den Bezeichnungen vor allem zu Beginn der siebten Vision explizit niederschlagen, wobei hierfür ein anderes Verb, nämlich ghenoechten/ghenoech doen, gewählt wird. Die wechselseitige adäquate Befriedigung verbindet sich zudem mit dem Exklusivitätsanspruch des Ichs, womit es zunehmend weniger unterschwellig Heiligkeit und Autorität beansprucht. Denn durch sein Leiden ist es ebenso wie durch sein vollkommenes Genießen sowohl Gott-Mensch als auch Gott selbst geworden, wenn es den Status der Vollkommenheit erreicht hat. Da das Genießen Gottes untrennbar mit seinem Sein und Wesen verbunden ist, wird es, wie Gott selbst, zugleich als ewig (eweleke) und vollkommen (gheheel) beschrieben. Gleichzeitig ist es nicht nur das Höchste (dat overste), sondern auch das Tiefste, und verbindet damit dionysische Unergründlichkeit mit äußerster Erhabenheit. Produktiv schließt hieran das Bildmaterial an, das in Form von Abgrund und Strudel oder in Verben wie Verzehren oder (Im-Strudel-)Verschlingen ausgesprochen vielseitig und breitflächig organisiert ist. Gottes Genießen und Wesen bilden damit Dimensionen der Höhe und der Tiefe, der äußersten Punkte auf einer vertikalen Skala in beide Richtungen, wobei die Tiefe durch die unterste Gruppe in der dreizehnten Vision eine Vorzugsstellung erhält. Für das Ich verknüpfen sich mit dem Genießen Gottes nicht nur Schmerz und Lust, Begehren und Erfüllung, sondern ebenso Dimensionen wie Saures und Süßes, Strahlendes und Dunkles, welche die Semantik des Genießens auch auf der Wortebene als ausgesprochen fluktuierend und schillernd erscheinen lassen. Da derart häufig Kombinationen mit dem Bildmaterial eingegangen werden, bleibt die Wortanalyse vieldeutig und fordernd. Denn obgleich es möglich war, einzelne Bestandteile und sogenannte Cluster zu isolieren, geraten diese durch deren dichte Vernetzungen erneut ins Gleiten und lassen sich kaum fixieren, wenn man dem Text gerecht werden will. Explizite Bezeichnungen werden durch Bilder semantisiert, die aber umgekehrt wieder auf die Bezeichnungen zurückwirken. Der Verwendung des Verbs und des substantivierten Verbs scheint eine gesteigerte Bedeutungsnuance zuzukommen, da es die Dynamik, die Rastlosigkeit und Unruhe des nach dem Genuss verlangenden Ichs in Szene setzt. Zusammen mit der Verschränkung mit der Bildlichkeit lassen sie ein Geflecht entstehen, dessen labyrinthischer Plausibilität und traumhafter Sicherheit man sich während der Lektüre dieses kunstvollen Textes schwerlich entziehen kann. Für die Wortanalyse zu dem relativ kurzen Text der Visioenen ist festzuhalten, dass man für die beiden folgenden Teile der Untersuchung ausreichend Bildmaterial auf der Textoberfläche nachzuweisen hat, was eine vielseitige und kraftvolle Semantik garantiert. Doch soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Bezeichnungen zu Genuss

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und Genießen jene »Verschwommenheit«190 aufweisen, die schon Vanneste feststellte. Auf der anderen Seite aber ist zu fragen, inwiefern diese Verschwommenheit, diese Unschärfe an den Rändern nicht zugleich paradoxerweise zum Kernbestandteil gehört. Denn jene Doppelbewegung aus Überschreitung und Absorption, jenes Doppelprofil aus Abgründigkeit und Erhabenheit, jener Doppelgeschmack aus Süßem und Saurem, scheint dem Genießen eigen zu sein, dem es gelingt, mittels Anlagerung von verschiedenen Bildfeldern und anderen Bezeichnungen nicht starr, sondern flexibel zu agieren und sich zugleich in wechselnden Konstellationen entwerfen zu können.

II.1.3 Dritte Wortanalyse: Die wohldosierte Einsetzung von fruiction im Mirouer des simples ames Aufgrund der Thematik der Untersuchung rückt ausgerechnet ein Seinszustand ins Zentrum, der bisher nur wenig explizite Aufmerksamkeit der Forschung zum Mirouer erhalten hat: Der siebte, der im gesamten Text ausgesprochen knapp abgehandelt wird. Daher erscheinen die Resultate einer expliziten Wortanalyse im Vergleich zum Fließenden Licht und zu den Visioenen ausgesprochen spärlich; nur an drei Stellen in dem gesamten Mirouer kommt das Substantiv fruiction oder fruiccion vor. Andere damit in Zusammenhang stehende Verbformen, analog zum gebruchen (mhd.) oder ghebruken (mnl.), die ebenso gezielt eingesetzt werden, konnten bei der Durchsicht nicht ausgemacht werden. In der älteren Übersetzung ins Lateinische wird fruiction/fruiccion grundsätzlich mit fruitio übertragen. Doch das ist nur ein Hinweis in einer insgesamt sehr komplizierten und von vielen Leerstellen durchbrochenen Überlieferungssituation.191 Sk”rup hat dieses Wort problematischerweise erst dem Ende des 14. Jahrhunderts zugeordnet, das heißt, es ist außerhalb des Mirouer erst ab diesem Zeitpunkt nachweisbar.192 Mit einer Reihe solcher Belege aus dem Französischen der Chantilly-Handschrift konnte er beweisen, dass Guarnieris Datierung nicht stimmte und die französische Version des Mirouer deutlich später als das sogenannte altfranzösische Original anzuset-

190 Vgl. Fazit bei Vanneste (1959), S. 95. 191 Vgl. Hasenohr (1999), wo sie schlüssig belegt, dass der Text der Chantilly-Handschrift nicht dem Altfranzösischen, sondern einer jüngeren Sprachstufe zuzuordnen ist. Sie zeigt die besondere Gewichtung von Mirouer 118 in der Rezeption und vergleicht den Text der Chantilly-Handschrift mit Fragmenten, die in Syntax und Schreibweise auf ältere Sprachspuren verweisen. 192 Vgl. Sk”rup (1988), bes. S. 234: »fruiction/fruiccion ›jouissance‹ 521.4, 607.3–11, 634.28. Attest¦ depuis la fin du XIVe siÀcle jusqu’au d¦but du XVIIe, selon le FEW III 827b, cf. Gdf IV 168.«

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zen war, was heute ein Forschungskonsens darstellt. Sk”rup mutmaßte sogar, dass die erhaltene französische Fassung des Mirouer bereits eine Übersetzung sei. Es stellt sich somit die Frage, ob der ursprüngliche Text überhaupt irgendein Genuss explizit ausdrückendes Wort enthalten hat. In der lateinischen Übertragung findet sich zwar fruitio an sämtlichen drei Stellen, aber mit entgültiger Sicherheit kann deshalb nicht auf das verloren gegangene Original geschlossen werden. Mit diesen gewichtigen Einschränkungen muss die Analyse des Mirouer begonnen werden. Doch da zumindest ältere Übertragungen die Existenz des Wortes fruitio im Text bestätigen, der zudem zahlreiche implizite Inszenierungsformen des Genießens aufweist, liegt im Vergleich zu den beiden vorigen Texten, in denen gebruchunge/gebruchen und ghebrukelecheit/ghebruken/ghebrukeleke in dichter Streuung auftreten, eine andere Situation vor. Denn in den Visioenen stellt das Genießen einen zentralen und unübersehbar auf der Textoberfläche präsenten Schlüsselbegriff dar, ebenso wie das Fließende Licht durch die Substantivform von Genuss und die Verbform zwischen dem Zustand des Genießens und der Praxis des richtigen Gebrauchens differenziert. Im Mirouer ist der Fall anders gelagert. Natürlich könnte fruition/fruiccion ein direkt aus dem Lateinischen entnommenes Lehnwort sein, das erst in dem Zusammenhang geprägt wurde, um das göttliche Genießen von dem weltlichen abzugrenzen. Diese Möglichkeit aber erwägt Sk”rup nicht. Doch soll hier trotzdem von der französischen Übertragung der Chantilly-Fassung ausgegangen werden, gestützt auf die Existenz der expliziten Bezeichnung in den älteren Übersetzungen ins Lateinische und Altenglische. Die Position der drei spärlich gestreuten Bezeichnungen im Gesamttext ist auffallend, da deren erstes Auftreten an so pointierter Stelle steht, dass es gar nicht übersehen werden kann, nämlich im Prolog, in dem, obwohl der Mirouer obsessiv um die Vernichtung kreist, davon keine Rede ist, sondern nur von der fruiction. Dagegen ist im Zentralkapitel 118, das alle sieben Stufen der Reihe nach ausführlich durchgeht, vom Genuss überhaupt nicht mehr näher die Rede, sondern die siebte Stufe wird als ein für das irdische Leben unzugängliches Geheimnis dargestellt, was den Genuss Gottes in dem aus den anderen Texten bekannten Spannungsfeld aus Enthüllen und Verbergen, Sprechen und Schweigen ansiedelt.193 Schließlich präsentiert Mirouer 115 mit der plötzlich auftauchenden Metapher der Gottesgeburt in der Seele ein zentrales Bild für die Einheit mit Gott, das aus dem Sieben-Stufen-Schema gänzlich herausfällt und von daher eine Sonderstellung im gesamten Mirouer einnimmt, der sich in der Hauptsache mit der fünften Stufe beschäftigt, auf welcher die völlige Vernichtung stattfindet, und in Anlehnung dazu mit dem vierten und dem sechsten Zustand, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befinden. Es existieren noch 193 Emmelius (2004).

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andere hierarchische Deutungsmuster für den Mirouer,194 die in diesem Zusammenhang aber kaum eine Rolle spielen, zumal das Sieben-Stufen-Schema allgemein als das bedeutendste eingestuft wird. Was besonders im Mirouer einen stark voneinander abweichenden Gegensatz darstellt, ist die Häufigkeit der expliziten und impliziten Stellen, die dem Genussfeld zuzuordnen sind. Während die direkte Bezeichnung fruiction sparsam, wenngleich gezielt eingesetzt wird, öffnen implizite Bilder wie Sättigung oder Empfindungen wie Süße einen Text, den auf einmal die Spuren des Genießens in vielfältiger Weise durchziehen. Sowohl Substantive wie delice oder doulceur und Adjektive wie doux, delicieux, delictable195 werden verwendet, um jene süße, berauschende Empfindung auszudrücken, welche die Begegnung zwischen der Seele und ihrem divine amy auf der vierten Stufe kennzeichnet. In diesen Umkreis gehört auch die joie an der Göttlichkeit als volkssprachliche Form des lateinischen gaudium,196 ebenso der paix als Berührungspunkt von Vernichtung und Genuss. In einem eucharistischen Bezugsfeld steht die Metaphorik der Trunkenheit und Sättigung, die sich in zahlreichen Adjektiven wie plein, saoul, yvre, Substantiven wie boisson, vin, pasture,197 grain198 und Verben wie succer, enivrer, gouster, nourrir äußert. Sie schließt vor allem an die Ursprungsbedeutung von genießen, nämlich Nahrung aufnehmen oder Süße schmecken, produktiv an199 und versinnlicht die scheinbar spröde Oberfläche des Textes. Zugleich ist darin der Aspekt der Gemeinschaft impliziert, innerhalb derer man etwas zu sich nimmt, was alle daran Beteiligten miteinander verbindet. Explizite und implizite Semantik bilden gemeinsam ein dichtes Feld des Genießens, das im Text sichtbar wird. Im Folgenden sollen die drei Stellen, welche fruiction enthalten, chronologisch dargestellt werden, weswegen diese Wortanalyse mit Abstand am kürzesten ausfällt, wohingegen der Mirouer dann in den beiden anderen Teilen gleichermaßen Raum bei der Darstellung der impliziten Semantik einnimmt. Das im Gegensatz dazu auffallend karge Erscheinen des Wortes fruiction auf der Textoberfläche betont seine Besonderheit und Seltenheit, eventuell seine Brisanz, indem seine Unsagbarkeit performativ inszeniert wird. So lässt sich das Aussparen des Textes als eine rhetorische Strategie verstehen, die einen anderen 194 195 196 197

Bertho (1993), S. 65–96. Vgl. exemplarisch Mirouer 23. Vgl. exemplarisch Mirouer 118. In Mirouer 3, 5 wird das livre als pasture bezeichnet und impliziert so eucharistisch-gustale Aspekte der Sättigung. Das Bild der Nahrung oder Speise wird multifunktional und polyvalent verwendet. 198 Vgl. exemplarisch für die Trunkenheit Mirouer 23; für die Sättigung Mirouer 121. 199 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 12, wo er eine ursprüngliche Bedeutung von ghebruken mit »Nahrung aufnehmen« angibt.

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Weg als die beiden übrigen Texte gewählt hat, nämlich den Genuss Gottes nicht als unaussprechlich zu bezeichnen, sondern seine Unaussprechlichkeit durch ›Verschlucken‹ oder ›Einbehalten‹ zu zeigen. Außerdem wird das Genießen dezidiert in die Ewigkeit Gottes verortet und nur in der Gottesgeburt oder im blitzartigen Entrücken als Einbruch der Gegenwärtigkeit dargestellt, während die anderen beiden Texte deutlicher, häufiger und vor allem expliziter den Genuss in der Gegenwärtigkeit Gottes inszenieren. Der Prolog verbindet das Erreichen des siebten estat (Stufe/Zustand/Seinsweise) unmittelbar mit dem Zuteilwerden des göttlichen Genießens für die von Gott berührte Seele. Alle anderen Zustände oder Stufen außer die siebte spart er dagegen in deutlichem Gegensatz zu dem Gesamttext aus. Diese einleitende Textstelle verdichtet zugleich mehrere zentrale Themen des Buches, indem sie auf die sieben estats oder estres verweist, welche der Mirouer wiederholt im Einzelnen aufgreift und hierbei ausführlich schildert, wie die Seele durch die Vernichtung Vollkommenheit in Gottes Willen erlangen kann: Le Prologue. Ame de Dieu touchee, et denuee de pech¦ ou premier estat de grace, est montee par divines graces ou septiesme estat de grace, ouquel estat l’Ame a le plain de sa parfection par divine fruiction ou pas de vie. (Mirouer 1, 1–5) [Prolog. Die von Gott berührte und im ersten Stand der Gnade von Sünde frei gewordene Seele ist durch göttliche Gnaden in den siebenten Stand der Gnade aufgestiegen, in den Zustand, wo die Seele im Land/Heimat des Lebens die Fülle ihrer Vollkommenheit im göttlichen Genießen/durch das göttliche Genießen besitzt.]

In diesem kurzen Prolog sind lediglich der erste und der letzte estat der Seele erwähnt, obgleich sich der Mirouer hauptsächlich mit dem vierten bis sechsten estat beschäftigt und den anderen die exklusive Aufmerksamkeit des aussparenden und auszeichnenden Schweigens zuteil werden lässt. Das könnte damit zu erklären sein, dass der Text einen großen Wert auf das Lehren seiner Zuhörer im Zuge einer spezifischen Wissenvermittlung legt und daher besonders die für den Weg zentralen Stufen ausführlich und variantenreich erklärt, indem er sie zugleich performativ durch ein Verfahren der Wiederholung und Abwandlung vorführt, was zum einen der Einprägung dient, zum anderen aber den Grad der Intensivierung verstärkt. Entrückung, Gegenwärtigkeit und Genuss Gottes aber gehören Stufen der Gnade (grace) an, die eine besondere Auszeichnung darstellen und wofür die Seele in der Vernichtung schon so weit fortgeschritten sein muss, dass sie gar nicht mehr weiß, was ihr dann widerfährt. Zugleich hält der Text diese Abgrenzung nicht starr ein, sondern verweist beispielsweise in Mirouer 61 darauf, dass die Seele kurz und ausnahmsweise in den glorifizierten

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Zustand entrückt werden kann,200 während die Stelle aus Mirouer 118 mitteilt, dass dieser Zustand erst nach dem leiblichen Tod eintritt, wenn die Seele Zugang zur Ewigkeit Gottes erhält.201 Gleichzeitig stellt der Prolog Bezüge zu der impliziten Semantik des Genießens her, da er ein kleines zusätzliches Detail zum Genuss (fruiction) liefert, der durch seine Fülle und durch seine Vollkommenheit gekennzeichnet ist. So hat die vollkommen vernichtete Seele erst nach ihrer Rückkehr in die Heimat (pays) Teil an der Fülle der Vollkommenheit durch das Genießen Gottes,202 was an die augustinische Allegorie von der Seele auf der Reise in die Heimat erinnert. Außer dem Substantiv le plain wird der Genuss (fruiction) nicht näher beschrieben. Implizit sind in der Verbindung von Fülle und Genuss, die in der Wortanalyse der Visioenen eine Rolle spielte, Bezüge zu der im ganzen Mirouer breit entfalteten Sättigungsmetaphorik enthalten, die sich beispielsweise zwischen manquer und accomplir, zwischen faim und pasture/nourriture, zwischen delice und plain(e) bewegt. So verbinden die Visioenen ghebruken häufig mit dem Adjektiv gheheel, das nicht nur Aspekte der Vollständigkeit oder Ganzheit, sondern auch der Vollkommenheit ausdrücken kann.203 Das exklusiv aussparende Verfahren des Textes in Bezug auf die siebte Stufe zeigt sich besonders in Kapitel 118, das als einziges alle sieben estats komprimiert zusammenfasst und im Einzelnen beschreibt, paradoxerweise aber den siebenten estat lediglich in aller Kürze erwähnt, dadurch aber mit einem besonderen Akzent versieht:

200 Vgl. dazu Robinson (2001), S. 42: »Periodically such souls are raptured by the Trinity to a ›vision‹ of absolute peace and glory, a glimpse of the glory that the disembodied soul will enjoy eternally in the seventh stagem which is granted only after bodily death. Thus the soul realizes its true identiy as divine.« Robinson räumt zwar kurz ein, dass die Seele nach dem raptus zum sechsten ebenso rasch zum siebten Zustand weiter entrückt wird, aber verfolgt diese Spur nicht weiter und bringt die verschiedenen Stellen mit ihren verhaltenen Hinweisen auf den siebten Zustand nicht detaillierter in Zusammenhang. 201 Im Gegensatz zum Fließenden Licht gestaltet der Mirouer demzufolge zwar gelegentlich Momente der Entrückung und Verzückung, vor allem von der fünften zur sechsten und von der sechsten zur siebten Stufe, doch inszeniert er die fruiction in erster Linie durch das pointierte Ausschweigen und nicht als verzehrende gebruchunge im Wechselspiel zwischen göttlichem und menschlichem Partner oder wie in den Visioenen als dynamisches ghebruken zwischen Begehren und Genießen. 202 Vgl. im Zusammenhang der Rückkehr Mirouer 138, wo die Rückkehr in den göttlichen Ursprung geschildert wird. 203 Vgl. Bertho (1993), S. 70–72, ein Kapitel, das bezeichnenderweise folgenden Titel trägt: La simplicit¦, divine fruition de la gr–ce. Bertho verbindet die –mes an¦naties mit den –mes simples und damit die Vernichtung des Selbst mit dem Genuss Gottes, den die vernichtete Seele in der Einheit mit Gott erfährt. Sie fügt damit dem wechselseitigen IneinanderÜbergehen von Vernichtung und Genuss, die einander bedingen, einen weiteren Akzent hinzu, doch bezieht sie diesen nicht eingehend auf den Mirouer, so dass keine Stellen genannt werden, in denen die fruition vorkommt oder diese genauer bestimmt wird.

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Et le septiesme garde Amour dedans elle, pour nous donner en parmanable gloire, duquel nous n’aurons cognoissance jusques ad ce que nostre ame ait nostre corps laiss¦. (Mirouer 118, 204–206) [Die siebente Stufe aber behält die Liebe in sich, um sie uns in der ewigen Glorie zu gewähren. Davon erlangen wir keine Kenntnis, bis unsere Seele den Körper verlassen hat.

Scheinbar wird dieser estat von der Liebe verschwiegen,204 bis man diesen Seinszustand von ihr in der parmanable gloire, also der ewigen Glorie,205 gewährt bekommt. Diese Information über den siebten Zustand wird von zahlreichen Forschern unhinterfragt übernommen,206 obwohl bereits im Prolog mitgeteilt wurde, dass die Seele auf der siebten Stufe den Genuss Gottes erfährt, was das betonte Verhüllen an dieser Stelle die Bedeutung und die Exklusivität des 204 Vgl. in der Einführung die Bemerkung über paradoxes Schweigen des Genießens, das dennoch in seiner Verweigerungs- und Exklusivitätsgestik versprachlicht wird. 205 In Mirouer 115 und 138 wird zwar die Gottesgeburt in der Seele und die Rückkehr in den Ursprung mit deutlichen Bezügen zur göttlichen fruiction detailliert geschildert, jedoch ohne eine Erwähnung der gloire. Gleichzeitig aber stimmen alle anderen Beschreibungen des estres sans estres, qui est Estres (Mirouer 115, 17f.) mit dem siebten estat überein, besonders der Schlüsselbegriff fruiction. 206 Vgl. Babinsky (1987), bes. S. 95, wo lediglich die Aussage von Mirouer 118 über den siebten Zustand zitiert wird: »›This stage cannot be described an dit will be known only when the soul has left the body.‹ The main focus of the treatise is the dynamic of the relations between the forth, fifth, and sixth stages.« Ebenso Bertho (1993), S. 95: »Au coeur du ›Miroir‹, appara„t dans le sixiÀme ¦tat de grace la fenÞtre mystique qui, — peine entrouverte, est d¦j— referm¦e sur l’¦tat de gloire, septiÀme et ultime ¦tat de grace, que l’›Ame‹ ne peut approcher dans son corps mortel.« Gleichfalls Hollywood (1995), S. 99: »The seventh state, finally, is that which awaits the soul on her departure from the body.« Zu den sieben Stufen oder Seinszuständen vgl. bes. Kocher (2008), S. 111f. Sie vergleicht die sieben estats oder estres mit sozialen Rängen und Abstufungen, wofür sie im Mirouer anhand Vokabular und Metaphorik zahlreiche Belege findet. Über den siebten Status heißt es aber nur dem Mirouer zufolge ohne weitergehende Deutung: »The soul gains her noble position partly via her spiritual marriage and love relationship with God. In the example above, the noble Soul is about to ›fall‹ into ›divine life‹ and become ›sanctified‹ […] but not yet ›glorified‹ as she may be in stage seven […]«. Ausführlicher ergänzt Kocher (2008), S. 145: »This symbolic loss of private property in the seventh stage coincides with the semantic breakdown of the larger system of exchange within which the concept o floss has meaning.« Sie bringt den Verlust des Selbst somit in Analogie zu Müller mit dem Verlust von Sprache/Bedeutung in Zusammenhang. Allgemein dazu McGinn (1999), S. 457: »Es gibt eine siebte Stufe, die der Verherrlichung, die sich vom kurzen Augenblick der ›Öffnung‹ oder der lichtvollen Einsicht auf der sechsten Stufe unterscheidet. Aber sie ist dem Himmel vorbehalten, und Marguerite sagt nichts über sie.« Dem vergleichbar Ruh, Frauenmystik (1993), S. 349: »Ist die Seele im sechsten Stand verklärt, so im siebten verherrlicht (gloriefee). Hier ›wird die Liebe zurückgehalten […], um sie uns in der ewigen Seligkeit zu gewähren. Davon erlangen wir keine Kenntnis, bis unsere Seele den Körper verlässt.‹« Insgesamt werden wenige Anstrengungen unternommen, um die im Mirouer eingestreuten Details zum Genießen zusammenzubringen, mit Ausnahme von C. Müller, die aber in der Hauptsache implizit arbeitet.

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höchsten Gnadenzustands steigert. Catherine M. Müller dagegen verbindet den Zustand des göttlichen Genießens mit dem mystischen Schweigen, zu dem der Mirouer ihr zufolge allmählich vordringt und das nicht versprachlicht werden könne.207 Sie entwickelt eine alternative Deutung jenes betonten Ausschweigens des siebten Zustands im Mirouer, das zu markiert ausfällt, um für einen Zufall gehalten zu werden. Zudem verweist sie auf die Paradoxie zwischen der Zeitform im Prolog und der Aussage in Mirouer 118, die beide unterschiedliche Realisationsgrade bezeichnen.208 Denn die Seele wird zwar zu Lebzeiten auf der sechsten Stufe befreit (enfranchie), rein (pure), geheiligt (sanctifiee) und erleuchtet (clarifiee), nicht aber verherrlicht (glorifiee).209 Einen Gegensatz hierzu bilden Mirouer 115 und 138, die beide das Wort fruiction enthalten und völlig aus dem Sieben-Stufen-Schema herausfallen. Mirouer 115 beschreibt zuerst das Wesen der Trinität, bevor die Seele ihr Eingehen in den göttlichen Urgrund schildert, wo die Geburt der Trinität in der Seele durch die Liebe stattfindet. Diese Vereinigung hat zur Folge, dass die ewige Substanz des Vaters, das empfangende Genießen des Sohnes und die liebevolle Vereinigung des Heiligen Geistes von der göttlichen Liebe in der Seele geboren/ erzeugt (engendre) werden.210 In diesem Zusammenhang lässt sich die divina substantia mit dem zehnten Kapitel aus dem elften Buch von Augustinus’ De civitate dei211 in Verbindung bringen, welches das göttliche Wesen als einfach (simplex) und unwandelbar (incommutabile) sowie als Natur des Guten

207 Vgl. hierzu C. Müller (1999), S. 78f. Sie ordnet das Genießen dem Schweigen zu, weshalb es im Gegensatz zu den anderen, besonders aber dem fünften Zustand, kaum versprachlicht werde. In diesem Sinne deutet sie auch den Prolog: »La description de l’–me parfaite reste — jamais hors du miroir, puisque le septiÀme ¦tat n’appartient pas qu’au domaine du silence.« Müller aber geht nicht so weit, dieses Schweigen im Text als ein vorhandenes und inszeniertes zu deuten, sondern sie verbindet im vierten Kapitel »Le chant de la jouissance« stattdessen jouissance und chant, doch bezieht sie jouissance nicht explizit auf fruiction, sondern auf damit in Zusammenhang stehende Begriffe und Bilder wie joincture, joie, paix, chant (vgl. hierzu ihr Schaubild zum noyau divin auf S. 37). Direkt im Anschluss an Müllers Gewichtung des Sanghaften und Lyrischen im Mirouer vgl. Valette (2007). 208 Vgl. C. Müller (1999), S. 78: »ArrÞtons-nous un instant — la structure du prologue dont le d¦but et la fin fonctionnent comme un r¦sum¦ — priori de toute l’oeuvre. La premiÀre phrase du ›Miroir‹ considÀre comme un fait accompli (au pass¦ compose) l’ascension de l’–me du premier au septiÀme etat de gr–ce. Cependant, le chapitre 118, qui d¦crit chacun de ses degr¦s, nous apprend que l’–me ne peut pas atteindre le septiÀme ¦tat de grace dans cette vie (118: 204–06) et que ›Le Mirouer‹ se borne — traiter du cinquiÀme et du sixiÀme (118: 94–203).« 209 Vgl. Mirouer 84, 14–19 oder exemplarisch 118, 183–186: Et adonc est l’Ame ou siziesme estat de toutes choses enfranchise et pure et clariffiee, – et non mie glorifiee; car le glorifiement est ou septiesme estat, que nous aurons en gloire, don’t nul ne sÅait parler. 210 Robinson (2001), S. 55–57 zu Mirouer 115. 211 Vgl. Augustinus, De civitate dei (1955), vor allem lib. XI, 10, das von der Einfachheit des dreieinigen göttlichen Wesens handelt.

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(bonum) beschreibt;212 nach Abaelard ist die göttliche Substanz unkörperlich, geistig, unsinnlich, ewig und existiert nur durch sich selbst. Diese Beschreibungen lassen sich ebenso auf Mirouer 138, der die Einfachheit der Seele in Willen und Sein betont, beziehen:213 Il est une substance permanable, une fruiction aggreable, une conjunction amiable. Le pere est substance permanable; le Filz est fruiccion aggreable; le Saint Esperit est conjunction amiable. Laquelle conjunction amiable est de substance permanable et de fruiction aggreable par la divine amour. L’Ame. – Hee, Unit¦, dit l’Ame sourprinse de Divine Bont¦, vous engendrez unit¦, et unit¦ reflechist son ardour en unit¦. Laquelle divine amour d’unit¦ engendre en Ame Adnientie, en Ame Enfranchie, en Ame Clarifiee, substance permanable, fruiction aggreable, conjunction amiable. De laquelle substance permanable la memoire a la puissance du Pere. De laquelle fruiction aggreable l’entendement a la sapience du Filz. De laquelle conjunction amiable la voulent¦ a la bont¦ du Saint Esperit. (Mirouer 115, 3–15) [Es gibt eine ewige Substanz, ein empfangendes Genießen, eine liebevolle Vereinigung. Der Vater ist die ewige Substanz, der Sohn ist das empfangende Genießen, der Heilige Geist ist die Verbindung in der Liebe. Diese Verbindung in der Liebe besteht in ewigem Wesen und in empfangendem Genießen durch die göttliche Liebe. Die Seele: Ja, Einheit!, spricht die von der göttlichen Güte übermannte Seele. Ihr erzeugt Einheit, und die Einheit strahlt ihre Glut zurück in die Einheit. Die göttliche Liebe gebiert in der vernichteten Seele, in der freien Seele, in der erleuchteten Seele ewiges Wesen, empfangendes Genießen, liebevolle Vereinigung. Aus der ewigen Substanz empfängt das Gedächtnis das Vermögen des Vaters. Aus dem empfangenden Genießen hat der Verstand die Weisheit des Sohnes. Aus der liebenden Vereinigung empfängt der Wille die Güte des Heiligen Geistes.]

Die Dreieinigkeit besteht demnach aus ewigem Wesen, empfangendem Genießen und liebevoller Vereinigung, die jeweils das Gedächtnis (memoria), der Verstand (intellectus) und der Wille (voluntas) empfangen.214 Auch hier wird die Passivität der Seele betont, deren Genießen noch einmal gesondert durch das Adverb des Empfangens gekennzeichnet ist (fruitio acceptabilis), was erneut auf die große Gnade hinweist. Eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielt die göttliche Liebe, welche in der vernichteten Seele die aus Substanz, Genießen und Vereinigung bestehende Trinität erzeugt.215 Auffallend ist, dass in 212 Est itaque bonum solum simplex et ob hoc solum incommutabile, quod est Deus. Ab hoc bono creata sunt omnia bona, sed non simplicia et ob hoc mutabilia. Creata sane, inquam, id est facta, non genita. Quod enim de simplici bono genitum est, pariter simplex est et hoc est quod illud de quo genitum est. (CD XI, 10 [1–6]) 213 Abaelardus (1991). 214 Man beachte die Verschiebung der augustinischen Anordnung, bei dem die voluntas das Genießen verwaltet, das zudem nicht innerhalb der Trinität aufgeteilt wird. 215 Sprachlich wird diese Vernichtung der Seele durch die häufig zitierten präpositionalen

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diesem Kapitel das bisher so sorgsam vermiedene Wort fruiction gleich mehrfach, insgesamt fünfmal, verwendet wird – am Anfang des Kapitels sogar in jedem aufeinanderfolgenden Satz.216 Der Text setzt die Wiederholung dafür ein, um die Gottesgeburt in der Seele mit ihren verschiedenen Bestandteilen der Trinität performativ zu inszenieren. Durch den Wechsel einer allgemeinen Aussage am Beginn zu den Worten der Seele verstärkt sich zudem die Unmittelbarkeit, da jetzt an einer Seele stellvertretend für alle das Zusammenspiel von Vernichtung und Genuss gezeigt wird.217 Ähnlich wie im Prolog und in Mirouer 118 ist in dem vorausgehenden Kapitel 114 implizit vom Genuss die Rede, wenn es heißt, die vernichtete Seele lebe ganz aus der göttlichen Substanz, die göttliche Substanz aber im nächsten Kapitel mit fruiction und unit¦ in Verbindung gebracht wird: Adonc est elle adnientie, »sans« elle, quelque chose que ce soit que Dieu souffre d’elle. Adonc fait elle tout sans elle, et si lesse tout sans elle. Ce n’est par merveille: elle n’est m¦s »pour« elle, car elle vie de substance divine. (Mirouer 114, 13–16) [So ist sie vernichtet, ohne sie, was immer Gott von ihr noch zu ertragen habe. Sie tut jetzt alles ohne sie, sie lässt auch alles ohne sie. Dies ist kein Wunder! Sie ist nicht mehr für sich, denn sie lebt aus der göttlichen Substanz.]

Im Anschluss an die Wortanalyse der Visioenen ergeben sich weitere Parallelen, da Genuss und Einheit mit Gottes Wesen explizit verschmelzen. Genuss wird im Mirouer im Prolog und in Mirouer 115/138 vor allem mit dem Adjektiv divine verbunden und zeigt damit einen stark auf Gott oder die Trinität zentrierten Charakter. Ebenfalls wird fruiction im Mirouer mit Fülle (le plain), Vollkommenheit (parfection) und Einheit (unit¦) verknüpft, wobei erst die völlige Vernichtung der Seele den Genuss der Trinität ermöglicht, da dieser sich nur in einer Ame Adnientie vollziehen kann. Die enge Verbindung von Vernichtung und Genuss wird in Mirouer 114 daher erneut bestätigt und sogar noch verstärkt. Die dreimal wiederholte – zweimal sogar in einem einzigen Satz! – Verwendung von sans elle signalisiert auf der sprachlich-klanglichen Ebene die Vernichtung der Seele und setzt sie in deutlichen Gegensatz zu dem pour elle in Szene. Die Vernichtung bildet sowohl die Voraussetzung als auch die Begleitung des Lebens der Ame Adnientie aus der göttlichen Substanz. In dem darauf folgenden Spiegel Wendungen wie sans elle (114, 13–15) oder en moy, pour moy, et sans ma tenue (115, 30) inszeniert. 216 Vgl. Robinson (2001), S. 56. Sie behauptet, »Porete uses the triad of substance, fruition, and conjunction several times in the ›mirror‹«, führt aber außerhalb von Mirouer 115 keinen Beleg hierfür an. Selbst bei wiederholter Lektüre ließ sich auch kein weiterer Beleg für ihre Behauptung finden, so dass angenommen wird, sie beziehe sich hiermit auf Mirouer 115. 217 Vgl. hierzu Ruh, Frauenmystik (1993), S. 356f. und den dort erfolgten Hinweis auf Mirouer 115, dessen Anfang ihm zufolge den »Charakter von theologischen Lehrsätzen über die Trinität« hat.

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wird die ewige Substanz dem Vater zugeordnet, das Genießen dem Sohn und die Vereinigung dem Heiligen Geist. Somit wird die substance divine in die Trinität integriert, die wiederum die vernichtete Seele in ihren Ursprung zurückführt. Der Doppelzustand aus Vernichtung und Vereinigung im Genuss wird im zweiten Abschnitt von Mirouer 115 besonders in dem Ausdruck ›Sein ohne Sein‹ pointiert, welches das Sein selbst sein soll (estres sans estres, qui est Estre). Hiermit wird das Sein der Seele im Urgrund der Dreifaltigkeit bezeichnet, die jetzt durch den Überfluss an Liebe, Wonne und Lust (delice) in einen paradoxen Zustand aus Vereinigung und Vernichtung überführt wird. Um das zu betonen, schließt die Passage mit einem vieldeutigen in mir, für mich, doch ohne mein Zutun (en moy, sans moy, et sans ma tenue), was im Französischen besonders auf klanglicher Ebene das Paradoxon klarer formuliert. Es besteht darin, dass ohne das Selbst etwas für das Selbst geschieht, weswegen der Zustand der Einheit in der Vernichtung gleichermaßen als ein ›Sein ohne Sein‹ bezeichnet wird, das das Sein schlechthin darstellt. Die scheinbare Negativität, die vor allem in der Präpostion ohne (sans) zum Ausdruck kommt und das Selbst ›ausstreicht‹, zeigt zugleich dessen höchste Erfüllung in der Einheit mit Gott, welche ein Übermaß an Wonne freisetzt: Laquelle conjunction mect Ame en estres / sans estres, qui est Estre. Lequel Estre est le Saint Esperit mesmes, qui est amour du Pere et du Filz. Laquelle amour du Saint Esperit flue en Ame, et est espandue d’abondance de delices d’ung don tres haultiesme, qui est donn¦ d’une esleue et magistrale jointure du souverain Amy, qui simple se donne, et simple se fait il. […] Une seule bont¦, par conjunction de la force de la muance d’amour de l’Amy de moy, dit ceste Ame qui tel est, demaine sans estanche de l’espandement de divine amour. De laquelle divine amour Divine Voulent¦ use en moy, pour moy, et sans ma tenue. (Mirouer 115, 17–24; 26–30) [Diese Vereinigung versetzt die Seele in ein Sein ohne Sein, welches das Sein selbst ist. Dieses Sein ist der Heilige Geist selbst, der die Liebe des Vaters und des Sohnes ist. Diese Liebe des Heiligen Geistes strömt in die Seele und ist ausgegossen in einer Fülle der Wonnen durch eine überaus hohe Gabe. Sie wird in einer auserlesenen und meisterhaften Verbindung mit dem höchsten Freunde geschenkt, welcher sich einfach gibt und einfach macht. […] Eine einzige Güte dank der Vereinigung in der Kraft der Umwandlung durch die Liebe meines Freundes, spricht diese Seele, die so ist: ein Bereich ohne Scheidewand für das Ausströmen der göttlichen Liebe. Aus dieser göttlichen Liebe wirkt der göttliche Wille in mir, für mich, doch ohne mein Dazutun.]

Indem die Seele vernichtet wird, ist zugleich eine völlige Vereinigung mit Gott möglich, da sie total in dem ein-fachen Willen Gottes aufgeht und dabei selbst ein-fach wird. An der Stelle wird das Verb gebrauchen (user) benutzt, um Gottes Wirken in der Seele zu kennzeichnen; da Gott ihn auf eine Weise benutzt, die für den ergebenen Menschen zur intensiven Freude ausfällt. Die Verwendung von user setzt den Mirouer deutlich von den Verben gebruchen (mhd.) und ghe-

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bruken (mdl.) im Fließenden Licht und den Visioenen ab, die Aspekte von gebrauchen mit genießen verbinden. Stattdessen kennzeichnen Ausdrücke wie Überfluss an Wonnen/Fülle der Lust (abondance des delices) implizit das Umfeld des Genießens, das im Mirouer häufig von Freude (joie), Lust (delice) oder Frieden (paix) gebildet wird, und die großzügig verwendet werden. Doch implizieren Worte wie Lust/Wonne (delice) oder Süße (doulceur)218 zwar überwältigende Freude und berauschende Süße, jedoch bleibt nur den Ausnahmefällen im Text das Wort Genuss (fruiction) vorbehalten, der etwas besonders Exklusives in einer ohnehin sehr exklusiven Hierarchie bezeichnet. Genuss schließt zusätzlich Lust, Freude, Frieden ein, nicht aber umgekehrt, da dem Wort offenbar ein semantischer Mehrwert anhaftet. Mirouer 138 beschreibt auf sehr komplexe und verdichtete Weise den Zustand der vernichteten Seele, die in den ursprünglichen Zustand zurückgekehrt ist, um sich dort mit ihr zu vereinen. Ebenso wie Mirouer 115 fällt dieses Kapitel völlig aus dem Sieben-Stufen-Schema heraus, das den gesamten Mirouer zwar entscheidend prägt, nicht aber die einzige Hauptlinie darstellt, sondern von zahlreichen Abweichungen unterbrochen wird, die in einem spiralförmigen Verlauf eingeblendet werden. Umwandlung (muance) in die Liebe und Rückkehr (l’Ame est remise) vereinen die vollkommen vernichtete Seele mit der Gottheit, so dass diese in den Genuss des göttlichen Wesens oder des Ausströmens seiner Güte kommt: Or est ceste Ame en l’estre de ce premier estre qui est son estre, et si a laiss¦ trois, et a fait de deux ung. Mais quant est cest ung? Cest ung est, quant l’Ame est remise en celle simple Deit¦, qui est ung simple Estre d’espandue fruiction, en plain savoir, sans sentement, dessu la pensee. Ce simple Estre fait par charit¦ en l’Ame quanque l’Ame fait, car le vouloir est simple devenu; lequel simple vouloir n’a point de fait en luy, depuis qu’il ot vaincu la neccessit¦ de deux natures, la ou vouloir fut donn¦ pour simple estre. Et ce simple vouloir, qui est divin vouloir, mect l’Ame en divin estre: plus hault ne peut nul aler, ne plus parfont analer, ne plus nulz homs estre. (Mirouer 138, 3–13) [Nun ist die Seele im Zustand des ursprünglichen Seins, das ihr Sein ist. Und somit hat sie die Drei gelassen und aus zweien eins gemacht. Wann aber ergab sich dieses Eine? Dieses Eine ergibt sich, wenn die Seele in jene einfache Gottheit zurückgekehrt ist, die ein einziges im Genießen verströmtes Sein ist, ohne Empfindung in vollständigem Wissen über allem Denken. Dieses einfache Sein bewirkt durch die Liebe in der Seele das, was immer die Seele tut, denn ihr Wille ist einfach geworden. Dieser einfache Wille weist keinerlei Tat auf, seit er die Notwendigkeit von zwei Naturen überwunden hat, da als ihm das Verlangen nach dem einfachen Sein eingegeben wurde. Und dieses einfache Wollen, welches göttliches Wollen ist, versetzt die Seele in das göttliche Sein: höher

218 Vgl. Mirouer 118, S. 65–92, der den vierten Zustand beschreibt, welcher in Teil III, Kap. 3 noch einmal ausführlich im Zusammenhang mit der impliziten Semantik aufgegriffen wird.

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kann keiner gelangen, noch auch abgrundtiefer versinken. Keiner vermag ein tiefer zunichte gewordener Mensch zu sein.]

In dieser Passage ist die Göttlichkeit einzig durch das einfache Sein bestimmt, das sich im Genießen219 verströmt und dadurch Bezüge zu Plotins Emanationslehre herstellt. Gott ist Eines im Genuss, und mit ihm die Seele. Genuss und Einheit verschmelzen ebenso wie Gott und Mensch. Das Adjektiv simple, was die Gottheit kennzeichnet, verbindet die Trinität mit den Ames Simples, die zunichte geworden sind. Der einfache göttliche Wille versetzt die Seele in das göttliche Sein, an deren fruiction die Seele teilhaben kann. Dieses Sein im sich ausströmenden Genuss ist zudem durch ein besonderes Verständnis von Wissen gekennzeichnet, und zwar überragt dieses Wissen alle auf rationalem und intellektuellem Weg erworbene Einsicht. Es ist höher als alles Denken, was kaum überrascht, da der Mirouer allgemein der Dialogpartnerin Raison gegenüber eine sehr kritische Einstellung einnimmt.220 Erkenntnis und Genuss ergeben zusammen ein exklusives Wissen, das dem Verstand verschlossen bleibt und ineinander aufgeht.221 Über die Seele in diesem Seinszustand wird zweierlei gesagt: Zum einen wird mit der Tiefe, für welche der Abgrund steht, auf das unendliche Ausmaß ihrer Vernichtung hingewiesen, zum anderen wird die außergewöhnliche Erhebung, die ihr in dieser estat geschenkt wird, mit der Höhe verdeutlicht.222 Paradoxerweise bedingen sich Abgrund und Erhebung, Selbstverlust und Genuss gegenseitig: Je tiefer sie sinkt, desto höher steigt die Seele,223 je vollkommener sie vernichtet ist, desto vollkommener genießt sie. Nicht nur Genuss und Vernichtung sind einander zugeordnet, sondern beide drücken zugleich die Vollkommenheit im Zuge der Vervollkommnung der Seele aus. Denn die Übereinstimmung mit Gottes Willen, der einfach ist und die Seele einfach macht, wird nur durch Selbstvernichtung erreicht, gleichzeitig setzt hierdurch der volle, überströmende Genuss des göttlichen Seins und Wesens ein, so dass diesem Kapitel zufolge ein Maximum an Vernichtung und Genuss und damit 219 Das Genießen im Urgrund der Göttlichkeit stellt einen Bezug her zu dem sich drehenden schwarzen wiel unter der Scheibe oder zum Gipfel des Berges, auf den sieben Wege führen, in den Visioenen der Hadewijch. Denn beides, sowohl Tiefe als auch Höhe in den Bildern, zeigen das Genießen der Göttlichkeit als deren hervorstechendstes Merkmal und zugleich die charakteristische Verbindung zwischen Höhe und Tiefe. 220 Vgl. exemplarisch zu besonders kritischer Vernunftschelte Mirouer 86. 221 Vgl. Gnädinger, Margareta Porete (1987), S. 226–228. 222 Vgl. hierzu auch FL IV, 7, 4f.: Herre, darumbe das ich undertenig bin gewesen allen creaturen, so hast du mich gezogen fflber allffl ding zu dir. Mechthild verbindet hier wie so oft Tiefe und Höhe, indem sie eine Relation zwischen beiden herstellt, situiert die Tiefe aber in der irdischen im Gegensatz zu der himmlischen Sphäre. 223 Man denke an die gotzvroemedunge in FL IV, 12, 30f., die ein vergleichbares Modell lyrisch verknappt aufzeigt: Mere ie ich tieffer sinke, ie ich susser trinke.

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an Vollkommenheit für die im wörtlichen Sinne ›zu Grunde gegangene‹ Seele erreicht ist.

Zusammenfassung Die drei Textstellen zeigen Genuss als Bestandteil der göttlichen Einheit und Erfüllung, deutlich flankiert und begleitet von der Vernichtung, welche alle Vollkommenheit bedingt und mitvollzieht. Als einzige der drei Stellen verknüpft Mirouer 118 fruiction mit dem siebten Zustand, der ansonsten betont verknappt und verhüllt dargestellt wird. In den anderen beiden Spiegeln, in denen Genuss explizit vorkommt, ist von einer Integration in das Sieben-Stufen-Schema nicht die Rede, sondern das Wort fruiction verbindet sich mit den Bildern der Gottesgeburt in der Seele und der Rückkehr in den göttlichen Ursprung. Die Trinität ist wesentlich durch den Genuss gekennzeichnet, einmal ist der Genuss dem Sohn (Mirouer 115), dann der ganzen Göttlichkeit zugeordnet (Mirouer 138), so dass Genuss und Einheit ebenso verschmelzen wie Genuss und Vernichtung. Denn die Seele kann nur durch die völlige Gleichheit mit dem göttlichen Willen und durch die gänzlich vollzogene Selbstvernichtung mit Gott vereinigt werden und dadurch an seinem Genießen teilhaben, doch gestaltet der Text diese beiden Zustände vor allem in Mirouer 115 und 138 als ineinander übergehende Überlappungszonen. Im Prolog wird fruiction mit Vollkommenheit und Fülle verknüpft, in Mirouer 118 mit der ewigen Verklärung, doch nur andeutungsweise, was dazu dient, diesen Zustand durch die Leerstellen in der Sprache als besonders erlesen, gnadenhaft und exklusiv erscheinen zu lassen. Mirouer 115 und 138 dagegen inszenieren die völlige Einheit der Seele mit dem Wesen Gottes, das als dreifaltig oder als einfach dargestellt wird. Vor allem Mirouer 115 nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, da allein in diesem Kapitel fruiction fünfmal genannt wird, so dass die Gottesgeburt in der Seele sprachlich-klanglich durch die Wiederholungstechnik performativ vollzogen wird. Dazu trägt der Wechsel von der neutralen 3. Pers. Sg. zur 1. Pers. Sg. bei, so dass die Seele die Einheit genussvoll in Worte fasst, die dem Text zufolge von der göttlichen Güte überwältigt ist. Insgesamt wird Genuss als ein Ganzes, Ewiges, Einfaches, Vollkommenes charakterisiert und damit unmittelbar Gottes Sein und Wesen zugeordnet, so dass diese Wortanalyse Parallelen zu der vorigen der Visioenen aufweist, obwohl diese Details eher verhalten anklingen als wie in den Visioenen deutlich betont werden. Was die fruiction in besonderem Maße kennzeichnet, ist ihre dichte Verknüpfung mit der Vernichtung, die sprachlich durch die Ame Adnientie, die Metapher des Abgrunds mit der Räumlichkeit der Tiefe und durch die präpo-

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sitionale Wendung sans elle sprachlich inszeniert wird. Grundsätzlich wird die Sparsamkeit der expliziten Nennung hier als spezielle Strategie des Textes aufgefasst, einen besonderen Nimbus zu kreieren, der allein die höchste Stufe betrifft, so dass Verhüllen zugleich ein Mittel sein kann, auf etwas Außerordentliches zu verweisen. Hierfür spricht auch die zu dem spärlichen expliziten Befund in deutlich sichtbarem Gegensatz stehende implizite Semantik des Genießens, die sich vor allem in der Sättigungs- und Trunkenheitsmetaphorik, der breit entfalteten Raumsemantik von Berg und Abgrund zeigt oder in Ausdrücken wie Lust/Wonne (delice) oder Freude (joie), die in diesem Zusammenhang auftreten. Diese werden in den nächsten beiden Teilen, die für den Mirouer besonders wichtig sind und die knappen Einzelheiten zur siebten Stufe ergänzen, detaillierter dargestellt. Dieses aussparende Ausschweigen des siebten Zustandes wird jedoch als bewusste Technik des Textes gedeutet, etwas mitzuteilen, ohne es zu sagen, etwas anzudeuten, ohne es mitzuteilen, und damit paradoxerweise durch eine gezielt gesetzte Lücke deren Fülle zu zeigen. Das Schweigen wird performativ in die Sprache des Mirouer eingebunden.

II.2 Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Im Anschluss wird die implizite und insgesamt geräumiger angelegte Semantik des Genießens ins Zentrum gestellt, um die durch die Wortanalyse gewonnenen Ergebnisse zu erweitern. Anhand einschlägiger Bilder, welche räumliche Dimensionen wie Abgrund und Strudel, sinnliche Zustände wie Trunkenheit und Sättigung und physisch-psychische Extreme wie Krankheit und Wahnsinn ausloten, soll ein komplexes Panorama des Genießens und Begehrens anhand der Texte entworfen werden. Von diesen werden jeweils zwei analogisch in Beziehung zueinander gesetzt, um sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Bild- und damit der Genussgestaltung aufzeigen zu können. Die Anordnung der einzelnen Bilder beginnt mit Trunkenheit und Sättigung, die zusammen den Komplex einer physischen Bildgestaltung ergeben, bei der Essen und Trinken dicht aufeinander bezogen sind. Der Zustand der Trunkenheit weist aufgrund seiner Rauschhaftigkeit dichte Verbindungen zum Liebeswahnsinn auf. Gemeinsam mit der Liebeskrankheit als Extremform des Begehrens stehen beide trotzdem, da sie Höhepunkte und Reifegrade des Genießens markieren, erst am Ende. Die Bilder von Abgrund und Strudel, die Ausgreifungen in die Räumlichkeit und zugleich im wörtlichen Sinn Vertiefungen des Genießens und der Vernichtung darstellen, folgen denen der Trunkenheit und Sättigung. Körperlich angehaucht sind sie lediglich durch die Bewegungen der Seele, die entweder stürzt oder fällt. Den Abschluss bilden die besonders entgrenzten, den Menschen in seiner Gesamtheit ergreifenden metaphorischen Zustände der Krankheit und des Wahnsinns, die den Selbstverlust im Genuss maßgeblich intensivieren. Diese in den folgenden Kapiteln ausgeführten einzelnen Bilder vernetzen sich miteinander wie das Gewebe einer ›Textur‹, indem sie punktuell immer wieder auftreten. Dadurch erweitern sie außerdem ihr Bedeutungsspektrum. Die Semantik löst oder entfernt sich damit zumindest von der direkten Bezeichnungsebene, was eine Ausdehnung und Anlagerung weiterer Facetten zur Folge hat. Insgesamt intensivieren und dynamisieren solche Facetten das Genießen in den Texten. Zugleich verschwimmen die Bilder wegen ihrer auf engstem Raum

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verdichteten Vielfältigkeit und Fülle, indem sie etwas Vages behalten. Somit treten in der direkten Umgebung des Genießens Gottes ebenso Kernvokabeln wie Einheit, Ruhe, Frieden, Ekstase, Freude, Wonne und Lust auf, die gemeinsam ein breites Feld innerhalb der Sprache der Mystik abstecken.1 Noch zwei abschließende Bemerkungen zu Traditionslinien, die sich kreativ in der Bildgestaltung finden: Die Texte weisen vielfältige Bezüge zur negativen Theologie des Dionysius Pseudo-Areopagita auf, die sich in Ausdrücken wie Zunichte-Werden, Verschlungen-Werden, Überwältigt-Werden, ZugrundeGehen angesichts der überwältigenden Gegenwart des Göttlichen oder in Bildern wie dem überhellen Dunkel, Abgrund/Strudel oder Adjektiven wie grundlos niederschlagen.2 Die Unzugänglichkeit und Unauslotbarkeit Gottes gehört zusammen mit den damit verbundenen – überaus ästhetischen – Sprachformen zu einem festen Bestandteil der drei Texte, die in räumlichen Bildern, in gehäuften Verneinungen und durch performative Inszenierungen Selbstverlust und Selbstvernichtung in Gott darstellen. Ein ebenso bedeutender Traditionsstrang oder diskursives Netz ist die Hoheliedexegese von Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. Thierrry, die häufig situative Vorlagen wie zum Beispiel die Weinzelle, Erfahrungen der cognitio experimentalis, wie das süße Schmecken, oder rauschhafte Dispositionen, wie die Liebeskrankheit, die Liebestrunkenheit oder den Liebesschlaf, liefern.3 In den Zusammenhang des über alles liebenden Begehrens gehört auch das Traktat über die vier Stufen der Liebe von Richard von St. Viktor.4 Diese Texte stellten entscheidendes Material zu Verlangen und Erfüllung als Genuss für die Seelenbraut bereit, das in der Folge in Bildern aufgegriffen und als spezifische literarische Inszenierungen ausgestaltet werden konnte.5 Die produktive semantische Eigenleistung der Texte ist besonders bei der Bildgestaltung festzustellen.

1 Grundlegend vgl. Weiß (2000), S. 761–964. 2 Ruh, Grundlegung durch die Kirchenväter (1990), S. 32–82; Langer, Christliche Mystik (2004), S. 39f. M. E. hat Ruh trotz der Einsprüche Langers die ungeheure Ausstrahlungskraft und Bedeutung des Gedankenguts und des Sprachduktus des Areopagiten für die Mystik des Abendlands keineswegs überschätzt und daher begründet die Chronologie zugunsten der inneren Logik geopfert. 3 Ruh, Grundlegung durch die Kirchenväter (1990), S. 229–319. 4 Ebd., S. 387–397. 5 Vgl. generell dazu Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993).

Bilder der »Trunkenheit« im Fließenden Licht und im Mirouer

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II.2.1 Bilder der »Trunkenheit« im Fließenden Licht und im Mirouer Vorbemerkungen Um die paradoxen Doppelbewegungen der Versinnlichung und Entsinnlichung, der Verbildlichung und Entbildlichung aufzuzeigen,6 welche die Texte vollziehen, erweist sich das Bildfeld der geistlichen Trunkenheit im Fließenden Licht und im Mirouer als besonders ergiebig. Huizinga weist darauf hin, dass die Bilder des Hungers und der Trunkenheit einander besonders entsprechen,7 was die Stelle aus III, 3 bei Mechthild belegt. Die Trunkenheit gehört zu den Metaphern mit einem direkten Körperbezug, da sie einen physischen Extremzustand ausdrückt. Obwohl beide Texte auf dasselbe Bildfeld referieren, setzen sie die Akzentuierung unterschiedlich; so kennt das Fließende Licht eine Vielzahl von Variationen in den ersten drei Büchern: Das Eingießen des roten Weins durch Gott in den Mund der Seele versinnbildlicht die dynamische Beziehung zwischen den beiden, während der Genuss des ungemischten Weins in Gottes Taverne die Seele völlig der Armut preisgibt. Außerdem unterscheidet der Text zwischen dem roten und dem weißen Wein, wobei den Farben die Bedeutungen von Leid und Trost zugeordnet werden, und fasst die Trinität als Kelch, Wein und Schenke – ein Bild, dessen Unerhörtheit und Gewagtheit bereits Kurt Ruh hervorgehoben hat.8 Dagegen ist im Mirouer 23 die Seele am meisten trunken durch das, was sie niemals trank; in Mirouer 89 ist die Trunkenheit ein Ausdruck der vollständigen Gleichgültigkeit und Willenlosigkeit und in Mirouer 118 wird die Seele auf der vierten Stufe so trunken und so geblendet, dass sie sich bereits am Ziel glaubt. In beiden Texten wird das Bildfeld breit entfaltet und mit physischen 6 Vgl. Lüers (1926), S. 14: »Die Sinne werden mit Bildern übersättigt; doch der Geist wird entleert und schaut das Göttliche und sich in völliger Bild- und Weiselosigkeit.« Während bei Lüers eher eine Trennung zwischen Sinnen und Geist, Bild und Bildlosigkeit vorherrscht, modifiziert behutsam Ruh, Frauenmystik (1993), S. 282: »Mit Bildern das Bildlose zu ›schauen‹, ist auch der Weg Mechthilds.« 7 Vgl. hierzu Huizinga, Herbst des Mittelalters (2006), S. 280f.: »Nicht nur der groteske Brugman, auch der reine Ruusbroec genießt die Gottesminne unter dem Bilde der Trunkenheit. Neben dem der Trunkenheit steht das Bild des Hungers. Möglicherweise lag das Vorbild für beides in dem Bibelworte: ›qui edunt me, adhuc esurient, et qui bibunt me, adhuc sitient‹ […]. Die Vorstellung, der menschliche Geist werde von einem ewigen Hunger nach Gott heimgesucht, war damit gegeben. […] Doch ebenso wie das Bild der Trunkenheit ist das Bild des Hungers umkehrbar.« Huizinga weist darauf hin, dass nicht nur die Seele nach Gott hungern und dürsten kann, sondern auch umgekehrt Gott nach der Seele. 8 Vgl. Ruh, Frauenmystik (1993), S. 282: »Bilder können aber auch sich selbst diskreditieren, ja, sie tun es, auf Gott und das Ewige bezogen, immer, was durch offenkundige Unangemesssenheit der Bilder (etwa der dreifaltige Gott als Schenkwirt, Gefäß und Wein [II 24, 19ff.]) verdeutlicht werden kann.«

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Dimensionen ebenso verbunden wie mit dem Hinweis auf einen bilderlosen Status. Hierdurch wird das Verhältnis von Trunkenheit und Erkenntnis, Trunkenheit und Blendung, Trunkenheit und Selbstverlust und im weitesten Sinne von Trunkenheit und rauschhaftem Genuss vielseitig angereichert und bleibt flexibel verschiebbar.

Roter Wein in roten Mund – Die Geburt der Seele aus den offenen Wunden Christi Für die Metapher der Trunkenheit im Fließenden Licht haben Lüers,9 Egerding10 und Weiß11 Belege gesammelt und ausgewertet, was eine sehr gute Ausgangsbasis für die folgenden Überlegungen bereitstellt, die vor allem die Vielseitigkeit und die Paradoxie dieser Metapher aufzeigen wollen. Auch Köbele12 hat im Zusammenhang mit dem Hohenlied auf I, 22 Bezug genommen,13 während Meyer schreibt, dass der Text an der Stelle »über den Wortlaut des Hohenliedes hinausgeht«:14 Und fflnser loeser ist brffltegovm worden! Die brut ist trunken worden von der angesihte des edeln antlffltes: In der groesten sterki kumt si von ir selber, in dem schoensten liehte ist si blint an ir selber und in der groeston blintheit sihet si allerklarost. In der groesten klarheit ist si beide tot und lebende. (S. 38f.; I, 22, 21–25)

Egerding weist hier auf die »semantische Inkongruenz« hin,15 wenn die Seele Gottes Angesicht erblickt und dadurch trunken wird, doch würde ich eher von 9 Vgl. Lüers (1926), S. 268–270. Sie bestimmt die geistliche Trunkenheit oder die ebrietas spiritualis als eine »beliebte Bildvorstellung für den Zustand der Entwerdung in der unio mystica«. 10 Egerding (1997b), S. 580–583. 11 Vgl. Weiß (2000), S. 207–218. Weiß kennzeichnet die Trunkenheit eindeutig als »einen rauschhaften Zustand im positiven Sinn«. 12 Vgl. ausführlich zum Hohenliedbezug Ohly (1958) und Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993). Bereits Lüers (1926), S. 87 hat darauf hingewiesen, dass »die metaphorischen Komplexe […] des Weines und des Trunkenseins an sich als Ausdruck der Ekstase (5, 1) aus dem Hohen Liede stammen«. Hierzu zähle auch das Weinkellermotiv (1, 3). 13 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 76–80. Köbele beschreibt die verwendete Sprache als »sinnliche, aus dem Hohenlied entbundene Bildsprache, welche die Inkarnation an die Unio bindet und umgekehrt die erotische Bildsprache durch eben diesen Bezug legitimiert« (S. 77). Gleichzeitig vermeidet sie dadurch, sich in I, 22 auf die physische Radikalität im Verlauf der weiteren Bildentfaltung einzulassen, da das Bild durch den Hohenliedbezug zu stark abgemildert und in seiner Intensität und Drastik ›gezähmt‹ wird. Das soll keineswegs implizieren, dass das Aufzeigen solcher Bezüge für das Verständnis einer solchen Passage nicht ungemein hilfreich wäre, nur weisen Bilder von Geburt und Wunden wie die nachfolgenden andere Bezüge auf, die mit zur Deutung der Bildqualität einer solchen Stelle gehören. 14 Meyer, (1951), S. 95f. 15 Egerding (1997b), S. 582.

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einer Synästhesie, bestehend aus Sehen und Trinken, sprechen, welche durch den Gesichtssinn zugleich alle Sinne affiziert. Weiß spricht an dieser Stelle davon, dass es »die unmittelbare Erfahrung Gottes« sei, »die in der Ekstase trunken macht«.16 Der rauschhafte Zustand der göttlichen Präsenz wird mittels Paradoxien inszeniert, der aber nicht, wie es bei Egerding heißt, »Gedanken und Gefühle verwirrt«, sondern im Gegenteil Unvereinbares verbindet und der Seele eine unerhörte Klarheit beschert. Der körperliche Extremzustand der Trunkenheit wird durch die Extremzustände der Blindheit und des Todes ergänzt, und indem Tod und Leben, Blindheit und Klarheit,17 Stärke und Schwäche (Selbstverlust) sich ungestört miteinander vermischen, bilden sie gemeinsam das paradoxe Panorama der Trunkenheit. In diesen Zusammenhang gehört auch die Schilderung, wie die Seele aus den Wunden Christi geboren wird und den roten Wein in ihren Mund gegossen bekommt: Do stuonden offen beide sine wunden und ir brfflste; die wunden gussen, die brfflste vlussen, also das lebendig wart die sele und gar gesunt, do er den blanken roten win gos in iren roten munt. Do si alsust us den offen wunden geborn und lebendig wart, do was sie kindesch und vil jung. (S. 42f.; I, 22, 13–17)

Dicht zusammengedrängt werden in einem poetischen, hochgradig intensiv aufgeladenen Kontext mehrere kühne Bilder dem Rezipienten dargeboten: a) die Genesung und Belebung der Seele aus den fließenden Brüsten der Mutter Gottes und den strömenden Wunden Christi, b) die Metapher des roten Weines für das in die Seele gegossene Blut und c) die daraus entstehende Geburt der Seele aus den offenen Wunden. Die Mutter Gottes wird im Anschluss zur Mutter und Amme der Seele, Gott zu ihrem Vater und sie zu seiner Braut erklärt. Unmittelbarkeit, lyrische Präsenz und knappste Verdichtung prägen den Satzteil do er den blanken roten win gos in iren roten munt. So evoziert der Wein das Potential des Rausches und zugleich das des Abendmahls, wo Christi Blut als Zeichen für sein (Menschen-)Opfer getrunken wird. Zugleich intensiviert die rote Farbe für den Wein und ihre echogleiche Wiederholung beim Mund der Seele die erotische Wirkung dieses Bildes. Die sogleich bei der Seele erscheinende Farbe Rot setzt zudem die Wirkung des belebenden Tranks direkt ins Bild um. Wein und Blut fungieren als Medium einer Berührung, indem sie einen durch Flüssigkeiten vermittelten Kontakt zwischen Seele und Christus herstellen. Das Geräusch des Gießens oder Fließens, das den Kontakt zwischen Gott und Mensch ausdrückt, wird klanglich in 16 Weiß (2000), S. 216. 17 Vgl. hierzu in diesem Kapitel Mirouer 118, wo die Seele im vierten Zustand ebenfalls sowohl trunken als auch geblendet ist, was eventuell auf eine Zusammengehörigkeit dieses Paars hinweist.

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der Sprache durch Assonanzen und Reime erzeugt, in denen vor allem der Vokal /o/18 oder /u/19 dominiert. In diesem Bild überlagern sich demnach mehrere Schichten, eucharistische, nährende, heilende und erotische Bedeutungen kontaminieren sich gegenseitig, ohne sich jedoch eindeutig auflösen zu lassen.20 Zugleich sind die Körperbezüge besonders in dieser Passage frappierend, wenn die Paradoxie einer Heilung durch offene Wunden mit den nährenden Milchströmen der weiblichen Brüste verbunden wird, die zugleich zur Genesung und Geburt der Seele führen.21 Die Seele ist mit Christus (Mann) und Maria (Frau) in einem dynamischen, fortwährend fließenden, gender-übergreifenden Kreislauf verknüpft, so dass die Trunkenheit konkret sowohl im ausgegossenen Wein als auch durch die fließenden Blut- und Milchströme in ein bewegtes Bild umgesetzt wird, das der Einheit im Genuss verdächtig nahe kommt.

Der rote Wein der Qual und der weiße Wein des Trostes Die folgende Passage verwendet einmalig im Zusammenhang mit dem Bildfeld von Wein und Trunkenheit die Bezeichnung gebruchunge, so dass hier auf der Textoberfläche explizite und implizite Ebenen miteinander verbunden auftreten. Das Ich nimmt den Rat der Seele an, Gott zu loben, als es in Trägheit, eine der sieben Hauptsünden, und Traurigkeit verfallen will, und schildert darauf die zwei Arten Wein, die ihm präsentiert werden: Ich sfflndigffl, tregffl, ich solte zuo einer stunt betten. Do tet got, als ob er mir enkeinerlei gnade woelte geben. Do wolte ich mich betrueben jaemerlich umb mine vleischlich sfflche, die mich duhte ein hindernisse geistlicher gebruchunge. »Eya nein«, sprach mine sele, »gedenke noch aller trfflwe und lob dinen herren alsust: ›Gloria in excelsis deo‹«. 18 Vgl. I, 22, 15f: do er den blanken roten win gos in iren roten munt. 19 Vgl. I, 22, 13f: die wunden gussen, die brfflste vlussen. Die Klangtechnik, mittels Reimen und Assonanzen die strömenden und zirkulierenden Bewegungen des fließenden Blutes auszudrücken, findet sich auch in den Offenbarungen der Elsbeth von Oye: Do wart gesprochin: ›Du bist [worden] ein [huenigniessindes unt] hin fliezindes unt in fliezzindes in tiefsten grunt minder gotlicher nature, alz vil es muglich ist einer luter creatur‹ (Offb. 72, 10–15). Hier ergeben die Verben niessin und fliezzin zusammen mit den Präpositionen hin und in einen dichten Klangteppich, der die Bewegungen räumlich veranschaulicht und zugleich versinnlicht. Dadurch wird das Genießen dynamisiert und zugleich im Bild des Honigs intensiviert. 20 Insgesamt böte diese Passage Anknüpfungspunkte zu den in vieler Hinsicht so ganz anders gearteten Offenbarungen der Elsbeth von Oye, da sowohl das Eingießen des göttlichen Blutes als auch die Geburt der Seele aus den Wunden Analogien zu den – nur von den Schmerzensrufen des leidenden Ichs unterbrochenen – blutigen Kreisläufen zwischen Gott und Mensch aufweisen, vgl. hierzu: Gsell (2000); Ochsenbein (1986); Schneider-Lastin (2009). 21 Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), S. 109–225.

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In dem lobe erschein ein gros lieht miner sele, und in dem liehte wisete sich got in grosser ere und unzallicher clarheit. Do huop fflnser herre zwene guldin koeppfe in sinen henden; die waren bede vol lebendiges wines. In der linggen hant was der rote win der pine und in der vordern hant der wisse win des fflberheren trostes. Do sprach fflnser herre: »Selig sint, die disen win trinkent; wand alleine ich bede schenke von goetlicher liebi, so ist doch der wisse edeler in im selber ; und alleredlest sint die, die beide trinkent, wissen und roten.« (S. 94f.; II, 7, 15–29)

Das Gotteslob der Seele wirkt der Trägheit und Betrübtheit entgegen, durch das der ersehnte geistliche Genuss einsetzt. In einer an das Abendmahl angelehnten Szene hält der erscheinende Christus zwei goldene Weinkelche in seinen beiden Händen und bietet dem Ich selbst das Abendmahl: der eine Kelch enthält den roten Wein der Qual, der andere den weißen Wein des hocherhabenen Trostes. Beide werden von dem göttlichen Mund als lebendig bezeichnet, wobei dem weißen aufgrund seiner himmlischen Herkunft der Vorzug gegeben wird. Beide zu trinken, gilt aber als das Beste.22 An dieser Stelle versinnbildlicht der rote Wein Christi Blut, indem er auf die Passion Christi und die menschliche Nachfolge in der Imitatio verweist.23 Christi Blut wird nun nicht mehr als berauschend roter, intensiv belebender Wein in den roten Mund der Seele eingegossen, sondern die Farbe Rot verweist auf Schmerz und Qual, welche die Seele um Christi willen erleidet. Die Farbe Weiß dagegen versinnbildlicht die Reinheit und Lauterkeit des göttlichen Trostes und stellt einen ergänzenden Part zum Wein der pine dar.24 Außerdem ergeben Weiß und Rot zusammen nicht nur Trost 22 »Si soellent das vfflr war wissen: so ich si sweror zuo mir zfflhe, ie nahor si mir koment. Wenne der mensche fflber sich selber gesiget, also das er pine und trost glich wiget, so wil ich in in die suessekeit heben, also sol ime smeken das ewige leben« (VII, 56, 10–14). Der rote Wein der pine und der weiße Wein des trostes wird in II, 7, 29 mit der Aussage kommentiert, dass diejenigen am edelsten seien, welche alle beide tränken. Die Deutungsmuster von Schmerz und Trost werden hier wieder aufgegriffen. Somit verbindet der Text die Metapher von Wein und Trunkenheit implizit mit der des Schmeckens und der Süße. 23 Vgl. Egerding (1997b), S. 582, der im Gegensatz zu Meyer und in Übereinstimmung mit Lüers einen engen Bezug zur Eucharistie bei dieser Stelle sieht: »Auf dem Hintergrund der Eucharistie geht es dabei um das Leiden, das Jesus Christus freiwillig angenommen hat und an das bei der Eucharistie der Wein erinnert, der Blut Christi symbolisiert.« 24 Vgl. Meyer (1951), S. 99, der auf Gemeinsamkeiten zwischen Bernhard von Clairveaux und Mechthild von Magdeburg hinweist: »Sowohl der Abt als auch die Begine deuten den Wein […]. Bernhard: Im Weinkeller, in den die Braut eingeführt wird, liegt der Wein des in Liebe glühenden Eifers: ›vinum celli in charitate ferventi‹.« Meyer entzieht sich der physischen Dimension und transgressiven Realität des Bildes, wenn er Lüers widerspricht, dass sich »Vorstellungen aus der Sakramentsmystik bemerkbar« machten, vgl. Lüers (1926), S. 297. Des Weiteren beharrt er darauf, dass es sich hier »wie in Bernhards 49. Serm. in C.c. um reine poetische Bildlichkeit« handle, in der sich gerade nicht die Abendmahlshandlung widerspiegelt«, vgl. Meyer (1951), S. 100, Hervorhebung i. O. Gerade der Vergleich mit Bernhard kann helfen, auf die Unterschiede zwischen deren Bildbehandlung hinzuweisen, die genau in dem Körperbezug bestehen, durch welchen das Fließende Licht Hoheliedauslegung und Abendmahlspraxis verbindet, vgl. hierzu Bynum, Fragmentierung (1996), S. 109–225.

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und Schmerz, sondern auch Milch und Blut.25 Demzufolge ist nur derjenige außerordentlich edel, der das irdische Leiden Christi nachvollzieht und den himmlischen Trost Gottes empfängt. I, 22 und II, 7 ergeben gemeinsam ein Spannungsfeld, welches in der Verbindung aus Wein – Blut – Rausch – Schmerz besteht, die der Text in unterschiedlichen Akzentuierungen aufgreift und kontextgebunden umgestaltet, so dass sich einzelne Bildfelder verschieben und im Prozess der Bewegung mit einem neuen Sinn aufladen.26

Die Trinität als Schenke, Becher und Wein – Trinken von himmlischem Wein und bitterer Galle Die Trinität als Schenke (Gottvater), Becher (Christus), Wein (Heiliger Geist) oder vereinigt als voller Becher, aus dem die Seligen trinken, gehört gleichfalls in das Bildfeld der geistlichen Trunkenheit und in den Kontext des Versuchs, eine Semantik des Genießens aus den verwendeten Metaphern zu erschließen.27 Die Unmittelbarkeit, in die ein solch abstrakter theologischer Terminus wie Trinität durch das Bild des vollen Weinkelchs überführt wird, demonstriert ein weiteres Mal die poetische Kraft des Fließenden Lichts. In dieser Passage werden die Bitterkeit, nämlich die Galle des Erdenlebens und der himmlische Wein, einander scharf gegenüber gestellt. Sowohl die Göttlichkeit als auch die weltlichen Peiniger schenken Flüssigkeiten aus, doch sind die einen himmlisch, lieblich, süß, so sind die anderen bitter, ungenießbar, irdisch. Das Bild des vollen Kelchs wird um sein Gegenteil ergänzt und verdoppelt. Doch da Böses mit Gutem, Galle mit Wein vergolten werden soll, bittet die Seele für ihre Peiniger : Swenne ich gedenke, das der himmelsche vatter da ist der seligen schenke und Jhesus der kopf, der helig geist der luter win, und wie dffl ganze drivaltekeit ist der volle kopf und minne dffl gewaltige kellerin, weis got so neme ich gerne, das mich dffl minne da ze huse 25 Vgl. Weber (2000), S. 79: »Diese bemerkenswerte Farbkontrastierung von weiß und rot erinnert wiederum an das Zusammenströmen von Milch und Blut (FL I 22, 57).« 26 Vgl. zum Hohenlied- und allgemein zum Bibelbezug im Zusammenhang mit der Trunkenheit Weiß (2000), S. 207–210. 27 Zu dem Beispiel von Wein/Trunkenheit vgl. Schmidt, »die spilende minnevluot« (1986), S. 78: »Die Anziehung der ewigen dreifaltigen Liebe, die als gewaltiges Feuer alles verzehrt, […] ist mit Balthasar zu Recht kein physikalisches, sondern ein erotisches Bild. Die ganze Antike der Schöpfung aus dem Geist und ihr Wiedereinfluss werden eingeholt und in das christlich-trinitarische Gottesbild umgeschmolzen. Die Entrückung wird zu einem berauschenden Leben trinitarischer Liebe, in dem ›Gott Vater die selige Schenke, Gott Sohn der Kelch, der Heilige Geist der lautere Wein und die ganze Dreifaltigkeit der volle Kelch‹ ist.« Schmidt ordnet dieses Bild der Trinität weder in einen Gesamtzusammenhang von Wein/ Trunkenheit ein noch verweist sie auf das spezische geistliche Vokabular der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts, das die Eucharistiepraxis ebenso umgreift wie die Hoheliedtradition.

