Spielarten der Selbsterfindung: Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling 9783110251234, 9783110251302

The title ‛Varieties of Self-Invention’ denotes a project to reconstruct Romanticism as a philosophical epoch. That is w

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German Pages 248 Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Einleitung: Philosophische Spielarten romantischer Selbsterfindung
1. Die Romantik als modernes Projekt menschlicher Selbsterfindung
2. Zwischen infiniter Ironie und Ernst. Zur Duplizität des romantischen Denkstils
3. Die rhetorische Kunst des Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling
II. Fichtes ernstes Spiel der Selbsterfindung
1. Absolute Selbstsetzung. Die transzendentalphilosophische Spielart der Selbsterfindung
1.1 Die Ironie an der ›Spitze‹ der frühen Grundsatzphilosophie
1.2 Krise und glaubensphilosophische Wendung um 1800
1.3 Die neue religiöse Spielart spätromantischer Selbsterfindung
2. ›Deutscher Ernst‹. Die popularphilosophische Erfindung der deutschen Nation
2.1 Philosophische Reden an der ›Spitze der Weltgestaltung‹
2.2 Die triadische Topik von Ernst, Deutschheit und Protestantismus
2.3 Der rhetorische Kunstcharakter des ›deutschen Ernstes‹
III. F. Schlegels philosophische Figur der infiniten Ironie
1. ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹. Die frühromantische Infinitisierung der Ironie
1.1 Die philosophische Ironie als ›freieste aller Lizenzen‹
1.2 Liberalität, Urbanität und Pluralismus der Persönlichkeit
1.3 Die Gefahr des Umschlags grenzenloser Ironie in absoluten Ernst
2. Lucinde. Die frühromantische Neuerfindung der Liebe
2.1 Infinite Ironie als moderne Grundfigur autoinvenienter Subjektivität
2.3 ›Karneval der Lust und Liebe‹. Wechselseitige sexuelle Selbsterfindung
2.4 Liebe, Religion und universelle Synekdoche
3. Die Depotenzierung der Ironie in der spätromantischen Geschichtsphilosophie
3.1 ›Das tote Absolute‹. Die Kritik an der zeitgenössischen Systemphilosophie
3.2 Weltgeschichte und göttliches Wort-Prinzip
3.3 ›Liebevolle Ironie‹. Die narrative Rhetorik philosophischer Historiographie
IV. Die Ironie als geheime Grundfigur der Philosophie Schellings
1. ›Transzendentale Kunst‹. Die philosophische Freiheit vom System
1.1 Wider die ›eitle Demonstiersucht‹. Die rhetorische Rettung philosophischer Freiheit
1.2 Die narrative Inszenierung der transzendentalen Vorgeschichte des Ich
1.3 ›Document der Philosophie‹. Die Kunst als öffentliche Beglaubigung
1.4 Schellings spätromantischer Abschied vom Systemdenken
2. Das Helldunkel in Schellings Kunst des Philosophierens
2.1 ›Göttliche Imagination‹. Das Prinzip der produktiven Einbildungskraft
2.2 Wissenschaftliches Genie und philosophisches Künstlertum
2.3 Die philosophische Licht-Finsternis-Metapher der Freiheitsschrift
2.4 Die Magie des Hell-Dunkel in der Philosophie der Kunst
3. Tragische Ironie. Das philosophische Drama der menschlichen Freiheit
3.1 ›Der umgekehrte Gott‹. Die tragische Perversion des Bösen
3.2 Tragische Selbstverkennung und enthusiastische Selbstzerstörung
3.3 Die glückliche Rückkehr zur universellen Vernunft
3.4 Das gefährliche Spiel der freien Selbsterfindung
4. Göttliche Ironie. Das Universum als Selbstinszenierung absoluter Freiheit
4.1 Göttliche Verstellungskunst. Die spekulative Ironia-divina-Theologie
4.2 ›Frei von allem System‹. Asystasie als Darstellungsform göttlicher Weisheit
4.3 ›Durch alles durchgehen‹. Die infinite Alterität absoluter Selbsterfindung
4.4 Spekulative Philosophie als ›offener Punkt‹ der ewigen Freiheit
5. Diabolische Ironie. Die anthropogenetische Satanalogie
5.1 Die Allgegenwärtigkeit des satanischen Prinzips
5.2 Die ›trügerische Magie‹ der Versuchung
5.3 Diabolische Ironie als ›primum movens aller Geschichte‹
V. Spielarten romantischer Transformationsrhetorik
1. Die rhetorische Kunst philosophischer Psychagogie
1.1 Das Vorbild der Platonischen ›Seelenführung durch Rede‹
1.2 Fichtes popularphilosophische Rückeroberung der politischen Öffentlichkeit
1.3 Innere Unterredungskunst. Schellings ›eigentliches philosophisches Geheimnis‹
2. Reden wider den Tod als dem drohenden Ende aller Selbsterfindung
2.1 Kritik der substanzmetaphysischen Thanatologie
2.2 Fichtes Unendlichkeit jenseitiger Geisterwelten
2.3 Schellings Tod als Potenzierung der menschlichen Persönlichkeit
2.4 Hegels tröstliche Totalaufhebung des Individuums
3. Mesmerismus und Rhetorik bei Schopenhauer
3.1 Rhetorik als Technik der Vernunft
3.2 Sympathie als kommunikatives Agens der Redekunst
3.3 Die ›Magie‹ des animalischen Magnetismus
3.4 Das spätromantische Ende der philosophischen Ironie
Siglen
Literaturverzeichnis
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Spielarten der Selbsterfindung: Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling
 9783110251234, 9783110251302

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 139

Peter L. Oesterreich

Spielarten der Selbsterfindung Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025123-4 e-ISBN 978-3-11-025130-2 ISSN 0083-4564

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen fGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

I. Einleitung: Philosophische Spielarten romantischer Selbsterfindung . .

1

1. Die Romantik als modernes Projekt menschlicher Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwischen infiniter Ironie und Ernst. Zur Duplizität des romantischen Denkstils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die rhetorische Kunst des Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Fichtes ernstes Spiel der Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Absolute Selbstsetzung. Die transzendentalphilosophische Spielart der Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Ironie an der ›Spitze‹ der frühen Grundsatzphilosophie . 1.2 Krise und glaubensphilosophische Wendung um 1800 . . . . . . 1.3 Die neue religiöse Spielart spätromantischer Selbsterfindung

15 19 22 28

2. ›Deutscher Ernst‹. Die popularphilosophische Erfindung der deutschen Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Philosophische Reden an der ›Spitze der Weltgestaltung‹ . . . 2.2 Die triadische Topik von Ernst, Deutschheit und Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der rhetorische Kunstcharakter des ›deutschen Ernstes‹ . . .

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V

III. F. Schlegels philosophische Figur der infiniten Ironie . . . 1. ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹. Die frühromantische Infinitisierung der Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die philosophische Ironie als ›freieste aller Lizenzen‹ . . . . . . . 1.2 Liberalität, Urbanität und Pluralismus der Persönlichkeit . . 1.3 Die Gefahr des Umschlags grenzenloser Ironie in absoluten Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lucinde. Die frühromantische Neuerfindung der Liebe . . . . . . . . . . 2.1 Infinite Ironie als moderne Grundfigur autoinvenienter Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 ›Karneval der Lust und Liebe‹. Wechselseitige sexuelle Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Liebe, Religion und universelle Synekdoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Depotenzierung der Ironie in der spätromantischen Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 ›Das tote Absolute‹. Die Kritik an der zeitgenössischen Systemphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Weltgeschichte und göttliches Wort-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 ›Liebevolle Ironie‹. Die narrative Rhetorik philosophischer Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV. Die Ironie als geheime Grundfigur der Philosophie Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ›Transzendentale Kunst‹. Die philosophische Freiheit vom System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wider die ›eitle Demonstiersucht‹. Die rhetorische Rettung philosophischer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die narrative Inszenierung der transzendentalen Vorgeschichte des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 ›Document der Philosophie‹. Die Kunst als öffentliche Beglaubigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Schellings spätromantischer Abschied vom Systemdenken .

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70 71 73 77

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84 85 87 97 99

2. Das Helldunkel in Schellings Kunst des Philosophierens . . . . . . . . . 2.1 ›Göttliche Imagination‹. Das Prinzip der produktiven Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wissenschaftliches Genie und philosophisches Künstlertum 2.3 Die philosophische Licht-Finsternis-Metapher der Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Magie des Hell-Dunkel in der Philosophie der Kunst . . . . 3. Tragische Ironie. Das philosophische Drama der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 ›Der umgekehrte Gott‹. Die tragische Perversion des Bösen 3.2 Tragische Selbstverkennung und enthusiastische Selbstzerstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die glückliche Rückkehr zur universellen Vernunft . . . . . . . . . 3.4 Das gefährliche Spiel der freien Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . 4. Göttliche Ironie. Das Universum als Selbstinszenierung absoluter Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Göttliche Verstellungskunst. Die spekulative Ironiadivina-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 ›Frei von allem System‹. Asystasie als Darstellungsform göttlicher Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 ›Durch alles durchgehen‹. Die infinite Alterität absoluter Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Spekulative Philosophie als ›offener Punkt‹ der ewigen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Diabolische Ironie. Die anthropogenetische Satanalogie . . . . . . . . . 5.1 Die Allgegenwärtigkeit des satanischen Prinzips . . . . . . . . . . . . 5.2 Die ›trügerische Magie‹ der Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Diabolische Ironie als ›primum movens aller Geschichte‹ . . .

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V. Spielarten romantischer Transformationsrhetorik . . . . . . . . . .

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1. Die rhetorische Kunst philosophischer Psychagogie . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Vorbild der Platonischen ›Seelenführung durch Rede‹ . 1.2 Fichtes popularphilosophische Rückeroberung der politischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Innere Unterredungskunst. Schellings ›eigentliches philosophisches Geheimnis‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reden wider den Tod als dem drohenden Ende aller Selbsterfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kritik der substanzmetaphysischen Thanatologie . . . . . . . . . . . 2.2 Fichtes Unendlichkeit jenseitiger Geisterwelten . . . . . . . . . . . . . 2.3 Schellings Tod als Potenzierung der menschlichen Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Hegels tröstliche Totalaufhebung des Individuums . . . . . . . . .

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3. Mesmerismus und Rhetorik bei Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rhetorik als Technik der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sympathie als kommunikatives Agens der Redekunst . . . . . . . 3.3 Die ›Magie‹ des animalischen Magnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Das spätromantische Ende der philosophischen Ironie . . . . .

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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII

Vorwort

Die vorliegende Studie zur philosophischen Romantik versucht ein bisher wenig besiedeltes Grenzland zwischen Fachphilosophie, Literaturwissenschaft und Rhetorik zu erschließen. Sie steht einerseits in der Kontinuität meiner bisher veröffentlichten Arbeiten zur rhetorischen Metakritik und Rekonstruktion der Philosophie Fichtes und Schellings. Auf der anderen Seite bricht sie mit der von mir früher selbst gebrauchten Epochenbezeichnung ›Deutscher Idealismus‹, die mir in den letzten Jahren zunehmend fragwürdig geworden ist und von der ich mich hiermit ausdrücklich verabschiede. Fichte und Schelling in der neuen Konfiguration mit F. Schlegel als Protagonisten romantischen Philosophierens zu deuten, mag sicherlich ein Stein des Anstoßes für manche traditionsbewusste Fachkollegen bedeuten. Dennoch bietet dieser Neuansatz in meinen Augen eine alternative Perspektive, die sie als Autoren einer ›philosophischen Romantik‹ zur Geltung kommen lässt, deren außerordentliche literarische Produktivität eben keine starren Fächergrenzen kennt. Die Thematisierung der ›Kunst des romantischen Philosophierens‹ bei Fichte, F. Schlegel und Schelling, die auch den literarischen Kunstcharakter ihrer Texte hervorhebt, verfolgt ganz bewusst die Perspektive einer durch das Organon der Rhetorik vermittelten Annäherung von Fachphilosophie und Literaturwissenschaften. So ist ein Beitrag zur philosophischen Literaturgeschichte der Romantik entstanden, von dem beide Disziplinen profitieren könnten. Die Fachphilosophie könnte einen neuen Blick auf die Vielfalt der literarischen und systematischen Formen des romantischen Denkens, insbesondere der philosophischen Spätromantik gewinnen, die bisher durch das eindimensionale Bild des so genannten ›Deutschen Idealismus‹ als reines Systemdenken weitgehend verstellt war. Dabei hoffe ich, dass vor allem die Entdeckung der Figur der Ironie im systematischen Zentrum der romantischen Philosophen die fachphilosophische Diskussion anregen wird. Umgekehrt erweitert die Integration von vermeintlichen ›Systemdenkern‹ wie Fichte und Schelling in die romantische Literaturgeschichte diese um ein philosophisches Kapitel. Dabei verspreche ich mir, dass auch das tropologische Modell des romantischen Denkstils, der IX

sich durch die Duplizität von infiniter Ironie und totalisierender Synekdoche definieren lässt, auch die literaturgeschichtliche Suche nach der ›Einheit der Romantik‹ neu beleben wird. Schließlich sei nicht verschwiegen, dass der vorliegenden Studie nicht nur ein historisches Interesse an einem weiteren Kapitel philosophischer Literaturgeschichte zugrunde liegt. Im Hintergrund steht auch die Überzeugung des Interpreten, dass sich in der Romantik als einer zweifellos vergangenen Epoche auch eine allgemein menschliche Geisteshaltung und ein Ethos widerspiegelt, das auf die bis heute andauernde anthropologische Grundsituation moderner Subjektivität einige exemplarische Antworten gibt. Den aufmerksamen Lesern wird es nicht entgehen, dass meine Deutung der philosophischen Romantik von der Generalthese ausgeht, dass das fundamentale Selbsterfindungsproblem moderner Subjektivität ein hermeneutischer Schlüssel ist, um die verwirrend vielfältigen Spielarten der philosophischen Früh- und Spätromantik zu verstehen. So führt uns das romantische Denken Fichtes, F. Schlegels und Schellings einige paradigmatische Varianten moderner Selbsterfindung vor Augen in Auseinandersetzung mit großen anthropologischen Topoi wie Freiheit, dem Bösen, der Liebe, Gott, Tod, Teufel und Unsterblichkeit. Judith Oesterreich danke ich für viele Anregungen bei der Redaktion des Manuskriptes und Andrea Siebert für die Erstellung der Druckfassung. Georgensgmünd im August 2010

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Peter L. Oesterreich

I. Einleitung: Philosophische Spielarten romantischer Selbsterfindung

»Immer bemüht den wandelbaren Proteus des eignen Selbst zu fassen, kann unser ohne (andern) Leitfaden sinnendes und suchendes Ich, oft über diese innern Räthsel des Daseyns in (ein seltsames) Erstaunen gerathen …«1

Das Unternehmen, Fichte, F. Schlegel und Schelling gemeinsam als Autoren einer ›philosophischen Romantik‹ zu deuten, verlässt sicherlich die üblichen Konstellationen von Fachphilosophie und Literaturwissenschaft. Denn diese ungewöhnliche Trias ›Fichte – Schlegel – Schelling‹ liegt einerseits quer zu den üblichen fachphilosophischen Autoren-Konstellationen, die zwar Fichte und Schelling neben Hegel zu den Protagonisten des so genannten ›Deutschen Idealismus‹ zählen, dagegen F. Schlegel der ›philosophischen Frühromantik‹2 zuordnen. Umgekehrt werden in den Literaturwissenschaften F. Schlegel neben Hölderlin und Novalis als Autoren der literarischen Frühromantik geschätzt, nicht aber Fichte und Schelling, die dem Deutschen Idealismus zugerechnet werden. Mit dem Titel ›Deutscher Idealismus‹ beschritt die fachphilosophische Geschichtsschreibung einen im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert zwar erfolgreichen, aber heute zunehmend fragwürdigen philosophischen Sonderweg. Demzufolge werden Autoren wie Fichte, Schelling und Hegel zu Hauptvertretern einer sehr ernstgetragenen Systemphilosophie gemacht und damit aus dem Gesamtkontext der Romantik ausgegrenzt, wohl nicht zuletzt, um sie gegen die romantische Ironie zu immunisieren. Vielleicht aus einer gewissen Verlegenheit, die sich heute mit der problematischen Epochenbezeichnung ›Deutscher Idealismus‹ verbindet, reagiert auch der 1

2

Friedrich Schlegel: Philosophie des Lebens. In fünfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1827 und Philosophische Vorlesungen insbesondere über Philosophie der Sprache und des Wortes. Geschrieben und vorgetragen zu Dresden im Dezember 1828 und in den ersten Tagen des Januars 1829, KA 10,351. Vgl. Manfred Frank: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a. M. 1997.

1

neuerdings in Gebrauch gekommene Titel ›Klassische deutsche Philosophie‹.3 Aber auch er erweist sich als wenig hilfreich, weil er dazu neigt, die Philosophie Kants, Fichtes, Schellings und Hegels gleichsam in einer deutschen Klassikergruft zu beerdigen. Zudem erweckt dieser Titel die Vorstellung eines ›deutschen philosophischen Klassizismus‹, die sich vor dem Hintergrund des Oppositionstopos ›Klassik versus Romantik‹ ebenfalls als eine romantikrepugnante fachphilosophische Epochenkonstruktion erweist. Ein gemeinsames romantikrepugnantes Band verbindet somit die ältere Epochenbezeichnung ›Deutscher Idealismus‹ mit der neueren ›Klassischen deutschen Philosophie‹. Dabei liegt ein wichtiges Motiv dieser gemeinsamen Romantikrepugnanz vermutlich in dem ambivalenten und ironiehaltigen Charakter der romantischen Bewegung selbst begründet, die sich mit dem gängigen Bild einer mit absolutem Ernst vorgetragenen systematischen Fundamentalphilosophie unvereinbar erweist. Diesen problematischen Sonderweg einer philosophiegeschichtlichen Konstruktion des ›Deutschen Idealismus‹ als romantik- und ironieabweisendes Paradigma versuchen die vorliegenden exemplarischen Studien zur Kunst des romantischen Philosophierens zu verlassen. Sie beabsichtigen, gerade Autoren wie Fichte und Schelling, die bisher als ›Meisterdenker‹ des ›Deutschen Idealismus‹ galten, zusammen mit F. Schlegel im interdisziplinären Gesamtkontext der romantischen Bewegung neu zu entdecken. Den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser neuen Lesart romantischen Philosophierens bildet die rhetorische Wendung (rhetorical turn) der Gegenwartsphilosophie, die insbesondere den Kunstcharakter der philosophischen Literatur ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt hat.4 Von daher werden die Texte von Fichte, Schlegel und Schelling nicht allein begriffsgeschichtlich more logico, sondern more rhetorico zu deuten sein, um ein erweitertes Spektrum ihrer Analyse gewinnen zu können, das, über die Eindimensionalität der logischen Begriffsanalyse hinausgehend, auch den figuralen Kunstcharakter ihres Philosophierens entdecken lässt. Diese Perspektive einer rhetorischen Metakritik und Rekonstruktion der Philosophie, in der sich res und verbum, Begriff und 3

4

2

Zu den zahlreichen Einwänden gegen den Terminus ›Deutscher Idealismus‹ aus heutiger Forschungsperspektive s.: Handbuch Deutscher Idealismus. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Stuttgart/Weimar 2005, S. 2f. Aktuelle Beispiele dieser transdisziplinären Perspektive: Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik. Hg. v. Stefan Metzger / Wolfgang Rapp, Tübingen 2003; Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zu Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Hg. v. Brady Bowman, Paderborn 2007; Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt 2007.

Figur, Philosophie und Literatur verbinden, lässt auch Fichte und Schelling zusammen mit F. Schlegel als eine neue Konstellation der Kunst des romantischen Philosophierens entdecken.5

1. Die Romantik als modernes Projekt menschlicher Selbsterfindung »Eine Schar junger Männer und Frauen stürmt erobernd über die breite, träge Masse Deutschlands.«6 Durch diese kleine Allegorie beschreibt R. Huch den Aufbruch der frühromantischen Bewegung, die in den Augen der Forschung in ein immer verästelteres und unübersichtlicheres Feld von »bestimmte(n) Konfigurationen von Texten und textproduzierenden Institutionen«7 verzweigt, sodass sich heute die Frage stellt, ob sich hinter dem Namen ›Romantik‹ überhaupt ein einheitliches Phänomen verbirgt. Ist die Romantik vielleicht nur eine Fiktion oder bestenfalls nur eine literarische Erfindung, die sich wie ein unfassbares Phantom auflöst, wenn es wissenschaftlich untersucht wird? Systematisch gesehen kann von der Romantik in einem dreifachen Sinne gesprochen werden: anthropologisch, historisch oder disziplinär. Anthropologisch gesehen bestimmt sich ›das Romantische‹ als eine Möglichkeit menschlichen Seinkönnens oder als »eine Geisteshaltung, die nicht auf eine Epoche beschränkt ist«8. Historisch gesehen ist die Romantik jene in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Kulturepoche, in der das Romantische seinen bisher geschichtlich prägnantesten und wirkungsvollsten Ausdruck gewonnen hat. Fachspezifisch gesehen wird schließlich die Romantik zum Gegenstand einzelner wissenschaftlicher Disziplinen wie der Literatur-, Kunst-, Musikwissenschaft, der Philosophie und Theologie, die sich in interdisziplinären Fachtagungen z. B. die Frage

5

6 7 8

Im vollen Bewusstsein, dass es wahrscheinlich unmöglich sein wird, das etablierte Paradigma des Deutschen Idealismus allen Ernstes durch das der Philosophischen Romantik abzulösen, sei trotzdem im Folgenden ein erster Versuch gewagt. Sein unwahrscheinliches Gelingen könnte allerdings auch eine transdisziplinäre Öffnung dieser philosophischen Epoche sowie eine Integration des ehemals ›Deutschen Idealismus‹ in den transnationalen Gesamtkontext der europäischen Romantik ermöglichen. Ricarda Huch: Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall, Tübingen 1951, S. 9. Romantik-Handbuch. Hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 36. Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Äffäre, München 2007, S. 12.

3

nach der Einheit dieses vielschichtigen historischen Phänomens ›Romantik‹ stellen. Für die Philosophie stellt sich zunächst die generelle Frage nach dem ›Wesen‹ des Romantischen. Dabei sei hier der Vorschlag gemacht, das ›Wesen‹ des Romantischen nicht essentialistisch als Substanz, sondern anthropologisch als einen bestimmten Modus menschlicher Subjektivität zu begreifen. Das Wesen der Romantik besteht demnach in einer bestimmten Art und Weise subjektiven Seinkönnens, die Novalis durch den verbalen Ausdruck ›Romantisieren‹ bezeichnet und in seinen Fragmenten und Studien aus den Jahren 1797–1798 folgendermaßen definiert: »Romantisieren ist nichts, als eine qualita(tive) Potenzierung. Das niedrige Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualit(ative) Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt.«9 Novalis stellt hier die subjekttheoretische Ursprungsintention des romantischen Projektes heraus. Das Romantische, verstanden als ›Romantisieren‹, bildet demnach ein innovatives (›noch ganz unbekannt‹) und hochreflexiv-artifizielles (›Operation‹) Experiment der Selbststeigerung (›qualitative Potenzierung‹) menschlicher Subjektivität. Aus dieser heuristischen Perspektive erklärt sich das Romantische in seinen vielfältigen Spielarten als experimentelle Suchbewegung der Selbsterfindung und Selbststeigerung moderner Subjektivität. Historisch gesehen stellt die Romantik einen modernen Kulminationspunkt des neuzeitlichen Projektes menschlicher Selbsterfindung dar. Schon der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola verleiht diesem anthropologischen Autoinvenzprojekt eine prominente Stimme, wenn er in seiner programmatischen Rede Über die Würde des Menschen (De dignitate hominis) Gott-Vater den soeben geschaffenen Menschen folgendermaßen anreden lässt: »Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.«10 Seit der Renaissance setzt sich zunehmend das Bewusstsein durch, dass der Mensch von unbestimmter Natur und Beschaffenheit sei. Die Definition seines eigenen Wesens wird ihm nicht mehr von Gott vorgegeben, sondern eigens aufgegeben. Dieser Aufgabe entspringt das zentrale anthropoietische Projekt der Neuzeit: die Selbsterfindung des Menschen. Als homo inveniens wird 9 10

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Novalis Werke. Hg. v. Gerhard Schulz, München 21981, S. 384/385. Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, übers. v. Norbert Baumgarten u. hg. v. Anton Buck, Hamburg 1990, S. 7.

der Mensch zum Erfinder nicht nur seiner äußeren Kulturwelt, sondern auch seines eigenen, inneren Selbst. Dieser Prozess der inneren Selbstschöpfung rückt auch ins thematische Zentrum der neuzeitlichen Philosophie und bestimmt ausgehend von der Erfindung moderner Subjektivität in den Meditationen des Descartes ihre Geschichte, die in der Kunst des romantischen Philosophierens kulminiert und sich bis in die jüngste Gegenwart hinein fortsetzt. Diese allgemeine, subjekttheoretische Charakterisierung erklärt allerdings noch nicht, warum sich das Romantische gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Kreis der Jenaer Frühromantik als eigenständige Epoche zu formieren beginnt. Ein vielzitiertes Athenaeum-Fragment aus dem Jahre 1798 gibt aus der Innenschau der frühromantischen Bewegung folgende vorläufige Antwort auf die Frage nach ihren eigenen historischen Entstehungsbedingungen: »Die Französische Revolution, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.«11 Alle drei genannten Zeittendenzen potenzieren und infinitisieren die von der Aufklärung begonnene Freisetzung moderner Subjektivität, welche die historische Voraussetzung für die literarisch-ästhetischen Selbsterfindungsexperimente der Romantiker bildet. Die Französische Revolution von 1789 führt mit einem Schlag die Chance eines radikalen, realgeschichtlichen Neuanfangs vor Augen, bewirkt vor allem durch die Macht öffentlicher Rede. Goethes Bildungsroman Wilhelm Meister bahnt den Weg zur literarischen und ästhetischen Transformation des ursprünglich politischen Impulses. Schließlich startet Fichtes frühe Wissenschaftslehre, die Kants transzendentalphilosophische ›Revolution der Denkungsart‹ von 1781 radikalisiert, die frühromantische Bewegung mit ihren zahlreichen literarischen und philosophischen Selbst-Experimenten. Die innere Dynamik dieser romantischen Selbsterfindungsprozesse kann durch zwei Charakteristika näher bestimmt werden: erstens durch ihre deviative Alterität und zweitens durch ihre innere Duplizität. In seiner deviativen Bewegung versucht das romantisierende Selbst, sich dezidiert in der Abweichung von der Normalität zu potenzieren und neu zu erfinden. Aus diesem deviativen Charakter, der das Potential selbstschöpferischer Subjektivität offensiv zur Geltung bringt, erklärt sich einerseits die innovative Produktivität romantischer Subjektivität, aber andererseits auch ihre mögliche Selbstgefährdung durch phantastische Selbstverirrung und lebensfremde, irreale Gedankenspiele. 11

Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. I, Berlin 1798, Reprograph. Nachdr. Darmstadt 1983, S. 232.