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bete. Nu ich wil noch hie gerne gallen trinken. Eya lieber Jhesu, nu lone es inen allen lieplich, die mir hie schenkent bitterkeit, wan sich machent mich gnaden rich. Mir kam ein kopf mit gallen, der was also kreftig, das er min lip und sele al durgieng. Do bat ich sunderlich got vfflr minen schenken, das er im woelte schenken den himelschen win. (S. 120–122; II, 24, 25–3)

Indem die Dreifaltigkeit mit einem Weinkelch verglichen wird, wird deren Genuss plötzlich konkret und sinnlich. Diese kühne Metapher, die Trinität zu genießen, wie man einen Kelch Wein leert, überwindet die Distanz zwischen Gott und Mensch. Gott kann, wie die zahlreichen Passagen zum Abendmahl belegen, unmittelbar und greifbar gegessen und geschmeckt, getrunken und genossen werden. Der Genuss Gottes verbindet sich hier derart eng mit Trunkenheit und Sättigung, Hunger und Durst, dass in diesem Zusammenhang ein solches Bild nur konsequent erscheint, das die Dreifaltigkeit mit einem vollen Weinkelch – nicht vergleicht, sondern – identifiziert.28 Die abschließende Bitte um den himmlischen Wein kann im Anschluss an II, 7 gelesen werden, wo nach dem Leiden durch die irdische Galle nun der weiße Wein des himmlischen Trostes mit Recht erbeten wird, da das Ich bereits im Zuge seiner Imitatio den roten Wein des Schmerzes ›genossen‹ hat. Somit setzt II, 24 fort, was in II, 7 in einer Erscheinung Christi verkündet wurde, und zeigt zugleich, wie das Fließende Licht die Bedeutungen, welche es auf bildhafte Weise generiert, zugleich fortführt, entzieht und ausbaut.

Leidvolle Trunkenheit Während in II, 24 zwischen dem himmlischen Wein und der bitteren Galle unterschieden wird, ebenso wie in II, 7 zwischen dem roten Wein des Schmerzes und dem weißen Wein des Trostes, so verschmilzt in III, 3 die Trunkenheit mit dem Leiden in seinen vielfältigen Ausprägungen. Denn derjenige, der die Seele quält, schenkt ihr zugleich denselben Wein ein, den Christus selbst durch sein Leiden getrunken hat: »Hoer mich, liep gespile! Ich was vroeliche wantrunken in der minne, darumbe sprach ich zartlich von sinnen. Swenne ich aber wurde fflbertrunken, so mag ich mines libes nit gedenken, wan dffl minne gebffltet mir ; das si wil, das mus sin, und des sich got getrost, des genende ich mich; wande nimet er mir den lip, so ist dffl sele sin! Wilt du mit mir in die winzellen gan, so muost du grosse koste han. Hastu tusent marche wert, das hastu in einer stunde verzert. Wiltu den win ungemenget trinken, so verzerestu iemer me denne 28 Vgl. zur identifikatorischen Metapher Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 64–68; Stadler (2001), S. 79–83. Köbele verweist auf »die besondere Situation der volkssprachlichen identifikatorischen Metapher« im Vergleich zum ihres Erachtens stärker trennenden Lateinischen. Kritisch zu diesem Ansatz: Seelhorst (2003), S. 24–28.

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du hast. So mag dir der wirt nit volle schenken; so wirst du arm und nakent und von allen den versmehet, die lieber sich vroewent in dem pfuole denne si iren schatz in der hohen winzelle vertuon. Du muost ovch das liden, das dich die jene niden, die mit dir in die winzellen gant. O, wie sere si dich etteswenne versmahent, wan si so grosse koste nit getoerrent bestan! Si wellent das wasser zuo dem wine gemenget han.« »Liebffl vro brut, in der taverne wil ich gerne verzeren alles, das ich han, und lasse mich dur die kolen der minne ziehen und mit den brenden der smacheit sclahen, uf das ich vil dike in die seligen winzelle muesse gan. Hie wil ich gerne zuo kiesen, wan ich mag an der minne nit verlieren. Darumbe der mich piniget und versmehet, der schenket mir des wirtes win, den er selbe getrunken hat. Von dem wine wirde ich also trunken, das ich allen creaturen werlich wirde als undertan, das mich des dunket na miner mensclichen unedelkeit und na miner angemomnen bosheit, das niemer mensche hat so fflbel wider mich getan, das er deheine sfflnde moege an mir unseligen began. […].« »Liebffl gespile, wenne das geschiht, das man die winzelle sclfflsset, so muostu in der strasse gan hungerig, arm, nakent und also versmehet, das du aller spise cristanliches lebens an dir nit me hast wan den gelovben. Mahtu denne minnen, so verdirbestu niemer.« »Vro brut, ich habe nah dem himelschen vatter einen hunger, da inne vergisse ich alles kumbers, und ich hab nach sinem sun einen turst, der benimet mir allen irdenschen lust, und ich han von ir beder geiste ein solich not, die gat boven des vatter wisheit, denne ich begriffen mag, und fflber des sunes arbeit denne ich erliden mag, und fflber des heligen geistes trost denne mir geschehen mag.« Swer mit dirre not wirt bevangen, der muos iemer me ungeloest in gottes selekeit hangen. (S. 162–164; III, 3, 26–37)

Im dritten Buch findet sich die längste und die vielfältigste Passage zum Bildkomplex der geistlichen Trunkenheit.29 Die Seele, bezeichnet als liebe Gespielin, unterhält sich mit der Braut des Hohenliedes und lässt sich von ihr die graduellen Zustände der Trunkenheit schildern. Die Braut des Hohenliedes unterscheidet zwischen dem Zustand wantrunken und dem fflbertrunken.30 Das Maß der Trunkenheit ist durch das Wirken der Minne charakterisiert: erst, nachdem die Minne vollständig von der Seele Besitz ergriffen hat, so dass der Leib völlig vergessen wird, ist die Trunkenheit vollständig und übermäßig.31 Eine starke Intensivierung entsteht durch den ungemengeten win,32 der in Reimen als eine

29 Vgl. speziell zu FL III, 3 Lüers (1926), S. 297 und Egerding (1997b), S. 582. 30 Vgl. Weiß (2000), S. 217f.: »Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Ekstase mit Trunkenheit gleichgesetzt wird. Es gibt auch ein Berauschtsein vor der Ekstase, das erst in diese einmünden lässt.« 31 Ebd., S. 214f.: »Trunkenheit entsteht dort, wo etwas in Überfülle da ist und das gewöhnliche Maß übersteigt.« 32 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 91f.: »Das Bild der Trunkenheit assoziiert ein weiteres Hohelied-Motiv, das des Weinkellers (Ct 2,4). Dabei erläutert das Bild des ›ungemischten Weines‹, der im Übermaß trunken macht und dennoch den Durst unendlich wachhält, die Inkommensurabilität der unio (III, 3, 16–21)«.

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Art geistliches Trinklied33 eingeführt und durch den Text als unbezahlbar und verzehrend charakterisiert wird. Der mit Wasser vermischte Wein wird deutlich von dem puren Wein abgesetzt,34 da nicht alle Seelen, welche in Gottes Weinschenke gehen, den ungemengeten win zu trinken wagen, da sie die hohen Kosten in Form von Leiden und Entbehrungen scheuen.35 Die von Weiß nur angedeutete paradoxe Seite der Trunkenheit wird besonders in der Passage voll ausgeprägt, wenn die Wirkungen des ungemischten Weins beschrieben werden: Diese äußern sich im Erleiden von Erniedrigungen jeder Art und verbinden sich mit dem hilflos hingegeben Zustand der Trunkenheit selbst, wodurch die Seele allen creaturen werlich wirde als undertan.36 Doch steht nicht der kostbare unvermischte Wein an der Spitze der Hierarchie, sondern der Durst nach Gott, der selbst mit dem puren Wein nicht gestillt werden kann, so sehr dieser auch trunken macht. Denn die Seele kann ihren Durst mit allem, was sie aufzubieten hat, nicht stillen, da der Durst unerschöpflich ist wie die Sehnsucht und das Begehren nach Gott. Selbst das Verlangen nach ungemischtem Wein und die Bereitschaft, alles dafür zu geben, werden am Ende des Kapitels noch einmal überboten. Die leidvolle Trunkenheit erfährt ihre radikalste Steigerung im Bild der geschlossenen Weinschenke und der hungerig, arm, nakent und also versmehet die Straßen entlang gehenden Seele, die nichts außer dem Glauben mehr von aller spise cristanliche[n] lebens besitzt – und die dennoch auf ihrem hunger nach dem Gottvater, ihrem turst nach dem Gottsohn und ihrer not beharrt.37 Erst im Hunger und im Durst nach Gott zeigt die leidvolle Trunkenheit ihre schärfste Ausprägung und semantische Kühnheit, wobei die physische Metaphorik durch Anklänge an die Abend-

33 Vgl. Lüers (1926), S. 297: »[…] das fast wie ein weltliches Trinklied anmutet: ›Wilt du mit mir in die winzellen gan, so must du grosse koste han. Hastu tusent marche wert, das hastu in einer stunde verzert. Wiltu den win ungemenget trinken, so verzerestu iemer me denne du hast‹.« 34 Vgl. allgemein zur Tradition der Mischmetaphorik: Stadler (2001), S. 98–105. 35 Vgl. hierzu Hellgardt (1996), S. 335, der das Weinmotiv in eine Zechlehre einordnet und an Texte wie Carmina Burana anlehnt, vgl. auch Weber (2000), S. 77–81, welche Trunkenheit, Trinkgefäße und Wein im Kontext der Alltagsmetaphorik im Fließenden Licht untersucht. Für III, 3 deutet sie den unvermischten Wein als »Metapher für die unio, für die ›unvermittelte, direkte Gotteserfahrung‹« und verweist auf Gregor von Nyssa, Homilie 4 zu Cant 2, 4. 36 Vgl. Egerding (1997b), S. 582: Hierbei handelt es sich keineswegs um einen »pervertierten Zustand«, wie Egerding (ab-)wertend äußert. 37 Vgl. Stadler (2001), S. 111f.: Stadler beschreibt die existeniellen Metaphern von Hunger und Durst als besonders geeignet für eine »Dramatisierung des mystischen Sprechens« und zur Kennzeichnung der »Ausschließlichkeit des Begehrens«. Hierbei verweist sie auf den wichtigen Aspekt des Hungers, der »einen dynamischen Diskurs des Entbehrens ermöglicht«, im Kontext der Metaphorik von Nahrung und Essen.

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mahlspraxis ausweitet wird:38 Hunger nach Gott statt Speise, Durst nach Christus statt Trunkenheit oder sogar als äußerste Form der Trunkenheit – so könnte die radikalste Ausformung dieser Passage lauten. Die ›leidvolle Trunkenheit‹ wird extrem ausgebaut: Rausch und Qual verbinden sich,39 so dass Schmerz und Genuss, die so unauflöslich aufeinander bezogen, dermaßen ineinander verschmolzen sind, dass Qual und Seligkeit eine untrennbare Einheit bilden: Swer mit dirre not wirt bevangen, der mus iemer me ungelost in gottes selekeit hangen. Der letzte Satz des Kapitels, einem verknappten Lehrsatz ähnlich, fasst einen zentralen Gedanken zusammen: Denn Gefangenschaft und Einbindung erzeugen durch ihre dichte Überlappung jene befremdende Vereinigung, welche die eigentlich entgegengesetzten Zustände von not und selekeit gemeinsam in jenes iemer me ungelost einschließt. In einer einmaligen Kraft und poetischen Kühnheit gestaltet das Fließende Licht das Bildfeld der geistlichen Trunkenheit, indem die einzelnen Bildaspekte fortgesetzt verschoben werden und in immer neuen Clustern auftreten.

Die berauschendste Trunkenheit durch etwas Nie-Getrunkenes Analog zum Fließenden Licht III, 3, wo der Durst und der Hunger nach Gott sogar den Vollrausch durch den ungemischten Wein übertreffen, wird im Mirouer die Trunkenheit an die höchste Stelle gesetzt, die entsteht, ohne etwas getrunken zu haben. Wenn die Seele ihre eigene Armut und zugleich die Gottheit in ihrer Gnade und Liebe erkennt, ist sie zugleich verdutzt und trunken. Die Erkenntnis von Gott und seiner Liebe ist daher ein entscheidender Auslöser für die Trunkenheit der Seele:40 : Et si est yvre de la cognoissance de l’Amour et de la grace de la Deit¦ pure, qu’elle est tousjours yvre de cognoissaince et remplie de louenge de l’amour divine. Et non pas yvre tant seulement de ce qu’elle a beu; mais tres yvre et plus que yvre de ce oncques ne beut ne ja ne bevra. 38 Vgl. Lüers (1926), S. 297, wo sie in III, 3 »eine außerordentlich starke Verlebendigung des Stereotyp gewordenen Wein- und Trunkenheitsmotivs« feststellt. 39 Vgl. Weiß (2000), S. 218: »In diesem Zustand des Übertrunkenseins vergisst man auch alle Verfolgungen. Ja, diejenigen, von welchen man gepeinigt wird, schenken den Wein des Rausches ein, den auch Jesus getrunken hat.« Weiß verweist hier auf das Bildfeld der geistlichen Trunkenheit grundlegend prägende Paradoxien, die er aber leider nicht detaillierter ausführt. 40 In FL I, 21 versetzt das Angesicht Christi die Seele in den Zustand der Trunkenheit, wobei die Liebe in II, 24 sogar als Kellnerin bezeichnet wird, was auf deren zentrale Position hinweist. In dem Zusammenhang wäre es interessant zu überlegen, welche Rolle die cognoissance beim Genuss einnimmt, da auch in der hierarchischen dreigliedrigen Staffelung in FL I, 21 Liebe, Erkenntnis und Genuss gemeinsam auftreten.

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Hee, pour Dieu, Amour!, dit Raison qu’est ce a dire que ceste Ame est yvre de ce oncques ne beut, ne ja ne bevra? Il semble, dit Raison, ad ce que je puis entendre de ces paroles, que c’est plus grant chose a ceste Ame pour elle enyvrer de ce que son amy boit et a beu et bevra de la divine boisson de sa bont¦ mesmes, / que ce n’est de ce qu’elle a beu et bevra de la divine boisson de ce tonnel mesmes. (Mirouer 23, 16–28) [Doch ist sie zugleich trunken durch die Erkenntnis der Liebe und durch die Gnade der reinen Gottheit. Sie ist allezeit berauscht von Erkenntnis und erfüllt von Lobpreis der göttlichen Liebe. Und zwar nicht allein trunken von dem, was sie trank, sondern sehr trunken und mehr als trunken von dem, was sie nicht trank und niemals zu trinken bekommen wird. Ach, du lieber Gott, Liebe!, spricht die Vernunft. Was soll das heißen, diese Seele sei trunken von dem, was sie niemals je trank, noch je trinken wird? Es scheint, spricht die Vernunft – nach dem, was ich diesen Worten zu entnehmen vermag –, es sei für diese Seele eine größere Sache, sich zu berauschen an dem, was ihr Freund trinkt und getrunken hat und trinken wird vom göttlichen Getränk seiner eigenen Güte, als sie es ist, wenn sie den göttlichen Trank am Fasse selbst getrunken hat und trinken wird.]

Mirouer 23 entwickelt eine spezifische Ausformung der einzelnen graduellen Abstufungen geistlicher Trunkenheit, die er durch Adverbien wie tres und Steigerungsformen wie plus kennzeichnet. Im Gespräch zwischen Liebe und Vernunft wird die Trunkenheit der Seele schrittweise präzisiert. Ebenso wie im Fließenden Licht zwischen wantrunken und fflbertrunken unterschieden wird, intensiviert der Mirouer die zunehmende Trunkenheit der Seele durch Schlüsselwörter. Statt Bezüge zum Hohenlied herzustellen, werden hier Redetraditionen der negativen Theologie eingesetzt, denn das Höchste ist das Verneinte, nicht das Getrunkene, sondern das Nicht-Getrunkene.41 Aufgeladen werden diese paradoxen Negationen durch performative Inszenierungen, von denen der Text allgemein durchdrungen ist. Die Seele besteht darauf, nicht selbst zu trinken, sondern sich an dem zu berauschen, was ihr göttlicher Geliebter getrunken 41 Vgl. zur Metapher der Trunkenheit durch etwas Nie-Getrunkenes: Valette (2007), S. 128f., der Trunkenheit und Vernichtung der Seele darin verbunden sieht und daran zeigt, wie das Thema p–tir Dieu in einer Dialektik »du plus et du moins, du tout et du rien« entfaltet wird. Dagegen verweist Kocher (2008), S. 56f. auf die mögliche Kombination von dionysischer und Alltagsmetaphorik anhand von diesem Bild der Trunkenheit: »[…] this may be a literary and theological comparison ›following and ancient tradition‹ that goes back to Pseudo-Dionysius, […] or it may refer to what a passer-by might have seen outside a thirteenth-century tavern – or quite possibly both of these.« Bertho (1993), S. 54 bringt die Trunkenheit durch etwas Nie-Getrunkenes mit der Steigerung des Genießens durch das Begehren zusammen und prägt hierfür den Ausdruck »la parfaite insatisfaction«. Generell und vor allem im Kontext der Metaphorik von Hunger und Sättigung, die Bertho in diesem Zusammenhang ebenfalls einblendet, ist diese Deutung zwar plausibel, doch meiner Ansicht nach eher auf das Fließende Licht oder die Visioenen zu beziehen, doch verknüpft der Mirouer eher Sättigung und Frieden oder (gute) Nahrung und Erkenntnis, kaum aber Hunger und Begehren oder gar Begehren und Genuss. Hier könnte vielleicht eine Ausnahme vorliegen, doch kann man diese Stelle in erster Linie als Verdichtung aus Vernichtung und Genuss begreifen.

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hat, was sowohl den Selbstverlust im Rausch der Trunkenheit als auch die Einswerdung mit Gott zeigt. Ebenso wie Gott sich an seiner eigenen Güte berauscht, berauscht sich die Seele an ihm in Form des Trankes, den er getrunken hat und den sie nie trinken wird. Der Dialog zwischen Vernunft und Liebe fährt folgendermaßen fort, mittels des Komparativs plus die Zunahme der Trunkenheit und den Überschuss der göttlichen Güte zu beschreiben: C’est droit, dit Amour : le plus la fait yvre, non mye pour chose qu’elle ait beu de ce plus, ainsi comme dit est; mais si a, puisque son amy en a beu, car entre luy et elle par muance d’amour n’a nulle difference, quelque chose qu’il soit des natures. Amour fait par droiture en luy ceste muance, qui l’a enyvree du plus de sa boisson, ne jamais ne sera aultre. Il advient bien que il y a pluseurs broches en ung tonneau, mais le plus cler vin, et le plus nouveau, et le plus prouffitable, et le plus delictable, et le plus enyvrant est le vin de la broche de dessus. C’est la boisson souveraine, de laquelle nul ne boit fors la Trinit¦. Et de celle boisson sans ce qu’elle en boyve est l’Ame Adnientie yvre, l’Ame Enfrachie yvre, l’Ame Obliee yvre, mais tres yvre, mais plus que yvre de ce que oncques ne beut ne ja ne bevra. (Mirouer 23, 29–42) [Das ist richtig!, spricht die Liebe. Das Plus macht sie trunken. Nicht etwa, weil sie von diesem Plus getrunken hätte, wie eben dargelegt wurde. Doch hat sie davon bekommen, da ihr Freund davon getrunken hat. Denn zwischen ihm und ihr besteht durch die Umwandlung in der Liebe keinerlei Unterschied, wie immer er den Naturen nach sei. Die Liebe bewirkt die Gültigkeit dieser Umwandlung, sie hat die Seele trunken gemacht durch das Plus des Trankes, und es wird niemals anders sein. Es kommt wohl vor, dass ein Fass mehrere Spundlöcher hat: der lauterste Wein und der spritzigste und der bekömmlichste und der wohlschmeckendste und der berauschendste ist der Wein aus dem oberen Spund. Dies ist der unübertreffliche Trank, den niemand trinkt, außer die Dreieinigkeit. Und ohne dass sie davon getrunken hätte, ist die vernichtigte Seele (trunken), die befreite Seele (trunken), die vergessene Seele von diesem Trank trunken, sogar sehr trunken, mehr noch als trunken – jedoch von dem, was sie nie trank und niemals je trinken wird.]

Durch die Kombination von Negation und Hyperbel wie tres yvre et plus que yvre de ce onques ne beut ne ja ne beuvra wird zum einen die Zunahme des Rauschzustands, zum anderen aber dessen paradoxe Rücknahme ausgedrückt, die nicht nur die Gegenwart, sondern zugleich die Zukunft einschließt, was durch die Zeitformen von Präsens und Futur ausgedrückt wird. Die Übertrunkenheit der Seele speist sich demnach keineswegs durch sie selbst, sondern durch die göttliche Trunkenheit, an der sie durch die Liebe Anteil hat. Die Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit in Form der Armut (pouvret¦) schlägt in reinen Überfluss um, in ein Mehr (plus), das im Text durch mannigfache Klangund Sprachspiele präsentische Effekte und unmittelbare Anschaulichkeit gewinnt. Indem der Wein aus den obersten Spundlöchern, den die Gottheit trinkt, mit einem unausgesetzten, sich intensivierenden plus beschrieben wird, setzt der Text die Überfülle des fortwährend ausströmenden Tranks performativ um.

Bilder der »Trunkenheit« im Fließenden Licht und im Mirouer

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Doch kennzeichnet das plus nicht nur einen Umschlag von der Armut in die Fülle, sondern verweist zugleich auf eine hierarchische Ordnung der einzelnen Spundlöcher : Von dem obersten trinkt die Dreifaltigkeit,42 von dem folgenden die Jungfrau Maria, anschließend die Seraphim, die auf ihren Flügeln die freien Seelen (Franches Ames) tragen. Von dem Wein aus den obersten Spundlöchern kann die Seele nur trinken, wenn sie durch die Liebe so umgewandelt ist, dass nichts mehr von ihr bleibt, wenn sie in den vernichteten Zustand eingetreten ist und ihr göttlicher Freund für sie trinkt. Zugleich wird der Wein aus dem obersten Spundloch durch die emphatische Schilderung gustal versinnlicht, wenn er in Superlativen als der lauterste (le plus cler), der wohlschmeckenste (le plus delictable) und der berauschendste (le plus enyvrant) geschildert wird. Der durch das wiederholte plus erzeugte Rauschzustand wird rasch entschärft und entbildlicht, wenn der Text erneut darauf verweist, dass die Seele den Zustand ihrer Trunkenheit nicht ihrem eigenen Trinken, sondern dem der Dreifaltigkeit verdankt. Somit verbinden sich im Mirouer, der leidvollen Trunkenheit aus III, 3 im Fließenden Licht vergleichbar, Armut und Rausch, Selbstverlust und Trunkenheit.

Trunkenheit als Willenlosigkeit In Mirouer 89 wird die Verknüpfung aus Vernichtung und Trunkenheit noch stärker verdichtet, wenn der Zustand der Seele, welche ihren eigenen Willen vollends aufgegeben hat, mit dem einer Volltrunkenen gleichgesetzt wird, die nichts mehr will und der alles gleichgültig ist, was ihr zustößt: Et jusques ad ce n’eut elle paix plantureuse ne assiduelle, qu’elle fut de son vouloir purement desnuee. Ceste, qui telle est, ressemble tousjours a celuy qui est yvre. Il ne chault a l’ivre de chose qui lui adviengne, sur quelque forme que son adventure adviengne, nient plus que se il ne luy advenoit mie; et se il luy en chailloit, il ne seroit mie bien yvre. (Mirouer 89, 12–17) [Und bis dass sie von ihrem Willen ganz und gar entblößt war, besaß sie den vollständigen und ausdauernden Frieden nicht. Eine, die in diesem Zustand ist, gleicht beständig jemandem, der trunken ist. Den Betrunkenen kümmert es nicht, was ihm zustößt, in welcher Weise sein Geschick auf 42 Vgl. hierzu FL II, 24, wo die Dreifaltigkeit mit einem vollen Becher Wein für die Seligen beziehungsweise mit Schenke, Becher und Wein gleichgesetzt wird. In beiden Fällen wird ein erstarrtes Bildfeld abgewandelt und in neue Dynamiken überführt, durch jene »sinnliche Abweichung«, ein winziges Detail, was nach Weinrich, Semantik der kühnen Metapher (1976) eine solche entscheidend prägt.

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ihn zukommt, nicht mehr, als wenn es ihm überhaupt nicht zustieße. Kümmerte er sich indes darum, so wäre er nicht vollständig trunken.]

Der Zustand der vernichteten Seele, nämlich der Frieden, bedeutet zugleich eine völlige Gleichgültigkeit allem gegenüber, was einem geschieht. Diese Gleichgültigkeit ist so groß, dass die Seele fortwährend trunken ist – trunken aber nicht wie in der vorigen Passage infolge eines Rausches durch die göttliche Güte, an der sie Anteil hat und dadurch sich selbst verliert, sondern trunken aufgrund einer totalen Willenlosigkeit, denn je trunkener die Seele ist, desto gleichgültiger wird sie gegen sich selbst. Wie im Fließenden Licht III, 3, wenn die Seele trunken, arm, hungrig, nackt und verspottet auf der Straße herumzieht, nachdem die Schenke geschlossen hat, so bedeutet in Mirouer 89 der Zustand der Trunkenheit eine völlige Entblößung und Preisgabe an alle Umstände. Demzufolge ist Trunkenheit nicht nur Ekstase und Wollust, sondern vor allem Selbstverlust und Preisgabe. Im Mirouer aber wird die Metapher der Trunkenheit nicht wie in FL III, 3 in eine bewegliche Bilderfolge überführt, die aus zahlreichen einzelnen, doch miteinander verbundenen Bildmosaiken besteht, sondern gezielt wird ein einziges Bild eingesetzt und ausgestaltet.

Trunkenheit als Blendung auf der vierten Stufe Im Zentralkapitel Mirouer 118 wird der vierte Zustand, nachdem die Seele ihre ersten drei Tode erlitten hat, in die lustvollen Freuden der Gottesliebe versetzt, die sie so verwöhnt und hochgemut, trunken und geblendet werden lässt, dass sie glaubt, nun habe sie ihr Endziel erreicht: Hee, ce n’est pas merveilles, se telle Ame est sourprinse, car Gracieuse Amour la fait toute yvre, et si yvre que elle ne la lesse entendre / fors que a elle, par la force dont Amour la delite. Et pource ne peut l’Ame aultre estre mectre en pris; car la grant clart¦ d’Amour a sa veue tellement esblouy¨e, que elle ne la lesse rien veoir, oultre son amour. Et la est elle deceue. (Mirouer 118, 81–86) [Ach was, es ist kein Wunder, wenn eine solche Seele überwältigt ist! Denn die huldvolle Liebe macht sie ganz trunken, und zwar so trunken, dass sie sie (die Seele) nichts verstehen lässt als einzig nur sie, wegen der Gewalt, mit der die Liebe sie ergötzt. Und darum will diese Seele keinen anderen Zustand mehr gelten lassen. Der große Glanz der Liebe hat nämlich ihre Sehkraft dermaßen geblendet, dass sie nichts weiter zu sehen vermag als ihre Liebe. Und hierin wird sie getäuscht.43]

43 Gnädinger übersetzt deceue mit »enttäuscht«, ich dagegen mit »getäuscht«, weil es in der Passage um die irrige Annahme der Seele geht, es gebe keine edleren und höheren Seinszustände mehr als den jetzt auf der vierten Stufe erreichten.

»Genießender Umgang durch das Rosenherz« und »Saugen vom Zedernmark«

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Die Trunkenheit wird hier nicht mit der Vernichtung des Selbst, sondern mit einem lustvollen Rausch verbunden. Der Glanz der Liebe blendet die Seele und täuscht sie über die tatsächliche Stellung ihres aktuellen Seinszustandes. Blindheit und Trunkenheit werden hier, anders als im Fließenden Licht, miteinander verknüpft. Denn während die Seele in ihrer Blindheit in I, 22 zugleich paradoxerweise am klarsten sieht, verweist das Geblendetsein in Mirouer 118 tatsächlich auf eine Täuschung. Diese Täuschung weicht erst auf der fünften Stufe von der Seele, als sie nach dem Sturz in den Abgrund, wo sie vergreist, in den Zustand der Willenlosigkeit gerät. Dann endlich sieht sie, ohne (selbst) zu sehen. Auf der anderen Seite zeigt der Text für diesen Zustand auf der vierten Stufe ein gewisses Verständnis, da die Kraft der göttlichen Liebe überwältigend auf die Seele wirkt, wenn Glanz und Rausch zusammenwirken. Daher kann die Metapher der Trunkenheit rauschhafte Zustände der Lust in der Gottesliebe (Mirouer 118) ebenso versinnbildlichen wie deren scheinbares Gegenteil, nämlich die Selbstvernichtung und die Selbstpreisgabe (Mirouer 89). Im Bild der Seele, die sich an dem Trank aus den obersten Spundlöchern berauscht, den sie selbst nie trinkt, treten beide Facetten zusammen (Mirouer 23) und erzeugen ein dynamisches, durch Paradoxien gekennzeichnetes Bildfeld.

II.2.2 »Genießender Umgang durch das Rosenherz« in den Visioenen und »Saugen vom Zedernmark« im Mirouer Vorbemerkungen Die Bilder des Rosenherzens in den Visioenen und des Zedernmarks im Mirouer treten in beiden Texten als ›Randmetaphern‹ auf, die keine der Trunkenheit vergleichbar breite Entfaltung vornehmen, sondern Einzelaspekte fein schraffieren. In den Visioenen ist nur gegen Ende der ersten Vision von dem tröstenden Fühlen des Roseninneren die Rede, und im Mirouer wird in Kapitel 80 von dem Saugen des Marks der hohen Zeder gesprochen, nachdem die Seele das tiefe Meer überquert hat. Das Zedernmark lässt sich in den breiten Bildkomplex der Sättigung einordnen, der den Mirouer prägt und wodurch der Bezug zum Abendmahl, der schon bei der Trunkenheit vorlag, ausgeweitet wird. Das Fühlen Gottes, das durch die Entnahme des Roseninneren vermittelt wird, weist mindestens taktile Bezüge auf, doch ist es gut möglich, dass das Rosenherz nicht nur berührt, sondern auch gegessen wird, um Gottes Trost zu spüren. Das Schmecken Gottes spielt in den Visioenen eine gewichtige Rolle und kennzeichnet die fortschreitende Reife des Ichs. Dem Fühlen der Rose und dem Saugen des Marks ist jene Verbindung zu Schmerz und Vernichtung einge-

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schrieben, die bereits bei der geistlichen Trunkenheit aufgezeigt wurde. Diese Kombination von Genuss und Schmerz, Lust und Vernichtung, Sehnsucht und Qual stellt offenbar eine basale Verknüpfung dar, die in vielfacher Gestaltung in den Texten variiert wird.

Der Genuss des Innersten der Rose als nächster Umgang mit dem göttlichen Partner in den Visioenen Gegen Ende der ersten Vision, die eine ausgesprochen verlebendigte Baumallegorie44 schildert, gibt der göttliche Partner für den Baum der Erkenntnis der Liebe eine Art Gebrauchsanweisung, nachdem er der Geliebten zugesichert hat, sie heimlich mit dem Genuss seiner Nähe zu trösten, wann immer sie wolle, und zugleich verlangt hat, einen Exklusivitätsstatus zu erhalten und zum einzigen Mittelpunkt der Geliebten zu werden. Der Text schildert im Bild der Rose45 die verschiedenen Möglichkeiten, Trost durch Christi Nähe und Liebe zu erfahren. Hierbei unterscheidet diese Passage zwischen Möglichkeiten des äußeren und des inneren Trostes, indem sie Abstufungen vom Blatt bis zum Herzen der Rose anbietet, wobei die Rose bemerkenswerterweise aus der Krone, das heißt dem Zentrum des Baumes, entnommen werden soll. Das Innere (van binnen) markiert demzufolge sowohl eine Intimität des Raumes46 als auch die Innigkeit einer exklusiven Begegnung von Gott und Mensch,47 was zusätzlich durch die Herzmetaphorik betont wird. Denn das Innerste der Rose ist zugleich ihr Herz, der Ort, an dem das Genießen Gottes stattfindet.48 Dabei verschmilzt die implizite Semantik mit der expliziten, da auf der Textoberfläche in dichter Folge sowohl das Adverb ghebrukeleke (Z. 418) als auch das substantivierte Verb in ghebrukene (Z. 421) und das Substantiv ghebrukelecheit (Z. 423) auftreten. Das Herz, vollkommen und vollständig, im Inneren der Rose, ist das Genießen Gottes, was durch das Adjektiv gheheel betont wird, welches sich auch bei den einzelnen 44 Vgl. zur Baumgartenallegorie: Reynaert (1981), S. 221, 251, 277, 278–291, 442. 45 Reynaert (1981) kennzeichnet die Rose in der ersten Vision als symbool van de Minne zelf in de alleegorie von de boomgaard; das schließt jedoch m. E. nicht aus, dass die Rose gleichzeitig das Leiden Christi versinnbildlicht. 46 Vgl. Emmelius (2004). 47 Vgl. hierzu Reynaert (1981), S. 221, wo er die Rose in die Gruppe der »taktiele(n) beelden« einordnet, die durch den »zeer innig(en) kontakt« gekennzeichnet werden, der hierdurch zwischen Mensch und Gott entsteht. In diesem Kontext kommt dem Verb gheuoelen eine starke Gewichtung zu. 48 Ebd. weist er auf die enge Verbindung zwischen dem Fühlen Christi und dem Genießen hin (»1. het Christus gheuoelen is met de voorstelling van het ›ghebruken‹ geassocieerd«), differenziert aber in einem zweiten Schritt zwischen mijns gheuoelen und minne gheuoelen, da lediglich das erste eine Einheitserfahrung impliziere, das zweite aber nur bedingt; zumindest nicht immer.

»Genießender Umgang durch das Rosenherz« und »Saugen vom Zedernmark«

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Bezeichnungen in diesem Zusammenhang findet. Die Bedeutungsdimensionen von ghebruken erstrecken sich von die beseligende Nähe Gottes erfahren bis zu mit der Gottheit im Genuss zu verschmelzen, wobei der Text hier zwischen Nähe und Einheit keine klare Differenzierung vornimmt:49 Ende alse di vernoyet/ So nem van den tsoppe ene rose, ende van hare nem een blad/: dats minne/. Ende alse du niet gheduren en cans/ So nem vander rosen datter binnen es/: dats dat ic di sal gheuen mijns te gheuoelne/. Altoes saltu kinnesse mijns willen hebben / ende minne gheuoelen ende ter noet mijns ghebrukeleke gheuoelen/. Aldus dede mi mijn vader doen ic sijn sone was/. Hi liet mi in node/ ende hi en beghaf mi nye/ Ic gheuoeles in ghebrukene/ Ende ic diende dien/ daer hi mi toe ghesent hadde. Dat herte dat in die rose es soe gheheel/ dat es ghebrukelecheit van minnen gheuoelleke/. (Vis. I, 411–424) [Und wenn du Not leidest, so nimm aus der Krone eine Rose und von dieser nimm ein Blatt: Das ist Liebe. Und wenn du es nicht (länger) ertragen kannst, dann nimm aus der Rose das Innerste: Das bedeutet, das ich mich dir zu fühlen geben werde. Auf diese Weise sollst du immer die Erkenntnis meines Willens besitzen und Liebe fühlen und zur/ in der Not mich im Genuss/ im nahen beseligenden Umgang fühlen. So handelte der Vater mit mir, als ich sein Sohn war. Er ließ mich in der Not, aber er gab mich nie auf. Ich fühlte das im nahen beseligenden Umgang mit ihm. Und ich diente denen, zu denen er mich gesandt hatte. Das Herz, das so ungeteilt in der Rose ist, das ist das Genießen der Liebe im Fühlen.]

Die Rose, zugleich Symbol der Passion Christi und seiner Liebe zum Menschen, wird hier in ein dynamisches Bildfeld eingebaut und subtil ausgestaltet. Es stellt Bezüge zu dem vorigen Vergleich Christi mit einem Amethyst her, von dem es in seiner Farbbeschreibung heißt, er habe eene pellenleke vaerwe na die rose/ ende na die vyolette/ (Vis. I, 230f.). Nicht nur verweist die violette Farbe auf die Passion Christi, auch die purpurrote Farbe veranschaulicht sein im Kreuzestod vergossenes Blut und vergegenwärtigt die blutigen Wunden, die als Rosen der Liebe aufgefasst werden, so dass Liebe und Leiden in ein Bild verschmelzen,50 das erneut einen starken Körperbezug aufweist. Obwohl der Text hiermit ein in geistlich-mystischer Sprache weit verbreitetes Bildfeld aufgreift, verleiht er diesem allgemeinen Symbol der Rose für Passion und Liebe Christi spezifisch ›fühlbare‹ Akzente. Die Rose wird als tröstender Genuss ausgeprägt, durch deren 49 Ebd., S. 442 werden unter eenheit bei Hadewijch folgende Begriffe subsumiert: sueticheit, smaken, gheuoelen, slapen op Jezus’ borst, erotische beeldspraak, ghebruken, vloedmetaforiek. 50 Auch im Fließenden Licht finden sich Belege für solche Verknüpfungen von Rose und Wunde, Rose und Blut sowohl als Zeichen für die Passion Christi als auch für Märtyrer, vgl. exemplarisch: Du werst dich alles mit bluomen: Din swert das ist der edel rose Jhesus Christus, da mit werst du dich; din schilt der ist die wisse lylie Maria. (II, 19f.) Oder alternativ : Zuo der vordern hant fflnsers herren stat Jhesus, fflnser loeser, mit offenen wunden, bluotig, unverbunden […]. So sfflllent die suessen wunden heilen – als ob ein rosenblat geleit were an der wunden stat. Da siht man denne die naren vroeliche minnevar, die niemer sollent vergan. (III, 2, 12f.; 18–21)

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Inneres man der göttlichen Gegenwart teilhaftig wird, wenn man aufgrund der gelebten und erlittenen Imitatio Christi seiner Nähe bedarf. Hierdurch verbindet das Bild Christus und Mensch, Leiden und Genießen zu einer Figur.51 Doch was an dem Bild der Rose am meisten frappiert, ist deren taktiler Bezug: Christi Liebe und Trost können genussvoll gefühlt und sich einverleibt werden. Die Rose wird demzufolge nicht nur angesehen, sondern als Kontaktmedium eingesetzt, um den leidenden Gott mit dem leidenden Menschen zu verbinden, so dass ein tröstender und stärkender Genuss für den Menschen entsteht. Die Voraussetzungen für einen solch hehren Trost, wie Gott selbst zu fühlen, werden im Vorfeld von der göttlichen Stimme selbst genannt, die dem Ich mitteilt, dass, wer das göttliche Genießen ersehne, zugleich das unerträgliche menschliche Leiden der Gottheit an sich vollziehen müsse: Wiltu mi gheliken inder menscheit/ alse du beghers inder gotheit als te ghebrukene van mi/, Soe saltu begheren arm, ellendech und versmaedt te sine onder alle menschen/; Ende alle vernoye selen di smaken bouen alle erdsche ghenoechten/; Jn en gheenre wijs en later di verdrieten/. Want si selen onmenschelike sijn te verdraghene/. Wiltu veruolghen minne/ na die fiere nature die di minne gheheelheit heyschet, Soe saltu so vremde werden onder die menschen/ Ende soe ongehoert ende soe onsalech/ Du en salt niet weten waer enen nacht herberghen/ Ende alle menschen selen di noch //af ghaen ende beheuen/ Ende nieman en sal met di willen dolen in dine noet ende in dine quale. (Vis. I, 289–304) [Willst du mir in der Menschheit gleichen, wie du mich in meiner Gottheit ganz genießen willst, so sollst du danach streben, arm, elend und von allen Menschen verachtet zu sein, und alles Leid soll dir über allen irdischen Genüssen wohl schmecken. Lasse dich auf keine Weise verdrießen! Sind sie auch unmenschlich zu ertragen. Willst du die Liebe in ihrer stolzen Natur erjagen, so wie meine Ganzheit es für dich einfordert, so sollst du so fremd unter den Menschen werden, und so missachtet und unglücklich, dass du nicht wissen wirst, wo du für eine Nacht bleiben kannst; und alle Menschen werden sich von dir abwenden und dich im Stich lassen, und niemand soll in deiner Not und in deiner Qual bei dir aushalten.]

Um die Göttlichkeit zu genießen, muss man alles aufgeben, um arm, elend, ausgestoßen und verachtet zu werden. Den Trost der Nähe Gottes erhält nur, wer außer ihm nichts und niemanden mehr hat. In Bildern der Obdachlosigkeit und Fremdheit wird dieser Zustand drastisch und ausführlich ausgemalt. Besonders hier sind die Bezüge zum Fließenden Licht (III, 3) sehr stark, da in der Weinzellenallegorie die Seele besinnungslos, verspottet und arm die Straßen entlang taumelt. Genuss ist demnach nur dort möglich, wo die Passion gegenwärtig ist, so dass die Imitatio Christi ein ebenso integraler Bestandteil des Genießens wird

51 Vgl. hierzu exemplarisch Mommaers, Hadewijch (2003).

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wie das Abendmahl. Die Liebe zu Gott weist eine doppelte Konnotation, nämlich Lust und Leid, auf, die sowohl für Christus als auch für seine Nachfolger gilt. Diese Konzeption spiegelt sich im Genuss wider, der durch einen menschlichen und einen göttlichen Teil gekennzeichnet ist.52 Einerseits zerfällt er in ghebruken und ellende, andererseits aber umfasst er beide Seiten in einem, was das Bild der Rose veranschaulicht: Blatt und Herz dürfen aus der Krone gepflückt werden, um Trost und Nähe zu spenden, wenn die durch die Imitatio provozierten Qualen unerträglich werden; doch da sie nur dem Leidenden Genuss verschafft, führt sie Elemente des Leidens und des Genießens in unauflöslicher Weise zusammen. Das Herz der Rose weist sowohl Elemente des konkret Fühlbaren als auch der innigen Intimität auf, die einen engen Kontakt zwischen Gott und Mensch zwar über ein sinnliches Bild vermitteln, dessen Sinnlichkeit durch Allegorese jedoch wieder gebrochen wird.

Saugen von dem Mark der hohen Zeder nach der vernichtenden Überfahrt durch das tiefe Meer Während bei Hadewijch Leiden und Genießen in einem Bild zusammengedrängt sind, verläuft die Bildbewegung bei Marguerite Porete zweiteilig: Zuerst ertränkt die Seele ihren Eigenwillen in den Wellen des Meeres, das sie überfahren muss, bevor sie zu der hohen Zeder gelangt, deren Mark sie saugen möchte. Der Genuss ist also zeitlich versetzt zu der Vernichtung, doch weisen beide Bildfelder dieselbe Verbindung zum Selbstverlust auf. Während in den Visioenen die Bezeichnung des Genießens (ghebruken) im Kontext der Bildentfaltung der Rose explizit gebraucht wird, fällt im Mirouer im Zusammenhang von Meerüberfahrt und Markgenuss das ohnedies sparsam gebrauchte Wort fruiction nicht ein einziges Mal, obwohl die Vernichtung dagegen vielfältig erörtert und umschrieben wird. Genuss Gottes mit seinen Bezügen zu Lust und Verlust, Sättigung und Trunkenheit, Schmecken und Schmelzen wird im Mirouer ausschließlich implizit inszeniert. Jedoch was das Saugen des Marks und das Fühlen oder Nehmen des Rosenherzens miteinander verbindet, ist der in einem sinnlich fassbaren Bild vermittelte, enge Kontakt zwischen Gott und Mensch, der im Mirouer sogar noch stärkere, unmittelbare physische Dimensionen annimmt. Das Bildfeld der geistlichen Überfahrt, das bis in das 17. Jahrhundert hinein eine große Rezeption erfahren hat,53 tritt in Mirouer 80 zusammen mit dem Kosten vom Mark der hohen Zeder auf. Hierbei handelt es sich um ein eindeutig gustales Phänomen, da die Seele sich das Mark einverleibt, das sowohl für die 52 Ebd. 53 Vgl. Übers. v. Gnädinger (1987), S. 266, Kommentar 165.

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Präsenz als auch das unmittelbare Schmecken der Gottheit steht, die im Bild der Zeder symbolisiert wird. Beide, Herz der Rose und Mark der Zeder, sind nicht nur das Zentrum, sondern auch das Innere und Innerste der Pflanze bzw. des Baumes:54 : – Ceste Ame a apparceu par divine lumiere l’estre du pays dont elle doit estre, et a pass¦ la mer, pour succer la mouelle du hault cedre. Car nul ne prent ne n’ataint a ceste mouelle, s’il ne passe la haulte mer, et se il ne noye sa voulent¦ es ondes d’icelle. Entendez, amans, que c’est a dire. (Mirouer 80, 6–11) [Die Liebe: Diese Seele hat durch göttliches Licht das Wesen des Landes, wo sie sein soll, wahrgenommen und hat das Meer überquert, um von dem Mark der hohen Zeder zu saugen. Denn niemand nimmt und bekommt von diesem Mark, wenn er nicht die hohe See überquert hat, und wenn er seinen Willen nicht in deren Wogen ertränkt. Versteht, ihr Liebhaber, was das heißen will!]

Mirouer 80 kombiniert mehrere geistliche Symbole in einem Bildfeld, das sie durch eigene Akzentsetzung dynamisiert. So verknüpft der Text die geistliche Überfahrt über das hohe Meer (inklusive dem Schiffbruch) mit dem Symbol der Zeder, die für Kraft, Beständigkeit, Unsterblichkeit und für das Fleisch Christi selbst steht, denn ihr Holz galt als unverweslich.55 Daher umschloss im AT Zedernholz das Allerheiligste, nämlich die Bundeslade mit den Zehn Geboten Gottes, und der Gerechte in Psalm 92, 13f. wird nicht nur mit der Palme, sondern auch mit der Zeder auf dem Libanon verglichen, die ewig in den Vorhöfen des Herrn grünt und blüht. Im Hohelied 5, 15 wird die Gestalt des Geliebten in ihrer Schönheit und Auserwähltheit mit den Zedern des Libanon verglichen. Durch die Wahl der einzelnen Bildelemente ergeben sich Bezüge zur Körperlichkeit Christi am Kreuz und zugleich zur Brautmystik durch das Hohelied. Infolge solcher Zusammenschlüsse von einzelnen Bildern und Rückverweisen auf den Gesamttext entstehen Abwandlungen und Variationen der traditionellen Bildlichkeit: So wird der geistliche Schiffbruch dezidiert in den Kontext der Vernichtung des Eigenwillens, um welche der Text permanent kreist, gestellt, indem die Seele ihren Eigenwillen in den Fluten ertränkt. Gleichzeitig stellt diese Passage einen Bezug zu Mirouer 28 her, wo die Seele im mer de joye schwimmt und, dem Titel zufolge, ertrinkt. Doch ist dieses Meer von der Gottheit ausgeflossen, und während die Seele darin schwebt und schwimmt, verwandelt sie sich ganz in Freude und zwar so vollständig, dass sie sogar ihren eigenen Namen vergisst. In Mirouer 28 enthält das Bild des Meeres beide Aspekte: Die Seele 54 Egerding (1997b), S. 339–342, der unter 2.1. für Eckhart die »Metaphern ›mark‹ und ›kern‹ das Innerste Gottes als zentralen Bereich« beschreibt. Unter 2.5–2.6 verweist er darauf, dass »alle von Jesus Christus ausgehende positive Wirkung wie Trost, Lust, Freude etc. […] ihren Ursprung im ›suezzen mark der ader und des hertzen Jhesu Christi‹« habe. 55 Vgl. Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole (1973), S. 369–371.

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schwimmt und ertrinkt, vergisst ihr Selbst und ihren Namen, wird aber zugleich lustvoll in die Freude und das gemeinsame Wollen mit dem Geliebten verwandelt. Beide Mirouers sind daher aufgrund der Selbstvernichtung in dem unendlich großen Meer verbunden, doch mit dem Unterschied, dass in Mirouer 28 das Meer der Vernichtung zugleich der Ort des Genießens der Gottheit wird, während in Mirouer 80 die Seele, geführt vom göttlichen Licht, das ihr bestimmte Land erst nachfolgend erreicht, um von dem Mark56 der hohen Zeder zu saugen. Durch diese Spezifizierung mittels des Marks erhält die Zeder eine stark körperliche Dimension, die die Auslegung ihres Holzes als Fleisch Christi und damit an die Eucharistie evoziert. Zugleich wird durch die Zeder ein Bezug zum als schön gepriesenen Bräutigam des Hohenliedes hergestellt (Hld. 5, 15). Succer la mouelle, was Gnädinger als kosten vom Mark übersetzt hat, weist im Französischen eine weit stärker ausgeprägte physische und zugleich intensivere Komponente auf, die unbedingt im Deutschen beibehalten werden sollte.57 Durch die aneinander anschließende Kombination aus Vernichtung des Eigenwillens und Genuss des Göttlichen gelingt es dem Text, ein dichtes Bildfeld aufzubauen, das er im Verlauf von Mirouer 80 erneut aufgreift und dahingehend abwandelt, dass zwar das Mark beibehalten, die Zeder aber getilgt wird: L’Ame. – Le sourhaulcement ravissable qui me sourprent et joinct au millieu de la mouelle de Divine Amour en quoy je suis fondue, dit ceste Ame; c’est donc droit qu’il me souviengne de luy, car je suis remise en luy. Il se convient taire, dit ceste Ame, de cest estre, car l’en n’en peut rien dire. (Mirouer 80, 35–39) [Die hinreißende Überhebung, die mich überkommt und mitten in das Mark der göttlichen Liebe versetzt, in das ich verschmelze, sagt diese Seele; daher ist nur recht und richtig, dass ich mich an Ihn erinnere, denn in Ihn bin ich versetzt. Es gehört sich, spricht diese Seele, dass ich über diesen Zustand schweige, denn ich kann darüber nichts sagen.]

Das Bild des Marks verstärkt und intensiviert sich in der Passage deutlich, da das Saugen vom Mark nun zu einem Verschmelzen in das Mark erweitert wird.58 Es wird dahingehend präzisiert, dass es sich hierbei um das Mark der göttlichen Liebe handelt, in das die Seele durch einen mystischen raptus versetzt wurde. Das Mark weist nicht nur physische, sondern auch intime Züge auf, da es das 56 Seit der Antike wird dem Mark eine nährende, kräftigende Funktion zugeschrieben, die sich bis ins Mittelalter erhalten hat. Die Zubereitung einer Markbrühe mit Markklößchen in Krankheitsfällen zeigt, dass sich diese Konnotationen bis heute erhalten haben, vgl. hierzu Laser (1983), S. 4–7. 57 Auch im Lateinischen ist von Saugen die Rede, vgl. Guarnieri und Verdeyen (1986), S. 227: Ideo transfretat mare, ut sugat medullam alti cedri. 58 Vgl. hierzu Ruh, Frauenmystik (1993), S. 349f., der die Umwandlung in die Liebe und den Vorgang des Hinein-Schmelzens in das Mark als »ekstatischen Vorgang« einstuft.

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Innerste repräsentiert.59 An dieser Stelle markiert die Seele ein mystisches Schweigen, aber erst, nachdem die zentralen Bildfelder entfaltet wurden. Alle in diesem Zusammenhang verwendeten Verben – passer, noyer, succer, fondre – sind zum einen von der Dynamik der Bewegung, zum anderen von der Einschreibung einer Sinnlichkeit gekennzeichnet, die von Verb zu Verb zunimmt und sich in der Verschmelzung zusätzlich steigert. Durch dieses Aufgebot an berückender Sinnlichkeit wird die spröde Sprache des Mirouer entscheidend ergänzt, da Bezüge zum Genießen durch Schmecken und Schmelzen in impliziter Bildsprache präsentiert werden, die durch Kombinationen und Variationen vitalisiert und dynamisiert wird. Genuss äußert sich demnach im Mirouer nicht nur in Form zurückgenommener Übertrunkenheit, sondern auch durch Akte des Schmelzens und Kostens. Besonders das Bild des Schmelzens verdichtet Aspekte der Zerstörung und Auflösung ebenso wie solche der Vereinigung und Bereicherung. Die Grenzen des Selbst werden aufgebrochen, um in das Mark der Göttlichkeit eingehen zu können. In diesem Bild sind Selbstverlust und Gottesgenuss miteinander verknüpft. Ebenso sind Sättigung und Trunkenheit durch ihren Bezug zum Abendmahl eng miteinander verbunden, wie sie es mit Vernichtung und Selbstverlust sind, die das Genießen schattieren. Doch unterscheidet der Text hier verschiedene Stufen oder Seinszustände, da beispielsweise der Genuss auf der vierten Stufe durch das Verwöhnt-Werden in der Trunkenheit geringer ist als der auf der siebten Stufe in der Ewigkeit. Im Grunde legt der erlangte Grad an Vernichtung gleichzeitig den Stand des Genießens fest, zu dem die Seele in der Lage ist.

II.2.3 »Sturz« in den »Strudel des Genießens« in den Visioenen und »Fall« in den »Abgrund der Vernichtung« im Mirouer Vorbemerkungen Der Abgrund veranschaulicht als Kernmetapher der negativen Theologie die unergründliche Tiefe und undurchdringliche Dunkelheit der Gottheit.60 Die

59 Vgl. Lüers (1926), S. 228, die als Variation des Ausdrucks mark angibt: daz innigúste der gotheit und der sÞle, cf. ader der gotheit und der sÞle. Allerdings würde ich ihr in dem Punkt nicht zustimmen, dass es sich hierbei um eine »diese[r] grobsinnliche[n] Metaphern, die vielfach grotesk anmuten«, handelt, sondern um eine ausgesprochen feine und nuancierte Bildgebung. 60 Vgl. ergänzend Ruh, Frauenmystik (1993), S. 177, der darauf hinweist, dass »die AbgrundMetapher einen biblischen Ausgangspunkt hat: Ps. 41, 8 ›Abyssus abyssum invocat‹ und

Im »Strudel des Genießens« und im »Abgrund der Vernichtung«

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kreative Aufnahme und Weiterentwicklung des Gedankenguts von Dionysios Pseudo-Areopagita, der von Ruh als deren zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt bezeichnet wurde,61 lassen sich vor allem in den Visioenen und dem Mirouer feststellen, wobei auch das Fließende Licht dionysische Einfärbungen aufweist, ohne jedoch speziell das Wort Abgrund zu verwenden.62 Im Kontext von Strudel und Abgrund betonen die Visioenen mehrfach die (überhelle) Dunkelheit Gottes und dynamisieren den Abgrund durch die permanente Bewegung des kreisenden Strudels, in welchen das Ich stürzt.63 Ebenso fällt im Mirouer die von der Zärtlichkeit der Liebe verwöhnte Seele von der Höhe der Schau in einen unergründlichen Abgrund, wenn sie von dem vierten in den fünften Seinszustand übergeht. Körperliche Akzente werden bei der Abgrundmetaphorik vor allem durch die Bewegungen der Seele gesetzt, die fallen und stürzen kann. Bilder wie Vergreisung und Jugendlichkeit, die auf der fünften Stufe im Mirouer auftreten, statten die Abgrundmetaphorik an ihren Rändern mit physischen Dimensionen aus. In den Visioenen dagegen nehmen hierfür Verben wie eten, verslinden, verswelghen eine pointierte Stellung ein, die nicht nur eine grundlegend dynamisierende über die exegetische Vermittlung Augustins aus der monastischen Theologie des 12. Jahrhunderts in die Volkssprache eingetreten« sei. 61 Vgl. Ruh, Grundlegung durch die Kirchenväter (1990), S. 13–82; zur Kritik an der »Überbetonung der negativen Theologie des Ps.-Dionysios bei gleichzeitiger Verdeckung des breiten Stroms der Christus-Mystik« (S. 39) vgl. Langer, Christliche Mystik (2004), S. 37–40. 62 Vgl. speziell zum Fließenden Licht Egerding (1997b), S. 279–282; Lüers (1926), S. 120. Egerding konstatiert, »dass Mechthild ›grunt‹ als Metapher nicht häufig verwendet« (S. 279), sondern »viel häufiger als ›grunt‹ benutzt Mechthild die adjektivische Metapher ›grundelos‹« (S. 280). Ein Beispiel für solche ,dionysischen Einfärbungen’ wäre I, 8, 6–8, wenn Gott hymnisch folgendermaßen gepriesen wird: o du grundeloser brunne, o du unreichaftffl hoehi, o wisheit ane grunt. Lüers äußert speziell zu abgrunt, Mechthild kenne »ihn nicht als terminologisch-metaphorischen Ausdruck«, wohingegen sie Ausdrücke wie grundelose gotheit sehr wohl benutze (S. 120). Auch Reynaert (1981), S. 196 kommt hinsichtlich Mechthild zu denselben Schlussfolgerungen, wobei er sich speziell auf das Angesicht Gottes und dessen Verknüpfung mit dem diepe afgronden bezieht, wie es bei Hadewijch am Ende der dreizehnten Vision der Fall ist. 63 Vgl. Reynaert (1981), S. 254–258: Ihm zufolge übt der Strudel (wiel) eine dynamisierende Wirkung aus; wobei er dessen Gesamtbedeutung für die Visioenen vielleicht etwas zu gering einschätzt, wenn er fortfährt: »[…] doch brengt voor het overige geen fundamenteel verschillende betekenis«. Dagegen deutet er im Zusammenhang mit der Abgrundsmetaphorik darauf hin, dass in den Visioenen das ghebruken seinen Platz findet in dem »›grondeloze afgrond‹ waar het goddelijke Wezen zijn eigen eenheit realizeert« (S. 215f., vgl. ebenso 441f.). So schreibt er abschließend: »De beelden aan de hand waarvan Hadewijch poogt dit dynamisme in de godheid (›vuur‹, ›afgront‹, ›vloedmetaforiek‹, ›ghebruken‹) en in de relatie van de ziel tot het transcendente (›vuur‹, ›storm‹, ›strijt‹, ›orewoet‹, ›nuweheit‹) te verwoorden, geven m.i. het meest eigene weer van haar mystieke persoonlijkeit.« (S. 448) Die Dynamisierung verbindet ihm zufolge sowohl Abgrund als auch Feuer, Genießen und Flut miteinander, die in eine dichte Beziehung zueinander gesetzt werden; das zeigt auch dieses Kapitel, wobei ich vor allem den Strudel in diese Gruppe einfügen würde.

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Funktion haben, sondern zugleich konkrete Bezüge zur Körperlichkeit herstellen. Natürlich sind die physischen Aspekte nicht so unmittelbar gegeben wie in der Metaphorik der Trunkenheit oder der Sättigung, jedoch ist es bezeichnend, dass sie in diesem Zusammenhang überhaupt auftreten und nachweisbar sind. In beiden Texten wird die Abgrundmetaphorik mit deren Kernelement kombiniert: Während sich in den Visioenen Abgrund und Strudel mit dem Genießen der Göttlichkeit (ghebruken/ghebrukelecheit) verbinden,64 steht im Mirouer die totale Vernichtung des Eigenwillens der Seele im Vordergrund. Hierdurch wird sie zugleich so frei (ame adneantie et franchie), dass sie blitzartig auf die sechste Stufe emporgezogen werden kann; von dort aus erhält sie eine rasche Kundgebung der siebten Stufe.65 Gleichzeitig bleibt die Seele im sechsten Seinszustand ein allein Gott reflektierender Spiegel im Abgrund.66 Auf unterschiedliche Weise ist die Abgrundmetaphorik daher mit starken Dynamisierungstendenzen verbunden, da beide Texte damit Bewegungen verknüpfen, die an dieser Seele vollzogen werden oder denen die Seele ausgesetzt ist.

Schrecken und Sicherheit des dunkel kreisenden Strudels des Genießens Der tiefe, dunkle Strudel oder das Rad (wiel) des Genießens wird in den Visioenen zu einem beunruhigenden Bild mit starker Sogkraft ausgestaltet, was dazu beiträgt, den ausgesprochen dichten Text durch punktuell und gezielt eingesetzte Bilder zu strukturieren. Für die Bestimmung des Genießens ist er vielleicht sogar die Schlüsselmetapher.67 Zwar wird der Strudel bereits in der ersten Vision gezeigt, doch erst ab der elften Vision darf das Ich eine intimere Kenntnis der göttlichen Unergründlichkeit und des schwarzen Genießens ge64 Vgl. McGinn (1999), S. 378: »[…] andere grundlegende symbolische Bilder, die die Dreifaltigkeit darstellen, finden sich in Vis. 1, 4, 11 und 12: Tiefe/Abgrund (›diepheit‹/›afgront‹), Rad/Scheibe (›siue‹) und sprudelnder Quell (›wiel‹).« McGinn deutet diese Bilder für das Verhältnis zwischen Gott und Seele in der Minne, die sich bis zur völligen Einswerdung im Genuss erstrecken kann. 65 Vgl. hierfür exemplarisch Mirouer 61. 66 Vgl. Mirouer 118, 175–203. Der Mirouer setzt in einzelnen Kapiteln häufig unterschiedliche Akzente bei der Beschreibung der einzelnen Stufen oder Seinszustände, von daher müssen die Auskünfte hierüber nicht immer übereinstimmend sein. 67 Vgl. Ruh, Frauenmystik (1993), S. 206f., der sowohl die Bedeutung der Tiefe als auch der Metapher herausstreicht: »Neben der ›ontrouwe‹ kommt der ›Tiefe‹, in die der ›Liebesstrudel‹ (das ›verwielen‹) führt (S. 187f.), eine Schlüsselstelle zu. Die Tiefe ist der Abgrund, dem wir bereits in den ›Strofischen Gedichten‹ als Tiefendimension der Liebe, als ihrer eigentlichen ›Natur‹ begegneten […]. Er ist in den ›Visioenen‹ I. Ort der tiefsten Vereinigung: In der ›fruitio‹ Gottes (›ghebruken‹) wird Hadewijch in Gottes Tiefe getaucht (VI 102f.).«

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winnen, da es offenbar zu diesem Zeitpunkt über den dafür erforderlichen Reifegrad verfügt. Von Anfang an werden Adverbien oder Adjektive wie vreeslike/vreeselike (furchterregend, erschreckend) und eyseleke (furchtbar, entsetzlich) in Verbindung mit dem abgrundtiefen Strudel gebracht,68 der sich kreisförmig unter der Scheibe dreht.69 Seine Tiefe veranschaulicht die Unerforschlichkeit und Unauslotbarkeit Gottes, zugleich die existentielle Gefährdung des Menschen, der sich der Heiligkeit Gottes nähert: Ende in midden onder die sciue/ drayede een wiel/ soe vreeslike omme/ ende die soe eyseleke was aen te siene/ dat hemelrike ende ertrike daer af verwondren mochte ende uervaren/. (Vis. I, 231–235) [Und im Zentrum unter der Scheibe kreiste ein Strudel auf so erschreckende Weise, und der war so furchtbar anzuschauen, dass Himmel und Erde darüber erstaunen und mit Schrecken erfüllt werden sollten.]

In der ersten Vision dominiert beim ersten Anblick des Strudels der Schrecken, den das Kreisen des Strudels auslöst. Die thronartige Scheibe, welche die Ewigkeit darstellt, wird von drei Säulen aus Gold, Topas und Amethyst gestützt, die die Dreifaltigkeit in ihren Dimensionen der Reinheit, der Passion und der Vollkommenheit versinnbildlichen. Sessel, Scheibe und Kreuz bilden die eine Seite Gottes, Strudel und Abgrund dagegen die andere. Während die eine durch Gold, Edelsteine und kristalline Klarheit gekennzeichnet werden, ist die andere das scheinbare Gegenteil, doch bilden beide gemeinsam die Trinität in ihrer Ganzheit. Unter dieser Scheibe, direkt im Zentrum, befindet sich der Strudel, der Hadewijch zufolge das göttliche Genießen in seiner Verborgenheit, Heftigkeit, Dunkelheit und in seinem Schrecken bedeutet:70 Die diepe wiel die soe vreeselike donker es/ Dats die godleke gebrukelecheit in haren verhoelnen stormen/. Op die gheweldeghe stad sat die ghene/ dien ic sochte/ ende daer ic een met hadde beghert te sine in ghebrukeleke/. (Vis. I, 243–248)

68 Vgl. McGinn (1999), S. 368: »Ich ziehe hier bewusst B 30 heran, der die trinitarischen Dimensionen der paradoxen Veschmelzung von Genuss und Angst in der Erfahrung der Minne entfaltet.« Diese »paradoxe Verschmelzung« kann auch für Bild und Wirkung des Strudels geltend gemacht werden, wobei Genuss und Angst vor allem durch seinen Anblick entstehen. 69 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 171, zu möglichen Traditionsbezügen der Strudelkonzeption als kreiesende Bewegung: »Die alte platonische Denkfigur von Kinesis, nämlich kreisender Bewegung, und Stasis und ihre Deutung finden sich auch beim Areopagiten, ›De divinis nominibus‹ Cap. 9, Dionysiaca, 474–578.« 70 Vgl. Reynaert (1981), S. 255, der auf die starke Anschaulichkeit hinweist, die Strudel und Abgrund durch die Hinzufügung der Adjektive diep, wide, ongrondeleke, (ouer)donker, vreseleke und eyseleke erreichen.

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[Der tiefe Strudel, der so furchterregend dunkel ist, das ist das göttliche Genießen in seinen verborgenen Stürmen. Über dieser gewaltigen Stätte thronte derjenige, den ich suchte, und mit dem ich begehrt hatte, im Genießen eins zu sein.]

Das Ich wird zwar im Anschluss an den Anblick und die Deutung des Strudels mit Christus vereinigt, wie es sich das ersehnt und gewünscht hatte, doch der Strudel bleibt ihm noch verschlossen. Denn das höhere Eins-Werden durch den göttlichen Strudel des Genießens bedeutet, in den unermesslich tiefen Abgrund der Gottheit verschlungen (verswelghen/verswolghenleke)71 zu werden, was für das Ich der Visioenen erst nach seiner Vervollkommnung im Leiden möglich sein wird.72 Doch weckt er am Anfang ausschließlich Furcht und Schrecken, bevor das Ich später diese Empfindungen in der Sicherheit des VerschlungenWerdens überwindet, die sich aber erst dann einstellt, während das Sehen des Strudels jedesmal Furcht und Schrecken erzeugt. Erst in der elften Vision erscheinen Strudel und Abgrund wieder auf der Textoberfläche, da das Ich jetzt ab der siebten Vision in ein intensiveres Begehren eingetreten ist, das es gleichzeitig zu gesteigertem Genuss Gottes befähigt. Die größere Nähe zum vertieften Genießen drückt sich in der zunehmenden Detailfülle aus, zu der das Ich jetzt bei der Beschreibung des Strudels fähig ist. Als ob eine Kamera schärfer eingestellt und näher herangezoomt ist, schildert es ausführlich die Dunkelheit, die sowohl hell als auch finster, und die Tiefe, die unausmessbar und umfassend ist, und schließt trotz der vielen Einzelheiten mit einem ausführlichen Hinweis auf die Unsagbarkeit des Gesehenen: Jc lach op enen kerstnacht tenen male/ ende wart op ghenomen inden gheeste/. Daer saghic enen ouer//diepen wiel/ ende enen widen/ ende ouerdonker/; ende in dien wiel/ die soe wiit was/ So was alle dinc besloten/ so vaste /ende so na bedwonghen/. Dat donkere uerlichte/ ende dore sach alle dinc/. Die ongrondeleke diepheit vanden wiele was so hoghe datter nieman toe en mochte gheraken/. Jc late nv varen hoe ghedane hi was/; want daer en es nu gheen tijt af te sprekene/; Jn caent niet wel te worde bringhen/ dats een/, Want hets onseggheleec. Dander es/ dats nu gheen stade en es/, want daer vele toe behoert/, dat ic daer sach/. (Vis. XI, 1–14) [Einmal in einer Weihnacht lag ich zu Bett und wurde in den Geist aufgenommen. Da sah ich einen abgrundtiefen Strudel, der war weitausgreifend und stockfinster ; und in diesem Strudel, der so weitausgreifend war, waren alle Dinge dauerhaft und unentrinnbar eingeschlossen. Die Finsternis erleuchtete und durchschaute alles. Die uner71 Vgl. zu der Verbindung von Abgrund, Tiefe und Verschlingen Ruh, Frauenmystik (1993), S. 207. 72 Vgl. exemplarisch Vis. I, 173–176: […] die de minnende beide in een verswelghet/ ende worpse inden afgront, daerse soeken ende vinden selen die eweleke ghebrukelcheit.[(…) die die beiden Liebenden in eins verschlingt und in den Abgrund wirft, wo sie den Zustand des ewigen Genießens suchen und finden werden.]

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gründliche Tiefe des Strudels war so hoch, dass niemand dahin gelangen konnte. – Ich lasse es jetzt auf sich beruhen, wie er aussah; denn es ist jetzt keine Zeit, darüber zu sprechen. Ich kann es erstens nicht gut in Worte fassen, denn es ist unsagbar. Zweitens ist jetzt nicht die passende Zeit dafür ; denn viel gehört zu dem, was ich sah.]

Durch eine Verwendung pseudo-dionysischer Sprachtechnik wird die Unergründlichkeit Gottes durch verneinte Adjektive und seine Erhabenheit durch das Präfix ouer- inszeniert:73 So drückt der Text die Unergründlichkeit und Allumfassendheit des Strudels durch die Attribute weit (widen) und tief (ouer diepen) aus, wobei die Tiefe durch das Präfix über- (ouer-) zusätzlich ›vertieft‹ wird. Ebenso hebt die Verwendung von hoch (hoghe) und unergründlich (ongrondeleke) die Tiefe extra hervor. Ein ähnliches Verfahren wird für die Dunkelheit angewendet, die durch ouer- (über-) betont wird; sie ist nicht nur finster, sondern über-finster : mehr als finster, finsterer als finster. Doch ist die göttliche Finsternis nur dem unwissenden Auge dunkel, denn sie ist durchscheinend und erhellt alles – eine paradoxe Metapher der überhellen Dunkelheit, die ebenfalls zu dem areopagitischen Sprach- und Inszenierungsmodus zählt.74 Endlich aufgenommen in die unbeschreibliche, sowohl unauslotbare als auch überragende Tiefe Gottes, äußert das Ich im Verlauf der elften Vision einen einzigen Wunsch: Want ic woude bliuen in sine diepste afgronde allene in ghebrukeleecheiden. (Vis. XI, 84–86) [Denn ich wollte in seinem tiefsten Abgrund im genießenden Eins-Sein alleine bleiben.]

Die Exklusivität der Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Partner wird in dem Bedürfnis, allein mit Gott in der Tiefe bleiben zu dürfen, deutlich. Solche lakonischen und mitunter nur schwach kontextualisierten Sätze, um das Genießen in Worte zu fassen, wenn es endlich eingetreten ist, sind in den Vi73 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 151, Z. 1–9, der hier »die lebendigste und dynamischste Schilderung des sonst geläufigen Bildes des göttlichen Abgrunds« sieht und in der Passage aufgrund der »apophatischen Sprachelemente, den ouer-Bildungen und der paradoxalen Metaphorik […] der überhellen Dunkelheit« den Einfluss des Pseudo-Dionysius bestätigt findet. 74 Vgl. zur überhellen Dunkelheit Ruh, Grundlegung durch die Kirchenväter (1990), S. 64f., der in diesem Zusammenhang grundlegend konstatiert: »Die mystische Theologie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der apophatischen Gotteslehre. […] Wir wünschen ›durch Nichtsehen und Nichterkennen‹ ›das über Sehen und Erkennen stehende Nichtsehen und Nichterkennen‹ ›zu sehen und zu erkennen‹.« Für eine solche Einschätzung spricht sowohl die Gewichtung, welche das Genießen Gottes im unergründlichen Strudel/Abgrund in den Visioenen erhält, als auch die Übernahme solch paradoxer apophatischer Sprechweisen, anhand derer der Mirouer das nicht-erkennende Erkennen beziehungsweise das erkennende Nicht-Erkennen auf der fünften und sechsten Stufe inszeniert.