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Die Frühromantik versteht sich nicht als ein Glied in der Kontinuität der Geschichte, sondern ganz bewusst als deviativer Neuanfang im radikal kritischen Gegenüber zur gewöhnlichen Lebenswelt. Sie sieht sich als die Avantgarde einer »ganz neue(n) Epoche der Wissenschaften und Künste«12, durch die – wie F. Schlegel betont – »die Ironie an die Tagesordnung gekommen«13 ist. Aus der Innenschau ihrer literarischen Selbstkonstruktion entspringt die romantische Bewegung zunächst aus dem Ungenügen an einer bürgerlichen Normalität, deren rationalisierte Alltagswelt als unkreativ, kunst- und philosophiefeindlich empfunden wird. Sie wendet sich vehement gegen die so genannte ›gemeine Denkart‹, die sie für das beklagte prosaische Leben – fernab von sinnstiftender Kunst, Dichtung und Philosophie – verantwortlich macht. Ihr im Athenäum verkündeter Imperativ, der auf eine vollständige Negation des in romantischer Sicht ebenso unpoetischen wie areflexiven Dahinlebens zielt, lautet: »Einen gemeinen Standpunkt, eine nur im Gegensatz der Kunst und Bildung natürliche Denkart, ein bloßes Leben soll es gar nicht geben.«14 Die Romantik gehört somit zu den paradoxalen Bewegungen der Geistesgeschichte, die gerade nicht – wie z. B. die antike Sophistik, der neuzeitliche Empirismus oder die moderne analytische Philosophie – an die Endoxa oder den common sense des normalen Lebens anknüpfen. Im Gegenteil sucht die romantische Subjektivitätsphilosophie das als repressiv und unschöpferisch empfundene Diesseits der Normalität zugunsten einer alternativen Welt einer neuen »Symphilosophie und Sympoesie«15 zu negieren, um im Zuge dieser deviativen Transgression die Totalität menschlicher Daseinsmöglichkeiten zur freien und vollen Entfaltung kommen zu lassen. Gegen die das autoinveniente Subjekt hemmende Ideologie einer ausweglosen Natürlichkeit des Normalen wendet sich die romantische Kritik: »Was man gewöhnlich Vernunft nennt, ist nur eine Gattung derselben; nämlich die dünne und wäßrige.«16 Das romantische Gegenkonzept einer »dicke(n) feurige(n) Vernunft«17 bleibt allerdings von Anfang an durch eine innere Duplizität bestimmt.

12 13 14 15 16 17

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Schlegel: KA 2,185. Schlegel: KA 2,368. Schlegel: KA 2,261. Schlegel: KA 2,185. Schlegel: KA 2,159. Ebd.

2. Zwischen infiniter Ironie und Ernst. Zur Duplizität des romantischen Denkstils Jene innere Duplizität des romantischen Denkstils entspringt dem typischen Antagonismus infinit freigesetzter moderner Subjektivität, die zwischen dem Bedürfnis nach radikaler individueller Freiheit einerseits und dem Verlangen nach Wiedervereinigung mit dem Ursprünglichen und Absoluten anderseits hin und her pendelt. Die Einheit des Romantischen besteht damit in der Duplizität dieser Dynamik. Dies erklärt sowohl die Wandlungsfähigkeit als auch die Instabilität der romantischen Selbsterfindungsprojekte, die zwischen ironischer Distanzierung und synekdochischer Identifizierung, libertärer Selbstsetzung und mystischer Selbstvernichtung, System und Asystasie, Revolution und Restauration oszillieren.18 Ausgehend von dieser Duplizität des romantischen Denkstils kann sowohl das gängige Vorurteil von der antimodernen, rückwärtsgewandten und identitätsverliebten Romantik als auch das Gegenbild von der progressiven und identitätsauflösenden Modernität der ›romantischen Ironie‹ korrigiert werden. Demnach lässt sich hinter dem scheinbar verwirrend vielfältigen und widersprüchlichen Phänomen der Romantik zwar ein Wesen entdecken, aber eben kein einfaches, sondern ein in sich ambivalentes, welches sich aus der Duplizität zweier entgegengesetzter Tendenzen erklärt. In Hinsicht auf ihre negative Identität als deviativer, kulturrevolutionärer Protestbewegung gegen die bürgerliche Normalität zeigt das Romantikphänomen zwar noch ein einheitliches Profil, aber auf ihren eigenen, alternativen Denkstil befragt, scheidet sich schon der frühromantische Geist tropologisch gesehen in zwei entgegengesetzte Richtungen. Die eine Haupttendenz des romantischen Denkens wird stilistisch durch die Figur der infiniten Ironie präfiguriert, ihre Gegentendenz dagegen durch die Figur der universellen Synekdoche. So vertritt F. Schlegel in seinen Athenäum-Fragmenten das Programm eines durch infinite Ironie präfigurierten Prozesses individueller Befreiung und Selbstpotenzierung, der zu einen identitätsrepugnanten »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«19 führt. Die typische 18

19

Zur These der Duplizität des romantischen Denkstils vgl. meinen Beitrag »Zwischen infiniter Ironie und Neuer Mythologie. Zur Tropologie des romantischen Denkstils«. In: Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne. Hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2002, S. 97–107. Schlegel: KA 2,172.

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Darstellungsform des infinit ironischen Denkens ist die Asystasie des Fragmentes. Den statischen Modellen personaler Identität setzt die infinite Ironie des frühen Schlegel hier das dynamische Ideal eines unabschließbaren Selbsterfindungsprozesses entgegen, dessen permanenter Rhythmus von Selbstkonstruktion und Selbstdestruktion jede endgültige Fixierung negiert. Positiv formuliert projektiert diese ironische Dynamisierung eine neue Freiheit unbegrenzter Alterität, die dazu tendiert, möglichst alle Spielarten menschlichen Seinkönnens in sich zu verwirklichen: »Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade.«20 Davon zu unterscheiden sind die identitätszentrierten Formen romantischen Philosophierens, deren systematischer Ernst zunächst jede Spur von Ironie von sich abweist. Sie beruhen auf einem integrativen Denkstil, der durch den gedankenstilistischen Tropus der Synekdoche präfiguriert wird.21 Die Synekdoche ist die ›Meistertrope‹ der organologischen Totalitätsbildung, in der die Teile das Ganze repräsentieren und umgekehrt sich das Ganze in seinen Teilen widerspiegelt. Die synekdochische Synthesis führt somit zur Darstellung eines in sich geschlossenen und trotz aller inneren Differenzen insgesamt harmonischen Universums. Die typischen Darstellungsformen synekdochischen Denkens sind das mit fundamentalphilosophischem Ernst gesetzte begriffssprachliche System, wie z. B. die frühe Grundsatzphilosophie Fichtes, oder auch der Versuch einer narrativsymbolsprachlichen Potenzierung der Systemphilosophie, wie sie z. B. Schellings mythoaffines ›Erzählsystem‹ der Weltalter unternimmt. Insgesamt gesehen erweist sich damit der romantische Denkstil tropologisch durch die Duplizität von infiniter Ironie und universeller Synekdoche bestimmt. Aufgrund dieser konstitutiven Bipolarität lässt sich der Pol identitätsauflösender Ironie nie ganz getrennt sehen von dem der totalitätserzeugenden Synekdoche und umgekehrt. So gewinnt z. B. die infinite Ironie der frühromantischen Philosophie F. Schlegels auch einen mythoaffinen Charakter, wenn sie, »gleich dem Epos ein Spiegel der gan20 21

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Schlegel: KA 2,154. Vgl. die an Vico anschließende Tropologie K. Burkes, die unter den vier master tropes der Synekdoche das Prinzip der Repräsentation zuordnet (vgl. Kenneth Burke: »Four Master Tropes«. In: A Grammar of Motives, New York 1955, S. 503–517). Auf ihre integrative und organologische Darstellungsfunktion weist ferner Hayden Withe hin: »Synecdoche is integrative in the way that Organicism is« (Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1975, S. 36).

zen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters«22 werden will. Umkehrt behält auch das Projekt der neuen Mythologie einen ironisch-reflektierten Zug, wenn gefordert wird, dass sie das »künstlichste aller Kunstwerke«23 sein solle. Insgesamt lässt sich das romantische Philosophieren somit als eine Epoche verstehen, in der das neuzeitliche Selbsterfindungsprojekt auf moderne Weise kulminiert und deren deviativer und duplizitärer Denkstil sich zwischen infiniter Ironie und synekdochischer Ernstsetzung bewegt. Ein wichtiges Motiv für die bisherige Romantikrepugnanz der Rezeptionsgeschichte, die sich, wie gesagt, in den problematischen Epochenbezeichnungen ›Deutscher Idealismus‹ oder ›Klassische deutsche Philosophie‹ manifestiert, liegt in diesem ambivalenten und ironiehaltigen Charakter des romantischen Philosophierens begründet, das sich mit dem gängigen Bild einer mit absolutem Ernst vorgetragenen systematischen Fundamentalphilosophie als unvereinbar erweist. Der Preis dieser einseitigen Rezeption ist allerdings eine selektive Wahrnehmung der romantischen Philosophen, welche die Ironie- und Rhetorikhaltigkeit ihrer Texte übersah und sich vor allem auf die systemphilosophischen Figuren synekdochisch totalisierender Ernstsetzung konzentrierte.

3. Die rhetorische Kunst des Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling Wie erklärt sich nunmehr diese tropologisch beschreibbare strukturelle Duplizität des romantischen Denkstils? Aus philosophiegenetischer Perspektive lässt sich ein Grund in dem philosophiegeschichtlich neuen und modernen redereflexiven Niveau der romantischen Philosophen finden. Die Modernität ihres Philosophierens besteht nicht zuletzt darin, dass sie in ausgezeichneter Weise die rhetorische und figurale Genese ihres Wissens, die Darstellungsformen ihres Philosophierens, die Performanz ihrer philosophischen Rede sowie ihrer eigenen philosophischen Subjektivität reflektieren.24 Kurz gesagt besteht das Proprium der philosophischen Romantik als jener ›ganz neuen Epoche‹, in welcher nach Schlegel ›die Ironie an die Tagesordnung gekommen ist‹, in einem neuen Niveau meta22 23 24

Schlegel: KA 2,182. Schlegel: KA 1,312. Vgl. meine Vorstudien zu Fichte und Schelling in: »Das gelehrte Absolute. Rhetorik und Metaphysik bei Kant, Fichte und Schelling«, Darmstadt 1997, S. 62– 192.

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philosophischer Reflexion auf die eigene Rhetorizität ihrer philosophischen Rede. Dass diese These von der Rede- und Rhetorikreflexivität des romantischen Philosophierens keine interpretative Fremdperspektive an Fichte, F. Schlegel und Schelling heranträgt, sondern im Gegenteil eine ihren Texten bereits immanente, rede- und rhetorikreflexive Tendenz herausstellt, soll im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden. Dabei wird sich herausstellen, dass ihrem Philosophieren kein naives, sondern vielmehr ein ›sentimentalisches‹ und reflektiertes Verhältnis zu seiner eigenen philosophischen Rede innewohnt. Zugleich entdecken die romantischen Philosophen die akademische Vorlesung, die popularphilosophische Rede und die literarische Veröffentlichung als neue Aufführungsorte für ihre philosophischen Selbsterfindungsprojekte moderner Subjektivität, in denen sich die öffentlich vorgeführte Selbstüberzeugung (Autopersuasion) mit der publikumsbezogenen Überzeugung (Heteropersuasion) verschränkt. Indem sie derart die philosophische Selbsterfindung des modernen Subjektes vor den Augen ihres (Leser-)Publikums inszenieren, erzeugen sie durch die Kunst des Philosophierens ein verallgemeinerungsfähiges figuratives Wissen, dessen rhetorische Evidenz sie zugleich durch ihre eigene Person performativ bezeugen.25 Dieser rhetorische Kunstcharakter romantischen Philosophierens bildet ferner keine dem philosophischen Selbsterfindungsprojekt bloß äußerlich bleibende künstliche Form oder ein ästhetisches l’art pour l’art, sondern vielmehr die genuine Art und Weise, in der sich die öffentliche Selbstvergewisserung der modernen philosophischen Subjektivität vollziehen muss, um jeweils vor den Augen ihres Publikums ein öffentlich glaubwürdiges und verallgemeinerungsfähiges Wissen von sich Selbst erzeugen zu können. Die neue redereflexive Perspikuität, in der die rhetorische Genese des philosophischen Wissens durchschaut wird, erweist sich allerdings von vorneherein als zwiespältig: Während sie einerseits die experimentelle Vielfalt von neuen Kunstformen des Philosophierens hervortreibt, weckt sie zugleich auf der anderen Seite auch das Bewusstsein für die unumgängliche artifizielle Produziertheit der Evidenz ihres Wissens. Das hohe redereflexive Niveau ihrer philosophischen Kunst, das ihre Produktivität potenziert, steigert im gleichen Maße auch das kritische Bewusstsein gegenüber ihren eigenen Produkten. Indem die romantischen Philosophen die rhetorischen Produktionsbedingungen ihres eigenen Philosophierens 25

10

Vgl. »Intellektuelle Anschauung. Figuration von Evidenz zwischen Kunst und Wissen. Hg. v. Sibylle Peters / Martin Jörg Schäfer, Bielefeld 2006.

durchschauen, wird ihnen – anthropologisch gesprochen – die ›natürliche Künstlichkeit‹26 desselben deutlich und zum Problem. Infolgedessen sieht sich die romantische Kunst des Philosophierens zunehmend mit dem ihr selbst innewohnenden Grundproblem der rhetorischen Selbst-Differenz zwischen dem Anspruch auf unmittelbare Selbstpräsenz des Subjektes einerseits und seiner durch philosophische Rede vermittelten rhetorischen Evidenz andererseits. Im Lichte der redereflexiven Einsicht in diese rhetorische Differenz erweist sich jede vermeintlich unmittelbare Selbstevidenz des Subjektes in Wahrheit als redevermittelt. Diese neue Perspikuität der rhetorischen Produktionsbedingungen des philosophischen Wissens von sich selbst konfrontiert das moderne redereflexive Subjekt daher mit der desillusionierenden Einsicht in das ›Gemachtsein‹, die Künstlichkeit und damit auch die Kontingenz philosophischer Selbsterkenntnis. Die reflexive Vergegenwärtigung der rhetorischen Genese seiner philosophischen Selbstdarstellung birgt somit jeweils schon den Keim der Erkenntnis der Selbstunerreichbarkeit einer von ihm eigentlich angestrebten unmittelbaren Authentizität in sich. Der durch diese rhetorische Selbst-Differenz hervorgerufene autoinventive Antagonismus zwischen dem ernsthaften produktiven Streben des philosophierenden Ich nach unbedingter Selbstpräsenz einerseits und der reflexiven ironiehaltigen Einsicht in die redevermittelte Bedingtheit jeder seiner philosophischen Selbst-Darstellungen andererseits, bildet das eigentliche Agens des romantischen Philosophierens. Von daher erklärt sich auch der in der tropologischen Charakterisierung bereits angesprochene ambivalente Doppelcharakter der philosophischen Romantik, deren Selbsterfindungsprojekte sich zwischen den Extremen von identifizierendem Ernst und distanzierender Ironie bewegen. Auf hochreflexivem Kunstniveau spiegelt die philosophische Literatur der Romantiker das unaufhörliche kreative Widerspiel von totalisierender Ernstsetzung und ironischer Selbstdistanzierung wider, welches sich aufgrund der rhetorischen Selbst-Differenz, welche der philosophischen Subjektivität innewohnt, immer erneut entfacht. Die Tatsache, dass die rhetorische Evidenz zudem an die jeweilige Performanz des Redehandelns gebunden bleibt und somit keine absolute, sondern zeitlich bedingte – an den Kairos ihrer gelungenen Erstaufführung und Erstveröffentlichung geknüpfte – kontingente Evidenz darstellt, er26

Zum anthropologischen Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit des Menschen s.: Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 31975, S. 309ff.

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klärt den iterativen und zugleich deviativen Charakter der romantischen Selbsterfindungsliteratur. Der Tendenz des zeitlichen Verblassens der rhetorischen Evidenz muss – gemäß dem rhetorischen Deviationsprinzip – durch die Energie eines unaufhörlichen Anders- und Neusagens entgegengewirkt werden. Einmal befreit von dem teleologischen Interpretationskorsett einer vermeintlichen ›Systemvollendung des Deutschen Idealismus‹ eröffnet sich von daher die Perspektive, auch Philosophen wie Fichte und Schelling einmal anders zu lesen und neu zu interpretieren. Demnach können ihre Texte als ein offener Werklauf gedeutet werden, in dem sich die Ereignisfolge jeweils innovativer und alteritärer Selbsterfindung romantischen Philosophierens literarisch widerspiegelt. Im Zentrum der bisherigen philosophischen Romantik-Forschung stand vor allem die Konstellation der philosophischen Frühromantik vor und um 1800.27 Dagegen wollen die folgenden Studien zu Fichte, Schlegel und Schelling gerade auch die in Form und Inhalt deutlich veränderten Projekte philosophischer Selbsterfindung nach 1800 in den Blick nehmen, die der Einfachheit halber unter dem Titel der ›philosophischen Spätromantik‹ subsumiert werden können. So verschiebt sich Fichtes ›veränderte Lehre‹ nach ihrer glaubensphilosophischen Wendung um 1800 von der transzendental-kritischen Ich-Philosophie seiner frühen Wissenschaftslehre zu einer neuen Philosophie des absoluten Sein und Lebens, welche die allgemeine Zuwendung der Spätromantik zu thematischen Topoi wie ›Religion‹ und ›Nation‹ philosophisch mitvollzieht.28 Auch F. Schlegel vollzieht eine Konversion von seiner liberalen und kosmopolitisch angelegten frühromantischen Philosophie, die in der Lucinde die freie Liebe propagiert, zu einer von typischen spätromantischen Themen ›Christentum‹ und ›Geschichte‹ bestimmten Spätphilosophie des Lebens und des Wortes, in der die ›infinite Ironie‹ sich zur ›liebevollen Ironie‹ abschwächt. Schließlich kehrt sich auch der mittlere und späte Schelling zunehmend thematischen Topoi der so genannten ›Schwarzen Romantik‹29 zu, wie dem ›dunklen Grund‹, dem Bösen, dem Tod, der ›Geisterwelt‹ und dem Diabolischen.30 27 28

29 30

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Vgl. vor allem: Frank: ›Unendliche Annäherung‹ und Ders.: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 2007. Zu Fichtes ›veränderten Lehre‹ s.: Peter L. Oesterreich / Hartmut Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftlich und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006, S. 98–167. Vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 3 1988. Vgl. ›Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde‹. Schellings Philosophie der Personalität. Hg. v. Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni, Berlin 2004.

Diese unübersehbaren Differenzen zwischen der philosophischen Frühromantik und der philosophischen Spätromantik werfen zweifellos auch in philosophiegeschichtlicher Hinsicht die Frage nach der ›Einheit der Romantik‹31 auf. Dem zunächst naheliegenden Eindruck einer Unvereinbarkeit des frühromantischen und spätromantischen Philosophierens möchten die folgenden Studien mit der Interpretationshypothese entgegentreten, dass die beiden Epochen philosophischer Romantik nicht durch einen unüberbrückbaren Hiatus getrennt sind, sondern dass beide lediglich als unterschiedliche Versionen desselben romantischen Spiels philosophischer Selbsterfindung zu begreifen sind. Die philosophische Spätromantik stellt demnach keinen Bruch oder reaktionären Abfall von der frühromantischen Freiheit der Selbsterfindung dar, sondern lediglich eine andere Spielart derselben. Die frühen Autoinvenienz-Projekte Fichtes, F. Schlegels und Schellings finden auch in der spätromantischen Philosophie jeweils ihre modifizierte Fortsetzung. Die Wendung der philosophischen Frühromantik zur Spätromantik lässt sich somit nicht als eine qualitative Differenz, sondern in der Sprache Schellings lediglich als ›quantitative Differenz‹ oder einen anderen Modus der Selbsterfindung philosophischer Subjektivität beschreiben. In tropologischer Hinsicht stellt sich diese spätromantische Wendung bei Fichte, Schlegel und Schelling jeweils anders dar. So bleibt Fichte bei aller religiöser und patriotischer ›Neukontextualisierung‹32 unter den dreien derjenige Philosoph, bei dem vor und nach 1800 weiterhin – trotz der thematischen und subjekttheoretischen Abwandlung seiner ›veränderten Lehre‹ – der Stil der synekdochischen Ernstsetzung dominiert. Dagegen lässt sich am Beispiel F. Schlegels nach 1800 ein deutlicher Vorzeichenwechsel in der romantischen Duplizität von infiniter Ironie und synekdochischer Ernstsetzung erkennen. Die infinite Ironie seines frühromantischen Denkens weicht zunehmend dem synekdochischen Ernst seiner späten christlichen Geschichtsphilosophie, in der die ›liebevolle‹ Ironie nur noch eine rezessive Rolle spielt. Ein anderes Bild bietet dagegen der mittlere und späte Schelling, bei dem die Ironie geradezu zur ›geheimen Grundfigur‹ seiner Philosophie menschlicher und göttlicher Freiheit aufsteigt. Die folgenden Detailstudien, die keinerlei systematische Vollständigkeit beanspruchen, sondern sich eher als Miniaturen exemplarischer Deu31 32

Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Hg. v. Bernd Auerochs / Dirk v. Petersdorf, Paderborn 2009. Ebd., S. 16.

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tung verstehen, laden zu einem Rundgang ein, der an drei Kurzporträts von Fichte, F. Schlegel und Schelling und einigen abschließenden konfiguralen Studien die Variantenfülle des Projektes romantischer Selbsterfindung moderner Subjektivität vor Augen führen wollen. In formaler Hinsicht wird dabei der bisher weitgehend übersehenen Rhetorizität und Ironizität der Kunst des romantischen Philosophierens eine verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Aber auch typische und deviative Topoi wie z. B. Freiheit, Liebe, Religion, Tod und Teufel, die im thematischen Mittelpunkt der transgressiven Autoinvenienz-Projekte der romantischen Philosophen stehen, werden vorgestellt.

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II. Fichtes ernstes Spiel der Selbsterfindung

Was die romantische Bewegung an der frühen Wissenschaftslehre ihres Vordenkers Fichte vor allem fasziniert, ist die schon in ihrem ersten Grundsatz deklarierte absolute Setzungsmacht des Ich. »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.«1 Dieser Satz wirkte wie ein philosophisches Fanal. Hier, in Fichtes früher Wissenschaftslehre, hatte sich die menschliche Möglichkeit der Selbsterfindung auf dem Boden radikal freigesetzter, moderner Subjektivität rein ausgesprochen. Neben dem Theater – erinnert sei an Schillers Räuber – und der Kanzel – man denke an Schleiermachers Reden über die Religion – gehört auch das akademische Katheder zu den »maßgeblichen deutschen Foren öffentlicher Rede«2. Der in Deutschland weitgehend unterdrückte politische Impuls der Französischen Revolution brach sich durch Fichte auf der akademischen Rednerbühne der Universität Jena im Wintersemester 1794/95 philosophisch transformiert Bahn in der Deklaration der ›Tathandlung‹ absoluter Subjektivität.

1. Absolute Selbstsetzung. Die transzendentalphilosophische Spielart der Selbsterfindung Dass der junge Fichte hier auch dem revolutionären Zeitgeist seiner jugendlichen Zuhörer einen philosophischen Ausdruck zu verschaffen schien, erklärt den erstaunlichen, geradezu triumphalen Anfangserfolg seiner in schwieriger transzendentalphilosophischer Begriffssprache vorgetragenen Apotheose des Ichs. Fichtes Vorlesungen zur frühen Wissenschaftslehre bewirkten schon im Hörsaal das euphorische Gefühl der Befreiung und stillten die Angst des Ich vor der deprimierenden und erdrückenden Übermacht der äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse. Der 1 2

Fichte: FW 1,72. Peter Philipp Riedel: Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen 1997, S. 4.

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Vorlesungssaal wird somit zum Aufführungsort und zur experimentellen Spielstätte philosophischer Selbsterfindung, das transzendentale Denken zur öffentlichen Performance und die Actio des Fichteschen Lehrvortrages selbst zum »Schauplatz der Inventio«3. Dabei spielt sich in der von Fichte erfundenen neuen Form des freien Lehrvortrags, in der sich Forschung und Lehre zugleich ereignen, die ars inveniendi des philosophischen Lehrers vor den Augen seines akademischen Publikums ab. Die von Fichte philosophisch in rhetorischer Evidenz demonstrierte absolute Selbstsetzungsmacht der transzendentalen Ichheit ermutigt und legitimiert auch das individuelle, empirische Ich dazu, sich und seine Welt in einer geradezu gottgleichen creatio ex nihilo neu zu erschaffen. Innerhalb seiner spektakulären Vorlesungsauftritte in Jena erfindet Fichte, getragen durch die performative Energie seiner Lehrrhetorik, nicht nur sein neues philosophisches System, sondern auch sein Ethos und Selbstbild als philosophischer Gelehrter. In seinen metaphilosophischen Einführungsvorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten stellt Fichte seinen Hörern das Idealbild derjenigen philosophischen Subjektivität vor Augen, aus der seine neue heroische Ich-Philosophie entspringt. Hierbei kennzeichnen Fichtes idealtypisches Selbstportrait die unverkennbaren Züge des auch von seinem Publikum geteilten jugendlichen Omnipotenzgefühls, revolutionären Pathos und menschheitlichen Optimismus’. Diese öffentlichen Vorlesungen über Die Bestimmung des Gelehrten, in denen Fichte sowohl seinen eigenen Philosophiebegriff als auch die für ihn charakteristische, rhetorikaffine Idee philosophischer Subjektivität entwickelt, bildet den metaphilosophischen Schlüssel für sein Gesamtwerk. Fichte vertritt hier, in seiner Metaphilosophie des Gelehrten, die er in modifizierter Form 1805 in Erlangen und 1811 in Berlin wiederholen wird, eine starke Theorie der philosophischen Subjektivität. Damit widerspricht er den heute in den Kulturwissenschaften weit verbreiteten, pessimistischen Depotenzierungstheorien, welche die individuelle Gestaltungskraft und Kreativität des einzelnen Gelehrten gering schätzen gegenüber einer vermeintlichen Übermacht von Strukturen, Systemen, Netzwerken, Konstellationen und Kontexten. Dagegen erinnert Fichte in Korrespondenz mit der Genie-Ästhetik seiner Zeit daran, dass gerade bei der Erfindung des Neuen – insbesondere in der Philosophie und den Geisteswissen-

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Sibylle Peters, »Actio, Affekt, Anschauung: die Performance des Denkens. Figuren des wissenschaftlichen Vortrags um 1800«. In: KulturPoetik 5 (2005), S. 31–50, hier: S. 37.

schaften – die Kreativität und inventive Energie der einzelnen Gelehrtenpersönlichkeit eine entscheidende Rolle spielt. Mit Fichte beginnt damit auch die heroische Epoche der Selbstbeschreibung des Philosophen als wissenschaftliches Genie. Es ist demnach die philosophische Subjektivität des Gelehrten, die in unterschiedlichen Lehrformen, Medien und Situationen die Philosophie jeweils neu erfindet, darstellt und kommuniziert. Der ermöglichende Einheitsgrund der Wissenschaftslehre in ihren unterschiedlichen Darstellungs- und Mitteilungsformen ist demnach die Persönlichkeit des Gelehrten selbst.4 Die eigentümliche Gesamtkompetenz des Gelehrten, der die Teilkompetenzen der professionellen rhetorischen Erfindung, Darstellung und Mitteilung des philosophischen Wissens umfasst, nennt Fichte ›Gelehrsamkeit‹. Als kunstfertige Fähigkeit des methodischen ›Wissenmachenkönnens‹5, sei es in mündlicher oder schriftlich fixierter Lehre, kann sie auch als ›Kunst des Philosophierens‹ definiert werden, die sich sowohl in szientifischen wie populärphilosophischen Formen des Philosophierens zu realisieren vermag. Dabei vollzieht sich diese Lehrpraxis als Prozess eines interaktiven Wissenmachens, das letzten Endes auf die freie Selbsterzeugung des Wissens im Lernenden abzielt. Insofern vollendet sich der vom Wissenschaftslehrer angestoßene Prozess des Wissenmachens im selbstständigen Sich-wissen-machen seiner Schüler. Im Unterschied zu den meisten im 20. Jahrhundert vertretenen schwachen Anthropologiekonzepten, die den Menschen als Mängelwesen beschreiben, vertritt Fichte mit seinem metaphilosophischen Konzept des gelehrten, avantgardistischen Wissenmachenkönnens eine starke, selbstschöpferische Könnensanthropologie. Fichte traut der philosophischen Subjektivität durchaus zu, auf dem Wege innovativer philosophischer Lehre maßgebliche Impulse für eine Neugestaltung der geschichtlichen Lebenswelt zu geben. Letztlich steht diese heroische Ethologie des Gelehrten in der Tradition der in der Einleitung bereits angesprochenen humanistischen Anthropologie und Freiheitslehre, die bis in die Geburtsepoche neuzeitlicher Subjektivität, die Renaissance zurückreicht. Ihr Impetus subjektiver Selbsterfindung geht bis auf die Renaissancephilosophie eines 4

5

Siehe dazu: »Die Einheit der Lehre ist der Gelehrte selbst. Zur personalen Idee der Philosophie bei Johann Gottlieb Fichte«. In: Peter L. Oesterreich / Hartmut Traub, Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006, S. 20–35. Zum von Fichte erneuerten etymologischen ›Ursinn‹ des Lehrens und Lernens als ›Wissenmachen‹ vgl. Peter L. Oesterreich / Hartmut Traub, Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006, S. 106ff.