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sioenen häufig. Ebenso lakonisch wird das Abklingen eines solchen Zustandes kommentiert; doch findet sich hier die erste Stelle, welche die Einheit zwischen Gott und Mensch in der Tiefe ausdrückt. In der elften Vision wird auf den grundlegenden Unterschied von Gott und Mensch im Bildfeld von Bach75 und Strudel hingewiesen. Denn der menschliche Partner wird im Gegensatz zu dem unergründlich tiefen Strudel der Gottheit mit einem Bach verglichen, dessen Tiefe nur allzu bald für das rücksichtslose Begehren der Gottheit nicht mehr ausreicht, da der Mensch Extreme schwer erträgt: Doene bekindic minne in ghere manieren van rasten, so sere wasic uerladen in onghenaden van minnen. Want ic mensche was, ende de godheit es So ureseleke ende soe onghenadeleec etende ende berrende sonder sparen/; de ziele es in 7i7 cleine beke beloken: die diepheit es saen ouergaen ende die dike sijn saen te broken/. Aldus heeft die godheit de menscheit saen alte male te hare ghesaect. (Vis. XI, 125–133) [(Doch) die Liebe erfuhr ich dabei auf keine Weise als ein Ruhen, so sehr war ich von der Liebe gnadenlos überlastet. Ich war ja ein Mensch, die Gottheit aber verzehrt und verbrennt fortwährend rücksichtslos auf eine fürchterliche (furchterregende) und gnadenlose Weise. Die Seele ist in einem engen Bach eingeschlossen: Schnell reicht des Baches Tiefe nicht mehr aus, und schnell sind die Deiche gebrochen: Schnell hat so die Gottheit die Menschheit gänzlich in sich hineingezogen.]

In diesem Zusammenhang wird für die Beschreibung der verzehrenden Wirkungen Gottes ebenfalls das Adverb ureseleke (furchterregend) verwendet, deren fordernde Intensität in der Konsumption unerträglich schreckliche Ausmaße annimmt, was die Verben des Verzehrens (etende)76 und Verbrennens (berrende) zusätzlich steigern. Die Textstelle betont die Ungnädigkeit (onghenaden) der göttlichen Liebe, die sich in dem Empfinden einer gnadenlosen Überlast beim Menschen Ausdruck schafft.77 Sowohl bei der Hitze des Verbrennens als auch bei der Tiefe des Strudels kann die Natur des Menschen nicht mithalten – solche Extremzustände und Extremansprüche überfordern sie gänzlich, so dass die Gottheit den Menschen vollständig absorbiert, nachdem, wie es im Text heißt, die Deiche gebrochen sind, was die Gewalttätigkeit und Schonungslosigkeit des 75 Vgl. das Bild des Bachs in du bist ein bach miner hitze in FL I, 19, 18, der allerdings in einem anderen Kontext verwendet wird und somit Kühlung für das brennende Begehren des Ichs signalisiert. 76 Zudem weist dieses Verb sowohl im Mittelniederländischen als auch im Neuhochdeutschen grundlegende Bezüge zum Verzehren von Nahrung oder Essen auf, was konkret physische Dimensionen für dessen Verwendung einbringt. 77 Vgl. McGinn (1999), S. 366–368, wo er dezidiert auf diese höllenähnlichen, grausamen Facetten der Gottesliebe hinweist. Zum verschlingenden Charakter Gottes speziell bei Vis. XI, 125–133 und Vis. XII, 10–19 vgl. Reynaert (1981), S. 100f.: »Want Go dis een ›vreselek‹, ›onghenadeleec etende‹ wezen, waar ›alle dinc in veruaert ende verswolghen wert‹.«

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göttlichen Wirkens erneut drastisch veranschaulicht. Der Mensch kommt daher rasch an seine Grenzen, wie das Bild des Baches illustriert, der sich, im krassen Gegensatz zu der unermesslichen und unerforschlichen Tiefe des kreisenden Strudels, nur zu rasch ausloten lässt, so dass die unerhörte Sogkraft der Gottheit den Menschen eilends in sich hineinzieht. Das Tempo dieser ziehenden Bewegung, die zugleich das Begehren der Gottheit repräsentiert, wird durch die dreifache Wiederholung des Adverbs saen (schnell, rasch) performativ inszeniert, was die Ungleichheit der Partner unterstreicht (Z. 131–133). Die Verbindung aus Feuer/Hitze und Dunkelheit/Schrecken wird in der zwölften Vision beibehalten, die unmittelbar mit der Schau des schwarzen Strudels einsetzt, der erneut schreckliche Angst weckt und mit all den bereits genannten Attributen beschrieben wird: er ist ungeheuer tief (onghehoerdelike diep) und so dunkel (donker), dass es über seine Finsternis heißt, dass selbst das Schrecklichste mit diesem Schrecklichen (eiselecheit) nicht verglichen werden kann. In einer sprachlichen Verweigerung verleiht der Text dem Schrecken ein einzigartiges und unvergleichliches Gepräge. Das Attribut vreselike (furcht-/ schreckenerregend) wird sowohl verwendet, um die Drehung der Scheibe auf ihrer dunkelsten Seite zu zeigen, als auch für deren Vergleich mit einem furchterregenden Flammenmeer78 eingesetzt. Aufgrund der Feuermetaphorik und ihrer schonungslosen Wirkungen ergeben sich Bezüge zu der vorigen Textstelle; denn wie die gnadenlose Minne wird die dunkelste Seite der Scheibe mit den Attributen verzehrend (uerslinden), vergehend (ueruaert) und verschlingend (verswolgen) belegt, was zugleich ein Vorverweis für die Einheit mit Gott im Strudel des Genießens darstellt, die sich häufig verschlingend äußert: […] ende die wiel daer die sciue in liep daer hi in draiede, die was so onghehoerdelike diep ende so doncker dat en ghene eiselecheit daer ieghen gheliken en mach; ende die sciue was binnen in douerste anesien van alrehande sconen ghesteinte/ ende in dier varuwen van ghepuerden goude; ende in die donckerste side daerse so vreselike liep/, daer wasse ghelijc vreseliken vlammen/ die hemel ende erde uerslinden/ ende daer alle dinc in ueruaert ende verswolghen wert/. (Vis. XII, 10–19) [Und der Strudel, in dem die Scheibe lief, in der Er sich drehte, der war so furchtbar tief und so finster, dass auch das Schrecklichste damit nicht verglichen werden kann; und die Scheibe bestand innen, von oben betrachtet, aus allerlei Edelsteinen und hatte die Farbe von geläutertem Gold; und auf der schwärzesten (dunkelsten) Seite, wo sie furchterregend lief, da glich die Scheibe einem schrecklichen Flammenmeer, das Himmel und Erde verzehrt, und in das hinein alles vergeht und verschlungen wird.]

Doch weist die Scheibe genau die entgegengesetzten Aspekte auf, da sie nicht nur die unergründlichen und dunklen, sondern auch die durchscheinenden und 78 Vgl. zur Feuermetaphorik beziehungsweise zu Deus ignis consumens Reynaert (1981), S. 99–104.

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leuchtenden Seiten Gottes darstellt: Daher ist sie von oben hell, strahlend, golden und mit Edelsteinen besetzt; vereinigt also alle Facetten des reinen, schönen und vollkommenen Gottes in sich. Die obere Ansicht der Scheibe illustriert in einer eigendynamisch ausgestalteten Bildlichkeit den positiven Gott, während die untere Seite den negativen Gott veranschaulicht.79 Erstmals gegen Ende der zwölften Vision wird das Ich in die Einheit mit Gott im Strudel aufgenommen, die es dann verschlingt, und dadurch endlich werden die Zustände des Schreckens und der Angst, welche der Anblick des Strudels vorher geweckt hatte, durch Sicherheit abgelöst: Ende met dien saghic mi seluen ontfaen een vanden ghenen die daer sat in dien//wiel op die lopende sciue/, ende daeer wardic ·i· mede sekerheiden der enecheit/. (Vis. XII, 156–159) [Und mit diesen Worten sah ich mich selbst in die Einheit durch denjenigen aufgenommen, der da in dem tiefen Strudel über der laufenden Scheibe saß; und da wurde ich eins mit Ihm in der Gewissheit der Einheit.] Jn die diepheit saghic mi verswolghen/; Daer ontfinghic sekerheit met diere vormen ontfaen te sine in mijjn lief ende mijn lief also in mi. (Vis. XII, 172–174) [In diese Tiefe sah ich mich verschlungen; da gewann ich Sicherheit, in dieser Gestalt in meinem Geliebten aufgenommen worden zu sein und mein Geliebter ebenso in mir.]

Die Passage illustriert eindrücklich den Unterschied zwischen Ansehen und Erfahren des dunklen Rades: Denn während vorher der Anblick des unergründlichen Strudels des göttlichen Genießens als Schrecken, die Wirkungen der gnadenlosen Liebe als Zerbrechen und Überlasten der eigenen Seele beschrieben wurden, bleibt davon nichts zurück in der Sicherheit der wechselseitigen Einheit durch das ehedem so bedrohlich akzentuierte Verschlingen (verswolghen). Jetzt, wo der menschliche Partner in die unergründliche Tiefe der Gottheit aufgenommen und mit ihr vereinigt wurde, ist er Gott ebenbürtig, nun sind Mensch und Gott nicht mehr Bach und Strudel/Abgrund, sondern beide sind in dem Strudel des Genießens wechselseitig eins geworden, was sich in der chiastischen Stellung ausdrückt. In der dreizehnten Vision sieht und erkennt das Ich schließlich Gottes Angesicht in seinen Dimensionen der Weite, der Höhe und der Tiefe. Jetzt fließen Erkenntnis und Genuss Gottes zusammen, und das Ich stürzt in die Tiefe des Abgrunds und verliert außerhalb dessen jegliche Fähigkeit, darüber sprachliche Auskünfte zu erteilen:

79 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 171–173, Z. 1–19, wo er ausführlich die dionysischen Bezüge der gesamten Passage kommentiert.

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Ende dat anschijn ontdede hem al dat was/ ende minne die dar gheciert sat/: Dat anschijn daer ic alle dinc in bekinde ende sach, daer saghic in hoghede wijdde diepte. Doe ghinc mi ghebruken als te voren ende ic viel in die grondelose diepte, ende quam buten den gheeste op die vre daer men nemmermeer af segghen en mach/. (Vis. XIII, 252–258) [Und das Angesicht öffnete sich mit allem, was war, und mit der Liebe, die da geschmückt saß. In dem Angesicht, in welchem ich alle Dinge erkannte und betrachtete, erblickte ich die Höhe, die Weite und die Tiefe. Dann überkam mich ein Genießen wie zuvor, und ich stürzte in die grundlose Tiefe und kam zur Stunde außerhalb des Geistes, worüber irgendetwas auszusagen man niemals imstande sein wird.]

Der Genuss Gottes bedeutet Tiefe, Sturz, Absorption. Wie in der zwölften Vision verbinden sich in der Dimension der Tiefe Abgrund und Strudel, um das Ich zu verschlingen in der Dimension der Tiefe, die entsprechend Gottes Wesen unergründlich (grondelose) und unerschöpflich ist. Durch die mit dem Sturz in die Tiefe des Genießens hervorgerufene Sprachlosigkeit wird das zuvor apophatische Sprechen zum mystischen Schweigen gesteigert, denn ebenso plötzlich und unwiderstehlich wie sich Gotteserkenntnis und Gottesgenuss verbinden, entzieht sich die Gewalt dieser Einheit der Sprache. Die Verweigerung von Sprache in der dreizehnten und die Distanzierung von Beschreibungen in der elften und zwölften Vision dienen dazu, von der durch sprachliche Bilder vermittelten, sinnlichen Darstellung wieder abzurücken, um so zwischen Sprache und Schweigen, zwischen Versinnlichung und Entsinnlichung zu oszillieren. Die Begegnung mit der Größe und Tiefe Gottes, die im vielfältig profilierten Bild des unergründlichen und überfinsteren Strudels veranschaulicht wird, kann vom Menschen kaum ertragen werden, was das Gegenbild des Baches, dessen Dämme brechen, evoziert. Die Gewaltsamkeit des göttlichen Begehrens wird nicht nur durch solche Ausdrücke deutlich, sondern auch durch die Klage des Menschen, die Liebe Gottes sei nie durch Ruhen bestimmt gewesen, und durch die in diesem Zusammenhang verwendete Feuermetaphorik (berrende/ vlammen) in der elften und zwölften Vision. Die Gottheit erträgt nur, wer ihr ebenbürtig ist – was das Ich der Visioenen wohl deswegen mit steigernder Intensität fordert. Erst die Vereinigung verleiht dem menschlichen Partner Sicherheit, was in den letzten beiden Visionen, in denen die Metaphorik von Abgrund und Strudel auftritt, nachdrücklich hervorgehoben wird. Doch äußert sich der Genuss der Gottheit in der zwölften Vision durch Verbformen des Verschlingens (verswelghen) und Verzehrens (eten) oder in der dreizehnten Vision durch einen Sturz in die endlose Tiefe.80 Damit zeigt der Text 80 Vgl. Reynaert (1981), S. 176f., der für das zestiende mengeldicht den mystischen Prozess in sieben Namen einteilt und für den fünften Namen eine unio in ›suet‹heit, für den sechsten dagegen in ›grondeloes‹-heid vorschlägt, was sich auf die Visioenen angewendet durchaus

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

nicht nur mittels seiner massiven Akzentuierung von Furcht und Schrecken die existentielle Gefährdung des Menschen durch die Begegnung mit der Gottheit, sondern präsentiert in der genussvollen Einheit selbst eine Form des Genießens, der diese Dunkelheit unmittelbar eingeschrieben ist: So zeigen die rasche Sogkraft und die gewaltsame Schonungslosigkeit ein Genießen, das sich aus der Negativität der Gottheit ebenso sehr – beziehungsweise: noch mehr! – speist wie aus seiner Positivität: Die Visioenen verdichten dies in dem dynamischen Schlüsselbild der oben strahlend-durchsichtigen und unten finster-unergründlichen Scheibe.

Der Abgrund als Nicht-Ort: Erkenntnis und Spiegelung in der Vernichtung im Mirouer Der Mirouer variiert sowohl das Genießen als auch die (Selbst-)Vernichtung auf den verschiedenen Stufen. Dem entspricht auf der kompositorischen Ebene ein spiralförmiges Verfahren,81 das in der Wiederholung zusätzliche Details und Abwandlungen einbaut. Auf der ersten bis zur dritten Stufe findet der mystische Tod in den Bereichen Sünde, Natur und (Eigen-)Willen statt. Diese Stufen der Mortifikation werden auf der vierten Stufe von dem Genuss der Süßigkeit Gottes überstiegen, der die Seele blendet und sie trunken macht. Ausdrücklich wird hierzu gesagt, dass die Seele bereits glaube, am Ende angelangt zu sein, doch stehe ihr die eigentliche (Selbst-)Vernichtung noch bevor.82 So werden vor allem die fünfte und die sechste Stufe von der Abgrundmetapher her gestaltet, um die grenzenlose Tiefe des Falls der Seele, ihre Demut und Schlechtigkeit auszudrücken, die zugleich ihre völlige Vernichtung illustrieren, da sie sich aus eigener Kraft aus diesem Abgrund nicht mehr erheben kann.83 Dadurch erwirbt sie Reinheit, Verklärung und Befreiung (l’ame pure, clarifiee, enfranchie/libre), doch ihre Verherrlichung bleibt der siebten Stufe, auf der dann der totale Genuss (fruiction) der Gottheit stattfindet, vorbehalten. Sowohl die (Selbst-)Vernichtung als auch das Genießen Gottes heben sich von Stufe zu Stufe auf ein höheres und dauerhafteres Niveau, bis auf der siebten Stufe die Ewigkeit erreicht ist. übertragen lässt: Die Tiefe steht über der Süße, und die Süße wird gesäuert mit Bitterem durch die ontrouwe. 81 Vgl. zu dieser Idee der Spiralenform Muraro (2004), bes. S. 19. 82 Vgl. hierzu McGinn (1999), S. 455, der das »echte Zunichtewerden« ebenfalls auf der fünften Stufe ansetzt. 83 Vgl. allgemein zur Abgrundmetapher McGinn (1999), S. 461f. Im Mirouer 61, 33 ist vom l’abbit de gloire [Abgrund der Herrlichkeit] die Rede; das Kapitel bespricht allerdings nicht die Stufenlehre, welche im Mirouer ohnedies sehr lose eingeblendet wird, sondern behandelt die drei mystischen Tode, die man vor dem freien und vernichteten Leben erleiden muss.

Im »Strudel des Genießens« und im »Abgrund der Vernichtung«

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Die Metapher des Abgrunds wird in Mirouer 38 eingesetzt, um die Armut der Seele auszudrücken, die so unerschöpflich bedürftig ist, dass das Geschenk der Gnade fast nicht möglich zu sein scheint. Gnädinger weist darauf hin, dass »der Mangel an Armut derart absolut sei, dass ihre nichtige Unendlichkeit mit der Fülle der Unendlichkeit Gottes korrespondiere«.84 Demnach ist die Seele ebenso endlos leer, wie Gott endlos voll ist, und ebenso unauslotbar arm, wie Gott unerschöpflich reich ist: : […] Quans momens de heure ay je est¦ oyseuse, et en quans deffaultes suis je encheue, moy qui suis abysme de toute pouvret¦?! Et neantmoins en telle abysme de pouvret¦ vous voulez mectre, se en moy ne tient, le don de telle grace parmy que vous avez dessus devisee. (Mirouer 38, 14–18) [Die Seele zur Liebe: Wie viel Zeit habe ich unnütz verstreichen lassen, und in wie viele Fehler bin ich gefallen, ich, die ich ein Abgrund an Armut bin! Und dennoch, in einen solchen Abgrund der Armut wollt Ihr – von mir hängt es nicht ab – das Geschenk einer solchen Gnade legen, wie ihr es eben ausgesprochen habt.]

Bei der wie in den Visioenen dionysisch inspirierten Metapher des Abgrunds verbinden sich vor allem bei der fünften Stufe Erkenntnis und Vernichtung, was im Mirouer einen breiten Raum einnimmt. So bekennt die Seele gegenüber der Liebe: Hee, Amour, dit ceste Ame, le sens de ce qui est dit m’a fait nulle, et le nient de ce seul m’a mis en abysme /dessoubs moins que nient sans mesure. Et la cognoissance de mon nient, dit ceste Ame, m’a donn¦ le tout, et le nient de ce tout, dit ceste Ame, m’a tollu oraison et priere, et ne prie nient. (Mirouer 51, 7–11) [Ach, Liebe, spricht diese Seele, der Sinn dessen, was gesagt wurde, hat mich zu nichts gemacht, und das Nichts, bewirkt durch diesen Einen, hat mich in einen Abgrund unterhalb von weniger als Nichts versetzt, maßlos. Und die Erkenntnis meines Nichts, spricht diese Seele, hat mir Alles gegeben, und das Nichts dieses Alles hat mir Bitte und Gebet genommen, und ich bete um nichts.]

Die Erkenntnis ihrer Null- und Nichtigkeit hat die Seele in jenen Abgrund versetzt, der noch unterhalb von weniger als Nichts (dessoubs moins que nient sans mesure) liegt. Indem das Nichts dieses Abgrunds hyperbolisch übersteigert wird, ist es paradoxerweise weniger als nichts und ohne Maß, so dass die Tiefe des Abgrunds und damit der Vernichtung nicht auszumessen sind. Da er im Nichts, sogar noch unter dem Weniger-als-Nichts angesiedelt ist, bezeichnet der Abgrund praktisch einen Un-Ort, einen Nicht-Ort. Erst diese vollständige Vernichtung im Abgrund gibt der Seele alles; aufgrund einer paradoxen Umkehrung wird das Nichts (le nient) Alles (le tout), indem der eigene Wille und die eigenen Wünsche ausgelöscht 84 Gnädinger (1987), S. 257, Anm. 73.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

werden. Dadurch aber wird die Seele in jeder Hinsicht offen für den Willen Gottes, der nun vollständig in ihr wirken kann. In Mirouer 118 werden die sieben Stufen ein einziges Mal ausführlich, chronologisch und zusammenhängend dargestellt. Die Abgrundmetapher wird für die Beschreibung der fünften Stufe wieder aufgegriffen,85 auf der die Seele ihre eigene Schlechtigkeit erkennt, nachdem sie ihren eigenen Willen Gott zurückgegeben hat. Sie wird hierdurch in einen unendlich tiefen Abgrund versetzt, der mit den bereits aus der vorigen Passage bekannten, paradoxen und negativen Sprachtechniken und mittels der Präposition sans ausgestaltet und wie folgt beschrieben wird: Or est telle Ame nulle, car elle voit par habondance de divine cognoissance son nient, qui la fait nulle, et mectre a nient. Et si est toute, car elle voit par la profondesse de la cognoissance de la mauvaisti¦ d’elle, qui est si parfonde et si grant, qu’elle n’y trouve ne commencement ne mesure ne fin, fors une abysme abysmee sans fons; la se trouve elle, sans trouver et sans fons. (Mirouer 118, 130–135) [Nun ist eine solche Seele null und nichts, denn sie erkennt durch die Fülle der göttlichen Erkenntnis ihr Nichts, das sie zunichte macht und ins Nichts versetzt. Und daher ist sie nun alles, denn sie erblickt durch die Tiefe der Erkenntnis ihrer eigenen Schlechtigkeit, die so tief und so umfassend ist, dass sie davon weder einen Anfang, noch ein Maß, noch ein Ende findet, nichts als einen abgründigen Abgrund ohne Grund, dort befindet sie sich, ohne sich zu finden und ohne Boden.]

Indem drei Negationsformen dicht aufeinander folgen, die Anfang, Maß und Ende der Tiefe von Schlechtigkeit und Abgrund verneinen (ne commencement ne mesure ne fin), wird jegliche räumliche Bestimmung und Begrenzung verweigert und der Abgrund als Un- oder Nicht-Ort kenntlich gemacht. Die Ausdehnung der Tiefe ins Endlose wird durch die Beifügung des gleichlautenden Adjektivs verstärkt, das den Abgrund zugleich klanglich durch die Alliteration verdoppelt (une abysme abysmee). Diese Doppelung wird zusätzlich übersteigert, indem mittels des echoartig wiederholten sans fons die Bodenlosigkeit und Tiefe des Abgrunds zusätzlich betont wird und die Seele sich dort (be-)findet, ohne sich zu finden (la se trouve elle, sans trouver). Durch die hier eingesetzte Negation inszeniert der Text die Halt- und Bodenlosigkeit der Seele, die sich in diesem Abgrund verliert und dort ihre Vernichtung erfährt, indem sie ihre Nichtigkeit und Schlechtigkeit erkennt. Die Grenzenlosigkeit der Erkenntnis von der eigenen Schlechtigkeit, die ebenso unergründliche Ausmaße wie Gottes Güte annimmt, zeigt der Text durch Negationen und Hyperbeln, mittels Wiederholungen und Alliterationen, die diese 85 Vgl. speziell zur fünften Stufe: Ruh, Frauenmystik (1993), S. 348f. Er kennzeichnet den fünften Seinszustand sogar als den »Eigenbereich des ›Miroir‹, da es bedeutet, sich vom eigenen Willen […] zu trennen«.

Im »Strudel des Genießens« und im »Abgrund der Vernichtung«

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Dimensionen kunstvoll in Szene setzen. Deutlich paradox miteinander verknüpft sind die Fülle und der Überfluss (hanbondance) der göttlichen Erkenntnis und das Resultat dieser Erkenntnis für die Seele, die nämlich in dem eigenen Nichts besteht. In der folgenden Passage wird die Erkenntnis der Seele durch weitere Paradoxa ergänzt, denn die Seele sieht, ohne zu sehen und erkennt, ohne zu erkennen, was ihre vollzogene (Selbst-)Vernichtung performativ ausdrückt, denn da sie nicht mehr sie selbst, sondern zu Nichts geworden ist, kann sie nicht mehr selbst sehen und erkennen. Gesteigert wird die durch Negationen ausgedrückte Vernichtung zusätzlich durch weitere Bilder wie das Loch (gouffre) oder die Sündflut (d¦luge), die beide unauslotbar sind: Celluy ne se trouve mie, qui ne se peut ataindre; et qui plus se voit en telle cognoissance de mauvaisti¦, et plus a de cognoissance, par verit¦, que il ne peut cognoistre sa mauvaisti¦, non pas la maindre point, dont ceste Ame est abysme de mauvaisti¦, et gouffre de tel haberge et de telle garnison, comme est le d¦luge de ce que p¦ch¦ est, qui contient en luy toute perdicion. Telle se voit ceste Ame, sans le veoir. (Mirouer 118, 136–142) [Der findet sich niemals, welcher sich nicht zu erreichen vermag; und je deutlicher er sich in einer so gearteten Erkenntnis der Schlechtigkeit erkennt, umso mehr Erkenntnis hat er in Wirklichkeit, dass er (nämlich) seine Schlechtigkeit nicht erkennen kann, nicht den kleinsten Punkt, in dem diese Seele eine Abgrund an Schlechtigkeit ist, und ein Loch von einer Herberge und einer Unterkunft, wie es die Sintflut für die Sünde ist, die in sich alle Verderbnis enthält. So also sieht sich diese Seele, ohne zu sehen.]

Die Schlechtigkeit der Seele ist unergründlich, unausmessbar und unfassbar wie ein Abgrund, weshalb diese (Selbst-)Erkenntnis paradoxerweise stattfindet, ohne selbst zu erkennen. Je mehr man sieht, desto weniger begreift man. Der Textausschnitt betont ausdrücklich, dass die Steigerung der Erkenntnis mit diesem zunehmenden Nicht-Sehen und Nicht-Erkennen zusammenhängt, das die Bodenlosigkeit noch vergrößert. Das Bild des Abgrunds wird zusätzlich um das Loch (gouffre de tel haberge et de telle garnison) erweitert, das ebenfalls metaphorisch die grenzenlose Sündhaftigkeit und endlose Schlechtigkeit umschließt, welche die Seele kennzeichnet. Durch die Verbindung mit Herberge und Unterkunft wird das Bild des Lochs paradox ausgestaltet, da ein Loch nur etwas Defizitäres repräsentiert, keineswegs aber etwas Vorhandenes. Denn statt der Göttlichkeit Herberge und Unterkunft bieten zu können, herrschen lediglich Loch, Leere, Mangel in der Seele vor. Die enorme Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit erhält durch das Bild der Sintflut eine zusätzlich vertiefende Dimension. Die dionysisch inspirierte Form der Erkenntnis durch Nicht-Erkennen begründet den Aufstieg zur sechsten Stufe. Zuvor jedoch beschreibt der Text den

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Zustand der vernichteten Seele auf der fünften Stufe abschließend als Fall von der Liebe ins Nichts:86 Or est ceste Ame cheue d’amour en nient, sans lequel nient elle ne peut toute estre. Laquelle cheue est si parfont cheue, se elle est adroit cheue, que l’Ame ne se peut de telle abysme relever; et aussi faire ne le doit, ainÅoys y doit elle demourer. Et la pert l’Ame orgueil et jeunesse, car l’esperit est veillart devenu, qui na la laisse plus estre deduisant ne jolye, car le vouloir est d’elle departi, qui la faisoit souvent, par sentement d’amour, fiere et orgueilleuse et dangereuse en la haultesse de contemplacion ou quart estat. (Mirouer 118, 159–167) [Die Seele ist nun aus der Liebe ins Nichts gefallen, ohne dieses Nichts vermag sie nicht Alles zu sein. Dieser Fall ist ein so tiefer Fall, dass die Seele, ist sie ganz hinuntergestürzt, sich aus einem solchen Abgrund nicht mehr erheben kann; doch muss sie dies auch nicht tun, vielmehr hat sie dort zu verbleiben. Und da verliert die Seele ihre Hochfahrenheit und ihre Jugend, denn der Geist ist ein Greis geworden, der sie nicht mehr leichtsinnig und vergnügt sein lässt, denn ihr Wille hat sie verlassen, der sie oft, aufgrund ihrer Liebe, auf der vierten Stufe stolz und hochfahrend und in hoher Beschauung von sich eingenommen sein ließ.]

Das Bild des Abgrunds wird an dieser Stelle durch die Bewegung des tiefen Falls dynamisiert und zugleich mit einem körperlichen Akzent versehen. Indem die Seele von der Liebe in das Nichts des Abgrunds fällt, wird ihr Eigenwille in dem Erkenntnisprozess ihrer endlosen Schlechtigkeit vernichtet – und zwar erst jetzt auf der fünften Stufe, da er auf der vierten durch den Genuss der Liebe Gottes in blinde Berauschung und hochfahrenden Leichtsinn nicht ganz ausgelöscht wurde. Das wird durch das Bild der Vergreisung der Seele ausgedrückt, das nun mit der Hochstimmung und der Vergnügtheit ihrer Jugend auf der vierten Stufe Schluss macht. Zudem kann die Seele sich nach ihrem Fall nicht mehr (selbst) erheben, sondern muss von Gott emporgezogen werden, was im impliziten Bild einer Lähmung den Selbstverlust zeigt. Die Bilder des Fallens und der Vergreisung weisen zudem starke Körperbezüge auf und versehen den Abgrund mit physischen Dimensionen. Statt Verwöhnung durch die Liebe erfährt die Seele nun das Nichts, ein Nichts, das paradoxerweise Alles ist. Denn der amor deficiens, zugleich Gegenpol und Bestandteil des Genießens, schafft erst die Grundlagen für den Aufstieg zur sechsten und die divine fruiction auf der siebten Stufe. Anders als die sehr sinnlich gehaltene und bis zum Schluss von Süßigkeit durchzogene gotz vro86 Vgl. C. Müller (1999), S. 60–83, die eine »mise en ab„me« in fünf Stufen sowohl des Buches als auch der Seele entfaltet und dadurch die Poetik des Buches mit dem Vorgang in der Seele verdichtet. Vgl. zu den Metaphern der Vernichtung, die gleichzeitig eine Vergöttlichung in sich eingeschrieben tragen Marin (2010). Hierzu zählen vor allem die Bilder des Meeres/ Ozeans und des Abgrunds, aber auch des Schmelzens, welche das dynamische Verhältnis zwischen Vernichtung und Vergöttlichung – beziehungsweise Genuss – ausdrücken.

Im »Strudel des Genießens« und im »Abgrund der Vernichtung«

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emedunge in IV, 12 des Fließenden Lichts sind die beiden Texte doch in dem – unterschiedlich gestalteten – Punkt vergleichbar, dass Vernichtung und Verlassenheit unabdingbar zum vollständigen Genuss der Gottheit dazugehören. Wie in den Visioenen der Hadewijch von Antwerpen muss die anfängliche Freude und süße Lust an der Gegenwart Gottes auf eine radikale Vernichtung hin überschritten werden, bevor sie erneut, um jene dunkle, abgründige Dimension vervielfältigt, stattfinden kann. Auf der sechsten Stufe befindet sich die Seele im Abgrund der Demut, ohne etwas zu sehen, so vernichtet ist sie. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Ergänzung durch die Metapher der Spiegelung, die sowohl Abgrund als auch Spiegel87 einen innovativen Akzent verleiht. Denn die Blindheit oder das NichtSehen der im Abgrund verharrenden Seele und die Spiegelung der Göttlichkeit fallen in ihr paradox zusammen: Le siziesme estat est, que l’Ame ne se voit point, pour quelconque abysme d’umilit¦ que elle ait en elle; ne Dieu, pour quelconque haultiesme bont¦ qu’il ait. Mais Dieu se voit en elle de sa majest¦ divine, qui clarifie de luy ceste Ame, si que elle ne voit que nul soit, fors Dieu mesmes, qui est, dont toute chose est. (Mirouer 118, 175–180) [Der sechste Zustand besteht darin, dass die Seele sich wegen des Abgrunds an Demut nicht sieht, Gott aber nicht wegen der Erhabenheit seiner Güte. Aber Gott sieht sich in ihr in seiner göttlichen Majestät, durch die er diese Seele verklärt, so dass sie nicht sieht, was da noch wäre, außer Gott allein, der ist und durch jedes Ding ist.]

Dieselbe Form der Erkenntnis durch das Nicht-Erkennen, des Sehens durch das Nicht-Sehen, wird an dieser Stelle erneut aufgegriffen, jedoch verändert sich der Adressat: Der göttliche Partner gerät ins Blickfeld. Nicht die Seele sieht durch ihr Nicht-Sehen, sondern Gott sieht sich in ihrem Nicht-Sehen. Während die Seele Gott aufgrund seiner hohen Erhabenheit (haultiesme), sich selbst aber wegen ihrer abgründigen Demut (abysme) nicht sieht – ein räumliches Differenzverhältnis, wie es extremer nicht konzipiert werden kann –, spiegelt sich die Göttlichkeit in ihr, die durch ihre Demut (umiliti¦) ein willenloser Spiegel88 geworden ist. Auf der sechsten Stufe tritt die Gottheit in ein Verhältnis zur Seele, wobei dieses durch die Spiegelmetapher nicht nur einen Zug der Einheit, sondern auch der Differenz der beiden Partner aufweist, die sich gerade nicht »wechselseitig identifizieren«;89 denn der eine ist so vernichtet, dass nur noch 87 Vgl. Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (2000). 88 Vgl. zur Kühnheit der Spiegelmetapher auch die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, wo die blutigen Wunden sich im bitteren Schmerz spiegeln. Diese Spiegelung wird auch sprachlich durch parallelistische Syntaxkonstruktionen inszeniert. Sie stiftet zwischen dem göttlichen und menschlichen Partner nicht nur Ebenbürtigkeit, sondern macht sie nahezu identisch: Du glicheit mis krfflzes irspiegilt sih alle zit in minem brinnenden herze bluote. […] Daz rote bluot mins herzin irspiegilt sih alle zit in der biterkeit diner sele. (Offb. 134, 10–12; 18f.) 89 Vgl. Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (2000), S. 165f., der anhand von FL I, 4 auf die Form

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

der andere ihn sieht: Doch paradoxerweise zeigt sich genau dadurch ein Moment einer ›blinden Identifikation‹, die zwar nur vom göttlichen Partner gesehen, aber von beiden vollzogen wird. Zentral für den Mirouer ist insgesamt die Verbindung von Abgrund und Erkenntnis, die sich auf der fünften Stufe als paradoxes Nicht-Erkennen gestaltet. Die Seele sieht, indem sie nicht sieht, und erkennt, indem sie nicht erkennt. Mittels paradoxer Negationstechniken wird demnach die Vernichtung und Willensfreiheit der Seele in Szene gesetzt, um zu veranschaulichen, dass Erkenntnis und klare Schau durch Blindheit und Spiegelung erfolgen. Die Seele sieht in diesem paradoxen Nicht-Sehen sich selbst als einen Abgrund an Schlechtigkeit, was sie auf der sechsten Stufe zu einem Abgrund an Demut werden lässt, in dem die Gottheit sich spiegelt. Erst dann sind Vernichtung und Selbstverlust vollständig in ihr vollzogen, die der Seele eine erneute Umstülpung, diesmal von Vernichtung in Genuss, von der sechsten zur siebten Stufe ermöglichen.90

der »Gottesliebe im Selbstverlust (perditio mei)« hinweist. Allerdings kann man auf die Spiegelmetapher im Mirouer folgende auf das Fließende Licht bezogene Aussage nicht geltend machen: »Als Spiegel des göttlichen Lichts erfährt die Seele nicht ihre ›Vernichtung‹ wie in der Verschmelzung, sondern sie reflektiert sich im Spiegel Gottes als seine Braut.« Der Mirouer zeigt dagegen eine Verbindung von Spiegelung und Vernichtung durch das Hinzufügen der Blindheit des menschlichen und der Klarsicht des göttlichen Partners. 90 Vgl. hierfür Mirouer 61, 10–18: […] et le siziesme est glorieux, car l’ouverture du doulx mouvement de gloire, que le gentil Loingpr¦s donne, n’est aultre chose que une apparicion, que Dieu veult que l’Ame ait de sa gloire mesmes, que elle aura sans fin. Et pource luy fait de sa bont¦ ceste demonstrance du setiesme estat ou siziesme. Laquelle demonstrance est si tost donnee, que celle mesmes, a qui ce est donn¦, n’a de son don, qui est donn¦, nulle apparcevance. [Der sechste sodann ist herrlich, denn die Offenbarung im anziehenden Herrlichkeitsstrahl, den der großmütig Fernnahe gewährt, ist nichts anderes, als das Aufscheinen seiner eigenen Herrlichkeit, von der Gott will, dass die Seele sie erfahre, wie sie sie dereinst ohne Ende haben wird. Und darum gewährt er ihr in seiner Güte eine Kundgebung des siebenten Zustandes. Diese Kundgebung geht aus dem siebenten Stadium hervor, welches den sechsten Zustand bewirkt. Dieser Erweis wird jedoch so rasch gegeben, dass selbst diejenige, für den er bestimmt war, keinerlei Wahrnehmung hat von dem, was ihr gewährt wurde.] Das bedeutet, die Umstülpung in den Genuss erfolgt so unmittelbar aus der Vernichtung heraus und die beiden Zustände sind derart miteinander verschmolzen, dass für die völlig vernichtete Seele nicht einmal eine Extra-Wahrnehmung erfolgt, die das Genießen Gottes von der Vernichtung unterscheidet – eine Konzeption des Genießens, das hier nicht einmal explizit genannt wird: So wie der Mirouer allgemein sehr zurückhaltend mit diesem Thema umgeht.

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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II.2.4 »Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech) als Intensivierung des Begehrens und Genießens Vorbemerkungen Das Begehren als gerunge oder begherte nimmt die zentrale Stellung im Fließenden Licht und in den Visioenen ein, da Genießen und Begehren so stark aufeinander bezogen und so dicht miteinander verbunden sind, dass sie oft ineinander zu verschmelzen scheinen. Eine Steigerung des Genießens bis hin zu seiner Vervollkommnung geht unabdingbar einher mit einer Intensivierung des Begehrens bis hin zur Unerträglichkeit. In den Visioenen ist das Begehren, mit Gott eins zu sein im Genießen, bereits in der ersten Vision präsent, doch erfährt es eine immense Zunahme erst in der siebten Vision, wo es das Ich in seiner physischen und psychischen Gesamtheit ergreift,91 bis es sich schließlich in der vierzehnten Vision zum Liebeswahnsinn steigert, ein Zustand, in dem das Ich ununterbrochen verbleibt. Zusätzlich gestützt wird die besondere Bedeutung des Begehrens bei Hadewijch aufgrund der Wortanalyse, bei welcher die Verknüpfungen mit dem Verlangen nach Gott dominierten. Das Fließende Licht dagegen verwendet die Metapher der Liebeskrankheit, um das verzehrende Verlangen nach Gott zu beschreiben, wobei der menschliche und der göttliche Partner die Worte wie die Krankheit austauschen, was eine wechselseitige Kontamination durch Sehnsucht, Liebe und Verlangen signalisiert. Was die beiden Bilder entscheidend miteinander verbindet, ist deren Bezug zu körperlichen Extremzuständen, die den ganzen Menschen erfassen. Wahnsinn oder Krankheit bringen den Menschen aus dem Gleichgewicht und zwingen ihm ihr eigenes Gesetz auf. Die physischen Dimensionen der Metapher sind bereits im Bildkern gegeben, während die Abgrundmetaphorik erst an den Rändern dadurch angereichert wurde. Natürlich beschränkt sie sich nicht auf ihren Bezug zur Körperlichkeit, sondern zeigt, dass kein Teil des Menschen außer Acht gelassen, sondern alles von ihm in das Begehren einbezogen wird, das den Menschen in seiner Gesamtheit absorbiert und fordert.

91 Vgl. Vis. I, 321f., wo Christus über sein Begehren spricht und damit das Begehren des Menschen zugleich in den Kontext der Imitatio stellt.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Genießen als Begehren: Intensivierung des Verlangens (begherte) bis hin zum Liebeswahnsinn (oerewoet) Dem begehrenden Genuss oder dem genießenden Begehren kommt in den Visioenen eine zentrale Bedeutung zu, was Mommaers, Faesen und kürzlich Fraeters akribisch herausgearbeitet haben.92 Denn ebenso beharrlich, wie die vierzehn Visionen um das Genießen Gottes kreisen, wird diese Bewegung begleitet und gesteigert durch das Begehren, das sich, wie am Anfang der siebten Vision, nicht nur auf die geistig-seelischen Bereiche erstreckt, sondern den Menschen in seiner Gesamtheit fordert. Bereits die erste Vision setzt mit Verlangen (eyschen) und Begehren (begherte) ein,93 jedoch zum Wahnsinn werden sie erst in der Mitte des Zyklus. Dieser alles beherrschende, alles durchbebende Liebeswahnsinn94 wird poetisch vor allem durch die Reaktionen des Körpers inszeniert, der sich anspannt und erzittert: Te enen cinxen daghe wart mi vertoent inde dagheraet/, ende men sanc mettenen inde kerke/ ende ic was daer/; ende mijn herte/ ende mijn aderen/ ende alle mine lede scudden/ ende beueden van begherten/; ende mi was alst dicke heeft gheweest/ Soe verwoeddeleke/ ende soe vreeseleke te moede/ dat mi dochte,/ ic en ware minen lieue ghenoech/ ende mijn lief en uerwlde minen nyet, dat ic steruende soude verwoeden ende al verwoedende steruen/.//Doe was mi van begherliker minnen/ soe vreseleke te moede/ ende soe wee/ dat mi alle die lede die ic hadde sonderlinghe waenden breken ende alle mine aderen waren sonderlinghen in arbeiden/. Die begherte daer ic doe in was die es ontseggheleke enegher redennen/ ocht ymens die ic kinne […]. (Vis. VII, 1–16) [An einem Pfingsttag hatte ich beim Morgengrauen eine Erscheinung, man sang die Messe in der Kirche, und ich war da, und mein Herz, und meine Adern, und alle meine Glieder zitterten und bebten vor Verlangen, und ich war, wie so oft, von solchem Wahnsinn, und von solcher Angst erfüllt, dass es mir schien, ich wäre meinem Geliebten nicht genug, und mein Geliebter erfüllte nicht mein Verlangen, so dass ich sterbend wahnsinnig werden und und vollkommen wahnsinnig werdend sterben müsste. Da war ich aufgrund begehrender Liebe so von Angst und Schmerz erfüllt, dass mir alle Glieder meines Leibes einzeln zu brechen drohten und alle meine Sehnen

92 Vgl. Mommaers, Hadewijch (2003); ders. und Dutton, Hadewijch (2004), S. 129–146; Faesen (2000); Fraeters, Oh Amour, sois tout — moi! (2009). 93 Vgl. Vis. I, 3–9 im Zusammenhang mit begherte. 94 Vgl. zum Liebeswahnsinn Weiß (2000), S. 218–232. Weiß verbindet zum einen die Metaphern der Liebeskrankheit und des Liebeswahnsinns, zum anderen verweist er auf den Bezug zur antiken Literatur, vor allem zu Ovid, und das beliebte Wortspiel amans – amens. Zum anderen betont er die Integration und Umwertung dieses Bezugs im Traktat De quatuor gradibus violentiae cartitatis Richards von St. Viktor, der vier sich steigernde Zustände der leidenschaftlichen Gottesliebe nennt, und zwar die verwundete, die gefangene, die kranke und die sterbende Liebe, wobei sich auf der letzten und höchsten Stufe die Liebe als unheilbar erwiesen hat und in den auslöschlichen Wahnsinn übergeht.

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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einzeln angespannt waren. Das Begehren, in dem ich mich da befand, kann durch keine Worte (von mir) oder irgendjemandem, den ich kenne, ausgedrückt werden (…)]

Was im vorigen Kapitel durch das Bild des rasch auszulotenden Baches und des abgrundtiefen Strudels aufgezeigt wurde, wird nun durch das Begehren umgesetzt. Die krasse Unterschiedlichkeit von Gott und Mensch wird erneut performativ vorgeführt, doch hält sie den Menschen keineswegs davon ab, Ebenbürtigkeit und Wechselseitigkeit zu beanspruchen. Dennoch wird die extreme Gefährdung emotional durch Furcht und Schmerz, körperlich durch Zittern und Anspannung verdeutlicht. Das immens gesteigerte Begehren bringt den Menschen an die Grenzen der Unerträglichkeit und damit der Auflösung: Alle Glieder, das Herz und die Adern zittern und beben – der gesamte Körper ist in das seelische Verlangen involviert und bezeugt ein Begehren, das, von Furcht und Schmerz durchsetzt, bis zum Wahnsinn reicht. Herz, Adern, Glieder bilden in ihrer Zusammenstellung Chiffren für die körperlich-seelische Ganzheit, die nun von der reißenden Anspannung der Sehnen und den fast brechenden Gliedern, vor allem aber vom Wahnsinn aufgebrochen wird – Leib, Seele und Geist scheinen unter der gewaltigen Sprengkraft des Begehrens in Einzelteile zu zerfallen; das Verlangen äußert sich in einer fragmentierenden und daher äußerst bedrohlichen Wirkung. Körper, Geist und Seele sind existeniell gefährdet, da ihre sich durch das Verlangen auflösende Gesamtheit paradoxerweise nur noch durch die Kraft eben dieses Begehrens zusammengehalten wird, die alle diese Einzelteile in dem Wunsch der vollen Befriedigung verbindet. Die Kraft des Begehrens verhält sich demzufolge direkt proportional zu der des Genießens. Denn wer das Verlangen bis über alle körperlichen und seelischen Grenzen hinaus erträgt und im Übermaß begehrt,95 genießt im Übermaß; und wer danach verlangt, zur Gänze befriedigt zu werden und selbst zu befriedigen, erhält erst volles wechselseitiges Genügen. In einer einzigen Vision führt der Text sowohl intensives Begehren und intensives Genießen vor, was in abgemilderter Form ebenso für die erste Vision gilt. Jedoch tritt der Wahnsinn als metaphorische Intensivierung erst in der siebten Vision auf, den Adverbien wie verwoeddeleke (Z. 6) oder Verben wie steruende […] verwouden und uerwoedende steruen (Z. 10f.) ausdrücken. Der Wahnsinn bezeichnet nicht nur den Zustand des Selbst- und Sprachverlusts,96 wodurch er dem der Trunkenheit gleich95 Vgl. hierzu Richard von St. Viktor/ Schmidt (1969), S. 38: Summus autem atque praecipuus amoris gradus est, quando desiderio suo nihil satisfacere potest. Hier findet bei Hadewijch eine Umakzentuierung statt: Das Verlangen ist zwar unerschöpflich und einzig Gott kann als der Höchste ihm genügen, wobei sie im Gegenzug dasselbe Vermögen für sich selbst fordert – nämlich selbst Gott volles Genügen zu schenken. 96 Vgl. hierzu Vis. VII, 14–16.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

kommt,97 sondern zugleich den der Todesnähe,98 was ihn mit der Strudelmetapher in den Visioenen verbindet. Erst in der vierzehnten Vision taucht der Wahnsinn auf der Textoberfläche wieder auf, nachdem das Ich vollständig gereift ist und als letzte und äußerste Bestätigung der erreichten Vollkommenheit seine unaufhörliche insania amoris inszeniert, die nun das Substantiv oerewoet99 bezeichnet: Jc was ende ben noch in groter begherten ende in oerewoede/, so dat ic waende ende oec wel wiste, dat ic niet leuen ne mochte met so groter ongheduricheit alse daer ic in was/ ende noch ben, god en gaue me nuwe cracht/; ende doe dede hijt, danc hebbe hi. (Vis. XIV, 1–6) [Ich war und bin noch immer in einem Zustand starken Verlangens und in leidenschaftlichem Liebeswahn, so dass ich meinte und mir auch sehr wohl im Klaren darüber war, dass mit einer so großen Unruhe wie derjenigen, in der ich mich befand und noch befinde, ich nicht länger leben könnte, es sei denn, Gott gäbe mir neue Kraft. Und dann – Ihm sei gedankt – tat Er es.]

Indem der Zustand von Begehren und Wahnsinn sich im Verlauf der letzten sieben Visionen noch verstärkt und verschärft hat, ist das Ich aufgrund seines liebenden Misstrauens (ontrouwe) Gott ebenbürtig geworden und kann ihn zur Gänze befriedigen und ebenso zur Gänze genießen.100 Damit kennt es ihn vollständig, wie das Ende der vierzehnten Vision expliziert.101 Der Verweis auf den gegenwärtigen Zustand des Liebeswahnsinns ist zugleich einer auf den vergangenen, der durch Präsens und Präteritum sowie das Zeitadverb noch als permanent gekennzeichnet und inszeniert wird. Da sich das Ich kein einziges Mal dem wahnsinnigen Begehren entzogen hat, benötigte es Gottes Hilfe, um den bereits in der siebten Vision als beinahe unerträglich und existentiell gefährend geschilderten Zustand auszuhalten. Die kompositionellen Schlüssel97 Vgl. Weiß (2000), S. 218f. 98 Vgl. hierzu Richard von St. Viktor/ Schmidt (1969), S. 40: In quarto sibi ›vivere Christus est et mori lucrum‹, eo quod cupiat ›dissolvi, et esse cum Christo‹. Auf der vierten Stufe verdichten und vermischen sich Tod und Auflösung mit dem untilgbaren Begehren. 99 Vgl. hierzu Reynaert (1981), S. 377–381. 100 Reynaert (1981), S. 442 sieht das Begehren und vor allem seine Steigerung in der orewoet als eine Möglichkeit für den Menschen, um seine Grenzen zu erweitern und sich der göttlichen Dynamik hierdurch angleichend nachzubilden: »De theoretische grondslag van dit alles vormt de overtuiging dat de ziel in haar oorsprong aan God gelijk-aardig is […] ent dat zij anderzijds in staat is om door de metafysische ›begherte‹ haar eigen grenzen zû te verwijden en door haar voortdurende zelf-vernieuwing zû het goddelijk dynamisme in zich na te beelden, dar zij godsontvantelijk, ›capax die‹ wordt (›vuur‹, ›storm‹, ›orewoet‹, ›nuweheit‹).« 101 Ende want du coene/ dus coene best ende dus niet ne bughes, soe heetti coenste/ ende soe eest recht dattu mit e vollen kins/. (Vis. XIV, 176–179) [Und weil du, Kühne, derart kühn bist und dich nicht beugst, deshalb heißt du Kühnste, und deshalb ist es recht, weil du mich vollkommen kennst.]

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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positionen der ersten, siebten und vierzehnten Vision weisen zugleich auf die besondere inhaltliche Bedeutung von leidenschaftlichem Verlangen und Liebeswahnsinn hin,102 der unumwunden als schrecklich bezeichnet wird: Dat ic alle dinc in dien troen dore sach/ dat was in gode, al mine werke/ ende minen wille vrileke/ ende fierleke in hem, met al diere oerewoet daer ic was te heme doe verwonnen ende in soe groten gruwele in alle vren alse ic van minnen was/ ende ben alle vren noch/. (Vis. XIV, 52–57) [Dass ich in diesem Thron alle Dinge durchschaute, besagte: (Ich erkannte) alle meine Werke in Gott und meinen Willen frei und stolz in Ihm, auch in all den Zuständen leidenschaftlichen Liebeswahns, in denen ich zu Ihm herübergezogen war in so großem Grausen, wie ich es jederzeit wegen der Liebe war und noch bin.]

Mit derselben Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit signalisiert der Text die ununterbrochene Dauer des leidenschaftlichen Liebeswahns für das Ich, das sein Ausgeliefert-Sein an den unablässig fordernden Gott im nahen Liebesumgang gleichwohl als grauenhaft und schrecklich erlebt. Erneut wird dadurch ein dichter Bezug zu Abgrund und Strudel hergestellt, die Gottes Wesen vor allem in seiner abgründigen, für den Menschen Angst erregenden verschlingenden Kraft veranschaulichen. Ebenso unauslotbar, verzehrend und schrecklich gestaltet sich der Liebeswahnsinn für den Menschen, der dennoch nichts Anderes will als mit Gott in eben dieser extremen Form genussvoll vereinigt zu sein. Daher chiffriert vor allem der Liebeswahnsinn in einer eindrücklichen Weise die Dimensionen des Selbstverlusts, die selbstverständliche Integration der Körperlichkeit und die Stärke eines Extremzustands, denen sich das Ich der Visioenen, welches selbstbewusst auf Ebenbürtigkeit besteht, bereitwillig und kühn aussetzt.

102 Vgl. Ruh, Frauenmystik (1993), S. 193f.: »Hier ist die ekstatische Form der Schauungen Hadewijchs ausdrücklich bezeugt. […] ›ic was… in groter begherten ende orewoete‹ (1f.). Doch hat die Ausssage in den Eckstücken des Visionenbuches, die vorausweisen bzw. zurückblicken, ein besonderes Gewicht: sie gilt für alle.« Der Text selbst verwahrt sich entschieden gegen die Aussage, ein Buch zu sein, vgl. hierzu Vis. XI, 46–49: Al dit worde te lanc/; dit latic bliuen; Want daer soude een groet boec toe gaen/ daerment volcomeleec in volre waerheit al sriuen soude. [All das (zu beschreiben) würde zu lang: Ich lasse es bleiben. Denn es würde ein dickes Buch erfordern, um das alles vollständig und der Wahrheit entsprechend hineinzuschreiben.] Vgl. ebenso die Aussage in Vis. XIV, 110–124, die auf den Auswahlcharakter der einzelnen Visionen verweist, da nicht alle davon aufgeschrieben wurden.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Ebenbürtige Kontamination: Austausch der Liebeskrankheit (minnesiech) zwischen göttlichem und menschlichem Partner Während sich in den Visioenen das Begehren zum Liebeswahnsinn steigert, ist es im Fließenden Licht die Liebeskrankheit,103 zu der das extreme Verlangen führt. Doch wird das Bildfeld von Salbe und Wunde, Krankheit und Arzt vor allem dadurch dynamisisert, dass ein Austausch der Liebeskrankheit zwischen dem göttlichen und menschlichen Partner stattfindet. Nicht nur die Seele ist von einem verzehrenden Verlangen nach Gott gepeinigt, sondern umgekehrt ist Gott zu allen Zeiten voll Begehren, das sich im Text durch eine symmetrische Spiegelung der Schlüsselwörter minnesiech und salbe zeigt. Besonders in diesem Bildfeld ist der Körperbezug selbstverständlich gegeben, denn Liebe, Sehnsucht und Begehren sind eine Krankheit, die ohne Heilung durch die Präsenz und Erfüllung des Geliebten zum Tod führt, sich aber paradoxerweise ebenso durch Gegenwart und Liebkosung des Partners steigert, gemäß dem Prinzip ›je mehr, desto mehr‹. Der selen susser urdrutz klagt der Minne die Not, gejagt und verwundet in ihre Gefangenschaft geraten zu sein. Die Bezüge zu dem bereits bei Hadewijch zitierten Traktat des Richard von St. Viktor sind hier offenkundig, da die verwundete und gefangene Minne die beiden ersten Stufen der violenta caritas darstellen. Eine weitere Steigerung tritt im Bild der Liebeskrankheit auf, das fließende Übergänge zur vierten Stufe aufweist. Das Fließende Licht mischt daher verschiedene, bei Richard klar getrennte Stufen oder Zustände ineinander, was die analoge Verwendung von Liebeswunde und Liebeskrankheit zeigt: Die minne: »Swer got ie fflber sich selben liep gewan, der weis wol, wa er das ingesigel nemen sol: Es lit zwfflschent fflns zwein.« Die sele sprichet: »Swig, liebe, sprich nfflt me! Genigen sie dir, aller jungfrovwen liebeste, von allen creaturen und von mir. Sage minem lieben, das sin bette bereit sie und das ich minnesiech nach im bin.« (S. 26f.; I, 3, 12–18)

Der Selbstverlust ist hier Voraussetzung und Begleiterscheinung für die ersehnte Vereinigung mit dem göttlichen Partner. Gott muss mehr als das eigene Selbst geliebt werden, und so ist das Siegel104 für den Liebesbrief nur dadurch möglich. 103 Vgl. zum Bildkomplex der Liebeskrankheit Egerding (1997b), S. 244–247; zum Hohenliedund Antikenbezug siehe Weiß (2000), S. 218–232. So verweist Weiß auf Hld. 5, 8 quia amore langueo, aber auch auf Sam. 13, 1–22. 104 Vgl. zur Siegelmetaphorik die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, in denen der Körper mit einem blutenden Siegel verglichen wird: Mir waren die nagel ingedruket in mein vleisch alz ein in gesigel in ein wachs (Offb. 59, 12–14). Zugleich aber vermittelt das Kreuz auch das ewige Bild Gottes in die Seele: Alz du din krfflze sigelst in din fleisch, alzo sigel ich in din sele min ewig bilde (Offb. 53, 1–3), d. h. dem Leiden am Kreuz kommt eine zentrale Stellung zu, da es den menschlichen mit dem göttlichen Partner gleichstellt.

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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Ohne die Aufgabe des eigenen Selbst gibt es keine Erfüllung und keine vollgültige Gottesliebe, worauf die Seele die Liebe beschwört, still zu sein. Dann fordert sie die Liebe dazu auf, dem geliebten Gott mitzuteilen, dass sein Bett bereit und sie liebeskrank nach ihm sei – eine erotisch-sexuelle Anspielung auf die Vereinigung zwischen Gott und Mensch im Liebesbett. Krankheit, Begehren, Selbstverlust und Vereinigung sind in dieser Passage eng aufeinander bezogen, so legt das Schmollen der Seele eine gewisse Koketterie nahe, die sich gleichfalls in den erotischen Kontext dieses Bildfeldes fügt. Insgesamt ist die gesamte Passage durch elliptische Aussparungen geprägt, die gleichwohl Aussagen vollziehen. So wird das Verhältnis zwischen Seele und Minne in der Hauptsache durch einen Schweigegestus inszeniert und das Liebesbett bleibt bloße Anspielung. Dazu trägt die durchgängige Verknappung der ganzen Stelle bei. Im folgenden Kapitel rückt das Begehren der Gottheit ins Zentrum, das sich in Bildern der Hitze und des Glühens inszeniert, die nicht nur auf die Intensität des göttlichen Verlangens, sondern auch auf dessen Kraft und edles Material (Wein, Gold) verweisen. Ebenso wird der Selbstverlust mit ins Bild aufgenommen, der sich besonders in der Vermischung von Wasser und Wein zeigt oder in der anschließenden Ermattung der Seele äußert: Swenne die arme sele kumet ze hove, so ist si wise und wol gezogen. So siht si iren got vroelichen an. Eya, wie lieplich wirt si da enpfangen! So swiget si und gert unmesseklich sines lobes. So wiset er ir mit grosser gerunge sin goetlich herze. Das ist gelich dem roten golde, das da brinnet in einem grossen koleffflre. So tuot er si in sin gluegendes herze. Alse sich der hohe ffflrste und die kleine dirne alsust behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nfflt mere moegi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gat zuo noch abe. So sprichet si: »Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.« Dis ist ein hovereise der minnenden selen, die ane got nfflt wesen mag. (S. 26–28; I, 4, 24–4)

Der Schlüsselbegriff der gerunge wird in dieser Passage zwischen den beiden Partnern getauscht: Zuerst ist die liebende Seele das Ziel des Begehrens des göttlichen Gegenübers, nach der Vereinigung aber, die von ihrer Selbstvernichtung und Ermattung begleitet und gefolgt wird, richtet sich ihr Verlangen auf den göttlichen Partner, den sie in einer hymnisch-lyrischen Anrufung als Bräutigam, Begehren, Brunnen und Sonne preist und sich selbst als dessen Spiegel bezeichnet. Am Schluss spiegelt die Seele nicht nur die Göttlichkeit, sondern sogar deren gerunge. Wie in I, 3 sind Selbstverlust der Seele und Verschmelzung mit der Göttlichkeit unauflöslich aufeinander bezogen und untrennbar miteinander verbunden, da ohne ein Aufbrechen und damit Zerstören der Grenzen des Selbst eine Vereinigung mit Gott nicht stattfinden kann. Im Gegensatz zu der Seele, die wie Wasser in Wein aufgelöst wird, bleibt der Wein immer derselbe, da er weder hinzugewinnt noch verliert.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Paradoxerweise sind Begehren und Erfüllung scheinbar austauschbar und bedeuten doch dasselbe; Weiß hat darauf hingewiesen, dass »nicht nur der erfahrbare Mangel, sondern erst recht die Fülle der Liebe den Menschen krank machen kann«.105 So strahlen die Bilder, welche Gottes Verlangen chiffrieren, eine extreme Hitze und Intensität aus, die dadurch noch gesteigert werden, dass der göttliche den menschlichen Partner in sein heißes Herz aufnimmt, das mit rotem, im Kohlenfeuer glühenden Gold verglichen wird. Die Erschöpfung der Seele verweist auf ihren Selbstverlust und auf den Grad der Preisgabe und Gefährdung selbst in der Fülle der Gegenwart Gottes. Wie in I, 21 bedeutet der unmittelbare Genuss Gottes aufgrund seiner verzehrenden Schonungslosigkeit gleichzeitig ein Zugrunde-Gehen. Zugleich zeigt der Austausch der Liebeskrankheit, die sich jetzt auf Gott bezieht, die Ebenbürtigkeit beider Partner, wobei die Bereitschaft der Seele zur völligen Selbstaufgabe eine zentrale Rolle spielt. Die Liebesheilung weist in III, 2 paradoxe Züge auf, da die Heilung des einen Partners immer mit der Verwundung des anderen verbunden ist. Ebenso wie die Liebeskrankheit den göttlichen Partner zu seinem Sterben am Kreuz getrieben hat, muss die Seele im Gegenzug, um seine Liebeskrankheit zu heilen, selbst ihr Innerstes entzwei reißen. Der Text verschärft die zuvor im ersten Buch durch das Liebesbett erotisierte Konstellation deutlich, indem eine wirksame Salbe durch Selbstverletzung gewonnen wird:106 »Herre, du bist ze allen ziten minnesiech na mir, das hast du wol bewiset an dir. Du hast mich geschriben an din buoch der gotheit, du hast mich gemalet an diner moenscheit, du hast mich gegraben an diner siten, an henden und an fuessen. Eya, erlovbe mir, das ich dich salben muesse.« »Ja, wa woeltistu die salben nemmen, herzeliebe?« »Herre, ich wolte miner sele herze inzwoei rissen und woelte dich dar in legen.« »So moehtest du mir niemer so liebe salben gegeben, als das ich ane underlas in diner sele mueste sweben.« »Here, woeltest du mich mit dir ze huse nemen, 105 Vgl. Weiß (2000), S. 229, wo er fortfährt: »Gerade dann wird von der Liebeskrankheit des Menschen gesprochen, wenn er nicht nur Sehnsucht hat, sondern die Gegenwart des Geliebten auch erfährt.« 106 Eine Paradoxie, die in den Offenbarungen der Elsbeth von Oye in intensivierter und radikalisierter Form wieder aufgenommen wird: Din piterkeit ist min senftikeit. Ez sol dir minneklich sin, daz ich dir ingnaturet , daz du mir salben unt heilin macht mine wunde (Offb. 125, 5–8). Der bittere Schmerz der durch das Kreuz zugefügten Wunden heilt paradoxerweise den Schmerz der göttlichen Wunden und wird somit als Salbe verstanden.

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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so woelte ich iemer me din arcedinne wesen.« »Ja, ich wil, iedoch min trfflwe heisset dich beiten, min minne heisset dich arbeiten, min gedult heisset dich swigen, min kumber heisset dich armuot liden, min smahheit heisset dich vertragen, min genuegen heisset dich note clagen, min sig heisset dich an allen tugenden vollevarn, min ende heisset dich viele tragen; des hast du ere, swenne ich dinen grossen last entlade.« (S. 160–162; III, 2, 24–11)

Die Seele nennt verschiedene Medien, mittels derer sie die Beweise von Gottes Liebeskrankheit erhalten hat: eingeschrieben in das Buch der Gottheit, abgebildet in seiner Menschwerdung, eingegraben in seine Seite, Hände und Füße. Mittels der drei Partizipien geschriben – gemalet – gegraben wird die Botschaft der Liebe und des Verlangens von der Ankündigung in der heiligen Schrift über die Mensch- und Bildwerdung Christi immer tiefer in den göttlichen Körper gestanzt. Von der Schrift zum Körper werden die Liebesbeweise zunehmend eindrücklicher und unmittelbarer bis hin zur Kreuzigung.107 Verstärkt wird der Eindruck der Unmittelbarkeit durch die dialogische Inszenierung der gesamten Passage. Körperlichkeit und Literarizität verschränken sich hier in fast untrennbarer Weise: Der Text inszeniert den göttlichen Körper zwar im Medium der Schrift, aber als konkret tastbare Leiblichkeit, die den Text überschreitet. Entscheidend verstärkt und betont werden derartige Tendenzen durch die Vorschläge der Seele, den göttlichen Herrn zu salben, indem sie das Herz ihrer Seele entzwei reißt und ihn dazwischen legt. Die eigene Verwundung bringt Heilung. Die Imitatio Christi wird hier übertragen: Denn ebenso wie der liebeskranke Christus sich selbst bis auf den Tod um der Seele willen verwunden ließ, möchte diese dasselbe im Gegenzug ebenfalls in Form einer Selbstverletzung adäquat erwidern. Hier vermischen sich erotische und gewaltsame Signalsetzungen, die jedoch durch den Wunsch des göttlichen Partners, stattdessen in der Seele zu schweben, wieder abgemildert werden. Überhaupt nimmt der Text die massiv in der Metaphorik entfaltete Körperlichkeit gegen Ende wieder deutlich zurück und entschärft sie, indem die Bitte der Seele, im Haus des Herrn auf ewig seine Ärztin sein zu dürfen – analog zu der Vorstellung des Christus medicus – abgelehnt wird. So kann zwar Gott wie gewünscht ohne Unterbrechung in ihr schweben, doch soll sie im Diesseits in allen Stücken geduldig Leid ertragen und für Gott 107 Vgl. hierzu Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003).

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

nach dem Vorbild Christi tätig sein. Sprengkraft und Eigendynamik der Bilder werden am Ende des Kapitels drastisch reduziert. Im siebten Buch wird die Relation umgekehrt, da nun die liebeskranke Seele der heilenden Salbung durch den göttlichen Partner bedarf, den sie als den einzig helfenden Arzt herbeiruft. In lyrischem sang bittet die minnesieche Seele um Genesung; daher entsprechen die Stellen einander nicht nur aufgrund desselben Themenkomplexes mit vertauschten Rollen, sondern auch wegen der lyrischen Verdichtung und der performativen Inszenierung. Mittels der Schlüsselbegriffe aus Wunde und Salbe, Krankheit und Heilung wird die Umkehrung der minnesiechen Partner und damit deren Ebenbürtigkeit in Szene gesetzt; doch verzichtet die Passage auf eine dialogische Vergegenwärtigung, sondern entwirft stattdessen einen minnebrief (V. 4) oder eine miner gerunge botschaft (V. 14), was das Begehren in der Chiffre von Krankheit und Heilung, Verwundung und Salbung auf eine einzige Sprecherposition festlegt. Gleichzeitig wird dadurch ein Bezug zum Schlüsselkapitel I, 44 hergestellt, das sich ebenfalls als ein Brief an den Gottesfreund versteht. Was sich in III, 2 als ein dynamisches Wechselspiel der beiden Partner darstellte, wird nun ausschließlich aus der Perspektive der Seele vermittelt: Helig engel Gabriel, gedenk min. Miner gerunge botschaft bevilhe ich dir : Sage minem lieben herren Jhesu Christo, wie minnensiech ich sie nach ime! Sol ich iemer me genesen, so muos er selber min arzat wesen. Du maht ime in trfflwen sagen, die wunden, die er mir selber hat gesclagen, die mag ich nit langer ungesalbet tragen und ungebunden. Er hat mir gewundet untz in den tod. Lat er mich nu ungesalbet ligen, so mag ich niemer genesen. Weren alle berge ein wuntsalbe und allffl wasser ein arzatin trank, und alle bovme mit bluomen ein heilsam wundenbant, da mitte moehte ich niemer genesen; er muos sich selber in miner selen wunden legen. Helig engel Gabriel, gedenk min. Dise minnebotschaft bevilhe ich dir. Swer got liep haben welle, dirre minnebrief erweket sine sinne, ob er got volgen welle. (S. 646–648; VII, 58, 13–5)

»Liebeswahnsinn« (oerewoet) und »Liebeskrankheit« (minnesiech)

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Die Liebeskrankheit verbindet mit sich mit der Liebeswunde,108 so dass der Geliebte zugleich Salbe und Arzt sein muss. Die Notwendigkeit der Heilung wird durch das dreimalige Wiederholen von (n)iemer (me) genesen in 17 Versen betont, die einen Bezug zu der vierten, unstillbaren Stufe des liebenden Begehrens bei Richard von St. Viktor herstellen und fast den Charakter einer eindringlichen Beschwörung annehmen. Mindestens ebenso häufig treten die Substantiv-, Verb- oder Adverbformen von Wunde (5x)109 und Salbe (3x)110 auf, was die Intensität des Verlangens erhöht. Nur der höchste Engel wird damit beauftragt, den minnebrief zu überbringen, was dessen besonderen Status kenntlich macht. Die Seele verlangt von Christus, jetzt ihr Arzt zu sein, um die Wunden in der Seele, die er selbst geschlagen hat, zu salben, indem er sich selbst hineinlegt, und lehnt alle anderen Alternativen ab. An dieser Stelle wird die Salbe zutiefst körperlich, denn nur durch den Vollkontakt mit den Wunden kann Heilung erfolgen. Einzig der, der die tödliche Wunde schlug, kann sie heilen.111 In dieser Textpassage werden Verletzung und Salbung, Gewalt und Erotik dicht miteinander verflochten und zeichnen sich durch einen stark physischen Bezug aus, ohne sich darauf eingrenzen zu lassen. Das Begehren und seine Stillung werden durch das Bild der Wunde und Salbe greif- und sogar berührbar gemacht. Indem der göttliche und menschliche Partner einander wechselseitig Salbe und Arzt, Krankheit und Wunde sind, wird die Reziprozität und Ebenbürtigkeit der beiden inszeniert. Ambivalent konnotiert ist die Heilung durch ihren erotisch-gewaltsamen Unterton, der zum einen durch die von der Seele angebotene Selbstverletzung (III, 2) und zum anderen durch den von ihr eingeforderten 108 Die Liebesmetaphorik in Hartmanns Iwein weist Parallelen durch das konkretsierte Bild der tödlichen Liebeswunde auf, die nur durch Laudine, die sie geschlagen hat, geheilt werden kann (vgl. Hartmann von Aue, Iwein [2001], V. 1535–1592), und durch die Liebeskrankheit, in welche Iwein dadurch verfällt. Nach dem Bruch mit Laudine wird die Verletzung und Gefährdung durch die Liebe im Wahnsinn gesteigert, der Iwein s„n selbes gast sein lässt und damit das entscheidende Merkmal des totalen Selbstverlusts bestätigt. Geheilt wird Iwein von seinem Wahnsinn ebenfalls durch Salbung (V. 3221 – V. 3540). 109 So wird Wunde viermal als Substantiv und einmal als Partizip verwendet, wobei zwei der Substantive Heilmittel bezeichnen: wunden (V. 20), gewundet (V. 22), wuntsalbe (V. 25), wundenbant (V. 27), wunden (V. 29). 110 Salbe wird zweimal als verneintes Partizip und einmal als Substantiv verwendet, ungesalbet (V. 21 und 23) und wuntsalbe (V. 25). 111 Im Tristan hat die Liebeswunde zweimal einen entscheidenen Einfluss auf die Handlung und vor allem das Verhältnis zwischen Tristan und Isolde: Einmal, als Tristan sich Isolde aufgrund der im Kampf erlittenen Verwundung zu erkennen geben muss, und später, als Tristan sich aufgrund einer bewusst erzeugten Fehlinterpretation durch Isolde Weißhand umbringt, da er glaubt, Isolde sei nicht an Bord und damit jede Heilung seiner Wunde unmöglich. In beiden Fällen verweist die körperliche Wunde durch Gift oder Kampf auf die Wunde der Liebe, welche nur durch die heilkundige, aber vor allem mit ihm unauflöslich verbundene, ›richtige‹ Isolde geheilt werden kann.

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

direkten Wundkontakt (VII, 58) entsteht. Dadurch wird das Bildfeld des Begehrens in seinem rückhaltlosen Anspruch an den Anderen und in der existentiellen Gefährung des eigenen Selbst, aber auch in seiner tiefen Durchdrungenheit von Erfüllung und Genuss besonders deutlich. Zusammengefügt ergeben sie jene zitternde Ganzheit von Körper und Seele, die im Zustand der Auflösung der Begegnung mit dem jeweiligen Partner entgegenfiebern und sie zugleich schon in der Erwartung vollziehen.

II.2.5 Zusammenfassung Die einzelnen Bilder dynamisieren das Genießen Gottes, das zusammen mit den expliziten Bezeichnungen die Texte zunehmend durchzieht und durchdringt. Aufgrund ihres Bildstatus sind sie in der Lage, paradoxe Verbindungen wie Versinnlichung und Entsinnlichung miteinander zu verdichten und weitere semantische Facetten anzulagern, die sich für explizite Benennungsversuche als schwer greifbar erweisen können.112 Da sie alle der Sphäre der Körperlichkeit entnommen sind oder zumindest einen starken Bezug zu dieser ausweisen, versehen sie das Genießen mit aisthetischen Komponenten, die sich in Zuständen, Handlungen oder Vorgängen sowie Erkenntnissen und Empfindungen äußern und hiermit eine breite Palette an Möglichkeiten abdecken. Das Genießen wird hierdurch konkretisiert, ohne deshalb seinen elitären Status einzubüßen, da die Texte ein reflektiertes Problembewusstsein für die Paradoxie einer Versprachlichung des Unsagbaren zeigen. Damit verbindet sich eine differenzierte Einstellung für die bei der Versprachlichung verwendeten Mittel, was besonders anhand der Selbstbeschreibungen deutlich wird, welche das Fließende Licht, die Visioenen und der Mirouer für ihr Verfahren geben. Implizit werden solche Entsinnlichungstendenzen im Mirouer durch die Trunkenheit der Seele durch etwas, wovon sie nie trank, deutlich, oder im sechsten Buch des Fließenden Lichts, demzufolge die allegorische Erzählung von dem armen Mädchen, das aus den Wunden des Lammes saugte, geistlich und nicht vleischlich zu verstehen sei.113 Die Texte gestalten Verschmelzungsmomente ebenso wie Spannungsverhältnisse, die sich zwischen einem synästhetischen, mit versinnlichenden Strategien inszenierten Genießen Gottes und seinem dennoch den Sinnen enthobenen Charakter ergeben. Das 112 Eine andere, in der Arbeit aufgrund ihrer Ausrichtung nicht thematisierte Frage ist die nach dem strategischen Gewinn eines solchen Sprechens in Bildern. Denn eventuell kann es zugleich als politische Strategie begriffen werden, besonders missverständliche Aussagen in Chiffren zu verschlüsseln, um dadurch den hermetischen Charakter der Texte zu steigern und dem potentiellen Häresieverdacht zu entkommen. 113 Vgl. FL VI, 36, 3–5.

Zusammenfassung

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macht es für die Interpretation so schwierig, klare Schlussfolgerungen zu ziehen, welche die aufgezeigten Überlappungszonen zu scharf voneinander abgrenzen können. Dieser Schmelzcharakter ist besonders in dem häufigen Auflösen oder Unterlaufen der Grenzen zwischen Allegorie und Bild festzustellen, die beide in ihrem Mischzustand oft im narrativ-poetischen Kontext entfaltet und aus diesem erneut erschlossen werden müssen. Alle drei Unterkapitel des zu Anfang des zweiten Teils präsentierten Methodenkapitels stehen nicht in rivalisierendem, sondern in komplementärem Verhältnis zueinander, da sie alle jeweils einen anderen methodischen Aspekt aufzeigen, der für die Bildbetrachtung wichtig und in die einzelne Analysen eingeflossen ist. Die einzelnen Bilder werden daher aus ihrem poetischen Kontext erschlossen, der ihre Semantisierung entscheidend beeinflusst; gleichzeitig aber wird das Reflektionsbewusstsein der Texte über ihre eigenen sprachlichen Möglichkeiten – ob authentisch, ob fingiert, spielt keine Rolle – mitgedacht. In fast jedes Bild ist zugleich der Status der Bildlosigkeit eingetragen, so wie in jede positive Gottesaussage eine negative, so dass sich Aussagen und deren gleichzeitige Verweigerung paradox und zugleich hartnäckig miteinander vermischen. Ein weiterer für die Bildanalyse gewichtiger Punkt ist die in alle Bilder eingesenkte oder eingetragene Körperlichkeit, die in Anlehnung an moderne Metapherntheorien (Weinrich/Lakoff/Kohl) physische Strukturen für abstrakte Begriffe aufweist, so dass sie vom jeweiligen Rezipienten ganzheitlich lesbar sind. Indem Körper, Sinne, Vorstellungskraft und geistiges Vermögen interagieren, ergibt sich ein komplexes Zusammenspiel, was den Menschen bei der Bilderschließung in seiner Gesamtheit in deren Entschlüsselung einbezieht und dadurch einen zentralen Aspekt, nämlich den des Verschmelzens in der Einheit des Genießens, performativ erfahrbar macht. Sämtliche Bilder sind auch physisch ›decodierbar‹ oder ›lesbar‹, sowohl die Trunkenheit als Zustand zwischen Rausch und Verlorenheit als auch die Sättigung durch das Zedernmark, die gefühlshafte Berührung durch das Innere der Rose, der Sturz in den Strudel oder die Vergreisung nach dem Fall in den Abgrund – oder vor allem die Zustände der Krankheit und des Wahnsinns, die wie deren ›Vorläufer‹ Trunkenheit den Menschen besonders vehement in seiner Gesamtheit ergreifen und durchdringen. Trinken und Essen, Jugend und Altern, Stürzen und Empor-Gezogen-Werden, Gesundheit und Krankheit, Klarheit und Wahnsinn gehören zu anthropologischen Konstanten, welche alle Bilder im Umkreis des Genießens produktiv und innovativ anreichern. Trotz ihres komplexen und elitären Charakters macht gerade ihre Anbindung an die Körperlichkeit sie allgemein vorstellbar und zugänglich, da sie menschliche Grunderfahrungen vielfältig auf- und wieder entladen, so dass sie zugleich flexibel und eingängig bleiben. Gerade diese

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Implizite Semantik (1) – Bilder des Genießens

Einzelbilder aus dem Umkreis des Genießens zeigen durch ihren starken Körperbezug die sinnliche Schraffierung des Genießens auf, ohne dass sich dieses in seiner Inszenierung erschöpft, sondern stattdessen eine Entkoppelung von Körper und Sinnen variiert. Insgesamt ist die bildliche Semantik des Genießens nicht isoliert zu begreifen, sondern eher mit der Metapher eines Fruchtkerns vergleichbar, an den sich verschiedene Schichten anlagern. Somit gewinnt diese Semantik ihre vielfältige Dynamik.

II.3 Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Während der vorige Teil die Bedeutungen des Genießens anhand komplexer Einzelbilder entfaltet hat, wird es in diesem Teil um deren Ausweitung zu ganzen Bildfeldern oder -Ketten gehen, um die implizite Semantik zu vervollständigen. Eine solche Ausdehnung einzelner Bilder hat eine starke Dynamik zur Folge, welche die Bilder auch performativ auflädt. Im Folgenden werden nun die performativen Dimensionen der Texte anhand der von Fischer-Lichte übernommenen, entsprechend modifizierten Kategorien von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit aufgezeigt. Diese finden ihren komplexen Ausdruck in mystischen Landschaften mit unterschiedlichen Höhen und Tiefen, in der Spannung zwischen Gegenwärtigkeit und Ewigkeit des Genießens und in der Abendmahlspraxis, in der Gott sich durch geschmeckte Erkenntnis vermittelt. Das fällt je nach Text ganz unterschiedlich aus; was der eine punktuell, aber pointiert einblendet, inszeniert der andere weiträumig und großflächig. Ein besonders komplexes Bedeutungsfeld des Genießens erschließt sich im performativen (Mit- und Nach-)Vollzug, der entscheidend durch solche Bildketten vermittelt wird. Denn dadurch werden die einzelnen Bezeichnungen und/ oder Bilder beweglich. Sie können als konkrete Handlungsanweisung aufgefasst werden, die sogar Dimensionen von Regieanweisungen für die darin angesprochene Zuhörer- und Leserschaft selbstverständlich integriert. Das liegt in der Thematik des Gottesgenusses begründet, der nicht einfach beschrieben werden konnte, sondern den Texten zufolge erfahren werden musste. Um solch einem Anspruch gerecht zu werden, bedarf es einer hochgradig artifiziellen Inszenierung und entsprechenden Disposition, so dass die Unterscheidung zwischen Künstlichkeit und Authentizität hierbei nicht greift, wie von Largier zutreffend herausgestellt wurde.1 Die aisthetische Inszenierung stellt einen unabdingbaren Bestandteil der hier entwickelten Semantik des Genießens dar, verbunden mit der Bereitschaft, sich hierfür auf die Inszenierungsformen der Texte einzulassen. 1 Vgl. Largier, Kunst des Begehrens (2007).

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Daher möchte ich die performative Struktur der drei Texte, die jeweils ganz spezifisch ausfällt, darstellen: Das Fließende Licht entfaltet das Genießen im Spektrum zwischen Körperlichkeit und Literarizität, während die Visioenen es in dichter Verschränkung von Bildlichkeit und Bezeichnungen zeigen. Der Mirouer schließlich oszilliert zwischen Lektüre- und Vortragsanweisungen. Zwar lässt sich jeder Punkt partiell in den jeweils anderen beiden Texten nachweisen; aufgrund der voneinander abweichenden Gewichtung wurden aber nur vorherrschende Tendenzen ausgewählt. Zugleich vibriert die performative Inszenierung im Fließenden Licht zwischen Gesten des Erscheinens und Verschwindens; in den Visioenen vollzieht sich die performative Vervollkommnung des Ichs zwischen Linearität und Kontrapunktik und im Mirouer geschieht die performative Vernichtung des Selbst bzw. der Zuhörerschaft zwischen Spiralenform und Integrationsradius. Somit liegt in allen Texten eine starke Dynamik vor, die das Genießen vielfältig und beweglich in Szene setzt. Auf unterschiedliche Weise knüpft jeder Text an vorher Gesagtes an, wobei er gleichzeitig weitere Themen integriert, während der Genuss für längere oder weitaus kürzere Zeit von der Textoberfläche verschwinden kann, wobei alternativ, ergänzend und verstärkend, die Ausweitung der Bildlichkeit den Genuss auf diversen sinnlichen Kanälen dem Rezipienten zugänglich macht.

Performativität des »Erscheinens« und Verschwindens zwischen Körper und Schrift im Fließenden Licht Performative Inszenierungen für das Fließende Licht aufzuzeigen, die einen verbindlichen Charakter beanspruchen dürfen, wird aufgrund der Fülle und Vielfalt dieses Textes nicht möglich sein, der sich, je nach dem gewählten Themenausschnitt, flexibel in unterschiedlichen Spektren anordnet. Daher sind die folgenden Bemerkungen in erster Linie auf Genuss und Genießen zu beziehen, wobei sich Analogien zu anderen Untersuchungsfeldern ergeben können. Eine besondere Rolle spielte im Kontext dieser Arbeit wiederholt die Verbindung aus Literarizität und Körperlichkeit, die das Fließende Licht stellenweise geradezu zu durchtränken scheint. Zwischen Körper und Schrift entfaltet sich die Dynamik eines Textes, der sich als ein intermedialer Grenzgänger in Szene setzt und vorführt, wie er die beiden wechselweise ineinander überführt.2 Durch seine enge Anknüpfung an verschiedene Sinneswahrnehmungen – Sehen, Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken – stellt der Text ein dichtes Gewebe aus Körper und Schrift her, besonders eindrücklich in I, 44, dem Minneweg. Zugleich gelingt es dem Text besonders in den ersten Büchern mittels solcher 2 Kiening, Zwischen Körper und Schrift (2003).

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textuell und synästhetisch inszenierter Sinneswahrnehmungen, das Genießen »erscheinen« zu lassen;3 wobei Ästhetik hierbei in ursprünglich aisthetischem Sinn verstanden wird. Seel zufolge ist das ästhetische Erscheinen mit den Sinneswahrnehmungen unauflöslich verbunden, doch unterliegen diese einer sie auszeichnenden »besonderen Polung«,4 das heißt einer Akzentuierung, die sie gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen hervorhebt. Sie besteht zum einen in den einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen, zum anderen aber in deren Zusammenspiel. Daher räumt Seel der Synästhesie und der Imagination in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle ein. Denn an der Verschmelzung der verschiedenen Wahrnehmungen, welche für das Fließende Licht so charakteristisch scheint, ist der Körper maßgeblich beteiligt, der als eine Art ›synästhetischer Resonanzraum‹ fungiert. Denn der Körper folgt der Vorstellung, welche durch einen einzigen Sinnesreiz, z. B. einen Klang oder einen Geruch, geweckt werden kann, und der praktisch alle anderen Sinne affiziert. Diese »besondere Polung« lässt sich im Zusammenhang mit dem Genießen gehäuft an den Stellen zur gebruchunge aus den ersten beiden Büchern ausmachen, wobei sie später noch vereinzelt auftritt. Generell ließen sich die in den ersten Büchern vorherrschenden Versinnlichungen, Rhythmisierungen und Vergegenwärtigungen, z. B. dialogische Strukturen oder visuelle Signale wie Farben, als synästhetische Verschmelzungen begreifen, die das ›Hier, Jetzt, Alles‹ des Genießens in Szene setzen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist darüber hinaus Seels Hinweis auf die Imaginationskraft, die alle anderen Sinne affizieren kann, da man praktisch mit dem ganzen Körper liest. Zusammengenommen schaffen sie ein farbiges Szenario des Genießens auf allen Ebenen. Ab dem fünften Buch werden solche synästhetischen Verschmelzungen seltener und in einen lehrhaften Stil eingebunden. Trotzdem bleibt der Text an zahlreichen Stellen durch seinen Schmelzgestus »zwischen Körper und Schrift« gekennzeichnet, der immer wieder durchbricht und eine predigtähnliche Passage sinnlich unterläuft. Die sich aus der synästhetischen Sinnlichkeit für das Genießen Gottes ergebende Paradoxie besteht darin, dass es einerseits explizit außerhalb der menschlichen Sinnen stattfindet, andererseits jedoch mittels sinnlicher Strategien im Text dargeboten wird. Es stellt selbst ein Grenzphänomen dar, das sich zwischen Synästhesien und Sinnesenthobenheit, zwischen Erscheinen und Entzug ansiedelt. Seel fasst das »Erscheinen« selbst als eine »Entfaltung überschreitender Energien« auf, die sich für das Genießen Gottes in den zu Anfang bei Bataille und Baudrillard aufgezeigten Aspekten bündeln lassen. Da jedoch die gebruchunge ab dem dritten bis einschließlich sechsten Buch zunehmend 3 Seel (2003). 4 Ebd., S. 50.

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von der Verbform gebruchen absorbiert wird, bevor sie im siebten Buch wieder ein deutliches Profil gewinnt, lässt sich Seels Theorie des Erscheinens keineswegs lückenlos auf das Fließende Licht beziehen, sondern vor allem an prägnanten Einzelstellen festmachen. Jedoch hebt Seel in seiner ästhetischen Theorie des »Erscheinens« die Bedeutung hervor, die das Verschwinden in diesem Zusammenhang einnimmt, das er als »eine Quelle des Erscheinens« bezeichnet.5 Hierbei bezieht er sich zwar auf den Kontext der Kunst, jedoch sind diese Überlegungen besonders geeignet, um eine Eigenart des Genießens Gottes hervorzuheben: Zum einen die mehrfache Betonung der Unsagbarkeit und Unaussprechlichkeit des Genießens in den Texten, die dessen Vollzug als markante Leerstelle inszenieren, die nur der Seele und ihrem göttlichen Geliebten bekannt ist. Zum anderen aber verschwindet das Genießen tatsächlich performativ über mehrere Bücher und blitzt nur noch selten in seiner ursprünglichen, überwältigenden und verzehrenden Form aus den ersten beiden Büchern auf. Erst im siebten Buch »erscheint« es wieder ; signifikanterweise in der Substantivform der ersten beiden Bücher. Das performative Potential des »Erscheinens« wird im Zusammenhang seines wechselhaften Vollzugs besonders sichtbar. Im Fließenden Licht zeigt er sich in zwei entscheidenden Inszenierungs-Gesten: Zum einen als synästhetischer Vollzug und zum anderen in der paradoxen Form des Entzugs. Die Doppelbewegung aus »Erscheinen« und Verschwinden vermag gerade den Entzug als ein pointiertes Mittel des »Erscheinens« einzusetzen, um bestimmte Aspekte des Genießens hervorzuheben, welche in der gebruchunge nicht auftreten, wohl aber im gebruchen vorhanden sind. Gleichzeitig stellt das dynamische Vibrieren zwischen Körper und Schrift das Potential für den Text bereit, den Rezipienten in seiner Gesamtheit zu affizieren und selbst feinste Nuancen des Genießens zu differenzieren. Literarisierung und Körperlichkeit treten im Verlauf des Fließenden Lichts in unterschiedlicher Intensität und Gewichtigkeit auf; besonders eindrücklich in den ersten vier Büchern, auch sind sie im siebten Buch wieder greifbar.

Performativität der Vervollkommnung: Lineare Struktur und kontrapunktische Technik in den Visioenen Die Visioenen sind zum einen durch eine lineare Struktur gekennzeichnet, zum anderen werden sie durch eine kontrapunktische Technik bestimmt. Insgesamt ist der kunstvolle Kompositionscharakter insbesondere in diesem Text auffallend, denn die vierzehn Visionen sind in bewusster Folge aufeinander abge5 Ebd., S. 10.

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stimmt, wobei wie bei einem lyrischen Prosatext jedes Wort abgewogen zu sein scheint. Die Aufstiegsbewegung des Ichs wird performativ in den einzelnen Visionen mit- und nachvollzogen, die den Reifungsprozess schildern und inszenieren. Jede Vision zeigt das Ich auf einem neuen Grad der Vervollkommnung, obgleich durch dessen vorherige göttliche Bestimmung das Gelingen dieses Weges von Anfang an feststeht. Dadurch wird sowohl die unerreichbare Vollkommenheit und einzigartige Außergewöhnlichkeit des Ichs der Visioenen dargestellt als auch ein facettenreiches Angebot zum Mit- und Nachvollzug an die Rezipienten unterbreitet. Ihre enge Verdichtung von Bezeichnungen und Bildlichkeit, die sich gegenseitig verstärken, ist eines der Hauptmerkmale der Visioenen. Dadurch gelingt es diesem relativ schmalen Text, seine Intensität ebenso zu steigern wie seine Eindrücklichkeit. Diese Kombination aus Bezeichnung und Bild spielt eine wichtige Rolle bei der Anwendung der kontrapunktischen Technik, da Bildlichkeit wirkungsvoller und unmittelbarer eingesetzt werden kann. Außerdem lässt sie sich leichter abwandeln und vielseitig verknüpfen. In Verbindung mit der linearen Struktur der Visioenen, die sozusagen den ›roten Faden‹ gewährleisten und eine grundsätzliche Orientierung bieten, wird damit zugleich eine Möglichkeit zur Variation/Innovation und zur Stabilisierung geschaffen. Neue Aspekte können integriert werden, ohne die bestehenden Elemente aufzugeben. Gleichzeitig bietet der Text für die Rezeption verschiedene Alternativen: Er kann in Ausschnitten oder als Ganzes vorgetragen oder gelesen werden. Je nach Visionszahl weiß man ungefähr, wie auf einer imaginären Karte, auf welcher Stufe der Vervollkommnung sich das Ich befindet. Der Aufbau des Textes lässt sich durch seine teilweise symmetrische Zahlensymbolik klar gliedern: Die erste Vision als Exposition, dann bis einschließlich der sechsten Vision Aufstieg durch Lieben und Leiden bis hin zum Schmecken aller Tode,6 die siebte Vision als Wendepunkt im begehrenden Liebeswahnsinn, dann Vervollkommnung über Topographie (Berg, Stadt, Abgrund, Strudel) und Gemeinschaft, die dreizehnte Vision schildert erneut den verlangenden Liebeswahnsinn und die endlose Fülle des Genießens, im Anschluss dann die Liste der Vollkommenen.7 So wird in der ersten Vision das Panorama des Genießens anhand der Baumgartenallegorie exemplarisch entfaltet, was die auffallende Länge dieser Vision erklären könnte. Sie bündelt alle in diesem Zusammenhang zentralen Themen, wie die Verbindungen von Genuss und Einheit, Genuss und Ewigkeit, Genuss und Schmerz, Genuss und Begehren, Genuss und Entbehren, Genuss 6 Vgl. hierzu Vis. VI, 102f. 7 Das betrifft vor allem die Themenfelder, die direkt im Umkreis des Genießens angesiedelt sind, jedoch so zentral für die Visioenen sind, dass sich zahlreiche Aspekte, wie zum Beispiel Einheit, Exklusivität, Heiligkeit, Leiden, Nachfolge Christi, Vollkommenheit, darin bündeln.

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und Innigkeit. Zugleich treten Bildfelder des Genießens auf wie Genuss und Abgrund, Genuss und Strudel, Genuss und Rose, Genuss und Sturm. Gleichzeitig wird das Genießen hierarchisch codiert, wenn es als das Innerste (Blatt der Rose) oder das Höchste (Blatt des Baumes) bezeichnet wird. Farbtöne wie Gold (Scheibe/Herzblatt) und Schwarz (Strudel/Abgrund) werden als visuelle Präsenzeffekte eingesetzt und veranschaulichen die extremen Doppelungen, durch die nicht nur das Genießen Gottes gekennzeichnet ist, sondern die auch das Wesen Gottes bestimmen. In der siebten Vision verstärkt sich das Begehren (begherte) nach dem Genießen Gottes weiter bis zum Liebeswahnsinn (orewoede) in der vierzehnten Vision. Sie stellt einen Höhe- und Wendepunkt in dieser linearen Aufstiegsbewegung dar, denn aufgrund seines umfassenden Begehrens und Verlangens nach der Einheit im Genießen werden Körper und Seele des Ichs in Mitleidenschaft gezogen. Damit stößt das Ich an die Grenzen seiner physischen und psychischen Möglichkeiten vor, was mit einer Intensivierung und Anreicherung des Genießens belohnt wird. Ab diesem Zeitpunkt wird das Genießen in seinen Dimensionen von Gegenwärtigkeit und Ewigkeit, extremer Höhe und extremer Tiefe detaillierter ausgestaltet, so in der achten Vision durch den Berggipfel des Genießens, der das Antlitz Gottes trägt. In der zehnten, elften und dreizehnten Vision wird das Genießen in seiner abgründigen Tiefe präsentiert, die durch den schwarzen Strudel/Abgrund verbildlicht sind. Abschließend in der dreizehnten Vision wird das Ich als das Mächtige und Vollkommene gefeiert, das mehr an Leiden, Begehren, Entbehren als alle anderen erduldet habe, und in die Gemeinschaft der 29 Vollkommenen aufgenommen. Diese Aufnahme wird bereits in der goldenen Stadt und der geistlichen Hochzeit (brulocht) in der zehnten und zwölften Vision vollzogen und in der dreizehnten Vision endgültig vervollständigt. Dem Text gelingt es, die exklusive Gemeinschaft durch direkte Ansprachen, explizite Listen, dezidierte Kriterien und genaue Zahlenangaben zu schaffen und diese übergreifend anzulegen. Die Aufnahme in die Gemeinschaft der 29 Vollkommenen markiert eine letzte Steigerung für das Ich, das bereits von Anfang an als vollkommen und auserwählt bezeichnet wurde.8 In dieser Gemeinschaft nimmt es einen herausgehobenen Platz ein, der entscheidend durch die Ausprägungen des Genießens Gottes in Entbehren, Begehren und Schmerz begründet wird und als Vorbild und Leitfigur für die Rezipienten fungieren kann.9

8 Vgl. Warnar (1998). 9 Die an den Visionenzyklus angefügte Liste der Vollkommenen, welche an letzter Stelle steht, hat wiederholte Diskussionen ausgelöst. Ist sie nur als Appendix oder als Herzstück der Visioenen zu betrachten? Nach welchen Kriterien diese Gruppe zusammengestellt wurde, lässt sich nur anhand der letzten Visionen, die textuelle Gemeinschaften stiften, vermuten. So ist

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Mittels der kontrapunktischen, aus der Verschränkung von Bildlichkeit und Bezeichnungen kombinierten Technik ist der Text in der Lage, auf relativ engem Raum eine Fülle von Themen abzuhandeln und diese immer wieder einzublenden und, einem Kristallwürfel vergleichbar, durch Anlagerung von weiteren Kristallen anzureichern. Dadurch erfüllt(e) er mnemotechnische Funktionen für die Rezipienten, die sich durch diese Kombination aus Wiederholung und Ergänzung einschlägige Bestandteile des Genießens einprägen konnten. Aufgrund der kontrapunktischen, gezielt an Schlüsselstellen eingesetzten Technik ist es in diesem Visionenzyklus möglich, das Genießen mit widersprüchlichen Facetten auszustatten, wie zum Beispiel dem Extrem einer Höhe und dem Extrem einer Tiefe, die trotzdem eine paradoxe Einheit bilden. Als hochgradig komponierte und verdichtete lyrische Prosa sind die Visioenen imstande, eigene Semantisierungen des Genießens vorzunehmen und diese in einer komplexen und flexiblen Kette der Leser- und/oder Zuhörerschaft zu präsentieren. Im Zusammenhang mit seinem fortschreitenden Genießen und damit Erkennen Gottes wird die Rolle des Ichs als lehrend und lernend, exklusiv und perfekt ausgestaltet. Gleichzeitig kann der Text seinem linearen Verlauf ohne Unterbrechung folgen, den er sowohl inhaltlich thematisiert als auch performativ an den einzelnen Visionen vollzieht. Für die elitäre Gruppe entsprechend disponierter Rezipienten konnte er wohl als Regieanweisungen für die eigene Vervollkommnung im Genuss und der Erkenntnis Gottes durch Leiden und Entbehren dienen. Der Weg zur Vollkommenheit wird markiert von Bildern, die zugleich als Chiffren des Wesens Gottes und damit als die fortschreitende Gotteserkenntnis des Ichs zu begreifen sind, das sich dadurch in seiner Perfektion inszeniert. Man kann daher eine Doppelbewegung feststellen, die in der Vervollkommnung des Ichs auf der einen und in der Inszenierung eben dieser fortschreitenden Perfektion besteht. Gleichzeitig sind diese Bilder mit anderen Fäden verflochten, welche die enorme Dichte der Textur in den Visioenen erzeugen.

Performative Vernichtungen des Selbst: Spiralenstruktur und Integrationsradius im Mirouer der Marguerite Porete Der Mirouer des simples Ames inszeniert die performative Vernichtung des Selbst, die sich auf sieben Stufen oder Graden vollzieht, mittels einer ausgefeilten Spiralentechnik.10 Diese textuelle Spirale ist sehr flexibel einsetzbar ; so kann sie ein maßgebliches Merkmal der 29 Vollkommenen aus der dreizehnten Vision ihr Genießen Gottes im Lieben, im Leiden und im Misstrauen, in der Höhe, in der Mitte und in der Tiefe. 10 Vgl. Muraro (2004), bes. S. 19.

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sich höher und niedriger schrauben, was zur Folge hat, dass der Text sich sowohl auf einen bestimmten Aspekt hin verengen als auch erweitern kann. Die sieben Grade der Vernichtung, deren verschiedene Facetten immer wieder ein- und ausgeblendet werden, bilden einen zentralen Bestandteil der Lehre des Mirouer. Anstatt die Selbstvernichtung lediglich zu beschreiben, entwickelt der Text Strategien, um diese aufzuführen und gleichzeitig seine Zuhörer- und/oder Leserschaft zu integrieren. Dadurch ist es für die Rezipienten möglich, in der Teilhabe an dem Text die einzelnen Stufen an sich selbst zu vollziehen. Zu solchen Strategien zählen die Wiederholung bestimmter Schlüsselsätze und Schlüsselwörter, die einen zentralen Bestandteil der umfassenden Inszenierung der Vernichtung des Selbst bilden. In diesem Zusammenhang scheint die fehlende systematische Chronologie des Mirouer nur konsequent; erst in Mirouer 118 nennt und beschreibt der Text alle Stufen im Gesamten, während vorher jeweils einzelne Aspekte mehrmals im Mittelpunkt stehen. Die Wiederholung einschlägiger Schlüsselsätze oder Satzteile verleiht einem jeden der mehrfach genannten Aspekte eine performative Kraft; denn hierdurch gewinnen die einzelnen Ausdrücke eine Art Plastik, die zum einen auf ihrem Klang, zum anderen auf ihrer winzigen Variation basiert. Anstatt reine Informationen zu kommunizieren, liegt der semantische Gehalt mit in jenem aisthetischem Überschuss begründet, der erst durch die Wiederholung in »Erscheinung« tritt. Doch ist das Verhältnis von Genuss und Vernichtung im Mirouer anders und verhaltener angelegt als in den anderen beiden Texten die von Genuss und Schmerz, Genuss und Entbehrung, Genuss und Begehren. Dazu trägt die Textform als Lehrspiegel bei, die nicht zu der Bekenntnisliteratur zählt. Der Genuss nimmt deutlich weniger Raum in diesem Text ein als bei den anderen beiden, die Bemerkungen hierzu sind spärlich. Während im Fließenden Licht und in den Visioenen mittels Bezeichnungen und Bildern eine enge, dynamische, geradezu organische Verbindung aufgebaut wird, nähern sich Genuss und Vernichtung im Mirouer offenbar metaphorisch im Bild der Trunkenheit und synästhetisch in der Süße der Lust auf der vierten Stufe an. Explizit auf der Wortebene jedoch bleibt die fruiction für jene siebte Stufe reserviert, die man erst nach dem Tod erlangt, wenn man in die Ewigkeit aufgenommen wird. Eine Ausnahme hierzu bilden Mirouer 115 und 138, die aus dem Sieben-Stufen-Schema herausfallen und daher neue Akzente des Genießens durchspielen. Das Verhältnis von Genuss und Vernichtung im Mirouer ist eng aufeinander bezogen, denn ohne Vernichtung kann kein Genuss stattfinden. Die Seele muss völlig vernichtet und gelassen sein, um so tief in das göttliche Wesen einzusinken und gleichzeitig auf eine so hohe Stufe aufzusteigen, dass Genuss Gottes möglich wird. Daher kommt der Inszenierung der Vernichtung als Voraussetzung und Begleiterscheinung des Genießens ein solcher Stellenwert zu, der vom Text stark hervorgehoben wird, indem dieser die Vernichtung in verschiedenen Aspekten

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umkreist. So benutzt er die Doppelung von Präpositionen wie avec moy sans moy, die immer wieder abgewandelt und aufgegriffen werden, um das Selbst auch sprachlich deutlich sichtbar durchzustreichen.11 Außerdem wird das Publikum mehrmals direkt angesprochen, der Text verweist auf vorher Geäußertes und stellt Rückbezüge her, was zu einem aktiven Mitvollzug ermutigt. Der Mirouer entwirft sich damit als ein flexibles Werk zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Text, Stimme und Bild. Durch diese Intermedialität werden sowohl mnemotechnische Funktionen erfüllt als auch die Vernichtung des Selbst, die zugleich den Genuss Gottes implizieren kann, auf verschiedenen Sinneskanälen vollzogen. In Kombination mit der Spiralenstruktur gelingt es dem Mirouer, Flexibilität mit Stringenz zu verknüpfen und zugleich in seiner Form die Lehre von der Vernichtung des Selbst in Szene zu setzen und aufzuführen. Daher ließe sich der performative Integrationsradius des Mirouer als eine subtile, ausgefeilte Technik verstehen, die Mensch und Gott, Text und Rezipient, Vernichtung und Genuss auf den jeweiligen Stufen bis zur unterschiedslosen Vereinigung zu verbinden sucht.

II.3.1 Mystische Landschaften als Topographien des Genießens Vorbemerkungen Die Ausgestaltungen einer mystischen Topographie in den Texten erweisen sich als außerordentlich differenziert und vielfältig, denn sowohl extreme als auch ausgewogene Höhen- und Tiefenverhältnisse werden berücksichtigt und in die Inszenierung integriert. Dabei entstehen ganze Landschaften, die mehr oder minder breit ausgeführt werden und unterschiedlich dicht zusammenhängen. In ihren Höhen und Tiefen versinnbildlichen sie zum einen das Wesen Gottes, zum anderen das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, indem sie sogar die Unerschöpflichkeit und Unauslotbarkeit Gottes in eine für den Rezipienten ›begehbare‹, dreidimensional aufladbare Bilderfolge fassen. Dennoch gilt für die ›Begehbarkeit‹ dasselbe Paradox, das bereits für die ›Bildhaftigkeit‹ angemerkt wurde: So wie sich im mystischen Diskurs jedes Bild der Bildlosigkeit, die Sprache der Sprachlosigkeit zuordnen lässt, gehört zur Begehbarkeit zugleich die Unzugänglichkeit. Im Gegensatz zu den vorigen Analysen ist der Fokus auf die Bildlichkeit hier ein anderer, da es nicht in erster Linie darum geht, einzelne Bilder in vergleichende Relation zu den anderen Texten zu setzen, sondern ganze Bildfelder 11 Vgl. Derrida, Comment ne pas parler (1987) und seine Durchstreichungen im Text, die paradoxerweise sowohl negieren als auch hervorheben.

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flächendeckend darzulegen und deren performative Dimensionen für das Genießen Gottes auszuwerten. Bereits im zweiten Kapitel der Textanalysen ausführlich erörterte Einzelbilder werden hierbei nur kurz aufgegriffen und in den größeren Zusammenhang integriert. Häufig treten hierbei deutliche Eigenakzentuierungen zutage. Während die Visioenen den Berg beispielsweise explizit mit dem Wort ghebrukenesse verknüpfen, ist das keineswegs im Fließenden Licht der Fall, das den Genuss Gottes implizit durch lyrisches Sprechen im Wechsel der Partner oder anhand von Zitat-Collagen inszeniert. Ebenso meidet der Mirouer ausdrückliche Zuordnungen und gestaltet stattdessen Berg und Meer, Lust und Freude, Ruhe und Frieden als Facetten des Genießens.12 Es wurde schon angemerkt, dass Fischer-Lichte bei ihrer Entwicklung der Kategorie »Räumlichkeit« dezidiert von »Theaterräume(n)« ausgeht, die zwar geometrisch, vor allem aber als »performative Räume« bestünden und eigene »Atmosphären«13 erzeugten.14 Aufgrund ihres Interaktionspotentials mit den Rezipienten stellten sie ungeplante und spontane Nutzungsmöglichkeiten bereit, die entscheidend die jeweilige Atmosphäre mit beeinflussten. Die Übertragung auf einen Text kann daher auf keinen Fall bruchlos erfolgen, denn im Gegensatz zum Theater, dem ein Bühnenraum, ein Geruch, ein Publikum, die sich ineinander vermischen können, tatsächlich gegeben ist, enthält der Texte dieses Potential lediglich in ›eingerollter‹ bzw. verkapselter Form. Wie kann er, in einem einzigen Medium codiert, eine Raumgestaltung liefern, die alle anderen Sinne synästhetisch affiziert und zugleich Raumerfahrung sein kann? Die Texte reagieren auf diese Herausforderung vielfältig und kreativ, indem sie künstliche Räume schaffen, die sie nicht nur beschreiben, sondern deren Begehung und Erkundung sie performativ vorführen. Hierfür nutzen sie das reichhaltige Potential physischer Bewegungen und liefern visuelle und emotionale Aspekte wie Farbtöne oder Wirkungen, die zugleich eine bestimmte Stimmung erzeugen. Besonders die Stellen, welche Räumlichkeit inszenieren, sind auffallend von Synästhesien geprägt, welche Durchdringung und Verschmelzung anstreben. Manchmal tauchen diese Landschaften auch nur flüchtig im Text auf, bevor sie ausführlicher aufgegriffen werden. Die Atmosphäre dieser Landschaften in ihren einzelnen Erhebungen, Einebnungen und Vertiefungen hängt in starkem Maße von ihren synästhetischen Inszenierungen ab, die sich zugleich mit den umfassenderen Inszenierungen der Texte verbinden. Dabei lassen sich alle drei Texte nicht auf aisthetische Inszenierungen oder performative Dimensionen reduzieren, sondern verdeutlichen die Fülle eines 12 Vgl. allgemein zur Räumlichkeit Michel, Symbolik von Ort und Raum (1997), bes. S. XV, Anm. 25 zum Berg. 13 Vgl. speziell zur ›Atmosphäre‹: Böhme (1995). 14 Vgl. Fischer-Lichte (2005), S. 200–209; allgemein Böhme (1995).

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vormodernen Genießens, das noch nicht durch einen ästhetischen Kanon oder einen autonomen Kunstbegriff geprägt war. In der fruchtbaren Spannung zwischen hochgradig sinnlichem Zugriff durch die Affizierung aller Sinne und einem gleichzeitigen Insistieren auf ihren den menschlichen Sinnen enthobenen Charakter entfalten diese Texte eine Verbindung aus religiöser Transzendenz und aisthetischer Zugänglichkeit, die etwas frappierend Anderes darstellt. Zwar lassen sich Fischer-Lichte oder Seel auf sie anwenden, jedoch muss der Abstand betont werden, den sie zu diesen Texten einnehmen, weshalb sie in diesem Kontext zwar wertvolle Inspiration darstellen, jedoch das von den Texten aufgeworfene Spannungspotential weder ganz einholen noch ganz ausloten können.

Fließendes Licht: Die Sonderstellung des Berges Im Fließenden Licht wird die Räumlichkeit mit ihren Aspekten der Höhe und Tiefe durch das komplex verdichtete und mehrfach besetzte Bild des Berges in Szene gesetzt. So tritt der Berg als ein dynamisch erweitertes Bildfeld in vielfältigen Zusammenhängen auf:15 So wird er nicht nur für die bildliche Chiffrierung des göttlichen Wesens verwendet, sondern auch zur Veranschaulichung der menschlichen Sündhaftigkeit eingesetzt, wobei besonders der Hochmut16 eine pointierte Stellung einnimmt. Ein zentrales technisches Verfahren des Fließenden Lichts besteht in seiner ausgesprochen variantenreichen und flexiblen Bildverwendung, welche völlige Gegensätze – wie Gottes vollkommenes Wesen und des Menschen Sünde – versinnbildlichen können. Daher gewinnen einzelne Bilder ihre Bedeutung erst aus dem komplexen Zusammenhang, in den sie integriert sind, und aus dem Zusammenspiel mit anderen Bildern und/oder Bezeichnungen.17 15 Vgl. Lüers (1926), S. 138–140: Der Berg wird als eine »altererbte Metapher« bezeichnet, die Inhalte aus den Psalmen sowie astrale Vorstellungen des Sonnenbergs aufgreift und seit altersher »als Ort göttlicher Offenbarung« gilt. Egerding (1997b), S. 58f.: Der Berg bei Mechthild diene sowohl als »Visualisierung des Hochmuts«, werde aber auch eingesetzt, um Gott selbst zu kennzeichnen. 16 Hochmut gilt als eine der sieben Hauptsünden, sogar als diejenige, aus der alle anderen erwachsen, vgl. Schulze (2006); Blackburn (2008). Beide Texte aber übersehen trotz ihrer anregenden Facetten die Aspekte der mittelalterlichen Kultur, an welche die Moderne erst wieder emphatisch unter dem Diktum des Neuen und Unerhörten anzuschließen sucht. Paradoxerweise findet sich abgrundtiefe Wollust in unmittelbarer Nähe der abgrundtiefen Demut, in gesteigerter Form keineswegs in der weltlichen, sondern in der geistlichen Literatur. Die Frauenmystik verbindet unerhört moderne mit ungemein fremden Akzentuierungen. So ist im Mittelalter nicht alles alt(-modisch) und in der Moderne nicht alles neu oder modern. 17 Vgl. hierzu W. Blank (1992).

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Eine große Rolle kommt hierbei der jeweiligen Inszenierung zu, welche für den Berg die ganze Breite der literarischen Formen des Fließenden Lichts oft in raschem Wechsel in einem Ausschnitt zeigt: dialogisch, lyrisch, visionär, didaktisch, predigend, unmittelbar bekennend in der 1. oder allgemeiner in der 3. Person. Viele wurden nicht berücksichtigt, sondern lediglich diejenigen ausgewählt, bei denen sich das Bild des Berges auf Gottes Wesen und damit auf die Relation zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Partner bezieht.18 Im Unterschied zu den Visioenen wird der Berg aber kein einziges Mal explizit mit dem Genuss Gottes verbunden, sondern der Genuss wird implizit durch erotische Bildsprache, lyrischen Lobpreis und Rückverweise in der Begegnung zwischen Gott und Mensch angedeutet. In den ersten Büchern besingt der menschliche den göttlichen Partner, wobei zugleich eine intime Kenntnis Gottes deutlich gemacht wird, wenn in den hymnischen Lobpreisungen der Seele sich seine vielfältigen Aspekte in einer dichten Folge von Bildern aneinander reihen und gegenseitig überblenden – ohne dass enthüllt wird, woher diese Kenntnis stammt, und die kommunikative Situation derart unscharf bleibt, dass sie sich zeitlich nicht verorten lässt. Das Bild des Berges erscheint unter vielen anderen, kurz, flüchtig und präzise, und wird sowohl für die Erhabenheit Gottes als auch für die Beziehung des Menschen zu ihm gebraucht. Dabei wird es in sich aufgebrochen und mit entgegengesetzten Aspekten von unendlicher Tiefe und enormer Höhe ausgestattet, die in paradoxer Schlüssigkeit zusammenhängen. Wie in dem geflügelten Gottesantlitz19 in den Visioenen werden hierdurch die Dimensionen der Erhabenheit gemeinsam mit der Unergründlichkeit im Wesen Gottes aufgezeigt. Ebenso versinnbildlicht das Bild des Berges die beiden zentralen Bestandteile der Gottesbegegnung für die Seele, nämlich, um mit Goethe zu sprechen, Willkommen und Abschied, in den Bewegungen des Aufsteigens und Absinkens. Besonders deutlich wird diese dynamische Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch in ihren Elementen aus Höhe und Tiefe im ersten Buch des Fließenden Lichts in dialogischer Form inszeniert.20 Die Seele preist Gott in verschiedenen, dicht aneinander anschließenden Bilderketten, welche die fließende Vielseitigkeit des göttlichen Wesens ebenso ausdrücken wie die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache. Denn die rasche Ablösung von einem Bild durch das andere zeigt, dass Gottes Wesen im Grunde unsagbar bleibt, weil jedes Bild sofort ein anderes fordert, was das ›Fließen‹ des Textes performativ umsetzt. 18 Für eine lückenlose Aufzählung siehe Egerding (1997b), S. 58f. 19 Vgl. Vis. XIII, 28–38. 20 Vgl. Tillmann (1933); Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984); Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 71–96; Michel, »Quomodo amor excitet animam pigram« (1995); Ankermann (1998); Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (2000); Amtstätter (2003), S. 58–74; Suerbaum, Dialog und Brautmystik (2003); Volfing (2003).

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Ohne wie in den Visioenen Gottes Wesen explizit als ein ewiges Genießen seiner selbst zu kennzeichnen, an dem das Ich ebenbürtig teilhaben will, inszeniert das erste Buch die Gottesbeziehung in Form von hymnischen Wechselgesängen. So lobt der Geringste Gott wie folgt: Der minste lobet got an zehen dingen »O du brennender berg, o du userwelte sunne, o du voller mane, o du grundeloser brunne, o du unreichaftffl hoehi, o du klarheit ane masse, o wisheit ane grunt, o barmherzigkeit ane hinderunge, o sterki ane widersatzunge, o crone aller eren! Dich lobet der minste, den du ie geschueffe.« (S. 32f.; I, 8, 1–12)

Der Berg wird von der Sonne, die Sonne vom Mond, der Mond vom Brunnen abgelöst – Sonne und Mond decken Tag und Nacht, Berg und Brunnen Höhe und Tiefe ab. Zugleich drücken sie Helle (Gestirne),21 Fülle (Vollmond) und Wärme (brennend) aus. Im Folgenden werden die Bilder durch Abstrakta ersetzt – Höhe und Glanz ergänzen Berg, Sonne und Mond, während Weisheit, Barmherzigkeit und Stärke die Vollkommenheit Gottes verstärken, die im Bild der Krone gebündelt wird. In direktem und frappierendem Gegensatz hierzu steht das Lob Gottes aus dem Munde seiner geringsten Kreatur, das zugleich Höhenverhältnisse zwischen Gott und Mensch aufzeigt: auf der einen Seite der unerreichbar vollkommene Gott, auf der anderen Seite der geringste Mensch, der die unnennbare Größe Gottes preist. Der Berg setzt diese Erhabenheit nun ins Bild, ohne aber auf die Andeutung der unergründbaren Tiefe des göttlichen Wesens zu verzichten. Daher kommt in diesem Zusammenhang, abgesehen von der ›fließenden‹ Bilderkette, die Sonne und Mond ebenso kombiniert wie Berg und Brunnen, vor allem den Adjektiven und Adverbien eine maßgebliche Bedeutung zu. Denn sie integrieren häufig die scheinbar entgegengesetzte Seite Gottes oder heben diese gesondert hervor, wie es bei grundelos, unreichaftffl, ane masse, ane grunt der Fall ist. Die Verwendung der Präposition ane, des Suffixes -los oder des Präfixes un- hebt jegliche Ein-

21 Die Gestirne von Sonne und Mond stellen zusammen mit dem lyrischen Sprechen eine enge Beziehung zum weltlichen Minnesang her, nur ist es hier nicht die unerreichbare Minnedame, sondern der unendlich erhabene Gott, der emphatisch gepriesen wird.

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schränkung im Wesen des göttlichen Partners auf, dessen Fülle gerade dadurch gezeigt wird, dass diese an keiner Stelle eingrenzbar ist.22 Durch solche dionysisch inspirierten Einsprengsel gelingt es dem Text, in lyrischer Verknappung beide Seiten Gottes vorzuführen, ohne sich dabei auf eine davon festlegen zu müssen. Gott ist unerreichbar, unergründlich, unerschöpflich, unausmessbar.23 Diese Anleihen aus der negativen Theologie, die sich vor allem in der sprachlichen Technik24 niederschlagen, statten den Text mit einer weiteren Tiefendimension aus. Es wird verneint, um einen unendlichen Raum ohne Eingrenzungen schaffen zu können, und hierfür das Potential der Volkssprache in Form von präpositionalen Wendungen und verneinten Adjektiven genutzt. Die Grundlosigkeit Gottes tritt nicht isoliert oder, wie in den Visioenen, als klar unterscheidbare räumliche Einheit auf, sondern stets in dichter Verbindung, die Höhe und Tiefe Gottes ineinander laufen lässt. Eine Besonderheit des Fließenden Lichts besteht, wie bereits angedeutet, in dem emphatischen Insistieren auf der oft unterschiedlich akzentuierten Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Partner, zwischen dem Ich und dem Du.25 In der folgenden hymnischen Anrufung wird das traditionelle Bild des Berges für Gottes Wesen in die dynamische Wechselbeziehung zwischen Gott und Mensch eingeblendet und um die Spiegelmetaphorik26 erweitert, die in erster Linie aus dem Text selbst und der von ihm geprägten Semantik erschlossen werden muss. So enthüllt die Metapher des Spiegels die Beziehung zwischen den beiden Partnern als verschlüsselt ebenbürtig, indem er auf eine potentielle Identität zwischen den beiden Partnern verweist und deren Nähe bei gleichzeitiger Distanz bzw. deren Distanz bei gleichzeitiger Nähe zeigt. Daher lässt sich der Spiegelberg als ein Doppelbild aus göttlichem Wesen und menschlichem Spiegelbild betrachten, das Abstand wahrt, ohne Nähe auszu22 Doch wird beispielsweise in I, 2, 15f. die Seele als grundelos und Gott als endelos bezeichnet, was die Ebenbürtigkeit der Partner ausdrückt. Auch in I, 44, 15 ist es die girheit der Seele, die als grundelos bezeichnet wird und damit ihre Zugehörigkeit zur Ordnung der Ewigkeit kenntlich macht. 23 Vgl. hierzu Lüers (1926), S. 104–106, welche die Unendlichkeitsmetaphorik als einen zentralen Bestandteil der Mystik betrachtet, da »die Bilder der Unendlichkeit für das Unendliche am geignetsten« seien, das »Ewige zu sinnbilden« (S. 104). An der Stelle ist Lüers einerseits zuzustimmen, dass sich zwar die Bildvorstellung des Abgrunds bei Mechthild nicht nachweisen lassen, dafür aber die des tiefen Brunnens (S. 105) und der Wüste (S. 106) – welche hier nicht ausführlich behandelt wird, obgleich sie bezüglich der gotzvroemedunge und vor allem des Selbstverlusts eine zentrale Stellung einnimmt, vgl. hierzu Largier, »in einicheit und wüestunge« (1991). Andererseits vgl. Lüers (1926), S. 120 und Egerding (1997b), S. 279–282, die beide auf die Adjektivverwendung grundelos und ungrüntlich im Fließenden Licht hinweisen. 24 Vgl. Derrida, Comment ne pas parler (1987). 25 Vgl. Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984). 26 Vgl. Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (2000).

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schließen, ja sogar völlige Identität impliziert, in der paradoxen Form von: Wir sind (im Bild) eins und (in der Substanz) doch zwei. Der Spiegelberg fasst gleichzeitig Abstand und Nähe, Einheit und Trennung in ein Bild und inszeniert zugleich die Erhabenheit von Gottes Wesen wie die Verbindung zwischen Gott und Mensch durch Spiegelung: Dffl sele widerlobet got an sehs dingen »Du bist min spiegelberg, min ovgenweide, ein verlust min selbes, ein sturm mines hertzen, ein val und ein verzihunge miner gewalt, min hoehste sicherheit!« (S. 38f.; I, 20, 1–7)

Die literarische Strategie einer gesteigerten und zugleich sich steigernden Bilderkette wird angewendet, um im fortschreitenden Verlauf das strahlende Wesen Gottes in Relation zu dessen Wirkungen auf die singende Seele zu setzen. Schrittweise löst sich diese in dem göttlichen Partner auf, wobei sie genau dadurch paradoxerweise Sicherheit gewinnt. Die im lyrischen Schmelzgestus vorgetragene Auflösung durch den göttlichen Partner ließe sich als performativ inszeniertes Genießen verstehen, das sich unweigerlich mit dem Selbstverlust verbindet. Denn ausgehend von visuellen Reizen der Spiegelung im Partner und der Augenlust am Geliebten entwickelt der Text in einer sich immer ›höher‹ steigernden Folge die gewaltsamen Formen der Auflösung des Eigenen im göttlichen Gegenüber : Selbstverlust, Herzenssturm, Zusammenbrechen und Entschwinden der Kräfte. Am Schluss jedoch folgt die emphatische Bezeichnung Gottes als die höchste Sicherheit der Seele, nachdem sie jede eigene Form von Sicherheit aufgegeben hat. An dieser Stelle findet man Vernetzungen zwischen dem Berg und dem Fall des Selbst, die Höhe und Tiefe dieses Mal so miteinander verbinden, dass der bereitwillige Fall des Menschen, der alle stabilen Bestandteile seines Selbst preisgibt, seine Aufnahme in die göttliche Höhe der Sicherheit bedingt. Gleichzeitig ist die Höhe ein Ausdruck für das Erhabenste und Großartigste, dessen der Mensch durch Gott teilhaftig werden kann.27 27 An dieser Stelle ergibt sich eine Parallele zu den Visioenen, in denen das Ich erst nach dem Sturz durch das Verschlungen-Werden (Vis. XIII, 255–258) in den zuvor furchterregend dunklen Strudel Sicherheit (Vis. XII, 172–174) gewinnt. Das Muster val – sicherheit ließe sich hier auf die Visioenen übertragen, obwohl sich dort an die Bilder und Begriffe andere Facetten anlagern und oft sogar grundsätzliche Unterschiede bestehen. So geht das Fließende Licht entscheidend von der Bildlichkeit des Berges aus, den es mit den Dimensionen der Tiefe ausstattet, während die Visioenen den Abgrund bzw. den Strudel zu ihrem entscheidenden Zentrum ausgestalten, das am häufigsten eingeblendet und am stärksten aufgeladen wird, den Berg dagegen extra in Szene setzen. Eine Verbindung zu dem Mirouer ergibt sich auf-

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Während die letzten beiden Stellen aus dem Kontext des wechselseitigen Lobpreisens zwischen göttlichem und menschlichem Partner stammen, in denen der Berg als erstes Bild unter mehreren auftritt, um das Wesen Gottes in Relation zum Ich zu bestimmen, ist der Berg in der folgenden Passage das alleinige Zentrum der Bildlichkeit, das alle anderen Bestandteile enthält. Außerdem erscheint er dem Ich in visionären Zusammenhängen, die es in der Rückschau schildert. Das vielgestaltige und außerordentlich prächtige Aussehen des Berges nimmt ungefähr die Hälfte des Textes ein, während die andere Hälfte dem Dialog zwischen dem Berg und dem Ich gewidmet ist, das nun erfährt, aufgrund welcher Voraussetzungen jener geschaut werden kann: Wiltu den berg ansehen, so solt du haben siben ding Einen berg han ich gesehen, das was vil schiere geschehen, wan enkein lichame mohte das getragen, das dffl sele ein stunde da were. Der berg was niden wis wolkenvar und oben an siner hoehin ffflrig sunnenclar. Sin beginnen und sin ende konde ich niena vinden, und binnen spilte er in sich selber vliessende goltvar in unzellicher minne. (S. 112f.; II, 21, 1–12)

Was bei der Schilderung des Berges besonders auffällt, ist die differenzierte Beschreibung seiner Einzelheiten in Weiß, Feuer, Gold und die Unterscheidung zwischen dem oberen, unteren und mittleren Teil. Er ist am Fuß weiß wie die Wolken, in seiner Höhe klar und feurig wie die Sonne, und in seiner Mitte schimmert es golden. Das Bild des Berges hat weitere Bilder, die traditionell mit Gott in Verbindung gebracht werden, wie Sonne und Feuer, synästhetisch in sich aufgenommen, um dessen strahlenden Glanz und glühende Hitze auszudrücken.28 Gleichzeitig wird das Bild mit dionysischer Unauslotbarkeit ausgestattet, grund des Selbstverlusts, der dort ebenfalls mit dem Sturz in die Tiefe im fünften Seinszustand verbunden wird (Mirouer 118, 130–135). 28 Vgl. Lüers (1926), S. 138, die auf die »astralen Vorstellungen des Sonnenberges« bei Mechthild verweist. Diese Verknüpfungen führt sie in dem Kapitel »Die Metaphorik und astrale Vorstellungen des Mittelalters« (S. 97–104) weiter aus, jedoch ist gerade die Sonne aufgrund ihrer Einzigartigkeit, ihrer Leuchtkraft und ihrer Energie ein in allen Kulturen und Religionen derart gängiges Bild, das man hier genauer nachforschen und ein Textcorpus aus dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Islam zusammenstellen und auf breiter Basis vergleichen müsste. Besonders die Metaphernsprache erwiese sich als geeignetes Untersuchungsobjekt, um sowohl die Besonderheiten als auch die übergreifenden Gemeinsamkeiten gerade in der Mystik herauszustellen. Vgl. zum Beispiel die Metapher der »zwei Augen« der Seele, die Lüers erwähnt (S. 103), und das sogenannte Dritte Auge im Buddhismus und

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da weder Anfang noch Ende dieses Berges auffindbar noch sein Wesen benennbar sind. Doch bieten die Schilderungen des göttlichen Wesens – flüssig, feurig – Bezugspunkte zu den Visioenen, ebenso die fein detaillierte Sprache. Denn wie in der dreizehnten Vision enthält das Innere des Berges das flüssige Wesen Gottes, das in sich selbst spielt, was eine lustvolle Komponente enthält, wenn man sich die Anwendung des Wortes auf das Liebesspiel zwischen Gott und Mensch29 vergegenwärtigt. Gleichzeitig lassen sich Bezüge zum Selbstgenuss der Gottheit herstellen. Im Unterschied zu den Visioenen aber kommt das Ich an dieser Stelle in keinen näheren Kontakt mit dem Berg, er wird zwar in allen Einzelheiten geschaut, aber nicht bestiegen; und es gibt keine Wege auf seine Höhe hinauf. Lediglich wird knapp bemerkt, dass der Körper es nicht verkraften würde, wenn die Seele sich dort nur für eine Stunde aufhielte. Insgesamt dominiert der Gesichtssinn die ganze Passage in auffallender Weise, denn im Dialog zwischen dem Berg und dem Ich geht es einzig darum, den Berg mit den Augen zu schauen und die Voraussetzungen, die hierfür erfüllt sein müssen.30 Im Gegensatz zu der vorigen Stelle wird in V, 4 das räumliche Ausgreifen der Seele direkt mit der Topographie des Berges verbunden; insgesamt ist die ganze Passage von großer Dynamik gekennzeichnet: So wird die Seele von der Gier ihres Herzens und ihrem wilden Verlangen auf den Berg gejagt und hierbei mit einem Pilger verglichen,31 der diesen auf der einen Seite heraufsteigen darf, auf der anderen Seite aber wieder herabsteigen muss. Die Seele weist daher auffallend körperliche Züge auf, was sich besonders in ihrem Bewegungsrepertoire zeigt.32 Genuss wird bei diesem Aufstieg in ein geradezu gieriges Verlangen übersetzt, das seine ungezügelte Begierde durch die Jagdmetaphorik, aber auch durch das wildschlagende Herz ausdrückt. Wie in den Visioenen ist, in Anlehnung an Richard von St. Viktor, offenbar das fiebernde, durch nichts zu stillende Begehren das Höchste: Denn was auf den Gipfel des Berges und in die Umarmung Gottes führt, ist das Begehren, doch erfüllt die vollzogene erotische Be-

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Hinduismus, das bei Meditationspraktiken durch die Handbewegung zur Stirn hin geöffnet wird. Vgl. exemplarisch FL I, 2, 8–12 und 18. Auch sprachlich gibt es eine Bruchstelle zwischen der emphatischen Schilderung des Berges und den eher nüchtern vorgebrachten Voraussetzungen für seine Schau, was die Eigenart des Fließenden Lichts, zwischen verschiedenen literarischen Stilen zu wechseln, zeigt. Während in FL V, 4, 26–28 die Seele mit einer Pilgerin verglichen wird, ist auch in Mirouer 110, 29–31 von einer Vollendung der Pilgerschaft (l’acomplissement de son pelerinage) die Rede, wenn die Seele vollständig durch die Rückgabe des Eigenwillens vernichtet worden ist. Vgl. zum Bild der Pilgerschaft, das allgemein Heimatlosigkeit und Verlassenheit ausdrückt und vor allem in den späteren Büchern des Fließenden Lichts auftaucht, Weber (2000), S. 141–143; Michel, Symbolik von Weg und Reise (1992). Vgl. Kasten, Formen des Narrativen (1995).

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gegnung mit der Gottheit die Seele mit Schwäche, so dass sie absinken und sich abkühlen muss: Swenne dffl sele mit der minne zuge und mit maniger girikeit irs jagenden herzen nach gotte uf den hohen berg der gewaltigen minne und der schoenen bekantnisse komen ist, so tuot si als der bilgeri, der berge uf gestigen hat mit grosser gerunge, so stiget er anderhalp nider mit grosser vorhte, das er sich nit fflberwerfe. Das ist, das die sele so sere durschinen ist in der hitze der langen minne und also unmehtig worden ist in der umbehalsunge der heligen drivaltekeit. So beginnet si ze sinkende und ze kuolende, als die sunne von der hochsten stat hernider gat und sinket untz in die naht. Weis got, also wirt es an der sele und ovch am libe vollebraht! Die minnenriche sele sinket harnider in dem zuge der ungruntlichen diemuetekeit und wichet ie vor dem, was ir got ze liebe tuot. Das ist ir vil bekeme von der edelen nature, die got und si in einer meinunge erffflllent. Aber si kert das ovge ir wollust von allen dingen, uf das si gotte vil lobes moege gewinnen. Der licham sinket ovch vil sere, wenne er sinem viande dienet und verswiget und sine vrfflnde got ze eren vermidet. Die sele sinket noch ffflrbas, wan si merer maht hat denne der licham. Si sinket mit grossem vlisse in die nidersten stat, die got in siner gewalt hat. O, wie getar ich dise stat den nemmen, die der sinkenden diemuetekeit nit erkennent! (S. 326–328; V, 4, 25–9)

Verschiedene Bildfelder vor allem aus den ersten Büchern sind in dieser Passage miteinander verdichtet: So wird der Berg als Ort der Liebe und der Erkenntnis bezeichnet, was die sich steigernde Aufzählung aus I, 21 von minne – bekantnisse – gebruchunge in Erinnerung ruft: Doch scheint hier der Genuss in Gestalt des Begehrens stattzufinden. Exemplarisch für die Vernetzung von Schwäche des Leibes und Begehren der Seele können I, 2 und I, 44 angeführt werden, ebenso für die erotische und verzehrende Begegnung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Partner. Die Metapher der Jagd im Kontext des brennenden Begehrens wird besonders ausführlich in II, 25 geprägt und inszeniert. Die Bewegungsabfolge von Steigen und Sinken33 verbindet sich im Fließenden Licht mit der vroemedunge gotz aus IV, 12, aber auch mit zahlreichen anderen Passagen aus den ersten Büchern. Man könnte es geradezu als ein Grundmuster verschiedener Kapitel des Fließenden Lichts qualifizieren, die immer wieder zwischen beglückend-verzehrender Gottesbegegnung und dem wehmütigen Ertragen der Trennung, zwischen den Schwebeflügen in die Höhe des Genießens und dem Einüben einer demütigen Haltung im Leiden oszillieren, einmal das eine, dann das andere fokussieren oder beide verbinden. Dass die Seele den Berg aufgrund der Zugkraft der Liebe erklimmen und infolge der Zugkraft der Demut wieder herabsinken kann, stellt einen ent33 Vgl. grundlegend zum Bild des Sinkens: Haas, Struktur der mystischen Erfahrung (1979), bes. S. 113–119; Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 94–96; dies., Vom Lob der Hölle (2008), S. 174–180. Ergänzend Rinaldi (1986), S. 31–42; Verlaguet (2005), S. 113–118.

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scheidenden Unterschied zu der vorigen Stelle aus II, 21 dar, wo der Berg auf die Schau begrenzt blieb. Wieder sind dionysische Einsprengsel hinzugemischt, denn die durch das Sinken vollzogene Demut ist grundlos, und daher das Sinken der Seele beinahe endlos.34 Der Text differenziert zwischen dem Sinken des Körpers und dem Sinken der Seele, denn obwohl beide sinken, sinkt die Seele noch weiter bis unter Luzifers Schwanz, was die tiefste Stelle im Universum markiert.35 Abschließend wird diese Verbindung aus dem Höchsten und dem Tiefsten folgendermaßen gebündelt: Als si alsus ufgestigen ist in das hoehste, das ir geschehen mag, die wile si gespannen ist ze irme lichamen, und har nider gesunken ist in das tieffeste, das si vinden mag, so ist si denne vollewahsen an tugenden und an helikeit. So muos si denne gezieret werden mit pine in der langen beitekeit. (S. 330f.; V, 4, 5–9)

In den Bewegungen des Emporziehens und des Herabsinkens oder in der Räumlichkeit von Himmel und Abgrund,36 in welche die verlangende Seele gejagt wird, zeigen sich die Reinheit und das Begehren, die Demut und die Liebe der Seele. Erst diese Verbindung aus Steigen und Sinken, Liebe und Demut, Himmel und Abgrund zeigt die Seele in ihrem vollen Reifegrad, was einen weiteren Bezug zu den Visioenen herstellt, deren Ich ebenfalls durch langes Leiden und demütiges Ertragen zur Heiligkeit heranwächst. Heiligkeit und Schmerz stehen demnach in einem nahezu unablösbaren Verhältnis zueinander, befruchten sich wechselseitig und überformen einander – und das deutlich vor Elsbeth von Oye.37 Im Unterschied zum Berg aus II, 21 wird der aus V, 4 genau durch diese Doppelbewegungen der Seele in seinen im Grunde entgegenge-

34 Dem entspricht auch der Zustand der Seele, die mit der diemuetigen minne gebunden (V, 4, 25f.) wird, was an die caritas ligans von Richard von St. Viktor anknüpft. 35 Vgl. allgemein Bochsler (1997), S. 74–110 zu Höllen- und Fegefeuervisionen, die jedoch das Sinken unter Luzifers Schwanz lediglich auf die sündigen Hochmütigen bezieht (S. 87); speziell zum felix culpa-Modell: Köbele, Vom Lob der Hölle (2008). 36 Vgl. FLV, 4, 19f.: Si jaget si uf in den himmel und zfflhet si in dis abgrfflnde wider. Diese Passage zeigt, dass Mechthild das Wort abgrfflnde kannte, das der Text hier für die äußerste Gottesferne verwendet, welche die Seele bereitwillig auf sich nimmt. Von der Semantik des Abgrunds ergeben sich Parallelen zu dem Mirouer, der im fünften Seinszustand ebenfalls den Fall in den Abgrund als extreme Form der Selbstvernichtung gestaltet. 37 Do wart gesprochin: ›Du hast mich gevangen unt ingeslozzen mit dem pinlichen angil dins krfflzes. Din krfflze ist in gedruket unt ingeslozzen in die dur grabenen wunde mins suns. Din krfflze hat ein in fliezzin in min veterlich herze in allen dien bluotes trophen miner heiligen.‹ (Offb. 49, 5–12) Durch das schmerzvolle, ununterbrochene Fließen des Blutes, das durch das Nagelkreuz in Gang gesetzt wird, wird das leidende Ich in einen Kreislauf mit dem göttlichen Herz integriert. Im Gegenzug aber wird das leidende Ich mit dem göttlichen Mark genährt und somit Gottes nicht nur teilhaftig, sondern geradezu ebenbürtig: ›[Ich suge doch alle zit] von dir, solte ich denne nit dir wider ingiezzin daz aller suezzeste marg miner gotlicher natur?‹ (Offb. 51f., 15–3)

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setzten Facetten der Höhe und Tiefe erfahrbar, die für die Rezipienten ein Potential zum Mit- und Nachvollzug bieten konnten. In diesem Kapitel sind beide Bewegungsformen des Aufsteigens und Entsinkens zu einem dynamischen Bild verschmolzen, das den Berg nicht nur sieht, sondern von seinem Begehren direkt auf seine Höhe getrieben wird. Nach der Hitze kommt die Abkühlung,38 nach der Umarmung die Trennung, nach der Sehnsucht die Furcht, nach der Kraft die Schwäche, nach dem hellsten Sonnenlicht die tiefste Dunkelheit. Berg, Hitze, Sonne bilden ebenso eine Einheit wie Sinken, Nacht, Grundlosigkeit. Doch werden beide im Modus der Bewegung des Heraufsteigens und des Herabsinkens dynamisch aufeinander bezogen. Eine zentrale Bedingung hierfür stellt der Verzicht auf jegliche Form der Lust (wollust) an Dingen dar, die nicht von Gott ausgeht, obgleich ausdrücklich gesagt wird, dass der Kampf gegen die Versuchungen der irdischen Dinge zu der von der Gottesliebe erfüllten Seele gehört. Hierdurch wird eine zusätzliche Verbindung vor allem zum sechsten Buch hergestellt, das sich unter Anknüpfung an die augustinische Terminologie mit der Unterscheidung rehte und sfflndhaft gebruchen ausführlich beschäftigt. So heißt es im selben Kapitel, dass diese beseligende Lust dennoch maßvoll geregelt werden müsse, wenn die Seele höher steige, da sonst manig rein herze in suesser wunne breche (V, 4, 23f.), was sich deutlich dem Einfluss der späteren Büchern zuordnen lässt. Vor allem V, 4 ist ein Amalgam aus den ersten und den letzten Büchern, die kunstvoll im melting pot der Bergmetapher miteinander verschmolzen werden. Die bisher entfalteten Topographien im Fließenden Licht weisen eine nicht näher ausgeführte Doppelstruktur auf, da sich in Bezug auf den Menschen parallel konstruierte Landschaften auffinden lassen. Im Grunde entwirft der Text zwei Arten von Topographien, eine göttliche und eine menschliche bzw. eine heilige und eine sündhafte. Alle räumlichen Bestandteile des göttlichen Wesens in der Beziehung zum menschlichen Partner werden zugleich in eine ausschließlich von der Verworfenheit und Verfehlung des Menschen geprägte Landschaft übersetzt, genauso wie es zwei Formen von gebruchen und zwei Arten der Lust gibt, eine auf Gott und eine auf die Sünde bezogene. So wandelt sich in III, 14, 30f. der zuvor in II, 21 weiß-feurig-goldfarbene Berg in einen berg des hohen muotes, um zu zeigen, dass selbst die Tugend der Weisheit ohne Demut wertlos wird. Insgesamt stellt die Demut eine Grundtendenz des Fließenden Lichts dar und erhält im Verlauf der letzten Bücher eine zunehmend stärkere Gewichtung bis hin zu einer drastischen Überformung des Genießens, das vor allem im sechsten Buch fast darin aufgeht. Schon im vierten 38 Vgl. zum Bild der Kühlung der Liebesglut Lüers (1926), S. 75, wo sie auf dessen Bezug zum Minnesang Heinrichs von Morungen und damit auf die Verbindungen zwischen höfischer und geistlicher Bildlichkeit verweist.

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Buch wird die Sündhaftigkeit des Menschen im Bild des wie ein Hindernis zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Partner aufragenden Berges zum Thema, wobei die Klage mit einem leidenschaftlichen Ausruf abschließt, die eher an Tendenzen aus den früheren Büchern anknüpft: »Herre, min schult, da mitte ich dich verloren han, dffl stat vor minen ovgen gelich dem groessten berge und hat lange vinsternisse gemachet zwfflschent dir und mir und ewige verunge von dir und – owe! – mir. Eya liep vor allem liebe, zfflch mich wider in dich!« (S. 250f.; IV, 5, 15–19)

Anstatt Gottes erhabenes und zugleich unendliches Wesen zu chiffrieren, wird der Berg nun zum Kennzeichen für maßlosen Hochmut und die Schuld des Menschen, die ihn von Gott trennt. Der Berg wird hier nicht als Bild für Gottes Heiligkeit verwendet, sondern als Vergleich für die Sündhaftigkeit des Menschen eingesetzt, was einen radikalen Gegensatz darstellt. Doch zeigt sich Gottes Güte größer als die ärgste Verfehlung, weshalb dem betenden Ich aus dem göttlichen Mund zugesichert wird: »Din berg sol versmelzen in der minne« (IV, 5, 7f.). Die aus der Unio bekannte Schmelzmetaphorik wird an dieser Stelle dafür gebraucht, die Trennung zwischen Gott und Mensch in Gestalt eines Berges bildlich aufzulösen, die das Entfallen des vorigen Vergleichspartikels ebenso unterstreicht wie Gottes spätere Zusage, er wolle ihr ein suesses mundkfflssen geben (IV, 5, 11f.). Ebenso drückt die Fließmetaphorik an anderer Stelle seine Gnade aus, welche die ganze Landschaft des Menschen verwandelt, wenn Gott seine Güte sowohl über die Berge des Hochmuts als auch durch die Täler der Demütigkeit, durch das Gestrüpp der Verirrungen ebenso wie über die geraden Wege der Reinheit fließen lässt: Do sprach fflnser herre: »Nu hoere, wie ich bin bekort: Min gueti und min miltekeit, min trfflwe und min barmherzekeit twingent mich so sere, das ich si lasse vliessen fflber die berge des hochmuotes und fflber dffl tal der diemuetekeit und fflber die bfflsche der werrikeit und fflber die sclehten wege der reinekeit, und noch serer twinget mich min gueti denne den boesen menschen tuot sin ungemuete, und groessor ist aber min rehtekeit denne aller tfflfeln bosheit.« (S. 218f.; III, 22, 1–8)

Das Bild des Berges, der den Weg zu Gott versperrt, wird nun auf eine ganze Landschaft ausgeweitet und durch das Tal der Demut ergänzt, was auch im Mirouer vorkommt. Räumlich wird die bewusst auf sich genommene Erniedrigung im Bild des Tals als Gegensatz zum steil aufragenden Berg ausgedrückt. Ebenso gegensätzlich aufeinander bezogen sind die geraden Wege der Reinheit und das Gestrüpp der Verirrung bzw. der Verworrenheit. Diese Topographie zeigt damit eine ganze Palette an Möglichkeiten, sich zu Gott zu stellen, die alle gleichermaßen, ob gut, ob schlecht, von seiner Güte und Gerechtigkeit erfasst und verwandelt werden. Die Fließmetaphorik ist ebenso wie die Schmelzmeta-

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phorik den aus den ersten beiden Büchern bekannten Bildern der Einheit der Seele mit Gott zuzuordnen, die an dieser Stelle die gnadenhafte und verbindende Einwirkung Gottes auf den Menschen signalisiert. Insgesamt erweist sich die Verbindung zum Genuss verhalten. So wird Genuss grundsätzlich implizit und performativ entweder durch lyrisch entfaltete Bildlichkeit, durch Chiffren wie Begehren oder Selbstverlust und durch Anknüpfungen an andere Stellen signalisiert, nicht aber zusätzlich, wie den Visioenen, mit Bezeichnungen verstärkt. Anstatt das Genießen Gottes direkt zu fassen, zeigt es das Fließende Licht an dieser Stelle in dem multifunktionalen und vielschichtigen Bild des göttlichen Berges und seinen dialogischen Inszenierungen.

Visioenen: Umfassende Landschaften des Genießens auf dem Gipfel des Berges und in der Tiefe des Abgrunds bis hin zum dreiflügligen Antlitz Gottes In den Visioenen ergibt sich ein strikt durchkomponiertes, nahtlos aneinander anschließendes und lückenlos verdichtetes Bild einer Landschaft des Genießens. Das hängt mit der besonderen Form des Textes zusammen, der sich im Unterschied zu den beiden anderen nicht als Buch versteht,39 doch die Mittel von lyrischer Prosa wie Intensivierung, Verdichtung, Musikalität40 aufs Äußerste ausreizt, um auf engem Raum eine Fülle von Themen bei gleichzeitiger Eindrücklichkeit zu bieten. Jedes Wort scheint einer überlegten Komposition zu folgen und sowohl inhaltlich als auch klanglich bewusst an eben der Stelle eingefügt zu sein, wo es steht. Die einzelnen Visionen sind so fein aufeinander abgestimmt wie die übergreifenden Phrasierungsbögen einer Sonate.41 Eine zentrale Stelle nimmt hierbei der Genuss Gottes ein, der einen elementaren Bestandteil in der sich schrittweise entfaltenden Beziehung zwischen Gott und dem Ich darstellt. In den Visioenen sind nahezu alle Bildlichkeiten, welche Räumlichkeiten enthalten, auf das Genießen Gottes und sein Wesen bezogen.42 39 Vgl. Vis. XI, 46–49. 40 Vgl. Brodsky (1988). 41 Zwar ist der aus der Musik entlehnte Vergleich nur in dem einen Punkt der Analogiebildung zulässig ist, doch wollte ich die Nähe der lyrischen Sprache zur Welt des Klangs betonen. Denn bei beiden bildet der Klang entweder zumindest einen Teil (Sprache) oder sogar die Gesamtheit (Musik) der Botschaft – wobei zahlreiche Komponisten der Neuen Musik sich von Sprache zunehmend inspirieren lassen, vgl. zum Beispiel folgende: Heinz Holliger mit seinem »Scardanelli-Zyklus«, Morton Feldman mit »I met Heine on the rue Fürstenberg«, Cornelius Schwehr mit »aber die schönheit des gitters« oder Nikolaus A. Huber mit »An Hölderlins Umnachtung«. 42 Für die Ebene dagegen trifft das nur indirekt zu, da durch ihre Baumarten sowie deren Zweige und Blätter zugleich die Anzahl der Tugenden ins Bild gesetzt wird, die für den Menschen notwendig sind, bevor die Symbole der Trinität in der Mitte der Weite gezeigt

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Der Berggipfel zeigt das Antlitz Gottes als eine feurige Flut (Vis. VIII), während der abgrundtiefe, stockfinstere und furchterregende Strudel die Ergänzung der goldschimmernden Scheibe darstellt (Vis. XI bis XIII), die zusammen das Wesen Gottes bilden. Schlussendlich verdichtet der Text die unterschiedlichen räumlichen Aspekte Gottes im Bild des dreigeflügelten Antlitzes, das seine Höhe (Gipfel des Berges), Weite (Ebene mit Bäumen; Scheibe) und Tiefe (Strudel, Abgrund, Flut) umfasst (Vis. XIII). Erste Vision: Raumform Ebene (pleyn, wijtheit) und Einblendung von Strudel/Abgrund Die erste Vision setzt weder mit den extremen Höhen noch Tiefen des göttlichen Wesens ein, sondern zeigt die Weite der vollkommenen Tugenden (wijtheit der volcomenre doechde, Z. 20f.) als eine Art Weide (als in enen beemt, Z. 19) oder Ebene (pleyn, Z. 20), auf der sieben verschiedene Bäume wachsen.43 Durch die Begehung des Baumgartens erhält die traditionelle Allegorie dynamische Akzente, wenn das Ich der Visioenen von einem Engel, der ihm die einzelnen Stämme und Blätter auslegt, durch die mit Bäumen bestandene Ebene geleitet wird. Im Verlauf der Eröffnungsvision wird nach den sieben Bäumen die Weite der Ebene mit Christus in Verbindung gebracht44 und die abgrundtiefe Seite Gottes erstmalig eingeblendet,45 zu der das Ich in den letzten Visionen Zugang erhält.46 Wie in einer Ouvertüre sind alle Raumelemente, die erst später ihre volle Ausprägung gewinnen, bereits in der ersten Vision präsent. Höhe und Tiefe verbinden sich mit dem Genießen, wenn der fünfte Baum der Ebene an dem dritten seiner obersten Zweige die Tugend der Beständigkeit in der Liebe (dat ghestade wesen, Z. 171) in Form von goldenen Herzen zeigt. Diese Tugend ist dadurch gekennzeichnet, unter einer Vielzahl von Tugenden die eine unteilbare Tugend (die gheheele eneghe doghet, Z. 173) darzustellen, welche die Liebenden in Eins verschlingt, um sie dann in den Abgrund zu werfen, worin sie den ewigen Genuss suchen und finden sollen. Sie stellt einen unmittelbaren

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werden. Allein der dritte Zweig des fünften und die Rose des siebten Baumes stellen einen direkten Bezug zum Genießen her. Vgl. zur Baumgartenallegorie besonders Reynaert (1981), S. 278–291 und Ruh, Frauenmystik (1993), S. 193–197. Des Weiteren: Stammler (1962), S. 108f.; K. Schmidt (1931). Vgl. Vis. I, 214–220. Sowohl das Kreuz, welches Christus symbolisiert, als auch die Weite werden miteinander durch den Blick verbunden, der durch das kristallklare Kreuz hindurch auf die Weite sieht. Vgl. Vis. I, 231–235 wird der Strudel zum ersten Mal in seiner beängstigenden Dunkelheit gezeigt und in 243–245 als das göttliche Genießen gedeutet – nicht aber von dem Engel, sondern von dem Ich. Ab dem Zeitpunkt, wo das Ich die Säulen, das Kreuz, die Scheibe und damit die Bilder der Trinität erblickt, übernimmt die Göttlichkeit Erklärungen und Führung anstelle des Engels für das Ich. Vgl. Vis. XII, 172–175.