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G. Pico della Mirandola zurück, der in seiner epochemachenden Rede De dignitate hominis die Würde des Menschen in seiner Potenz zum freien Selbstschöpfertum begründet sieht. In dieser Traditionslinie steht auch Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die den Menschen daraufhin untersucht, was er »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll«6. Dieser kontrafaktische, an manchen Stellen geradezu utopische, idealistische Energieimpuls, der nach Fichte von der Person des Gelehrten und seiner Vernunftkunst ausgehen soll, bestimmt ihn – wie Fichte sich ausdrückt – zum ›Lehrer der Menschheit‹, welcher der eingestandenermaßen unendlichen geschichtlichen Aufgabe der ›Verbesserung des Menschengeschlechtes‹ heroisch ins Auge blickt. So ruft Fichte mit dem Selbstbewusstsein des wissenschaftlichen Genies am Ende seiner Jenenser Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten seinen Hörern zu: »Lassen Sie uns froh sein über des weiten Feldes, das wir zu bearbeiten haben! Lassen Sie uns froh sein, daß wir Kraft in uns fühlen, und daß unsre Aufgabe unendlich ist.«7 Was Fichte der frühromantischen Bewegung in Jena vor 1800 paradigmatisch vorführt, ist der kontrafaktische, idealistische Versuch des Aufstandes und der radikalen Freisetzung des modernen Ich, das sich in dezidierter Opposition zur Normalität, welche die Einebnung der individuellen Seinsmöglichkeiten auf das durchschnittliche Niveau der Alltäglichkeit betreibt, erhebt. Gegen die bestehenden Verhältnisse versucht Fichtes frühe Wissenschaftslehre mit ihrem kompromisslosen Streben zur Freisetzung von Subjektivität eine ›Revolution der Denkart‹ zu inszenieren, die sich gegen die ›gemeine Denkart‹ der, wie auch F. Schlegel wenig später kritisiert, »harmonisch Platten«8 richtet. Mit seiner frühen Wissenschaftslehre führt Fichte so einen philosophischen Angriff auf die repressiven Geltungsansprüche seiner Zeit, mit ihrer bedrückenden merkantilen, utilitaristischen und philiströsen Normalität, deren de facto herrschender alltäglicher Dogmatismus jeden Versuch deviativer, freier Selbstbestimmung schon im Keim zu ersticken droht. Indem er die Freisetzung von Subjektivität – systematisch durch die Tathandlung des absoluten Ich und persönlich durch die Verkörperung seines eigenen Gelehrtenideals – in Jena lehrhaft inszeniert, vermag Fichte zwar die Herrschaft des dogmatischen Realismus in der alltäglichen Lebenswelt nicht aufzuheben. Aber es gelingt 6 7 8

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Kant: AA 7,119. Fichte: FW 2,66. Schlegel: KA 2,160.

ihm zumindest, ausgehend von der zunächst geschlossenen rhetorischen Gegenwelt des akademischen Vorlesungssaals, diesen Dogmatismus zu annihilisieren und darüber hinausgehend in den Zirkeln der Frühromantik eine Gegenkultur zu initiieren. 1.1 Die Ironie an der ›Spitze‹ der frühen Grundsatzphilosophie Fichtes frühe Vorlesungen zur Wissenschaftslehre aus dem Wintersemester 1794/95 können als urstiftendes Ereignis der romantischen Selbsterfindung moderner Subjektivität gelten. Diese Grundsatzphilosophie, die Fichte hier vordergründig mit systematischem Ernst vorträgt, birgt allerdings von Anfang an eine latente Ironie in sich, die sowohl bereits den Keim zu Schlegels alternativem Konzept infiniter Ironie als auch den geheimen Anstoß für Fichtes eigene spätere Versuche enthält, seine Lehre in immer neueren Anläufen nova methodo darzustellen. Diese den bisherigen Interpretationen der Fichteschen Grundsatzphilosophie weitgehend entgangene latente Ironie findet sich schon gleich zu Anfang, bei der Darstellung ihres ersten Grundsatzes. Wie Fichte deutlich macht, geht es an dieser Stelle zunächst um die Auffindung oder Inventio des Prinzips der gesamten Wissenschaftslehre: »Wir haben den absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absoluterster Grundsatz sein soll.«9 Dieser erste Grundsatz exponiert die selbstschöpferische Setzungsmacht des transzendentalen absoluten Ich, das dem empirischen Ich als dessen zunächst verborgenes Prinzip zugrunde liegt. »Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewußtseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grund liegt, und allein es möglich macht.«10 Die Figur des absoluten Ich und seine selbstschöpferische transzendentale Genesis in der Form der ›Tathandlung‹ besitzt demnach für das empirische Bewusstsein keineswegs per se eine unmittelbare faktische Evidenz, sondern kann nur, durch die Kunst des akademischen Lehrvortrages vermittelt, eine rhetorisch-genetische Evidenz gewinnen. Zu diesem Zwecke wählt Fichte in seiner frühen Grundsatzphilosophie die in der philosophischen Literatur geläufige Darstellungsform des Grundsatzes (propositio), welcher der Gedankenfigur der Definition (definitio) einen besonders 9 10

Fichte: FW 1,65. Ebd.

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prägnanten Ausdruck verleiht. Dieser erste und in der Fichte-Literatur oft zitierte und kontrovers diskutierte Grundsatz der frühen Wissenschaftslehre lautet bekanntlich: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.«11 Die bereits angedeutete, latente Ironie dieses ersten Grundsatzes speist sich aus dem performativen Widerspruch zwischen der Unbedingtheit seines propositionalen Gehaltes, d. h. der Tathandlung des absoluten Ich und der Bedingtheit seiner pragmatischen Form, d. h. seiner rhetorischen Setzung durch das empirische Ich des Philosophen im Hörsaal. Dieser ironiehaltige performative Widerspruch, der sich mit der rhetorischen Setzung seines ersten Grundsatzes verbindet, scheint Fichte selbst nicht verborgen geblieben zu sein. Was hätte ihn sonst zu jenem kleinen redereflexiven Kommentar zum performativen Charakter seines ersten Grundsatzes bewegt, der sich nicht auf das propositionale ›Was‹ seines Inhaltes, sondern das ›Wie‹ seines rhetorischen Gesetzseins bezieht? Fichtes Grundsatz, im unmittelbaren Kontext seines explizit redereflexiven Kommentars gelesen, lautet nämlich: »Denkt man sich die Erzählung von dieser Tathandlung an die Spitze einer Wissenschaftslehre, so müßte sie etwa folgendermaßen ausgedrückt werden: ›Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.‹«12 In diesem knappen redereflexiven Kurzkommentar gibt Fichte selbst Auskunft über den rhetorischen Kunstcharakter seiner frühen Grundsatzphilosophie. Er thematisiert hier den performativen Modus, d. h. die rhetorische Setzungsweise des ersten Grundsatzes an der ›Spitze‹ der Wissenschaftslehre. Dieser performative Modus ist nach Fichtes eigenen Worten der der ›Erzählung‹. Fichte nimmt dabei zunächst die generelle, etymologische Bedeutung auf, dergemäß ›Erzählung‹ ursprünglich schlicht ›in geordneter Folge hersagen, berichten‹ bedeutet.13 ›Die Erzählung von dieser Tathandlung‹ hat hier weder den speziellen mathematischen Sinn der Konstruktion einer Zahlenfolge noch den mythopoetischen einer Götter- und Heldengeschichte. Vielmehr meint ›Erzählung‹ hier im speziell rhetorischen Sinne die narrative Darlegung (narratio) eines Tatbestandes, welche die Grundlage einer anschließenden Argumentation (argumentatio) bildet. So gesehen weist Fichtes redereflexiver Ausdruck ›Erzählung‹ darauf hin, dass der spekulative ›Tatbestand‹ der Tathandlung des absoluten Ich nicht in der Form deduktiver oder induktiver Argumentation, sondern nur 11 12 13

20

Fichte: FW 1,72. Fichte: FW 1,72. Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. und bearbeitet v. Elmar Seebold, Berlin / New York 242002, S. 257.

narrativ eingeführt werden kann. In der deduktiven Form argumentativer Rede kann er nicht eingeführt werden, weil es sich hier um eine logisch nicht weiter ableitbare Erstsetzung eines philosophischen Prinzips handelt. Ferner erweist sich auch die induktive Form als untauglich, weil es sich um ein spekulatives Prinzip handelt, das sich als transzendentaler Ermöglichungsgrund des menschlichen Selbstbewusstseins in demselben prinzipiell nicht als empirische Tatsache auffinden und nachweisen lässt. Aus diesem Dilemma argumentativer Rede im Falle der Einführung des spekulativen Prinzips an der ›Spitze‹ der Wissenschaftslehre bietet sich für Fichte der nichtargumentative, narrative Modus der ›Erzählung von dieser Tathandlung‹ an. Dieser redereflexive Kurzkommentar Fichtes, der die unvermeidliche Narrativität seiner philosophischen Rede bei der Exposition seines ersten Grundsatzes offen anspricht, verleiht seiner ansonsten über weite Strecken ernsthaft verfassten frühen Grundsatzphilosophie eine ironische Brechung. Der persuasiv identifizierende Ernst philosophischer Rede bricht sich hier an der ironisch-distanzierenden Selbstaufdeckung ihres eigenen rhetorisch-narrativen Kunstcharakters. Zugegebenermaßen bleibt diese ironiehaltige Selbstkommentierung auf eine kurze Textstelle beschränkt. Doch steht sie an äußerst prominenter Stelle, eben der ›Systemspitze‹, und besitzt aus diesem Grund ein besonderes Gewicht für die Gesamtdeutung der frühen Grundsatzphilosophie Fichtes. In letzter Konsequenz dieser von Fichte selbst angerissenen rhetorischkritischen Perspektive erweist sich die Figur des absoluten Ich als eine narrativ exponierte spekulative Hypothese, deren Evidenz an den zeitgebundenen Prozess rhetorischer Figuration und damit an die Person des philosophischen Redners gebunden bleibt. So gesehen wird die Figur des sich unbedingt selbst setzenden transzendentalen Ich in ihrer kontingenten rhetorischen Genese und in ihrem hypothetischen Charakter durchschaubar. Die selbstironische Desillusionierung, welche sich generell mit der Entdeckung des rhetorischen Kunstcharakters des Philosophierens verbindet und die hier in Fichtes Redewendung von der ›Erzählung von dieser Tathandlung‹ anklingt, bedroht damit schon von Anfang an den ›absoluten Ernst‹ eines fundamentalphilosophischen Letztbegründungsprogramms. Damit deutet sich schon im redereflexiven Kommentar zum ersten Grundsatz eine ironische Brechung seiner frühen Grundsatzphilosophie an, die für Fichte selbst – parallel zu seinen frühromantischen Kritikern wie F. Schlegel und Novalis – den Keim ihrer zunehmenden Infragestellung und späteren Revision in sich trägt. Der redereflexive Verdacht gegen 21

sich selbst, dass die philosophische Oratorie seiner eigenen frühen Grundsatzphilosophie vielleicht nur eine – wie Fichte später formuliert – ›Oration von Nichts’ sei, bildet ein wichtiges Movens für den neuen spekulativen Realismus seiner späteren Wissenschaftslehre nach 1800 und für die Vorlesungszyklen seiner Berliner Popularphilosophie, in denen er seinen frühen transzendentalphilosophischen Ansatz revidiert und mit dem geschichtlichen Leben zu vermitteln versucht. Dabei führt zunächst der offen ausgesprochene Fiktionalitäts- und Nihilismusverdacht gegenüber seiner eigenen frühen Grundsatzphilosophie Fichte schon um 1800 zu einer bemerkenswerten glaubensphilosophischen Wendung seines Denkens. 1.2 Krise und glaubensphilosophische Wendung um 1800 Die Neuorientierung der romantischen Bewegung um 1800, infolge derer die zunächst dominierenden Tendenzen zu libertären Konzepten freigesetzter Subjektivität sich abschwächen und zugunsten von christlich-religiösen »Modellen der Integration«14 zunehmend in den Hintergrund treten, geht auch an Fichte nicht spurlos vorüber. Auch er vollzieht um die Jahrhundertwende eine Kehre von seiner frühen Ich-Philosophie zu seiner späteren Philosophie des Absoluten. Dabei wird die frühe Spielart der paradoxalen transzendentalkritischen Selbsterfindung beim späten Fichte durch den endoxalen Typus einer transzendentalen Metaphysik abgelöst, die wenigstens terminologisch wieder an die überlieferte Metaphysik und die christlich-religiösen Topoi seiner geschichtlichen Lebenswelt anknüpft. Diese Wendung von einer frühen individualistischen Philosophie der Freiheit zu einem neuen, religiösen Vereinigungsdenken, welche auf ihre Weise auch andere romantische Philosophen wie F. Schlegel und Schelling vollziehen, wird bei Fichte durch eine, auch seine berufliche Existenz infrage stellende Krise um 1800 ausgelöst. Im Rahmen des so genannten Atheismusstreites hatte Fichte seine Professur an der Universität Jena verloren und versuchte, beruflich zunächst vernichtet, sich als freier, philosophischer Schriftsteller in Berlin neu zu etablieren. In philosophischer Hinsicht sah er sich zudem durch Jacobis berühmtes Sendschreiben sowohl des öffentlichen Vorwurfs des Atheismus’ als auch des Nihilismus’ ausgesetzt.

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Dirk v. Petersdorff, Ein Knabe saß im Kahne, fuhr an die Grenzen der Romantik. Clemens Brentanos Roman »Godwi«. In: http://www.goethezeitportal.de/ db/wiss/brentano/godwi_petersdorff.pdf (21.04.2010), S. 6.

In dieser Krise des Atheismusstreites musste Fichte sich überdies selbst eingestehen, dass er als philosophischer ›Lehrer der Menschheit‹, »der einige neue Ideen in das Publikum bringen zu können glaubt«15, zunächst gescheitert sei. Seine bisherige, von der Tathandlung des absoluten Ich ausgehende Transzendentalphilosophie droht nach Fichtes Entlassung in Jena im Klima des veränderten Zeitgeistes, der sich zunehmend von der französischen Revolution abwandte, auch sein Publikum zu verlieren. Die rhetorische Differenz zwischen Fichtes früher spekulativer Transzendentalphilosophie und ihrer öffentlichen Glaubwürdigkeit schien gerade in der veränderten geschichtlichen Situation und angesichts des neuen Berliner Publikums, das zudem nicht mehr studentisch, sondern bürgerlich geprägt war, unüberwindbar. Die paradoxale Gegenstellung seiner frühen Wissenschaftslehre zu den moralischen und religiösen Grundüberzeugungen seiner geschichtlichen Lebenswelt rief nicht nur eine Krise ihrer öffentlichen Lehrbarkeit hervor, sondern konfrontierte Fichte mit zahlreichen, ihn auch persönlich gefährdenden Missverständnissen und Anklagen. Der als Jakobiner, Atheist und Nihilist verschriene Philosoph sah sich schließlich selbst »der sichtbarsten Gefahr«16 für seine bürgerliche Existenz, seine Freiheit und vielleicht sogar sein Lebens ausgesetzt. Dabei kamen Fichte auch systematische Zweifel an seiner frühen Wissenschaftslehre. So musste er seinem Kritiker Jacobi zugestehen, dass dessen Vorwurf der tendenziell nihilistischen Lebensfremdheit seiner bisherigen Ich-Philosophie keineswegs grundlos war. Seine frühe Wissenschaftslehre im Blick, musste Fichte gegenüber Jacobi sich in seinen Rückerinnerungen, Antworten, Fragen selbst eingestehen: »Leben ist ganz eigentlich Nichtphilosophiren; Philosophiren ist ganz eigentlich Nicht-Leben.«17 Damit charakterisiert Fichte selbst seine bisherige von Kant her kommende, vom absoluten Ich ausgehende kritische Transzendentalphilosophie als rein negative Disziplin, die in ihrer Gegenstellung zur Positivität des geschichtlichen Lebens dieses weder theoretisch zu begründen noch praktisch zu gestalten vermag. Diese Selbstkritik führte somit für Fichte selbst zu dem niederschmetternden Ergebnis, dass seine Mission als Gelehrter nicht nur an den widrigen äußeren Umständen, sondern auch aufgrund des lebensfremden Designs seines bisherigen transzendentalreflexiven Denkstils gescheitert war.

15 16 17

Fichte: GA 1,5,416. Fichte: GA 1,5,417. Fichte: GA 2,5,119.

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In seiner um die Jahreswende 1799/1800 erschienenen Bestimmung des Menschen hat Fichte diese Krise seines bisherigen transzendentalen Idealismus dann seinem Lesepublikum dramatisch vor Augen gestellt und durch einen neuen, Jacobi nahe stehenden, glaubensphilosophisch fundierten ›höheren‹ Realismus zu lösen versucht. Im zweiten Buch der Bestimmung, das mit dem Titel ›Wissen‹ überschrieben ist, wird das philosophierende Ich in einem sokratischen Dialog mit dem Geist der kritischen Transzendentalphilosophie, der ganz im Sinne seiner frühen Wissenschaftslehre argumentiert, zunächst von allen dogmatischen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins befreit. Der im Dialog durch den Geist personifizierte Standpunkt des transzendentalen Idealismus lässt das philosophierende Ich zunächst die befreiende Einsicht gewinnen, »daß das Bewusstsein eines Dinges außer uns absolut nichts weiter ist, als das Produkt unseres eignen Vorstellungs-Vermögens«18. Doch die durch transzendentalphilosophische Aufklärung gewonnene Freiheit vom dogmatischen Realismus des gewöhnlichen Bewusstseins erweist sich im weiteren Fortgang des Dialogs für das freigesetzte Ich als trügerisch. Dem Geist des kritischen Transzendentalismus hält es nun selbst den Nihilismus-Einwand Jacobis entgegen. »Du befreist mich, es ist wahr: du sprichst mich selbst von aller Abhängigkeit los; indem du mich selbst in Nichts, und alles um mich herum, wovon ich abhängen könnte, in Nichts verwandelst.«19 An dieser Stelle wird von Fichte – lange vor Nietzsche – paradigmatisch das Nihilismusproblem der von allen äußeren Bindungen freigesetzten modernen Subjektivität thematisiert. Die transzendentalkritische Kritik des gewöhnlichen Bewusstseins, die zunächst zur befreienden Annihilisierung der Außenweltrealität führt, macht, wie das philosophierende Ich nun bemerkt, in letzter Konsequenz auch vor ihm selbst nicht halt. Der euphorisch begonnene transzendentalphilosophische Selbsterfindungsprozess endet mit dem frustrierenden Ergebnis einer reflexiven Selbstvernichtung des philosophierenden Ich. Es erscheint am Ende auch vor sich selbst nur als bloße Vorstellung, als Fiktion ohne Seins- und Realitätsgehalt. Der Gedanke seiner eigenen Identität als einer realwirkenden Persönlichkeit stellt sich in letzter transzendentalkritischer Konsequenz als »notwendig eine bloße Erdichtung«20, als bloßes Vorstellungsbild und Phantasma dar. »Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder die vorüberschwe18 19 20

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Fichte: FW 1,294. Fichte: FW 1,295. Fichte: FW 1,200.

ben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird.«21 Das cartesianische Experiment der neuzeitlichen Gewissheitsfindung auf dem Boden der kritischen Selbsterforschung des Ich scheint hier bei Fichte endgültig gescheitert. Auf dem Boden der kritischen Transzendentalphilosophie erweist sich der von Descartes hypostasierte Übergang vom vorstellenden Denken zum Sein, vom cogitare zum esse, von der Selbst- zur Seinsgewissheit, als nicht gangbar. Das vermeintliche fundamentum inconcussum der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie stellt sich als Illusion heraus. Auch die Selbstvorstellung und Vollzugsevidenz des meditierenden Ich bleibt – so argumentiert Fichte im dritten Buch der Bestimmung – im hermetischen Bannkreis seines eigenen vorstellenden Denkens gefangen, dessen prinzipiellen Bild- und Phantasmacharakter es nicht zu transzendieren vermag. So sieht sich das reflektierende Ich bei Fichte am Ende wieder in jene fragwürdige, realitäts- und seinsferne Traumwelt zurückversetzt, von der einst die transzendentalphilosophische Suchbewegung in den cartesianischen Meditationen ausging. Für das neuzeitliche Projekt der philosophischen Selbsterfindung erweist sich das Organ des transzendentalreflexiven Wissens demnach als untauglich. Es vermag zwar vom Irrtum des Dogmatismus zu befreien, allein auf sich gestellt aber dem reflektierenden Subjekt keine neue Realität und Seinsgewissheit zu vermitteln. Fichte versucht nun, diese Krise der kritischen Transzendentalphilosophie im dritten Buch der Bestimmung des Menschen, das den bezeichnenden Titel ›Glaube‹ trägt, zu bewältigen. Dabei vertritt er einen neuen glaubensphilosophisch begründeten ›höheren‹ Realismus, der einerseits über Jacobi und seinen David Hume an die schottische common-sense-Philosophie anschließt. Auf der anderen Seite treten nun mit den Themen ›Affekt‹ und ›Glaube‹ wieder Motive aus Fichtes eigenem frühesten Gedankengut, nämlich der rhetorikaffinen Anthropologie seiner Schulpfortaer Valediktionsrede von 1780, die stark durch den Ciceroianer und Befürworter der Popularphilosophie J. A. Ernesti beeinflusst war, hervor.22 Das neue 21 22

Fichte: FW 1,300. Zur Assimilation der Rhetoriktradition bei Fichte vgl.: Tobia Bezzola: Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993; Peter L. Oesterreich: »Fichtes rhetorische Metamorphose des Idealismus«. In: Kommentar, FW 2,855–1002, hier: S. 878–902; Stefa-

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Organ, das dem philosophierenden Ich erneut Gewissheit der Realität einer Außenwelt und seiner selbst vermitteln soll, ist demnach nicht das Wissen, sondern der Glaube. »Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung sein könnte zur Gewissheit, und Überzeugung erhebt.«23 Mit dieser Zuwendung zum Glauben vollzieht Fichte nun keineswegs einen philosophischen Salto mortale in einen religiösen Fideismus. Die Bestimmung des Menschen bezieht sich nämlich gar nicht auf jenen speziell religiösen Glaubensbegriff, der in die Formation des philosophie- und theologiegeschichtlich überaus wirkungsvollen Oppositionstopos fides contra ratio eingegangen ist. Vielmehr greift Fichte hier auf den Überzeugungsbegriff der Rhetoriktradition zurück, welche den Menschen generell als ein Wesen des Glaubens im Sinne eines lebensweltlich ubiquitären Fürwahr-haltens definiert. Als solches beschränkt sich dieser universale, anthropologische Glaube keineswegs nur auf religiöse Dinge, sondern bezieht sich auf alle möglichen Themen der alltäglichen und wissenschaftlichen Lebenswelt. So hatte schon Aristoteles die Rhetorik als ein Vermögen definiert, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenserweckende (pithanon) zu erkennen.24 Fichtes Glaubensphilosophie in der Bestimmung des Menschen nähert sich an dieses pithanologische Modell der Rhetorik an, in der das endoxale Anschlussprinzip und die Berücksichtigung des Voluntativen und Affektiven, von Ethos und Pathos, eine wichtige Rolle spielen.25 So finden wir zunächst in Fichtes bereits erwähnter Charakterisierung des Glaubens den Gedanken des endoxalen Anschlusses ausdrücklich wieder: Ganz im Gegensatz zur deduktionistischen Grundsatzphilosophie seiner frühen Wissenschaftslehre soll sich die philosophische Überzeugung wieder an den lebensweltlichen Realismus als einer ›sich uns natürlich darbietenden Ansicht‹ – d. h. rhetoriktheoretisch der doxa oder opinio communis – an-

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no Bacin: Fichte in Schulpforta (1774–1780), Kontext und Dokumente, übers. v. Stefan Monhardt, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 35–64. Fichte: FW 2,308f. Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica. Hg. v. William David Ross, Oxford 41975, S. 1355b. Dabei unterscheidet sich das rhetorische Verfahren der Beglaubigung und Gewissheitsfindung von der Logik dadurch, dass sie endoxal die jeweils geltenden Ansichten ihrer jeweiligen geschichtlichen Lebenswelt anknüpft und von der Dialektik bzw. Topik dadurch, dass sie auch das Ethos und Pathos als wichtige Faktoren der menschlichen Überzeugungsbildung berücksichtigt.

schließen. Gemeint ist hier der im gewöhnlichen Bewusstsein herrschende common-sense-Glaube an die Realität der Außen- und Mitwelt, der bei den meisten Menschen nicht rational, d. h. durch den Verstand, sondern affektisch, oder – wie Fichte sich ausdrückt – durch die innere Stimme des ›Herzens‹ begründet ist. Die meisten Menschen folgen diesem Glauben gleichsam instinktiv. Ihr alltäglicher Seinsglaube an die Wahrheit und Wirklichkeit der für ihr Handeln wichtigen Außenweltbezüge beruht auf einer unreflektierten, affektiv motivierten Annahme der realistischen Weltanschauung. Dies gilt nach Fichte zunächst auch für das philosophierende Ich: »Wir werden alle im Glauben geboren.«26 Aber im Gegensatz zum gewöhnlichen Bewusstsein verlangt es den Philosophen nach einer über die rein affektische Beglaubigung des Herzens hinausgehende, rationale Begründung und Rechtfertigung seiner zunächst nur instinktiv angenommenen Ansichten durch den Verstand. Der naive Glaube soll dadurch, dass ihm gleichsam ›Augen eingesetzt‹ werden durch den Begriff, zur freien, philosophischen Überzeugung gesteigert werden. Die Aufgabe der Philosophie besteht somit in der reflexiven Durchdringung und kritischen Analyse des naiven, alltäglichen Seinsglaubens. Im Zuge der philosophischen Analyse des alltäglichen Seinsglaubens stellt Fichte heraus, dass auch der Standpunkt des Realismus keineswegs nur auf einem bloßen Wissen beruht. Die bloße Vorstellung von etwas beinhaltet noch nicht ein Fürwahr- und Fürwirklichhalten des Vorgestellten. Um ein Vorgestelltes auch für seiend und wirklich zu halten, bedarf es eines zusätzlichen affirmativen Aktes vonseiten des Subjektes, der dem ›Wissen erst Beifall gibt‹ und damit dem Vorgestellten erst einen Seins- und Realitätscharakter zubilligt. Dieser affirmative Akt der instinktiven Annahme der realistischen Weltanschauung vollzieht sich bei den meisten Menschen unbewusst. Motiviert wird er durch einen unreflektierten praktischen Trieb, der sich rein affektiv, eben als emotionale Stimme des Herzens, artikuliert und sich nicht in der rational aufgeklärten Form eines freien Willensaktes vollzieht. Die Genese seines naiven common-sense-Glaubens findet gleichsam hinter dem Rücken des gewöhnlichen Bewusstseins statt, dem das Moment seiner subjektiven Selbsterfindung entgeht. De facto findet es sich in einem realistischen Seinsglauben vor, den es aber als objektiv notwendiges Wissen missversteht, weil die subjektive Setzungsleistung bei der Genese seiner Weltanschauung übersieht.