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Bezug zur trostvollen Einheit und zum absorbierenden Genuss47 her, da die Bäume, welche auf dieser Ebene wachsen, diesen durch ihre Rose (siebter Baum) oder ihre Zweige (fünfter Baum) vermitteln: Die derde telch/ was dat ghestade wesen daermen der minnen altoes gheheel met es vte menechfuldeghe doechden in die gheheele eneghe doghet/, die de minnende beide in een verswelghet/ ende worpse inden afgront, daerse soeken ende vinden selen die eweleke ghebrukelecheit. (Vis. I, 170–176) [Der dritte Zweig bedeutete eine beständige Verfasstheit, in der man der Liebe immerzu ganz und gar und außerhalb einer Vielzahl von Tugenden in der ganzen, ungeteilten Tugend angehört, die die beiden Liebenden in eins verschlingt und in den Abgrund wirft, wo sie den Zustand des ewigen Genießens suchen und finden werden.]

An dieser Stelle wird das ebene Bild eines Baumgartens aufgebrochen, um in die Tiefe des göttlichen Wesens einzubrechen. Vom obersten der drei Zweige befindet man sich plötzlich im Abgrund mit einem absorbierenden Charakter. Durch diesen Übergang gelingt es dem Text, Höhenunterschiede ineinander überlaufen zu lassen, die in der weiteren Entwicklung der Visioenen zunehmend durch Farbtöne48 wie Gold (Scheibe/Thron) und Schwarz (Abgrund/Strudel) chiffriert werden. Hier sind es die goldenen Herzen (und später die Topassäule mit der Natur des Goldes), welche sich im Anschluss mit der Dunkelheit des Strudels verbinden. Das Gold steht für Weisheit, da die goldenen Herzen am Baum der Weisheit wachsen, vor allem aber für die Liebe, die zugleich das Wesen Gottes ist. Denn nachdem das Ich in die Mitte der Weite/Ebene (in die middelt der wijtheit, Z. 185f.) geführt worden ist, erblickt es, sich auf Anweisung des Engels hin umwendend, zuerst die drei Edelsteinsäulen, welche die Namen der Dreieinigkeit versinnbildlichen, dann ein Kreuz, Scheibe und Strudel – die Göttlichkeit selbst. Das räumliche Bild, das auf diese Weise entsteht, situiert den kreisenden Strudel direkt in der Mitte unter der Scheibe. Diese befindet sich selbst in der Mitte der Ebene. Der Text verdoppelt die Mitte der Mitte oder das Zentrum des Zentrums. Dadurch veranschaulicht er implizit die im wörtlichen Sinne zentrale Bedeutung des unter der Scheibe kreisenden Strudels des Genießens für die Visioenen, das den tiefsten Kern des göttlichen Wesens ausmacht. Somit unterscheidet der Text deutlich zwischen der Mitte der Weite und ihren äußeren Rändern, was zeigt, dass die Räumlichkeit klar ausdifferenziert wird. Durch solche Details wie Raumbewegungen und Farbbeschreibungen ist es einem Rezipienten möglich, die Schritte des Ichs performativ mit- und nach47 Der absorbierende Charakter des Genießens wird schon an den Augen des göttlichen Geliebten sichtbar, die alles Lebende in sich hineinziehen, vgl. Vis. I, 253–255. 48 Vgl. zur Farbsymbolik Reynaert (1981), S. 285f.; zur Korrektur : Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 26f.

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zuvollziehen. Dasselbe gilt für solche akribischen Schilderungen wie Gestalt, Farbe und Wuchs der Bäume, die mittels hochgradig symbolisch aufgeladener Zahlenangaben genau in verschiedene Bereiche – obere, mittlere und untere Zweige – eingeteilt werden. Das auf diese Weise entstehende Bildfeld bewegt sich in einer Spanne zwischen Klarheit und Verschwommenheit,49 doch kann es als grundlegende Orientierung für die Zuhörer- und/oder Leserschaft dienen. Denn der Rezipient muss jede Einzelheit aufschlüsseln, um diesem hochkomplexen Gebilde eines mystischen Baumgartens des Genießens und Erkennens von Gott Sinn abzutrotzen. Andererseits sind die einzelnen Visionen solche eigenständigen künstlerischen Gebilde, dass man nicht alles verstehen muss, um an ihnen teilnehmen zu können. Denn zum einen entwickeln sie eine in dem eigenen kompositionellen Kontext verwurzelte Semantik, die sich zwar an verschiedene Traditionen anschließt, diese aber frei kombiniert und intensiv verdichtet, zum anderen macht ihre synästhetische Anlage Angebote zur Partizipation. Daher kann gerade die erste Vision bei wiederholter Lektüre oder im Vortrag aufgrund der performativen Praxis der Repetition verstärkte Sinnpotentiale freisetzen, die zugleich Varianten ermöglichen. Des Weiteren wird die Weite oder Ebene, die das Ich durch das durchsichtige Kristallkreuz erblicken kann, explizit mit dem Kreuz verbunden und dadurch der Bezug zu Christus hergestellt. Diese Weite wird nicht näher spezifiziert, außer dass der Text über sie aussagt, sie sei groß (grote, Z. 220): Ende ic keerde me van heme/ ende ic sach een cruce voer mi staen/ ghelijc cristalle/ claerre ende witter dan cristael/. Daer mochtemen dore sien ene grote wijtheit. (Vis. I, 217–220) [Und ich drehte mich von ihm weg, und ich sah vor mir ein Kreuz stehen, (das war) gleich Kristall (und doch) klarer und heller als Kristall. Dahindurch konnte man eine große Ebene erblicken.]

Grundsätzlich würde ich eher für Weite als für Ebene in der Übersetzung plädieren, denn obwohl der Text das an das Französische angelehnte Wort für Ebene (pleyn) kennt, benutzt er konsequent das doppeldeutige Wort für Weite (wijtheit). Erst in der dreizehnten Vision wird bei dem dreiflügligen Antlitz, das das göttliche Wesen in seinen drei Bestandteilen der Höhe, Weite und Tiefe enthüllt, der Grund dafür deutlich. Es lässt sich als ein semantisches Spiel mit den drei räumlich versinnbildlichten Ausdrucksformen Gottes verstehen, die sich in Ebene, Berg, Abgrund und Strudel ausdrücken. Diese vertieften bzw. gesteigerten Ausprägungen des göttlichen Wesens sind dem Ich allerdings erst nach der glücklich passierten Schaltstelle in der siebten Vision zugänglich, nachdem 49 Vgl. zur ›Verschwommenheit‹ bei Hadewijch Vanneste (1959), S. 93–95.

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dann Vision für Vision das Wesen Gottes in seinen verschiedenen Dimensionen entfaltet wird. Achte Vision: Raumform Berg Bis zur achten Vision dauert es, bevor der Berg in Erscheinung tritt, denn erst zu diesem Zeitpunkt hat sich das Ich so weit vervollkommnet, dass es erstmals die Größe und Erhabenheit Gottes erfahren darf. Diese wird im Bild des Berges50 chiffriert, dessen zunehmende Höhe der Text in performativer Steigerung aufzeigt: Ic sach enen groten berch/ die hoghe was/ ende breet/, ende van onseggheleker scoender ghedane/; tote dien berghe ghinghen ·v· weghe hoghe staen/, die alle dien edelen berch op ghinghen/ ten hoechsten sittene dat daer bouen was. Maer si ghinghen hoghe/ ende noch hoghere/ ende meer hoghere/ ende alder hoghest/, Soe dat hi selue die hoechste was gheheel/ ende dat hoechste wesen selue/. (Vis. VIII, 1–9) [Ich sah einen riesigen Berg, der war hoch und breit und von einer unbeschreiblich schönen Gestalt. Fünf Wege liefen steil aufwärts auf diesen Berg zu, die alle auf den majestätischen Gipfel führten bis zu dem Thron, der sich, zuhöchst gelegen, da oben befand. Sie führten aber hoch und höher und noch höher und zuallerhöchst, so dass der Gipfel selbst der absolut höchste war und das höchste Wesen selbst.]

Diese Passage vermittelt zugleich einen atmosphärischen Eindruck von der Schönheit und Größe des Berges, der als unsagbar schön und edel beschrieben wird. Zugleich verlaufen die Wege in einer Steigerungskette von hoch (hoghe, Z. 3) – noch höher (noch hoghere, Z. 5) – weiter höher (meer hoghere, Z. 5f.) und schließlich allerhöchst (alder hoghest, Z. 6), bis sie bei Gott, dem höchsten Wesen (dat hoechste wesen selue, Z. 8f.), in seiner unteilbaren Vollständigkeit (gheheel, Z. 8) anlangen. Mit hyperbolischen Überbietungsstrategien wird die enorme Höhe des Berges im Text in Szene gesetzt und damit der Sprung von bloßer Beschreibung zur performativen Inszenierung vollzogen. Fünf Wege führen insgesamt auf den Berggipfel, die alle im Angesicht Gottes enden; der Text differenziert noch genauer zwischen den einzelnen Bestandteilen des Berges als zuvor bei der Ebene. Über die ersten vier Wege werden keine weiteren Details preisgegeben, nur hebt der Begleiter den fünften Weg als etwas Besonderes hervor, der ihm selbst zwar nicht zur Verfügung steht, von dem Ich aber beschritten werden kann. Explizit wird das Angesicht Gottes mit dem Genießen verbunden, zugleich wird diesem wie bereits in der ersten Vision eine Verbindung aus der Höhe in die Tiefe beigefügt, die ebenso plötzlich einbricht. Im Unterschied hierzu aber ist die Höhe deutlich gesteigert: 50 Vgl. Reynaert (1981), S. 246–254.

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Ende doe toende hi mi voert dat onseggheleke scoene anschijn/; ende dat was ane te siene alse ene groete viereghe vloet widere ende diepere dan die zee/. Ende doe hoerdic ene grote stemme vter uloet sprekende te mi/: Comt ende wes seluer die ouerste wech ·J· inden wesenne diere volcomen in sijn/, die met corten vren alle langhe vren veruolghen/. (Vis. VIII, Z. 30–37) [Und darauf zeigte er mir das unbeschreiblich schöne Angesicht; und das sah aus wie eine riesige, feurige Flut, weiter und tiefer als das Meer. Und da hörte ich aus der Flut heraus eine mächtige Stimme zu mir sprechen: »Komm und sei selbst der oberste Weg, eins in der Lebensweise derer, die auf ihm vollkommen sind, die mit kurzen Zeiten alle langen Zeiten einholen.«]

Das Angesicht Gottes ist wie der Berg unsagbar schön, zugleich feurig,51 weit und tief, da es aus meeresartigen Fluten besteht. Diese unnennbare Tiefe wird durch die Verwendung des Komparativs gesteigert, denn diese Fluten sind sogar noch tiefer als das Meer, genauso wie der Berg sich immer noch höher dehnt.52 Gleichzeitig befindet sich das göttliche Antlitz auf dem Gipfel des Berges. Bereits an dieser Stelle sind alle Bestandteile des göttlichen Wesens, seine Weite, Tiefe und Höhe, in einem dynamischen Bildfeld aus Meeresfluten und Bergspitze vorhanden. Genauso wie die Dreieinigkeit sind sie drei und doch eins. Die verschiedenen Wege auf diesen Berg zeigen, dass voneinander hierarchisch klar abgesetzte Zugänge existieren, die in das göttliche Antlitz und zum Genuss Gottes führen. Diese Aufstellung der Wege legt nahe, dass der Weg, nicht das Ziel entscheidend ist; denn der fünfte Weg wird nicht nur als der höchste und oberste qualifiziert, sondern das Ich wird aufgrund seiner Vollkommenheit im Entbehren und Verlangen sogar dazu angehalten, selbst dieser seltene, oberste Weg zu sein. Die Identität zwischen Ich und Weg vollzieht sich an dieser Stelle, wenn es diesen Weg derart intensiv an sich selbst vornehmen muss, dass Handlung und Selbst ineinander verschmelzen. Das Entbehren und das Genießen werden räumlich entfaltet: Das Genießen ist das Ziel, nämlich der Gipfel des Berges, und das starke begehrende Entbehren ist der fünfte, höchste Weg in das Genießen Gottes. Gleichzeitig zeigt diese Passage, dass Genuss und Begehren an den Selbstverlust gekoppelt sind, denn wenn der Mangel und das Verlangen zum Weg werden, zu dem wiederum das Ich wird, kostet diese radikale Verschmelzung mit seinem Begehren das Ich die eigene Identität. Erst dann kann es am Genießen Gottes teilhaben, was zeigt, dass

51 Ebd., S. 99–133 zur Feuermetaphorik als zentrale Bildlichkeit für Gottes Wesen, aber auch für die verzehrenden Konsequenzen für den sich Gott völlig hingebenden Menschen. 52 Vgl. Lüers (1926), S. 104, wo sie im Kontext der Unendlichkeitsmetaphorik auf das Meer verweist, das bereits Dionysios mit Gottes Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit in Verbindung bringe.

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Genuss und Begehren hier zwar stark aufeinander bezogen sind, nicht aber gänzlich zusammenfallen, sondern eher sukzessiv ineinander übergehen.53 Über den fünften Weg erfährt das Ich aus dem Mund des Begleiters, dass dieser, wie bereits in der ersten Vision, einen ganzen und einzigen Weg darstellt, der nur durch die Verbindung von Gottesliebe/-Erkenntnis in Verstand und Gefühl vollzogen bzw. begangen werden kann. Darin lag nach eigenem Bekunden die Verfehlung des Begleiters, der sich strikt auf seinen Verstand beschränkte, ohne die gefühlshafte Seite der Gottesliebe zu kultivieren. Daher durfte er den fünften Weg, der eine Vereinigung aus Verstand und Gefühl in der Gottesliebe darstellt, nicht begehen, während das Ich diesen für seine Treue geschenkt bekommt. Denn ohne Gefühl in der Liebe gibt es offenbar weder Begehren noch Entbehren, somit keinen fünften Weg ins Genießen Gottes. Die Besonderheit dieser Ausführungen liegt in der Ebenbürtigkeit von Verstand und Gefühl, von Intellekt und Affekt, die hier aufgezeigt wird. Zugleich wird ein enger Bezug zur ersten Vision hergestellt, in der das Ich bereits durch eine stark gefühlsbetonte Seite in seiner Gottesliebe ausgezeichnet ist.54 Außerdem sind sowohl die ungeteilte Tugend von dem obersten Zweig des Baumes als auch die Verfehlung des Begleiters durch dieselben Elemente gekennzeichnet: Die Gottesliebe muss gheheel (Z. 100) sein, so wie Gottes Wesen selbst vollständig und unteilbar, ohne Trennungen und Unterscheidungen ist. Daher bezeichnet der göttliche Mund die Wege in Gottes Genießen als eeneghe weghe die gheheel in mi beghinnen (Z. 99f.).

Elfte bis dreizehnte Vision: Abgrund und Strudel. Das geflügelte Antlitz in Höhe, Weite, Tiefe Ein Hauptziel der Visioenen, in dem alle anderen Punkte zusammenlaufen, stellt der Wunsch des Ichs dar, Gottes Angesicht voll und ganz55 zu sehen, zu kennen und zu schmecken. Diese verschiedenen Wahrnehmungsformen durchdringen und überblenden einander, sind aber keinesfalls hierarchisch angeordnet, denn 53 Vgl. allgemein hierzu Faesen (2000), der das Genießen vollständig im Begehren auflöst, wofür es in den Visioenen zwar genügend Belege gibt, aber dennoch lassen sich auch Unterschiede zwischen dem Begehren und dem Genießen feststellen, die, wie hier, nur partielle Schnittflächen bilden: So kann zwar das Begehren zugleich Genießen sein, aber hier hat man durch Begehren gesteigertes Genießen, das nicht als Verquickung von Lust und Schmerz auftritt, sondern als erfüllende Teilhabe an Gottes eigenem Genießen. 54 Insgesamt existiert im Text eine Fülle von Hinweisen für die von Anfang an gegebene Perfektion des Ichs. Die Vollkommenheit des Ichs herauszustellen, zählt zu einer der ausgeklügelten Inszenierungsstrategien des Textes. 55 Vgl. hierbei das schon in der Wortanalyse wichtige Adjektiv gheheel in Bezug auf das Genießen, das ein Schlüsselwort darstellt, da es die Ansprüche und das Verlangen des Ichs auf Vollständigkeit verdichtet.

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Gott fühlen und Gott erkennen bilden die zwei Seiten des Einen56 – so wie der Text häufig Gegensätze wie Höhe und Tiefe nebeneinander stellt, um sie dann ineinander aufzulösen, wobei der abgrundtiefen Dimension der Vorzug gegeben wird. Im Laufe der Entwicklung des Zyklus werden daher die Wahrnehmungsund Erkenntnisformen des Göttlichen daduch gesteigert, dass diese zugleich in Räumlichkeit übersetzt werden. Alle drei Texte greifen nicht nur räumlich aus, sondern stülpen Gottes Wesen in den Raum um, der in seinen verschiedenen Dimensionen ausgelotet wird. Da eine zentrale Bestimmung des Wesens Gottes in dem ewigen Genuss seines Selbst liegt, ist das Genießen als starkes Grundthema in den Visioenen präsent, die Genuss jedoch in der Spanne von Sehnsucht und Kosten ansiedeln.57 Gottes Wesen ist aber allumfassend und schließt nichts aus, sondern alles ein,58 so dass diesem paradoxen Zugleich die Raumgestaltungen im Text entsprechen müssen. Das bedeutet, dass eine eingrenzende Beschränkung auf Höhe, Weite oder Tiefe sich selbstverständlich verbietet – daraus ergibt sich eine dionysisch inspirierte Landschaft, die genau diese Aspekte umsetzt: in plastisch erfahrbarer und imaginär begehbarer Bildlichkeit. Schon in der ersten Vision kurz eingeblendet, wird der stockdunkle Strudel – dessen Anblick erst Schrecken weckt, dann Sicherheit spendet, sobald das Ich von ihm verschlungen und mit dem Geliebten vereinigt wird59 – in den letzten Visionen zunehmend intensiv ausgestaltet. Die Innenschau und Tiefenerfahrung des Strudels bilden einen entscheidenden Baustein bei der Perfektion des zur Vollkommenheit bestimmten Ichs und eröffnen ihm die im wortwörtlichen Sinn abgrundtiefe Erkenntnis des göttlichen Wesens. In der dreizehnten Vision schließlich werden die Bestandteile des göttlichen Wesens, vorher in der goldenen Scheibe und im schwarzen Strudel chiffriert, in einem neuen Bild zusammengeführt, das seine räumlichen Aspekte vor allem in den Differenzierungen zwischen Höhe, Weite und Tiefe ausspielt: Dat anschijn hadde sesse vloghele ende die waren alle buten besloten ende binnen vloghense alle vren/. Doe ontdaden buten alle die slote diere vloghele/, Ende ic sach waer si vlieghen ende te welken staden/. Die twee ouerste vlieghen in die hoghede daer god die ouerste cracht der 56 Vgl. Vis. VIII, 109–123. 57 Vgl. allgemein zu Wilhem von St. Thierry : Ruh, Grundlegung durch die Kirchenväter (1990), S. 276–319. Dieser nimmt augustinisches Gedankengut auf und entwickelt es weiter, vgl. Faesen (2000), S. 66–75, der das Begehren als status deficiens anhand einer Paraphrasierung einer Kernstelle der caritas deficiens in Br. 18, 80–104 als direkt von Wilhelm von St. Thierry übernommen kennzeichnet. Wieder bei Ruh, Frauenmystik (1992), 200f. Beide beziehen sich auf Verdeyen (1977). 58 Vgl. hierzu die Beschreibung des Strudels in Vis. XII, 1–19. 59 Vgl. Vis. XII, 172–174.

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minnen met ghebruket. Die twee middelste vlieghen in de wijdde der volcomenre seden der minnen/. Die twee nederste vlieghen in die grondelose diepte/ daer hi alle wesene in verslint/. (Vis. XIII, Z. 28–38) [Das Angesicht hatte sechs Flügel. Die waren außen alle geschlossen, und innen waren sie in einem fort in fliegender Bewegung. Dann öffneten sich außen alle Schlösser von diesen Flügeln, und ich sah, wohin und zu welchen Stätten sie fliegen: Die zwei obersten fliegen in die Höhe, in welcher Gott die höchste Kraft der Liebe genießt. Die zwei mittleren fliegen in die Weite der vollkommenen Handlungsweise der Liebe. Die zwei untersten fliegen in die grundlose Tiefe, in die hinein er alle Wesen verschlingt.]

Das göttliche Antlitz besitzt sechs Flügel, die nach innen und außen gerichtet sind. Nachdem sich die Schlösser der äußeren Flügelpaare geöffnet haben, sieht das Ich die beiden obersten in die Höhe fliegen – analog zum Berggipfel aus der achten Vision –, wo Gott sich selbst genießt. Die zwei mittleren dagegen fliegen in die Weite – analog zu der durch das Kreuz gesehenen aus der ersten Vision – und die zwei untersten in die grundlose Tiefe – analog zu Abgrund und Strudel vor allem aus der elften bis zur dreizehnten Vision. Nicht nur alle grundsätzlichen Differenzierungen des Raums sind mit der Bestimmung von oben, unten, mitten gegeben, sondern die damit verbundenen Ausprägungen im Raum wie Berg, Weite/Ebene, Abgrund/Strudel/Meer. Die räumlichen Ausprägungen versinnbildlichen zugleich die verschiedenen Haltungen, mit denen man der Gottheit begegnen kann. Doch geht aus dem Textzusammenhang klar hervor, dass die edelste Gruppierung diejenige derer ist, die alle drei an sich vollzogen haben und damit der Dreifaltigkeit ganz60 begegnet sind. So kennzeichnet das Verlieren der Liebe aus Demut (die minne in oetmoedecheiden al uerloren hadden, Z. 80f.) die mittlere Gruppe, das Verleugnen der Liebe aus Demut die obere Gruppe (loechenen der minnen met oetmoede, Z. 228f.) und schließlich die Aufgabe der Demut um der Freiheit der Liebe willen die untere Gruppe (die oetmoedecheit begheuen hadden tusschen hen ende hare lief bi vriheiden van minnen, Z. 163–165). Damit stellt das göttliche Angesicht die Synthese aller Dimensionen dar, die durch Räumlichkeit wie Höhe, Tiefe und Weite im Verlauf der Visioenen versinnbildlicht worden sind. Als Landschaft des Genießens zeigt es deutlich die paradoxen Verknüpfungen in der Gottesbegegnung zwischen menschlichem und göttlichem Partner ; so wird der Genuss entscheidend profiliert durch das Begehren und Entbehren bis hin zum Liebeswahnsinn. Trotzdem unterscheidet der Text zwischen Formen des Genießens, die ganz im Begehren aufgehen, wie in der dreizehnten Vision, und solchen, bei denen das Begehren zum Genießen führt, wie in der achten Vision. Dabei steht das Verschlungen-Werden durch 60 Sie sind damit ebenso gheheel wie die Gottheit, da sie diese vollständig kennen und dadurch selbst vollkommen geworden sind.

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Gott höher als die Teilhabe an seinem eigenen Genießen, doch betont der Text die Einheit aller drei Formen. Die Visioenen verknüpfen zudem die Bildfelder extremer Räumlichkeit wie Berggipfel und Strudeltiefe mit Bezeichnungen des Genießens.

Mirouer: Der Berg der enthobenen Ruhe und das Meer der lustvollen Vernichtung Insgesamt sind im Mirouer die einzelnen Aspekte der Topographie knapper gehalten und breiter gestreut. Das hängt zum einen mit der ein- und ausblendenden Spiralentechnik, zum anderen mit dem deutlich größeren Umfang des Buches zusammen.61 So skizziert der Text eine Berg, Tal und Ebene umfassende Landschaft (Mirouer 9), die vor allem für den Berg detaillierter ausgeführt wird (Mirouer 65; 74). Der Berg als Metapher für das Wesen Gottes,62 nämlich die Liebe, wird als Sitz der vernichteten Seelen bezeichnet und schenkt diesen Frieden, Ruhe und Sicherheit. Besonders ausgestaltet wird die dionysisch inspirierte Bildlichkeit des Meeres63 (Mirouer 28; 80–82; 110), die sowohl die Unerschöpflichkeit von Gottes Wesen als auch die Vernichtung des Eigenwillens ausdrückt, indem es den Menschen ganz in Lust auflöst. Berg und Meer werden als Räumlichkeiten gestaltet, die das Wesen Gottes in seiner Erhabenheit und seiner Unergründlichkeit veranschaulichen, für den Menschen dagegen sind sie erst nach dessen Vernichtung zugänglich. Doch bewirkt diese Vernichtung eine Teilhabe an Gottes Wesen, denn die Seele wird umgewandelt in die Liebe und erfährt Lust oder Frieden. 61 Eine alternative und faszinierende Deutung dieser auffallend stark inszenierten Räumlichkeit stammt von Bertho (1993), 47–54, die den Mirouer mit dem Motiv der Queste verbindet und als eine carte du tendre divin begreift, in welche die einzelnen Landschaftselemente aus plaine, vall¦e, fleuve, oc¦an, montage eingetragen sind (S. 50–52). Der Text schildert die »migration de l’–me« von dem »pays ¦tranger« zum »pays de vie« als eine Art »g¦ographie spirituelle« (S. 52). Doch verzichtet Bertho darauf, die verschiedenen Bestandteile der Landschaft kohärent zu beschreiben und zu deuten, sondern weist im Zusammenhang narrativer Motive und Einflüsse lediglich darauf hin. Besonders interessant für das Thema ›Genuss‹ ist ihre Deutung dieser Queste, die das französische joie in seiner paradoxen Charakteristik dem Genuss besonders nahe rückt, wobei mir die Vernichtung der Seele derart total zu sein scheint, dass sie alles, sogar den Schmerz oder die Erfüllung, restlos absorbiert, was den Mirouer besonders deutlich von den Visioenen und dem Fließenden Licht unterscheidet: »Tourn¦e vers l’inaccessible, la quÞte de la ›fin’amor‹ devient une ¦cole de renoncement qui plonge l’›Ame‹ dans les d¦lices du ›joi‹, cette divine insatisfaction, m¦lange inexprimable de plaisir et souffrance dont le franÅais moderne ›joie‹ a perdu toute la saveur.« (S. 53f.) 62 Vgl. Lüers (1926), S. 138–140, Egerding (1997b), S. 58f. 63 Vgl. Lüers (1926), S. 104.

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Insgesamt ergibt sich diese mystische Landschaft immer wieder aus einzelnen Passagen, die sich zwar aneinanderfügen, aber keineswegs zu einem Cluster wie in dem Visionenzyklus verdichten. Sie entwerfen vielmehr ein Panorama unter verschiedener Akzentuierung. Dabei verschmäht Marguerite Porete keineswegs eine aus dem konkreten Alltag entnommene Bildlichkeit wie bei den Flüssen Seine und Oise, die ins Meer fließen und dort ihren Namen, in diesem Fall Synonym für das eigene Selbst, verlieren (Mirouer 80–82). Eine dominierende Thematik ist die Vernichtung des Selbst und die Auslöschung des Eigenwillens, um ganz in das göttliche Wesen eingehen zu können. Hierfür prägt der Text verschiedene Haltungen aus, wie das Sitzen im Abgrund oder das Betrachten des Berggipfels von der Talsohle aus. Beide Räumlichkeiten drücken das Verhältnis des Menschen zu Gott aus (Mirouer 9; 74), nämlich die Demut, während der Abgrund64 zugleich seine Armut und Verworfenheit versinnbildlicht. Ein Bezug zum Genießen ist damit bloß implizit gegeben, denn nur wer sein Selbst verliert, genießt die Lust der Gottheit in der Umwandlung durch die Liebe wie im Meer, auch in Form von Ruhe und Frieden auf dem Berg der Liebe. Mirouer 9, 65, 74: La montaigne als Ruheort der vernichteten Seelen und als Ort der göttlichen Schau Der Berg tritt im Mirouer häufig in Kombination mit dem Tal auf, welches die Demutshaltung der vernichteten Seelen ausdrückt. In Mirouer 9 wird gezeigt, auf welche Weise die vernichteten Seelen keinen Willen mehr haben, was anhand von zahlreichen Beispielen inszeniert wird. Hiermit verbindet sich die Aufhebung des Urteils über den eigenen Zustand, da die Seele weder weiß, ob sie gut oder schlecht (bonnes – mauvaises, 9, 15), bekehrt oder verdorben (converties – perverties, 9, 17) ist. Der Text distanziert eine solche Seele deutlich von jeglicher Art von Lehrmeistern (maistres de sens de nature, maistres d’ escripture, 9, 31). Die Seele, welche des Fine Amour (9, 35) kundig ist, wird stattdessen als eine Schülerin der Gottheit bezeichnet. Am Schluss dieses Kapitels blendet der Text die mystische Landschaft in einem komprimierten Absatz ein, die dann später wiederholt in einzelnen Aspekten entfaltet oder ergänzt wird. Damit schließt die Liebe ihre Beschreibung der Musterseele (prenons une Ame pour toutes, 9, 18f.) ab: Ceste Ame est escolliere de la Divinit¦, et si siet en la vallee d’Umilit¦, et en la plane de Verit¦, et se respouse en la montaigne d’Amour. (Mirouer 9, 41–43)

64 Vgl. zum Abgrund im Mirouer McGinn (1999), S. 461. Er weist ebenso darauf hin, dass anders als Hadewijch Marguerite Porete nicht von Gott als Abgrund spricht.

Mystische Landschaften als Topographien des Genießens

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[Eine solche Seele lernt in der Schule der Gottheit, und sie hat ihren Sitz im Tale der Demut und in der Ebene der Wahrheit, und sie ruht auf dem Berge der Liebe.]

In einer kurzen Skizze wird diese mystische Landschaft, bestehend aus dem Tal der Demut, der Ebene der Wahrheit und dem Berg der Liebe65 entworfen. Was in Verbindung mit den eher statisch erscheinenden Räumlichkeiten auffällt, ist deren zunehmende Dynamik durch den Bezug zu den Bewegungsformen dieser Seele. Die Seele sitzt im Tal und auf der Ebene, aber sie ruht auf dem Berggipfel. Zugleich besteht ein zentrales Kennzeichen der vernichteten Seele darin, dass sie sich ohne sich selbst bewegt, c’est l’usage acoustum¦ de telles Ames, sans elles /mouvoir d’elles memes (9, 12f.), das heißt, die Bewegungen der Seele stehen im Zeichen einer vollständigen Aufgabe des Eigenwillens und einem gleichzeitigen Sich-Gott-Überlassen. Dieses Kapitel stellt damit zugleich eine Einführung in die drei zentralen »sich überlagernden Befindlichkeiten«66 des Mirouer dar, denen allen die vernichtete Seele angehört. In Mirouer 65 wird der Berg ins Zentrum des Kapitels gestellt und ausführlicher in seiner Eigenschaft als Ruheort für die vernichteten Seelen erläutert. Bestimmte Kennzeichen der Vernichtung werden in diesem Zusammenhang erneut angeführt, wie die Gleichgültigkeit gegenüber den Tugenden wie Demut (Humilit¦, 65, 14), Furcht (Crainte, 65, 14) und Züchtigkeit (Vergoigne, 65, 13) oder gegenüber den unterschiedlichen Werten wie Ehrverlust (honte, 65, 7) und Prestigegewinn (honnour, 65, 7). Solche im weltlichen und/oder geistlichen Kontext fest verankerten Wertesysteme inklusive aller Unterscheidung fahren lassen zu dürfen, wird in den anschließenden Diskussionen zwischen Liebe und Vernunft mit der Freiheit der Liebe (la franchise d’Amour, 65, 34f.) begründet, für deren Enthobenheit, Sicherheit, Unangreifbarkeit der Berg eine entsprechende Bildlichkeit liefert und zugleich eine direkte Verbindung zur Göttlichkeit herstellt: – […] Maintenant je vous diray qui / c’est, qui se siet en la montaigne dessus les vens et les pluies. Ce sont ceulx qui n’ont en terre ne honte ne honnour ne crainte pour chose qui adviengne. Telles gens, dit Amour, sont segurs, et si sont leurs portes ouvertes, et si ne les peut nul grever, ne œuvre de charit¦ ne se ose embatre: telles gens se sieent en la montaigne, et nulz aultres que ceulx ycy ne s’i sieent. (Mirouer 65, 4–11). [Jetzt möchte ich euch weiter sagen, wer dies ist, der auf dem Berge wohnt über den Winden und über den Regengüssen. Das sind jene, die auf Erden weder Schmach noch Ehre, noch Furcht kennen, noch was immer ihnen zustoße. Solche Leute, spricht die Liebe, befinden sich in Sicherheit. Ihre Türen stehen daher auch offen. Doch kann sie 65 Vgl. FL II, 21, 1–12. 66 Vgl. hierzu Gnädinger (1987), S. 250, Anm. 16. Des Weiteren weist sie darauf hin, dass es sich anstelle eines dreistufigen Aufstiegsschemas im Mirouer hierbei um drei simultan bewohnte Sitze handelt.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

niemand belästigen, nicht einmal das Werk der Nächstenliebe wagt sich einzudrängen. Solche Leute lassen sich nieder auf dem Berg, und niemand anders als sie wohnet da.]

Auf dem Berggipfel sitzen nur diejenigen, die über alle Dinge und Zustände erhaben sind, das heißt, die ganz in Gott eingegangen sind und deren Selbst völlig vernichtet worden ist. Sie befinden sich damit über den Winden und den Regengüssen, was ihre Unangreifbarkeit ausdrückt, die nicht einmal durch ein Werk der Nächstenliebe gestört werden kann. Die Sicherheit, die man dadurch gewinnt, wird hier mit dem Sitz auf dem hohen Berg verbunden, eine Sicherheit im Tun und im Lassen, die das eine dynamisch mit dem anderen verbindet – eine Art aktiver Passivität, die alles genau dadurch bewirkt, dass sie Gottes Willen an sich vollführen lässt. Der Text ergänzt das Bild des Berges an dieser Stelle durch das Bild der offenen Türen, durch die zwar alles und jedes eintreten, nichts aber diesen sicheren Zustand der Seele stören kann.67 Dieser ergibt sich aus ihrer völligen Vernichtung und damit ihrer totalen Übereinstimmung mit Gott. Dasselbe Wort wird in den Visioenen gebraucht, wenn das Ich zum ersten Mal in den schrecklichen schwarzen Strudel des Genießens aufgenommen wird. Sicherheit und Ruhe sind selbstverständlich nicht mit Genuss gleichzusetzen, doch gehören sie trotzdem zum Umkreis des Genießens Gottes, der die Seele nach Selbstaufgabe und Vernichtung an seinem Wesen teilhaben lässt, das wahlweise entweder Lust wie im Meer oder Frieden wie auf dem Berg schenkt. In Mirouer 74 wird die bereits in Kapitel 9 skizzierte Landschaft aus Berg und Tal wiederaufgenommen und durch die in diesem Zusammenhang eingenommenen Haltungen der Seele miteinander verbunden. Denn dieses Mal sitzen die vernichteten Seelen nicht auf der Höhe des Berges, sondern im Tal der Demut, 67 Auch dieses Kapitel nimmt Bezug auf die Schüler-Metaphorik aus Mirouer 9, wenn es heißt, die Seele lerne jetzt an der Stelle zu lesen, wo die Tugenden aufhören, und sei selbst das Pergament, auf dem die göttlichen Lektionen niedergeschrieben werden. Das ergänzt und radikalisiert den Buch- und Textbegriff des Mirouer auf das Äußerste, der nicht nur, wie im Prolog, multifunktional zwischen Schrift und Bild, sondern zugleich auch zwischen Seele und Material (Pergament) oszilliert. Offenbar entsteht der eigentliche ›Text‹ erst in der Seele des Lesers bzw. Hörers durch den stummen Vollzug der Vernichtung: Car quant ceste Ame fut en amour enmantellee, que elle print leÅon a vostre escole par desirer des oeuvres des Vertuz. Or est elle maintenant si entree et surmontee en divine leÅon, que elle commence a lire la ou vous prenez vostre fin; mais ceste leÅon n’ est mie mise en escript de main d’ omme, mais c’ est du Saint Esperit, qui escript ceste leÅon merveilleusement, et l’Ame est parchemin precieusement; la est tenue la divine escole, a bouche close, que sens humain ne peut mectre en parole. (Mirouer 66, 11–2) [Als diese Seele mit dem Mantel der Liebe bekleidet wurde, nahm sie zwar in eurer Schule noch Lektionen im Verlangen nach Tugendwerken! Jetzt aber ist sie so weit fortgeschritten und vorwärts gekommen im göttlichen Unterricht, dass sie da zu lesen anfängt, wo ihr damit aufhört. Diese Lehrstunde wurde allerdings niemals von Menschenhand notiert. Es ist der Heilige Geist, der diese Lektion wunderbar aufschrieb, und die Seele dient ihm als kostbares Pergament: da wird der göttliche Unterricht abgehalten, bei geschlossenem Mund. Denn menschlicher Sinn vermag es nicht in Worte zu fassen.]

Mystische Landschaften als Topographien des Genießens

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was Höhe und Tiefe dynamisch verbindet. Mystischen Topographien gelingt es, durch Bilder wie Berg und Tal oder Berg und Abgrund einzelne Facetten klar herauszustellen, ohne deren Gegenpart dafür aufgeben zu müssen. Das so entstehende, im Grunde paradoxe, Gesamtbild veranschaulicht die beiden zentralen Haltungen im Verhältnis zu Gott, nämlich tiefste Demut68 (alternativ : Selbstverlust, Vernichtung) und höchste Ruhe (alternativ : Lust, Frieden, Sicherheit). In diesem Fall steht die Demut im Zentrum, die dennoch auf das Höchste ausgerichtet bleibt, wenn die Seele aus dem Tal der Demut unverwandt den Blick auf den Gipfel des Berges gerichtet hält, was der Amour folgendermaßen schildert: Car elle se siet ou fons de la vallee, dont elle voit le mont de la montaigne, dont elle voit la montaigne du mont. Nul entredeux ne se peut la embatre; et la mect le sage, pour seuret¦, son tresor : ‹c’›est le don de divine amour d’unit¦; et ceste unit¦ luy donne la paix et la pasture soubtive et merveilleuse du glorieux pays ou son amy demoure. Ses dangiers ne peüt mais fors vie glorieuse. C’est la pasture, dit Amour, de mon eslite espouse; c’est »Marie de paix«, et pource est »Marie de pa‹i›x«, que Fine Amour la paist. (Mirouer 74, 9–17) [Denn sie hat ihren Wohnsitz im Grunde des Tales, von wo aus sie den Gipfel des Gebirges sieht. Da vermag sich nichts dazwischen zu stellen. Und dahin bringt der Weise wegen der Sicherheit seinen Schatz: das ist die Gabe der Einheit in der göttlichen Liebe. Und diese Einheit schenkt ihr den Frieden und die delikate und wunderbare Speise des verklärten Landes, in dem ihr Freund wohnt. Nichts sättigt den Bedarf außer das verklärte Leben. Es ist die Speise meiner erwählten Braut, spricht die Liebe. Das ist »Marias Frieden«! Und darum ist sie »Maria Frieden«, weil die edle Liebe sie ernährt.]

An dieser Stelle differenziert der Text zwischen dem Berg und dem Gipfel des Berges.69 Der mont de la montaigne wird diametral dem fons de la vallee gegenübergestellt, zugleich wird die Dynamik der Schau des Berges in seinen unterschiedlichen Bestandteilen durch einen Chiasmus ausgedrückt.70 Denn die Seele schaut nicht nur den Gipfel des Berges, sondern auch den Berg des Gipfels, das heißt, den Berg in seiner Vollständigkeit. Besonders hier wird die Schau des Berges mit dem Wesen Gottes verknüpft, dessen Schau der Seele zuteil wird, nachdem diese alle drei Tode gestorben und vernichtet worden ist. Dem Text zufolge kann sich nichts zwischen die beiden stellen, was auf eine nicht zu unterbrechende Form der Gemeinsamkeit und sogar eine vorerst sehr verhalten ausgedrückte Einheit hinweist. 68 Vgl. Gnädinger (1987), S. 264, Anm. 147: Gnädinger verweist hier auf den Bezug zu den Hoheliedpredigten Bernhards von Clairveaux, der sich durch das »Tal der Demut« ergibt. 69 Vgl. Gnädinger (1987), S. 264, Anm. 148: Gnädinger zufolge ist der Berggipfel der Beschauung »ein Ort Gottes, wenn nicht Gott selbst«. 70 Der zweite Satzteil und damit der Chiasmus dont elle voit la montaigne du mont (Mirouer 74, 10f.) fehlen in der Übersetzung von Gnädinger.

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Denn in der göttlichen Liebe findet die edle Seele die Gaben der Einheit (unit¦, 74, 13) und des Friedens, und sie erhält die edle und köstliche Speise aus dem verklärten Land, in welchem ihr Freund wohnt. Das verklärte Land (glorieux pays, 74, 14) und das verklärte Leben (vie glorieuse, 74, 15) verweisen auf den siebten Zustand, wo die Seele verklärt wird, und signalisieren in Kombination mit der Sättigungsmetaphorik implizit die Erfüllung im Genuss des Göttlichen, was aber nur im Prolog in Verbindung mit dem siebten Zustand expliziert wird. Der Berg als Ort der Schau des göttlichen Wesens wird ausgeweitet auf ein verklärtes Land, in welchem die Seele gesättigt wird durch die liebende Einheit mit Gott. Abschließend zieht der Text Maria und Martha als exemplarische Figuren für diesen Zustand des Friedens heran: Martha als Gegenbild, denn sie sei zu beschäftigt (trop empeschee, 74, 1) und zu verwirrt (Ses empeschements la troublent, 74, 1f.), um daran teilzuhaben, während Maria sich durch diese edle Liebe ernähren lässt. Mirouer 28, 80, 82, 83: Das Meer als Ort der Selbstvernichtung und der Lust an Gott Das Meer bildet, neben dem Berg und zusammen mit dem Abgrund, eines der tragenden Bildfelder im Mirouer. Stärker noch als das Bild des Berges erfüllt es eine paradoxe Doppelfunktion, da es sowohl für die Vernichtung des Selbst als auch für die Teilhabe an der göttlichen Lust und Freude steht.71 Dies wird in dem Bewegungsspektrum der Seele ausgedrückt, wodurch sich eine Verbindung zwischen dem Fließenden Licht und dem Mirouer herstellen lässt: Mirouer 28 stellt das Bild des Meeres in den Kontext des Ertrinkens (noyer), aber zugleich des Schwimmens (nager) und Schwebens (fluer). Die Art ihrer Bewegungen drückt die Spanne zwischen Untergehen und Emporschweben aus, in der sich dieses Kapitel im wahrsten Sinne des Wortes bewegt: Comment ceste Ame noe en la mer de joye Telle Ame, dit Amour, nage en la mer de joye, c’est en la mer de delices fluans et decourans de la Divinit¦, et si ne sent nulle joye, car elle mesmes est joye, et si nage et flue en joye, sans sentir nulle joye, car elle demoure en Joye, et Joye demoure en elle; c’est elle mesmes joye par vertuz de Joye, qui l’a muee en luy. […] Or est ung commun vouloir, comme feu et flambe, le vouloir de l’amant et celluy de l’amie, car Amour a muee ceste Ame en luy. (Mirouer 28, 1–11)

71 Vgl. hierzu Marin (2010).

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[Wie diese Seele im Meer der Freude schwimmt72 Eine solche Seele, spricht die Liebe, schwimmt im Meer der Freude, das ist in dem aus der Gottheit ausfließenden und ausströmenden Meer der Wonnen. Doch empfindet sie dabei nicht irgendwelche Freude, denn sie selbst ist Freude. Und so schwimmt und schwebt sie in der Freude, ohne die Empfindung irgendeiner Freude. Denn sie bleibt in der Freude, und die Freude bleibt in ihr. Es ist die Freude selbst, die sie durch die Tugendkraft der Freude in sich umgewandelt hat. Nun gibt es nur ein gemeinsames Wollen, wie Feuer und Flamme. Das Wollen des Geliebten ist dasjenige der Geliebten, die Liebe nämlich hat diese Seele in sich verwandelt.]

Das Meer der Freude (mer de joye) ist Aus- und Einfluss der Gottheit, das heißt, der Mirouer verbindet das Bild des Meeres mit dem Emanationsgedanken. Doch umgibt die göttliche Flut die Seele nicht nur, sondern durchdringt sie bis zur völligen Verwandlung – so erfährt die Seele nicht nur die Freude, sondern wird selbst zur Freude. Der Prozess der Verwandlung wird mittels Wiederholungen von en nulle joye und Überkreuzungen von elle/Joye performativ inszeniert, so dass sie den Text mit einem dichten klanglichen Netz überziehen, bis die Seele en luy, das heißt ganz in die Freude, verwandelt ist. Der Klang der Freude dominiert diese Passage entschieden und vollzieht damit in der Sprache, auf der Textoberfläche diese Verwandlung der Seele in Freude mit. Besonders Freude (gaudium) weist einen engen Bezug zum Genuss auf, der durch die Einswerdung mit Gott für den Menschen freigesetzt und in performativer Lust am Klang inszeniert wird. Hier zeigt sich, wie Genuss und Sprache im Klang ineinander verschmelzen und die Räumlichkeit mit einer großen Klangfülle ausstatten.73 Das Meer verströmt Lust und Wonne (delices) der Göttlichkeit, was zugleich die Teilhabe der Seele an dieser impliziert; obwohl der Text das äußerst sparsam gebrauchte Wort fruiction vermeidet, signalisiert die Bildlichkeit einer völlig in die lustvollen göttlichen Fluten aufgenommenen und von diesen verwandelten Seele eine verhalten ausgedrückte Teilnahme am göttlichen Genießen. Wie Flamme und Feuer sind Seele und Gott nun ein Wille, denn der Wille des göttlichen Partners hat die Seele – seine Freundin (amie) – in sich verwandelt, was für die Seele die völlige Selbstaufgabe bedeutet. Selbstverlust, Süße, Lust und Freude verbinden sich im Bild des Meeres zu einem dichten Bild der Verschmelzung und Verwandlung, das in unmittelbare Nähe zum Genießen rückt.74 72 Alternativ als Übersetzung für noe: »ertrinkt«. Der Doppelsinn an der Stelle ist m. E. von tragender Bedeutung, denn Ertrinken und Schwimmen im göttlichen Meer gehören zusammen. 73 Vgl. hierzu C. Müller (1999), S. 133–160. 74 Vgl. die wiederholte Verbindung von Sättigung/Trunkenheit und Meer/Abgrund für die Liebe/Gott: Amour ne destruit mie, mais aincoys instruit ceulx et nourrist et soustient, qui en luy se fient, car elle est saoullant, et abysme, et mer remplie. (Mirouer 79, 45–47) [Sicher nicht, spricht diese Seele, niemals! Die Liebe zerstört nie, vielmehr unterweist und ernährt und

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Der Text drückt den Selbstverlust, als süße Verwandlung (doulce muance) gepriesen, im Bild der Namenlosigkeit bzw. des verlorenen Namens aus: Hee! tres doulce pure divine Amour, dit ceste Ame, comment c’est une doulce muance de ce que je suis muee en la chose que j’ayme mieulx que moy! Et tant suis muee, que je en ay perdu mon nom pour amer, / qui si pou puis amer: c’est en amour, car je n’ayme fors que Amour. (Mirouer 28, 12–16) [Ach, überaus süße lautere göttliche Liebe!, spricht diese Seele. Was ist dies für eine lustvolle Umwandlung, da ich umgewandelt bin in das, was ich mehr liebe als mich selbst! Und so ganz bin ich verwandelt, dass ich vor Liebe meinen Namen verwandelt habe, ich, die ich so wenig zu lieben vermag. Das geschah durch die Liebe, denn ich liebe nichts als die Liebe.]

Die im Mirouer verschiedentlich auftretende Verbindung aus Selbstverlust und Lust am Göttlichen, die sich durch die Empfindung der Süße codiert, tritt hier verhältnismäßig deutlich und unverhüllt zutage. In diesen Kontext fügen sich sowohl das Bild des Meeres ein, das ein Element aus Vernichtung und Durchdringung darstellt, als auch die Dynamik der Bewegungen zwischen Ertrinken, Schwimmen und Schweben. Die Seele verliert ihren Namen, aber sie gewinnt das, was sie mehr liebt als sich selbst, und hat Teil an der göttlichen Lust und Wonne. Diese Freude an Gott mit aller damit verbundenen Wonne signalisiert zusammen mit dem Selbstverlust, die in ein Bild verdichtet werden, eine Verbindung zum Genießen, das in seinen Begleiterscheinungen wie Freude, Süße, (Ver-)Lust inszeniert wird, ohne jedoch explizit genannt zu werden. Überhaupt vermeidet der Mirouer die Beschreibung der Wonnen, welche das Zusammensein mit Gott verschafft, und deutet diese nur verschlüsselt an, beschäftigt sich dagegen ausführlich mit der Vernichtung, wobei beide Bestandteile der Vereinigung mit Gottes Wesen darstellen. Mirouer 80 wurde bereits im Rahmen der Sättigungsmetaphorik ausführlich dargelegt;75 daher wird hier das Bild von der Überfahrt der Seele über das tiefe Meer, in dem sie ihren Eigenwillen versenkt bzw. ertränkt, um anschließend vom Mark der hohen Zeder kosten zu können, kurz erwähnt. Es verbindet sich zuunterstützt sie jene, die sich ihr anvertrauen. Denn sie ist sättigend und ein Abgrund und ein überlaufendes Meer.] Anstatt mit sättigend würde ich saoullant allerdings mit berauschend übersetzen. 75 Ergänzend vgl. zu Mirouer 80 die autopoetische Aussage vom Singen – zuerst der Vor-, dann der Gegengesang: Je chante, dit ceste Ame, l’ une heure a chant, l’ aultre a deschant, et tout pour ceulx qui ne sont mie encore frans, affin qu’ ilz oyent aucuns poins de franchise, et quelle chose il convient, ains que on parviengne a elle. (Mirouer 80, 1–5) [Ich singe, spricht diese Seele, die eine Stunde den Vorgesang, die andere den Gegensang. Und all dies für jene, die noch nicht frei geworden sind, damit sie einige Abschnitte über die Freiheit zu hören bekommen, und was man tun muss, damit man sie erlangt.]Wie im Fließenden Licht spricht auch die Seele im Mirouer von ihrem Singen, das hier als performative Inszenierung mit einer Fülle klanglicher Details wie chante – chant – deschant vollzogen wird.

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gleich mit dem Bild des Abgrunds, da die Seele im Zuge ihrer Vernichtung ins Nichts stürzt.76 Hier ist das Meer erneut ein Bild für die Vernichtung, was in den folgenden Kapiteln noch ausgeweitet wird. So knüpft Mirouer 82 direkt an das Bild des verlorenen Namens an, das weiter ausgestaltet wird. Der Name unterscheidet ein Individuum signifikant von einem anderen, und das Aufgeben des Eigennamens signalisiert eindeutig den Verlust des Selbst. Doch nun wird das Bild gleichzeitig auf die einzelnen Flüsse übertragen, die ins Meer einfließen und dort ihren Namen und damit sich selbst verlieren. Dies geschieht allerdings erst, nachdem die Seele in alle vier Richtungen frei ist und in die Herrlichkeit Gottes aufsteigt, um sich dort schmelzend mit ihm zu vereinigen: Et se elle est ainsi franche de tous costez, elle pert son nom, car elle monte en souverainet¦. Et pource pert elle son nom en celluy, en quoy elle est de luy en luy fondue et remise / de luy en luy pour elle mesmes. Ainsi comme feroit une eaue qui vient de la mer, qui a aucun nom, comme l’en pourroit dire Aise, ou Sene, ou une aultre riviere; et quant celle eaue ou riviere rentre en mer, elle pert son cours et le nom d’elle, dont elle couroit en plusieurs pays en faisant son oeuvre. Or est elle en mer, la ou elle se repouse, et ainsi a perdu tel labour. Pareillement est il de ceste Ame. (Mirouer 82, 37–46) [Und wenn sie nun so in alle Richtungen frei ist, dann verliert sie ihren Namen, denn sie steigt in die Herrlichkeit auf. Und darum verliert sie ihren Namen in demjenigen, in welchen sie durch ihn und in ihm verschmolzen und durch ihn und ihn, für sie, zurückgekehrt ist. Genau so wie es bei einem Wasser geschieht, das aus dem Meere fließt, das keinen Namen hat, man könnte sagen wie bei der Oise oder Seine oder wie bei einem anderen Fluss. Doch kehrt dieses Wasser oder der Fluss wiederum ins Meer zurück, verliert es seinen Lauf und seinen Namen, unter dem es manches Land durchflossen hat, indem es sein Wesen trieb.77 Nun ist es im Meer, und da ruht es sich aus und hat damit seine Mühe aufgegeben. Ebenso verhält es sich mit dieser Seele.]

Wenn die Seele aufsteigt, verliert sie ihren Namen, so wie Flüsse, die wieder ins Meer einfließen und sich ununterscheidbar mit diesem verbinden; es handelt sich daher um eine Rückkehr aus dem Endlichen in das Unendliche, aus dem Zeitlichen in das Ewige. In der Bewegung des Steigens und der Rückkehr der Flüsse ins Meer ergänzen sich Höhe und Tiefe in zwei dicht aneinander angelagerten Bildern. Die Dynamik der Bewegung kommt im Meer zu Ruhe. Das Bild der zwei Flüsse Oise und Seine, die im Meer zur Ruhe kommen und jedes eigene Werk aufgeben, stammt aus dem Kontext des Alltags, wodurch die traditionelle Meermetaphorik für Gottes Unendlichkeit und Liebe erweitert wird. Weil sie ihren Namen verliert, kann die Seele durch Verschmelzung in Gott verwandelt 76 J’ay dit devant que telle Ame est cheue de moy en nient; mais encore en moins que nient sans terme. (Mirouer 80, 11f) [Ich sagte vorhin, eine solche Seele sei meinetwegen ins Nichts gestürzt, mehr noch: in weniger als nichts, endlos.] 77 Eine wörtlichere Übersetzung von en faisant son oeuvre wäre »sein Werk verrichtete/seine Aufgabe erfüllte«.

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werden, was der Text mittels der Wiederholung von Präpositionen und Pronomina (en luy de luy) wie in Mirouer 28 performativ inszeniert und im Anschluss in brautmystischer Sprache als lustvolle Liebe deutet. Sowohl Lust als auch Ruhe verbinden sich mit dem Selbstverlust. Die bereits aus Mirouer 28 bekannte Umwandlung in den göttlichen Partner, die eine völlige Aufgabe des Selbst zur Begleitfolge hat, wird in Mirouer 82 am Beispiel der Flüsse, die im Meer verschwinden, aufgezeigt und im nächsten Kapitel aufgegriffen: Or est telle Ame sans nom, et pource a le nom de la muance ou Amour l’a muee. Ainsi comme ont les eaues, dont nous avons parl¦, qui ont nom de mer, car c’est toute mer, si tost commes elles sont en la mer rentrees. Car aussi nulle nature de feu n’atrait nulle matere en luy ; car il fait de luy et de la matere une chose, / non mye deux, mais une. (Mirouer 83, 3–9) [Nun ist also eine solche Seele ohne Namen! Und darum nimmt sie ihren Namen von der Umwandlung, in der die Liebe sie verwandelt. Wie bei den Wassern, von denen wir sprachen, die den Namen Meer bekommen, denn insgesamt sind sie Meer, sobald sie ins Meer zurückgeflossen sind. Auch Feuer nimmt keineswegs je irgendwelche Materie aus: es macht vielmehr aus sich und der Materie einen einzigen Stoff, es sind nicht mehr zwei (Stoffe), sondern nur noch ein einziger.]

Mirouer 83 wiederholt fast wörtlich die Kernsätze aus Mirouer 82 und ergänzt die Verwandlung der Seele, indem er nicht nur die Metaphorik von Meer und Flüssen aufgreift, sondern die des Feuers hinzufügt. Der Text spart grundsätzlich aus, wird elliptisch, tritt zurück. Die Seele verwandelt sich in die Liebe oder in Feuer, Meer oder den Bräutigam, aber es heißt hier nicht explizit: in Gott, sie wird zu Gott. Dasselbe gilt für Genuss, der durch Bilder wie Berg und Meer, durch Facetten wie Ruhe, Frieden, Lust, Freude und Selbstverlust verhalten angedeutet, nicht aber auf der direkten Wortebene in diesem Zusammenhang genannt und dennoch so präsentisch gezeigt wird.

Zusammenfassung Die in den Texten entwickelten mystischen Topographien zeigen, obgleich sie alle aus einem begrenzten Bildervorrat schöpfen, wie unterschiedlich diese im Einzelnen ausgestaltet sein können. Obwohl jeder Text die Dimensionen der extremen Höhe und der extremen Tiefe aufnimmt und in seine Landschaften integriert, um das Wesen Gottes und/oder die Beziehung zwischen Mensch und Gott auszudrücken, ist jedes einzelne Bild in andere Kontexte eingebettet. So stellt das Fließende Licht den Berg als zentrales topographisches Zentrum dar,

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aus dem heraus sämtliche Bestandteile der Höhe und Tiefe entfaltet werden, und inszeniert das Genießen in Vereinigung und Verlust durch lyrisches Sprechen, Zitat-Collagen und Schmelzgestus. Dagegen wird in den Visioenen eine ausgeklügelte Landschaft aus Ebene, Berg, Abgrund/Strudel entwickelt und bis in ihre Einzelheiten in Bezug auf das Wesen Gottes und das begehrte Genießen ausgedeutet. Der schmale Raum von vierzehn Visionen wird maximal ausgenutzt, während es das Fließende Licht bei intensiven, punktuellen Einblendungen belässt. Im Mirouer dagegen herrschen zwei Zentren vor, welche die Enthobenheit und zugleich die Versunkenheit der vernichteten Seele chiffrieren: zum einen der Berg als Ort der Ruhe und zum anderen das Meer als lustvolle Tiefe der Verwandlung. Aspekte des Genießens wie Ruhe und Frieden, Freude – eher das altmodische ›Wonne‹ – und Lust werden in diesem Zusammenhang performativ inszeniert und zeigen die Verwandlung der Seele in Gott und ihre Teilhabe an seinem Wesen um den Preis der Selbstaufgabe. Somit betreiben die Texte jeweils auf eigene Weise einen enormen sprachlichen, ästhetischen und technischen Aufwand, um ihre Landschaften und die damit einhergehenden Codierungen in Szene zu setzen. Immer wieder werden einzelne Bestandteile dieser Räumlichkeiten aufgegriffen und ins Bild gebracht, um den Gesamttext einprägsam auszustatten und für die Rezipienten sowohl ›begehbare‹ Topographien zu bieten als auch einen bereits vorhandenen Bildvorrat und Wortschatz in plastischer Dynamik miteinander zu verschmelzen. Der unmittelbare Bezug zum Genießen ist hierbei unterschiedlich dicht.

II.3.2 Genuss Gottes im textuellen Vollzug: Inszenierungen von Gegenwärtigkeit und Ewigkeit des Genießens Das Fließende Licht, die Visioenen oder der Mirouer entwerfen nicht nur mystische Topographien, sondern verbinden diese mit einer zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit kippenden Zeitstruktur.78 So sind die Texte an zahlreichen Stellen darauf ausgerichtet, Gottes Gegenwärtigkeit durch die Teilhabe am Genuss in seiner ganzen Fülle schon im Hier und Jetzt zu erfahren, obwohl der vollständige Genuss Gottes bei Augustinus/Lombardus ausschließlich im Jenseits verortet wurde und demzufolge im Diesseits nur als Abglanz erfahren werden kann.79 Die 78 Vgl. zur Verbindung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit FL II, 21, 9f.: Der Berg als verräumlichte Ewigkeit Gottes hat weder Anfang noch Ende, was auf seine unendliche Ausdehnung verweist. 79 Siehe exemplarisch Lombardus: Haec ergo, quae sibi contradicere videntur, sic determinamus dicentes, nos et hic et in futuro frui, sed ibi proprie et perfecte et plene, ubi per speciem

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sogenannte Fülle der Zeit oder plenitudo temporis versteht sich zwar in erster Linie als Erfüllung der Heilsgeschichte am Ende der Zeiten für die Christenheit, kann aber in mystischer Ausdeutung als punktueller Einbruch und Durchbruch der Ewigkeit für die einzelne Seele verstanden werden.80 Letztere bildet einen »Schnittpunkt zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit«,81 denn indem der ewige Gott nu gegenwärtig wird und die Seele ganz mit sich erfüllt, überlagern sich Ewigkeit und Zeitlichkeit, was die Texte für den Genuss vielfältig ausgestalten. Wie bereits in der semantischen Analyse der einzelsprachlichen Bezeichnungen gezeigt wurde, verbindet sich das Genießen Gottes mit den Attributen des Ewigen, die immer wieder in den Inszenierungen der Gegenwärtigkeit Gottes im Genießen erscheinen. Sowohl das Element des Transitorischen als auch das des Dauernden kennzeichnen diese Präsenz des Göttlichen, die zugleich gegenwärtig und ewig fortdauernd ist. Ruh hat sie unterschiedlich für das Fließende Licht und den Mirouer bestimmt; denn während die Einheit im Ersteren transitorischen Charakter habe, sei im Letzteren eher ein dauerhafter Zustand impliziert.82 Dem hat Köbele in ihrer Dissertation eine Gegenthese gegenüber gestellt, denn ihres Erachtens sei die Einheit im Fließenden Licht keineswegs (nur) transitorisch, sondern (auch) fortwährend, und eine Auswertung der Metaphern im Mirouer könne die Unterschiede der Bildgestaltung, aber ebenso deren Gemeinsamkeiten deutlich machen.83 In diesem Kapitel wird im Anschluss an Köbele angestrebt, die Inszenierung der Gegenwärtigkeit Gottes, die fortwährend neu zwischen Jetzt und Immer oszilliert, aufzuzeigen. Sie stellt die Texte vor die Herausforderung, Elemente des Transitorischen mit solchen des Dauernden zu verbinden. Einen gemeinsamen Bezug der drei dem Menschen zur Verfügung stehenden Zeiten84 erörtert Augustinus im XI. Buch der Confessiones und postuliert diese als gleichzeitig existente Dreiheit in der Seele, die durch den Status der Gegenwart und den gemeinsamen Ort miteinander verbunden werden: Zeiten ›sind‹ drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem. Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht: und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem,

80 81 82 83 84

videbimus quo fruemur ; hic autem, dum in spe ambulamus, fruimur quidem, sed non adeo plene (Liber I, Dist. I, Cap. III). Vgl. Haas, Mystische Eschatologie (2002). Vgl. Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit (1989), S. 130. Vgl. Ruh, Beginenmystik (1977), S. 272f. Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 97–103, bes. S. 98f. Vgl. Assmann (1996), S. 25–38, wo er kulturbedingte Zeitwahrnehmungen und Zeiteinteilungen voneinander unterscheidet, und zwar die lineare und die zirkuläre Form. Entweder gibt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einer sich unaufhörlich fortsetzenden Geraden oder die endlose Wiederholung in einem Kreis. Interessanterweise enthalten beide Bilder Aspekte des Ewigen.

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nämlich Erinnerung; Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; Gegenwart von Künftigem, nämlich Erwartung. (XI, 20, 26)

Gegenwart entsteht durch die bindende Kraft desselben Ortes, nämlich in der Seele und damit im Geist eines Menschen, was einen subjektiven Zeitbegriff voraussetzt, denn außerhalb der Seele gibt es keine Zeiten. Die Seele ist der Ort, um Gegenwart zu schaffen, bei der verschiedene Zeitformen einander überblenden, gleichzeitig ist sie es, die für den Menschen die Ewigkeit öffnet. Dem vergleichbar inszenieren sich die Texte in der Gegenwärtigkeit von Erinnerung und Erwartung, denn das Genießen liegt immer schon in der Vergangenheit, wenn es sprachlich erfasst wird, und zugleich in der Zukunft, aus der es sehnsuchtsvoll vorweggenommen wird.85 Die Sprache setzt das Zittern zwischen Erinnerung und Erwartung, zwischen Sehnsucht und Erfüllung oft durch den Gestus der Klage in Szene. Gleichzeitig aber schaffen die Texte mit kunstvollen Mitteln Ereignisse der göttlichen Präsenz zur Teilhabe im Mit- und Nachvollzug und bleiben dadurch nachdrücklich auf die Gegenwärtigkeit ausgerichtet. Aus der Erinnerung kann ebenso rasch Gegenwart werden wie aus der Erwartung; die Übergänge zwischen diesen drei Zuständen sind fließend und vielfältigen Wandlungen im Textverlauf unterworfen. Denn da die plenitudo temporis auf fortwährende Erneuerung ihrer Erfüllung in der Einzelseele angelegt ist, müssen die Texte nicht nur die Erfüllung, sondern ebenso die Erneuerung fortwährend ›erneuern‹ und hierzu die verschiedenen Zeitebenen, die sich zum Beispiel im verzehrenden Verlangen äußern und in Eins verschmelzen können, anbieten und einsetzen.

Fließendes Licht: Plenitudo temporis im Genuss Gottes als spannungsvoller Zustand zwischen Jetzt und Immer Im ersten Buch des Fließenden Lichts kommt den vielfältigen Ausgestaltungen der plenitudo temporis in ihrer Simultanität und ihrer temporalen Mehrfachbelichtung eine herausgehobene Bedeutung zu.86 In diesem Kontext spielt das Zeitadverb nu eine wichtige Rolle, dessen Semantik sich infolge seiner dialogi85 Vgl. zum präsentischen Modus des Dialogs im Fließenden Licht und allgemein zum Gestus der Gegenwärtigkeit Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984), S. 266: »Der Dialog aber fungiert als Schaltstelle, über die das Jederzeitlich-Allgemeine konkret aktualisiert wird, das Vergangene sich gegenwärtig gibt und das Gegenwärtige ins Vergangene als etwas Überzeitliches eingeschrieben werden kann.« Von solchen »Schaltstellen« dürfte es außer dem Dialog noch mehr in den Texten geben, die sich mit einem solchen Aufwand darum bemühen, Präsenz und Gegenwärtigkeit zu erzeugen und das ewige Dauernde mit dem flüchtig Transitorischen zu verbinden, ohne deren Unterschiede zu negieren. 86 Vgl. hierzu Amtstätter (2003), S. 89–103.

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schen Inszenierung immer wieder verschiebt und anders akzentuiert wird. Infolge seiner Dialogizität87 gelingt es dem Text, zum einen die Präsenz Gottes im Genuss gegenwärtig werden zu lassen, zum anderen gleichzeitig durch den gewählten Zeitpunkt die Spannung der Trennung zu integrieren. Wie im Tagelied wird das Glück des Beisammenseins vor allem in seinem letzten Moment sichtbar und schwebt damit an der Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit.88 So heißt es sogleich zu Beginn des ersten Buches: So swebent si ffflrbas an ein wunnenriche stat, da ich nfflt vil von sprechen mag noch wil. Es ist ze notlich, ich engetar, wan ich bin ein vil sfflndig moensche. Mer : wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die hoehin, so verlfflret sffl das ertrich von dem wunder und bevindet nfflt, das si ie in ertrich kam. Wenne das spil allerbest ist, so muos man es lassen. So sprichet der bluejende got: »Juncvrov, ir muessent fflch neigen.« So erschrikket si: »Herre, nu hast du mich hie so sere verzogen, das ich dich in minem lichamen mit keinem orden mag geloben, sunder das ich ellende lide und gegen dem lichamen strite.« (S. 22f.; I, 2, 12–23)

Die Adjektive endelos und grundelos bezeichnen sowohl die unausschöpfbare Unendlichkeit Gottes als auch die der Seele und zeigen beider Ebenbürtigkeit, nachdem die Seele alles Irdische abgestreift hat. Doch während endelos auf Kategorien des Raumes ebenso wie der Zeit verweist – Gott ist endlos, das heißt: ewig – ist grundelos auf den Raum bezogen. Gleichzeitig kombiniert der Text an dieser Stelle erneut Elemente der höchsten Höhe mit denen der äußersten Tiefe, um die Dimensionen des göttlichen Wesens, woran die Seele teilhat, zu veranschaulichen. Durch das Suffix -os gelingt es dem Text, die Unauslotbarkeit Gottes in Raum und Zeit zu inszenieren. In der Begegnung mit Gott fällt zwar alles Irdische von der Seele ab, doch markiert der Höhepunkt des zärtlichen Spiels zwischen Gott und der Seele zugleich den Zeitpunkt der Trennung. Die höchste Steigerung der Innigkeit und Gemeinsamkeit impliziert damit zugleich den Abschied in Form eines Abstiegs. Die Reaktion der Seele äußert sich in Schrecken und Abwehr, so dass der Dialog zwischen Seele und Gott keinesfalls das Liebesglück, sondern den Trennungsschmerz thematisiert.89 Das Zeitadverb nu verweist an dieser Stelle auf die Gegenwärtigkeit Gottes, welche die Seele in die Bereiche des Ewigen überführt hat, 87 Vgl. Tillmann (1933); Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984); Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 71–96; Michel, »Quomodo amor excitet animan pigram« (1995); Ankermann (1998); Hasebrink, Spiegel und Spiegelung (2000); Amtstätter (2003), S. 58–74; Suerbaum, Dialog und Brautmystik (2003); Volfing (2003). 88 Vgl. hierzu Haug, Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner (1984), bes. S. 258: »Dabei aber eröffnet sich über die Rekapitulation der mystischen Erfahrung die Perspektive auf ein neues Eintreten in die Begegnung.« 89 Ebd., S. 258, wo »die Darstellung der unio immer zugleich auch zu einer Darstellung ihres Verlustes« wird.

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aus dem sie nun in die Zeitlichkeit des Irdischen und des Körpers zurückzufallen droht. Doch wird es textuell erst markiert, wenn diese Gegenwärtigkeit schon fast wieder vorüber ist, das heißt an genau jenem Punkt, an dem gerade noch die Gegenwart Gottes präsent ist, aber nach kurzem Widerstreben aufgegeben werden muss. Der göttliche Gruß, eine Chiffre für die plenitudo temporis in der Schau, der Erkenntnis und dem Genuss Gottes in seiner immerfort sich erneuernden Gegenwärtigkeit, wird im Anschluss an die Klage des Körpers wie folgt beschrieben: Dis ist ein gruos, der hat manige adern, der dringet usser dem vliessenden gotte in die armen, dfflrren selen ze allen ziten mit nfflwer bekantnfflsse und in nfflwer beschowunge und in sunderlicher gebruchunge der nfflwer gegenwfflrtekeit. (S. 22–24; I, 2, 35–1)

Der Gottesgruß ist nicht nur transitorisch, sondern fortwährend verfügbar, da er sich dem Text zufolge zu jeder Zeit vollzieht und geschieht. Dessen ununterbrochene Erneuerung inszeniert der Text durch klangliche Wiederholungen des nfflwe, die sich zunehmend höher steigern, bis sie bei der ewig neuen Gegenwart Gottes anlangen. Jede Nennung des Adjektivs nfflwe erhält durch den Akt der Wiederholung zugleich dieselbe und doch nicht dieselbe Bedeutung, denn performativ wird das punktuelle Neu-Werden in einer fortwährenden Dauer vorgeführt.90 Die Passage verdichtet die Paradoxie des Neuen mit dem Fortwährenden, ohne zwischen Ewigem und Punktuellem zu unterscheiden. Hierdurch ergibt sich eine Doppelexistenz von der auf einen Moment beschränkten Gegenwärtigkeit Gottes, der die Fülle des Seins enthält und zugleich bereits Aspekte der Trennung, der Schwäche und der Abwesenheit andeutet (I, 2, 15–23), und einer gleichzeitigen Garantie der beständigen Erneuerung dieser göttlichen Präsenz und der unausgesetzten Dauer (I, 2, 35–1). Der in einem Kapitel zusammengedrängte Doppelcharakter zwischen Jetzt und Immer, transitorischen und dauernden Elementen präsentiert sich verstärkt beim Minneweg, der ebenfalls Aspekte der ununterbrochenen Dauer mit solchen der vorübergehenden Momenthaftigkeit verbindet. Als sich die Braut auf den Weg zu ihrem Geliebten macht und dieser ihr endlich entgegenkommt, um sie zum Tanzen aufzufordern, erwidert sie folgendermaßen: So sprichet si: »Ich mag nit tanzen, herre, du enleitest mich. Wilt du, das ich sere springe, so muost du selber vor ansingen; so springe ich in die minne, von der minne in bekantnisse, von bekantnisse in gebruchunge, von gebruchunge fflber alle moenschliche sinne. Da wil ich bliben und wil doch ffflrbas crigen.« (S. 60f.; I, 44, 6–11)

Die Seele äußert eine Bewegung des fortgesetzten Übersteigens und Überschreitens unter Anleitung des göttlichen Partners, die sich in Tanz und Sprung 90 Vgl. hierzu Kiening, Gegenwärtigkeit (2006), S. 35f.

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ausprägt und von der Liebe zur Erkenntnis, von der Erkenntnis zum Genuss und vom Genuss über alle menschlichen Sinne hinaus fortsetzt und in das Vorhaben gipfelt, genau an dieser Stelle zu bleiben, ohne es aufzugeben, gleichzeitig weiter zu streben. Besonders der letzte Satz, der zugleich Verharren und Bewegung in sich schließt, ist von großer Dynamik gekennzeichnet und zeigt das, was Largier als die beiden Bestandteile von Gottes Ewigkeit ausgemacht hat: »Ruhe und stillstehendes Bei-sich-selbst-Sein« auf der einen und fortwährende Bewegtheit auf der anderen Seite.91 Zwar scheint das gemeinsame Tanzen als Chiffre des Rausches bereits Teil einer Vereinigung zu sein, doch wird die Intimität des Beisammenseins durch die Nacktheit der Seele und die Verborgenheit der Kammer deutlich erhöht: »Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. ¢nser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip ane tot.« So geschihet da ein selig stilli nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. Was ir nu geschehe, das weis si, und des getroeste ich mich. Nu dis mag nit lange stan; wa zwoei geliebe verholen zesamen koment, si muessent dike ungescheiden von einander gan. (S. 64f.; I, 44, 17–24)

Am Ende des Minnewegs wird der Moment der Einheit mit Gott mittels des Zeitadverbs nu (eher) transitorisch inszeniert, jedoch in ihrem gänzlichen Vollzug wie in I, 2 elliptisch ausgespart, so dass sie sich in den pointiert gesetzten Leerstellen des dreimal wiederholten nu abspielt. Dreimal wird nu unter verschiedenen Voraussetzungen gebraucht und zeigt jedes Mal eine Verschiebung an: zuerst das unverhüllte Einander-gegenüber-Stehen kurz vor der Vereinigung, als Gott und Seele zwar noch zwei sind – die Seele nackt, die Gottheit schön geschmückt – aber bereits auf ihre unteilbare Gemeinschaft zuhalten, was die Seele signalisiert. Denn die Braut fasst die eigene Nacktheit und die Schönheit des göttlichen Jünglings in einen emphatischen Ausruf, welcher die Gemeinsamkeit der beiden im ewigen Leben beschwört. Darauf folgt anschließend die beglückende Stille im Vollzug dieser Gemeinschaft, wofür das Zeitadverb nu verwendet wird, das hier die Erfüllung anzeigt und gleichzeitig den Charakter des exklusiven, nur zwischen den beiden geteilten Geheimnisses wahrt, da die erfüllte Stille im Text als ausdrucksstarke Leerstelle stehen bleibt. Doch wird der transitorische Charakter dieser Begegnung rasch deutlich, wenn unmittelbar darauf nu etwas, das nicht lange währen kann, bezeichnet. Somit zeigt dieses Zeitadverb unterschiedliche Stadien einer vorübergehenden Begegnung und beglückenden Vereinigung an: kurz vorher – währenddessen – kurz danach. Gleichzeitig überlagern sich die verschiedenen Zeitebenen besonders an dieser Stelle mehrfach, denn die Einheit wird von der Seele im 91 Vgl. Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit (1989), S. 125.

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Vorfeld durch ihren emphatischen Ausruf und unmittelbar vor der Trennung in ihrer Rede von den zwei Liebenden beschworen. Vor allem hier wird deutlich, dass sich eine fortdauernde Wirkung entfaltet, die aber nur andeutungsweise im Text aufscheint. Durch seine dreifache Wiederholung wird das Zeitadverb nu nicht nur intensiviert, sondern zugleich als ein besonderes Jetzt der Gegenwärtigkeit und der Fülle der Einheit in Gott inszeniert. Doch indem die Gemeinschaft zwischen Seele und Gott als das ewige Leben bezeichnet wird, öffnet sich der Horizont einer punktuellen, intensiven Begegnung zugleich auf die Ewigkeit hin. Durch das geheimnisvoll angedeutete Zeitadverb nu überlagern sich in der Einheit das Transitorische und das Dauernde, ohne die im Text so deutlich markierte Spannung zwischen Trennung und Verweilen gänzlich aufheben zu können. Sichtbar wird dies besonders in der Klage und dem Schrecken der Seele in I, 2, die von ihrem göttlichen Partner zum Abschied aufgefordert wird. Doch durch die stark präsentisch eingefärbte Inszenierung der Gottesbegegnung in Form von wechselseitigen Dialogen und emphatischen Ausrufen der Seele als auch mittels performativer Wiederholung des nfflwe und semantischer Verschiebung des nu inszeniert der Text Gegenwärtigkeit so, dass diese unverhofft aus Zuständen der Erwartung und Erinnerung wieder in reine Anwesenheit Gottes umschlagen kann. Indem der Text die erstrebte plenitudo temporis mittels des Zeitadvers nu ausdrückt, dessen Semantik situativ bestimmbar und durch ein gleitendes Segment gekennzeichnet ist, bleiben unterschiedliche Zeitund Begegnungsformen mit Gott gleichzeitig präsent, so dass punktueller Durchbruch und fortwährende Verbindung parallel existieren können. Die Spannung des Abschieds wird so keineswegs entschärft, sondern bleibt bestehen, zeigt aber die Durchmischung aller Formen in der Gegenwart Gottes, die zugleich immer die Ewigkeit Gottes ist.92 92 Selbstverständlich ist das Thema ›Die Inszenierung von Zeit und Ewigkeit‹ im Fließenden Licht dadurch nicht erschöpfend behandelt. Die Absicht dieses Kapitels bestand darin, Zeit/ Ewigkeit in direktem Bezug zu Genuss/Genießen aufzuzeigen. Metaphern wie das Fließen bleiben hierbei unberücksichtigt, weil deren Analyse einen zu breiten Raum erfordern würde. Ebenso leider Zeitstrukturierungen wie beispielsweise in I, 30, die zum einen ein Angebot zum täglichen performativen Vollzug der Liebessüße machen, zum anderen darüber hinaus zeigen, wie sehr die Liebessüße jede Stunde der Zeit durchsetzt und erfüllt, so dass in dieser Hinsicht die Zeit auch im Diesseits eine ununterbrochene Kontinuität darstellt. Die Süße selbst wird infolge der lyrischen Inszenierung mittels Wiederholungen der Worte suesse und minnen und der Binnenreimen im Klang der Sprache schmeckbar : Mettin: Minnen vol, ein suesse wol. / Prime: Minnen gere, ein suesse swere. / Tercie: Minnen lust, ein suesse turst. / Sexte: Minnen vffllen, ein suesse kuelen. / None: Minnen tot, ein suessffl not. / Vesper: Minnen vliessen, ein suesses giessen. / Complet: Minnen ruowen, ein suesses vroewen. Vgl. hierzu Amtstätter (2003), S. 102: »Die rauschhaften minne-suesse-Kaskaden im Zeitkapitel I, 30, die jeder Stunde entspringen und damit alle Stunden einander gleichen lassen, sind dafür ein beredtes Symbol.«

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Visioenen: Genuss Gottes als textübergreifende Transgression im Spannungsfeld von Zeit, Ewigkeit und Gegenwärtigkeit Die Visioenen werden fast durchgehend durch präzise Zeitangaben eingeleitet, wobei es sich zumeist um hohe kirchliche Feiertage handelt,93 an welchen die jeweilige Schau und Entrückung stattfinden. Ihnen kommt eine tragende Bedeutung zu, da sie zum einen den Visionszyklus liturgisch einbetten94 und diesen als fortlaufende ›Messen des Genießens‹ inszenieren, zum anderen hierdurch für die damaligen Rezipienten ein Angebot zur aktiven Teilhabe machen. Wie in I, 30 im Fließenden Licht der klösterliche Tagesablauf durch die Süße der Liebe und ihre verschiedenen Facetten strukturiert wird und sich damit direkt in die alltägliche Lebenspraxis der Nonnen einschreibt, nehmen die Visioenen eine Strukturierung anhand der hohen Feiertage im Kirchenjahr95 vor und entwickeln damit ein den klösterlichen Tageszeiten vergleichbares Angebot, von Feiertag zu Feiertag96 in verzehrendem Begehren nach dem vollständigen Genuss Gottes und einer wachsenden Vervollkommnung zu streben.97 In der ersten Hälfte werden die Visioenen verschiedentlich mit einem lakonischen Klagesatz beendet, der die Rückkehr in das Elend der Zeitlichkeit und das eigene Selbst anzeigt. Durch dieses fortwährend verstärkte ›switching‹ zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit baut sich die zunehmende Spannung zwischen Begehren und Genießen, Entbehrung und Erfüllung auf, die sich im Verlauf des Reifeprozesses des Ichs nicht nur intensivieren, sondern einander immer dichter überlagern. So wird das Begehren im Zuge der wachsenden Vervollkommnung des Ichs zunehmend näher an den Genuss herangeführt, ebenso verbindet sich das Entbehren mit einer immer vollständigeren Erfüllung. Dementsprechend werden die Klagesätze in der zweiten Hälfte der Visioenen seltener und durch eine Fortsetzung des Genießens, der Schau oder des Verlangens über die Textgrenzen hinaus abgelöst. Denn obwohl die Zeit aufgrund des unterschiedlichen Bauprinzips und Ge93 Vgl. Fraeters, Gender and Genre (2004); Bardoel, On the nature (1992); Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 75: »Am Beispiel des Mitfeierns der Pfingstliturgie […] sowie der Liturgie von Mariae Aufnahme in den Himmel […] wird deutlich, dass die sakramentale Vergegenwärtigung in der Liturgie weder nur eine geschichtliche Rückbesinnung ist, noch ein ganz neues Ereignis, was hier gefeiert wird, sondern die eine überzeitliche Ganzhingabe Jesu Christi wird dem Gläubigen zur personalen Aneignung dargeboten und ergriffen.« 94 Vgl. zum Zusammenhang von Liturgie und Vision Benz (1969). 95 Vgl. hierzu Bieritz (2001). 96 Allerdings muss hier angemerkt werden, dass die Feiertage lediglich aus dem Kirchenjahr stammen, dieses aber keineswegs chronologisch nachbilden. 97 Inwiefern zwischen den Themen der einzelnen Visionen und den ihnen jeweils zugeordneten Feiertagen Verbindungen bestehen, wofür die ausgefeilte Komposition des Textes spräche, könnte spezifisch untersucht werden.

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samtumfangs in den Visioenen anders inszeniert wird als im Fließenden Licht, sind diese bestrebt, durch das Überschreiten der Textgrenzen und markant eingeblendeter Leerstellen den Eindruck einer in die Zeitlichkeit hineinwirkenden Ewigkeit zu generieren und eine fortwährende Verbindung zwischen dem Ich und Gott zu suggerieren. Angaben über Zeitpunkt und Dauer des Genießens konnten sowohl Authentizitätseffekte erzeugen als auch hochgradig symbolischen Wert vermitteln, da sie an zentralen Eckstellen wie Anfang und Schluss der Visioenen eingefügt worden sind und Hinweise auf den bereits erlangten Vollkommenheitsgrad enthalten. Zusätzlich mochten sie als Gliederungs- und Strukturierungsprinzip dienen, um eine rasche Orientierung zu ermöglichen. Die erste Vision setzt direkt mit einem Sonntag in der Pfingstoktav ein, der zumindest bei den Zisterziensern schon um 1230 als Fest der heiligen Dreifaltigkeit begangen wurde, bevor es seit 1334 von der ganzen katholischen Kirche gefeiert wurde.98 Der Eingangssatz entwirft zugleich die exklusive Situation eines bei sich eingenommenen Abendmahls, was das Ich von vornherein heraushebt, und liefert gebündelte Informationen über Ort und Zeit: Het was in enen sondaghe Ter octauen van pentecosten dat men mi onsen here heymelike te minen bedde brochte (Vis. I, 1–3) [An einem Sonntag in der Pfingstoktav geschah es, das man mir Unseren Herrn daheim an mein Bett brachte]

Von Anfang an unterscheiden die Visioenen nicht eindeutig zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit, sondern sind bestrebt, bestimmte Elemente aus der Entrückung in die Gegenwart zu überführen. So endet die Vision damit, dass das Ich verschiedene Blätter aus der Rose nehmen soll, um Trost im Fühlen der göttlichen Nähe zu erhalten, wenn es sich zu sehr verlassen wähnt. Obwohl die göttliche Stimme eine Trennung ankündigt, garantiert sie ihr gleichzeitig ein inniges Verbunden-Bleiben durch den Genuss der verschiedenen Rosenblätter sogar über den Text der ersten Vision hinaus.99 Die zweite Vision nennt ebenso knapp im ersten Satz den Pfingstsonntag als Zeitpunkt der Schau, während der Heilige Geist empfangen wird. Zusätzlich 98 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 9f. 99 Die Parallele zu Christus, der von seinem göttlichen Vater auch in Zeiten der Not nicht verlassen wurde, obgleich dieser ihn der Not überließ, wird hier deutlich gezogen: Aldus dede mi mijn vader doen ic sijn sone was/. Hi liet mi in node/ ende hi en beghaf mi nye/ Jc gheuoeles in ghebrukene (Vis. I, 418–421). [So handelte mein Vater mit mir, als ich sein Sohn war. Er ließ mich im Ungemach, doch verließ Er mich nie.] Doch wird im Verlauf der folgenden Visionen deutlich, dass die Bedürftigkeit und Bereitwilligkeit, Trost zu brauchen und anzunehmen, dem Zustand der bereitwillig ertragenen Trostlosigkeit und Verlassenheit entschiedenermaßen untergeordnet ist und mit Zuständen des Genießens oder des Aufgenommenseins in Gott, die später erfolgen, nicht verglichen werden können.

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erfährt der Leser/Hörer das Thema der Vision, nämlich das Verstehen des Willens der Minne: Het was op enen chincsen dach dat ic den heyleghen gheest also ontfinc dat ic verstont alle den wille der minnen in allen (Vis. II, 1–3) [An einem Pfingsttag geschah es, dass ich den Heiligen Geist derart empfing, dass ich jeglichen Willen der Liebe in allem verstand]

Abschließend bezeichnet die Vision den genauen Zeitraum, der für die fortwährende Beschäftigung mit dem Wesen der Minne und ihrer Wirkungen aufgewendet wurde, nämlich zwei Jahre: In dit te pleghene/ haddic ·ij· iaer gheweest. (Vis. II, 20f.) [Damit war ich zwei Jahre beschäftigt gewesen.]

Somit betont auch die zweite Vision, dass dem Ich selbst nach dem Verlust seiner gnadenhaften Begabungen die Intensität der Liebe und die Kenntnis des göttlichen Willens geblieben seien, verbunden mit dem ausschließlichen Blicken auf Gott.100 Das Mittelniederländische enechlike spielt zudem mit Konnotationen der Einheit, was die fortwährende Verbundenheit mit Gott auf sprachlichklanglicher Ebene hervorhebt.101 Die dritte Vision setzt im Vergleich zu den beiden vorigen Visionen noch verkürzter ein, indem der Ostertag als Zeitpunkt genannt und nur hinzugefügt wird, dass er das innere Bewusstsein oder die inneren Sinne umgreift: Daer na eens paeschs daghes wasic te gode ghegaen /; ende hi omuinc mi van binnen mine sinne/ ende nam mi inden gheeste/ (Vis. III, 1–3) [Danach, an einem Ostertag, war ich zu Gott gegangen. Und da umfing Er mich im Inneren meines Bewusstseins und nahm mich in den Geist auf.]

An Ostern empfängt das Ich nicht nur den göttlichen Geist, sondern zugleich die Weisung, Gott in seiner Liebe so vollkommen gleich zu werden, dass es selbst Liebe sei. Erst dann könne es Gott zur Gänze in seinem Wesen genießen. Abschließend verstärkt die Vision den Aspekt der fortwährenden Konzentration auf Gott: Ende doen quamic weder in mi seluen ende verstont al dat ic te voren seide/ ende bleef starende in mijn herteleke suete lief. (Vis. III, 25–28) [Und dann kam ich wieder in mich selbst, und ich verstand (in seiner Bedeutung) alles, was ich gerade berichtet habe. Und ich verharrte in der fortwährenden Betrachtung des süßen Geliebten meines Herzens.] 100 Der Text lautet an der Stelle: dat staren enechlike in heme (Vis. II, 14); [das unverwandt ausschließliche Blicken in Ihn]. 101 Vgl. hierzu Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 69f.

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Indem das Ich unausgesetzt seine inneren Augen auf den göttlichen Partner heftet und sich allein auf ihn fixiert, verharrt es in der Betrachtung seiner suete(n) lief (Z. 28). Hierdurch entsteht eine enge Verbindung zur zweiten Vision, welche durch die Wiederholung die ununterbrochene Konzentration auf Gott in ihrer fortschreitenden Dauer intensiviert.102 Die vierte Vision offenbart sich an einem ersten Mai während der Messe zum Fest der Heiligen Philippus und Jakobus. Eventuell ist der Visionstext durch die Epistellesung beeinflusst, doch lässt sich das nicht definitiv nachweisen:103 Ic sat op enen mey dach/, ende soude messe horen/ van Sinte Jacobe alst recht was/; Want het doen sijn dach was/. (Vis. IV, 1–3) [An einem ersten Maitag saß ich und wollte der Ordnung gemäß die Messe des heiligen Jakob hören, denn dieser Tag war sein Festtag.]

Hier werden die vier großen Werke genannt, mit denen sich das Ich vervollkommnen soll, um eine vollständige Perfektion zu erlangen, womit die Vision endet. Das vierte und zentrale Werk wird im Entbehren, im Schmecken und im Erkennen Gottes bestehen, bis das Ich durch das liebende Ertragen der damit verbundenen Finsternis entsprechend gereift ist. Der Ausdruck deemsterheit (Z. 126) ersetzt nun definitiv die noch in der ersten Vision zugänglichen Trostmöglichkeiten durch die Rose und die in den beiden folgenden Visionen betonte, ausschließliche Konzentration auf Gott.104 Erst nach und durch die Hinnahme dieser Dunkelheiten können Trunkenheit, Sicherheit, Ruhe und Genuss über die einzelnen Visionen hinaus einsetzen. Die fünfte Vision beginnt wieder mit einem hohen Feiertag, nämlich Mariä Himmelfahrt, dem »bis heute bedeutendste(n) Marienfest«,105 was einen gesteigerten Stellenwert dieser Vision nahelegt, die im Anschluss an die vierte Vision das für das Ich zu erduldende Leid verstärkt in Szene setzt: Jc was in assumptie daghe te mettenen inden gheeste op ghenomen ene corte wile/ (Vis. V, 1f.) 102 Bereits in den ersten Visionen deutet sich an, was nach dem Wendepunkt von der siebten Vision eklatant über die Textgrenzen hinaus getrieben werden wird: die unausgesetzte Fülle der Zeit in der Zeitlichkeit, die Überlagerung mit der Ewigkeit im fortwährenden Genuss Gottes, der sich als Ruhe oder Sicherheit, aber auch als Trunkenheit äußern kann. Hierfür prägen vor allem die letzten Visionen eine markante Ausformung aus, die in den ersten Visionen deutlich zurückgenommener und verhaltener auftritt. 103 Vgl. Willaert (1984), S. 374 und Reynaert (1981), S. 46f. Hierzu auch Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 75. 104 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 87. Allgemein zum Bildkomplex deemsterheit/ donker vgl. auch Reynaert (1981), S. 72–79. Ich schließe mich Hofmann in seiner Deutung der Finsternis oder Dunkelheit als Gottesferne an. 105 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 89.

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[Am Tag Mariä Himmelfahrt war ich während der Messe für eine kurze Zeit in den Geist aufgenommen.]

Im Vergleich zu den vorigen stellt diese Stelle deutlich die Kürze dieser Aufnahme in den Geist heraus.106 Die Betontung der transitorischen Qualität dieses Ereignisses kann als ein Hinweis auf die Gegenwärtigkeit Gottes in der plenitudo temporis gelten, die jetzt erstmals – und an diesem besonders hohen Festtag! – einsetzt: Ende hi nam mi op buten den gheeste in dar ouerste ghebruken van wondere sonder redene/; daer ghebroekic sijns alsic eweleke sal/. Die vre was cort/ ende alsic te mi seluen quam/ doe dede hi mi weder inden gheeste/ ende seide te mi aldus/: Alsoe dws nv ghebrukes/ saltws eweleec ghebruken. Ende Johannes seide te mi/: Ganc te dijnre bordenen/ ende god sal sijn oude wondere in di vernuwen. Ende ich quam weder mijn leet met meneghen groten wee. (Vis. V, 62–72) [Und er nahm mich aus dem Geist auf in das höchste Genießen, einen wunderbaren Zustand, der dem Verstand verschlossen ist. Da war ich in einem Genießen Seines Seins, wie ich es in Ewigkeit sein werde. Die Dauer (dieser Entrückung) war kurz, und als ich (wieder) zu mir selbst kam, da versetzte Er mich nochmals in den Geist und sprach zu mir folgendermaßen: »So wie du Ihn jetzt genießt, wirst du Ihn in Ewigkeit genießen.« Und Johannes sagte zu mir : »Geh zu deiner Bürde, und Gott wird seine alten Wunder in dir erneuern!« Und ich kam zurück in mein Leid mit einer Vielzahl großer Schmerzen.]

Die Zeitadverbien nv und ewelec (Z. 67f.) verweisen auf die Spannung in der Gegenwärtigkeit Gottes für den Menschen, die zugleich jetzt und immer ist, wobei ›jetzt‹ sehr rasch wieder vorüber sein wird, wie das Ich ausdrücklich betont. Die Paradoxie eines »ewigen Augenblicks«107 versucht der Text durch wiederholte Verweise und Versprechungen auf einen dauernden Genuss in Ewigkeit auszubalancieren, was jedoch schon aufgrund des Schmerzes nach der Rückkehr108 in die Zeitlichkeit in einen Kippzustand versetzt wird. Für einen Moment genießt das Ich Gott so vollständig und besonders wie später in 106 Ebd. verweist Hofmann auf eine Parallelstelle bei Wilhelm von St. Thierry, der in seiner Expositio super Cantica canticorum zwischen einer für immer durch die Gnade Gottes erneuerten Natur und der kurzen Aufnahme in Gott aufgrund der gleichen Gnade unterscheidet: »Etwas anderes ist der wohlgeordnete Zustand der durch die wirkende Gnade für immer in Gott erneuerten Natur, etwas anderes ist es, wenn unter dem Einfluss der gleichen Gnade diese Seelenverfassung zeitweise oder für eine Stunde in Gott aufgenommen wird [ad tempus, ad horam in Deum assumptio].« 107 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 98. 108 Vgl. hierzu Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 110, der auf Augustin und Beatrijs von Nazareth verweist, die »den Gegensatz der Empfindungen, der den Austritt aus der Entrückung begleitet, auf klassische Weise beschrieben«. Die Spanne zwischen höchstem Genuss und tiefster Ernüchterung, größter Freude und bitterstem Schmerz wird bei Hadewijch ebenso intensiv ausgelotet.

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Ewigkeit, hat also punktuell an Gottes eigenem Genießen teil, wobei die Zeit zugunsten der Ewigkeit aufgehoben wird. Die Qualität dieser Form des Genießens Gottes wird deutlich gesteigert und hierarchisch besonders hoch angesetzt, was durch den Superlativ overste (Z. 63) ebenso hervorgehoben wird wie durch den Schlüsselausdruck buten den gheeste.109 Weitere Indizien hierfür können der herausragende Festtag und die nähere Beschreibung des Genießens als wondere sonder redene (Z. 64) sein, das einen solch wunderbaren Ausnahmezustand darstellt, dass es nicht in Worte zu fassen ist. Nach diesem außerordentlichen, doch transitorischen Genießen wird das extreme Leid des Ichs durch die abschließende Zusage ergänzt, derartige wondere (Z. 70) würden sich in ihm vernuwen (Z. 70). Durch das Versprechen der Erneuerung gegen Ende der Vision wird dem Gottesgenuss des Ichs Dauer zugesprochen, die zusätzlich durch die doppelte Zusage eines Genießens in Ewigkeit gestützt wird. Die sechste Vision bietet in ihrem Anfangssatz zwei zeitliche Verortungen: Zum einen den Dreikönigstag, der die »Göttlichkeit Jesu, seine Königsherrschaft«110 ins Zentrum stellt und thematische Bezüge zu der Vision schafft; zum anderen eine gezielte Angabe, welche die Visioenen mit einem weiteren Detail für eine kunstvolle Heiligenvita ausstattet.111 Das Ich weist darauf hin, dass ihm bereits im Alter von 19 Jahren diese Vision zuteil wurde, wobei es zugleich miteinfließen lässt, dass sein Geburtstag auf diesen hohen Feiertag falle, wodurch es doppelt ausgezeichnet erscheint, da es nicht nur so früh außerordentliche Gnadengaben erhielt, sondern sogar am Dreikönigstag geboren wurde. Eingeleitet wird die Vision wie oft durch den Empfang des Abendmahls: Het was in enen dertiendaghe/; Does wasi XIX·iaer out, alsoe wordense mi daer ghenoemt/. Doe haddic wille/ te onsen here te gane/ (Vis. VI, 1–3) [Es war an einem Dreikönigstag – 19 Jahre war ich, wie mir da mitgeteilt wurde, an diesem Tag alt –, da war es mein Wille, zu Unserem Herrn zu gehen.]

Gegen Ende dieser Vision bricht erneut die Ewigkeit Gottes für einen kurzen, unsagbar erfüllten halbstündigen ›Moment‹112 des Genießens in die Zeitlichkeit des Menschen ein. Die Kürze der Zeit wird nun noch präzisiert, obgleich das Ich jeglicher Wahrnehmung völlig entrückt, entzogen und enthoben ist:

109 Vgl. hierzu Fraeters, Gender and Genre (2004) und Bardoel, On the nature (1992). 110 Vgl. Hadwijch/Hofmann (1998b), S. 101. 111 Vgl. Peters (1988), deren Forderung nach Literarizität ich mich unbedingt anschließe, wobei sicherlich verschiedentlich historische Bezüge durch sorgfältige (Handschriften-) Recherchen nachgewiesen werden können, vgl. exemplarisch Nemes (2010). 112 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 108: »Die apokalyptische ›halbe Stunde‹ dient […] den Mystikern als Symbol für die Kürze der Entrückung.«

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[…] ende viel al verloren in die ghebrukeleke borst siere naturen der minnen/. Daer in bleuic verswolghenleke verloren buten aller ver//stannesse van el yet te wetene/ noch te siene/ noch te verstane,/ dan ·I· te wesene met hem/ ende dies te ghebrukene; daer in bleuic men dan ene halue vre. (Vis. VI, 83–89) [Und ich sank gänzlich verloren an die Brust des Genießens seiner Natur der Liebe. Darin verschlungen blieb ich verloren außerhalb jeglicher Verstandestätigkeit: nichts anderes zu wissen, zu sehen oder zu begreifen, als mit Ihm eins zu sein und das zu genießen. In diesem Zustand blieb ich weniger als eine halbe Stunde.]

Nach der Erfahrung der Einheit im Genuss mit Gott, die so umfassend ist, dass das Ich sich in seiner Hingabe verliert, kommt es am Schluss der Vision wieder zu sich selbst, was als ausgesprochen leidvoll begriffen wird. Zwar wird das Genießen als sehr intensiv geschildert, jedoch ist es nicht von Dauer, da es sich wieder um einen außerordentlichen Zustand buten den gheeste (Z. 78) handelt. Die unerwünschte Rückkehr wird daher schmerzvoll und sehr kurz kommentiert, nachdem sie bereits von der göttlichen Stimme nach einer ›Zwischeneinkehr‹ in eenen gheeste (Z. 90) angekündigt wurde:113 Ende ic wart met dien weder bracht iamerleke in mi seluen. (Vis. VI, 103f.) [Und damit wurde ich zu meinem Leidwesen wieder zu mir selber gebracht.]

Die Rückkehr ins eigene Selbst wird nicht als Rückkehr, sondern vielmehr als eine Form der Ausstoßung aufgefasst, und der kurze Satz zeigt hier das Ende des Genießen Gottes lakonisch an, ohne wie in der fünften Vision einen Zuspruch oder anderen Trost zu ergänzen. Hierin könnte man bereits eine Zunahme jener dem Ich angekündigten Dunkelheiten ansehen, da es nun nicht mehr zusätzlichen Trost wie etwa in der ersten Vision durch das Innere der Rose erhält, sondern ganz seinen Trostlosigkeiten und seiner Verlassenheit überlassen wird. Die siebte Vision erstreckt sich auf einschließlich die achte Vision und setzt mit einer besonders kunstvoll komponierten Sprache ein, was ihre Sonderstellung unterstreicht. Wie die ersten beiden setzt die siebte Vision mit einem Pfingsttag während der Messe ein114 und nennt zusätzlich die genaue Tageszeit der Schau, nämlich den Tagesanbruch: Te enen cinxen daghe wart mi vertoent inde dagheraet/, ende men sanc mettenen inde kerke/ ende ic was daer/ (Vis. VII, 1–3) [An einem Pfingsttag hatte ich beim Morgengrauen eine Erscheinung. Man sang die Messe in der Kirche, und ich war anwesend.]

Auf die Besonderheit gerade der siebten Vision aufgrund ihrer enormen Intensivierung des Begehrens wurde im Verlauf dieser Untersuchung mehrfach 113 Vgl. hierzu Fraeters, Gender and Genre (2004); Bardoel, On the nature (1992). 114 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 111.

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hingewiesen. Indem sie die Textgrenzen einer einzelnen Vision überschreitet und auf die nächste übergreift, bietet die siebte Vision zugleich eine implizite Hierarchisierung, denn sie wird dem Ich erst im Zustand des EingeschmolzenSeins und der Selbstaufgabe in Gott zuteil und zeigt zudem den Berggipfel als Bild für Gottes Genießen. Bezeichnenderweise endet die siebte Vision statt mit einem lakonischen Klagesatz nach der Rückkehr aus dem Genießen Gottes und dem Anteil an seiner Ewigkeit nun mit dem Zustand des Aufgenommen-Seins im Geliebten, bevor ihm eine weitere Vision zuteil wird: Hier na bleef ic in enen veruaerne in mijn lief dat ic al versmalt in heme/, ende mi mijns selues niet en bleef/; ende ic wart verwandelt/ ende op ghenomen inden gheeste,/ ende mi wart daer vertoent uan selker hande vren. (Vis. VII, 94–99) [Danach blieb ich in einem Zustand des Aufgenommen-Seins mit meinem Geliebten, so dass ich ganz und gar in Ihn hineinschmolz und von mir selbst gar nichts übrig blieb. Und ich wurde (mit dem Bewusstsein) versetzt und in den Geist aufgenommen. Und von dort wurde mir eine Vision über Zeiten zuteil, wie sie im Folgenden beschrieben wird.]

Die achte Vision setzt daher unvermittelt mit der Schau des Berges ein, auf dessen Gipfel sich das Antlitz des göttlichen Genießens befindet. Nachdem das Ich hinaufgeführt wurde, hört es aus der Flut des göttlichen Antlitzes Folgendes sprechen: Comt ende wes seluer die ouerste wech 7J7 inden wesenne diere volcomen in sijn/, die met corten vren alle langhe vren veruolghen. Dijn grote daruen van minnen heeft di ghegheuen den ouersten wech in mijn ghebruken/ daer ic van ane beghinne diere werelt na hebbe ghehaect, dattu dicke mit swaren begherten ontgouden heues/ ende noch sels/. Dies te daruene datmen bouen al beghert/ ende mi te gherijnne die ongherijnlec ben/: dat es die corte vre die alle langhe vren verwint/. (Vis. VIII, 34–44) [Und da hörte ich aus der Flut heraus eine mächtige Stimme zu mir sprechen: »Komm und sei selber der oberste Weg, eins in der Lebensweise derer, die vollkommen sind, die mit kurzen Zeiten alle langen Zeiten einholen. Dein großes Entbehren in der Liebe hat dich auf den obersten Weg, der in mein Genießen führt, gebracht, wonach du dich seit Anbeginn der Welt gesehnt hast, und was du oft mit unerträglichem Verlangen bezahlt hast und noch bezahlen wirst. Das zu entbehren, was man über alles begehrt, und mich anzurühren, der ich unerreichbar bin: Das ist der kurze Zeitraum, der alle langen Zeiträume schlägt.]

Das Ich wird dazu angehalten, selbst der oberste Weg in das göttliche Genießen zu sein und sich in die Reihe derer einzugliedern, die durch vollkommene Lebensweise innerhalb kurzer Zeit alle langen Zeiträume einholen. Indem man entbehrt, was man am meisten begehrt, und genau dadurch berührt, was ungreifbar ist, nämlich Gott, bildet sich jener kurze Augenblick, der alle längeren Zeitspannen schlägt. An dieser Stelle lässt sich von einem Einbruch der Ge-

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genwärtigkeit in die Zeitlichkeit sprechen, ein Moment der Ewigkeit, der alle Längen irdischen Bemühens in Schatten stellt; es gibt vier untergeordnete Wege, diesen Berg zu besteigen, doch nur der oberste führt direkt in das göttliche Genießen. Diesen Weg soll das Ich in der Imitatio Christi nicht nur beschreiten, sondern es soll dieser Weg sein. Der Schmerz des Entbehrens erweist sich als unumgänglich, um sich mit Gott als dem höchsten Genuss vereinen zu können. In diesem Zusammenhang führt der Text paradoxe Zeitordnungen vor, welche durch ihren Nexus zur Ewigkeit Gottes die menschliche Zeit um Längen schlagen, obgleich sie selbst deutlich kürzer sind. Er konstituiert hierfür eine Gruppe aus dem Ich und denjenigen, die bereitwillig dasselbe erleiden und sich dem aussetzen. Verschiedene Zeitlängen werden gegeneinander ausgespielt, die mit den bereitwillig Entbehrenden und intensiv Verlangenden identifiziert werden: Sowohl Die vre die dat jaer uerwint (Z. 51) als auch De maent die dat jaer uerwint (Z. 61) zeigen, dass eine Stunde Dauer eines ewigen Augenblicks mehr Erfüllung – paradoxerweise durch Verlangen und Leiden – gewährt als ein Jahr. Dieselbe Zeitordnung gilt im Verhältnis von Monat zum Jahr, bei der man auf allen Trost außer den göttlichen bereitwillig verzichtet, um Gott nahe zu sein. Die wile dat die maent uerwint (Z. 68) wird mit denen gleichgesetzt, die aufgrund ihrer rückhaltlosen Imitatio Christi sich um die Kenntnis der Liebe bemühen, so dass eine kurze Zeit den Monat schlägt. Ebenso bezeichnen die daghe die de weke verhalen (Z. 75) eine Gruppe aus solchen, die ohne eigene Schuld leiden und nach Gott verlangen, so dass wenige Tage im Nu eine ganze Woche einholen. Abschließend erfährt das Ich, dass ihm erneut Zeiten der Gnadenlosigkeit bevorstünden. Man ersieht hieraus klar, dass bestimmte Facetten des Trostes immer mehr entzogen werden und nicht mehr zur Verfügung stehen. Entsprechend lakonisch nennt der letzte Satz den Zustand des Ichs als eine schwer Leidende und schließt konsequent an die vorher entfalteten Zeitordnungen für jene Gruppe erlesener Leidender an, denen das Ich zugehört: Doen quamic in mi seluen alse ene nuwe harde sereghe/ ende em//mermeer wesen sal tote dien daghe dat ic daer weder in valle daer ic doe af keerde/. (Vis. VIII, 127–130) [Dann kam ich wieder in mich selbst zurück als eine aufs neue schwer Leidende, die ich für immer sein werde bis zu dem Tag, an dem ich da wieder hineingerate, von wo ich eben zurückgekehrt war.]

Ganz am Ende wird angedeutet, dass das Ich durch eine erneute Aufnahme in die Einheit mit Gott außerordentlichen Genuss und wunderbare Schau wie in der Doppelvision erfahren kann, so dass die ungeheure Spannung zwischen dem Leiden in der Zeitlichkeit und jenen kurzen, vollständigen Momenten in der Gegenwärtigkeit Gottes bestehen bleibt. Die neunte Vision setzt erneut mit einem hohen kirchlichen Feiertag, dem

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Fest Mariä Geburt, ein und nennt sogar einen Text der Lesungen, nämlich das Hohelied der Liebe, das an einen vollkommenen Kuss denken lässt, ein Sinnbild für die Vereinigung mit Gott. Ic was in natiuitate beate marie te mettenen/ ende na de ·iij· lessen wart mi vertoent Jn enen gheeste een lettel wonders/. Mijn herte wart mi beroert te voren van woerden van minnen/ die men daer las in die kantiken/ daer mi bi ghedachte eens gheheels cussens. (Vis. IX, 1–6) [Am Fest Mariä Geburt war ich in der Mette, und nach den (ersten) drei Lesungen wurde mir in einer Geistererscheinung etwas Wunderbares vor Augen geführt. Zuvor war mein Herz von Worten der Liebe berührt worden, die man dort aus dem Hohelied las, wodurch in mir der Gedanke an einen vollkommenen Kuss aufkam.]

Außer der genauen Angabe des kirchlichen Festtages (am 8. September)115 wird noch der Text der Lesung, das Hohelied, genannt, der den Gedanken eines vollkommenen Kusses inspiriert und damit Bezüge zur Brautmystik herstellt. Unmittelbar darauf setzt die Schau ein, welche dieses Mal aber nicht mit dem Hinweis auf die Bürde der Leiden abgeschlossen wird, sondern mit einem Zustand der Trunkenheit in der berauschenden Gegenwart Gottes: […] ende ic quam buten den gheeste/ ende bleef ligghende verdronken tote hoghe op den dach in onseggheleke wondere. (Vis. IX, 69–71) [Und es erschien die Liebe und umfing mich; und ich kam (in den Zustand) außerhalb des Geistes und blieb trunken bis weit in den Tag hinein in unbeschreiblichen Wundern liegen.]

In dieser Vision verbleibt das Ich erstmals in dem in der fünften Vision ähnlich geschilderten Zustand buten dem gheeste (Z. 69f.),116 der ihm unseggheleke wondere (Z. 71), also Wunder, die sich der Sprache entziehen, schenkt. Intensiviert wird dieser außerordentliche Gnadenzustand durch die Metapher der Trunkenheit, welche zugleich die Überwältigung und Besinnungslosigkeit für das Ich ausdrückt. Die Gegenwärtigkeit Gottes überschreitet hier die Textgrenzen und setzt sich darüber hinaus in unbeschreiblichen Wundern fort. Die zehnte Vision beginnt mit dem Fest des heiligen Johannes in der Weihnachtszeit (vermutlich am 27. Dezember),117 wo das Ich erneut in den Geist aufgenommen wird. Hier stimmt sogar die Chronologie der kirchlichen Festtage vom Herbst zum Winter, doch scheinen die einzelnen hohen Feiertage eher einer symbolischen, auf den Inhalt und die Lesung bezogenen Ordnung zu entsprechen, da die Chronologie nicht konsequent durchgehalten ist: 115 Vgl. hierzu Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 135. 116 Ebd., S. 98; Fraeters, Gender and Genre (2004). 117 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 141.

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Ic was op ghenomen inden gheeste in sinte Jans daghe ewangelists inde kersdaghe. (Vis. X, 1f.) [Am Fest des heiligen Johannes des Evangelisten in der Weihnachtszeit war ich in den Geist aufgenommen.]

Gegen Ende der Vision wird innerhalb des Zyklus zum letzten Mal der Zustand des Elends erwähnt, der das Ich nach seiner Rückkehr in sein Selbst heimsucht, und zwar in einer für die Visioenen auffallenden Ausführlichkeit, die den Zeitraum eines ganzen Winters einschließt. Hierin erinnert die zehnte an den Schluss der zweiten Vision, da das Ich auf seine Weise und mit seinen Mitteln versucht, eine ununterbrochene Nähe zu Gott zu bewahren. Zuvor aber war es für den ewigen Moment einer halben Stunde in das Genießen Gottes und seine Gegenwärtigkeit versunken, was den ernüchternden Schmerz nach der Rückkehr erklärt: Ende ic lach in dien ghebrukene ene halue ure/; maer hier was de nacht al ouer/, ende ic quam weder iamerlike claghende mine ellende/, alse ic al desen winter hebbe ghedaen/. Want ic hebbe wel na alle desen winter alsoe ghedaender dinc gheploghen/. Jc lacher toe alle uren/ ende oeffende minne/, ochte reuelacien/ ochte yet anders sonderlinghes dat mij minne gaf. (Vis. X, 73–80) [Und in diesem Zustand des Genießens lag ich eine halbe Stunde. Doch damit war die Nacht ganz vorüber, und ich kam in jämmerlichem Zustand (zu mir) zurück, indem ich, wie ich es den ganzen Winter über getan habe, das Elend meiner Verbannung beklagte. Denn ich habe mich beinahe den ganzen Winter lang mit derartigen Dingen beschäftigt. Die ganze Zeit mühte ich mich darum und übte mich in der Liebe oder empfing Offenbarungen oder beschäftigte mich mit irgendetwas anderem Besonderen, das mir die Liebe eingab.]

Der Text gibt an dieser Stelle eine weitere Auskunft über den Zeitpunkt, an dem das Ich wieder zu sich zurückkommt, nämlich am Ende der Nacht. Die Dauer des Genießens und der Zeitpunkt der Rückkehr werden im Kontext der Jahreszeit genau bestimmt. Die elfte Vision setzt in der Weihnachtsnacht ein, als das Ich in den Geist aufgenommen wird und unmittelbar danach den dunklen Strudel sieht, der von Anfang an mit besonderer Signalwirkung ausgestattet wurde. Das Fest von Christi Geburt erhöht die Bedeutung der Strudelschau, der das göttliche Wesen in seiner Abgründigkeit versinnbildlicht: Jc lach op enen kerstnacht tenen male/ ende wart op ghenomen inden gheeste/. (Vis. XI, 1f.) [Einmal in einer Weihnacht lag ich zu Bett und wurde in den Geist aufgenommen.]

Abschließend beschreibt das Ich das Elend, welches es fortwährend erduldet hat, und seine Bereitschaft, die Minne nicht anders zu fühlen als in einem neuen Tod,

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da es fortwährend das entbehrt, worauf es ein unausweichliches Recht hat. Dennoch endet die Vision mit dem Hinweis, zum gegebenen Zeitpunkt raste (Z. 202) zu erfahren, dass also dem leidenden Ich seine Erholung in Form von reicher Ruhe zuteil werden darf: […] doet mijn tijt was/, dat ic recreatie soude hebben/, ende mi god te kinne soude gheuen volcomene fierheit/ vander minnen, te wetene hoemen de menscheyt ter godheit sal minnen ende rechte bekinnen in eenre naturen/: dat es dat werdechste leuen dat/ dat ye gheleeft was inden rike gods/. Dese rike raste gaf mi god ende wel bi staden/. (Vis. XI, 196–203) [Als für mich die Zeit gekommen war, dass mir Erholung zuteil werden und mich Gott die vollkommene Verwegenheit der Liebe erfahren lassen sollte, (die darin besteht) zu wissen, wie man die Menschheit auf die Gottheit hin lieben muss und (beide) wahrhaft als eine einzige Wirklichkeit erkennen – : Das ist das edelste Leben, das je im Reich Gottes gelebt wurde. Diese reiche Ruhe schenkte mir Gott, und zwar zu gelegener Zeit.]

Am Schluss dieser Vision verbinden sich Verzicht und Erfüllung, Trostlosigkeit und Gnadenhaftigkeit. Eine Innovation stellt in jedem Fall der letzte Satz dar, der damit andere Aspekte zu dem bisher im Vordergrund stehenden Elend hinzufügt, das mit der Rückkehr in das Selbst und in die Zeitlichkeit unweigerlich einsetzt. Zusätzlich zu seinen Schmerzen des Verlangens gewinnt das Ich Ruhe und Sicherheit, die zugleich die Zunahme seiner Vollkommenheit anzeigen.118 Die zwölfte Vision setzt an einem Dreikönigstag119 ein, an welchem das Ich während einer Messe in den Geist aufgenommen wird. Die Konstellation ist die übliche; die Zeitangaben bestehen aus einem hohen kirchlichen Feiertag und der in diesem Kontext zelebrierten Messe: Jn enen dertiendaghe wasic binnen der messen op ghenomen inden gheeste vte mi seluen/ (Vis. XII, 1–3) [An einem Dreikönigstag war ich während der Messe aus mir selbst heraus in den Geist aufgenommen.]

Kurz darauf wird dem Ich jener schwarze Strudel gezeigt, der den Visionenzyklus beinahe leitmotivisch durchzieht und jedes Mal an einer entscheidenden Schlüsselstelle auftaucht. Am Schluss wird dieser Strudel mit seiner abgrundartigen Tiefe erneut aufgegriffen, in die das Ich stürzt. Doch im Gegensatz zur Furcht und dem Schrecken, welche der Strudel beim ersten Ansehen weckt, erzeugt er nun Sicherheit, nachdem er das Ich verschlungen hat: 118 Ebd., S. 170. Hofmann merkt an, dass man raste ohne Weiteres mit »Erfüllung« übersetzen könne, da das menschliche Wesen zu seiner Vollendung gelange. 119 Ebd., S. 171, wo er ergänzt, dass die für diesen Tag liturgisch vorgegebene Lesung aus Jes. 60, 1–6 »sicher nicht ohne Einfluss auf den Bildaufbau des Rahmenszenarios« geblieben sei.

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Jn die diepheit saghic mi verswolghen/; Daer ontfinghic sekerheit met diere vormen ontfaen te sine in mijn lief ende mijn lief also in mi. (Vis. XII, 172–174) [In diese Tiefe sah ich mich verschlungen. Da gewann ich Sicherheit, in dieser Gestalt in meinem Geliebten aufgenommen zu sein und mein Geliebter ebenso in mir.]

Furcht und Schrecken werden überwunden, um der Sicherheit des IneinanderAufgenommen-Seins zu weichen. Wie zuvor in der elften treten nun in der zwölften Vision Ruhe und Sicherheit an die Stelle von Angst und Elend, obgleich sie trotzdem aufeinander bezogen sind. Der Schluss dieser Vision zeigt deutlich eine Akzentverschiebung zugunsten von Sicherheit in der Einheit mit dem Geliebten, die über die Textgrenzen hinaus bestehen bleibt. Die Zeit wird durch das Verschlungen-Werden gesprengt, das als Bild der Bewegung die Dynamik und die Schnelligkeit zeigt, mit der es sich vollzieht. Die zwölfte stellt eine Steigerung der elften Vision dar, da es sich hier um den Zustand der Einheit mit Gott im Genuss handelt. Die dreizehnte Vision setzt mit einem Sonntag vor Pfingsten ein,120 doch da das Ich sogleich Kenntnis von der ihm bisher verborgenen Liebe erlangt, erscheint diese Vision von Anfang an als eine außergewöhnliche Begnadung. Zusätzlich wird die genaue Tageszeit, nämlich vor Tagesanbruch, angegeben: Jc was tsondaghes vore cinxenen vore die dagheraet inden gheeste op ghenomen te gode/, die mi minne cont makede/ die mi tote diere vren ye verborghen hadde gheweest/. (Vis. XIII, 1–4) [Am Sonntag vor Pfingsten wurde ich vor Tagesanbruch in den Geist zu Gott aufgenommen, der bewirkte, dass ich Kenntnis von der Liebe erlangte. Die war mir bis zu dieser Stunde immer verborgen gewesen.]

In dieser Vision wird mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein die Forderung der Gruppe aus dem untersten Teil des versiegelten Antlitzes präsentiert, Gott jederzeit genießen zu dürfen (so maendense alle vren dat ghebrukenesse, Z. 184f.), ohne dass sie jedoch den Zusicherungen über die Liebe des Geliebten Glauben schenken können, sondern mit vertieftem, von der Liebe bewegtem Misstrauen (ontrouwe, Z. 187) alles verschlingen und dabei unersättlich sind. Deshalb erweist sich diese Gruppe als besonders erlesen und berechtigt, doch am edelsten und seltensten seien diejenigen, die allen drei Gruppen angehörten, zu der selbstverständlich das Ich zählt. Die Vision schließt dann besonders mit einem Sturz in die Tiefe, währenddessen der Genuss erneut das Ich überwältigt:

120 Hofmann (Ebd., S. 185) präzisiert diesen Feiertag als »Sonntag nach Christi Himmelfahrt« und fügt dessen Vorverweis auf Pfingsten hinzu.

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Doe ghinc mi ghebruken als te voren ende ic viel in die grondelose diepte, ende quam buten den gheeste op die vre daer men nemmermeer af segghen en mach/. (Vis. XIII, 255–258) [Dann überkam mich ein Genießen wie zuvor, und ich stürzte in die grundlose Tiefe und kam zur Stunde (in den Zustand) außerhalb des Geistes, worüber irgendetwas auszusagen man niemals imstande sein wird.]

Hier werden Raum und Zeit aufgehoben und aufgelöst, vor dem Genießen Gottes versagt die Sprache, und es zeigt sich eine zunehmende Steigerung und Intensivierung der Vereinigungsformen, die jetzt zeitlich nicht mehr präzisiert werden können. Der Sturz markiert den räumlichen und zeitlichen Grenzübertritt, das Ich fällt sozusagen aus der messbaren Zeit und fällt in unauslotbare Tiefen, um sich mit Gott im Genuss zu vereinigen. An dieser Stelle bricht die Vision bezeichnenderweise ab und kennzeichnet eine markante Leerstelle, die das Unsagbare dennoch deutlich sichtbar einträgt, doch übersteigt es die Textgrenzen und setzt sich über diese hinaus fort. So knüpft die vierzehnte Vision direkt an einen fortdauernden Zustand des brennenden Begehrens und verzehrenden Verlangens an, der sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart umfasst und dadurch eine anhaltende, gespannte Präsenz in Szene setzt: Jc was ende ben noch in groter begherten ende in oerewoede/, so dat ic waende ende oec wel wiste dat ic niet leuen ne mochte met so groter ongheduricheit alse daer ic in was/ ende noch ben, god en gaue me nuwe cracht/; ende doe dede hijt, danc hebbe hi. (Vis. XIV, 1–6) [Ich war und bin noch immer in einem Zustand starken Verlangens und in leidenschaftlichem Liebeswahn, so dass ich meinte und mir auch sehr wohl im Klaren darüber war, dass mit einer so großen Unruhe wie derjenigen, in der ich mich befand und noch befinde, ich nicht länger leben könne, es sei denn, Gott gäbe mir neue Kraft. Und dann – Ihm sei gedankt – tat Er es.]

Die Frage nach der Zeit im Kontext des Genießens verschiebt sich zum Schluss immer stärker in Richtung der Inszenierung fortlaufender Gegenwärtigkeit und andauernden Verlangens nach Genuss, das sich mit Phasen vollständiger Erfüllung überlappt, die einander durchdringen. Andauernde Gegenwart wird in der obigen Passage subtil inszeniert durch die zweimalige Verwendung der Zeitformen Präteritum und Präsens für das Verbum und die zusätzliche Ergänzung durch das Zeitadverb noch (Z. 1 und 5). Die hierfür notwendige ununterbrochene Erneuerung findet sich in der nuwe(n) kraft (Z. 5) angedeutet, durch welche das Ich beschenkt wird, um die unausgesetzten Unruhen- und Spannungszustände der verzehrenden begherten (Z. 1) und der oerewoede (Z. 2) überhaupt aushalten zu können. Der abschließende Satz aus dem göttlichen Mund bestätigt dem Ich, dass es alle Kämpfe erfolgreich bestanden, sich in den

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Mühen der Minne bewährt habe und als die Stärkste und Kühnste Gott vollkommen zu Recht zur Gänze kenne.121 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Zeit in den Visioenen eine zu gewichtige und sichtbare Rolle einnimmt, um dem bloßen Zufall und nicht einem ausgeklügelten Kompositionsprinzip geschuldet zu sein. Im Vergleich zu den anderen beiden Texten nimmt daher die Analyse deutlich mehr Umfang ein, da es bei den Visioenen zwar um den kürzesten Text handelt, dieser aber sowohl eine feste Zeitrahmung als auch zahlreiche oszillierende Momente zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit sowie Zeitangaben, die speziell die paradoxe Spanne des Genießens zwischen Kürze und Dauer betreffen, aufweist. Die Vermutung liegt nahe, dass sich bei der durchgängigen Inszenierung von Gegenwärtigkeit verschiedene Funktionen, wie Authentizitätseffekte, Strukturelemente, Orientierungshilfen, Rezipientenanleitung oder Exklusivitätsansprüche, überlagern. In Form von Feiertagen, Tageszeiten und Bemessung der Dauer ist die Zeit als plenitudo temporis konzipiert, die nach und nach alle anderen, selbst die entgegengesetztesten Zustände wie Entbehrung und Begehren, in sich einsaugt, bis das Ich absolute Ebenbürtigkeit und Vollständigkeit erreicht hat. Hierbei wird eine exklusive Gruppe konstruiert, für welche diese mit einer bibelähnlichen Aura aufgeladenen Visioenen eine Leit- und Vorbildfunktion einnehmen konnten und besonders für die hohen Festtage im Kirchenjahr Ereignisse göttlicher Präsenz im Genießen und Verlangen schufen.

121 Im Lauf der Vision wird hierzu noch ein Appendix gegeben, der weitere Gnadenerfahrungen unter Verwendung von genauen Zeitangaben aufzählt: Jc hebbe op selke iij daghe/ ende also meneghen nacht ghelegen in op ghenomenheiden/ van gheeste in dat anschijn ons lieues; ende dat heuet herde dicke also langhe gheweest/ Ende oec dicke also langhe altemale buten den gheeste/, mi ende allen menschen hier verloren/ ende hem in ghebrukene: te wetene hoe hi sijns selves daer pleghet, dat verwent al datmen van hem hebben mach/, ende dat hi selue gheleisten mach buten den gheeste in hem te sine, ende dan en es men niet min dan hi es/. (Vis. XIV, 145–155) [Einst bin ich drei Tage und ebenso viele Nächte im Geist in das Angesicht unseres Geliebten verzückt gelegen; und so lange hat dieser Zustand sehr oft angedauert und (darüber hinaus) oft auch ebenso lange völlig außerhalb des Geistes, mir und allen Menschen hier verloren und Ihm im Genießen (hingegeben): Zu wissen, wie Er da mit sich selber verkehrt –: Außerhalb des Geistes zu sein, das übertrifft alles, was man von Ihm haben kann, und was Er selbst vollbringen kann. Und dann ist man nicht weniger, als Er ist.] In dieser Passage treten gehäufte Zeitangaben auf, die sich sowohl auf die Tageszeit als auch auf die Dauer der Verzückung in der Aufgenommenheit beziehen, wofür sowohl Adverbien wie dicke (2x, Z. 148f.) oder Hinweise wie also langhe (2x, Z. 148f.) eingesetzt werden. Gleichzeitig wird dadurch der Auswahlcharakter des sorgfältig angelegten Zyklus unterstrichen, der eine Fülle unausgeführter Visionen suggeriert. Auch verweist der Text auf die Außerordentlichkeit des Zustands buten den gheeste (Z. 153f.), wozu er einen kunstvoll elliptischen Redeabbruch einsetzt.

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Der Mirouer: Transitorischer oder dauernder Genuss auf der siebten Stufe und Gottesgeburt im Genuss der Trinität als Fülle der Zeit Die Wortanalyse hat bereits gezeigt, dass der Mirouer mit expliziten Verwendungen von fruiction sparsam umgeht, da diese Bezeichnung insgesamt nur dreimal auftritt. Umso stärker muss es ins Gewicht fallen, dass sich der Genuss Gottes im Prolog und in Mirouer 118 ausschließlich in der Ewigkeit ereignet. Scheinbar vermeidet es der Mirouer, Doppelbelichtungen zwischen plötzlicher Gegenwärtigkeit und dauernder Ewigkeit wie im Fließenden Licht und in den Visioenen zu erzeugen, da man, wie ausdrücklich gesagt wird, erst nach seinem Tod die fruitio Deo erfährt, so dass der plötzliche Genuss Gottes im Diesseits offenbar nicht möglich ist. Doch verweist der Text in Mirouer 61 darauf, dass die Seele in ihrer vollständigen Vernichtung aus dem Abgrund blitzartig von der fünften zu sechsten Stufe und vor dort aus ohne ihr eigenes Wissen zur siebten Stufe der Verklärung emporgezogen wird. Ebenso gehört die Schilderung der Gottesgeburt in Mirouer 115, die ein ewig dauerndes Genießen in der Seele erzeugt, keiner der sieben Stufen an. Aspektartig wird im Spiralverfahren eingeblendet und ausgeblendet, was für die Akzentuierung des jeweiligen Kapitels als wichtig gilt, ohne eine schlüssiges Gesamtbild der sieben Stufen anzustreben, welches ohnehin nur wieder der als überflüssig erklärten Vernunft geschuldet wäre.122 Derartige ›Inkonsequenzen‹ oder besser Kunstgriffe zeigen, dass sich sowohl ein von der augustinischen Tradition geprägtes Genießen Gottes in Ewigkeit als auch der präsentische Modus einer ständig neu werdenden Gottesgeburt in der Seele nachweisen lassen. Das plötzliche Empor-Gerissen-Werden der Seele von der fünften über die sechste bis zur siebten Stufe gehört ebenfalls einer transitorischen Ordnung an.123 Die Ebenen von Zeit und Ewigkeit, Gegenwärtigkeit und Dauer überlagern sich, wenngleich weniger offensichtlich, hier ebenfalls. In Übereinstimmung mit Köbele lassen sich Spuren des Transitorischen, die sich gleichwohl mit Dauerndem verbinden, im Mirouer auffinden,124 ganz im Gegensatz zu Ruh, der die Gestaltung der Einheit in diesem Text als ausschließlich dauernd bestimmt hat.125 Doch ebenso, wie Vernichtung und Genuss einander 122 Vgl. Gnädinger, Margareta Porete (1987), S. 239. 123 Vgl. McGinn (1999), S. 464: »Dennoch ist klar, dass der auf Erden höchstmögliche Zustand, das Aufblitzen der Öffnung des dreifaltigen Abgrunds selbst, etwas Kurzes und Seltenes ist, und folglich das höchste Einsein kein hier auf Erden endgültig erreichter Zustand sein kann. Es hat vielmehr einen dynamischen Charakter, ist ›epektasis‹, wie es viele andere christliche Mystiker auch vertreten.« 124 Vgl. Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 97–103, die differenziert die Spannungen für die Text- und Bildgestaltung eines Zugleichs von Ewigkeit und Gegenwärtigkeit, von transitorischen und dauernden Elementen der unio ausbalanciert. 125 Vgl. Ruh, Beginenmystik (1977), bes. S. 275.

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zugleich bedingen und ergänzen, verhält es sich auch mit den Aspekten des Transitorischen und des Dauernden. Wie die anderen beiden Texte lotet der Mirouer die Spannung des Grenzgängertums zwischen Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits, Genuss und Verlust aus. Sogleich zu Anfang des Prologs wird die von Gott berührte Seele angesprochen, die zum siebten Grad der Vollkommenheit emporgestiegen ist, wo sie die Fülle der Vollkommenheit im Genießen Gottes besitzt. Zum Vergleich wurde zusätzlich das ältere Latein herangezogen und mit angeführt: Le Prologue. Ame de Dieu touchee, et denuee de pech¦ ou premier estat de grace, est montee par divines graces ou septiesme estat de grace, ouquel estat l’Ame a le plain de sa parfection par divine fruiction ou pas de vie. (Mirouer 1, 1–5) Anima a Deo tacta et a peccatis nudata in primo gratiae statu, ascendit per diuinam gratiam ad septimum gratiae gradum, in quo anima habet suae perfectionis plenitudinem per fruitionem diuinam in patria uitae.126 (Speculum 1, 1–4)

Mirouer 118, welcher die einzelnen Zustände detailliert in chronologischer Folge aufschlüsselt, verschweigt nach ausführlichen Schilderungen des fünften Grades nahezu alle Auskünfte über den siebten,127 und tritt sogar noch hinter die Knappheit des Prologs zurück: Et le septiesme garde Amour dedans elle, pour nous donner en parmanable gloire, duquel nous n’aurons cognoissance jusques ad ce que nostre ame ait nostre corps laiss¦. (Mirouer 118, 204–206) Septimum autem intra se amor seruat ad nobis dandum in perenni gloria, quem nescimus, donec anima fuerit a corpore exuta. (Speculum 118, 212–214)

Durch eine Kombination beider Stellen erhält man sowohl die Aspekte der vollständigen Fülle als auch die der Ewigkeit, die sich mit dem Genießen verbinden. Der Akzent in beiden Passagen ist eindeutig auf die Ewigkeit mit ihrer immerwährenden Dauer gelegt, in welcher der Genuss Gottes zugänglich wird, der bis dahin entzogen bleibt. Doch wird diese klare Trennung in der Textentfaltung des Mirouer unterlaufen, da sich zunehmend andere Aspekte einschleichen, die zeigen, dass der Genuss Gottes transitorisch und dauernd gedacht werden kann. So ist vor allem die sechste Stufe mit ihrer blitzartigen Öffnung und Schließung deutlich von dem Einbruch der göttlichen Gegenwär126 Anstelle von Übersetzungen sind diesem Kapitel Zitate aus der lateinischen Fassung des Mirouer beigegeben, da in der Wortanalyse bereits die deutschen Übersetzungen der Stellen gegeben wurden und es sich hier größtenteils um dieselben Passagen handelt. 127 Vgl. McGinn (1999), S. 457, der über die siebte Stufe schreibt, sie sei »dem Himmel vorbehalten, und Marguerite sagt nichts über sie«. Das ist nur insofern richtig, solange es sich auf diese eine Stelle bezieht, doch erhält man im Textverlauf des Mirouer durchaus weitere Informationen über sie.

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tigkeit geprägt, die nur von kurzer Dauer ist, was der Amour im Text dreimal hervorhebt: AinÅoys est en esbauts ou cincquiesme estat avec son amant. La ne fault elle mie, et si est souvent ou siziesme ravie, mais pou ce luy dure. Car ‹c’est› une ouverture a /maniere de esclar et de hastive closure, ou l’en ne peut longuement demourer, ne elle n’eust oncques mere, qui de ce sceust parler. (Mirouer 58, 7–11) Immo est stans in quinto statu cum suo dilecto, ubi sibi nichil deficit. Et est frequenter ad sextum statum rapta, sed parum durat. Quia illud est quaedam apertura ad modum cuiusdam coruscationis et festinae clausurae, ubi diu non est possibile morari; nec ille unquam habuit magistrum, qui de hoc sciret loqui. (Speculum 58, 4–9)

Mirouer 58 erklärt die Kürze des Blitzes damit, dass es sich hierbei um eine demonstrance de la gloire de l’Ame (58, 31f.) oder alternativ eine demonstratio gloriae animae (58, 29) handele, die in keiner Kreatur länger anhalte als sinon seulement en l’espace de son mouvement (58, 33) oder excepto solo per spatium unius momenti (58, 30f.). Die Betonung der kurzen Dauer des sechsten Seinszustandes, in welchen die Seele emporgezogen wird, trägt deutlich transitorische Züge.128 Zudem weist dem Text zufolge diese Herrlichkeit, die der Seele dort zuteil wird, bereits Anklänge an die erst der ewigen Seligkeit zugestandene Verklärung auf, da Worte wie gloire oder glorieuse vor allem für den siebten Zustand verwendet werden.129 Zusätzlich unterstützt werden diese durch Mirouer 61, der die sieben Stadien der Seele bespricht und Folgendes über die sechste und darüber hinaus über die siebte Stufe sagt: […] et le siziesme est glorieux, car l’ouverture du doulx mouvement de gloire, que le gentil Loingpr¦s donne, n’est aultre chose que une apparicion, que Dieu veult que l’Ame ait de sa gloire mesmes, que elle aura sans fin. Et pource luy fait de sa bont¦ ceste demonstrance du setiesme estat ou siziesme. Laquelle demonstrance naist du septiesme estat, qui donne le siziesme estre. Laquelle demonstrance est si tost donnee, que celle mesmes, a qui ce est donn¦, n’a de son don, qui est donn¦, nulle apparcevance. (Mirouer 61, 10–18) Et sextus est gloriosus, quia apertura dulcis momenti seu motus gloriae, quam nobile longe propinquum dat, non est aliud quam quaedam apparitio quam Deus uult quod anima habeat de suamet gloria, quam sine fine habebit. Et ideo de sua bonitate ei facit hanc demonstrationem septimi status in sexto. Quae demonstratio ita subito datur quod illamet anima cui datur, nullam de suo dono, donec recesserit habet, perceptionem. (Speculum 61, 8–15) 128 Vgl. hierzu Leicht (2002), bes. S. 145. Ähnlich wie Köbele oder McGinn beschreibt Leicht jene Doppelung aus transitorischen und dauernden Elementen als ein »spannungsreiches Zugleich der göttlichen Perspektive einer bleibenden Einheit und eines transitorischen Charakters der mystischen ›unio‹«, wofür sie ebenfalls als Beleg die blitzartige Öffnung und Schließung auf der sechsten Stufe anführt. 129 Vgl. exemplarisch Mirouer 118, 204–206.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Die Seele rückt ebenso rasch und plötzlich von der sechsten bis in die Verklärung des siebten Zustandes auf. Ihre Vernichtung und Willenlosigkeit werden eindrücklich dadurch deutlich, dass sie selbst davon keine Ahnung hat, wenn sie an der Verklärung und der Herrlichkeit Gottes einen kurzen Moment Anteil und einen punktuellen Vorgeschmack der Ewigkeit erhält. Für einen kurzen Augenblick wird der vernichteten Seele im siebten Zustand zuteil, was sie nach ihrem leiblichen Tod unausgesetzt kosten wird, nämlich der Genuss der Herrlichkeit Gottes. Der Einbruch der Ewigkeit in die Zeitlichkeit wird durch die Intensität des Moments und durch dessen Süße gestaltet, auf die der Text flüchtig verweist und deren Folgen Mirouer 58 mit der Nahrungsmetaphorik wie pasture glorieuse (58, 38) ergänzt. Die Wirkung dieses Einbruchs der Herrlichkeit ist der Friede, den die Seele nach ihrer Rückkehr von der sechsten Stufe empfängt und behält. Das Adjektiv glorieuse verweist auf die Nähe zum höchsten Seinszustand. Gleichzeitig aber gibt der Text damit Signale für unausgesetzte Dauer, besonders, wenn er den Zustand der Vernichtung beschreibt, aus dem heraus diese blitzartige Entrückung vom sechsten bis zum siebten Seinzustand überhaupt erst möglich wird. Ebenso wird der Zustand des Friedens nach der vollständigen Vernichtung als etwas Ununterbrochenes geschildert.130 Ganz aus dem Sieben-Stufen-Schema,131 das durch das Drei-Tode-Schema132 ergänzt wird, fallen sowohl Mirouer 115 als auch Mirouer 138 heraus. Mirouer 115 verwendet das traditionelle Bild der Gottesgeburt, um den Einbruch der Ewigkeit in die Zeitlichkeit zu inszenieren, der, dem Gottesgruß im Fließenden Licht vergleichbar, sich zugleich jetzt und immer wieder von Neuem vollzieht: Il est une substance permanable, une fruiction aggreable, une conjunction amiable. Le pere est substance permanable; le Filz est fruiccion aggreable; le Saint Esperit est conjunction amiable. Laquelle conjunction amiable est de substance permanable et de fruiction aggreable par la divine amour. L’Ame. – Hee, Unit¦, dit l’Ame sourprinse de Divine Bont¦, vous engendrez unit¦, et unit¦ reflechist son ardour en unit¦. Laquelle divine amour d’unit¦ engendre en Ame Adnientie, en Ame Enfranchie, en Ame Clarifiee, substance permanable, fruiction aggreable, conjunction amiable. De laquelle substance permanable la memoire a la 130 Vgl. hierzu Leicht (2002), welche die »Gegenwärtigkeit des Friedens als grundlegende Perspektive« (S. 140) für den Mirouer ansieht und darin eine Begründung für eine präsentische Eschatologie erkennt. Denn wenn die freie und vernichtete Seele den Zustand des Friedens erreicht hat, so ist dieser auch von unausgesetzter Dauer. Ebenso benennt Leicht »die eschatologische Spannung zwischen dem Schon und Noch-Nicht christlicher Erlösung« (S. 144) und führt in diesem Zusammenhang wie McGinn (1999), S. 457 die siebte Stufe an, über die wenig gesagt wird und die dem ewigen Leben vorbehalten ist. M. E. oszilliert die siebte Stufe ebenso zwischen transitorischen und dauernden Aspekten, wie bereits gezeigt wurde. 131 Vgl. als exemplarische Kapitel für das Sieben-Stufen-Schema Mirouer 58–61 und 118. 132 Vgl. hierzu exemplarisch Mirouer 60.

Genuss Gottes im textuellen Vollzug

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puissance du Pere. De laquelle fruiction aggreable l’entendement a la sapience du Filz. De laquelle conjunction amiable la voulent¦ a la bont¦ du Saint Esperit. (Mirouer 115, 3–15) Vna /est substantia permanens, una fruitio grata seu acceptabilis, una coniunctio amicabilis. Pater est substantia permanens; Filius est fruitio acceptabilis; Spiritus sanctus est coniunctio amicabilis. Quae coniunctio amicabilis est a substantia permanente et a fruitione acceptabili per diuinum amorem. O Vnitas, dicit Anima diuina bonitate praeuenta, quae gignit unitatem, et unitas reflectit suum ardorem super unitatem siue in unitatem. Qui diuinibus amor unitatis gignit in anima adnichilata, in anima libera, in anima clarificata substantiam permanentem, fruitionem acceptabilem et coniunctionem amicabilem. A qua substantia permanente memoria habet potentiam Patris. A qua fruitione acceptabili intellectus habet sapientiam Filii. A qua coniunctione amicabili uoluntas habet bonitatem Spiritus sancti. (Speculum 115, 1–14)

Die Gottesgeburt ist als eine Verwirklichung der plenitudo temporis, als Vergegenwärtigung des göttlichen nu zu begreifen, das als Ewigkeit in die Zeitlichkeit einbricht und den Menschen mit Gott vereinigt.133 Als Fülle der Zeit, die alle Zeit aufhebt, sie in einem Augenblick ›voll macht, erfüllt und überfüllt‹, überformt die Ewigkeit Gottes die Zeitgebundenheit des Menschen. Sie verbindet widerspruchslogisch das Transitorische mit dem Dauernden, da sie sich jederzeit neu und gleichzeitig immer vollzieht. Sobald die Seele völlig vernichtet, befreit und erleuchet ist, hat sie in der Einheit mit der Trinität teil an ihrer ewigen Substanz, dem empfangenden Genießen und der liebevollen Vereinigung. Da sich dieses Wunder in der Seele fortwährend erneuert, dauert es zugleich ununterbrochen fort, denn es findet nicht nur im Jetzt, sondern im Immer statt. Diese »gedankliche und darstellerische Zumutung eines ewigen Augenblicks«134 wird vor allem in Mirouer 115 besonders verschärft, da er sich einzig und allein auf die Schilderung der Gottesgeburt in der Seele beschränkt, aber keine Zeitangabe macht, wann diese überhaupt stattfindet. Insgesamt zeigt die Auswertung des Mirouer in Bezug auf die Gegenwärtigkeit oder Ewigkeit des Genießens, dass manche und häufig besonders pointierte Stellen eindeutig dessen Verbindung mit der Ewigkeit betonen. Dagegen inszenieren andere, eher eingestreut wirkende Mirouer-Kapitel Momente transitorischer Herrlichkeit (Mirouer 58–61) oder die immer neu werdende Vergegenwärtigung des Genießens in der Einheit der Gottesgeburt (Mirouer 115). Der Text gestaltet sowohl plötzliche Einbrüche der Ewigkeit in die Zeitlichkeit als auch die Paradoxie eines ewigen Neuwerdens oder Zustände ununterbrochener Dauer. Da die vernichteten Seelen sich in einem unausgesetzten Zustand der 133 Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit (1989), S. 174–194. 134 Köbele, Bilder der unbegriffenen Wahrheit (1993), S. 98.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Vollkommenheit, der Ruhe und des Friedens befinden, lässt sich, auf das Inszenierungsverfahren des gesamten Mirouer bezogen, in diesem Zusammenhang die These belegen, dass der Text auf poetisch-performative Weise eine Ewigkeit mit seinen punktuellen Momenten in Spiralen- oder Kreisform inszeniert, in welcher Genuss und Vernichtung ebenso ineinander aufgehen wie Gegenwärtigkeit und Ewigkeit. Somit treten sowohl transitorische als auch dauernde Formen einer Einheit auf, bei der Genuss und vor allem Vernichtung ineinander aufgehen und zeigen, dass der Mirouer ihre Inszenierung komplex und facettenreich, wenngleich ausgesprochen paradox,135 bewältigt.