26

Fichte: FW 1,310.

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Dagegen durchschaut das philosophisch aufgeklärte Ich die Genese und damit auch die Glaubensgegründetheit des vom gewöhnlichen Bewusstsein naiv vertretenen Realismus. Die entscheidende Erkenntnis seiner neuen Glaubensphilosophie lässt Fichte in der Bestimmung folgendermaßen formulieren: »Ich weiß, daß jede vorgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken herausgebracht, aber nicht auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich falsch und erschlichen ist.«27 Deutlicher als in Fichtes drittem Buch seiner Bestimmung des Menschen lässt sich das principium rationis insufficientis28, d. h. die prinzipielle Unzulänglichkeit aller Rationalität und die generelle Glaubensgegründetheit aller menschlichen Wahrheitsansprüche kaum formulieren. In der Bestimmung des Menschen kehrt das glaubensphilosophisch aufgeklärte Ich am Ende durch den ausdrücklichen ›Entschluss des Willens, das Wissen gelten zu lassen‹ zum Standpunkt des Realismus zurück. Auf dem Wege freiwilliger, philosophischer Überzeugung versetzt es sich selbst auf den Standpunkt eines ›höheren‹ Realismus, um den Gegensatz von Spekulation und Leben, Herz und Verstand auflösen zu können. Damit hat Fichte im dritten Buch der Bestimmung des Menschen seiner Philosophie auf neuer, glaubenstheoretischer Basis einen Ausweg aus ihrer isolierten, transzendentalistischen Gegenstellung gegen den lebensweltlichen Realismus gebahnt. Seine nach 1800 revidierte Berliner Spätphilosophie wird auch in Zukunft nicht mehr versuchen, den weltanschaulichen Glauben des normalen Lebens radikal zu bekämpfen, sondern ihn zu integrieren und auch in seiner religiösen Dimension weiter zu durchdringen. 1.3 Die neue religiöse Spielart spätromantischer Selbsterfindung Fichte erfindet sich und seine Philosophie nach 1800 als freier philosophischer Schriftsteller und Lehrer in Berlin noch einmal neu. Neben den esoterischen Privatvorlesungen zur späten Wissenschaftslehre versucht er vor allem auch durch seine exoterischen, die breite Öffentlichkeit ansprechende, neue Popularphilosophie auf seine Zeit zu wirken. Mit seinen drei großen Vortragszyklen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804/5), Anweisung zum seligen Leben oder die Religionslehre (1806) und Reden an die deutsche Nation (1807/8) gelingt es ihm in Berlin tatsächlich, seinen früheren Jenenser Lehrerfolg zu übertreffen. Mit seiner Berliner Popular27 28

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Fichte: FW 2,309. »Der Hauptsatz aller Rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes (principium rationis insuffientis).« Hans Blumenberg: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 124.

philosophie, in der ein neues religiöses Denken zu Tage tritt, hat Fichte wieder Anschluss an sein zeitgenössisches Publikum gefunden. An die Stelle seiner frühen transzendentalkritischen Ich-Philosophie tritt nun eine neue, religionsaffine Philosophie des Absoluten, innerhalb derer das menschliche Selbstbewusstsein lediglich das Bild eines ihn zugrunde liegenden absoluten Seins und Lebens darstellt.29 Auch Fichte folgt damit der allgemeinen Tendenz der philosophischen Romantik nach 1800, eine systematische Kehrtwendung vom Ich zum Absoluten zu vollziehen. Infolgedessen verlässt auch er nun den Pfad der kritischen Aufklärungsphilosophie Kants, um – zusammen zur romantischen Bewegung nach 1800 – einem neuen, religiösen Vereinigungsdenken den Weg zu bahnen. Auch in pathelogischer Hinsicht findet nun ein charakteristischer Systemwechsel statt: An die Stelle des von Kants praktischer Philosophie präferierten Gefühls der Achtung tritt in Fichtes Berliner Popularphilosophie die Sehnsucht nach dem Absoluten als neuer, anthropologischer Grundaffekt auf. Besonders in seiner Anweisung zum seligen Leben hat Fichte im Rahmen einer Phänomenologie der menschlichen Weltanschauungen und Lebensformen seine schon um 1800 hervorgetretene Affektund Glaubenslehre wesentlich erweitert und vertieft. Demnach bekundet sich das Absolute auch schon im alltäglichen Bewusstsein der meisten Menschen; allerdings zunächst nicht in der expliziten Form des Begriffs, sondern der impliziten des Affektes. Die präreflexiven Vorentscheidungen für jeweils absolut gesetzte Sinngehalte, um die herum sich die unterschiedlichen Weltanschauungen der Menschen organisieren, haben keine primär logische, sondern eine affektische Wurzel: das anthropologische Grundgefühl einer Sehnsucht nach dem Ewigen. Als »geheime Sehnsucht«30 liegt dieser Affekt für das Absolute selbst der weitverbreiteten materialistischen ›Jagd der Glückseligkeit‹ zugrunde. Auch den Materialisten, der seine existenzielle Erfüllung vom Konsum immer neuerer sinnlicher Objekte erhofft, treibt jene geheime Sehnsucht nach dem Ewigen. Er deutet diese Sehnsucht aber falsch und verwechselt die diversen sinnlichen Objekte mit dem eigentlich erstrebten Absoluten. Durch diesen existenziellen Fehlschluss eines Absolutsetzens des Nichtabsoluten bewegen sich nach Fichte die säkularen und areligiösen Daseinsformen in einem permanenten Selbstmissverständnis: »… was eigentlich sie lieben, und anstreben, verstehen sie nicht.«31 Der Widerspruch zwi29 30 31

Vgl. Wolfgang Janke: Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin / New York 1993. Fichte: GA 1,9,60. Fichte: GA 1,9,60.

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schen der absoluten Form seines Strebens und seiner endlichen, relativen und deshalb unbefriedigenden Gehalte hält sie zudem in einer ständigen Unruhe, unerfüllten Sehnsucht und ›Beängstigung‹ fest, die schließlich als ›Treiben im Nichts, um das Nichts‹ erscheint. Das daraus resultierende nihilistische ›Verzweifeln am Heile‹ abzuwehren und die existenzielle Selbstverkennung durch Freilegung ihrer kryptoreligiösen, auf das Absolute gerichteten Motivation aufzulösen, bildet die zentrale daseinshermeneutische Aufgabe der Fichteschen Anweisung von 1806. Dazu entwickelt Fichte in der Anweisung eine fünfstufige, hierarchische Tropologie möglicher Bewusstseinsstandpunkte und Weltanschauungen. Diese Tropologie nimmt die Deduktion der äußeren Existenzialform des Absoluten aus dem zweiten Vortrag in der Wissenschaftslehre von 1804 auf.32 Demnach spaltet die Reflexion des menschlichen Selbstbewusstseins das göttliche Sein und Leben zweifach: einerseits in eine objektive und andererseits in eine subjektive Richtung. Die erste, objektive Spaltung erzeugt die unendliche Vielfalt der erscheinenden Dingwelt und die zweite eine Fünffachheit möglicher Weltansichten. Diese subjektiven »Weisen, die Welt zu nehmen«33 bilden die fünf grundlegenden Weltanschauungen des Materialismus (1), des Legalismus (2), der ›höheren‹ Moralität (3), der Religiosität (4) und der philosophischen Wissenschaft (5). 1. Das Weltanschauung des Materialismus entsteht auf dem Standpunkt des sinnlichen Bewusstseins, das im unreflektierten Glauben an die Wahrheit und Wirklichkeit der sinnlichen Objekte lebt. Diese »niedrigste, oberflächlichste und verworrenste Weise, die Welt zu nehmen, ist die, wenn man dasjenige für die Welt, und das wirklich Daseyende hält, was in die äußern Sinne fällt«34. Innerhalb der materialistischen Weltanschauung dominieren das Streben zum physischen Wohlergehen, die Strategien zur Daseinssicherung der sinnlich-individuellen Existenz und die Hoffnung, sein Glücksbedürfnis durch äußere Objekte befriedigen zu können. In der alltäglichen Lebenswelt artikuliert sich die materialistische Weltanschauung im massenhaft verbreiteten Konsumismus, Ökonomismus und Utilitarismus. Auf der Ebene der

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Vgl. Günter Meckenstock: Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, Göttingen 1973; Janke: Vom Bilde des Absoluten, S. 384–392; Hartmut Traub: J. G. Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, S. 165–169. Fichte: GA 1,9,105. Fichte: GA 1,9,106.

Wissenschaft äußert sie sich in der Vorherrschaft der empirischen Wissenschaften und ihrer technischen Nutzanwendungen. 2. Die legalistische Weltanschauung, die auf dem Standpunkt der Rechtlichkeit oder – wie Fichte sich ausdrückt – der ›niederen Moralität‹ steht, wird dagegen getragen durch den Glauben an »ein Gesetz der Ordnung, und des gleichen Gesetzes«35. Der rechtliche Mensch verzichtet stoisch auf seine sinnlichen Antriebe und handelt ›schlechthin um des Gesetzes willen‹. Seine rationalistische Weltanschauung wird nicht mehr getragen durch den Glauben an die Wirklichkeit der äußeren, sinnlichen Objekte, sondern an das aufgegebene unbedingte Soll eines egalitären Vernunftgesetzes. Jene legalistische Mentalität neigt alltäglich zum Ordnungs- und Sicherheitsdenken, in politischer Hinsicht zum liberalen Rechtsstaat, zur freien Marktwirtschaft und zur globalen Verwirklichung der egalitären Menschenrechte sowie wissenschaftlich zum Formalismus 3. Auf dem Standpunkt der höheren Moralität oder des schöpferischen Idealismus bezieht sich dagegen der ihn tragende Seinglaube nicht mehr auf ein nur formales Ordnungsprinzip, sondern auf das schaffende Gesetz der »qualitative(n) und reale(n) Idee selber«36. Dem ingeniösen Geist schöpferischer Moralität, der sich von allem schon faktisch Vorhandenen und Vorgegebenen zu lösen vermag, um etwas noch nie Gesehenes und Neues ins Werk zu setzen, verdankt die Menschheitsgeschichte nach Fichte in Religion, Wissenschaft, Politik, Kunst und Kultur ihren gesamten Fortschritt. Auf dieser dritten Stufe seiner Tropologie artikuliert sich wiederum jene Position genialer, schöpferischer Subjektivität, die sich contrafaktisch gegen die bestehende Normalität richtet und als solche schon die Ich-Philosophie der frühen Wissenschaftslehre auszeichnete. 4. Fichtes darüber hinausgehendes, neues religiöses Denken artikuliert sich auf der vierten Stufe seiner Weltanschauungslehre. Auf ihr ereignet sich mit der Operation der freiwilligen Selbstvernichtung das vielleicht gewagteste Selbstexperiment moderner Subjektivität. Die äußerste Möglichkeit subjektiver Freiheit besteht demnach in einer freiwilligen Selbstaufopferung im Sinne eines religiösen Zu-GrundeGehens, das über die neu gewonnene Freiheit von sich selbst zur Vereinigung mit dem Absoluten führen soll. Daher sollte Fichtes Zuwendung zur Religion nicht als resignative Selbstaufgabe, sondern als Ver35 36

Fichte: GA 1,9,107. Fichte: GA 1,9,109.

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such einer äußersten Selbstpotenzierung subjektiver Freiheit verstanden werden. Hier, auf dem Standpunkt der Religion, lässt das Ich nun auch den Glauben an seine eigene Genialität und die Realität seiner schöpferischen Idee hinter sich zurück. Stattdessen lebt das religiöse Dasein in der Glaubensgewissheit seines unmittelbaren ›Seins in Gott‹. Das unmittelbare göttliche Sein und Leben selbst, das sich jeder begrifflichen Fassbarkeit entzieht, ist ihm das einzig Wirkliche und Reale. Auf dem Standpunkt der Religion gilt nunmehr: »In dem, was der heilige Mensch thut, lebet, und liebet, erscheint Gott nicht mehr im Schatten, oder bedeckt von einer Hülle, sondern in seinem eignen, unmittelbaren, und kräftigen Leben.«37 5. Schließlich fügt die philosophische Wissenschaft den bisherigen Standpunkten kein neues materielles Prinzip hinzu, sondern das formale ihrer allseitigen begrifflichen Transparenz. Der Standpunkt der Wissenschaft begreift die anderen vier Weltansichten, nämlich ›in ihrer Ordnung, und ihrem Verhältnis zu einander‹. Dadurch erreicht es jene ›allseitige, und durchgeführte Klarheit‹, die auch dem religiösen Bewusstsein noch fehlt. »Die Religion, ohne Wissenschaft, ist irgendwo ein bloßer, demohngeachtet jedoch, unerschütterlicher, Glaube: die Wissenschaft hebt allen Glauben auf, und verwandelt ihn in Schauen.«38 Die höchste Bewusstseinsstufe der philosophischen Religion hat im Unterschied zu den vier vorhergehenden Stufen ihren eigenen Bewusstseinsstandpunkt nicht nur intuitiv ergriffen, sondern systematisch begriffen. In der philosophischen Religion verwandelt sich der affektisch gegründete Glaube in ein auch rational begründetes Wissen. Durch das philosophische Denken hebt sich somit das bloße Vernunftgefühl in die Vernunftwissenschaft auf. Die in den unteren Bewusstseinsstufen sich schon bekundende Sehnsucht nach dem Absoluten hat sich hier nun schließlich in begrifflicher Klarheit und Deutlichkeit ausgesprochen. So stellt sich am Ende wiederum jener Gleichklang von Herz und Verstand ein, den Fichte schon in seiner Bestimmung des Menschen gefordert hatte. Pathelogisch gesehen ist es die Liebe, die als »Affekt des Seyns«39 allen fünf Weltansichten zugrunde liegt. Als Sehnsucht nach dem Absoluten wird das von der Philosophie postulierte fundamentale Seinsverlangen in prä37 38 39

32

Fichte: GA 1,9,111. Fichte: GA 1,9,112. Fichte: GA 1,9,133.

reflexiver Form auch in der alltäglichen Existenz manifest. Der die jeweilige Lebensform tragende Seinsglaube gründet zunächst nur in einer affektisch beglaubigten und getragenen Interpretation des Sinnes von Sein, d. h. einem unmittelbaren »Gefühl des Seyns als Seyns«40. Ohne diesen affektischen Antrieb verfällt dagegen nach Fichte das menschliche Dasein in einen apathischen Zustand der »geistigen Nicht=Existenz, oder mit dem Bilde des Christenthums, des Todseyns, und Begrabenseyns, bei lebendigem Leibe«41. Dieser von Fichte so genannte ›Zustand der Nullität‹, der einen ›absoluten Mangel des Selbstgefühls‹ mit tiefster Frustration und Genussunfähigkeit verbindet, stellt nach Fichte gegenüber der Fünffachheit der bisher beschriebenen Weltansichten und Lebensformen eine Verfallsform menschlicher Subjektivität dar. In Fichtes eigener Metaphorik ausgedrückt, bildet die Nullität ›eine stumpf ausgebreitete Fläche‹, über die sich die bisher behandelte Fünffachheit der Bewusstseinsstandpunkte erhebt. So geraten die Menschen in einen apathischen und depressiven Zustand völligen Desinteresses und verlieren so schließlich auch jedes Gefühl für sich selbst: »Sie lieben gar nichts, sagte ich, und interessieren sich für gar nichts; nicht einmal für sich selbst.«42 Mit dieser Ebene der ›Nullität‹ gewinnt die Architektonik der Fichteschen Daseinshermeneutik eine wichtige Deutungsperspektive hinzu, welche auch die modernen Phänomene des alltäglichen Nihilismus, der Depression, der Dezentrierung des Ich und des Subjektivitätsverlustes einbezieht. Insgesamt gesehen könnte die Anweisung mit ihrer – im Vergleich mit der Bestimmung des Menschen – auffälligen Betonung des Religiösen als ein Versuch Fichtes gelesen werden, sich auch als philosophischer Lehrer öffentlich vom Vorwurf des Atheismus dadurch zu entlasten, indem er sich vom umstürzlerischen Jakobiner scheinbar zum apologetischen christlichen Religionsphilosophen wandelt. Dies würde allerdings übersehen, dass Fichte auch in der Religionslehre der Anweisung sein früheres Spiel der philosophischen Selbsterfindung schöpferischer Subjektivität auf eine neue Art und Weise fortsetzt. Fichte wendet sich mit seiner neuen Idee einer philosophischen Religion keineswegs – wie z. B. der späte Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung – wieder dem positiven Christentum und seiner Geschichte zu und bekehrt sich schon gar nicht wie F. Schlegel zur Orthodoxie der Katholischen Kirche. Fichte geht es vielmehr – auf dem fünften Standpunkt der philosophischen Wissenschaft 40 41 42

Fichte: GA 1,9,134. Fichte: GA 1,9,133. Fichte: GA 1,9,131.

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argumentierend – um eine Neuerschließung des Religiösen auf der Basis freigesetzter Subjektivität. So will die neue, philosophische Religionslehre der Anweisung das offizielle von den kirchlichen Institutionen verwaltete historische Christentum nicht nur apologetisch bestätigen, sondern philosophisch überbieten und in letzter Konsequenz ablösen, indem sie, »ganz unabhängig vom Christentume, dieselben Wahrheiten findet, und sie in einer Konsequenz, und in einer allseitigen Klarheit überblickt, in der sie vom Christentume aus … nicht überliefert sind«43. Mit seinem Entwurf einer philosophischen Religion will Fichte zeigen, dass die erfüllende Gegenwart des Absoluten unabhängig von allen historischen Vermittlungen auf dem Boden der freien Subjektivität gefunden und von ihr selbst ergriffen werden kann: »Unaufhörlich umgiebt uns das Ewige, und bietet sich uns dar, und wir haben nichts weiter zu thun, als dasselbe zu ergreifen.«44 Mit diesem Versuch, das Absolute auf dem eigenständigen Wege selbstvernichtender Selbstpotenzierung zu ergreifen, steht Fichte der so genannten ›Deutschen Mystik‹ eines Meister Eckhardt näher als dem positiven Christentum. Die contrafaktische, idealistische Energie seiner frühen, heroischen Ich-Philosophie, die sich im ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre von 1794/5 mit der Idee der Tathandlung eindrucksvoll manifestierte, hat sich im neuen religiösen Denken des späten Fichte nicht erschöpft. Lediglich das philosophische Spiel der Selbsterfindung und seine rhetorische Strategie haben sich verändert. Anstelle des direkten Angriffs seiner frühen more geometrico entworfenen Grundsatzphilosophie ist nun eine Strategie der Indirektheit getreten, die zunächst more rhetorico an den gewohnten Ansichten des alltäglichen Bewusstseins anknüpft, um dann einen in sich reflektierten Selbsterfindungsprozess anzustoßen, an dessen Ende die äußerste Potenzierung freigesetzter Subjektivität, nunmehr in Form der philosophischen Religion, stehen soll.

2. ›Deutscher Ernst‹. Die popularphilosophische Erfindung der deutschen Nation Den zunehmend hohen Stellenwert, den der philosophische Kunstcharakter seiner Wissenschaftslehre für Fichte besitzt, bezeugt sich allein schon im Dispositionsschema seiner späten Geschichtsphilosophie, die dem früh43 44

34

Fichte: FW 2,423. Fichte: GA 1,9,60.

romantischen Selbstpotenzierungsprogramm seiner Transzendentalphilosophie eine menschheitsgeschichtliche Perspektive verleiht. Gemäß der universalhistorischen Fünf-Epochen-Lehre seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters endet die emanzipatorische Menschheitsgeschichte nicht im vierten Zeitalter der ›Vernunftwissenschaft‹, sondern vollendet sich erst in der fünften Vollendungsepoche der ›Vernunftkunst‹. Die zunächst nur innerhalb der Wissenschaftslehre geübte »Kunst des Philosophierens«45, dieses metaphilosophische Konzept der pragmatischen Selbstpotenzierung der Philosophie zur Vernunftkunst, versucht Fichte ihrer neuzeitlichen Verkürzung zur bloßen Wissenschaft entgegenzuwirken und ihr den ursprünglichen Charakter einer lebensformenden Weisheitslehre zurückzugewinnen. 2.1 Philosophische Reden an der ›Spitze der Weltgestaltung‹ Das spektakulärste und wirkungsgeschichtlich folgenreichste philosophische Autoinvenienz-Projekt Fichtes stellen zweifellos seine Reden an die deutsche Nation dar, durch die es Fichte tatsächlich gelingt, als philosophischer Redner in den Lauf der Geschichte einzugreifen und dazu beizutragen, die intersubjektive Identität der Deutschen zu erfinden. Der geradezu ›weltgeschichtlichen‹ Bedeutung seiner rhetorischen Intervention ist sich Fichte dabei von vorneherein bewusst: »Die großen National- und WeltAngelegenheiten sind bisher durch freiwillig auftretende Redner an das Volk gebracht worden, und bei diesem durchgegangen.«46 Fichte war selbstverständlich nicht der einzige rhetorische Erfinder des deutschen Nationalbewusstseins und seine Berliner Popularphilosophie gehört in den Gesamtkontext des großen romantischen Religions- und Nationalprojektes, das gegenüber den spielerischen und infinit ironischen literarischen Experimenten der Frühromantik nun im Grundton eines neuen Ernstes vorgetragen wird. Ein erster, wenngleich hinsichtlich seiner Ernsthaftigkeit noch etwas zweifelhafter Versuch war Novalis’ programmatischer Essay Die Christenheit oder Europa (1799) gewesen, der allerdings bei den meisten Frühromantikern und schließlich auch bei Goethe auf Ablehnung stieß und deshalb nicht im Athenäum abgedruckt wurde. Der Umschlag der romantischen Philosophie von der infiniten Ironie zum neuen, deutschen Ernst lässt sich biographisch vielleicht am Besten an Friedrich Schlegel ablesen, der in seiner Kölner Zeit (1804–1808) auch diese Konversion 45 46

Fichte: GA 2,8,2. Fichte: FW 2,634.

35

vollzog. Auch Schelling verfolgt mit seiner Münchner Rede Über das Verhältnis der bildenden Kunst zu der Natur (1807) das durchaus politisch gemeinte Projekt einer neuen, charakteristischen deutschen Kunst. In den Reden an die deutsche Nation versucht nun auch Fichte allen Ernstes und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, den Deutschen ihre eigene nationale Identität zu erfinden. Die geschichtliche Situation, in der Fichte im Winter 1807/8 seine Reden an die deutsche Nation hielt, und die entsprechende Stimmungslage seines Publikums war tatsächlich äußerst ernst. Bestimmt war sie durch die Siege Napoleons, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, den Zusammenbruch Preußens und die Okkupation Berlins durch französische Truppen, in der sich die Überlegenheit des modernen, aus Frankreich stammenden politischen Paradigmas der Nation auch militärisch manifestierte. Angesichts dieser totalen Niederlage reagiert Fichte gerade nicht mit der vielleicht nahe liegenden resignativen Emigration ins Private oder mit einer Art vorsichtiger Kollaboration. Im Gegenteil, er sieht die Stunde gekommen, endlich das ihn von früher Jugend an faszinierende ciceronianische Ideal des philosophischen Redners, der inmitten der Res publica wirken und maßgeblich ins politisches Leben seines Volkes eingreifen will, endlich zu realisieren. Dass Fichte von Jugend auf durch das Curriculum in Schulpforta, welches der Ciceroianer Ernesti entworfen hatte, mit der klassischen Rhetorik bestens vertraut war, wird in letzter Zeit zunehmend deutlich.47 Das geistige Klima der Schulpfortaer Bildungswelt wurde gerade nicht vom Rationalismus und der Logik der Wolffschen Schulphilosophie bestimmt, sondern von Ernestis popularphilosophischer Affinität zu Cicero und der im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland weit verbreiteten rhetorischen Dialektik des R. Agricola.48 Die Themenwahl seiner 1780 absolvierten Valediktionsrede Über den rechten Gebrauch der Regeln der Dichtkunst und der Rhetorik (De recto praeceptorum poeseos et rhetorices usu), die wohl als die erste selbstständig verfasste wissenschaftliche Arbeit des jungen Fichte gelten kann, beweist überdies sein starkes persönliches Interesse an der Rhetorik. Fichtes Valediktionsrede stellt auf eine innovative Weise die anthropologische Bedeutung rhetorischer und poetischer Regeln heraus. Dass der rhetorikaffine Ciceronianismus – im Sinne einer unthematischen »Assimilation«49 – bei 47 48 49

36

Bacin, Fichte in Schulpforta. Vgl. auch: Bezzola: Die Rhetorik, S. 64–119; Oesterreich/Traub: Der ganze Fichte, S. 65–81. Vgl. Bacin: Fichte in Schulpforta, S. 55f. Vgl.Bezzola: Die Rhetorik, S. 64–119.