Zusammenfassung In allen drei Texten bildet die Zeitlichkeit ein komplexes Phänomen, das sich zwischen Gegenwärtigkeit und Ewigkeit, transitorischen Momenten und unausgesetzter Dauer ansiedelt, jedoch unterschiedlich gelöst und akzentuiert wird. Das Fließende Licht inszeniert vor allem im ersten Buch Dimensionen der transitorischen und paradoxerweise zugleich dauernden Gegenwart Gottes durch Verschiebungen des Zeitadverbs nu, was der Text mit einem raffinierten semantischen Spiel verbindet, so dass ein Oszillieren zwischen Jetzt und Immer entsteht. In dieser Überlagerung sind aber parallel Zeichen des Verlustes und der Trennung in beredtem Klagegestus eingeschrieben, welche der Text nachdrücklich unterstreicht, so dass die Spannung in diesem Oszillieren deutlich sichtbar bleibt. Außerdem weist das Fließende Licht Züge einer unendlichen Bewegung des Fließens auf, welche es durch seine zahlreichen Flüssigkeiten wie Blut und Milch inszeniert, und die ein ununterbrochenes Eingebundensein in den Kreislauf des göttlichen Grußes zeigen. Insgesamt bildet die Zeit in den Visioenen ein zentrales Strukturelement für den gesamten Zyklus, dem dieselbe tragende Bedeutung wie der Räumlichkeit zukommt. Zum einen wird der Zyklus durch hohe kirchliche Feiertage exklusiv gerahmt und geordnet, die häufig mit genauen Angaben von Tageszeiten versehen sind, zum anderen wird die Dauer des Genießens präzise genannt. Vor allem aber entwickeln die einzelnen Visionen in ihrem Verlauf eine zunehmend intensivierte, sich über die Textgrenzen hinaus erstreckende Gegenwärtigkeit Gottes, die auch das Entbehren und Begehren dynamisch einbindet und damit 135 Vgl. hierzu McGinn (1999), S. 464: »Wir könnten noch die Frage stellen, welche Stabilität und Dauer das Einssein nach Marguerite Poretes Verständnis habe, vor allem im Licht der traditionellen Beteuerung in der Mönchsmystik, das liebende Einssein der Willen (unitas spiritus) sei unvermeidlich ein seltenes und kurzes Phänomen. Handelt es sich für Marguerite Porete beim Einssein um einen länger andauernden Zustand? Die Antwort scheint paradoxerweise Ja und Nein zugleich auszufallen.«

Genießen als »Nahrung aufnehmen«

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exemplarisch vorführt, dass Jetzt und Immer für einen erlesenen Zirkel möglich sind. Der Klagezustand wird durch ein Verbleiben im trunkenen Genießen oder verzehrenden Begehren ab der siebten Vision abgelöst. Indem der Text sich selbst über die einzelnen Visionen hinaus überschreitet, inszeniert er Genuss und Begehren performativ in einer sich steigernden, den Rezipienten einladenden Bewegung. Im Mirouer dagegen scheinen die Grenzen zwischen dem Genießen in Ewigkeit und Zeitlichkeit sehr scharf gezogen zu sein, ohne Möglichkeiten zum Umschlag noch im Diesseits zu bieten, wenn man allein das Sieben-StufenSchema berücksichtigt. Doch zeigen im Gegensatz dazu Passagen wie die Gottesgeburt in Mirouer 115 den Einbruch der plenitudo temporis mit ihrer fortwährenden Erneuerung. Die vernichtete Seele hat offenbar doch, wenn man die dynamischen Übergänge von der fünften zur sechsten und weiter zur siebten Stufe genauer untersucht, plötzliche Momente blitzartiger Verzückung angesichts der Herrlichkeit Gottes, die kurz und scharf sind, sie jedoch in die unmittelbare Gegenwart Gottes versetzen. Daher sind die Ebenen von Zeitlichkeit und Ewigkeit nicht so klar voneinander geschieden wie der Text stellenweise behauptet. Ebenso weist das Inszenierungsverfahren des Textes in seinen Spiralen, analog zur Bewegung des Fließens im Fließenden Licht, Züge einer tendenziell unabschließbar fortlaufenden Bewegung auf, die das fortwährende Steigern der Vervollkommnung in Vernichtung und Genuss performativ umsetzt.136

II.3.3 Genießen als »Nahrung aufnehmen«: Erkenntnis Gottes im Geschmack In seinem Kommentar zu Hadewijchs Visioenen verweist Gerald Hofmann auf die ursprüngliche Bedeutung von ghebruken als Nahrung aufnehmen, aus der sich dann in Anlehnung an das lateinische Wortpaar frui/uti die Bedeutungen von genießen oder benützen, gebrauchen, Umgang haben entwickelten.137 Dass 136 Vgl. Vis. XIII, 13–23: Hinweis auf den neuen Himmel, der nur denen in der Schau offenbart wird, in denen Gott erneut geboren wird (Gottesgeburt!); der Ausdruck hierfür lautet bezeichnenderweise Gottesmutter der vollkommenen Leibesfrucht (moeder gods der volcomenre dracht, Vis. XIII, 18). In der vierzehnten Vision erfolgt eine Begründung seiner umfassenden Kenntnis Gottes aufgrund der zahlreichen Visionen, in welchen das Ich das Angesicht des Geliebten sah (Vis. XIV, 110–124); vor allem aber aufgrund des Zustands buten den gheeste (Vis. XIV, 155f.), in dem man Gottes Angesicht vollkommen und vollständig schaut. Im Grunde inszenieren die Visioenen fortwährend Steigerungen der Steigerung; das heißt, jede Vollkommenheit wird durch eine weitere, noch vollkommenere Vollkommenheit abgelöst. 137 Vgl. Hadewijch/Hofmann (1998b), S. 12.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

dem in der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts eine massive Bedeutung zukam, lässt sich anhand der drei Texte belegen, die alle um Nahrung, Sättigung, Erfüllung kreisen. Vor allem das Fließende Licht und die Visioenen stellen hierbei vielfache Bezüge zur Eucharistie als Kultpraxis des Schmeckens Gottes her, die oft mit der Einheit von göttlichem und menschlichem Partner einhergeht.138 Das von den Texten entwickelte Genießen Gottes wird ästhetisch in Form von Sattheit, Befriedigung und Wohlgeschmack inszeniert. Auffallend ist hierbei die Verbindung mit gustalen Komponenten wie süß (süeze/suete/doulx) oder köstlich (delicieux), welche der Nahrung und dem Geschmack erst ihren eigentlichen flavour verleihen.139 In diesem Kontext finden Umwertungen dieser gustalen Komponenten statt: So wird die Süße der vroemedunge gotz im Fließenden Licht zurückgewiesen,140 in den Visioenen werden die Gaben der Liebe

138 Vgl. zur Eucharistie als Ausdruck einer spezifisch weiblichen, von Körperlichkeit geprägten Form von Spiritualität und deren Bezüge zu Begehren und Einheit: Suerbaum, ›O wie gar wundirbar ist dis wibes sterke!‹ (2010); grundlegend: Bynum, Fragmentierung (1996), 109–146. 139 Vgl. speziell zur süeze in ihrer semantischen und theologischen Bedeutung: Ohly, Süße Nägel (1989), S. 403–409. In diesem Zusammenhang weist Ohly auch auf das Sakrament des Abendmahls als Form des Schmeckens Gottes hin, wobei er unter der Süße vornehmlich eine theologische und keine geschmackliche Qualität versteht (S. 404). Gleichzeitig aber verknüpft er mit dem Wort süß in wörtlicher Bedeutung immer eine »durch das Sinnesorgan des Geschmacks gegangene Wahrnehmung« (S. 406). Des Weiteren vgl. Ohly, Geistige Süße (1977), bes. S. 102–109. In diesem Aufsatz verbindet Ohly mit der Süße zugleich die Schönheit Gottes und das »›Genießen‹ der spirituellen Erkenntnis (S. 105): Der Mensch ist dabei aufgerufen nicht zu einem sinnlich-ästhetischen ›Genuss‹, sondern einem spirituell-ästhetischen Genießen, das Gewinn aus schöpferisch-inspiriertem Verstehen zieht, wofür das Wort ›niazan‹ steht« (S. 103f.). Indem er zwei Arten von Ästhetik unterscheidet, hat er eine Auseinandersetzung mit der Problematik und Paradoxie von Sinnlichkeit, Genuss und Ästhetik geschickt vermieden. Denn was geschieht, wenn spirituelle Texte zugleich sinnlich les- und erfahrbar werden und auf eine aisthetische Vergegenwärtigung und performative Teilhabe des Genießens abzielen? Dagegen Carruthers (2006). Sie etabliert in ihrem Essay dezidiert die Süße als ästhetische Kategorie, wobei sie unter »›aesthetic‹ […] is pre-Kantian, pre-Romantic meaning of […] ›sense-based knowledge‹« (S. 999) versteht, das »›feeling‹ but also ›knowing‹« (S. 999) miteinander verbindet. Die Süße ist daher als ein »experimental knowledge« (S. 1001) zu begreifen, welches den Gegensatz von Fühlen und Erkennen aufhebt. Im ersten Teil ihres Essays zeigt sie die Verbindungen von »sweetness as knowledge« auf (S. 1003–1007), die für dieses Kapitel besonders zentral ist, da sich in den Texten zahlreiche Belege für die Verbindung von Geschmack und Erkenntnis finden. Für eine zwischen Semantik und Ästhetik vermittelnde Position vgl. Hasebrink, »Ich kann nicht ruhen, ich brenne« (2007), S. 107. Gegen Ende seines Aufsatzes verweist Hasebrink in einer Fußnote auf das »Spannungsfeld der Deutung jener ›Süße‹« (S. 107) bei Ohly und bemerkt: »Eine ›süeze‹, die alle Sinne affiziert und in spiritueller Form den Genuss an der höchsten Schau mit umschließt und darin ›beseligend‹ ist, scheint mir Kennzeichen einer Kultur zu sein, in der man das Heilige berühren muss, um sich seiner zu vergewissern.« (S. 107) 140 Vgl. FL IV, 12, 20f.: Aber, herre, die suessekeit solt du von mir legen und la mich dine vroemdunge han.

Genießen als »Nahrung aufnehmen«

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gesäuert,141 während im Mirouer die Süße und Lust der vierten Stufe als täuschend142 bezeichnet werden. Solche Umwertungen zeigen zugleich, dass die Süße des Genießens im Zuge des Reifeprozesses, des Selbstverlusts oder der Vernichtung nicht als das Höchste veranschlagt wird, so sehr sie andererseits erstrebt und begehrt wird. Ebenso spielen nicht nur Aspekte der Erfüllung und Sättigung eine Rolle, sondern auch des Hungerns und Entbehrens, welche auf das Begehren als die dynamische Komponente des Genießens verweisen.

Mirouer: Fülle göttlicher Geschmacksnuancen für die vernichtete Seele Der auf den ersten Blick eher trocken und spröde erscheinende Mirouer erweist sich bei einer detaillierten Analyse überraschenderweise als durchzogen von den sinnlichen Spuren der Nahrung, der Sättigung, der Fülle, der Süße, der Lust und der Freude.143 Sie stellen eine implizit und aisthetisch in den Text eingespeiste Form des Genießens Gottes dar,144 die sich vor allem auf der vierten Stufe ausdrückt, auf welcher die Seele durch die göttliche Süße verwöhnt wird. Dadurch findet eine nachhaltige Durchfeuchtung des abstrakten Charakters des Textes statt, da sich die sinnliche Metaphorik mit verschiedenen anderen Themenfeldern vernetzt: Häufig tritt die Verbindung von pasture/nourriture (Nahrung; Speise) und entendement/entendre (Wissen; Erkenntnis; Verständnis) auf, ebenso die Verknüpfung von Nahrung (pasture) mit dem Zustand des Friedens (paix), der mit der vollständigen Selbstvernichtung einhergeht. Die zuvor separat behandelte Metaphorik von Trunkenheit und Sättigung 141 Vgl. Vis. XIII, 190f.: Wat die minne gheuet, dats ghesuert ende vertert ende verslonden. [Was immer die Liebe gibt, das ist ihnen sauer und wird verzehrt und verschlungen.] 142 Vgl. Mirouer 118, 90f.: Amour a mainte ame deceue pour la doulceur du desduit de son amour. [Die Liebe hat jedoch manche Seele in die Irre geführt wegen der Süßigkeit der Lust in der Liebe.] 143 Vgl. hierzu Valette (2007), wo er in dichter Folge auf mehrere zentrale Bilder der Sättigung und der Trunkenheit im Mirouer verweist und diese in den Kontext von p–tir Dieu (S. 128) und eine Poetik der Vernichtung einordnet. Zur Verbindung von Fülle und Genuss, Genuss und Gesang, Genuss und Freude, Genuss und Schweigen vgl. C. Müller (1999), S. 133–166, die poetische Inszenierung und thematischer Gegenstand ineinander überführt, wobei jouissance leider implizit auf Bilder und Poetik bezogen bleibt und nie ausdrücklich und explizit thematisiert wird. Zwar ist diese den Mirouer so deutlich prägende Metaphorik in der Forschung durchaus aufgefallen, doch ohne dass Poetik, Inszenierung und Semantik gebündelt wurden. Vgl. ergänzend Bertho (1993), S. 53f., die Sättigung und Hunger, Begehren und Genießen ineinander schmilzt, was generell auf die beiden anderen Texte zutrifft, doch im Mirouer andere Akzente erhält, wie dieses Kapitel zeigen soll. 144 Von daher würde ich Bynums Aussage an dieser Stelle widersprechen, dass Marguerite Porete die einzige Ausnahme darstelle, was die Gewichtung der Eucharistie anbelange (1996, S. 113). Denn implizit ist das Abendmahl in der Nahrungs- und Sättigungs-, aber auch der Trunkenheitsmetaphorik stark im Text präsent.

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zeigt zugleich eine Möglichkeit, eine innige, sinnliche und unmittelbare Begegnung zwischen der Seele und ihrem göttlichen Partner zu inszenieren, ohne direkt auf die stärker erotisch eingefärbte Brautmystik zurückgreifen zu müssen.145 Hierdurch werden Verbindungen zum Abendmahl hergestellt, wozu Mirouer 15, 9–11 in Kombination mit 118, 61–64 eine prägnante Akzentuierung im Bild des Mahlprozesses liefert: Denn ebenso wie der Leib Christi bzw. das Sakrament gebrochen wird, muss das Selbst zerstoßen und zermahlen werden bis hin zur Vernichtung.146 In die Bildlichkeit der Fülle und Sättigung bleibt die Vernichtung in vielerlei Zeichen eingeschrieben. Das Wort gouster lässt sich, ebenso wie savourer, mit kosten oder schmecken übersetzen; das Wort nourrir147 existiert sowohl als Verb- wie auch Substantivform in fast identischer Bedeutung von nähren, aufziehen. Substantive wie nourriture oder pasture können beide mit Nahrung wiedergegeben werden, wobei nourriture148 im Kontext des Aufziehens von kleinen Kindern und pasture149 im Kontext des Weidens von Tieren steht. Häufig finden sich in diesem Zusammenhang Adjektive oder Adverbien wie saoul(e),150 plein(e)151 oder assovy(e),152 die Aspekte der Fülle mit denen der Sättigung kombinieren, indem sie zusammen auftreten. Gleichzeitig transportieren sie Bedeutungsaspekte der Befriedigung, des Genügens und der Vollständigkeit. Allein diese Fülle an Ausdrücken zeigt, welch sprachliche Flexibilität und umfassende Differenzierung dem Text im Wortfeld des Schmeckens, Nährens und Sättigens zu Gebote stehen, die deutlich von dem kargen Befund der 145 Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), 109–225, dies., Holy Feast (1988). 146 Gnädinger (1987), S. 252, Anm. 30 weist auf die Kritik hin, welche diese Äußerungen über das Altarsakrament bzw. das eucharistische Brot in den Grandes chroniques aus dem 14. Jahrhundert hervorriefen. 147 Vgl. hierzu den Eintrag im Dictionnaire de l’ancien franÅais (1999), S. 413: nourrir, norir. 1. Elever, ¦duquer. – 2. Grandir, se fortifier. Interessant ist hier der Aspekt des Aufwachsens und Erstarkens, der in der Verbform zusätzlich auftritt, die auch im Mirouer verwendet wird. 148 Vgl. Dictionnaire historique de la langue franÅaise (2006b), S. 1335. Hier findet sich unter dem Stichwort nourriture folgender Vermerk: action d’ ¦lever, d’ ¦duquer (un enfant). 149 Vgl. Dictionnaire de l’ancien franÅais (1999), S. 446: pasture – 1. P–ture, p–turage. Beide Worte bedeuten in erster Linie Weide, Futter und erst im übertragenen Sinne Nahrung. Besonders hierbei wäre an den sogenannten Hirtenpsalm 23, 1f. zu denken, der in der Lutherübersetzung folgendermaßen lautet: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führet mich zum frischen Wasser. 150 Ebd., S. 542: saoul. Rassasi¦, repu. Beides bedeutet satt, gesättigt, wobei bei der Verbform noch Aspekte der Befriedigung oder des Genügens (satisfaire) hineinspielen, die im Fall des Mirouer ebenfalls nicht auszuschließen sind. 151 Ebd., S. 460: plein. 1. plein, rempli. – 2. plein, entier. Demzufolge lässt sich plein mit 1. voll, erfüllt – 2. ganz, vollständig übersetzen. 152 Ebd., S. 44: assovir. 1. Calmer. – 2. Satisfaire. assovi. adj. Rassasi¦. Das Verb entfaltet demzufolge ein Bedeutungsspektrum von 1. beruhigen, besänftigen, lindern. – 2. ausfüllen, befriedigen, stillen, während das Adjektiv sich mit satt übersetzen lässt.

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Wortanalyse absticht. Die Ergänzung einer expliziten Semantik der Bezeichnungen durch eine solche implizite Semantik legt gerade beim Mirouer eine ungeahnte Schicht pulsierender Sinnlichkeit und Verlebendigung frei. Diese Schicht entfaltet sich vor allem im Kontext der Speisemetaphorik und stellt vielfältige Vernetzungen zwischen Schmecken, Sättigen, Nähren, Befriedigen, Erfüllen und Genießen her. Göttliches Korn, das nährt – Nahrhaftes Wissen und Wohlgeschmack der Erkenntnis für die vernichtete Seele Bereits in Mirouer 3 wird Wissen mit Nahrung verbunden, wenn das Buch von der Liebe als pasture bezeichnet wird, welche sich jeder mit Gottes Hilfe daraus nehmen könne: Pource ycy commencerons, dist Amour, aux commendementz de Saincte Eglise, affin que checun puisse en ce livre prandre sa pasture o l’ayde de Dyeu. (Mirouer 3, 3–5) [Wir wollen hier, spricht die Liebe, mit den Geboten der Heiligen Kirche beginnen, damit jedermann in diesem Buch seine Nahrung finde mit der Hilfe Gottes.]

Das Buch ist damit nicht nur als konkret genießbar gekennzeichnet, sondern stellt sich zugleich in den biblischen Kontext der Worte Gottes und entfaltet exklusive Ansprüche auf Heiligkeit. Die verwendete Bildlichkeit signalisiert, dass die dort vermittelte Erkenntnis den elementaren Bedürfnissen entspricht und genauso unmittelbar gekostet werden, ja, sich einverleibt werden kann. So ist das Buch nicht nur ein ymage, wie es im Prolog heißt,153 nicht nur den Sinnen des Sehens und Hörens154 zugänglich, sondern präsentiert sich als erlesene Nahrung, die man kosten kann, versteht sich nicht nur als visuell, sondern auch als gustal, was innerhalb des Textes einen weiten Radius zieht. Die Speisemetapher selbst stand, wie nahezu alle im Text verwendeten Metaphern, in einer besonders langen Traditionskette, die bis in die Renaissance hinein aufrecht erhalten wurde und sich beispielsweise noch im Schluss der Novelle Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist findet.155 Seine Originalität 153 Vgl. Mirouer 1, 39–41. Das Buch stellt demzufolge ein (Ab-)Bild des göttlichen Königs dar und erfüllt mnemotechnische Zwecke. 154 Vgl. wie oft im Verlauf des Textes von den auditeurs de ce livre gesprochen wird, beispielsweise in Mirouer 82, 33f. 155 Bei Kleist aber wurde sie wörtlich umgesetzt, denn Kohlhaas nimmt das geheime und vom Fürsten begehrte Papier kurz vor seiner eigenen Hinrichtung und isst es, um sich zu rächen, vor dessen Augen. Er verleibt sich damit das so unbedingt geforderte und erbetene Wissen ein und entzieht es damit dem eigentlichen Adressaten. Vgl. hierzu Kleist (2005), S. 141: Kohlhaas löste sich, indem er mit einem plötzlichen, die Wache, die ihn umringte, befremdenden Schritt, dicht vor ihn trat, die Kapsel von der Brust; er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn, und überlas ihn: und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und

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besteht demnach vor allem in seinen Kombinationen der verschiedenen Bilder mit den durch sie aufgerufenen Deutungskontexten. So existierten für die Speisemetaphorik bereits biblische Vorprägungen, beispielsweise wenn in der Offenbarung des Johannes das kleine Buch verschlungen wird, das zuerst im Mund süß wie Honig und dann bitter wie Galle schmeckt.156 Schon in Gen. 2 werden im Garten Eden Essen und Erkennen miteinander verknüpft, denn die Frucht von dem verbotenen Baum spendet die Erkenntnis des Guten und des Bösen. Die Trennung zwischen intellektuellen und sinnlichen Tätigkeiten wird in dieser Metapher aufgehoben, da das sinnliche Bild des Aufnehmens von Nahrung oder des Verspeisens den Vorgang des Aufnehmens von Wissen oder des Erkennens parallelisiert. Hierdurch wird ein besonders intensives, rückhaltloses Sich-Einlassen auf die Erkenntnis signalisiert, welche infolge der Einverleibung mit dem Körper verschmilzt und beide somit ununterscheidbar macht. Genau dieser Punkt ist entscheidend für die steigende Bedeutung, welcher der Abendmahlspraxis im 13. Jahrhundert zukam,157 die zunehmend im Kontext der Einheit mit Gott stilisiert wurde, so in den Visioenen. Durch die Verwendung der Speisemetaphorik werden vor allem die Nahsinne das Schmeckens, Riechens und Fühlens158 beim Erkenntnisprozess herausgestellt – die für das Genießen wesentlichen Sinne, die trotz der parallel existierenden Entsinnlichungstendenzen des Textes159 in der Metaphorik auf dichtem Raum aufgespeichert sind. Mirouer 17 entwickelt die bezeichnende Verbindung vom Kosten der Erkenntnis und der damit einhergehenden Exklusivität, da, wie die Liebe der Vernunft erläutert, nur besonders herausragende Geschöpfe hierzu in der Lage sind: Mais telles creatures sont si excellentes, que on n’en ose mie appertement parler, /especialement de leur usage, par lequel usage ces Ames ont estre a bon entendement; mais pou en y goustent de tel entendement. (Mirouer 17, 7–10) [Aber solche Kreaturen sind so vortrefflich, dass man es nicht wagte, öffentlich darüber zu reden, besonders nicht über ihre Lebensweise, eine Lebensweise, welche diese Seelen bereit macht zu guter Einsicht. Nur wenige jedoch gibt es, die an solch guter Einsicht Geschmack finden.]

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weißen Federbüschen gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und verschlag ihn. Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei diesem Anblick, ohnmächtig, in Krämpfen nieder. Vgl. Wenzel, Die ›fließende‹ Rede und der ›gefrorene‹ Text (1997). Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), S. 109–147. Vgl. Dickhaut (2004), S. 105 und Körte (2007). Vgl. hierzu die Metaphorik der Trunkenheit, wo es heißt, die Seele werde trunken von etwas, das sie zugleich niemals trank.

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Diese Exklusivität bleibt maßgeblich für alle Stellen, welche die Speisemetaphorik in den Zusammenhang mit dem richtigen Verständnis des Buches oder der Worte der Liebe setzen. So schildert Mirouer 53 eine ähnlich elitäre Verflechtung von Tod und Geschmack/Genuss, denn das im Mirouer beschriebene Leben koste nur derjenige, der zuvor alle Tode gestorben sei, geben die Seele und die Liebe der um Antwort ringenden Vernunft160 zur Auskunft: C’est verit¦, dit ceste Ame, car celluy tout seul l’entend, qui Fine Amour mestrie; et si convient que celluy soit mort de toutes mors mortifficantes, qui finement l’entend, car nul ne gouste de ceste vie, s’il n’est mors de toutes mors. (Mirouer 53, 19–22) [So ist es, spricht die Seele, denn nur der allein versteht es, den die edle Liebe unterrichtet. Und es muss so sein, dass der, welcher es mit feinem Verstand begreift, alle abtötenden Tode stirbt, denn von diesem Leben kostet keiner, der nicht zuvor alle Tode gestorben ist.]

Hier zeigt sich die basale Verbindung von Genießen und Schmecken, die eine starke Nähe und eine distanzlose Innigkeit impliziert, welche sich in einem Panorama synästhetischer Facetten äußern kann, beispielsweise in Wörtern wie der Süße oder der Lust. Gleichzeitig wird die in allen Texten zentrale Paradoxie sichtbar, nämlich, dass sie das Genießen keinesfalls in solchen wohltuenden, lustvollen Aspekten erschöpft, sondern dass solche Aspekte als etwas fast Vorläufiges zu betrachten sind, so wie es im Mirouer deutlich auf der zu übersteigenden vierten Stufe, welche von der Süßigkeit geradezu durchtränkt ist, zum Ausdruck kommt. Wie bereits aus FL I, 21 bekannt, sind Tod und Genuss miteinander verbunden, denn die Seele muss alle Tode gestorben sein, bevor sie in den Genuss jenes Lebens kommt.161 Doch drückt sich hier Genuss nicht durch

160 In Mirouer 54, 12–16 wird hinzugefügt, dass auf den ersten beiden Stufen die Seele noch auf die Nahrung angewiesen sei, welche die Vernunft gewähre. Die Vernunft vermittelt daher nur eine sehr vorläufige Erkenntnis, die im Verlauf der sieben Stufen überwunden werden und von der gehaltvolleren göttlichen Nahrung abgelöst werden muss. Erst ab dem dritten Tod aber beginnt das Kosten von jenem anderen Leben im Frieden: Raison, dit , encore auront ceulx qui ont prins cong¦ de a faire de nourriture pour les deux mors ceste Ame est morte a mort; mais de la tierce mort, dont ceste Ame est morte, n’ entend nul vivant, fors celluy de la taigne. [Vernunft, spricht die Liebe, für die ersten zwei Tode werden jene, welche von euch Urlaub genommen haben, noch auf eure Nahrung angewiesen sein. Vom dritten Tod, den diese Seele stirbt, versteht jedoch kein Lebender etwas, außer jener auf dem Berge!] 161 Ergänzen lässt sich hierzu das Bild vom Vogel Phönix, der nach seinem Tod aus der Asche wieder aufsteigt, vgl. Mirouer 11, 48–50. Doch bezieht der Mirouer dieses Bild hier ausschließlich auf das Allein-Sein des Phönix, der nichts erbettelt und erbittet, sondern ganz in der Güte Gottes verbleibt. In der für den Text typischen Art und Weise verknüpft er dieses Bild mit der Sättigungsmetaphorik, denn der Vogel Phönix nährt sich (assovir: erfüllen, sättigen, nähren) allein aus der Liebe (vgl. hierzu aber das lateinische contentari, das eher den Aspekt des Genügens hervorhebt!): C’est le fenix, qui est seul; car ceste Ame est seule en

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die explizite Verwendung eines Substantivs wie gebruchunge im Fließenden Licht aus, sondern implizit durch den Gebrauch der Verbform gouster. Das Verständnis, das die Vernunft erlangen möchte, ist nicht nur an eine gustale, sondern zugleich an eine performative Dimension von Erkenntnis gebunden. Die Worte des Fine Amour sind nicht einfach nur Worte, sondern ein verinnerlichtes Wissen, das keinen Teil des Selbst unberührt lässt, sondern es im Gegenteil in den drei Toden auf den ersten Stufen vollständig vernichtet. Die begehrte Erkenntnis aber stellt sich erst ab der fünften Stufe ein, wenn auch die göttliche Süße und die Hochstimmung durch die Beschauungen preisgegeben wurden.162 Die Verknüpfung von Speise und Erkenntnis wird in Mirouer 56 fortgeführt, der die Meisterschaft im Verständnis an das göttliche Korn bindet, welches die göttliche Nahrung darstellt und immer wieder im Textverlauf aufgenommen wird: Voire, dit Amour, mais a l’entendre est la maistrise; car la est le grain de divine pasture. (Mirouer 56, 12f.) [Schon recht!, spricht die Liebe. Die Meisterschaft besteht im Verständnis! Denn darin liegt der Kern163 der göttlichen Speise.]

Von dem göttlichen Korn kosten können, ist gleichbedeutend mit der Teilhabe an der göttlichen Erkenntnis, die nicht jedem zugänglich ist, sondern nur denjenigen, die bereit sind, ihr Selbst und ihren Willen dieser kernhaft konzentrierten Erkenntnis aufzuopfern. Das göttliche Korn ist, im Gegensatz zu der später angeführten Kleie oder dem Stroh, von welchem sich diejenigen nähren, die in ihrem Willen verblieben sind, nahr- und schmackhaft und natürlich von Grund auf edler als die den Tieren zugeschriebene Nahrung. Gleichzeitig signalisiert das Bild des Korns in Verbindung mit dem des Kerns Aspekte der Einverleibung ebenso wie des innersten und dichtesten Gehalts.164 Sie werden in verschiedenen Kapiteln wiederholt und, der Spiralentechnik des Aufgreifens und Erweiterns oder Akzentuierens entsprechend, variiert, so in Mirouer 82, wo amour, qui d’elle mesmes se assovist. [Sie ist ein Phönix, der allein bleibt; denn diese Seele besteht allein in der Liebe, die sich selbst genügt.] 162 Mirouer 64, 3f. greift dieses Zitat erneut auf und zeigt die für den Mirouer typische Verbindung von Genuss und (Selbst-)Vernichtung in Einem, wenn es in kryptischer Verdichtung – wozu vor allem das Demonstrativpronomen ceste beiträgt – heißt: Amour : De ceste vie ne gouste nul, se il n’est mort de ceste mort. [Von jenem Leben kostet niemand, der nicht zuvor durch diesen Tod gestorben ist.] 163 Das Wort grain kann auch mit Korn übersetzt werden, was m. E. den direkten Bezug zur Nahrung wahrt und von mir im Folgenden in dieser Bedeutung verwendet wird. 164 Vgl. zu diesem Zusammenspiel von lyrischer Form und konzentriertem Inhalt des göttlichen Kerns (divin noyaulx) in Mirouer 122 C. Müller (1999), S. 147–151; Valette (2007), S. 128–133. Valette setzt ihn mit Vernichtung und Verschmelzung in Verbindung, während Müller in der Form des Rondeaus zugleich ein Symbol für den Kern sieht.

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der Text das Korn der göttlichen Speise mit der Auslegung (glose) verbindet und die Hörer direkt anspricht: Entendez la glose, auditeurs de ce livre, car le grain y est, qui l’espouse nourrit. (Mirouer 82, 33f.) [Nun vernehmt die Erklärung, ihr Hörer dieses Buches! Denn darin liegt das Korn, das die Braut ernährt.]

Hier fungiert grain als Bild für das gehaltvolle Korn der göttlichen Weisheit, die in der Auslegung durch die Liebe liegt und die Braut, das heißt die Seele, ernährt, sofern sie sich Gott völlig überlassen hat. An dieser Stelle finden sich beispielsweise verhaltene Andeutungen der Brautmystik, die jedoch vornehmlich nährend und weniger erotisch eingefärbt sind.165 Mirouer 84 differenziert genauer zwischen dem mit solchen Glossen intendierten Publikum und jenen anderen, die von dem dort vermittelten elitären Wissen des Fine Amour nichts anzufangen wissen: Je le di aux personnes pour qui Amour a fait faire ce livre, et a celles pour qui je l’ay escript. Entre vous qui ce n’estes, et ne fustes, ne ne serez, vous vous penez en vain, se entendre le voulez. Il n’en gouste nul, qui ce n’est: ou en Dieu sans estre, ou Dieu en luy en l’estre. Entendez la glose, car qui nourrist il saveure; car l’en dit souvent, que mal nourrist qui ne savoure. (Mirouer 84, 21–27) [Ich sage dies zu den Personen, für welche die Liebe dieses Buch schreiben ließ, nicht aber für diejenigen, für welche ich es aufschrieb! Ihr, die ihr nicht dazu gehört, noch je dazu gehört habt, noch auch je dazu gehören werdet, ihr strengt euch vergeblich an, falls ihr es verstehen wollt. Es kostet keiner davon, der nicht eines von beidem ist: entweder ohne Sein in Gott oder Gott im Sein in ihm. Findet die Deutung! Was nährt, schmeckt nämlich. Oftmals sagt man umgekehrt, dass schlecht nährt, was nicht schmeckt.]

Die Unterscheidungslinie verläuft auf der Ebene des Schmeckens, genauer, des Wohlgeschmacks, denn nur die Vernichteten sind in der Lage, davon zu kosten, und nur diese nährt es, was von dem Satz abgeleitet wird, dass was schlecht schmeckt, nicht nährt. Verben wie gouster (gustare), nourrir und vor allem savourer (saporare) kennzeichnen die sprachliche Vielfalt, das Gut-Schmecken 165 Zu diesem Aspekt vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), S. 61–108, die besonders nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass beispielsweise auch die Brüste der Mutter Gottes im späten Mittelalter in erster Linie weibliche, nährende Deutungsmuster aufriefen, weniger aber erotisch-sexuelle, wie das in der von Freud geprägten, auf Sexualität als Wahrheit fixierten Moderne (vgl. hierzu Foucault, Histoire de la sexualit¦ [1976–1984]) diskussionsfrei auf der Hand zu liegen scheint. Dem ist, wie dieses Kapitel zeigt, in jedem Fall zuzustimmen, jedoch nicht vorbehaltlos, da besonders die hier behandelten Texte durchaus Formen der Erotik ausprägen, vor allem das Fließende Licht und die Visioenen. Oft verbinden sich auch beide Aspekte.

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auszudrücken. Das Verständnis der Glosse wird damit gustal und erfahrbar, ein unmittelbar sich entfaltender Wohlgeschmack, der nur dem auserwählten Publikum offensteht.166 Zugleich inszeniert sich die Ame esbahye de nient penser par ce Loingpr¦s de pres qui est en paix la delecte (Mirouer 84, 30–32) als eine solche, die sich bereits im Zustand des Friedens befindet und sich nach oder während ihres Selbstverlustes daran ergötzt. Sprachlich wird dieser präpositional mit en und sans umgesetzt. Damit zeigt sich erneut die enge und fast untrennbare Verbindung zwischen Vernichtung und einer Form von Genuss, die aber dezent mit dem Zustand des Friedens verwoben ist. Doch obwohl die fruiction allein in den siebten Zustand nach dem Tod verordnet wird, ist der Mirouer, wie bereits in Teil I gezeigt wurde, nicht frei davon, sondern prägt auf verschiedenen Ebenen und Stufen analog zu denen der Vernichtung zugleich Formen des Gottesgenusses aus. Mirouer 121 greift den Unterschied zwischen der vernichteten Seele und denjenigen, die ihren Willen behalten haben, auf und veranschaulicht ihn im Bildfeld der Speisemetaphorik. So sagt die Heilige Kirche zur vernichteten Seele, dass sie vom reinen, vollen Korn lebe (toute de grain/grano puro), während die anderen sich von Stroh, Kleie und grobem Futter ernährten:

Vous / vivez toute de grain, qui n’avez plus de voulent¦, Et ceulx vivent de paille et de strain et de gros fourrage, Qui ont retenu usage en humaine voulent¦. Telles gens sont serfs a la loy, mais ceste est dessus la loy, Non mye contre la loy. A tesmoing de Verit¦, Elle est saoule et remplie: Dieu est sa voulent¦. (Mirouer 121, 13–24) [Ihr lebt einzig vom Korn, ihr, die ihr keinen Willen mehr habt. Jene aber leben von Stroh und von Kleie und von grobem Futter welche ihre Gewohnheit nach menschlichem Willen beibehalten haben. Solche Leute sind Sklaven des Gesetzes! 166 Vgl. hierzu Mirouer 84, 30–37, wo die Seele sich darüber freut, von solchen Eseln als Jünger wie den Vernunftgeleiteten verschont geblieben zu sein, da sie ohnehin zu lange dort verweilt habe.

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Jene hingegen steht über dem Gesetz, nicht aber gegen das Gesetz. Nach dem Zeugnis der Wahrheit ist sie trunken und gesättigt: Gott ist ihr zu Willen.]

Die für den gesamten Mirouer so zentrale Komponente des Edlen und Erlesenen, was mittels der höfischen Metaphorik breit ausgestaltet wird,167 hat Eingang in die Speisemetaphorik gefunden, welche genauso zwischen wertvoller und derber Nahrung unterscheidet. Außerdem wird die vernichtete Seele, die ihren Willen ganz aufgegeben hat, als satt und erfüllt (saoule et remplie/satura et repleta) bezeichnet, da Gott allein ihr Wille ist, was die Nähe zwischen Sattheit und Erfüllung aufzeigt.168 Dieselbe Verbindung wird in Mirouer 122 wieder hergestellt, wenn die Seele, entlassen aus dem geringen Dienst der Tugenden, stattdessen in die göttliche Schule aufgenommen wird, wo sie erfüllt und gesättigt wird. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung von göttlicher Erkenntnis und göttlicher Speise, von Erfüllung und Sättigung, die durch die Wiederholung noch gesteigert und intensiviert wird: Et quant Amour me vit penser a elle, pour les Vertuz, ne me refusa mie; mais ainÅoys me gicta elle de leur petit service, et me mena a l’escole divine, et la me retint sans nul service faire, et la fu d’elle remplie et assovye. (Mirouer 122, 23–26) [Und als die Liebe bemerkte, wie ich über sie nachsann, da wies sie mich der Tugenden wegen nicht zurück. Sie befreite mich vielmehr aus ihrem niedrigen Dienst und führte mich in die göttliche Schule. Und da hielt sie mich fest ohne Dienstleistung, und da wurde ich durch sie erfüllt und gesättigt.]

Wissen und Nahrung, Erkenntnis und Sättigung, Gott und Schule erweisen sich dicht miteinander verbunden. Dieses über die Speisemetaphorik vermittelte Verständnis der göttlichen Worte gibt sich als elementar und notwendig, ganzheitlich und exklusiv, sinnlich und den Sinnen enthoben. Es kann dem Text zufolge nur auf dem Stufenweg durch die drei erlittenen Tode, die den Zugang zu dem anderen Leben in der Vernichtung freilegen, gewonnen werden, das heißt, es entwickelt sich auf der Basis einer Paradoxie, denn nur der dreifache Tod führt zum Leben, nur die praktizierte Erfahrung zum Verständnis, nur das wie Nahrung einverleibte Wissen zur Erkenntnis. Der Mirouer ist im Gegensatz zu den beiden anderen Texten deutlich auf diesen Aspekt fokussiert und liefert eine Reihe dezidierter Äußerungen hierzu. Im Grunde wird die Seele erst gesättigt, nachdem sie ihr Selbst ›zu Tode gehungert‹ hat. 167 Vgl. Babinsky (1987). 168 In Mirouer 22, 21–26 werden diejenigen beschrieben, die im Gegenzug dazu immer hungrig (affamez/ famelici) bleiben, weil sie nicht Größeres, sondern bloß das Mindere begehren.

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Und genau in dieser Kombination liegt ein Spezifikum des Textes, der nicht nur Sättigung und Verständnis, göttliche Speise und göttliche Lehre, Wohlgeschmack und Nahrhaftigkeit miteinander verbindet, sondern den Selbstverlust und die Vernichtung in diesen sinnlichen Kosmos integriert. Indem er in Kapitel 53 die radikale Forderung aufstellt, alle tötenden Tode zu sterben, um jenes Leben zu kosten, zeigt er, dass der Unterricht durch der Fine Amour mit dem Tod des eigenen Willens und des Selbst bezahlt werden muss – ein wahrhaft exquisiter, teurer Geschmack. Und im Kosten von diesem Leben, im Wohlgeschmack der göttlichen Speise wird jener Punkt sichtbar, in welchem sich Genuss und Vernichtung im Zustand des Friedens, der z. B. als doulx pays (68, 18) oder pays de la pasture (122, 47) beschrieben wird, berühren. Gekosteter Friede als Nahrung der vernichteten Seele nach ihrer Umwandlung in die Liebe Der Zustand des Friedens ist für die Seele erst nach ihrer Vernichtung erreichbar, denn nur wenn sie alles aufgegeben hat, kann sie davon kosten. Der Friede wird in diesem Kontext als die einzige, ihr gemäße Nahrung bezeichnet, da nur diese ihrem Adel entspricht. In Mirouer 17 ergibt sich dieser Frieden aus einer Nächstenliebe, der die Seele nichts für sich zurückbehalten lässt, wenn ihr Nächster es braucht. Das gilt ohne Einschränkung, selbst wenn es, wobei der Text im Wortfeld von Speise und Nahrung bleibt, niemals mehr Brot oder Getreide auf Erden – en terre ne pain ne ble ne aultre soustenance (17, 29) – geben würde. Denn dieser Frieden ist die richtige Nahrung für die Seele: Et se elle retenoit ce qui est de necessit¦ a son proesme, elle retendroit ce qui sien n’est mie, selon la parfection de paix de charit¦ dont elle vit du tout, car c’est sa droicte pasture. (Mirouer 17, 34–37) [Wenn sie aber zurückbehielte, was ihr Nächster nötig hat, würde sie zurückbehalten, was nicht ihr gehört, gemäß dem vollkommenen Frieden der Nächstenliebe, wovon sie ganz lebt, denn dies ist die ihr zukommende Speise.]

In Mirouer 21 lebt die Seele allein aus der Liebe, in die sie verwandelt wurde und die gleichzeitig Gott ist. Der Text entfaltet zwischen Amour und Dieu ein chiastisches Wechselspiel, die sich auf der sprachlichen Ebene derart miteinander vermischen, bis sie ihm Klang identisch werden.169 Das diese Verwandlung zu169 Vgl. hierzu die Isolden-Passage bei Gottfried (2007), V. 19000–19030 aus dem Tristan, welche die Verwirrung Tristans und das Ineinander-Fließen der beiden Isoldes klanglich umsetzt, so dass der Leser/Hörer selber nicht mehr weiß, ob nun die richtige oder die falsche, die blonde Isolde oder Isolde Weißhand gemeint ist: »[…] mir lachet unde spilt Isút / in minen úren alle vrist / und enweiz iedoch, w– Isút ist. / m„n ouge, daz Isút siht, / daz selbe siht Isút niht. / mir ist Isút verre und ist mir b„. / ich vürhte, ich aber g’„sútet s„ / zem anderen

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gleich eine Vereinigung mit Gott und einen vollständigen Verlust des eigenen Selbst darstellt, wird durch die präpositionale Setzung deutlich, die sans elle mit en moy kontrastiert. Nur ohne sich selbst ist die als kostbare oder erlesene Freundin (precieuse amye) bezeichnete Seele in die Liebe umgewandelt worden, und nun nimmt sie die Nahrung der Liebe in sich auf, das heißt, sie lebt und nährt sich ganz von der Liebe, das heißt, sie ist sowohl vereint mit Gott (en moy) als auch getrennt von sich (sans elle): Je suis Dieu, dit Amour, car Amour est Dieu, et Dieu est amour, et ceste Ame est Dieu par condicion d’amour, et je suis Dieu par nature divine, et ceste Ame l’est par droicture d’amour. Si que ceste precieuse amye de moy est aprinse et menee de moy sans elle, car elle est muee en moy, et telle fin, dit Amour, prent ma norriture. (Mirouer 21, 44–49) [Ich bin Gott, spricht die Liebe. Denn die Liebe ist Gott, und Gott ist die Liebe. Und diese Seele ist Gott durch Liebesübereinkunft. Ich bin Gott durch die göttliche Natur, und diese Seele ist es durch Gerechtigkeit der Liebe. Daher ist diese meine kostbare Freundin durch mich belehrt und geführt, ohne sie, denn sie ist umgewandelt in mich. Ein solches Ende also, spricht die Liebe, nimmt die Ernährung170 durch mich.]

Mirouer 52 greift gleichfalls die Umwandlung der Seele auf und verwendet hierfür die Schmelzmetaphorik von dem Eisen, das sich durch das Feuer umkleiden lässt und gleiche Ähnlichkeit mit sich selbst verliert. Hierdurch werden die zentralen Aspekte von Einheit und Vernichtung noch stärker miteinander verbunden, denn Zerstörung und Verwandlung sind einander nicht nachgeordnet, sondern erfolgen beim Schmelzprozess nahezu simultan. Die Seele wird nicht nur gekleidet (vestue) und verwandelt (muee), sondern auch ernährt (nourrie) durch das Mehr (plus), das erst dann erfolgt, wenn sie ihr Nichts (nient) erkannt hat, was der Stufenlehre zufolge im fünften Seinszustand stattfindet. Der vollzogene Selbstverlust, der mit dem Mehr einhergeht, zeigt sich besonders gut daran, dass man sie dort nicht mehr aufzufinden vermag (sans ce que on la trouve).171 Dieses Mehr wird mit dem Zustand eines überewigen m–le. / ich waene, ˜z Curnew–le / ist worden ArundÞle, / Karke ˜z TintajÞle / und Isút ˜z Isút. / mich dunket ie genúte, / als ieman iht von dirre maget / in Isúte namen saget, / daz ich Isúte vunden habe. / hie bin ouch ich verirret abe. / wie wunderl„che ist mir geschehen. / daz ich Isúte müeze sehen, / des gere ich n˜ vil lange vrist. / nu bin ich komen, d– Isút ist, / und bin Isúte niender b„, / swie n–hen ich Isúten s„. / Isúte sihe ich alle tage / und sihe ir niht. daz ist m„n clage. / ich h–n Isúte vunden / und iedoch niht die blunden, / diu mir sú sanfte unsanfte tuot. / ez ist Isút, diu mir den muot / in diese gedanken h–t br–ht, / von der m„n herze ist verd–ht. […]« 170 Gnädinger (1987) übersetzt hier aufgrund der lateinischen Vorlage »Erziehung«. 171 Gnädinger (1987), S. 260, Anm. 102 notiert hierzu: »Was nicht heißen will, dass sie nicht mehr wäre oder existierte.« M. E. aber impliziert ihre Anmerkung eine versuchte Abmilderung einer durchaus radikal gedachten Vernichtung, die den Selbstverlust äußerst total konzipiert und dem Rezipienten tatsächlich das Paradox zumutet, dass das eigene Selbst nicht mehr existiert. Gleichzeitig passt es zu der vom Text vorgenommenen Semantisierung

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Friedens (oultre parmanable paix) verbunden, in welchem die vernichtete Seele verweilt und aus dem sie sich nährt: Car tout ainsy, dit Amour, comme le fer est vestu du feu, et a la semblance perdue de luy, pource que le feu est le plus fort qui l’a mue‹e› en luy ; tout aussi est ceste Ame vestue de ce plus, et nourrie et muee en ce plus, pour l’amour de ce plus, sans faire compte du moins, mais se demoure et est muee en ce plus de oultre parmanable paix, sans ce que on la trouve. (Mirouer 52, 15–21) [Denn ganz so, spricht die Liebe, wie das Eisen von Feuer umkleidet ist und dann sein eigenes Aussehen verloren hat, weil das Feuer, das dieses in sich verwandelte, das Stärkere ist, ganz so wird diese Seele mit dem Plus überkleidet und gespeist und verwandelt in sein Mehr, aufgrund der Liebe dieses Mehr, das auf das Weniger nicht achtet. Sie nämlich verweilt und wird in dieses Mehr des überewigen Friedens verwandelt, ohne dass man sie noch aufzufinden vermöchte.]

Mirouer 58 nun thematisiert das Zusammensein der Seele mit ihrem göttlichen Freund auf der fünften Stufe, ein jubilus freudevoller Hochstimmung statt ein Abgrund der Vernichtung, von dem sie sogar schnell und kurz auf die sechste Stufe entrückt wird.172 Im Vergleich zu Mirouer 118 nennt der Text hier abweichende Merkmale hinsichtlich des fünften Seinszustandes, sofern sich diese nicht auf die Wirkungen des sechsten beziehen. Denn das rapide Öffnen und Schließen hinterlässt in der Seele jenen außerordentlichen Frieden, der erst mit der völligen Aufgabe des eigenen Willens auf der fünften Stufe eintritt173 und als über die Maßen köstlich beschrieben und die Speise oder Nahrung der Herrlichkeit genannt wird. Die Aufgabe des Eigenwillens wird wieder präpositional ausgedrückt (sans elles); gleichzeitig gewinnt pasture durch die Ergänzung von delicieuse Aspekte des gustal Greifbaren, was betont, dass die Speise des göttlichen Friedens nicht nur nährend, sondern sogar köstlich und gut mundend ist: Mais la paix, dit Amour, de l’oeuvre de mon oeuvre, qui demoure en l’Ame quant je oeuvre, est si delicieuse, que Verit¦ l’appelle pasture glorieuse, et nul n’en peut estre peü qui en desir demoure. Telles gens, dit Amour, gouverneroient ung pays, se il en estoit besoing, et tout sans elles. (Mirouer 58, 35–40) [Der Friede aber, spricht die Liebe, die Wirkung meines Wirkens, er verbleibt in der Seele, so lange ich wirke. Er ist dermaßen köstlich, dass ihn die Wahrheit Speise der Herrlichkeit nennt. Keiner, der ihm Begehren verharrt, kann jedoch damit gespeist werden. Solche Leute aber, spricht die Liebe, wären imstande, über ein Land zu herrschen, wenn es nötig wäre, indes ganz ohne sie selbst.] der Präposition sans, die genau diesen Selbstverlust signalisiert, am pointiertesten in Wendungen wie avec elle sans elle. 172 In dem für den gesamten Mirouer zentralen traktatähnlichen Kapitel 118 ist das wohl eher auf der vierten Stufe der Fall, die im folgenden Kapitelabschnitt besprochen wird. 173 Vgl. hierzu Mirouer 58, 12–18.

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Nahrung und Frieden werden in Relation zueinander gesetzt und verweisen in ihrer Kombination sowohl auf die elementare Notwendigkeit, ebenso auf die Herausgehobenheit und Exklusivität der vernichteten Seele, die in Gott allein von Gott lebt. Hier profiliert sich der Ort ihres Wissens oder ihrer Erkenntnis, denn sie weiß sowohl von ihrem Nichts als auch von dem Plus, von dem sie sich nährt. In der Metapher der Nahrung ist das Verständnis der göttlichen Worte bzw. Sprache mit dem Zustand des göttlichen Friedens verbunden. Das zeigt sich deutlich in Mirouer 68, wo die Seele in lyrischen Formen die göttliche Güte besingt und die Grobheit der Vernunft schilt, die sie zwinge, mit der geheimen Sprache sich zurückzuhalten, welche sie an dem geheimen Hof eines süßen Landes – nämlich des Landes des Friedens – erlernte. Doch unterstützt besonders der Umschlag in lyrisches Sprechen die Vermutung eines »performativen Selbstwiderspruchs«,174 da genau dieses Durchbrechen der reinen Prosa wie eine performative Umsetzung jener als geheim bezeichneten Sprache des süßen Landes erscheint, so als sei der Text auf klanglicher Ebene bemüht, den Eindruck des Köstlichen und Süßen zu erzeugen: Je di, dit l’Ame, qu’il m’esconvient pour leur rudesse taire et celer mon langage, lequel j’ay aprins es secrez de la court secrete du doulx pays, ouquel pays, courtoisie est loy, et amour mesure, et bont¦ pasture; la doulceur m’en trait, la beault¦ m’en plaist, la bont¦ m’en paist; que en puis je doncques mais, se je vifs en paix? (Mirouer 68, 16–21) [Ich erkläre, spricht die Seele, dass ich ihrer Grobheit wegen schweigen und meine Sprache hintan halten muss, welche ich durch die Geheimschreiber am geheimnisreichen Hof im lieblichen Land erlernte – ich welchem Lande/ Entgegenkommen das Gesetz ist,/ und Liebe das Maß/ und Güte die Speise./ Die Süßigkeit zieht mich dahin,/ und die Schönheit macht mich vergnügt,/ die Güte sättigt mich da./ Was kann ich denn also dafür,/ wenn ich im Frieden lebe?]

Die gesamte Passage ist durchzogen von Ausdrücken der Süße, der Nahrung und der Sättigung, die dadurch die bereits im vorigen Mirouer angemerkte Komponente des süß mundenden Geschmacks aufgreifen und intensivieren. Substantive wie Nahrung (pasture), Süße (doulceur), Adjektive wie süß (doulx) und Verben der Sättigung (paistre)175 entwickeln ein dichtes Wortfeld vibrierender Sinnlichkeit, das starke Bezüge zu einem aisthetischen Genießen herstellt, das sich parallel als völlig den Sinnen enthoben gibt. Hierzu tragen der lyrische Umschwung und die Eigenständigkeit des Klangs entscheidend bei, die den Text einem Prosagedicht annähern. Der Zustand in dem süßen Land, wo die vernichtete Seele im Frieden lebt, wird ausgesprochen kunstvoll inszeniert und verbindet Süßigkeit und Schönheit, Vergnügen und Sattheit, Frieden und Güte 174 Der Ausdruck wurde J.-D. Müller (1999) entnommen. 175 Vgl. hierzu Dictionnaire de l’ancien franÅais (1999), S. 466: paistre. 1. manger. 2. nourrir.

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miteinander.176 Gleichzeitig erinnert die Sprache eines geheimen Hofes in einem süßen Land (langage […] de la court secrete du doulx pays) an die Unterscheidung zwischen der Sprache der Küche und des Hofes,177 mit der auch das Fließende Licht die Besonderheit und Erlesenheit der Begegnung mit Gott hervorhebt. Hier werden ein ästhetischer Anspruch und zugleich ein elitärer Unterschied formuliert. In den folgenden Stellen wird die Verbindung von Frieden und Nahrung zum einen mit anderen Bildern wie dem der Sonne oder der Salbung ergänzt oder ersetzt, zum anderen treten Ausdrücke aus dem Wortfeld der Nahrung wie in Mirouer 68 gehäuft und verdichtet auf: In Mirouer 74 schenkt der Seele die durch die Liebe vermittelte Einheit (unit¦) mit dem Frieden und der delikaten, erlesenen Speise des verklärten Landes. Nichts anderes außer das verklärte Leben könne sie zufrieden stellen/sättigen (paistre). Das Adjektiv glorieux ist nach dem Prolog ein impliziter Hinweis auf den siebten Zustand, der ebenfalls durch die Verklärung im Unterschied zu allen anderen Seinsweisen gekennzeichnet ist, was man daher in Verbindung zu der fruiction bringen könnte. Außerdem wird der Zustand des Friedens mit Maria im Gegensatz zu der rastlos tätigen Martha verbunden, die wie die vernichtete Seele vom Fine Amour genährt (pasture) und gesättigt (paistre) wird. In dieser Passage zeigt sich eine beachtliche Häufung und Erweiterung der aus dem Wortfeld der Speisemetaphorik stammenden Bezeichnungen: […] est le don de divine amour d’unit¦; et ceste unit¦ luy donne la paix et la pasture soubtive et merveilleuse du glorieux pays ou son amy demoure. Ses dangiers ne peüt mais fors vie glorieuse. C’est la pasture, dit Amour, de mon eslite espouse; c’est «Marie de paix», et pource est «Marie de pax», que Fine Amour la paist. (Mirouer 74, 12–17) [Das ist die Gabe der Einheit in der göttlichen Liebe. Und diese Einheit schenkt ihr Frieden und delikate und wunderbare Speise des verklärten Landes, in dem ihr Freund wohnt. Nichts sättigt ihren Bedarf außer das verklärte Leben. Es ist die Speise meiner erwählten Braut, spricht die Liebe. Das ist »Maria Frieden«! Und darum ist sie »Maria Frieden«, weil die edle Liebe sie ernährt.]

In Mirouer 81 findet eine Umakzentuierung statt, denn die Seele befindet sich zwar im Land des vollständigen Friedens, wird dort jedoch (gefangen) gehalten, was ihre Willenlosigkeit und Hingabe wie das Bild der Bettlerin178 auf die Spitze treibt. Die Ausdrücke der Sättigung werden durch solche der Erfüllung und des Genügens (plaine souffianze) ersetzt, gleichzeitig wird die physische Metapho176 Vgl. hierzu bes. Valette (2007); C. Müller (1999), S. 133–166. 177 Vgl. FL I, 2, 2–3: So gruesset er si mit der hovesprache, die man in dirre kuchin nfflt vernimet. 178 Vgl. hierzu Mirouer 96, 9–27.

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rik179 dahingehend ausgeweitet, dass die Seele in diesem Frieden schwimmt, gleitet, schwebt und taucht wie in einem Element, das sie von allen Seiten umgibt. Gewärmt und gesättigt wird sie von dem göttlichen Bräutigam, der wie eine Sonne ausstrahlt, was seine einzigartige, alles beherrschende Stellung implizit herausstreicht. Die Verbindung von Nahrung und Frieden wird daher nicht nur ergänzt, sondern durch das an die Emanationslehre Plotins erinnernde Bild einer Sonne verschoben, die überallhin ausstrahlt, alles durchdringt und nun nicht nur Licht-, sondern auch Nahrungsspender wird. Wie in Mirouer 68 verfließen hier verschiedene Wahrnehmungsbereiche synästhetisch miteinander : Ceste Ame, dit Amour, est emprisonnee et detenue du pays d’entiere paix; car elle est tousjours en plaine souffisance, en laquelle elle noe et onde et flote et suronde de divine paix, sans soy mouvoir de son dedans et sans son oeuvre de par dehors. […] Elle a tout donn¦ franchement, sans nul pourquoy, car elle est dame de l’espouse de sa jouvence. C’est le soleil qui resplendist et eschauffe et nourrist vie d’estre, dessevree de son estre. Ceste Ame n’a point retenu ne doubte ne mesaise. (Mirouer 81, 13–16; 26–30) [Diese Seele, spricht die Liebe, ist gefangengehalten und festgehalten im Lande des vollständigen Friedens. Denn sie befindet sich stets in voller Befriedigung, in der sie in göttlichem Frieden schwimmt und schaukelt und schwebt und taucht, ohne sich in ihrem Inneren zu bewegen und ohne eine Einwirkung von außen. (…) Freimütig hat sie alles hingegeben ohne irgendein Warum, denn sie ist die Geliebte des Bräutigams ihrer Jugend. Er ist die Sonne, die strahlt und erwärmt, und welche die aus seinem Sein gespeisten Lebewesen ernährt. Diese Seele kennt keine Zurückhaltung, keine Ungewissheit oder Missbehagen.]

Dagegen verwendet Mirouer 111 im Zusammenhang mit dem lustvollen und vollständigen Genügen in der Einheit, das der göttliche Frieden spendet, nicht die Metapher der Nahrung, sondern die der Salbung. Durch Ausdrücke der Erfüllung (plaine, souffiance) und der Lust (delices) stehen sie zugleich unterschwellig in Beziehung zu der Sättigungsmetaphorik.180 Doch durch das Bild der Salbung werden in den gustalen Kontext taktile Elemente eingeführt, gleichzeitig beharrt der Text trotz der sinnlichen und synästhetischen Bildlichkeit auf dem Übersteigen aller Sinne. Der Friede, der mit dem Nicht-Wollen einhergeht, beendet den Zustand des Krieges oder Kampfes, der durch den Eigenwillen hervorgerufen wird, und enthält daher Aspekte der Vernichtung des Selbst: . – Il a moult difference de onccion de paix, qui surmonte tous sens, qui demoure en delices de plaine souffisance que l’amy donne par joincture d’amour, envers 179 Die überdies stark an das Fließende Licht erinnert, vgl. hierzu Kasten, Körperlichkeit und Performanz (1998). 180 Vgl. hierzu Mirouer 81, 14, wo ebenfalls von der plaine souffiance im Zusammenhang mit dem Frieden die Rede ist.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

la guerre que reprennement fait. En telle guerre est souvent cil qui en voulent¦ demoure, quelques bonnes oeuvres que la voulent¦ face. Mais celluy a paix, qui demoure en nient vouloir la ou il estoit, ains qu’il eust vouloir. La divine bont¦ n’a de quoy le reprendre. (Mirouer 111, 3–9) [Die Liebe. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Salbung des Friedens, der jeglichen Sinn übersteigt – er verbleibt in den Wonnen der vollen Befriedigung, die der Freund in der Liebesverbindung schenkt –, und dem Krieg, den der Vorwurf entfacht. Der, welcher in seinem eigenen Willen verharrt, befindet sich oft in einem solchen Krieg, selbst wenn sich der Wille in irgendwelchen Wonnen übt. Jener aber hat Frieden, der im Nichtwollen verbleibt, da wo er war, bevor er Willen hatte. Die göttliche Güte hat da keinen Anlass, ihn zu tadeln.]

Bei seiner Schilderung der sieben Seinsweisen verdichtet Mirouer 118 in einem kurzen Satzteil verschiedene Ausdrücke des lustvollen Schmeckens im Bild der sättigenden Nahrung und verbindet es mit dem Frieden, der die Seele nach ihrer Umwandlung erfüllt. Er schildert den fünften Seinszustand, der mit der völligen Vernichtung der Seele im Abgrund der Selbsterkenntnis einsetzt, sie dann plötzlich in den verzückten sechsten Zustand empor reißt und danach einen köstlichen Frieden in der Seele zurücklässt. Dieser Frieden wird erneut gustal inszeniert und ist sowohl köstlich als auch nährend für die Seele, gleichzeitig bietet der dem damaligen Rezipienten die Gelegenheit, an diesem Wohlgeschmack teilzuhaben, indem dieser sich auf den elitären Stufenweg zur Vollkommenheit einließ, der an diesem Punkt verlangt, seinen eigenen Willen Gott auszuliefern und damit den Zustand des Krieges (guerre)181 zu beenden: [Le cinquisme estat:] […] laquelle ne peut estre emplie en l’Ame sans tel don, que l’Ame n’ayt ou guerre ou deffaillance; lequel don fait en elle ceste parfection, et si la mue en nature d’Amour, qui la delite de remplie paix, et assovyst de divine pasture. (Mirouer 118, 123–125) [(Der fünfte Zustand:) Ohne diese Rückgabe kann er in der Seele nicht erfüllt werden, die Seele erlitte sonst Krieg oder Niederlage. Diese Gabe bewirkt in ihr ihre Vollkommenheit, und sie verwandelt sie [die Seele] in die Natur der Liebe, welche sie voll erfülltem Frieden vergnügt und mit göttlicher Speise sättigt.]

Der Zustand des Friedens wird zunehmend nicht nur mit Aspekten des Nährens und Sättigens, sondern ebenso mit solchen der Süße und des Lustvollen verknüpft. Die Seele verwandelt sich unter der Preisgabe ihres Selbst in die Liebe, wofür besonders die fünfte Stufe zentral ist, da diese den Zustand des völligen Selbstverlustes markiert. Der dadurch eintretende Friede wird in Mirouer 68 in lyrischem Sang inszeniert, der die damit verbundene Lust und Köstlichkeit klanglich erfahrbar macht.182 Insgesamt versucht der Text durch ein dichtes 181 Vgl. Mirouer 118, 109–131. 182 Vgl. hierzu besonders Valette (2007); C. Müller (1999), S. 133–166.

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Gewebe von Schlüsselwörtern aus dem Feld des Schmeckens und Sättigens sich selbst gustal zugänglich zu machen und die Grenze zwischen Worten und Sinnen zu unterlaufen, wie es in der Speisemetaphorik geschieht:183 heilige Worte, die man wie Korn essen, und ein göttlicher Frieden, der wie Nahrung goutiert werden kann. Die Sprache wird einerseits von Sinnlichkeit durchtränkt und verweigert sich doch andererseits der bruchlosen Hingabe an eben diese von ihr evozierte Sinnlichkeit, da sie nicht allein auf einem Geheimkodex besteht, sondern vor allem auf einem den Sinnen enthobenen Schmecken der göttlichen Lehre und des göttlichen Friedens. Lust, Süße und Wonne als Bestandteile eines vorläufigen Genießens auf der vierten Stufe Die sinnlichen Spuren eines übersinnlichen Genießens verdichten sich besonders intensiv in der Beschreibung des vierten Zustandes, der an die Bilder der Trunkenheit und Sättigung anknüpft und weit in die Zonen einer verwöhnenden Lust an der göttlichen Süße ausgreift. Zuvor muss die Seele auf der vorigen Stufe einen dritten Tod erleiden, indem sie ihren Willen, der sich allein auf die Werke der Güte richtet, zum Opfer bringt. Einzig daran sättigt und erfreut sich die Seele, was Aspekte der Lust mit einschließt (delit, plaisance), das heißt, für das Aufopfern einer Quelle der Lust wird sie auf der folgenden Stufe mit umso größeren und süßeren Wonnen entschädigt: [Le tiers estat:] […] Or est il ainsi, que la voulent¦ de ceste creature n’ayme fors oeuvres de bont¦, par raideur de grans emprises de tous labours, dont elle peut son esperit 183 Vgl. hierzu auch die folgende Stelle aus Mirouer 86, 35–44, welche das Gottesgeschenk der vollständigen Erfüllung und der lustvollen Sättigung mit dem Ausströmen seiner Güte verbindet und diese durch die Wiederholung von Schlüsselworten wie tout, plain(e), assovy (e) inszeniert, die eine klangliche Plastizität erzeugen und damit eine sinnliches Angebot zur Teilhabe machen. Das fortwährende Neu-Werden des göttlichen Freundes und seiner Gaben schließt zudem an die beiden anderen Texte an, welche die besondere Gnade und Präsenz Gottes anhand des Neuen inszenieren: Hee, pour , dit Noblesse d’Unit¦ de l’Ame Enfranchie, pourquoy se esmerveille nul qui sens ait en luy, se je di grans choses et nouvelles choses, et se j’ay par tout, de tout, en tout ma plaine souffisance? Mon amy est grant, qui grant don me donne, et si est tout nouveau, et nouveau don me donne, et si est plain et assovy d’abondance de tous biens de luy mesmes; et je suis plaine et assovye, et habondamment remplie d’abondances de delices de l’espandue bont¦ de sa bont¦ divine, sans la querir par paine ne par halge en ses assovyemens, que ce livre devise. [Aber, bei Gott!, spricht der Adel der freien Seele aus der Einheit. Warum verwunderte sich einer, der Einsicht hat, dass ich große Dinge und überall neue Dinge sage, und wenn ich überall, an allem und in allem mein Genügen habe? Mein Freund ist reich, er gibt mir große Dinge. Und er ist stets ganz neu, und neuartige Gaben gibt er mir. Und er ist ganz in der Fülle und er sättigt, und er erfüllt reichlich mit der Fülle seiner Wonnen aus der überströmenden Güte seiner göttlichen Gutheit, ohne dass ich danach mit Mühsal und mit einem Lechzen nach Wohltaten zu suchen hätte, wie dieses Buch es ja darstellt.]

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

repaistre. Par quoy il luy semble par droicture de veoir que elle n’ayme fors oeuvres de bont¦, et pource ne scet que donner a Amour, se elle ne luy fait de ce sacrifice; car nulle mort ne luy seroit martire, fors l’abstinance de l’oeuvre que elle ayme, qui est le delit de sa plaisance et la vie de voulent¦, qui de ce se nourrist. (Mirouer 118, 46–53) [(Der dritte Seinszustand:) Nun verhält es sich so, dass der Wille einer solchen Kreatur, wegen deren Beharrlichkeit in ihren Vorhaben trotz aller Mühsal nichts liebt als die Werke ihrer Güte, mit denen sie ihren Geist zu sättigen vermag. Es scheint ihr darum, sie erkenne zu Recht, dass sie nichts liebe außer den Werken der Güte, und darum weiß sie nicht, was sie der Liebe weiter schenken soll, es sei denn, sie bringe auch dies noch zum Opfer. Denn keinerlei Tod bedeutet ihr eine Qual, nur der Verzicht auf das Werk, das sie liebt, das die Wonne ihres Behagens und das Leben ihres Willens ausmacht, der sich davon ernährt.]

Zuvor aber wird die Metaphorik vom Zermahlen des Selbst, die bereits in Mirouer 15 im Kontext der Eucharistie verwendet wurde, aufgegriffen, um die Zerstörung des Selbst anzuzeigen, die zuvor auf der dritten Stufe noch erfolgen muss, bevor die Seele in den vierten Seinszustand aufsteigen kann. Hierdurch wird erneut deutlich, dass völlige Vernichtung und völlige Befriedigung einander nicht nur wechselseitig bedingen, sondern einander gleichsam direkt proportional zugeordnet und stellenweise so ineinander verschmolzen sind, dass sie kaum zu trennen sind. Nimmt der Grad oder die Stufe an Vernichtung zu, steigt gleichzeitig der Grad oder die Fülle der Lust im Genuss, bis im siebten Seinszustand beide vollständig vervollkommnet sind: Ainsi se esconvient il mouldre en deffroissant et debrisant soy mesmes, pour eslargir le lieu ouquel Amour vouldra estre, et encombrer soy mesmes de plusieurs estres, pour descombrer soy mesmes, pour actaindre son estre. (Mirouer 118, 61–64) [So muss man denn gemahlen werden, indem man sein Selbst zerquetscht und zerbricht, damit sich der Raum, in dem sich die Liebe aufhalten möchte, erweitert, und damit man, in mehreren Stadien erprobt, frei werde von sich selbst und so seine Seinsweise erreiche.]

Daher wird die Seele auf der folgenden Stufe verzärtelt von den göttlichen Wonnen, was sie leichtsinnig und hochgemut werden lässt. Sie wird auf eine solche Höhe der Beschauung gezogen, dass sie ungemein edel, zart und empfindlich wird, und lässt sich von der Liebe, deren Berührung sie allein noch dulden kann, verwöhnen und sättigen. Alle Übungen und Mühen lässt sie hinter sich und gibt sich ganz der göttlichen Liebe hin. Synästhetische Ausdrücke übergreifender Lust und Wonne (delit, delices, delicieuse), von denen der Text an dieser Stelle geradezu überbordet, verbinden sich zusätzlich mit solchen der Fülle und des Überflusses (abondance; remplie), die mit der Sättigungsmetaphorik in Beziehung stehen, ebenso mit visuellen wie Liebreiz (jolie) oder Glanz, Strahlen und Klarheit (clart¦, celustre) und taktilen (la touche du pur delit):

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[Le quart estat :] Le quart estat est que l’Ame est tiree par haultesse d’amour en delit de pensee par meditacion, et relenquie de tous labours de dehors et de obedience d’aultruy par haultesse de contemplacion; donc l’Ame est si dangereuse, noble, et delicieuse, que elle ne peut souffrir que rien la touche, sinon la touche du pur delit d’Amour, dont elle est singulierement deduisant et jolie, qui a fait orgueilleuse d’abondance d’amour, dont est maistresse du celustre, c’est a dire de la clart¦ de son ame, qui la fait merveilleusement remplie d’amour de grant foy, par concordance d’union qui l’a de ses delices mise en possession. (Mirouer 118, 65–75) [(Der vierte Zustand:) Der vierte Zustand besteht darin, dass die Seele durch die Hochgemutheit der Liebe und durch die Betrachtung in der Lust des Nachdenkens hochgezogen wird, so dass sie gegen alle äußeren Übungen und den Gehorsam anderen gegenüber in der Höhe der Beschauung hinter sich lässt. Die Seele wird dadurch so empfindam, edel und zart, dass sie es nicht erträgt, wenn sie etwas berührt, es sei denn die Berührung der reinen Wonne der Liebe, durch die sie eigenartig fröhlich und leichtsinnig wird. Diese macht sie hochgemut aus der Fülle der Liebe, sie wird dadurch eine Herrin des Glanzes, das heißt der Klarheit ihrer Seele. Sie wird wunderbar von Liebe erfüllt und lebt durch die Übereinstimmung in der Liebe in großem Glauben: das hat sie in den Besitz ihrer Wonnen gebracht.]

Glanz und Klarheit als Zeichen von Schönheit und Begnadung statten die Seele in einer solchen (Über-)Fülle aus, dass diese sogar als Herrin des Glanzes (maistresse du celuste) bezeichnet wird. Alles scheint perfekt, doch der Schein trügt. Ein Hinweis wurde bereits durch die hohen Betrachtungen, Beschauungen und Meditationen erteilt, denen sich die Seele hingibt, denn in Mirouer 98 wurde gesagt, dass der höchste Zustand das Nicht-Denken in der Vernichtung sei. Die Eingrenzung folgt im nächsten Abschnitt, denn die Seele fühlt sich durch all die erlebte Lust und die erfahrenen Wonnen dermaßen gesättigt, dass sie sich nichts Größeres mehr vorstellen kann, was, dem Ausruf des zurückhaltenden Kommentators zufolge, nicht weiter verwunderlich sei (118, 81). Denn die Seele sei trunken (yvre) und geblendet (esblouy¨e). Solche außerordentlichen Zustände inszeniert der Text durch übergreifende synästhetische Vermischungen sowie durch die Menge unterschiedlicher Substantive, Adjektive und Verben in solch dichter Folge, dass Glanz, Süße und Blendung einen entsprechend disponierten Rezipienten für sich vereinnahmen können. Denn der Glanz (clart¦) aus der vorigen Passage wirkt nun blendend, so dass die Seele nichts mehr sehen kann außer der Liebe,184 und die Trunkenheit durch die Lust der Liebe dämpft das Verständnis (entendre) maßgeblich. Die Seele, so der nüchterne Kommentator, sei durch Glanz und Trunkenheit getäuscht worden und glaube daher, es gäbe keinen höheren Zustand mehr, doch sei dem nicht so. Vielen Seelen sei diese Süßigkeit der Lust (doulceur du desduit), welche die Liebe schenke, ein Grund 184 Die physische Metaphorik wird an dieser Stelle bruchlos und konsequent durchgehalten, denn die Seele ist nicht nur geblendet, sondern sie ›sieht‹ auch nichts mehr.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

zur Täuschung geworden. Doch könne der Kraft oder Gewalt (force) der Liebe niemand widerstehen, was die Seele aufgrund des Fine Amour wisse, von daher sei diese Reaktion nicht erstaunlich, wie es abschließend zum vierten Seinszustand im Text heißt:185 Adonc tient l’Ame que il n’est point de plus haulte vie, que de ce avoir, dont elle a seigneurie; car Amour l’a de ses delices si grandement resasi¦, que elle ne croit point que Dieu ait plus grant don a donner a ame ycy bas, qu’est telle amour que Amour a par amour dedans elle espandue. Hee, ce n’est pas merveilles, se telle Ame est sourprinse, car Gracieuse Amour la fait toute yvre, et si yvre que elle ne la lesse entendre / fors que a elle, par la force dont Amour la delite. Et pource ne peut l’Ame aultre estre mectre en pris; car la grant clart¦ d’Amour a sa veue tellement esblouy¨e, que elle ne la lesse rien veoir, oultre son amour. Et la est elle deceue; car il est deux aultres estres, ycy bas, lesquieulx Dieu donne, qui sont plus grans et plus nobles que n’est cestuy, mais Amour a mainte ame deceue pour la doulceur du desduit de son amour, qui sourprent l’Ame, si tost qu’elle s’aprouche d’elle. Contre telle force ne peut nul contrester : ce scet l’Ame, qui Amour a, par fine amour, oultre elle soubhaulciee. (Mirouer 118, 76–92) [Jetzt ist die Seele davon überzeugt, dass es kein höheres Leben geben könne als das, was sie hat und worüber sie die Herrschaft besitzt. Die Liebe nämlich hat sie mit ihren Wonnen reichlich gesättigt. Sie kann nicht glauben, dass Gott einer Seele hienieden noch größere Gaben zu verschenken hat, als eben diese Liebe es ist, diese Liebe, die sich aus Liebe in sie ausgegossen hat. Ach was, es ist kein Wunder, wenn eine solche Seele überwältigt ist! Denn die huldvolle Liebe macht sie ganz trunken, und zwar so trunken, dass sie sie nichts verstehen lässt denn einzig nur sie, wegen der Gewalt, mit der die Liebe sie ergötzt. Der große Glanz der Liebe hat sie dermaßen geblendet, dass sie nichts weiter zu sehen vermag als nur ihre Liebe. Und hierin wird sie getäuscht.186 Denn es gibt hienieden zwei weitere Stadien, die Gott verleiht; sie sind größer und edler, als dieser Zustand es ist. Die Liebe hat jedoch manche Seele getäuscht wegen der Süßigkeit der Lust in der Liebe. Sie überkommt die Seele, wenn sie sich ihr nur schon nähert. Gegen eine solche Gewalt vermag niemand Widerstand zu leisten. Die Seele, welche Liebe hat, weiß dies eben durch ihre Feine Liebe, welche sie weit über sich hinaus erhoben hat.]

So ist das Genießen der Lust und der Süße auf der vierten Stufe zwar nur allzu verständlich, doch muss die Seele, um sich zu vervollkommnen, diesen Zustand wie alle anderen übersteigen. Interessanterweise problematisiert auch das Fließende Licht am Beispiel der Begine ein noch zu stark mit dem Eigenwillen verbundenes Genießen (gebruchen).187 Doch im Falle des Mirouer liegt der 185 Besonders diese Aussage lässt an Richards von St. Viktor Traktat über die sieben Stufe der Liebe denken, die sich ebenso heftig und unwiderstehlich, ja sogar gewaltsam äußert. 186 Ob die täuschende Süße eventuell eine auf das geistliche Leben umgemodelte perversa suavitas von Augustin ist, wäre durchaus in Erwägung zu ziehen. 187 Vgl. FL V, 5.

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mahnende Akzent vornehmlich auf der lustvollen Süße,188 welche die Seele auf der vierten Stufe festhält,189 wobei die sinnliche Dimension hier deutlich durchscheint. Durch die bereits bekannte Technik der Wiederholung, Ergänzung und Umgestaltung ist vor allem diese Passage mit einem dichten Netz von Wörtern durchzogen, die solche sinnlichen Dimensionen einblenden. Insgesamt dominieren in dem ganzen Teil von Mirouer 118, der sich mit der vierten Stufe beschäftigt, Substantive, Verben und Adjektive aus dem Metaphernfeldern der Trunkenheit und Sättigung, gleichermaßen die damit verbundenen Zustände, die bis zum Extrem der Blendung und Trunkenheit gesteigert sind. Dadurch inszeniert der Text die fühlbare Lust am göttlichen Umgang für ein entsprechend disponiertes Publikum und zeigt deren vereinnahmende Kraft für die Seele. Sättigung, Süße, Wonne und Lust führen zu Täuschung und zu einem einseitig auf die Freuden der Liebe fixierten Verständnis, ganz im Gegensatz zu der zuvor aufgezeigten Verknüpfung von Nahrung und Erkenntnis oder Sättigung und Frieden nach der Vernichtung. Das schillernde und selbst ›blendend‹ inszenierte Gepräge aus Süße oder Lust verweist darauf, dass eine ausschließliche Fokussierung auf die Aspekte des Köstlichen selbst beim Fine Amour in eine Sackgasse mündet, die in einem abgebrochenen Aufstieg besteht. Obwohl der Text deutlich macht, dass beide Aspekte im Zustand des Friedens erneut zusammenfallen, zeigt er auf, dass weder die Süße des Genießens noch die damit verbundene Lust das Letzte, Äußerste und Höchste sind, sofern sie nicht mit einer vollständig durchgezogenen, radikalen Vernichtung des Selbst einhergehen. Zwar gehören die Hochstimmung und das Verwöhnt-Werden durch die göttliche Liebe mit zu dieser Vernichtung, jedoch ›nur‹ auf der vierten Stufe, so dass die Seele beides, um weiterzukommen, wieder auf- oder preisgeben muss. Insgesamt zeigt sich im Mirouer, dass die über die Bildfelder von Nahrung und Sättigung entwickelten Vernetzungen scheinbar weit Entferntes wie Erkenntnis und Geschmack, Süße und Blendung oder Frieden und Nahrung mit Leichtigkeit integrieren können. In seiner Verdichtung mit dem Bild der Nahrung ist der unsagbare Genuss in seinen verschiedenen Formen und Stufen im Text vielfältig präsent, wird imaginativ schmeckbar und bleibt in seinem Schweigen gewahrt. Doch äußert sich die Fülle des Genießens und die damit 188 Die Ambivalenz der Süße lässt sich bis zur Patristik zurückverfolgen, vgl. hierzu Carruthers (2006). 189 Die verlockende Süße erinnert ein wenig an das Bild der Leimrute in Gottfrieds Tristan, welche die Liebenden, hier Isolde, aufgrund ihrer blendenden Süße festhält, vgl. Gottfried (2007), V. 11804–11814: Mit vüezen und mit henden//nam s„ vil manege kÞre//und versancte ie mÞre//ir hende und ir vüeze//in die blinden süeze//des mannes unde der minne.//ir gel„meten sinne//die enkunden niender hin gewegen//noch gebrucken noch gestegen//halben vuoz noch halben trite,//Minne diu enwaere ie d– mite.

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verbundene überströmende Süße wie bei der vierten Stufe in einer Klangfülle, die synästhetisch das dem Text zufolge Unausdrückbare ausdrückt. Zugleich bleibt in das Bildfeld, auf einer Linie mit dem gesamten Mirouer, die Vernichtung eingeschrieben, die ihr sowohl vor-, bei- als auch nachgeordnet sein kann, wie es sich beim Stufen-Schema oder dem Zustand des Friedens ausprägt. Denn bei dem Sieben-Stufen-Schema gehen dem Kosten der göttlichen Süße auf der vierten Stufe die drei mystischen Tode voraus und folgt die entgültige Vernichtung auf der fünften Stufe nach, während der Zustand des vollkommenen Friedens zugleich den Zustand vollständiger Vernichtung darstellt.

Visioenen: Transgressiv-obsessives Gott-Schmecken Abendmahlspraxis als Einverleibung Gottes in genussvoller Einheit In den Visioenen dominiert vor allem die Verknüpfung von Schmecken und Erkennen, die sich wechselseitig durchdringen und auf eine intime, unmittelbare Form des Wissens verweisen, das man sich einverleibt. Damit wird jegliche Unterscheidung oder Grenzziehung zwischen dem eigenen Selbst und dem Anderen aufgelöst, da beide sich in einem dynamischen Kreislauf verzehren und zugleich verzehrt werden.190 Einen zentralen Platz nimmt hierbei die Praxis des Abendmahls ein, denn hierdurch wird das Genießen als geschmeckte Gotteserkenntnis erfahrbar. Indem man Christi Blut und Fleisch einnimmt, wird man zugleich im konkreten wie im übertragenen Sinne eins mit ihm. Caroline Walker Bynum hat auf die Bedeutung von Eucharistie und Abendmahl für die Frauen im Spätmittelalter mehrfach und beispielreich hingewiesen, da sie insbesondere in der Praxis des Abendmahls ebenso wie in der der Imitatio Christi speziell für Frauen die Möglichkeit sieht, eigene und adäquate Formen von Frömmigkeit zu entwickeln, die ihnen als dem durch Weiblichkeit, Körperlichkeit und Schwäche191 gekennzeichneten Geschlecht besonders offenstanden.192 In diesem 190 Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996), S. 110: »Alle Gedichte Hadewijchs […] behandeln das Thema der Liebe als Verzehren und Verzehrt-Werden.« Doch auch in den Visioenen lassen sich Belege für diese Ausdeutung der Liebe im Zusammenhang mit dem Komplex des Genießens und Begehrens finden, so in Vis. XI, 128–130: de godheit es So ureseleke ende soe onghenadeleec etende ende berende sonder sparen [die Gottheit aber verzehrt und verbrennt fortwährend rücksichtslos auf eine so gnadenlose und brutale Weise] und Vis. XIII, 190f.: Wat die minne gheuet, dats ghesuert ende vertert ende verslonden [Was immer die Liebe auch gibt, das ist ihnen sauer ; das wird verzehrt und verschlungen]. 191 Wobei das Ich dieses singulären Textes zusätzlich zu seiner Demut ein Auserwähltheits- und Sendungs- und Selbstbewusstsein aufweist, was gegen die deutlich demonstrierte Inferiorität im Fließenden Licht oder im Mirouer absticht. 192 Vgl. Bynum, Fragmenierung (1996), S. 109–225.

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Kontext zitiert sie Hadewijchs Texte,193 da die Visioenen deutlich sowohl durch die Anleitung zur Imitatio Christi als auch durch den Bezug zum Abendmahl charakterisiert sind. So setzt die erste Vision unmittelbar nach der Einnahme des Abendmahls zu Hause ein, da sich das Ich aufgrund seines ungezügelten Begehrens nicht in die Öffentlichkeit wagt, sondern nach dem genießenden Eins-Sein mit Gott verlangt: Het was in enen sondaghe Ter octauen van pentecosten dat men mi onsen here heymelike te minen bedde brochte, Om dat ic gheuoelde/ soe grote treckinghe van binnen van minen geeste/, Dat ic mi van buten onder die menschen soe vele niet ghehebben en conste dat icker ghegaen ware/. Ende dat eyschen dat ic van binnen hadde/ dat was om een te sine ghebrukelike met gode/. (Vis. I, 1–9) [An einem Sonntag in der Pfingstoktav geschah es, dass man mir Unseren Herrn daheim an mein Bett brachte, denn ich fühlte im Inneren eine so starke Anziehungskraft meines Geistes, dass ich mich nach außen hin nicht so weit beherrschen konnte, um unter Menschen zu gehen. Und das Verlangen, das ich innerlich hatte, richtete sich darauf, mit Gott im Genießen eins zu sein.]

Das Begehren nach Genuss und Einheit verbindet sich direkt mit der Einnahme des Abendmahls am heimischen Bett. Die äußere Situation, in knappen Worten umrissen, signalisiert Intimität, die innere dagegen wird beherrscht von heftiger Anziehungskraft. Kurz darauf fährt der Text dahingehend fort: Doen ic onsen here ontfaen hadde/, doen ontfinc hi mi te heme/, Soe dat hi mi op nam alle mine sinne buten alle ghedinckenisse van vremder saken/ omme sijns te ghebrukene in enecheiden/. (Vis. I, 15–18) [Als ich Unseren Herrn empfangen hatte, da empfing Er mich bei sich, indem Er mir alle meine Sinne vollständig der Erinnerung an etwas Fremdes benahm, um Seiner in Einheit teilhaftig zu sein.]

Nach oder vielmehr mit dem Abendmahl beginnt bereits die auf Wechselseitigkeit und Einheit gegründete Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Partner, denn das Ich empfängt Gott, und Gott empfängt das Ich. Ein Chiasmus setzt sprachlich den Anfang der Vision um, die damit aus dem Abendmahl resultiert, in welchem sich das Ich mit Gott im Genuss – im Schmecken von Brot und Wein – vereinigt. Suydam hat besonders die Anfänge der einzelnen Visionen als performative script gedeutet, als eine Art Regieanweisung zum Mit- und Nachvollzug: eine Deutung, der ich mich anschließe.194 Die Einnahme des Abendmahls, gepaart mit innerem Verlangen, ließe sich von entsprechend disponierten Rezipienten als ›point de d¦part‹ für eine genussvolle Vereinigung mit Gott betrachten, wobei in dem Zusammenhang die performa193 Ebd., S. 109f. 194 Vgl. Suydam, Women’s texts and performances (2008), bes. S. 153.

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tive Lektüre eines solchen Textes eine unschätzbare Hilfestellung und Ermutigung bedeutete. Das Abendmahl leitet nicht nur eine einzelne Vision ein, sondern eröffnet zugleich den ganzen Zyklus der vierzehn Visionen mit Anhang.195 Die zweite explizite Schilderung eines Abendmahls befindet sich an exponierter Stelle, nämlich genau in der Mitte des Zyklus. Die Einnahme des Sakraments ist dieses Mal in die siebte Vision integriert und geht der genießenden Einheit mit dem göttlichen Partner voraus und leitet sie auch mit ein. Auffallend ist in der folgenden Passage die implizit zugrunde liegende Gliederung in das gewöhnliche und das außergewöhnliche Geschehen. So unterscheidet sich die Einnahme von Brot und Wein nicht im Mindesten von dem üblichen Gebrauch, erst dann setzt das eigentliche Ereignis ein, welches das Abendmahl vorbereitet hat und zugleich begleitet: Doe gaf hi mi hem seluen in specien des sacraments in figuren alsoe men pleghet/; Ende daer na gaf hi mi drinken vten kelke ghedane ende smake alsoe men pleghet/. Daer na quam hi selue te mi, ende nam alte male in sine arme/ ende dwanc mi ane heme/; ende alle die lede die ic hadde gheuoelden der siere in alle hare ghenoeghen/ na miere herten begherten/ na miere menscheit/. Doe werdic ghenoeghet van buten in allen vollen sade/. (Vis. VII, 70–80) [Da gab Er mir sich selbst in der Form des Sakraments in der Gestalt, wie es gewöhnlich geschieht. Und danach gab Er mir aus dem Kelch zu trinken, der Gestalt und dem Geschmack nach, als es gewöhnlich geschieht. Danach kam Er selbst zu mir und nahm mich fest in Seine Arme und drückte mich an sich; und alle Teile meines Körpers spürten die seinen, so dass es ihnen, entsprechend dem Verlangen meines Herzens – nach meinem Menschsein – eine Lust war. Da wurde ich bis zum Äußersten befriedigt.]

In einer Umarmung und im Fühlen aller Glieder erfährt das Ich eine intensive Befriedigung seines Begehrens, die ihm der göttliche Partner in der Gestalt eines schönen jungen Mannes gewährt. Die frappierende Körperlichkeit dieser Schilderung verbindet sich mit dem Anfang der siebten Vision, in der das Ich in seiner physischen und psychischen Gesamtheit von der zitternden Spannung seines Verlangens erfasst und gleichsam sapphisch geschüttelt wird. Etwas zu schmecken, jemanden zu essen, wie es in der Abendmahlspraxis geschieht, ist zugleich die extremste Form der In-Besitznahme. Es existieren keinerlei Rückzugsoptionen, was man gegessen hat, ist unwiderruflich in einen eingegangen. Bynum hat in diesem Zusammenhang von Kannibalismus gesprochen,196 was 195 Vgl. Vis. I, 177–181, wo das Ich einen kelc al vol bloeds sieht, aus dem es auf Anweisung des Engels trinkt. Im Gegensatz zu dem hier zitierten Beginn der ersten Vision ist dieses Symbol des Abendmahls in die Vision selbst integriert und weist starke Bezüge zur Imitatio-ChristiPraxis auf, da das Blut sowohl auf Christi Leiden als auch auf die des Ichs referiert. 196 Vgl. Bynum, Why all this fuss about the body? (1995), bes. S. 15: »One can even interpret the

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die Radikalität jener vibrierenden Körperlichkeit zuspitzt, die in den Texten nachbebt und durch deren Weigerung, der Sphäre des Leibes zuzugehören, zusätzliche Schärfe und Dynamik gewinnt. In ihren Arbeiten zur weiblichen Frömmigkeitspraxis hat Bynum im Zusammenhang mit dem Abendmahl und der Eucharistie besonders auf die Nahsinne des Riechens und Schmeckens hingewiesen, die einen Gegensatz zu den von der männlichen Geistlichkeit bevorzugten Fernsinnen des Sehens und Hörens darstellten. Die Verbindung von Schmecken und Erkennen, welche bereits durch die Predigten Bernhards von Clairvaux vorbereitet wurde, erhielt erst durch die dezidiert sinnliche Textpraxis der Frauenmystik ihre spezifische Ausrichtung und Dynamik, da sie das Potential der Grenzüberschreitung und der Absorption bestehender Unterschiede tatsächlich in die Tat – man könnte hier alternativ sagen: ›performativ‹ – umsetzten.

Geschmeckte Gotteserkenntnis in Schmerz und Genuss Von der Praxis des Abendmahls ausgehend, lässt sich die ausgreifende Bedeutung der Nahsinne von Schmecken und Fühlen im Text erschließen. Die Verbindung von Schmecken und Wissen/Erkennen kreiert unmittelbare Bezüge zur Körperlichkeit und Sinnlichkeit, da es direkt gekostet und damit schrankenlos erfahren wird. Außerdem wird intellektuelles und affektives Wissen nicht voneinander getrennt, sondern indem man schmeckt, versteht man. Von den fünf Stellen, die im Kontext des Genießens Schmecken und Wissen verknüpfen, beziehen sich zwei davon nicht etwa auf das Schmecken von etwas Köstlichem, sondern im Gegenteil auf das Kosten von etwas Schmerzlichem und sogar Tödlichem. Der Text entwickelt zwei Arten des Schmeckens, die er jedoch zugleich als organische Einheit begreift: Jc geue die noch/, seide hi/, een nuwe ghebod/: Wiltu mi gheliken inder menscheit/ alse du beghers inder gotheit als te ghebrukene van mi/, Soe saltu begheren arm, ellendech ende versmaedt te sine onder alle menschen/; Ende alle vernoye selen di smaken bouen alle erdsche ghenoechten/. (Vis. I, 288–294) [»Darüber hinaus gebe ich dir«, sprach er, »ein neues Gebot: Wenn du mir in meinem Menschsein genauso gleich sein willst, wie du verlangst, die ganze Gottheit mit mir im Genießen zu teilen, dann musst du danach verlangen, der ärmste, elendste und verachteste von allen Menschen zu sein. Und alles Leid soll dir besser munden197 als alle irdische Befriedigung.«] Eucharistic theology of the high Middle Ages as a sort of cannibalism – a literal incorporation of the power of a tortured god.« 197 An dieser Stelle mein eigener Übersetzungsvorschlag »munden«, der m. E. den sinnlichen Charakter des »smaken« deutlicher hervorhebt als Hofmanns »angenehmer sein«.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Um zugleich Mensch und Gott zu sein, muss das Ich die menschliche Seite Gottes im Prozess der Imitatio Christi unter großen Leiden mit- und nachvollziehen. Die ungeschützte Form des Leidens wird in der Verwendung des Verbs smaken ausgedrückt, das nicht nur einen direkten Vollkontakt mit dem Schmerz, sondern zugleich die Forderung des Schmeckens impliziert. Demnach soll für das Ich das Leiden in jedweder Form willkommener und schmackhafter sein als alle anderen Arten irdischer Erfüllung. Die irdischen Genüsse werden hier in Gegensatz zu den um des göttlichen Genießens willen erduldeten Leiden gesetzt, die im Vergleich zu den um des Genießens willen ertragenen Schmerzen eine untergeordnete Stellung einzunehmen haben. Gesteigert wird die Forderung in der vierten Vision dahingehend, dass das Ich jetzt nicht nur alle Formen des Leidens und Verdrusses, sondern sogar alle Todesarten schmecken soll, nachdem es vom göttlichen Vater erfahren hat, wie er im Genießen, im Erkennen und in der Entrückung/Aufnahme derjenigen beschaffen sei, die seinem Willen genügend und vollständig entsprächen. Beides zeigt erneut die dichte Verbindung von der göttlichen Seite des Genießens und der menschlichen Seite des Leidens,198 die beide zusammen erst die Fülle des Gottesgenusses in der Gotteserkenntnis ergeben: Aldus ghedane ben ic in ghebrukene/ ende in kinnen/ ende in op ghenomenheiden den ghenen die mi ghenoech/ na minen wille sijn/. Jc gheleide di god/ ende mensche weder in die wrede werelt, daer du salt ghesmaken/ alre doede: des du hier weder coms in den ghehelen name mijns ghebrukens/ daer du in ghedoept best in mine dijpheit. (Vis. VI, 96–103) [»So bin ich beschaffen im Genießen, in der Erkenntnis und in der Entrückung für diejenigen, die mir in meinem Willen entsprechen. Ich führe dich als Gott und Mensch wieder in die grausame Welt, wo du alle Tode durchmachen wirst, bis dass du hierher zurückkehrst in den vollen Namen meines Genießens, in dem du in der Tiefe meines Wesens getauft bist.«]

Die Analogie zu der im Mirouer propagierten Selbstvernichtung ist an dieser Stelle besonders sichtbar, die in die drei mystischen Tode der Seele aufgeschlüsselt ist, bevor auf Stufe fünf dann sogar die Lust an Gott im Abgrund vernichtet wird. Hier muss das Ich ebenso alle Tode in der Welt sterben, bevor es, endgültig vervollkommnet, in das Genießen Gottes zurückkehren kann. Doch ist das Leiden in den Visioenen im Gegensatz zum Mirouer deutlich christologisch aufgeladen. Selbstverlust und Gottesgenuss bedingen einander, so dass der Geschmack des Todes zugleich paradoxerweise der Geschmack Gottes ist – und damit der höchste und vollständigste Genuss. Der bildhafte und konkrete Ausdruck smaken weist auf der einen Seite unterschwellige Bezüge zur Kör198 Vgl. Mommaers, Hadewijch (2003).

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perlichkeit und Sinnlichkeit auf, die er auf der anderen unterläuft, da er auf ein den Sinnen enthobenes Schmecken referiert. Gleichzeitig impliziert er eine enge Verbindung zu einem Genießen, das sowohl auf der Textoberfläche gestützt wird, als auch implizit eine große Nähe zwischen Schmecken, Genießen und Erkennen unterhält. Die folgenden Stellen verbinden das Verb smaken entweder mit der Minne oder Steigerungen des Genießens. Die Ausübung der Tugenden, die dem Ich von Gottes Wesen gezeigt worden sind, äußert sich sowohl in Schrift, Rat und Geschmack, wobei sich hier die Verknüpfung von affektiver und intellektueller, von gekosteter und verstandener Erkenntnis findet. Dadurch soll das Ich, wie es in der ersten Vision heißt, an Reife zunehmen: hare een groet werc daerse mede volwassen sal Dats datse alle die doghede werken sal/ die hare van minen wesenne ghetoent sijn/ Jn scrifturen/ Jn rade/ Jn smake van minnen tusschen hare ende mi/ Biden ghebode dattu heues te hare/ van bande van minnen/ ende bider wider kinnissen/ die du heues mijns ghebrukelecs willen/. (Vis. IV, 90–96) [Ihr erstes großes Werk, durch das sie zur Vollendung wachsen wird, besteht darin, dass sie alle Tugenden ausüben soll, die ihr von mir selbst gezeigt worden sind, in der Schrift, im evangelischen Rat, im Schmecken der Liebe zwischen ihr und mir ; durch die Befehlsgewalt, die du ihr gegenüber aufgrund des Bandes der Liebe und durch die umfangreiche Kenntnis besitzt, die du von meinem beseligenden Willen hast.]

Das Schmecken wird hier besonders mit Gottes Wesen verknüpft, denn Gottes Wesen ist die Liebe, wie es in der dritten Vision heißt.199 Gleichzeitig bildet die Liebe das Band zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Partner. Das Ich handelt nur übereinstimmend mit Gottes Willen, von dem es Kenntnis besitzt; und der göttliche Wille nun ist durch das Adjektiv ghebrukelecs besonders dicht mit der Dimension des lustvollen und beglückenden Genießens verschmolzen. Doch verweist die absolute Dominanz von Gottes Willen implizit auf den hohen Preis, den das Ich sein äußerstes Verlangen kostet und der anhand der folgenden drei Werke dezidiert ausgeführt wird. Das zweite Werk besteht in der Bereitschaft, im Elend zu leben (ellendech wesen, Vis. IV, 97), das dritte in der Verlassenheit und Trostlosigkeit200 (hare meneghe toecomende mestroest, Vis. IV, 102). Zusammen mit dem vierten Werk, nämlich dem Entbehren von Gottes süßer Natur in der (Er-)Kenntnis und im Schmecken (dats deruen van onser sueter naturen […] ende die kinnisse/ ende dat smaken, Vis. IV, 120–123), soll das Ich zur Vollkommenheit heranwachsen. 199 Vis. III, 10–14. 200 Vgl. hier die Parallele zu FL IV, 12, wo die gotzvroemedunge in der großen Trostlosigkeit und Verlassenheit thematisiert wird. Auch die von Largier, »in einicheit und wüestunge« (1990) herausgearbeitete wuestunge fügt sich in diesen Kontext ein, da das Ich alle Arten von Spott und Verlassenheit ertragen muss.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Die Verbindung von kinnisse und smaken impliziert keineswegs lediglich die köstliche Erkenntnis Gottes im Genießen, sondern vor allem die schmerzliche Erkenntnis Gottes im Verzicht auf das Genießen. Dennoch finden sich im weiteren Verlauf der Visioenen Hinweise, nämlich in der siebten und der achten Vision, als das Ich sich bereits in der Intensität seines Begehrens und damit im Gesamten gesteigert hat, auf eine gleichzeitige Verfeinerung und zunehmende Erfüllung durch das ihm nun mögliche Genießen. So verlangt das Ich in der siebten Vision eine Ebenbürtigkeit mit dem göttlichen Partner durch die wechselseitige Befriedigung, für die es stark genug sein möchte: Jc begherde mijns liefs te vollen te ghebrukene/ ende te bekinnenne ende te ghesmakene in allen uollen ghereke/: Sine menscheit ghebrukeleke mitter miere/ Ende de mine daer in te ghestane/ ende starc te wesene in onghebrekelecheiden te valne/ dat ic hem weder/ dat onghebrekeleke ghenoech ware/. (Vis. VII, 21–27) [Ich verlangte danach, meinen Geliebten vollständig zu genießen, zu erkennen und zu schmecken mit allem, was dazugehört: (Ich verlangte) seine Menschheit im Genießen mit der meinen vereinigt, und dass die meinige darin standhielte und (genügend) stark sei, um nicht da, wo nichts fehlt, zu versagen, damit ich Ihn im Gegenzug vollkommen befriedigte.]

Die von dem Ich mit allen Mitteln und Kräften erstrebte Vollständigkeit besteht in der Verbindung von Erkennen (te bekinnenne, Vis. VII, 22) und Schmecken (te ghesmakene, Vis. VII, 22). Die Verknüpfung von te ghebruken und te ghesmakene wird zusätzlich durch die Wiederholung und Steigerung des adverbialen Ausdrucks te vollen zu in allen uollen verstärkt. In aller Fülle zu genießen bedeutet offensichtlich, mit aller Fülle zu schmecken. Und Schmecken heißt zugleich Erkennen, Gott in seiner Fülle an der Reichhaltigkeit des Schmeckens erkennen. Eine Konzentration auf das leidenschaftliche Begehren des Ichs verkennt meines Erachtens das ausführlich beschriebene und zunehmend detaillierte Objekt dieses Begehrens, dessen Erfüllung im Verlauf der Visioenen nicht nur angestrebt, sondern auch realisiert wird. In folgender Zusage wird in der achten Vision das begehrte Genießen weiter gesteigert, das nun nicht allen Reichtum und jedwede Fülle enthüllt, sondern sogar raffinierte Geschmacksnuancen, kunstreichstes Geschmackerlebnis garantiert: »Sich hier/ hoe ic ben kimpe/ ende rijcleec ghenen ghewareghen anschine/ dat al dore siet/ ende doer licht den volcomenen dienste, dat vollei//det/ende leret diuiniteit/ ende vroetheit/ ende rijcheit gheeft aller ghebrukenessen van allen vollen consteleken smake/.« (Vis. VIII, 16–21) [»Sieh, auf welche Weise ich ein Streiter bin und mächtig vor jenem wahrhaften Angesicht, das durch alles hindurchsieht und den vollkommenen Dienst durchstrahlt, das

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zur Vollendung führt und das Wesen Gottes und Weisheit lehrt, und das den Reichtum schenkt des unverminderten Genießens eines jeden in der Fülle der Kenntnis gegründeten Geschmacks.«]

Zugleich vermittelt das Angesicht Gottes das göttliche Wesen selbst und lehrt Weisheit, das heißt, an dieser Stelle ist die Erkenntnis des göttlichen Wesens mit seinem reichhaltigen Schmecken verknüpft, und je mehr man schmeckt, je feiner und voller, desto umfassender ist die Totalität der Gotteserkenntnis. Hier signalisiert ghebrukenesse in Verbindung mit seinen Attributen und adverbialen Bestimmungen eine Varianz und Mannigfaltigkeit des Genießens je nach dem jeweiligen Vermögen des menschlichen Partners. In jedem Fall verbindet es sich mit dem ungestümen Verlangen des Ichs, in jeglicher Hinsicht Ebenbürtigkeit und Befriedigung des göttlichen Partners gewähren zu können – denn nur so wird es selbst vollständig befriedigt. Das Schmecken Gottes erweist sich als doppelt und sogar bipolar bestimmbar, obgleich es organisch zusammenhängt:201 Auf der einen Seite lassen sich Leid, Verdruss und Tod ebenso unmittelbar kosten wie auf der anderen Seite ein in Facetten wahrgenommenes, zunehmend üppigeres und mannigfaltigeres Schmecken Gottes, das zugleich eine Erkenntnis seines Wesens darstellt und diese zunehmend verfeinert. Beide bedingen einander, denn die Erfahrungen von Schmerzen und Todesarten lassen das Ich der Visioenen reifen und machen es zu einem zunehmend perfekten Partner Gottes, da es ihm dadurch immer mehr Erfüllung und Befriedigung verschaffen kann. Gleichzeitig erweitern sich die Möglichkeiten der Gotteserkenntnis durch ein immer vollständigeres, immer raffinierteres Schmecken und Kosten des göttlichen Partners. Die beunruhigende Körperlichkeit und Sinnlichkeit einer vom Schmecken und Fühlen durchdrungenen Sprache veranschaulichen die intensive Dimension des Einverleibens und des Erfahrens, dem sich das Ich zur Gänze aussetzen und bis zum Äußersten gehen muss, um gleichzeitig seiner Fülle teilhaftig werden zu können. Gesäuerte Gabe und gesüßter Enzug – Umwertung der gustalen Wahrnehmung In den Visioenen wird Süße häufig in Verbindung mit dem göttlichen Geliebten gebracht,202 gelegentlich auch mit dem Ich,203 doch im Zusammenhang mit dem 201 Auf die organische Einheit von ghebreken und ghebruken, leidvollem Mensch- und wonnevollem Gott-Sein hat Mommaers wiederholt hingewiesen, vgl. exemplarisch: Mommaers, Hadewijch (2003); ders., Hadewijch d’Anvers (1994), S. 99–131. 202 Vgl. beispielsweise: die edele nature ons suet gods (Vis. I, 107) [die edle Natur unseres süßen Gottes]; in mijn herteleke suete lief (Vis. III, 27f.) [des süßen Geliebten meines Herzens]; also ghedane mensche/ ende man/ Soete ende scoene (Vis. VII, 67f.) [in genau der Gestalt als Mensch und als Mann, liebenswert und schön]; ende van siere suetheit/ ende van al sinen

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

Genießen wird sie vor allem an zwei Stellen thematisiert, die beide eine Art Umwertung vornehmen. So sollen in der siebten Vision alle Schmerzen wie süße Liebkosungen empfunden werden, da darin die einzige Art bestehe, Gott volles Genügen und ihm adäquate Befriedigung schenken zu können: Want dat es dat volcomenste ghenoech doen te wassene god met gode te sine/. Want dats doghen/ ende//pine/ ellende/ ende in groten nuwen vernoye te sine/ ende dat al laten comen ende gaen sonder vernoyen/ ende el en ghenen smake daer af te hebbene dan soete minne/ ende helsen ende cussen. (Vis. VII, 34–40) [Denn das vollkommenste Genugtun besteht darin, dass man wächst, um Gott mit Gott zu sein. Doch das bedeutet Leid und Schmerz, Elend, und in einem großen, (stets) neuen Ungemach zu leben, und das alles ohne Verdruss geschehen zu lassen und davon nichts anderes zu empfinden (wörtlich: zu schmecken) als süße Liebe, Umarmen und Küssen.]

Der Wunsch und das zu Anfang der Vision so vehement und umfassend geäußerte Begehren, Gott mit Gott zu sein und an dem Genießen seines Wesens als ebenbürtiger Partner teilhaben zu können, fordern im Gegenzug Schmerz und Leid in sämtlichen Variationen. Doch soll das Elend nicht nur unmittelbar und direkt gekostet werden, wie bereits im vorigen Teilabschnitt gezeigt wurde, sondern sogar süß munden. Zwischen der Wonne in den Umarmungen Gottes und dem tatsächlich geschmeckten Elend soll keinerlei gustaler Unterschied bestehen, sondern in einer Umkehrung soll das eigentlich Bittere ebenso süß wie eine Liebkosung Gottes schmecken. Der immens hohe Anspruch dieser Passage erinnert an FL, IV, 12, wo die Seele Gott bittet, ihr seine Süße zu nehmen und nur noch seine Ferne zu lassen. Das Ausmaß der zum äußersten Leiden bereiten Seele wird bei Mechthild durch die Zurückweisung, bei Hadewijch durch die Umkehrung des über alles begehrten und ersehnten Geschmackserlebnisses in Szene gesetzt. In der dreizehnten Vision werden im liebenden Misstrauen die Gaben der Liebe gesäuert, während das, was die Liebe entzieht, als reichhaltiger gilt. Süß ist nicht das, was das Ich bekommt, sondern wohl das, was es entbehrt und worauf es einen Anspruch erhebt. Die Kultivierung des Begehrens besteht im süßen Entbehren. Doch während der Text die Durchsäuerung der Gabe explizit macht, verwendet er für das, was die Liebe entzieht, den Ausdruck des Anreicherns. Das Begehrte und Verlangte erhält einen Sonderstatus zugewiesen, der sogar die Gaben der Liebe sauer anstatt süß schmecken lässt, denn das Ich erhebt Anwesene daer hi sijns selues in pleghet (Vis. XIII, 168–170) [und seiner Süße und seines ganzen Wesens, worin Er mit sich selbst verkehrt]. 203 Vgl. beispielsweise: ende met sueter rasten ouerlidende, drinct (Vis. I, 180f.) [und mit einer süßen Seelenruhe durchgestanden hast, trinke]; Soe moestu dinen sueten lichnam hier hebben (Vis. XIII, 242f.) [dann musst du deinen süßen Leib hier haben].

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spruch auf das vollständige Genießen in allen Bestandteilen, das heißt auf das Schmecken des ganzen göttlichen Wesens ohne Einschränkungen und Abzüge: Die ontrouwe maectse so diep dasse die minne al verwielen, ende si gaen hare met sueten ende met sueren ane/. Wat die minne gheuet, dats ghesuert ende vertert ende verslonden; watse nempt, dats rike ghemaket van groter ghewout van ghebrukene dies mannens der minnen/ alle vren groet effen hare seluen/, Soe oec datse al die list gods besceden en can. (Vis. XIII, 187–194) [Das Misstrauen macht sie so tief, dass sie die Liebe wie in einem Strudel ganz und gar in sich verschlingen und sie ihr sowohl mit Süßem als auch mit Saurem zusetzen. Was immer die Liebe auch gibt, das ist ihnen sauer ; das wird verzehrt und verschlungen. Was die Liebe vorenthält, das wird durch die große Macht bereichert, die darin besteht, nach der Forderung der Liebe zu leben: Jederzeit so groß wie sie selbst zu sein, so dass auch die ganze Kunstfertigkeit Gottes sie nicht mehr (von der Liebe) trennen kann.]

Das Potential der Umwertung und Zurückweisung, was besonders dem Geschmackserlebnis der Süße anhaftet, zeigt das Übersteigen und Überwinden des anfangs Begehrten. So schmeckt das Bittere süß und das Süße sauer.204 Nicht mehr die Einheit im Genuss mit Gott steht in der dreizehnten Vision im Vordergrund, sondern das selbstbewusste Fordern vollständiger Ebenbürtigkeit. Die eigene Heiligkeit wird nicht mehr wie in der ersten Vision ausschließlich in der Häufigkeit und Intensität des Genießens festgemacht, sondern wird in der Zunahme von Macht und Fülle begründet, welche sich erst dann in der Forderung nach einem Genießen äußert, das sowohl ganz und total, als auch das Höchste ist. Der Genuss ist nicht nur durch das Schmecken, was zugleich Erkennen in sich schließt, bestimmt, sondern gleichermaßen durch die Integration von gustal eigentlich entgegen gesetzten Empfindungen: Das Süße verbindet sich mit dem Sauren, und das Bittere wird zur Süße. Die Bipolarität und Einheit von Schmerz und Genuss spiegelt sich auf der intimeren und unmittelbareren Ebene der Sinnlichkeit in Form von süß und sauer wider, um eine Umwertung und Erweiterung anzuzeigen. Gleichzeitig bietet sich zusammen mit der Praxis des Abendmahls, erweitert durch die der Imitatio Christi, in den Visioenen ein dichtes Geflecht gustaler und konkreter Möglichkeiten für entsprechend disponierte Rezipienten, performativ das Genießen Gottes mit- und nachzuvollziehen. Indem ein solches Publikum dem performative script oder den Regieanweisungen des Textes zu folgen vermochte, sowohl was psychisch-physische Dispositionen wie Begehren, aber 204 Vgl. Carruthers (2006), S. 1000f.: »Indeed, as I hope to demonstrate, the most interestingly medieval aspect of ›sweetness‹ […] is that it is not just one thing, but has a contrarian nature that includes within itself its opposites: bitter, salt, and sour.« Carruthers konstatiert für diese Süße ein »sensory paradox«, die in seiner Ambivalenz seit der Patristik begründet liegt. Aufgrund solcher Ambivalenzen bot sich zugleich das Potential semantischer Umcodierungen, wie sich in allen drei Texten zeigen lässt.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

auch Schmecken Gottes in Brot und Wein, im Schmerz und in der Lust, in der Süße und dem Sauren, anbelangt, waren sie in der Lage, an einer synästhetisch und kunstvoll inszenierten cognitio Dei experimentalis teilzunehmen und diese für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Doch konzentriert sich diese Untersuchung ausschließlich auf die im Text auffindbaren performative scripts und nicht auf rezeptionsgeschichtliche und kontextgebundene Nachweise. Die Visioenen entwerfen und zeigen, um mit Bynum zu sprechen, spezifisch weibliche Möglichkeiten, sich Gott nicht nur maximal zu nähern, sondern ihm sogar unterschiedslos ebenbürtig zu werden – ein ambitioniertes Vorhaben, für das eine starke Aura an Autorität und Heiligkeit allein aus Gründen des Selbstschutzes unbedingt geboten erscheint. Gott zu schmecken, um ihn zu erkennen, bleibt eine mit deutlich wahrnehmbarem sinnlichen Nachdruck schwingende Konstante in diesem ambitionierten Text, der sich zwischen die Oppositionen von Gefühl und Intellekt, von Sinnlichkeit und Unkörperlichkeit, Gott und Mensch, Mann und Frau einschreibt und sich einer eindeutigen Zuordnung verweigert, da er die Grenzen, die er überschreitet, zugleich einschmilzt und absorbiert. Somit ist das Genießen zwar weiblich geprägt, was aber keinesfalls bedeutet, dass nur Frauen das in den Texten inszenierte Genießen Gottes in Anspruch nehmen konnten.

Fließendes Licht: Sich Gott-Einverleiben und Gotteshunger Verschiedentlich wurden bereits im ersten Teil bei der Wortanalyse der einzelnen Bücher die Ambivalenzen der Süße für das Fließende Licht herausgestellt. Daher werden hier lediglich in Kürze drei elementare Aspekte aufgezeigt, die diesen Text im Hinblick auf ein mit dem Schmecken verbundenes Genießen auszeichnen: Erstens die Praxis des Abendmahls, welche konkret als ein Essen und Trinken Gottes verstanden wird und bestätigt, dass Weiblichkeit, Körperlichkeit und spirituelle Praxis verdichtet auftreten.205 Zweitens verbindet sich mit der Metaphorik der Sättigung bzw. des Schmeckens die des Hungers, die ebenso wie Genießen und Begehren aufeinander abgestimmt sind und sich wechselseitig aufladen. Das Fließende Licht unterscheidet hierbei den ewigen, den heiligen und den süßen Hunger, die im Einzelnen unterschiedlich konnotiert sind. Drittens wird diese Verbindung aus Gott schmecken und Gott begehren im Kontext einer vielseitig und ambivalent eingesetzten Süße performativ ausgetragen und mit verschiedenen Bildern des Sehnens und Verlangens, zum Beispiel der Minnekrankheit oder des Jagens, zu einem pulsierenden Feld 205 Vgl. Bynum, Fragmentierung (1996); Gertsman, Performing birth (2008); Suerbaum, ›O wie gar wundirbar ist dis wibes sterke!‹ (2010).

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vernetzt. Besonders solche Stellen betonen den literarischen Rang und die kunstvolle Inszenierung des Textes, wodurch Kategorien wie Geschlecht oder Körperlichkeit vielfarbig gebrochen werden.206

Gott umarmen – Gott essen – Gott trinken – Tun mit Gott, was man will Das Fließende Licht entwickelt eine perspektivenreiche Betrachtungsweise des Abendmahls, welche das genussvolle Schmecken Gottes ebenso einschließt wie die Kritik an der gedankenlosen Praxis der Eucharistie. Im Gegensatz zu den Visioenen, die schmaler und einheitlicher angelegt sind, bietet Mechthilds buoch eine solche Fülle von Variationen, das in keinem Fall alle, sondern nur einige exemplarische berücksichtigt werden können. So schildert der Text in II, 22 die Auseinandersetzung zwischen der Schauung und der liebenden Seele, die sich um die Hierarchie zwischen Seraphim und Menschen nicht einig sind. Selbstbewusst begründet die liebende Seele die bevorzugte Stellung selbst des geringsten Menschen mit der Fähigkeit, das Abendmahl zu nehmen und sich dadurch mit Leib und Seele mit Christus, dem höchsten und edelsten Engel, zu vereinigen:207 »Den werdesten engel Jhesum Christum, der da swebet oben Seraphin, der mit sinem vatter ein ungeteilet got muos sin, den nim ich minstffl sele in den arm min und isse in und trinke in und tuon mit im, swas ich wil. Das mag den engeln niemer geschehen. Wie hohe er wonet ob mir, sin gotheit wirt mir niemer so tfflre, ich muesse ir ane underlas allffl minffl gelide vol bevinden; so mag ich niemer mere erkuolen. Was wirret mir denne, was die engel bevinden?« (S. 114f.; II, 22, 13–21)

In der Aussage, dass die Seele Gott umarmt und ihn isst und trinkt, verbinden sich nährende und erotische Aspekte der Vereinigung, die sich wechselseitig verstärken. Des Weiteren tragen die dialogische Konzeption und die Ich-Perspektive dazu bei, die Unmittelbarkeit und Direktheit des Umgangs der Seele mit Gott zu erhöhen. Die Abendmahlspraxis ist hier mit dem Genießen verknüpft, da in konkret leiblicher Handhabung performativ ausgeführt wird, was die Seele im spirituellen Sinne kostet.208 Doch unterläuft die Passage die klare Grenze zwi206 Der Aspekt der Literarizität im Verhältnis zu Weiblichkeit und Körperlichkeit kommt in Bynums exzellenten Analysen etwas zu kurz, was eine zu direkte Ein-zu-Eins-Übertragung suggerriert. Dagegen Peters (1988). 207 Vgl. hierzu Studer (2009). 208 Vgl. hierzu folgendes Dank- und Bittgebet um das letzte Abendmahl aus FL VI, 37, 20–24: Und gib mir, herre, denne din selbes lichamen, das ich dich, herre, denne muesse enpfan mit warem cristanen glovben, mit herzeklicher liebin, also das din heliger licham muesse wesen und bliben die jungeste spise mines lichammen und das ewige brot miner armen sele. Hier ist die enge Kopplung zwischen Leib und Seele evident: Die Eucharistie soll die letzte Speise des Leibes und die ewige der Seele sein.

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Implizite Semantik (2) – Performative Inszenierungen des Genießens

schen Körper und Seele (wie so oft im Fließenden Licht), da alle Glieder von Gott erfüllt sein müssen.209 Denn der Wunsch nach totaler Erfüllung mit Gott ist wesentlich für das Genießen, und daher zeigt die Aussage der Seele die völlige Inbesitznahme Gottes ohne Zurückhaltung oder Einschränkung, was durch das tuon mit im, swas ich wil zusätzlich verstärkt wird. Die Ebenbürtigkeit zwischen Gott und der Seele im Moment des genussvollen Eins-Seins wird hierdurch deutlich herausgestellt, da sich, wie bereits bei der Liebeskrankheit, Gott in die Gewalt der Seele begeben zu haben scheint.210 In III, 15 dagegen wird die gedankenlose Abendmahlspraxis der Beginen massiv kritisiert, so dass das Ich sich stattdessen schämt und ängstigt: Die vil torehtigen beginen, wie sint ir also vrevele, das ir vor fflnserm almehtigen rihter nit bibenent, wenne ir gotz lichamen so dikke mit einer blinden gewonheit nemment! Nu ich bin die minste under fflch, ich muos mich schemmen, hitzen und biben. (S. 192f.; III, 15, 31–35)

Eine häufige und bloß aus der Gewohnheit resultierende Praxis des Abendmahls wird hier eindeutig verurteilt, da die richtige Einstellung zum Abendmahl entscheidend für dessen Sinn und Wert angesehen werden. Gleichzeitig verdeutlicht die Passage den Anspruch, den das sich den Beginen zurechnende Ich für das Abendmahl aufstellt, um über eine bloße Praktik hinauszureichen. Nur wenn das Abendmahl bewusst eingenommen und über alles Andere gesetzt wird, kann es zu einer genussvollen Vereinigung mit Gott führen, wie II, 22 zeigt. In diesem Kontext spielt der Hunger, eine Chiffre für das heftige Begehren und die immense Sehnsucht nach Gott, eine bedeutende Rolle, da Hunger und Sattheit einander bedingen. Bezogen auf die Praxis des Abendmahls, sollte, wer nicht danach verlangt, es nicht einnehmen. 209 Nach Aussage der Seele kann diese, wenn Gott alle ihre Glieder mit sich durchtränkt und erfüllt, niemals mehr abkühlen. Vollmann-Profe fügt in ihrer Übersetzung ergänzend ein: »[…] so kann ich (in meiner Liebe) niemals mehr abkühlen« (FL II, 22, 22). Jedoch könnte man diese Aussage auch direkt auf den Umgang des göttlichen Partners beziehen, dessen Liebeskosen die Seele erglühen lässt. So heißt es in FL I, 44, 33f. über den göttlichen Geliebten aus dem Mund der Seele: Er kan beide krefteklichen brennen und trostlichen kuelen. Interessanterweise wird die Metaphorik des Brennens sowohl für die Hitze des Liebesgenusses als auch für die des ungestillten Verlangens verwendet, dementsprechend die des Abkühlens als lindernd oder unerwünscht empfunden. 210 Vgl. direkt im Anschluss hierzu FL II, 24, 21–24, wo der scheltende Dialog zwischen einer untreuen Seele und der Liebe geschildert wird: »Eya untrfflwe, der die sele so edel het gemachet, das si nfflt denne got essen mag, der lat noch iren lichamen nit verwfflschen.« Hier bleibt die Unterscheidung zwischen Seele und Körper gewahrt, denn während die Seele sich nur von Gott nähren kann, weil das die einzig ihr gemäße Nahrung darstellt (vgl. Mirouer), wird aber der Leib von Gott ebenfalls angemessen versorgt. Der Akzent ist darauf gelegt, dem Körper nicht eine übertriebene Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen und darüber die Sorge um die Seele zu vernachlässigen, daher findet wohl kein übergreifendes Eins-Werden im Genuss von Körper und Seele, Gott und Mensch im Abendmahl statt.

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Hungern nach Gott – Das unmäßig ›sapphische‹211 Begehren Der Hunger wird im Fließenden Licht sowohl als ein Zeichen der Verdammnis als auch der Heiligkeit gesehen. In jedem Fall aber ist er als Äußerung eines schrankenlosen und verzehrenden Begehrens zu begreifen, das in folgender Passage den ganzen Menschen erfasst und ihn in seiner Gewalt geradezu in Einzelteile auflöst: »wenne min ovgen trurent ellendekliche und min munt swiget einvalteklich und min zunge ist mit jamer gebunden und min sinne mich vragent von stunden ze stunde, was mir sie, so ist es mir, herre, alles nach dir. Wenne min fleisch mir entvallet, min bluot vertrukent, min gebein kellet, min adern krimpfent und min herze smilzet nach diner minne und min sele brimmet mit eines hungerigen loewen stimme, wie mir denne si und wa du denne bist, vil lieber, das sage mir.« (S. 130–132; II, 25, 33–10)

Hier schildert das Gott liebende Ich ein übergreifendes, den Menschen in seiner Gesamtheit einbeziehendes und absorbierendes Begehren, das sich in körperlichen Krämpfen, Schmerzen, Stockungen und in einem schmilzenden Herzen 211 Vgl. hierzu folgende sapphische Ode, die genau diese Kombination aus physischem Ausdruck eines psychischen Begehrens in allen Einzelheiten vornimmt, welches den ganzen Menschen erfasst: Scheinen will mir, er komme gleich den Göttern, / jener Mann, der dir gegenüber nieder- / sitzen darf und nahe den süßen Stimmen- / zauber vernehmen / und des Lachens lockenden Reiz. Das lässt mein / Herz im Innern mutlos zusammen kauern. / Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme / stirbt, eh sie laut ward, / ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal / läuft Fieber unter der Haut entlang, und / meine Augen weigern die Sicht, es über- / rauscht meine Ohren, / mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben / alle Glieder, fahler als trockne Gräser / bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein / Aussehn… Entnommen aus: Sappho (1978), S. 17f. Das Begehren äußert sich in Lähmung, Blendung, Hitzewallungen, Todesblässe, so dass der Körper zum bloßen Dolmetscher für das brennende Verlangen wird. Diese Begierde wirkt dermaßen absorbierend, dass es den seiner Leidenschaft hingegebenen Menschen für alle anderen Sinneswahrnehmungen unzugänglich macht. Die Ähnlichkeit der hierfür eingesetzten literarischen Technik ist m. E. frappierend, da der Körper zur Chiffre der Seele oder des Herzens wird, die gleichwohl deutlich miteingebunden werden. Zwar liegt ein Unterschied in dem situativen Kontext, in welchem die Geliebte angesehen werden kann, dennoch bleibt sie für das sehnende Ich gleichermaßen fern und unzugänglich.

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äußert.212 Kein Teil des Menschen bleibt unberührt, sondern jedes Detail verstärkt den Eindruck der umfassenden Wirkung des Verlangens. Metaphorisch codiert wird das Begehren durch die Verbindung aus Löwe und Hunger, das den Hunger durch das Element des Raubtierhaften ins Unermessliche steigert und parallel dazu die Stimme der Seele zum unmenschlichen Gebrüll macht. Eigentlich wird das Bild bevorzugt für Satan verwendet, der einem Bibelzitat zufolge umhergeht wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge (1. Petr. 5, 8f.); hier aber wird es im Gegenteil dafür eingesetzt, um die brennende Gier und das unstillbare Verlangen der Seele nach Gott zu bezeichnen.213 Durch das wiederholte Fragen der Seele nach dem eigenen Zustand und dem Aufenthaltsort des geliebten göttlichen Partners inszeniert der Text performativ den Selbstverlust in ihrer Orientierungslosigkeit (FL II, 25, 8–10). Denn wo der göttliche Partner fehlt, fehlt gleichfalls das Selbst, was besonders stark die Verschmelzung der beiden anzeigt. Eine diametral entgegengesetzte Profilierung nimmt folgende Passage vor, welche für die Unersättlichkeit durch irdische Dinge den ewigen Hunger in Aussicht stellt. Doch zählt die Erkenntnis im Gegenzug drei Punkte auf, die tatsächlich sättigen sollen, paradoxerweise ist einer davon der so genannte heilige Hunger : Also tuot fflnser lieber herre und sprichet alsust: »Der nit guotes an im hat, der kumt niemer in min riche; und der nit kan vol werden vergenglicher dingen, der sol gesattet werden mit dem ewigen hunger […].« Hie zuo antwfflrt dffl helige bekantnisse, das fflns got gegeben hat drierleige gabe an der waren wisheit, da wir fflns mitte soellen satten und allen fflnsern schaden bewaren. […] Ich sach mit waren ovgen miner ewekeit in suesser wunne sunder arbeit einen stein, der was gelich einem gefuegen berge und was von im selber gewahsen und hatte an sich geformieret allerleien varwe und smakkete vil suesse von edelen himmelschen wurzen. Do vragete ich den vil suessen stein, wer er were. Do sprach er alsust: »Ego sum Jhesus.« Do kam ich minneklich von mir selber und leinte min hovbet an in. […] Uf dem steine stuont dffl allerschoenste juncfrovwe […]. Ire fuesse sint gezieret mit einem steine heisset jaspis; der stein hat so grosse kraft, das er vertribet die boesen gitekeit von den fuessen ir gerunge. Er git ovch reinen smak und reisset den heiligen hunger. […] Dirre edelstein das ist cristan gelovbe. (S. 238–240; IV, 3, 1–3; 5–12; 15; 17–20; 21)

Die Textpassage unterscheidet zwischen zwei Arten von Hunger, dem ewigen Hunger der Verdammnis und dem heiligen Hunger des christlichen Glaubens. Während die Gier nach weltlichen Dingen die leere Sättigung des ewigen Hun212 Vgl. Vis. VII, 1–20. 213 Das Fließende Licht zeichnet sich im Allgemeinen durch eine flexible Umpolungsfähigkeit aus, so dass Bilder wie Hunger oder Kühle, aber auch Begriffe wie gebruchen erst durch das Hinzufügen einschlägiger Adjektive ihre positive oder negative Konnotation erhalten.

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gerns nach sich zieht, erfüllt der christliche Glaube die Seele mit einem reinen Geschmack und schenkt ihr jenen heiligen Hunger, der zu einer noch größeren Sättigung führt. Christus selbst wird mit (Wohl-)Geschmack und Süße verbunden, denn der Stein, der ihn darstellt, sieht nicht nur schön und vielfarbig aus, sondern schmeckt sogar süß nach himmlischen Kräutern. Die Bedeutung des Hungerns im Fließenden Licht ist demnach vielschichtig, denn wie die Sättigung kann es sowohl mit der edlen als auch mit der sündhaften Form verbunden werden. Im Vergleich zu II, 25 aber wird die metaphorische Unmittelbarkeit dezidiert allegorisch gebrochen, so dass der zuvor entkoppelte Hunger, der Seele, Körper, Geist und Sinne gleichermaßen in Mitleidenschaft zog, nun gleichsam gezähmt und wohlgeordnet im Gewand des christlichen Glaubens erscheint. Ein solches Verfahren dämpft die Radikalität eines Hungerns und Begehrens, die sich in II, 25 scheinbar völlig unverhüllt äußert und nichts von dem Menschen unbeteiligt und unbeeinflusst lässt. Obwohl im Fließenden Licht Allegorie und Metapher häufig in einer Mischform auftreten, wobei eines das andere affiziert, unterscheiden sie sich im graduellen Ausmaß ihrer Auswirkungen. Denn ebenso wie es kaum mehr einholbare Metaphern gibt, existieren parallel solche, besonders im Allegorie-Verbund, welche sich selbst wieder zurücknehmen und entschärfen. Doch ist diese Technik noch einem anderen Umstand, nämlich dem des Entbildens der Bilder, zuzuschreiben. Denn jedes Bild trägt seine Bildlosigkeit in sich eingeprägt und muss diese im Textverlauf mit austragen. Gott begehren – Gott schmecken – Um Gott leiden – Ambivalente Süße In den folgenden Passagen treten verschiedene bisher einzeln behandelte Aspekte in wechselseitiger Verdichtung auf, was besonders der Bildlichkeit eine starke Unmittelbarkeit verleiht. So äußert sich das Begehren wie in II, 22 im Jagen des pochenden Herzens, während die Seele in den Genuss der Salbe kommen will, die im Kontext der Liebeskrankheit bereits verwendet wurde: »Nu, eb alle die personen sprechen koenden, wolten und rieffen ane underlas untz an den jungesten tag, werlich herre, das weistu wol, si moehtin dir nit halp gekfflndigen die meinunge miner gerunge und die not miner quelunge und das jagen mines herzen und das ufruken miner sele nach dem smake diner salben und dem ungescheidenen anhangen ane underlas.« (S. 398f.; V, 31, 13–19)

Das Begehren richtet sich hier in all seiner quälenden Stärke auf den smake der göttlichen Salben und das ununterbrochenen Eins-Sein mit ihm. Doch enthält das Bild der Salbe nicht nur olfaktorische, sondern auch taktile Komponenten, welche der durch ihr Verlangen leidenden Seele wohltuende Wirkung erweisen kann. Der Text inszeniert wie in II, 25 über weite Strecken die Unsagbarkeit

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seines Begehrens; dort ist die Zunge gefesselt, der Mund schweigt, doch kommunizieren alle Teile des Körpers und der Seele wie perfekte Dolmetscher das Verlangen, was im Text durch emphatisch anschwellenden Aufzählungen illustriert wird, wenn alle Kreaturen auf Himmel und Erden, alles Belebte und Unbelebte, alles Heilige und Verworfene nicht einmal die Hälfte ihres Begehrens kund tun können. Die Textstelle zeigt nicht nur eindrücklich die dynamisierende Bedeutung des Begehrens für das Genießen, sondern vor allem seine Verschmelzung mit dem Fühlen und Riechen im smake, die sich mit Bildern des Jagens und Salbens vermischen. In der folgenden Passage wird das Schmecken mit der Süße Gottes verbunden, die auf den Leib übergreift und den ganzen Menschen durchdringt. Ausdrücke intimster körperlicher Nähe wie sugen knüpfen an die wechselseitigen Saugbeziehungen an, die während des Zirkulierens von sättigenden und nährenden Blut- und Milchströmen ausgetauscht wurden.214 Dadurch beginnt der Leib der Seele selbst nach Gott zu duften und zu schmecken, als seien die beiden nun wirklich ein Fleisch. Im Gegenzug aber muss sich die Seele in Acht nehmen vor aller Verführbarkeit durch die irdische Süße: Da verlfflret dffl sele alle ir schulde und allen iren jamer, und so beginnet er si ze lerende allen sinen willen, so beginnet si ze smekende sine suessekeit. Und so beginnet er si ze gruessende mit siner gotheit, das die kraft der heligen drivaltekeit ir sele und iren lip alles durgat, und da enpfat si die waren wisheit. Und so beginnet er si ze trffltende, das si krank wirt, so beginnet si ze sugende, das er minnesiech wirt. Und so beginnet er die masse ze temperende, wan er ir masse bas bekennet denne sie selber. So beginnet si ze gerende grosser trfflwe im ze leistende, und so beginnet er ir die volle bekantnisse ze gebende. Und so beginnet si denne vroeliche ze smekende an irme vleisch dur sine liebi, und so beginnet er alle gabe ze bestetgende mit heliger vuelunge in ir sele. Wil si sich denne hueten vor der unedelen liebin irs vleisches und vor der girigen suessekeit aller irdenischer dingen, so mag si vollekomenlich minnen und got manig lob an allen dingen gewinnen. (S. 428f.; VI, 1, 16–32)

Was in der gesamten Textpassage frappiert, ist die Verdichtung aus physischen und psychischen Komponenten, welche eine Sinnlichkeit aufscheinen lassen, die sich nicht mit dem Status bloßer Sinnlichkeit begnügt, sondern zugleich auf eine edlere Form der Sinnlichkeit Anspruch erhebt. So weist die Stelle nicht nur eine Verflechtung aus Lehre/Erkenntnis und Schmecken/Geschmack von Süße auf, sondern zeigt zugleich deren Übergreifen auf Körper und Seele, welche Gottes Süße in ihrer Gesamtheit erfahren und selbst wieder duftend ausstrahlen. Durch Anaphern (so beginnet) werden alle Sätze miteinander verbunden und scheinen eine notwendige Abfolge zu bezeichnen, die an zahlreiche Ausschnitte aus den ersten Büchern anschließt: Die Seele wird gegrüßt, durch das Liebkosen Gottes 214 Vgl. Bildhauer (2006), S. 38–90 und bes. S. 124f.

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geschwächt, dann setzt er das richtige Maß für sie fest und schenkt ihr schließlich Erkenntnis. Der Leib duftet und schmeckt nach Gott,215 der die Empfindung in der Seele befestigt und den Menschen durch das Schmecken und Liebkosen Gottes in seiner Gesamtheit adelt und heiligt.216 In der Passage aus dem siebten Buch erstreckt sich die Süße nicht nur auf das Begehren, sondern auch auf den Hunger. Die Seele nennt die sieben Aspekte des liebenden Verlangens und beschreibt den siebten, der sich im Himmel vollzieht, folgendermaßen: Die vroeliche angesiht vol aller wollust und die helige gebruchunge nach wunsche, die sint manigvalt ane zal und geschen iemer erlich und gezogen, wand si swebent us von dem lebendigen gotte. Die fflbersuesse gerunge, wunnenklich, hungerig, minnenvoll, die vlfflsset iemer me in die selen fflberswenkig von gotte. Nochdenne behaltet die selen iren suessen hunger und lebet ane kumber. (VII, 45, 31–4)

Das Verlangen wird nun ebenso wie der Hunger als etwas überaus Süßes dargestellt, da Genuss und Befriedigung sich im Himmel harmonisch mit dem Begehren verbinden und ihm daher jeglichen Schmerz nehmen. Dennoch bilden der Hunger oder das Verlangen eine Qualität für sich, die daher zwar gesüßt, aber nicht aufgehoben wird, nicht einmal im Angesicht Gottes, das Lust, Genuss und Wonne spendet. Diese Stelle zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit die untrennbare Verbindung von Genuss und Begehren, die nun in eins zusammenfallen und verschiedentlich in ein dynamisches und diffiziles Verhältnis zueinander treten, das sich sowohl in Süße wie auch in Bitterkeit zeigt, Lust ebenso wie Leid einschließt, Körper und Seele überschreitet und wodurch nicht nur der Mensch, sondern vor allem die Sprache bis an die äußersten Grenzen getrieben wird.217

215 Da vorher von trffltende die Rede ist, halte ich eine Verbindung von Wohlgeschmack und Duft für plausibel. 216 Als Gegensatz hierzu wird die weltliche Süße (nach Augustin perversa suavitas) dargestellt, welche das Schmecken der göttlichen Süße verhindert (vgl. FL VI, 2, 18: gebruchen der goetlichen suessekeit). 217 Die Ambivalenz der Süße, die zugleich auch bitter schmeckt, wie sich in FL VI, 1, 16–32 zeigt, stellt analogische Bezugspunkte zu den Offenbarungen der Elsbeth von Oye her. Besonders dicht sind diese bei folgender Stelle, die eine enge Verbindung zum Genießen stiften, wie es in FL IV, 12 im Zustand der gotzvroemedunge und dem bereitwilligen Entbehren der Süße entfaltet wird. Dennoch bleibt diese Süße paradoxerweise im Prozess des Entbehrens als Süße bewahrt: Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suessor trinke (FL IV, 12, 30f.). Nun heißt es in den Offenbarungen: ›Min brinnender herze lust, den ich alle zit habe an dem pinlichen ser dis krfflzes, sol dir suezze machen din piterkeit‹ (Offb. X, 42f.). Die göttliche Freude soll den bitteren Schmerz süß machen, d. h., auch hier fallen zwei eigentlich diametral entgegengesetzte Oppositionen zusammen, indem sie transgressiv ineinander übergehen.

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Zusammenfassung Die Bezüge zwischen Genießen und Schmecken Gottes sind besonders dicht und werden im Verlauf der ganzen Untersuchung in allen Teilen immer wieder eingeblendet, bevor sie im Abschlusskapitel gebündelt werden. Das Schmecken Gottes verwischt die Grenzen zwischen Süßem und Saurem, Hunger und Sättigung und zeigt hierdurch Begehren und Genießen in konkreter, körpergebundener Bildlichkeit. Diese Bildlichkeit entfaltet verstärkt performative Dimensionen, indem Einzelbilder ganze Bildfelder ergeben, welche den Text durchziehen, und an die Praxis des Abendmahls anschließen. Indem das Schmecken Gottes mit der Erkenntnis verbunden wird, hebt der Text die Grenze zwischen dem durch Verstand oder Gefühl vermittelten Wissen ebenso auf wie zwischen Körper und Seele oder vielleicht zwischen Ich und Publikum, da beide in der Wahrnehmung des Schmeckens verschmelzen. Mangel und Verlust sind ebenso integriert wie Erfüllung und Befriedigung, ohne dass die Texte sich dauerhauft auf eines festlegen. Die Texte inszenieren diese Paradoxien und Beziehungen spannungsreich und unterschiedlich; so erzeugen die Verdichtung von Wissen und Sättigung, von Frieden und Kosten oder die Versüßungen auf der vierten Stufe im Mirouer eine besonders dichte Schicht eines versinnlichten Genießens, das Erfahren und Verstehen an Genuss und Nahrung koppelt. In Relation zu den spärlichen expliziten Bezeichnungen des Genießens gewinnen diese im Überfluss vorhandenen impliziten Formen der Semantisierung zusätzliches Gewicht, da der Text im deutlichen Gegensatz zu den anderen beiden neben seiner spröden Oberfläche offenbar über eine schillernde Innenseite verfügt, die hierdurch sichtbar wird. In den Visioenen dagegen ist die Verbindung aus Schmecken und Erkennen im Genuss Gottes von Anfang an klar ausgeprägt und wird im Textverlauf zunehmend entfaltet, bis sie in der dreizehnten Vision in der Durchsäuerung des Süßen und der Zurückweisung der Liebe einen Höhepunkt erreicht. Ebenso ist die Einnahme des Abendmahls, welche die einzelnen Visionen oder sogar die Einheit im Genuss einleitet, von der ersten Vision an präsent. Für das Fließende Licht stellt das Abendmahl gleichfalls eine Möglichkeit dar, den Genuss Gottes mit nährenden und erotischen Signalen aufzuladen und diesen Genuss paradoxerweise durch das Bild des Hungers zu steigern. Die Süße spielt eine ambivalente Rolle, da sie sowohl in den ersten Büchern als Zeichen einer intensiven Gottesbegegnung im Genuss als auch in den letzten Büchern als Mittel einer Abgrenzung zwischen richtigem und falschem Genuss eingesetzt wird. Trotz deutlicher Unterschiede in Inszenierung und Komposition zeigen alle drei Texte eine starke Verbindung von Genuss und Geschmack, Genuss und Nahrung, Genuss und Süße, die das Genießen nicht nur spezifisch versinnlichen, sondern sogar zunehmend verinnerlichen, da eine größere Nähe als durch

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Einverleibung schlichtweg nicht möglich ist. Im Akt des Kostens, Schmeckens oder Verzehrens verschmelzen Gott und Mensch ineinander, so dass sich hier wieder der Selbstverlust im Genuss zeigt. Die von Fischer-Lichte übernommenen Kategorien »Räumlichkeit«, »Zeitlichkeit« und vor allem »Körperlichkeit«, aus denen ihr zufolge »Materialität« (einer »Aufführung«) entsteht, haben sich somit für die Texte der Frauenmystik als inspirierend und produktiv erwiesen. Dabei war die Impulsgebung für die Analyse zentral, da von einem konsequenten ›Aufkleben‹ theoretischer Ansätze bei den vielschichtigen und widersprüchlichen, immer auf Entziehen oder Gleiten-Lassen von Bedeutung angelegten Texten der Frauenmystik wenig erwartet wurde. Von entscheidender Wichtigkeit war hierbei die Dimension der Körperlichkeit, die sich in den Texten als weitverzweigte Bildfelder von Sättigung/Nahrung und in Form von (für die Seele) ›begehbaren‹ Landschaften Ausdruck verschaffte. Die Verortung der Texte in solchen mystischen Landschaften, die als Versinnbildlichung von Gottes Wesen zugleich Berg und Abgrund sein konnten, hat sich mit einem Verständnis von Zeit/Ewigkeit verbunden, das als dauernd und transitorisch, ewig und vergänglich zugleich inszeniert wurde und durch die Anbindung an die Ewigkeit paradoxe Überlagerung und simulatane Momente produzierte. Aufgrund ihrer hohen performativen Aufladung konnten die Texten somit für entsprechend disponierte Rezipienten Regieanweisungen freisetzen, um den Genuss Gottes durch die Landschaften ›erkundbar‹, durch die Sättigungsmetaphorik ›schmeckbar‹ und durch die Zeitlichkeit ›erfahrbar‹ werden zu lassen. Das Paradoxe einer solchen Semantik des Genießens besteht ja im Grunde darin, diese an Texten zu entwickeln, die sich beharrlich jeder Festschreibung entziehen und dadurch ›schwimmende‹ Bedeutungen generieren, die in Verbindung mit ihren literarischen und performativen Inszenierungen weitaus mehr sind als bloße ›Bedeutungen‹.

Schluss

»Versuchen Sie, einem Gott zu begegnen. Sie erkennen ihn an der unaufhörlichen Leere seiner nehmenden Hände. An seinem unaufhörlichen Hunger nach Gaben. Nach glühender Hingabe.«1 (Marina Zwetajewa – Paris, 26. Nov. 1938)

Diese Arbeit hatte zum Ziel aufzuzeigen, dass eine »Metaphysik des Genießens«, welche Genuss als »völlige Selbstaufgabe, als ein Aufgehen im Objekt, ein SichVerlieren« begreift, keineswegs, wie im ÄGB postuliert, erst im 17. Jahrhundert zu suchen – und zu finden – ist. Bereits im 13. Jahrhundert wurden in einzigartigen Texten Formen, Metaphern, Scripts und damit im erweiterten Sinne Semantiken entfaltet und vorgeprägt. Maßloses Begehren, Schmerz als Lust, Abgrund der Leidenschaft, dunkle Strudel des Genießens, geschmeckte Erkenntnis, Fall und Sturz, Taumel und Schwindel, Rausch und Verzweiflung, Geheimnisvolle Unsagbarkeit, Süßes und Bitteres, Krank-Sein vor Liebe, ja, sogar wahnsinnig vor Verlangen … Damit haben diese Texte einen solch kühnen und reichhaltigen Fundus geschaffen, dass beispielsweise nicht nur die säkularisierte Liebessemantik des Goetheschen Werthers oder die Briefe der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa, sondern auch der fragmentierte Liebesdiskurs eines Theoretikers wie Barthes oder die Performances einer Künstlerin wie Marina Abramovic´ darauf, bewusst oder unbewusst, Bezug nehmen. Werther treibt den genussvollen Selbstverlust in seiner hoffnungslosen Leidenschaft über ein säkularisiertes Abendmahl bis zum Liebestod, den er als freiwilliges Opfer für Lotte verstanden haben will. Zwetajewa erhebt in ihrem Briefwerk die Maßlosigkeit zum einzig gültigen Maß, beschwört eine Freundin, statt eines schnell zufrieden zu stellenden Menschens einen unendlich Gaben verlangenden Gott zu lieben. Einen Gott, den seine Leere ebenso auszeichnet wie sein Hunger. Barthes wiederum greift Goethes Werther und Ruysbroeks Mystik wieder auf, um den rauschhaften Selbstverlust des Liebenden an sein Gegenüber darzustellen. Abramovic´ vollzieht eine Passionsperformance in »Lips of Tho1 Zwetajewa (1993), S. 474.

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Schluss

mas«, die über Honiggenuss und Geißelungen bis zu einer Kreuzigung reicht. Selbst in dem aktuellen Hype in der Trivialliteratur, nämlich in »50 Shades of Grey«, lassen sich in den durch die Peitsche des Millionärs erzeugten multiplen Orgasmen derartige Semantiken aufspüren: Wenngleich in diesem Fall bis zum Äußersten verkitscht und vereinfacht. Alle diese Beispiele zeigen, so unterschiedlich sie vom Niveau und Reflexionsgrad sein mögen, eines: nämlich, dass der in den Texten der Frauenmystik entfaltete Bedeutungskosmos des Genießens nach wie vor in unserer Kultur aktiv existent ist. Die Semantiken des Genießens führen im zwanzigsten Jahrhundert offenbar ein reges, vielfältiges und schillerndes Leben. Kraft ihrer aisthetischen Bezüge und performativen Energien sind sie in der Lage, flexibel, dynamisch und plastisch in den verschiedensten Horizonten zu zirkulieren. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass sich in unserer Übersteigerung und in der hitzigen Betonung des Genießens vielleicht auch eine ganz andere Lücke abzeichnet: Denn im Gegensatz zur säkularisierten, pluralistischen, polyvalenten Moderne schafft eine Freilegung des Gottesgenusses aus den Texten etwas genuin Neues: Rückhaltloses Aufgehen und Einschmelzen im göttlichen Anderen können sowohl Verlust und Ferne als auch Alltag und Pflicht in einer Bewegung der fortgesetzten Transgression miteinschließen. Die moderne Sehnsucht nach dem Selbstverlust könnte demzufolge auch den Wunsch ausdrücken, genau diese Grenzen in einer weit kühneren Konzeption des Genießens mit zu überschreiten.2

2 Vgl. hierzu auch Han (2013), bes. S. 15–25. Er kritisiert aber am Beispiel von »50 Shades of Grey«, dass in der heutigen Gesellschaft selbst Schmerz als konsumierbarer Genuss verstanden werde. Vor dem Hintergrund der hier erarbeiteten Semantiken aber wirkt das zu simplifizierend.

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