Fichte weiterwirkt, beweist nicht nur sein Züricher »Plan anzustellender Rede-Übungen« von 1789. Ciceros in De oratore entworfenes Ideal des Redner-Philosophen, der in seiner Person die Wiedervereinigung von Sapientia und Eloquentia, Denken- und Redenkönnen, Philosophie und Rhetorik verkörpern soll, um so das politische Leben der Res publica beeinflussen zu können, bestimmt auch Fichtes eigenes Gelehrtenideal bis zum Ende seines Schaffens. Dies bezeugt zuletzt auch eindrucksvoll seine späte Staatslehre von 1813, in der Fichte die Grundintention seiner Philosophie noch einmal betont, ins geschichtliche Leben seiner Zeit eingreifen zu wollen, um sich so an die »Spitze der Weltgestaltung im eigentlichen und höchsten Sinne«50 zu setzen. Dass Fichtes Meisterplan einer redepraktischen Vermittlung von Philosophie und geschichtlichem Leben schon zuvor kein bloßes Programm geblieben war, dokumentieren aber vor allem seine drei großen Berliner popularphilosophischen Vortragszyklen von 1804–1808, d. h. die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, die Anweisung zum seligen Leben und schließlich die Reden an die deutsche Nation. Insbesondere mit den Reden an die deutsche Nation hat sich Fichtes ciceronianischer Jugendtraum erfüllt, als philosophischer Redner aus der szientifischen Hermetik der reinen Schulphilosophie auszubrechen und durch eine neue Popularphilosophie das politische Leben seiner Zeit umzugestalten. 2.2 Die triadische Topik von Ernst, Deutschheit und Protestantismus Fichtes im Winter 1807/8 gehaltene Reden an die deutsche Nation sind ganz im neuen Ernst des romantischen Nationalprojektes verfasst und zeigen auf den ersten Blick dem Leser keinerlei Ironieanzeichen. Zu den auffälligen Charakteristika von Fichtes Reden gehört, dass sie nicht nur im ernsthaften Duktus gehalten sind, sondern das Thema des ›Ernstes‹ und der ›Ernsthaftigkeit‹ auch eigens behandeln. Insbesondere in der Sechsten Rede, die den Titel Darlegung der deutschen Grundzüge in der Geschichte trägt, wird die Ernsthaftigkeit als ein Proprium des deutschen Nationalcharakters herausgestellt. Der deutsche Ernst wird hier in der Sechsten Rede vor allem an einem historischen Exempel der Reformation illustriert: »… der letzten großen, und in gewissen Sinne, vollendeten Welt-Tat des deutschen Volkes, an der kirchlichen Reformation.«51

50 51

Fichte: FW 2,871. Fichte: FW 2,629.

37

Die Reformation wird hier von Fichte als eine aus ›deutschem Ernst‹ entspringende ›Welttat‹ des deutschen Volkes gedeutet. Die Rahmenerzählung, innerhalb deren diese Deutung plausibel wird, schildert die Geschichte des Verfalls und der Wiederfindung der ursprünglichen Wahrheit des Christentums, die ganz im Sinne der von Fichte in der Anweisung zum seligen Leben entworfenen Vernunftreligion nur im freien und selbstständigen Denken gefunden werden kann. Dabei setzt Fichtes Kritik am vorreformatorischen, römisch-katholischen Christentum schon bei seinen antiken Anfängen ein. Zu Anfang dieser kurzen und kritischen Geschichte des Christentums greift er zunächst auf den Negativtopos des despotischen asiatischen Prinzips zurück, der sich seit der griechischen Antike und den Perserkriegen in der europäischen Literatur findet. Demnach sei die ursprüngliche Wahrheit des Christentums schon seit ihrem ersten Auftreten in Palästina und Vorderasien durch das asiatische Prinzip des Despotismus, welches blinde Unterwerfung und Glauben fordert, verdorben und verfremdet worden. Das »nur stumme Ergebung und blinden Glauben predigende Christentum war schon für die Römer etwas fremdartiges«52. Fichte erzählt hier die Historie des Christentums als eine Geschichte der fortgesetzten Verfremdung seiner ursprünglichen religiösen Wahrheit. Dabei orientiert sich die narrative Disposition dieser kritischen Geschichte des Christentums in den Reden an der Konstruktion seiner Fünf-EpochenLehre der Menschheitsgeschichte, die er schon in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters vorgetragen hatte. Demnach bildet die antike und mittelalterliche Herrschaft der römisch-katholischen Kirche gleichsam eine zweite Epoche des »Stand[es] der anhebenden Sünde«53, in der das Christentum bereits den ursprünglichen ›Stand seiner Unschuld‹ verloren hatte. So herrsche bis zum Ende des Mittelalters der autoritäre Dogmatismus eines römischen Katholizismus, welcher, anstelle zu überzeugen, lediglich blinden Gehorsam und Glauben fordert. Erst in der Renaissance, als die ›unverfälschten Denkmäler der alten Bildung‹ in die Hände der ›eingewanderten Völker‹ gefallen waren, erwache wieder der »Trieb, selbsttätig zu denken, und zu begreifen«54. Im Renaissancehumanismus werde der »Widerspruch eines blinden Glaubens, und der sonderbaren Dinge, welche im Verlaufe der Zeiten zu Gegenständen desselben geworden waren«55 offenbar. Aber – und hier liegt Fichtes 52 53 54 55

38

Fichte: FW 2,629f. Fichte: FW 2,81. Fichte: FW 2,630. Ebd.

entscheidender Einwand – diese humanistische Aufklärung erreicht nicht das gesamte Volk, sondern beschränkt sich auf den Zirkel der humanistischen Gelehrten, einschließlich des römisch-katholischen Klerus. Die emanzipatorische Kraft der humanistischen Aufklärung und das von dogmatischen Geltungsansprüchen befreiende Lachen blieben – wie Fichte kritisiert – auf den kleinen exklusiven Zirkel der Gebildeten beschränkt. Dies wiederum führe zur Spaltung in den geheimen Spott der Gebildeten einerseits und den fortwährenden Betrug des unaufgeklärten Volkes andererseits. Von daher wird der Renaissancehumanismus von Fichte negativ gedeutet als eine Epoche des geheimen Lachens, Lächerlichmachens und Spottens. Denn »Einleuchten des vollkommnen Widerspruchs aus demjenigen, woran man bisher treuherzig geglaubt hat, erregt Lachen«56. Vielleicht hatte Fichte hier Erasmus’ Lob der Torheit vor Augen, das die unhaltbaren Verhältnisse seiner Zeit in geradezu infinit ironischer Form verspottet, ohne sie direkt anzugreifen und praktisch verändern zu wollen. Fichtes Kritik des Renaissancehumanismus zeigt jedenfalls exemplarisch, dass das Ethos des Spottes, des Lachens und der Ironie zwar bestehende dogmatische Geltungsansprüche entkräften kann, aber von sich selbst her nicht die Kraft zur Stiftung von neuen allgemeingültigen Überzeugungen und Identitäten zu entfalten vermag. Ferner kritisiert Fichte, dass sich die humanistische Aufklärung auf ein bloß kognitives und reinrationales Projekt beschränkt: »Die neue Klarheit ging aus von den Alten, sie fiel zuerst in den Mittelpunkt der neurömischen Bildung, sie wurde daselbst nur zu einer Verstandes-Einsicht ausgebildet, ohne das Leben zu ergreifen, und anders zu gestalten.«57 Damit gesteht Fichte den Humanisten zwar die richtige Erkenntnis der Unhaltbarkeit des römisch-katholischen Dogmatismus zu, diese bleibt jedoch gesamtgesellschaftlich wirkungslos, weil sie nur die rationale Seite des menschlichen Gemütes erreicht und so nicht in das geschichtliche Leben des gesamten Volkes einzugreifen vermag. An dieser Stelle wird bei Fichte wieder das unausgesprochen assimilierte rhetorische Gedankengut sichtbar, das ihn seit seiner Jugendbildung in Schulpforta bestimmt. Gemäß der schon in seiner Valediktionsrede vertretenen integralen Anthropologie der Rhetorik reicht ein bloßes Belehren (docere) nicht aus, um die Menschen zu überzeugen (persuadere). Über die bloße Ratio hinausgehend, muss auch die affektive und ethische 56 57

Ebd. Fichte: FW 2,631.

39

Seite des menschlichen Gemütes angesprochen und einbezogen werden, um den ins wirkliche Leben eingreifenden Willen des Menschen zu bewegen (movere).58 Vor dem Hintergrund dieser integralen Anthropologie der Rhetorik, die sich auf das gesamte Gemüt des Menschen bezieht, erklärt sich die systematische Aufwertung der transrationalen Vermögen des Wollens, Fühlens und Glaubens, die sich schon in der frühen Wissenschaftslehre von 1794/5 nachweisen lässt. Es sei ferner nur erinnert an das berühmte Diktum aus der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: Denn ein philosophisches System ist nicht nur ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«59 Auch das Für-wahr-Halten von philosophischen Systemen, das Überzeugtsein im vollen Sinne, beruht demnach nicht nur auf einer bloß reinrationalen Einsicht, sondern auf einer die gesamten Gemütskräfte des Menschen erfassenden Affirmation. Über den kognitiven Gehalt einer bloßen ›Verstandes-Einsicht‹ hinausgehend, gründen persönliche Überzeugungen in einer Affirmation durch den Willen und das moralische Gefühl. Erst durch diese Affirmation des moralischen Willens (ethos) und des Affektes (pathos), vermag sich die an sich praktisch konsequenzlose reinrationale Vorstellung in eine handlungsrelevante und lebensformtragende Überzeugung zu verwandeln. Sofern diese ethisch und affektiv motivierte Affirmation eine Identifikation der Subjekte mit einem bestimmten kognitiven Gehalt bewirkt, entsteht interpersonale Identität. In dem Moment, in dem es nicht mehr nur um das kognitive Spiel mit möglichen Vorstellungen – in der Sprache Fichtes um bloßes ›Räsonnement‹ – geht, sondern um die Erfindung und Begründung dieser in die ethischen und affektiven Tiefenschichten des Gemütes reichenden Grundüberzeugungen, sind bloßes Lächerlichmachen und Ironisieren tatsächlich meistens fehl am Platz, und es wird, wie auch Fichte in den Reden beispielhaft zeigt, ernst. So löse in der Reformation ein neuer, das religiöse Gemüt erfassender Ernst den geheimen Spott und das Lachen der humanistischen Gelehrten ab. Fichtes heroisierende Ethopoiie Luthers hebt hervor, dass die Überlegenheit Luthers, die ihn zur weltgeschichtlichen Tat der Reformation befähigte, nicht primär in seiner kognitiven Kompetenz, sondern in den voluntativen und affektiven Tiefenschichten seines Gemütes gründete: »Auf diese Weise nun fiel die Einsicht, die lange vor 58 59

40

Vgl. Oesterreich/Traub: Der ganze Fichte, S. 74ff. Fichte: GA 1,4,195.

ihm sehr viele Ausländer wohl in größerer Verstandesklarheit gehabt hatten, in das Gemüt des Deutschen Mannes, Luther. An altertümlicher, und feiner Bildung, an Gelehrsamkeit, an andern Vorzügen übertrafen ihn nicht nur Ausländer, sondern sogar viele in seiner Nation. Aber ihn ergriff ein allmächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil, und dieser ward das Leben in seinem Leben, und setzte immerfort das letzte in die Wage, und gab ihm die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert.«60 Was Luther motivierte, sei in erster Linie kein bloß theoretisches Interesse gewesen, sondern ein seinen Willen antreibender religiöser Affekt, die ›Angst um das ewige Heil‹. Seine epochale Wirksamkeit erkläre sich allein aus diesem affektischen Grundmotiv. Dabei vertrat Luther in Fichtes Deutung kein bloßes Privatinteresse, sondern ein allgemein menschliches, d. h. universalanthropologisches, religiöses Grundanliegen, das sich in der Frage zusammenfassen lässt: »Was sollen wir tun, damit wir selig werden?«61 Oder anders formuliert: »Ob wohl so etwas, wie Seligkeit im Ernste möglich sei?«62 Die epochale Wirkung seines öffentlichen Auftretens erkläre sich demnach, dass er ein allgemein menschliches, religiöses Grundinteresse in aller Öffentlichkeit erneut anzusprechen wage, das – wie Fichte schon in seiner Anweisung zum seligen Leben versucht hatte zu zeigen – wenigstens in der unausdrücklichen Form einer ›geheimen Sehnsucht nach dem Absoluten‹ alle Menschen bewegt. Sofern Luther mit dieser religiösen Fundamentalfrage nach der Seligkeit erneut ernst macht und sie explizit mit der ganzen Energie seiner Persönlichkeit öffentlich aufwirft, tritt er als religiöser Anwalt der gesamten Menschheit hervor. Fichte macht ferner plausibel, dass sich das ›Ernstnehmen‹ dieses religiösen, menschheitlichen Fundamentalinteresses an der Seligkeit, bei Luther angesichts der historischen Missstände mit dem Negativ-Affekt eines »grässliche(n) Entsetzen sich erzeugen vor dem Betruge um das Heil der Seele«63 verband und sich für ihn ein witzig-ironischer, scherzhafter oder gar spöttischer Umgang mit diesem Problem völlig verbot. Die heroische Charakterisierung Luthers in den Reden endet schließlich mit folgender, auf die gesamte Deutsche Nation bezogenen Verallgemeinerung: »daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos entgegenging, ist natürlich, und durchaus kein Wunder. Dies nun ist ein

60 61 62 63

Fichte: FW 2,632. Fichte: FW 2,631. Ebd. Vgl. Fichte: FW 2,632.

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Beleg von Deutschem Ernst und Gemüt.«64 Die in Fichtes Ethopoiie Luthers seinen Hörern vor Augen geführte beispielhafte Ernsthaftigkeit wird an dieser Stelle zum ›Deutschen Ernst‹, d. h. zu einer Nationaleigenschaft des Deutschen Volkes verallgemeinert. Als Resultat ergibt sich somit die triadische Verbindung von Ernst, Reformation und Deutschheit, die im 19. und 20. Jahrhundert zu einem zentralen Topos der nationalen Identität der Deutschen wurde. Allerdings kontrastieren die hellen, egalitären Tendenzen der Triade von Ernst, Reformation und Deutschheit bereits in Fichtes Reden mit den dunklen Kampf-, Todes- und Untergangsmotiven des ›deutschen Ernstes‹. Wie das Beispiel der Reformation zeige, verschwinden für diejenigen, die von »derselben ernstlichen Sorge für ihre Seligkeit«65 getrieben seien, alle Standesgrenzen. So entstehe eine neue Gemeinschaft von Fürsten und Volk, die für die gemeinsame Sache »verschmolzen bis zu gemeinsamen Leben oder Tod, Sieg oder Untergange«66 kämpfe. 2.3 Der rhetorische Kunstcharakter des ›deutschen Ernstes‹ In einem Punkt stimmt Aristoteles in seiner Rhetorik dem Sophisten Gorgias zu: »Man müsse, sagt Gorgias, den Ernst der Gegner durch Gelächter zunichte machen, das Gelächter aber durch Ernst, und er hat recht damit.«67 Demnach gibt es nach Aristoteles und Gorgias zwei entgegengesetzte rhetorische Strategien: einerseits die Vernichtung ernsthaft erhobener Geltungsansprüche durch Lächerlichmachen und andererseits die Aufhebung des geltungsvernichtenden Spottes durch neues Ernstmachen. Während das Lächerlichmachen bestehende Identitäten aufzulösen vermag, versucht das Ernstmachen neue zu stiften. Dies Letztere gilt, wie bereits ausgeführt, auch und gerade für Fichtes rhetorische Erfindung nationaler Identität.68 Insgesamt gesehen sind Fichtes Reden an die deutsche Nation auf den ersten Blick keineswegs Ausdruck romantischer Ironie, sondern eines neuen, romantischen Ernstes. Diese neue deutsche Ernsthaftigkeit der patriotischen Reden Fichtes steht damit zweifellos in einem schneidenden 64 65 66 67 68

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Fichte: FW 2,633. Fichte: FW 2,634. Ebd. Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Übers. und hg. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, S. 81. Zur allgemeinen Theorie der ›rhetorischen Erfindung‹ politischer Überzeugungsgemeinschaften wie der antiken Polis oder der modernen Nation vgl.: Peter L. Oesterreich: Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003, S. 92ff.

Kontrast zu dem kosmopolitischen Spielwitz der infiniten romantischen Ironie, wie sie sich beim frühen F. Schlegel findet. Dass der Redner Fichte in seinen überaus erfolgreichen patriotischen Reden auf den ersten Blick inhaltlich wie formal einen infiniten romantischen Ernst praktiziert und damit jeden Anflug von Ironie zu vermeiden scheint, hat dabei durchaus redetechnische Gründe. Die Aufgabe der rhetorischen Erfindung der deutschen Nation verlangt nämlich nach ostentativem Ernst und nicht nach zu Schau getragener distanzierender Ironie. Allein schon durch ihre doppelbödige Indirektheit erweist sich die ironische Rede für das identitätsstiftende Officium des Redners an die deutsche Nation als unangemessen (indecorum). So gibt der ironische Redeakt, wie schon Quintilian bemerkt, »etwas durch die Äußerung seines Gegenteils zu verstehen, z. B. Lob durch Tadel oder umgekehrt Tadel durch Lob«69. Zu den auffälligen Gelingensbedingungen des ironischen Redeaktes gehört demnach, dass seine Äußerung vom Rezipienten gerade nicht als eigentlich und ernsthaft aufgefasst werden darf, sondern aufgrund der in ihm gegebenen Ironieanzeichen als uneigentlich und unernst gemeint verstanden werden will. Die witzige Indirektheit der ironischen Rede hebt somit prinzipiell die Ernsthaftigkeit des direkt Geäußerten auf, um beim Rezipienten die Reflexion auf die Möglichkeit des Gegenteils anzustoßen. Die ironische Rede intendiert somit gerade nicht die Bildung von festen Überzeugungen oder die Positionierung von ernsthaften Geltungsansprüchen, sondern zielt im Gegenteil auf die subversive und geistreiche Auflösung jeder Fixierung und starren Identifizierung zugunsten einer universellen Alterität, die dem frühromantischen Grundgefühl des ›Schwebens‹ zwischen entgegengesetzten Bestimmungen entspricht. Dagegen zielt die direkte Setzungsart der ernsthaften Rede gerade nicht auf die Auflösung, sondern auf die rhetorische Begründung fester Überzeugungen und Identitäten. Ihre einfachen Setzungen und Positionierungen intendieren Identifizierungen durch den entschiedenen Ausschluss von Alterität und Andersseinkönnen. Etymologisch leitet sich ›Ernst‹ ab von indogermanisch *er/or, d. h. ›sich erheben (gegen)‹.70 ›Ernst‹ ist mit griechisch éris, d. h. ›Streit, Kampf‹, verwandt. Der Ernst entspringt, im Unterschied zum witzigen Spiel, der Ironie, somit einer angespannten

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Marcus Fabius Quintilianus: Institutiones oratoriae libri, XII / Ausbildung des Redners, 12 Bücher, 2 Bde. Hg. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972 und 1975, hier: IX, 2, 44. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 255f.

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Lebenssituation, einem Streit und im Extremfall dem Kampf auf Leben und Tod. Insofern dem Ethos der Ernsthaftigkeit der Grundgestus eines ›sich Erhebens gegen‹ inne wohnt, wird es beherrscht vom Willen zur Selbstbehauptung in einer angespannten Situation. Von daher wird verständlich, dass die ernsthafte Rede auf feste Überzeugungsbildung und Identifizierung durch Exklusion von Alterität zielt. In der Form einfacher und direkter Setzung erhebt sie ihre exklusiv gemeinten Geltungsansprüche und verteidigt sie gegen jede Möglichkeit von Alterität und Andersseinkönnen. Die ernsthafte Rede erschafft so die im wörtlichen Sinne ›not-wendige‹ Festigkeit von Überzeugungen, deren es in angespannten geschichtlichen Situationen bedarf, um sich in einem vermeintlichen ›Kampf auf Leben und Tod‹ zu behaupten. Im Gegensatz zur Figur der Ironie, die eher dazu geeignet ist, Distanz und Dissoziation zu schaffen, geht vom Ethos des Ernstes eine Glaubwürdigkeit bewirkende identifikatorische Energie aus. Von daher wird verständlich, dass der von Fichte an Luther und der Reformation explizit illustrierte und zur Nationaleigenschaft erhobene ›deutsche Ernst‹, welcher auch implizit den gesamten rhetorischen Duktus der Reden bestimmt, ein angemessenes rhetorisches Kunstmittel seiner erfolgreichen Erfindung nationaler Identität darstellt. In pragmatologischer Hinsicht wird die Glaubhaftigkeit der argumentativ vertretenen Sache (pragma), des ›deutschen Ernstes‹, durch die durchgängige ironisch nicht gebrochene, ernsthafte Setzungsweise der Reden wirkungsvoll unterstützt. Rede und Sache, res et verbum, stimmen überein und stützen sich in pithanologischer und überzeugungstheoretischer Hinsicht gegenseitig. Fichtes Reden an die deutsche Nation erscheinen in ihrer ernsthaft rhetorischen Handlungsweise selbst als ein neuerliches Beispiel und Beleg für die Sache des ›deutschen Ernstes‹. Der kommunikative Fluss identifikatorischer Energie wird in den Reden durch jene Figur der performativen Übereinstimmung zwischen der inhaltlichen Thematisierung des ›deutschen Ernstes‹ einerseits und dem ernsthaften Duktus des Redehandelns andererseits wesentlich befördert. Diese pragmatologische Figur der performativen Angemessenheit wird ferner unterstützt durch die ethologische Figur der suggestiven SelbstIdentifikation des philosophischen Redners mit dem Reformator. Das gemeinsame Ethos der Ernsthaftigkeit im fiktiven, rhetorischen Universum der Reden lässt für die Hörer die historische Distanz zwischen dem Redner Fichte und dem Reformator Luther schwinden. Dies verschafft dem Redner an die deutsche Nation eine wichtige historische Legitimation und persönliche Glaubwürdigkeit. Ebenso wie Luther scheint sich auch der 44

Redner Fichte wieder »an die Gesamtheit seiner Nation«71 zu wenden. So erscheint Fichte seinen Hörern und Lesern selbst als Postfiguration Luthers und neue Personifikation des ›deutschen Ernstes‹. Ebenso wie Luther scheint er als ein ›freiwillig auftretender Redner‹ aufzutreten, um sich erneut mit einer ›großen National- und Welt-Angelegenheit‹ an das deutsche Volk zu wenden. Schließlich ist es wiederum das Ethos des ›deutschen Ernstes‹, das auch den Redner Fichte auf eine besondere rhetorische Sensibilität und Überzeugungsfähigkeit bei seinem Publikum hoffen lässt. So sei das Deutsche Volk nicht nur rhetorisch sensibel und lasse sich durch Reden »durch Begeisterung zu jedweder Begeisterung«72 erheben, sondern halte gerade aufgrund seines ihm ebenfalls innewohnenden ›deutschen Ernstes‹ an seiner mit Begeisterung aufgenommenen Überzeugung fest und gestalte das Leben tatsächlich um. Dass sich Fichtes Reden an die deutsche Nation derart der ernsthaften und direkten Setzungsweise menschlicher Rede bediene, hat aber auch noch einen maßgeblichen kairologischen Grund. Es ist nicht zuletzt der Kairos der besonderen geschichtlichen Situation, der nach einem neuen ›deutschen Ernst‹ verlangt. Es geht in Fichtes Reden um ein sich ›Erheben gegen‹ die napoleonische Okkupation und um die Selbstbehauptung der Deutschen gegen die militärischen, aber auch politischen und kulturellen Hegemonialansprüche der französischen Nation. Der Augenblick des beginnenden Aufstandes und der Erhebung verlangt nicht nach ironischer Distanzierung, sondern nach Identifizierung mit gemeinschaftlichen und handlungsrelevanten Überzeugungen und damit nach ernsthafter Rede. Der neue deutsche Ernst der Reden zeigt somit beispielhaft, wie der Kairos der geschichtlichen Redesituation die Möglichkeit bestimmter rhetorischer Setzungsweisen sowohl verschließen als auch eröffnen kann. Das identitätsauflösende, frühromantische Spiel der infiniten Ironie und individueller Selbstschöpfung hätte sich im Falle der Reden allein schon deshalb kontraproduktiv ausgewirkt, weil es dem ›Ernst der Lage‹ und dem Kairos der veränderten geschichtlichen Situation unangemessen (indecorum) gewesen wäre. Am Ende gibt es aber noch einen tiefer liegenden tropologischen und fundamentalrhetorischen Grund, der im Falle von Fichtes Reden die Ironie ausschloss: Die ironische Rede ist prinzipiell parasitär. Während der Ernst für sich bestehen kann, setzt die Ironie eine bereits bestehende Welt der festen Identitäten voraus, die sie als gegeben präsupponieren muss, um ihr 71 72

Fichte: FW 2,633. Ebd.

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gegenwendiges, witziges Spiel der geistreichen Infragestellung entfalten zu können. Als Deviationsfigur muss die Ironie den Ernst der Normalität voraussetzen. Im Winter 1807/1808 gehört aber gerade die Kontrastfolie einer intakten Normalität, welche vom frühen Schlegel als ›Gewöhnlichkeit‹, ›Gemeinheit‹ oder ›Plattheit‹ ironisiert worden war, jene bürgerliche ›Philisterwelt‹, die auch Fichte noch in seinen Grundzügen als ›Zeitalter der vollendeten Selbstsucht und leeren Freiheit‹ kritisiert hatte, bereits der Vergangenheit an. Damit war der deviativen Ironie die notwendige Basis einer Normalität, gegen die sie sich als Abweichungsfigur hätte profilieren könnte, entzogen. Stattdessen ergriff Fichte die seltene historische Chance zu einer überaus erfolgreichen ernsthaften Erstsetzung einer neuen Identität, eben die der deutschen Nation. Schließlich folgt der ostentative Ernst der Reden an die deutsche Nation auch die rhetorische Grundregel des Verbergens des Kunstcharakters der Rede (celare artem). Auch für die Kunst des Philosophierens gilt die grundlegende persuasionstheoritische Erkenntnis: »Persuasive Kommunikation, die ihre Absichten und ihren Kunstcharakter offen ausstellt, droht also stets zu scheitern.«73 Damit sieht sich die philosophische Redeproduktion mit dem Antagonismus zwischen der Ostentation persuasionswirksamem Ernstes einerseits und der ironisch-distanzierenden Ausstellung ihres Kunstcharakters andererseits konfrontiert. In den Reden an die deutsche Nation forciert Fichte eindeutig die Strategie des redewirksamen Verbergens des Kunstcharakters (dissimulatio artis) durch ostentativen identitätsstiftenden Ernst. Diese vordergründig zur Schau gestellte Ernsthaftigkeit der Fichteschen Reden, die in dem Topos des deutschen Ernstes gipfeln, widerspricht somit keineswegs ihrer hintergründigen Rhetorizität, sondern stellt im Gegenteil eine durchaus kunstgemäße Erfüllung des rhetorischen Kunstverbergungsgebotes dar. Der ›deutsche Ernst‹ der Reden widerlegt somit nicht ihren rhetorischen Kunstcharakter, sondern bestätigt ihn. Am Ende erweist sich somit auch der ›deutsche Ernst‹ der Reden als artifizielles rhetorisches Spiel. Somit erweist sich ihre philosophische Rhetorik nicht frei von hintergründiger dissimulatorischer Ironie. Von daher bildet Fichtes wirkungsgeschichtlich überaus erfolgreiche und zweideutige rhetorische Stiftung des nationalen Selbst der Deutschen in den Reden an die deutsche Nation ein weiteres und besonders prägnantes Beispiel für Fichtes ernstes Spiel der Selbsterfindung. 73

46

Dietmar Till: »Verbergen der Kunst (lat. dissimulatio artis)«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, 1034– 1042, hier: 1034.

III. F. Schlegels philosophische Figur der infiniten Ironie

Friedrich Schlegel galt zwar schon seit langem als prominenter literarischer »Führer der Romantik«1. Aber erst in jüngerer Zeit erfolgte eine positive Neubewertung seiner frühromantischen Philosophie der Ironie, die lange im Schatten der Systemphilosophie Hegels stand.2 Mit dem ironischen Idealismus seiner Athenaeum-Fragmente hatte schon der junge Schlegel die philosophische Szene um 1800 mit einem originellen und infinit ironischen Stil des Philosophierens bereichert. Vor allem Hegel hatte die Opposition der ironischen Pilosophie Schlegels zu seiner Philosophie des Absoluten deutlich gesehen. Mit aller polemischen Schärfe verurteilte er deshalb die philosophische Ironie Schlegels als »Absolute Sophisterei«3 und »das Böse«4 in der Form der subjektiven Eitelkeit.

1. ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹. Die frühromantische Infinitisierung der Ironie Hegel hat bekanntlich die frühromantische Ironie als »Absolute Sophisterei«5 und »das Böse«6 in der Form der subjektiven Eitelkeit verurteilt und damit das negative Bild F. Schlegels bis weit ins 20. Jahrhundert bestimmt. Dies geschah aus der parteilichen Sicht Hegels sicherlich nicht ohne Grund. Denn tatsächlich stellt die infinite Ironie F. Schlegels das genaue 1 2

3 4 5 6

Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 14,2, Göttingen 1966, S. 670. Hans Dierkes: »Ironie und System. Friedrich Schlegels ›Philosophische Lehrjahre‹ (1797–1799). In: Philosophisches Jahrbuch 97 (1990), S. 251–276; Peter L. Oesterreich: »›Wenn die Ironie wild wird …‹: Die Symbiose von Transzendentalphilosophie und Tropus bei Friedrich Schlegel«. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993), S. 31–39; Eberhard Ostermann: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik, München 2002, S. 177–226. Hegel: W 7,280. Hegel: W 7,279. Hegel: W 7,280. Hegel: W 7,279.

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Gegenbild zum ostentativen Ernst der Hegelschen Systemphilosophie dar. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das Bild Schlegels auch im Zuge der Rezeptionen seines Ironiekonzeptes sowohl im modernen Sprachpragmatismus7 als auch im postmodernen Dekonstruktionismus vom Bannspruch des Hegelschen Vorurteils befreien können. Dabei hat die philosophische Rehabilitierung F. Schlegels inzwischen zu einer verstärkten Beachtung seines originellen Stils frühromantischen Philosophierens geführt, in dessen Zentrum die Figur der infiniten Ironie steht.8 Während die fachphilosophischen Interpretationen die Genese der frühromantischen Philosophie F. Schlegels in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der frühen Grundsatzphilosophie der Fichteschen Wissenschaftslehre herausstellen, wird zudem von literaturtheoretischer Seite die Herkunft seines infiniten Ironiekonzeptes aus der Rhetoriktradition betont.9 Insgesamt gesehen entspringt das frühromantische Philosophieren F. Schlegels somit zwei Hauptquellen: der Tradition der klassischen Rhetorik und der von Kant und Fichte transzendentalphilosophisch begonnenen transzendentalphilosophischen ›Revolution der Denkart‹. Bei Schlegel erfährt der transzendentalphilosophische Ansatz Fichtes eine durch die Rhetoriktradition angestoßene Potenzierung der Rede- und Rhetorikreflexivität, die sich in einem qualitativ neuen Stil des Philosophierens niederschlägt. Die sich bei Fichte nur punktuell andeutende objektive Ironizität, die der rhetorische Kunstcharakter seines Philosophierens in sich birgt, bleibt bei F. Schlegel nicht nur ein äußerer redereflexiver Kommentar, sondern rückt als Grundfigur der infiniten Ironie ins Zentrum seiner philosophischen Prinzipienlehre. Von daher kann die ironische Philosophie Schlegels, kurz gefasst, als eine Symbiose der Transzendentalphilosophie mit dem rhetorischen Tropus ›Ironie‹ charakterisiert werden. 1.1 Die philosophische Ironie als ›freieste aller Lizenzen‹ Bekanntlich betont Schlegel den philosophischen Gebrauch der Ironie und relativiert ihren rhetorischen: »Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie … Freilich gibts auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabne Urbanität der sokratischen Muse, was die Pracht der 7 8 9

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Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1991. Dierkes: Ironie und System; Oesterreich: »›Wenn die Ironie wild wird …‹; Frank: ›Unendliche Annäherung‹, S. 862–948. Schanze: Romantik und Aufklärung, S. 87ff.; Peter D. Krause: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800, Tübingen 2001.

glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Styl.«10 Diese Erhebung der Ironie von der rhetorischen auf die philosophische Ebene führt zwar von ihrem partikularen und technisch-polemischen Gebrauch weg. Dies geschieht aber trotz der kritischen Spitze gegen Schulrhetorik und Regelpoetik nicht im Sinne einer bloßen Negation rhetorischer Ironie – vielmehr im Sinne ihrer Potenzierung durch ihre Infinitisierung. Der rhetorische Tropos wird »ins Unendliche entwickelt«11 und die dergestalt infinitisierte Ironie erweitert sich zur Totalität urbaner Lebensform und durchgängig sokratischer Geisteshaltung. Die Ironie steigert sich somit von der bloßen Redewendung zur existenziellen und darüber hinausgehend sogar bis zur universalontologischen Grundfigur. Der Prozess ihrer Infinitisierung und philosophischen Potenzierung verläuft über die Stufen ihres rhetorischen, existenziellen und universalontologischen Gebrauchs: 1. Ironia verbi: Die Ironie als Redewendung ist nach Quintilian ein rhetorischer Tropos. Dieser gibt als vom Hörer durchschaute Verstellung »das Gegenteil von dem zu verstehen, was ausgesprochen wird«12, z. B. Lob durch Tadel oder Tadel durch Lob. Die Ironie thematisiert nicht direkt, sondern gibt etwas nur indirekt durch die Äußerung und gleichzeitige Aufhebung seines Gegenteiles zu verstehen.13 Sie ist der typische Tropus geistreicher und in sich reflektierter Rede, die das Verstehen antithetischer Sinnebenen und die Operation der doppelten Negation voraussetzt. 2. Ironia vitae: Quintilian weist darauf hin, dass die Ironie nicht nur als vereinzelter Tropus, sondern auch als Figur, die das gesamte Denken, Reden und Handeln eines Menschen prägt, auftreten kann. Das Musterbeispiel für die ironische Verstellung, die als durchgängige Figur den gesamten Lebensstil einer Person prägt, ist Sokrates. »Dagegen handelt es sich bei der Figur der Ironie um Verstellung der Gesamtabsicht …, da ja sogar ein gesamtes Leben Ironie zu enthalten scheint, wie es bei Sokrates der Fall zu sein schient – denn deshalb hieß er der ›Ironiker‹, weil er den Unwissenden spielte und Bewunderer anderer vermeintlich Weiser.«14 Die Ironie in ihren beiden Spielarten der Dissimulation (›So tun, als ob nicht‹) 10 11 12 13

14

Schlegel: KA 2,152. Schanze: Romantik und Aufklärung, S. 94. Quintilianus: Institutionis, IX,2,44. Auf die Bedeutung des Gegensatzkriteriums (Gegensatz und nicht nur Abweichung von Gesagtem und Gemeinten) für die strikte Ironiedefinition hat Wolfgang G. Müller hingewiesen: »Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini«. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. v. Christian Wagenknecht, Stuttgart 1988, S. 189–208. Quintilianus: Institutionis, IX 2,46.

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und Simulation (›So tun, als ob‹) wird so beim Ironiker Sokrates zur existenziellen Grundfigur.15 3. Ironia entis: Die universalontologische Ironie betrifft nicht nur die menschliche Existenz und Lebenswelt, sondern das Seiende im Ganzen. In den beiden folgenden Athenaeum-Fragmenten lässt sich diese universalontologische Entgrenzung des Ironiegebrauches erkennen: »Ironie ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.«16 Und weiter heißt es: »Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann.«17 Demnach enthält das durchgängig ironische Bewusstsein die klare Erkenntnis des Weltgrundes, des kosmogonischen Chaos. Die Ironie wird hier auf das Seiende im Ganzen bezogen und damit zur universalontologischen Kategorie. Friedrich Schlegels frühromantische Philosophie der infiniten Ironie greift nun diese grundsätzlichen Möglichkeiten der Infinitisierung von der ironia verbi über die ironia vitae bis zur ironia entis explizit auf. Dabei gelingt ihm in den frühen Lyceum- und Athenaeum-Fragmenten der Entwurf jenes radikalen frühromantischen Liberalismus, auf den im Folgenden eingegangen werden soll. Grundsätzlich entfaltet auch die infinitisierte philosophische Ironie ein Widerspiel entgegengesetzter Momente, dessen Zweideutigkeit sich nicht mehr in die Eindeutigkeit überführen und auflösen lässt. So bewegt sich die sokratische Ironie zwischen absichtlicher und unbewusster Verstellung hin und her. Sie ist beides: eine »durchaus unwillkürliche und doch durchaus besonnene Verstellung«18. Diese Amphibolie der Ironie setzt sich in einer ganzen Reihe entgegengesetzter Bestimmungen fort. »In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen und alles tief verstellt.«19 Als unaufhörliches Wechselspiel zwischen entgegengesetzten Momenten verweigert die Ironie die Auflösung von polarer Spannung. Permanent bewegt sie sich in der Mitte zwischen ihrer Auflösung durch Eindeutigkeit und diffuser Mehrdeutigkeit. Dabei vermittelt sie »das Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung«20. Als »freieste aller Lizenzen«21 opponiert die versa15

16 17 18 19 20

50

Zur Ironie als existenzieller Grundfigur s: Peter L. Oesterreich: Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, S. 132ff. Schlegel: KA 2,263. Ebd. Schlegel: KA 2,160. Ebd. Ebd.

tile ironische Gesinnung dem eindimensionalen Ernst der »harmonisch Platten«22, die »den Scherz gerade für Ernst und den Ernst für Scherz halten«23. Die Ironie zeigt sich ferner im Gegensatz zum dialektischen Prozess im Hegelschen Sinne gegen jede Art von Identität und endgültiger Vermittlung unversöhnlich. Ohne das Moment der begrifflichen Aufhebung stellt sie in der permanenten Vergegenwärtigung des unauflöslichen Widerstreites ihre Ideen dar. »Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.«24 ›Idee‹ im Sinne des ironischen Idealismus bestimmt sich demnach als absolute Synthesis absoluter Antithesen. Dabei übersieht der Kritiker Hegel die Eigenständigkeit des Schlegelschen Ansatzes, wenn er behauptet: das »Objektive der Ironie ist die Dialektik«25. Anstelle der einen allversöhnenden Dialektik tritt bei Schlegel eine unversöhnliche Ironik, die im steten Wechsel zwischen besonderen Gegensätzen kein vermittelndes Allgemeines aufkommen lässt. Die Bewegung des rhetorischen Tropus, »das Widerspiel zweier konträrer Modalitäten«26, wird hier verabsolutiert. Insofern die infinite Ironie F. Schlegels die »Form des Paradoxen«27 gerade nicht im Sinne einer systematischen Harmonisierung auflöst, bildet sie einen schneidenden »Kontrast zur ganzen Tradition metaphysischer Letztbegründungsversuche«28. Die Schlegelsche Ironik erzeugt in der unaufhörlichen Vergegenwärtigung von absoluten Antithesen jene ›ewige Agilität‹ und jenes ›unendliche Chaos‹, aus dem durch die absolute Synthesis der produktiven Einbildungskraft dennoch eine Welt entsteht. In künstlerischer Hinsicht erscheint diese infinite Ironik als poetische Reflexion, die Schlegels berühmtes Konzept der progressiven Universalpoesie – der Vereinigung von Poesie, Philosophie und Rhetorik – trägt. Dabei besteht ihr Wahrheitsanspruch darin, dass nur sie Kunstwerke ermöglicht, die »ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden«29. 21 22 23 24 25 26 27 28

29

Ebd. Ebd. Ebd. Schlegel: KA 2,184. Hegel: W 7,281. Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 41979, S. 93. Schlegel: KA 2,153. Lore Hühn: »Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte«. In: Fichte-Studien 12 (1997), S. 127–151, hier: 136. Schlegel: KA 2,182.

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Die progressive Universalpoesie gründet in der geistigen Haltung, »frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte (zu) schweben«30. Hier tritt die neben der rhetorischen Ironie zweite Hauptquelle des ironischen Idealismus deutlich hervor: Fichtes Lehre von der produktiven Einbildungskraft in der Grundlage der Wissenschaftslehre (1794).31 Fichte bestimmt dort die »Einbildungskraft als ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt«32. Als das »Schweben der Einbildungskraft zwischen widerstreitenden Richtungen« erscheint das ›Widerspiel‹ des rhetorischen Tropus hier transzendental vertieft. Dieses Hin- und Herschweben der transzendentalen Einbildungskraft bedeutet dabei ein absolutes Übergehen zwischen Gegensätzen. »Es hat keine fixen Pole und bestimmten Richtungen.«33 Die für den klassischen rhetorischen Tropus ›Ironie‹ definierte Fixierung eines eigentlich Gemeinten auf der einen Seite und des uneigentlichen Geäußerten auf der anderen hebt sich im absoluten Schweben der transzendentalen Einbildungskraft auf. Dagegen ist das Vermögen der Fixierung und der festhaltenden Bestimmung der Verstand: »Der Verstand ist Verstand, blos insofern etwas in ihm fixirt ist; und alles, was fixirt ist, ist blos im Verstand fixirt.«34 Die für den Schlegelschen Ironiebegriff bezeichnende Problematik der produktiven Einbildungskraft tritt hier zu Tage: Einerseits vermag ihr Schweben und Überleiten das Wunder der absoluten Synthesis absoluter Antithesen und bildet das Lebens- und Realitätsprinzip der organischen Einheit des Selbstbewusstseins. Andererseits vermag sie die von ihr permanent produzierte Realität nicht zu fixieren und zur gegenständlichen Bestimmtheit zu bringen. »Die Einbildungskraft produciert Realität; aber es ist in ihr keine Realität; erst durch die Auffassung und das Begreifen im Verstande wird ihr Produkt etwas Reales.«35 Die freischwebenden Produktionen der Einbildungskraft haben noch nicht den Charakter einer objektiv bestimmten Realität. In diesem Gegensatz der schwebenden Einbildungskraft zum fixierenden Verstand spiegelt sich die klassische Opposition des Erfindungsvermögens (ingenium) und des Beurteilungsvermögens (iudicium). Die absolute Inventio der Einbildungskraft schafft ein pro30 31

32 33 34 35

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Ebd. Zu Fichtes Lehre von der produktiven Einbildungskraft siehe die Darstellung von Wolfgang Janke in: Fichte. Sein und Reflexion, Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, S. 145ff. Fichte: GA 1,2,360. Janke: Fichte, S. 151. Fichte: GA 1,2,374. Ebd.

duktives Chaos, das erst durch die Dispositio des urteilenden Verstandes zur objektiven Realität geordnet wird. 1.2 Liberalität, Urbanität und Pluralismus der Persönlichkeit Das in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 dargestellte vorbewusste Schweben der transzendentalen Einbildungskraft bildet allerdings noch nicht die hochbewusste Geisteshaltung der Schlegelschen Ironie. Diese entsteht erst dadurch, dass die vorbewusste »Freiheit des Schwebens«36 mit Bewusstsein ergriffen wird und zur existenziellen Haltung eines kompromisslosen geistigen Liberalismus gesteigert wird. Seine infinite Ironik bedeutet dabei keineswegs – wie Hegel meinte – den bloßen Ausdruck willkürlicher Subjektivität, sondern eine bewusste Geisteshaltung, die dem vorbewussten Prinzip der produktiven Einbildungskraft entspricht. Die objektive Wahrheit der Ironie besteht somit darin, dass nur sie die ansonsten verborgene transzendentale Grundbewegtheit des gegenständlichen Welt- und Selbstbewusstseins öffentlich darzustellen vermag. Mit der konsequenten Übernahme des transzendentalen Tätigkeitsmusters in die bewusste Lebensführung wird das absolute Schweben bei Schlegel zum leitenden Handlungsstil und die infinite Ironik – das unfixierte Hin und Her zwischen den Gegensätzen – zur existenziellen Grundfigur. Diese verabschiedet das Ideal uniformer personaler Identität und fordert den »steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«37, in dessen Rhythmus sich das Dasein zu einer »ununterbrochene(n) Kette innerer Revolutionen«38 gestaltet. Mit dieser ironischen ›Revolution der Denkart‹ vollzieht der absolute Liberalismus eine kritische Distanzierung vom »gemeinen Standpunkt«39 der bürgerlichen Lebenswelt und der ihr korrelierenden historisch-kritischen Wissenschaft.40 Die eigentliche Intention geht aber über eine äußere Kritik des bürgerlichen Kulturbetriebes und seiner positionellen Verhärtungen hinaus und zielt auf die positive Möglichkeit der universell gebil36 37 38 39 40

Fichte: GA 1,2,380. Schlegel: KA 2,172. Schlegel: KA 2,255. Schlegel: KA 2,261. »Die beiden Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik sind das Postulat der Gemeinheit und das Axiom der Gewöhnlichkeit. Postulat der Gemeinheit: Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn es ist außerordentlich und zum mindesten verdächtig. Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns und um uns ist, so muß es überall gewesen sein; denn es ist ja alles so natürlich« (Schlegel: KA 2,149).

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deten Persönlichkeit. »Liberal ist, wer von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist und in seiner ganzen Menschheit wirkt …«41 Der positive Sinn der infiniten existenziellen Ironie besteht darin, alle inneren Fixierungen zu negieren und so im Individuum das Universelle des Menschheitlichen freizusetzen. Schlegel zeigt hier eine unverkennbare Affinität zum humanistischen Ideal des homo universalis. »Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität.«42 Für ihn verbindet die allseitige Persönlichkeit in sich die Momente ironischer Liberalität und universeller Bildung. »Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.«43 Kennzeichnend für die universelle Persönlichkeit ist eine extreme innere Pluralität, die den gewöhnlichen Erwartungen eindimensionaler personaler Identität radikal widerspricht. Absolute Liberalität und Bildung erfordert einen »Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich enthält«44. Schlegels Postulat von der inneren Pluralität der Persönlichkeit nimmt dabei einen zentralen Gedanken aus Kants Kritik der Urteilskraft auf, den der erweiterten Denkungsart. Diesen für die aufgeklärte Subjektivität kennzeichnenden Denkstil erwirbt – so Kant – jemand, »wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzten, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektirt«45. Aufklärung entsteht hier durch die Verbindung von erweiternder und steigernder Amplifikation: Erstens wird das Bewusstsein durch die mentale Transposition in ›den Standpunkt anderer‹ erweitert und zweitens durch die reflektierende Urteilskraft in einen ›allgemeinen Standpunkt‹ gesteigert. Der liberale Denkstil des frühromantischen F. Schlegel nimmt das Aufklärungskonzept der erweiterten Denkart Kants auf und wandelt es zugleich ab: »Aber sich willkürlich bald in diese bald in jene Sphäre, wie in eine andre Welt, nicht bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele versetzen; bald auf diesen bald auf jenen Teil seines Wesens frei Verzicht tun, und sich auf einen andern ganz beschränken; 41 42 43 44 45

54

Schlegel: KA 2,253. Schlegel: KA 2,251. Schlegel: KA 2,154. Schlegel: KA 2,185. Kant, AA 5,295.

jetzt in diesem, jetzt in jenem Individuum sein Eins und Alles suchen und finden, und alle übrigen absichtlich vergessen …«46 Schlegel greift hier zweifellos den Gedanken einer erweiternden Amplifikation des Bewusstseins auf: die Negation der eigenen Beschränkungen und die Selbstversetzung in die Position der anderen. Die von Fichtes Theorie der produktiven Einbildungskraft her gedachte existenzielle Ironik gestaltet sich – mittels der Kantischen Idee des Sichversetzens »an die Stelle jedes andern«47 – zu einem Hin- und Herschweben zwischen gegensätzlichen Weltansichten, in dem sich der innere Pluralismus der universellen Persönlichkeit erzeugt. Dabei entfällt im Zuge der Infinitisierung dieses interpersonalen Schwebens bei Schlegel bezeichnenderweise die steigernde Amplifikation des Bewusstseins bis zu einem ›allgemeinen Standpunkt‹, die bei Kant die eigentliche Leistung der reflektierenden Urteilskraft war. Der absolute geistige Liberalismus verweigert sich auch hier jeder Aufhebung in allgemeine Identität. Die infinite Ironie Schlegels entflieht jedem positionellen Denken: der Macht des fixierenden Verstandes bei Fichte, dem allgemeinen Standpunkt der reflektierenden Urteilskraft bei Kant und der dialektischen Aufhebung bei Hegel. Nur in der kompromisslosen Permanenz der ›Freiheit des Schwebens‹ glaubt Schlegel sein positives Ziel, die Selbstschöpfung einer allseitigen Persönlichkeit, in deren »Innern das Universum … reif geworden ist«48, erreichen zu können. 1.3 Die Gefahr des Umschlags grenzenloser Ironie in absoluten Ernst Die infinite Ironie durchdringt in der frühromantischen Philosophie Schlegels nicht nur die literarische Form ihrer Darstellung, sondern auch ihren eigenen Begriff. In Schlegels ironisch gemeintem »System der Ironie«49 bezeugt sich ihr Zug zum radikalen Pluralismus in einer Vielfalt von Ironiebegriffen: der ›groben‹, ›feinen‹, ›delikaten‹, ›extrafeinen‹, ›redlichen‹, ›dramatischen‹ und ›doppelten‹ Ironie. Nach der Verdopplung folgt die Potenzierung zur »Ironie der Ironie«50. Diese von jedem positionellen Denken befreite und potenzierte Ironie, in der sich die ›Freiheit des Schwebens‹ ewig erhalten soll, stellt den äußersten Gedanken der Schlegelschen Philosophie der Ironie dar.

46 47 48 49 50

Schlegel: KA 2,185. Kant: AA 5,294. Schlegel: KA 2,185. Schlegel: KA 2,369. Ebd.

55

Die Gefahren seiner extremen Ironie der Ironie werden von Schlegel selbst benannt. Die Attraktivität der Ironie besteht in ihrer Abweichung und Kontrastwirkung zur Gewöhnlichkeit, die durch ihren unbegrenzten Gebrauch sich selbst zerstört. So kann es selbst der Ironie der Ironie geschehen, »daß man sie doch eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird«51. Im Zuge der unbegrenzten Ironisierung droht ferner die Freiheit des ironischen Idealismus in die Notwendigkeit eines Ironiezwanges umzuschlagen, da man nun permanent »wider Willen Ironie machen muß«52. Schließlich – »wenn die Ironie wild wird und sich gar nicht mehr regieren läßt«53 – scheint sich der Prozess progressiver Ironisierung zu verselbstständigen und sie gegen den zu kehren, der sie einst selbst entfesselt hat. Dennoch ist die ironische Philosophie des frühen F. Schlegel nicht mit dem massendemokratischen und postmodernen Ironismus zu verwechseln. Die infinite Ironie bleibt bei ihm in den Grenzen »der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur«54 bürgerlicher Geisteshaltung. Innerhalb der Grenzen bürgerlicher Vernunft bleibt die Ironie an das Ideal der universellen Persönlichkeit und dem zugrunde liegenden transzendentalen Gedanken der organischen Einheit produktiver Einbildungskraft gebunden. Erst durch die Entkopplung der Figur der infiniten Ironie von ihrem transzendentalen Fundament entsteht der Ironismus des 20. Jahrhunderts, der für die massendemokratische Gesellschaft und ihren postmodernen Pluralismus kennzeichnend ist. Im Gegensatz zum binären Modell des rhetorischen Tropus – der fixierten Opposition von Innen und Außen, Gemeintem und Gesagtem, Eigentlichem und Uneigentlichem – übernimmt der sich schon bei Nietzsche abzeichnende postmoderne Ironismus den Gedanken der infiniten Vertauschbarkeit, nach der die Gegensätze und Pole »vertauscht und einander willkürlich substituiert werden können«55. Die prinzipielle »Nicht-Entscheidbarkeit«56 des Sinnes und das Moment eines »radikalen Pluralismus«57 sind Signaturen des postmodernen Ironismus, 51 52 53 54

55 56 57

56

Ebd. Ebd. Ebd. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 17. Paul de Man: »Rhetorik der Tropen (Nietzsche)«. In: Rhetorik. Bd. II. Hg. v. Josef Kopperschmidt, Darmstadt 1991, S. 170–188, hier: S. 175. Jacques Derrida: »Sporen. Die Stile Nietzsches«. In: Nietzsche aus Frankreich. Hg. v. Werner Hamacher, S. 131–168, hier: S. 152. Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim 1988, S. 39.

der den urbanen Geist der »liberalen Utopie«58 absoluter individueller Selbsterfindung wiederholt. Losgelöst von Transzendentalphilosophie und Rhetorik wird die infinite Ironie als Figur unbegrenzter Vertauschbarkeit freigesetzt, die alle festen Oppositionen dekonstruiert und den Prozess der progressiven Ironisierung aller Verhältnisse unumkehrbar zu machen scheint. Die derart freigesetzte infinite Ironie potenziert allerdings auch die schon von Schlegel gesehene Gefahr, dass die durch sie gewonnene individuelle Freiheit unvermittelt in die Zwangslage umschlägt, dass man »nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann«59. So droht am Ende die grenzenlos gewordene philosophische Ironie in einen neuen, absoluten, religiösen Ernst umzuschlagen. Dieser tatsächlichen Gefahr eines unendlichen ironischen Regresses gewärtig, stellt der frühromantische F. Schlegel deshalb – geradezu prophetisch die religiöse Wende seiner Spätphilosophie antizipierend – schließlich auch noch die selbstkritische Frage: »Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können?«60 Dies schließt aber nicht aus, dass F. Schlegel zunächst in seinem skandalumwitterten Roman Lucinde ganz im Sinne des freien, frühromantischen Geistes infiniter Ironie eine neue, romantische Konzeption der geschlechtlichen Liebe entwirft.

2. Lucinde. Die frühromantische Neuerfindung der Liebe In den postmodernen und (post-)feministischen Diskursen der letzten Jahrzehnte zeichnet sich eine rhetorische Wende (rhetorical turn) ab, welche die traditionelle subjekttheoretische Vorherrschaft der Logik radikal infrage stellt. Sowohl die postmoderne und feministische Dekonstruktion des klassischen – als ›männlich‹, ›patriarchalisch‹, ›phallokratisch‹ kritisierten – rationalistischen Subjektbegriffes, als auch die postfeministische Rekonstruktion weiblicher Subjektivität bedienen sich dabei des alternativen Begriffsinstrumentariums der Rhetorik.61 Die Logik wird durch die Rhetorik oder – ikonographisch gesehen – die geballte Faust gegen die geöffnete Hand abgelöst. An die Stelle der starren identitätslogischen Konzepte treten nunmehr pluralistische und alteritätsbezogene Entwürfe ge58 59 60 61

Rorty: Kontingenz, S. 15. Schlegel: KA 2,369. Ebd. Einen umfassenden Überblick gibt Silvia Pritsch: Rhetorik des Subjekts. Zur textuellen Konstruktion des Subjektes in den feministischen und postmodernen Diskursen, Bielefeld 2008.

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schlechtlicher Subjektivität, welche das verdrängte Andere der Rationalität – die Momente des Natürlichen, Leiblichen, Sinnlichen, Ästhetischen, Emotionalen und Sexuellen – neu erschließen. Durch diese Vorliebe für die Rhetorik und das Bemühen einer »Einbeziehung der naturhaften, nichtrationalen Seiten des Menschen in die moderne Konzeption des Subjekts«62 erweist sich die gegenwärtige Feminismus- und Gender-Diskussion auch als eine geistesgeschichtliche Tochter der Romantik.63 Der Rückblick auf die Romantik offenbart aber auch ein bisher wenig beachtetes Theoriedefizit der gegenwärtigen postmodernen und (post-) feministischen Diskurse, welche heute versuchen, die geschlechtliche Subjektivität aus dem Gesichtspunkt ihrer rhetorischen Verfasstheit zu dekonstruieren oder zu rekonstruieren. Hierbei fällt auf, dass der vom Poststrukturalismus stark beeinflusste (Post-)Feminismus nur einen relativ kleinen Teil des klassischen Systems der Rhetorik rezipiert: er beschränkt sich auf die stilistische Lehre von den Tropen und dort wiederum wesentlich auf die beiden Tropen ›Metapher‹ und ›Metonymie‹.64 Dieser tropologische Reduktionismus, welcher auf dem poststrukturalistischen Metapher-Metonymie-Dualismus beruht, bildet eine theoretische Engführung, die in den folgenden Überlegungen zur sexuellen Selbsterfindung geschlechtlicher Subjektivität bei Friedrich Schlegel korrigiert werden soll. Ausgerechnet diejenige Trope, die – wie schon G. Vico betont – erst in den »Zeiten der Reflexion«65 entstehen kann und somit die rhetorische Grundfigur moderner Existenz darstellt, fehlt weitgehend im topologischen Repertoire der gegenwärtigen Gender-Diskussion. Der Tropus der Ironie, welcher gerade das moderne und »›sentimentale‹ Gegenstück«66 zu den naiven, mythogenen Tropen der Metapher, Synekdoche und Metonymie bildet, fällt somit heute weitgehend für die rhetorische Rekonstruk62

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Cornelia Klinger: »Romantik und Feminismus. Zur Geschichte und Aktualität ihrer Beziehung«. In: Feministische Vernunftkritik. Ansätze und Traditionen. Hg. v. Ilona Ostner / Klaus Lichtblau, Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 29– 52, hier: S. 32. Zur Affinität der Romantik zur Rhetorik vgl. Helmut Schanze: Literarische Romantik, Stuttgart 2008, hier: S. 158–173. Vgl. Pritsch: Rhetorik, S. 451ff. Zwar werden besonders in den Queer Studies Phänomene wie Travestie, Parodie und karnevalistisches Rollenspiel thematisiert, aber bezeichnenderweise auf der tropologischen Theorieebene nicht der Ironie zugeordnet. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Tbd. 2. Hg. und übers. v. Vittorio Hösle / Christoph Jermann, Hamburg 1990, S. 194. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991, S. 55.

tion geschlechtlicher Subjektivität aus. Um dieses gravierende tropologische Theoriedefizit zu beheben, lohnt der folgende kurze Blick zurück, zunächst noch einmal auf Schlegels frühromantisches Konzept der infiniten Ironie in seinen Athenaeum-Fragmenten. Anschließend wird sich zeigen, welche tragende Rolle die Grundfigur der Ironie in den literarischen Selbsterfindungsexperimenten geschlechtlicher Subjektivität in seinem Lucinde-Roman spielt. Abschließend soll dann noch kurz die Synekdoche als zweite, der Ironie entgegengesetzte tropologische Grundfigur Erwähnung finden, durch welche sich die religiöse Dimension der frühromantischen Neuerfindung von Liebe und Sexualität erschließt. 2.1 Infinite Ironie als moderne Grundfigur autoinvenienter Subjektivität Vor allem in seinen Athenaeum-Fragmenten stellt F. Schlegel sein für die Frühromantik um 1800 maßgebliches Konzept infiniter Ironie vor, das einen neuen und philosophisch entgrenzten Gebrauch des traditionellen rhetorischen Tropus vorsieht. Mit einer kritischen Spitze gegen die Schulrhetorik und im Blick auf den platonischen Sokrates betont Schlegel, wie gesagt, dass die Philosophie, die ›eigentliche Heimat der Ironie‹ sei. Schlegels frühromantische Philosophie der Ironie verwandelt die an der Urteilslogik orientierte, von Kant ausgehende Transzendentalphilosophie in eine rhetorikaffine Subjekttheorie, die sich auf das tropologische Konzept der infiniten Ironie fokussiert. Schlegel verleiht damit der überlieferten rhetorischen Tropologie jene grundsätzlich erweiterte anthropologische und subjekttheoretische Bedeutung, die – wenngleich auf den MetapherMetonymie-Dualismus verlagert – in der postmodernen und poststrukturalistischen Diskussion der Gegenwart ihre aktuelle Reprise findet. Bei Schlegel ist es dagegen der Tropus der Ironie, der sich zu einer existenziellen Grundfigur rhetorisch verfasster Subjektivität verwandelt. Die auf einzelne Redewendungen oder Textstellen begrenzte schulrhetorische Ironia verbi geht hierbei über in die infinite Figur der Ironia vitae, welche dann den gesamten Lebensstil und die grundlegende Art und Weise subjektiver Selbstrepräsentation zu prägen vermag.67 Zunächst setzt Schlegels methodische Operation der subjekttheoretischen Infinitisierung an bei dem finiten Gebrauch der Ironie innerhalb der schulrhetorischen Tropologie. Als Ironia verbi beschränkt sich die Verwendung der Ironie im System der klassischen Rhetorik auf einzelne Re67

Vgl. Oesterreich: Fundamentalrhetorik, S. 132ff.; Ders., »Ironie«. In: RomantikHandbuch. Hg. v. Helmut Schanze, Hamburg 22003, S. 352ff.

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destellen und bezieht sich somit nur auf einen begrenzten Teilakt einer insgesamt komplexen Redehandlung. Dabei stellt schon Quintilians schulrhetorische Definition des rhetorischen Tropus die Indirektheit und Kontrarietät der Ironie heraus. Im ironischen Redeakt gibt demnach der oder die Redende dem Rezipienten in der Form einer durchschaubaren Verstellung »das Gegenteil von dem zu verstehen, was ausgesprochen wird«68. Die Indirektheit der ironischen Äußerung besteht folglich darin, dass der ironische Redeakt etwas durch die Äußerung seines Gegenteils zu verstehen gibt, z. B. Lob durch Tadel oder umgekehrt Tadel durch Lob. Das dem ironischen Redeakt innewohnende Moment der Inversion basiert somit in dem antithetischen Verhältnis von der Oratorix Geäußerten und dem von ihn eigentlich Gemeinten. Zu den auffälligen und abstechenden Gelingensbedingungen des ironischen Redeaktes gehört, dass der Auditor die Äußerung der Oratorix gerade nicht als eigentlich und ernsthaft auffassen darf, sondern sie aufgrund der ihm gegebenen Ironieanzeichen als uneigentlich und unernst gemeint dekodieren muss. Als ernsthafte Äußerung missverstanden scheitert dagegen sein Vollzug und degeneriert zur Lüge.69 Der ironische Redeakt spielt somit mit dem redereflexiven Wissen um die in der menschlichen Rede prinzipiell angelegte Möglichkeit einer Differenz von Gesagtem und Gemeintem. Die witzige Indirektheit ironischer Rede hebt die naive Annahme der Ernsthaftigkeit des direkt Geäußerten auf, um beim Rezipienten die freie Reflexion auf die Möglichkeit des Gegenteils anzustoßen. Demnach kann der ironische Redeakt nur durch eine doppelte Negation und Parallelaktion beider Redeparteien gelingen: erstens die Negation des eigentlich Gemeinten vonseiten der Oratorix und zweitens die Negation des uneigentlich Geäußerten vonseiten des Auditors. Diese hohen Anforderungen an die redereflexive Intelligenz und Interaktionskompetenz beider Redeparteien erklärt, warum von jeher die Ironie als der typische Tropus geistreicher, witziger und urbaner Rede gilt. Das tropologische Konzept der infiniten Ironie eröffnet F. Schlegel die Chance, eine alternative Subjektphilosophie zu entwickeln, die nicht mehr an der logisch konstituierten Identität, sondern an der rhetorischen Möglichkeit schöpferischer Alterität und Pluralität interessiert ist. Schlegels Definition der bereits angesprochenen infiniten Ironie als ›absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel 68 69

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Quintilianus: Institutionis, IX,2,44. Diese konstitutionelle Unernsthaftigkeit der ironischen Lokution erklärt, warum innerhalb der von Austin und Saerle ausgehenden analytischen Sprechakttheorie und Sprachpragmatik die Ironie bis heute ein Fremdkörper darstellt.

zweier streitender Gedanken‹, stellt den traditionellen philosophiegeschichtlichen Vorrang der Einheit vor der Vielheit, der Identität vor der Alterität, des Synthetischen vor dem Antithetischen und des Systems vor dem Fragment radikal infrage. Stattdessen geht Schlegels Philosophie der Ironie von einer ursprünglichen Dualität aus und betont die prinzipielle Gleichwertigkeit des Synthetischen mit dem Antithetischen. Von dieser prinzipiellen Dualität her gedacht, erzeugt sich der produktive Prozess des Lebens in einem unaufhörlichen Widerspiel entgegengesetzter Bestimmungen, ohne in eine endgültige Synthesis einzumünden. Im Unterschied zur Identitätslogik des Hegelschen Systems, welche auf eine endgültige, dialektische Synthese aller Antithesen abzielt, entweicht bei Schlegel die tropologische Inversionsbewegung der infiniten Ironie allen Formen ihrer endgültigen Fixierung. Die alle objektiven Fixierungen und abschließenden Identifizierungen vereitelnde Figur unbegrenzter Ironie vermeidet somit die Aufzehrung des Überschusspotentials schöpferischer Subjektivität gegenüber seinen objektiven Realisationen. In künstlerischer Hinsicht führt dieses Konzept der infiniten Ironie – wie gesagt – zu Schlegels berühmten Programm der ›progressiven Universalpoesie‹ und lässt in anthropologischer Hinsicht die Perspektive einer unendlich autoinvenienter Subjektivität entstehen, welche das gewöhnliche Leitbild uniformer personaler Identität verlässt, um stattdessen die Idee einer fortgesetzten innovativen Selbsterfindung der Persönlichkeit einzufordern. Unter dem Vorzeichen der infiniten Ironie als existenzieller Grundfigur soll sich das Leben im ›steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹ vollziehen, um eine ›ununterbrochene Kette innerer Revolutionen‹ zu bilden. Dieses Ideal progressiver autoinvenienter Subjektivität, das sich im Rhythmus von ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹ permanent neu erfindet, führt zu einem modernen Ideal einer pluriformen Persönlichkeit, die gleichsam ›ganzes System von Personen‹ und eine Vielzahl personaler Rollen ermöglicht. Diese extreme Pluriformisierung und Alterisierung menschlicher Persönlichkeit durch die infinitisierte Ironie wird von Schlegel gerade nicht als Gefahr, sondern als Chance und Befreiung von eindimensionalen Identitätsformen gesehen und verbindet sich mit den humanistischen Idealen von Liberalität und Urbanität. Dass die Risiken des fortschreitenden Identitätsverlustes und der Fragmentarisierung der Persönlichkeit in seiner frühromantischen Perspektive in den Hintergrund treten, erklärt einerseits Schlegels unverkennbare Affinität zum humanistischen Ideal des homo universalis und auf der anderen Seite durch den – zunächst noch subdominanten – Einfluss eines bereits in der Frühromantik anklingenden neuen 61

religiösen Denkens, das sich mit der »Idee des Universums«70 verbindet. Die dominante Figur der infiniten Ironie, welche die schöpferische Alteritätsbewegung progressiver Subjektivität in die leere Unendlichkeit des Selbstverlustes zu treiben droht, gewinnt so ihren tropologischen Widerpart durch die identitätsstiftende Gegenfigur der totalisierenden Synekdoche, dergemäß jedes Einzelne als Teil des gesamten Universums begriffen werden kann. In diesem latenten Widerspiel mit der infiniten Synekdoche wandelt sich die infinite Ironie von der potentiell selbstdestruktiven und nihilistischen Figur unendloser Alterisierung zur positiven Figur der progressiven Diversifizierung und universellen Bildung der menschlichen Persönlichkeit in der Form einer allmählichen Approximation an die Totalität menschlicher Möglichkeiten. 2.3 ›Karneval der Lust und Liebe‹. Wechselseitige sexuelle Selbsterfindung In Schlegels Erfindung der romantischen Liebe, die er in seinen Athenaeum-Fragmenten konzipiert und in seinem Roman Lucinde inszeniert, spielt die frühromantische Figur der Ironie sowohl eine literarische als auch eine subjekttheoretische Rolle. In literarischer Hinsicht bildet die Ironie nicht nur den generellen Grundton der Athenaeum-Fragmente und der Lucinde, sondern stellt auch die wohl wichtigste Waffe in Schlegels Arsenal schriftstellerischer Polemik dar. In dieser polemischen Verwendung avanciert die Ironie zu einem literarischen Hauptinstrument der frühromantischen Rebellion und beweist hierin ihren kritisch-paradoxalen Charakter, der sich gegen die herrschende bürgerliche Ehe- und Sexualmoral richtet. »Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.«71 So entlarvt Schlegels ironische Polemik subversiv die bestehenden bürgerlichen Eheverhältnisse und desavouiert ihre mit hohem moralischen Geltungsanspruch begleiteten öffentlichen Auftritte durch den Hinweis, dass de facto fast »alle Ehen nur Konkubinate«72 seien. Die meisten faktisch bestehenden bürgerlichen Eheverhältnisse werden somit als eine staatlich legitimierte Form permanenter Prostitution demaskiert, die sich hinter einer Fassade öffentlich zur Schau getragener Ehrsamkeit verstecken. Das tertium comparationis, auf das Schlegels zunächst paradoxal anmutender, provozierender Vergleich von bürgerlicher Ehe und Prostitution aufmerk70 71 72

62

Schlegel: KA 2,267. Schlegel: KA 2,409. Schlegel: KA 2,170.

sam machen will, ist ihre gemeinsame Verkürzung der Liebe auf die rein körperliche Sexualität. Dieser sexuelle Reduktionismus, welcher die Liebe auf den rein physischen Sexualakt verkürzt, wird von Schlegel ferner durch folgende witzig-ironische Analogie zum animalischen Magnetismus karikiert: »Was oft Liebe genannt wird, ist nur eine eigene Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem schwerlich kitzelnden en rapport Setzen, besteht in einer Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern.«73 Dass es zumeist die weibliche Seite ist, für die der eheliche Sexualakt gewöhnlich ein äußerst frustrierendes Erlebnis darstellt, lässt sich indirekt aus Schlegels Gegenentwurf einer männlichen Liebeskunst erschließen, die sich in der Lucinde im Kapitel Allegorie der Frechheit findet. In dieser ironischen Parodie auf Ovids Ars amatoria und der platonischen Eros-Lehre aus dem Symposion wird der männliche Lehrling im Fach der Erotik auf der zweiten Stufe der Liebeskunst ermahnt, seine erotische Kompetenz, über die bloße ›Empfindung des Fleisches‹ hinausgehend, weiter zu entwickeln, um seinen weiblichen Gegenpart auch in seelisch-geistiger Hinsicht voll befriedigen zu können. »Ein Mann der das innere Verlangen seiner Geliebten nicht ganz füllen und befriedigen kann, versteht es gar nicht zu sein, was er doch ist und sein soll. Er ist eigentlich unvermögend, und kann keine gültige Ehe schließen.«74 An dieser Stelle wird auch die über reine Polemik hinausgehende produktive Funktion der Schlegelschen Ironie für die dynamische Neuformulierung alternativer Geschlechterrollen deutlich. Demnach ist die Männlichkeit nicht einfach bloß naturhaft gegeben, sondern vielmehr die Aufgabe einer kunstvollen erotischen Selbstkultivierung. Maskuline Subjektivität besteht demnach nicht in der bloßen Potenz zur einseitigen Ausübung des physischen Geschlechtsaktes, sondern in der entwickelten erotischen Kompetenz der vollen Befriedigung der Geliebten. Indem Schlegel hier die erotische Kompetenz und Liebesfähigkeit zur eigentlichen Legitimation der Ehe erhebt, erfindet er das romantische Ideal der Liebesehe. Damit relativiert er nicht nur die staatliche Institution der bürgerlichen Ehe, die in vielen Fällen nur der Fortpflanzung, der Sicherung der Besitzverhältnisse und der sinnlich-körperlichen Triebbefriedigung dient. Auch die zweite als legitim angesehene Geschlechterrolle, d. h. die auf körperliche Sexualität verzichtende, nur seelisch-geistige Freundschaftsliebe zwischen Männern und Frauen wird von Schlegel als nur »par-

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Schlegel: KA 2,226. Schlegel: KA 5,21.

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tielle Ehe«75 kritisiert. Jenseits dieser beiden defizitären Geschlechterrollen seiner Zeit erfindet Schlegel dagegen eine neue Form ›romantischer‹ Liebesehe, welche die gesamte Persönlichkeit der beiden Liebenden zu einem »integrante(n) Teil einer gemeinschaftlichen Personalität«76 verschmilzt und ihnen so eine volle, wechselseitige, körperlich-seelisch-geistige Befriedigung gewährt. In diesem neuen Ideal der Liebesehe, das eine geradezu mystische, erotische Vereinigung beider Partner zu einer integranten Gesamtpersönlichkeit vorsieht und wohl damit sowohl auf die Aristophanes-Rede in Platons Symposion als auch auf die mittelalterliche Liebesmystik eines Gottfried von Straßburg anspielt, kommt keineswegs ein rückwärtsgewandter, tendenziell regressiver ›Romantizismus‹ zum Ausdruck, sondern spiegelt sich vielmehr der utopische Grundzug frühromantischer erotischer Rebellion. Zweifellos enthält Schlegels Ideal der romantischen Liebesehe Anspielungen auf die mittelalterliche Amor-Topik, die das Phänomen der passionierten Liebe als weltabgewandtes Außersichsein (extasis), gefühlshafte innere Vereinigung (unio secundum affectum) und wechselseitiges Ineinandersein (mutua inhaesio) charakterisiert.77 Diese literarische Mobilisierung der mittelalterlichen Amor-Topik gewinnt aber im rebellischen Geist der Frühromantik einen durchaus modernitätskritischen und emanzipatorischen Sinn. Als literarischer Entwurf von Gegenwelt verkörpert das Schlegelsche Ideal der Liebesehe einen utopischen Antitopos befreiter Sexualität und Erotik. Zudem besitzt es ein nicht zu unterschätzendes ironisch-polemisches Potential, das sich gegen die bestehenden Verhältnisse der gesellschaftlichen Deformation des Erotischen und die institutionelle Unterdrückung geschlechtlicher Subjektivität richtet. So bekämpft Schlegel den Widersinn der repressiven Versuche, gescheiterte Ehen mit staatlicher Gewalt zusammenzuhalten, durch folgenden witzigen Kommentar: »Wenn aber der Staat gar die missglückten Eheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so verhindert er dadurch die Möglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, vielleicht glücklichere Versuche befördert werden könnte.«78 Abgesehen von dieser kritisch-polemischen Funktion auf literarischer Ebene, spielt die Figur der Ironie auch eine Hauptrolle in Schlegels innovativer Anthropologie der Geschlechter. Die infinite Ironie wird in dieser 75 76 77

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Schlegel: KA 2,229. Schlegel: KA 2,170. Zur mittelalterlichen Amor-Topik vgl. meinen Aufsatz: »Thomas von Aquins Lehre von der Liebe als menschlicher Grundleidenschaft«. In: Theologie und Philosophie 66 (1991), S. 90–97. Schlegel: KA 2,170.

Hinsicht geradezu zur dynamischen Grundfigur der progressiven und interaktiven Erfindung geschlechtlicher Subjektivität. Die durch Kontrarietät und progressive Wechselbestimmung charakterisierte typische Bewegungsform der Ironie bestimmt demnach auch die innere Dynamik der emanzipatorischen Selbstwerdung femininer und maskuliner Subjektivität. Dabei setzt Schlegels fundamentalironische Theorie der geschlechtlichen Subjektwerdung zunächst eine durch »Natur und Lage«79 de facto gegebene konträre Prädisposition beider Geschlechter voraus. So scheint z. B. die Frau als ein – allein schon aufgrund ihrer körperlichen Anlage und Organisation – zur Mutterschaft prädisponiertes ›häusliches Wesen‹ zu besitzen. Aber, so argumentiert Schlegel weiter, diese Prädisposition bedeutet gerade keine Destination. Damit widerspricht er dem typischen naturalistischen Fehlschluss eines Gender-Essentialismus, welcher von einem gegebenen Sein auf ein Seinsollen schließt. Die Feststellung einer faktisch differenten natürlichen Prädisposition heißt im Sinne Schlegels noch lange nicht, dass diese vorgegebene ›Natur oder Lage‹ zugleich auch die Destination und »Bestimmung der Frauen«80 sein soll. Im Gegenteil, denn die eigentliche Bestimmung der Frau sei – ganz im Sinne ironischer Kontrarietät – der Häuslichkeit geradezu entgegengesetzt. Damit führt Schlegel gegen den weit verbreiteten Geschlechter-Essentialismus das emanzipatorische Gegenmoment eines Geschlechter-Konstruktivismus ein, der gegen alle prädisponierenden Fixierungen die Möglichkeit freier Selbstbestimmung auch auf dem Feld geschlechtlicher Subjektivität ins Spiel bringt. Insgesamt gesehen entwirft Schlegel damit eine dynamische Theorie der Geschlechter, die aus der Antithese von essentialistischen und konstruktivistischen Theoriemomenten ihre progressive Energie bezieht. Im Unterschied zu einem radikalen postfeministischen Gender-Konstruktivismus akzeptiert Schlegels progressiver GeschlechterDynamismus damit durchaus anthropologisch essenzielle Annahmen der Geschlechterdifferenz. Aber diese bilden nur die Basis für einen gegenwendigen, alteritätsorientierten und emanzipatorischen Prozess geschlechtlicher Selbstwerdung, der – ganz im Sinne des fundamentalironischen Rhythmus’ von ›Selbstzerstörung und Selbstschöpfung‹ – auf eine kreative Neubestimmung der eigenen Feminität oder Maskulinität abzielt. So soll die Frau gerade kein ›häusliches Wesen‹ bleiben, sondern den der Häuslichkeit geradezu entgegengesetzten Weg zu einer neuen »selbstständige(n) Weib-

79 80

Schlegel: KA 8,43. Ebd.

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lichkeit«81 beschreiten, und umgekehrt der Mann eine Art »sanfte Männlichkeit«82 entwickeln. Beispielsweise wird die Geschlechterdifferenz gewöhnlich durch die Annahme einer unterschiedlichen emotionalen Affinität von Männern und Frauen gegenüber der rational ausgerichteten Philosophie einerseits und der eher das Gefühl ansprechenden Poesie oder Religion auf der anderen Seite definiert: Frauen besäßen demnach eine unmittelbare Affinität zur Poesie und Religion; Männer dagegen zur Philosophie. Eben deshalb – so argumentiert der progressive Geschlechter-Dynamismus Schlegels – sollen beide Geschlechter – ganz im Sinne einer ironischen Inversion – einen entgegengesetzten Seitenwechsel vollziehen, um der einseitigen Fixiertheit ihrer jeweiligen Ausgangssituation zu entgehen. So sollen Frauen gerade die Grenzen ihrer anfänglichen Fixiertheit auf die Religion und Poesie überschreiten und philosophieren; Männer umgekehrt sich der Poesie und Religion zuwenden. »Philosophie sei die vorzügliche Quelle ewiger Jugend für sie, wie Poesie für die Männer.«83 Diese kreative Transgression ihrer festgeschriebenen Geschlechterrollen soll bei Männern und Frauen eine emanzipatorische Progression geschlechtlicher Selbsterfindung in Gang setzen, welche ihnen jenseits der erstarrten bürgerlichen Verhältnisse eine befreiende, neue Lebendigkeit und damit eine vom biologischen Alter unabhängige gleichsam ›ewige Jugend‹ verleihen soll. Diese Progression geschlechtlicher Selbstwerdung im fundamentalironischen Rhythmus von ›Selbstzerstörung und Selbstschöpfung‹ führt über den Vollzug von Alterität zu einer Selbstpotenzierung, welche einerseits auf die Aufhebung von traditionellen Rollenklischees und andererseits auf provokante Erfindungen gesamtkulturell relevanter Vorbilder neuer Weiblichkeit und neuer Männlichkeit abzielt. Gegen die faktischen Restriktionen des realen gesellschaftlichen Lebens gibt die Figur der infiniten Ironie auch auf dem Feld der Geschlechter-Anthropologie die unbeschränkte Lizenz für das Spiel freier Selbsterfindung. Die frühromantische Literatur wird in Schlegels Lucinde so zum imaginativen Erfahrungsfeld und spielerischen Inszenierungsraum ingeniöser sexueller Rollenexperimente. Der liberale Geist der infiniten Ironie ermöglicht hier im Medium der Literatur und in der imaginativen Form ›innerer Saturnalien«, einen im gewöhnlichen Leben zumeist verbotenen großen »Karneval der Lust und Liebe«84 aufzuführen. 81 82 83 84

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Ebd. Ebd. Schlegel: KA 8,53. Schlegel: KA 5,19.

Ein Beispiel aus männlicher Perspektive bietet die Idylle über den Müßiggang aus der Lucinde, in welcher der männliche Protagonist Lucius in der Form eines Selbstgespräches die bürgerliche Arbeits- und Leistungsmoral durch ein Lob der »gottähnlichen Kunst der Faulheit«85 auf witzige Weise infrage stellt. Lucius’ ironische Inversion der Werthierarchie zwischen der – gewöhnlich den Männern zugerechneten – Aktivität und der – den Frauen zugeschriebenen – Passivität, inszeniert Schlegel in der Form eines sexuellen Rollentausches. So lässt er den männlichen Protagonisten erzählen: »Ich saß … wie ein nachdenkliches Mädchen in einer gedankenlosen Romanze am Bach, sah den fliehenden Wellen nach.«86 Diese ironische Simulation, durch die sich Lucius hier in ›ein nachdenkliches Mädchen‹ verwandelt, bildet so eine witzige Travestie, die mit den Möglichkeiten sexueller Alterität spielt. Dieser imaginative sexuelle Rollenwechsel besitzt bei aller Scherzhaftigkeit aber auch einen durchaus belehrenden Sinn für die Entwicklung einer neuen Männlichkeit, die sich durch die Erfahrung von femininer Alterität eine neue maskuline Genussfähigkeit jenseits der üblichen Extreme von Hyperaktivität und Depressivität zu erschaffen vermag. »Endlich wo ist mehr Genuß, mehr Dauer, Kraft und Geist des Genusses; bei den Frauen, deren Verhältnis wir Passivität nennen, oder etwa bei den Männern, bei denen der Übergang von übereilender Wut zur Langenweile schneller ist als der Übergang vom Guten zum Bösen?«87 Dass schließlich die geschlechtliche Selbsterfindung am besten in der Form wechselseitiger Interaktion und Simulation gelingt, betont Schlegel ferner im Kapitel Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation. »Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen und mit kindischer Lust wetteifern, wer den andern täuschender nachäffen kann, ob dir die schonende Heftigkeit des Mannes besser gelingt, oder mir die anziehende Hingebung des Weibes.«88 Im erotischen Experiment einer simulatorischen Aemulatio, eines wechselseitigen sexuellen Rollentausches, erfinden Lucius und Lucinde durch die Selbsterfahrung von Alterität ihr geschlechtliches Selbst neu. Die Liebe wird so zu einem Interaktionsraum wechselseitiger sexueller Selbsterfindung, in der Männer wie Frauen nur über die Alterität des anderen Geschlechtes ihr eigentliches Selbst erlangen können. Indem Lucinde den Part der ›schonenden Heftigkeit des Mannes‹ spielt, erweitert sie ihre Weiblichkeit um 85 86 87 88

Schlegel: KA 5,25. Ebd. Schlegel: KA 5,27. Schlegel: KA 5,12.

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ein maskulines Moment und umgekehrt; indem Lucius mit der ›anziehenden Hingebung des Weibes‹ experimentiert, bereichert er seine Männlichkeit um ein weibliches Moment. Im Chiasmus dieser sich überkreuzenden interaktiven Neuschöpfung des Weiblichen in maskufemininer Form und des Männlichen in femimaskuliner Form konkretisiert sich die romantische Utopie der Liebesehe. 2.4 Liebe, Religion und universelle Synekdoche In der frühromantischen Utopie Schlegels repräsentieren die vielfältigen Formen neuer Maskufeminität und neuer Femimaskulinität komplementäre Spielarten einer neuen Menschheit. Am Ende können die wechselseitigen sexuellen Selbsterfindungsprozesse unter der tropologischen Signatur infiniter Ironie bei Schlegel auch deshalb nicht entgleisen, weil sie in die Totalität der Menschheit und des Universums einmünden. Ganz ausdrücklich bekennt sich Schlegel in der Lucinde zum Topos des Universums als harmonische Alleinheit: »Der Gedanke des Universums und seiner Harmonie ist mir Eins und Alles.«89 Im variantenreichen Spiel wechselseitiger sexueller Selbsterfindung beider Geschlechter manifestiert sich demnach letztlich die unerschöpfliche Spielartenvielfalt des einen menschlichen Universums, dessen Diversität sich durch die progressive Dynamik der infiniten Ironie entfaltet. »Ich sehe hier eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.«90 Insofern die partikularen sexuellen Selbsterfindungsprogressionen des interindividuellen Liebesgeschehens sich derart – geradezu im Sinne einer prästabilierten Harmonie – in die universelle Totalität des menschheitlichen Gesamtlebens harmonisch einfügen, können sie bei Schlegel prinzipiell nicht verunglücken. In tropologischer Perspektive kommt damit bei Schlegel die zweite, zur infiniten Ironie antagonistische Grundfigur der universellen Synekdoche ins Spiel. Die zentralfugale Progression der infiniten Ironie verliert sich auch in sexueller Hinsicht somit nicht in eine leere, tendenziell selbstdestruktive Unendlichkeit, sondern wird durch die Gegentendenz synekdochischer Totalisierung und Rezentrierung produktiv zurückgebogen und so harmonisch in die Totalität des menschheitlichen Universums eingefangen.

89 90

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Schlegel: KA 8,49. Schlegel: KA 5,13.

Aufgrund dieser bipolaren Tropologie Schlegels, deren eines Zentrum die infinite Ironie und deren anderes die universelle Synekdoche bildet, gilt auch für seine Anthropologie der Geschlechter: »Die Philosophie ist eine Ellipse.«91 Dabei präfiguriert im gleichsam elliptischen tropologischen Denken Schlegels die dominante Figur der infiniten Ironie die Energie progressiver subjektiver Selbsterfindung; die subdominante Figur der Synekdoche dagegen die Totalität des Universums. Im Zeichen dieser – im Entwicklungsgang des romantischen Denkens immer stärker werdenden – universellen Synekdoche »berührt sich die Philosophie mit der Religion«92. Dies erklärt, warum auch bei aller Dominanz der infiniten Ironie auch schon für den mit Schleiermacher symphilosophierenden frühen Schlegel das Phänomen der Liebe, deren vielfältige Spielarten die qualitative Unendlichkeit des menschheitlichen Universums ausmachen, zunehmend einen religiösen Charakter gewinnt. »Jede Beziehung des Menschen aufs Unendliche ist Religion, nämlich des Menschen in der ganzen Fülle der Menschheit.«93 So werden am Ende auch die wechselseitigen sexuellen Selbsterfindungsprozesse der romantischen Liebe – auch durch die platonische ErosLehre inspiriert – vor dem Hintergrund religiöser Offenbarung interpretiert. Für die religiöse Andacht sei »wohl der nächste Weg, den Geliebten anzubeten«94. Der hier anklingende sokratisch-ironische Unterton zeigt allerdings, dass das progressive frühromantische Experiment der Liebe vorläufig noch weit vom affirmativen, synekdochischen Ernst ihrer spätromantischen Mystifizierung entfernt ist. In der tropologischen Konstellation der Frühromantik hat sich damit das dominante Verhältnis der infiniten Ironie zur universellen Synekdoche noch nicht in ihr spätromantisches Gegenteil verkehrt. Dies beweist auch das 10. Gebot des Schlegelschen Katechismus der Vernunft für edle Frauen, das da lautet: »Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre.«95

91 92 93 94 95

Schlegel: KA 2,267. Ebd. Schlegel: KA 2,263. Schlegel: KA 15,48. Schlegel: KA 2,231.

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3. Die Depotenzierung der Ironie in der spätromantischen Geschichtsphilosophie Im Zuge der allgemeinen religiösen und geschichtsphilosophischen Kehre der Spätromantik revidierte auch F. Schlegel seine eigene frühromantische Philosophie der infiniten Ironie.96 Diese veränderte Lehre seiner Spätphilosophie, die vor allem die drei Vortragszyklen Philosophie des Lebens (1827), Philosophie der Geschichte (1828) und Philosophie der Sprache und des Wortes (1828/29) umfasst, trug er in seinen letzten Lebensjahren öffentlich in Wien und Dresden vor. Der letzte Vortragszyklus blieb allerdings aufgrund des plötzlichen Todes Schlegels unvollendet. Diese Spätphilosophie Schlegels stellt ein wichtiges Kapitel der Entdeckung der Positivität des Geschichtlichen in der deutschen Philosophie dar. Sie opponiert dem Absolutheitsanspruch der mit logischer Notwendigkeit argumentierenden reinrationalen Vernunftkonzepten, die sich in letzter Konsequenz im System und der Geschichtsphilosophie Hegels darstellt. Zugleich vollzieht auch sie – wie z. B. auch die Spätphilosophie Fichtes oder Schellings – auf ihre Weise die typisch spätromantische Kehre zu einem neuen geschichtlich und religiös bestimmten Denken. Die unhintergehbare Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins wird dabei nicht mehr von der fraglosen Identität, sondern von der problemhaltigen Differenz zwischen apriorischer Vernunft und geschichtlicher Wirklichkeit her neu bedacht. Schon in seinen Philosophischen Lehrjahren hatte sich für Schlegel die Historie als Synthese von Kritik, Religion und Rhetorik dargestellt.97 Die Konstellation dieser drei Disziplinen bestimmt nun in modifizierter Weise auch das geschichtliche Denken seiner Spätphilosophie. Sie enthält erstens eine Kritik der idealistischen Vernunft, zweitens eine vom Prinzip des göttlichen Wortes her religiös gedeutete Weltgeschichte und drittens ein rhetorisch-narratives Konzept der Historiographie.

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Zur Entwicklung der Spätphilosophie Schlegels s.: Ernst Behler, »Die Grundlagen der Schlegelschen Spätphilosophie und Idealismuskritik«. In: KA 8, CVII– CLII. »Historie darf nie roh erscheinen, sondern stets gebunden, als Kritik – Rhetorik – Religion« (Schlegel: KA 18,312.)

3.1 ›Das tote Absolute‹. Die Kritik an der zeitgenössischen Systemphilosophie Die Modernität der Philosophie Schlegels beruht nicht zuletzt weiterhin auf ihrer ironisch-kritischen Selbstreflexion der Kunst des eigenen Philosophierens. Die metakritische Einstellung einer ›Philosophie der Philosophie‹ verhindert von vornherein die selbstvergessene Identifikation des Philosophen mit dem durch die dialektische Vernunft konstruierten System. »Der Geist einer Philosophie ist ihre Philosophie der Philosophie.«98 Diesem metakritischen Impuls der Vernunftkritik entspringt auch die Charakteristik der zeitgenössischen Systemphilosophie, insbesondere des Hegelschen Systems, die Schlegel im Rahmen seiner Jacobi-Rezension von 1822 entwirft.99 Die Kritik an den »vornehmsten Systemen der letzten Epoche der Deutschen Philosophie«100 bildet den Grundriss für die gesamte Vernunftkritik seiner Spätphilosophie. Der Ausgangspunkt dieser Fundamentalkritik an der zeitgenössischen Systemphilosophie bildet die defizitäre Charakterisierung ihres Vernunftprinzips. Vor dem Hintergrund des rhetorischen Gegensatztopos von Ratio und Imaginatio stellt sich für Schlegel die Vernunft lediglich als ein logisch-formales Vermögen reinrationaler Systemkonstruktion dar, dem die Potenz zur schöpferischen Invention des wirklich Neuen abgeht. »Als das Vermögen des logischen Denkens ist die Vernunft zugleich ein Vermögen der unendlich fortschreitenden Entwicklung in diesem Denken; nur aber erfinden, aus sich hervorbringen, kann sie nichts.«101 Damit findet die schon in das frühromantische Konzept der progressiven Universalpoesie eingehende Rehabilitierung der produktiven Einbildungskraft hier – in der Vernunftkritik des späten Schlegel – durchaus ihre Fortsetzung. Im Unterschied zur schöpferischen Einbildungskraft oder Phantasie sei die Vernunft an sich steril und unproduktiv. Aufgrund ihres prinzipiellen poietischen Defizits bleibe sie in ihrer immanenten, reinrationalen Selbstentfaltung zum absoluten System von allem Wirklichen, Lebendigen und schöpferisch Neuen abgeschnitten. Allein aus sich selbst heraus vermag die Systemvernunft somit letztlich nur das Trugbild des

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Schlegel: KA 18,37. Zur geschichtsphilosophischen ›Wechselvernichtung‹ Schlegels und Hegels s.: Ernst Behler: »Friedrich Schlegel und Hegel«. In: Hegel-Studien 2 (1963) S. 203–250, hier: S. 241–250. Schlegel: KA 8,585. Schlegel: KA 10,496.

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Unbedingten oder – wie Schlegel sich ausdrückt – des »todten Absoluten«102 vorzuspiegeln. Konkret geht Schlegels Vernunftkritik in der Jacobi-Rezension von der traditionellen Unterscheidung von Glauben und Wissen aus. Von daher lassen sich zwei entgegengesetzte Wissensformen unterscheiden: 1. Das negative Wissen, das mit dem Glauben in keiner Berührung steht. Es besteht lediglich in der Übereinstimmung des Denkens oder des Begriffs mit sich selbst. In seiner »formellen Vollkommenheit«103 und seinem Anspruch auf absolute Gewissheit und Notwendigkeit steht es der Mathematik und Logik nahe. Da es aber keine Berührung mit den positiven Gehalten und persönlichen Annahmen des geschichtlichen Lebens besitzt, artet es in der Philosophie, in »dialektisches Spielwerk, und sophistische Scheinkunst«104 aus. 2. Das positive Wissen, das mit dem Glauben verbunden ist. In dieses Wissen fließen wie im Leben freie und persönliche Annahmen ein. Es setzt den Glauben als »erste Grundlage, und als sein letztes Ziel«105 voraus. Als freies und persönliches Wissen entspricht es dem geschichtlichen Leben selbst: Es »ist die lebendige Erkenntnis des Lebens, welche wie das Leben frei ist, und daher keineswegs in die Form jener absoluten Notwendigkeit geschlagen werden darf«106. Es bildet ferner die eigentliche Wissensform der Philosophie des Lebens, die »das Umfassendste und Höchste von allem positiven Wissen«107 enthält. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung des positiven und negativen Wissens formuliert Schlegel nun sein Hauptargument gegen die zeitgenössische Systemphilosophie. Dieses zielt auf keine inhaltlichen Details, sondern auf ihre dem geschichtlichen Leben insgesamt unangemessene, negative Wissensform. Die zeitgenössischen philosophischen Systeme, so Schlegel, teilen nämlich den methodisch-formalen Grundirrtum aller ›falschen‹ Philosophie, die aus dem verkehrten Bestreben hervorgeht, »die philosophische Wahrheit in mathematischer Gewißheit durch logische Beweise«108 zu erfassen. Mit dieser generellen Methodenkritik greift Schlegel den für die Systemphilosophie maßgeblichen spinozistischen mos geometricus an und bricht mit dem cartesianischen Methodenideal des neu102 103 104 105 106 107 108

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Schlegel: KA 10,524. Schlegel: KA 8,589. Ebd. Schlegel: KA 8,589. Ebd. Schlegel: KA 8,590. Schlegel: KA 8,590.

zeitlichen Szientismus. Insbesondere Hegel tritt in dieser kritischen Charakterisierung F. Schlegels als die zuhöchst negative Figur der Infinitisierung des abstrakten Bewusstseins auf. Das hegelsche System dissimuliere seine mangelnde Originalität durch einen »unendlichen Zufluß des leeren und abstrakten Wissen(s)«109. In seinen Vorlesungen zur Philosophie des Lebens von 1828 findet sich diese Hegel-Kritik wieder. Dabei arbeitet Schlegel zunächst die geschichtliche Dynamik der zeitgenössischen Systemphilosophie deutlicher heraus. Im Hegelschen System steigere sich die unbedingte Herrschaft der Vernunft schließlich zu ihrer »Vergötterung«110. Wiederum erscheint das Hegelsche System als höchste Stufe der philosophischen Verirrung. Seine metaphysische Täuschung besteht für Schlegel darin, dass es einen konstruierten »absolute(n) Vernunft-Abgott«111 zum objektiven Prinzip allen Seins erklärt. Hegels Betonung der Negativität des Geistes gibt Schlegel überdies die Gelegenheit zu einer späten Replik, die Hegel und sein System nun seinerseits in die Nähe des Bösen rückt. Das Hegelsche System korrespondiere – so Schlegel – in seiner philosophischen Darstellung absoluter Negativität Lord Byrons dichterischer Darstellung des Luzifers: »So wird nun hier eben dieses feindliche Prinzip, dieser absolute, d. h. böse Geist der Verneinung und des Widerspruchs, auf den letzten Abwegen der deutschen Philosophie, obwohl in abstrakter Unverständlichkeit, in der Mitte des verworrenen Systems auf den Thron gestellt.«112 3.2 Weltgeschichte und göttliches Wort-Prinzip Gegen die Zersplitterung des menschlichen Bewusstseins, wie sie sich in den idealistischen Systemen darstellt, entwirft nun Schlegel in seinen späten Vorlesungszyklen eine eigene Philosophie des Lebens, die eine christlich-spirituelle Erneuerung des gesamten Bewusstseins beabsichtigt. Als Anwendung der Philosophie des Lebens auf das gesamte geschichtliche Leben der Menschheit steht die Philosophie der Geschichte mit im Zentrum dieses »neuen Anfangs der Philosophie«113. Sie zielt nicht nur auf eine innere ›Wiedergeburt‹ des individuellen Bewusstseins, sondern will darüber hinausgehend als neue Darstellung der gesamten äußeren geschichtli-

109 110 111 112 113

Ebd. Ebd. Schlegel: KA 10,16. Schlegel: KA 10,17. Schlegel: KA 9,3.

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chen Wirklichkeit zu dem sich in ihr offenbarenden »lebendigen Geist, und persönlichen Gott«114 zurückführen. Vor allem die Zurücknahme der rationalistischen Spaltung von Vernunft und Einbildungskraft soll die Philosophie wieder mit dem Positiven des geschichtlichen Lebens in Berührung bringen. Als Hervorbringung der ganzen menschlichen Seele ist vor allem die menschliche Sprache nach Schlegel nicht nur ein Produkt der Vernunft, sondern ebenso auch der Phantasie. Die Vernunft ist lediglich für die logische und grammatische Struktur der Sprache zuständig. Der »ganze figürliche und bildliche Teil derselben«115, aber auch der melodische Ton ist dagegen von der Einbildungskraft oder Phantasie hervorgebracht. Die Sprache erfährt somit bei Schlegel eine volle Rehabilitierung ihres – von der rhetorischen elocutioLehre der klassischen Rhetorik behandelten – figürlichen Charakters. Die Restitution des ursprünglichen Zusammenhangs von Vernunft und Einbildungskraft führt bei Schlegel ferner zu einer rhetorischen Anthropologie und Philosophie des Wortes, die für seine gesamte Theorie der Geschichte grundlegend ist. Der Mensch ist demnach durch das Prinzip des lebendigen Wortes bestimmt. Die maßgebliche Stelle aus der Philosophie der Sprache und des Wortes lautet: »Der Mensch, könnte man überhaupt und im Allgemeinen von ihm sagen, ist ein vollständig zur Sprache gelangtes Naturwesen; oder auch, er ist ein Geist, dem vor allen andern Wesen in der übrigen Schöpfung, das Wort, das erklärende und darstellende, das lenkende, vermittelnde und selbst das gebietende Wort, ist verliehen, mitgetheilt oder übertragen worden; und eben darin besteht seine, die gewöhnliche Fassung weit übersteigende, ursprüngliche, wunderbar hohe Würde.«116 Ausgehend von der »Idee des Wortes«117 nimmt Schlegel die rationalistische Verkürzung des Menschen auf ein animal rationale zurück und verweist auf den »innigen Zusammenhang zwischen Reden und Denken, der ein durchaus gegenseitiger ist«118. Indem er den Menschen nicht als bloßes Vernunftwesen, sondern als Wesen des lebendigen Wortes definiert, knüpft er an den für den rhetorischen Sprachhumanismus maßgeblichen Gedanken der ursprünglichen Einheit von ratio und oratio an. Das hervorstechende Charakteristikum des menschlichen Wissens ist demnach seine Gebundenheit an die rationale und bildliche Sprache, in der sich 114 115 116 117 118

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Schlegel: KA 10,56. Schlegel: KA 10,41. Schlegel: KA 10,339f. Schlegel: KA 9,29. Schlegel: KA 10,350.

Vernunft und Phantasie verbinden. Schlegel verschärft und verallgemeinert in diesem Zusammenhang ein von dem metakritischen Sprachphilosophen Hamann gegen Kant vorgebrachtes Argument:119 Indem die Systemdenker als puristische Rationalisten von der Sprachgebundenheit die Vernunft abstrahieren, verlassen sie das menschliche Maß und streben vergeblich danach, ein »unmenschliches«120, absolutes Wissen zu erobern. Erst durch die Restitution ihrer imaginativen Potenz gibt die Sprache ihre zentrale Stellung in der Positivität des geschichtlichen Lebens zurück. Als Synthese von Vernunft und Phantasie bleibt sie nicht mehr als abstrakt gefasstes Sprachvermögen im unwirklichen Raum reiner Rationalität stehen, sondern wird als lebendiges Wort zu einer Gegebenheit der geschichtlichen Erfahrungswirklichkeit. Dieser Blick auf die lebendige Realität von Wort und Rede sprengt bei Schlegel den szientistischen Theorierahmen, der die Sprache auf die propositionale Perspektive der Urteilslogik einschränkt. Seine Idee des Wortes wird der Wirklichkeit von Rede und der ganzen Vielfalt ihrer im Leben tatsächlich vorkommenden performativen Modi gerecht. Ausdrücklich hebt Schlegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den performativen Reichtum des Wortes hervor: »… denn es ist das Wort nicht bloß und allein ein verstandenes und verstehendes, ein lehrendes und lernendes, sondern zugleich auch ein liebevoll anknüpfendes, oder versöhnend ausgleichendes, ein richterlich entscheidendes und wirksam gebietendes, oder auch ein schöpferisch fruchtbares, wie uns das Wort in jeder dieser Bedeutungen aus der eignen Erfahrung und aus dem Leben selbst, denn hinreichend bekannt ist.«121 Erst indem das Wort in seinem über die propositionale Darstellungsfunktion hinausgehenden Reichtum seiner hermeneutischen, didaktischen, erotisch-kommunikativen, iudikativen, imperativen und poetischen Wirksamkeit wahrgenommen wird, kann es als »lebendig wirkende Kraft«122 begriffen werden. Durch seine lebendige praktisch-persuasive Kraft inmitten der menschlichen Lebenswelt hat das Wort ferner eine doppelte Stellung zur Geschichte. 119

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In seiner Metakritik über den Purismum der Vernunft von 1784 kritisiert Hamann die ›reine Vernunft‹ als künstliches und illusionäres Abstraktionsprodukt, das aus drei ›Purifizierungen‹ entsteht: erstens die Reinigung des Bewusstseins von der Überlieferung, Tradition und Glauben; zweitens von der Empirie und der alltäglichen Lebenserfahrung und drittens von der geschichtlichen Sprache (s. Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Hg. v. Joseph Simon, Frankfurt a. M. 1967, S. 222). Schlegel: KA 10,42. Schlegel: KA 9,30. Schlegel: KA 9,29f.

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Erstens erweist sich das lebendige Wort als eine in der menschlichen Lebenswelt und Erfahrung wirklich vorkommende Gegebenheit. Es ist somit selbst eine in der Realgeschichte vorkommende positive Tatsache. Als solches ist es zugleich Medium der geschichtlichen Überlieferung sowie zentrales Objekt historischer Forschung.123 Zweitens ist das lebendige Wort aber nicht nur Medium und Objekt, sondern – und dies ist für die Geschichtsphilosophie Schlegels grundlegend – auch Subjekt und produktives Prinzip der Geschichte. Es ist, allegorisch gesprochen, »die ursprüngliche Wurzel …, aus welcher der ganze Stamm dieses geschichtlichen und menschlichen Wissens, der Überlieferung, mit allen seinen Ästen und Zweigen hervorgeht«124. Nicht die Macht des Ökonomischen oder Politischen, sondern die persuasive Macht des lebendigen Wortes ist demnach das Prinzip der Schlegelschen Geschichtsphilosophie. Ihren spezifisch christlich-spirituellen Charakter erhält die Geschichtsphilosophie Schlegels ferner dadurch, dass dem rhetorisch verstandenen Wort-Prinzip eine zusätzlich theologische Bedeutung gegeben wird. In Anspielung auf die biblische Bedeutung des Wortes im alttestamentlichen Schöpfungsbericht und den Prolog des Johannesevangeliums formuliert Schlegel das philosophiegeschichtliche Motto: »Im Anfange hatte der Mensch das Wort, und dieses Wort war von Gott.«125 Das, die menschliche Geschichte insgesamt grundlegende Prinzip des lebendigen Wortes muss demnach als ursprünglich göttliches begriffen werden. Die Idee einer universellen Wirksamkeit des göttlichen Wort-Prinzips spiegelt sich bereits in der Disposition der Schlegelschen Weltgeschichte wider. Als Historia tripartita stellt sie die Weltgeschichte gegliedert in die drei Epochen des ›Wortes‹, der ›Kraft‹ und des ›Lichtes‹ dar. Die erste Epoche des Wortes enthält die Urgeschichte der ursprünglichen WortOffenbarung und ihrer anschließenden Verfälschung, die die Zerstreuung der Menschheit in unterschiedliche Nationen verursacht. Die mittlere Epoche der Kraft erzählt die Geschichte der Wiedergewinnung der Wahrheit im Kontext einer eingehenden Charakteristik der chinesischen, indischen, ägyptischen, hebräischen, griechischen und römischen Kultur. Die dritte Epoche des Lichtes schließlich zeigt, ausgehend von der Völkerwanderung über das Mittelalter, die Reformation, die Aufklärung und die 123

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»Die Sprache ist nächstdem auf das engste verbunden und zusammengewachsen mit der Überlieferung, der heiligen sowohl als der geschichtlichen, so wie mit allem geschichtlichen Wissen« (Schlegel: KA 10,43). Ebd. Schlegel: KA 9,30.

Revolutionszeit bis hin zur Gegenwart, wie sich das Licht dieser Wahrheit allgemein verbreitet. Insgesamt folgt auch das restitutive und rhetorikaffine Geschichtsdenken Schlegels der »historischen Logik der Philosophia perennis«126. Demnach soll die Geschichte der Menschheit als allmähliche Wiedergewinnung der verlorenen ursprünglichen göttlichen Weisheit begriffen werden. Ihre zyklische Verlaufsform, die einen »Gang«127 der Wiederherstellung beschreibt, zeigt beispielhaft den Versuch der Romantik, die lineare Fortschrittsgeschichte der Aufklärung zu überwinden. Als das Charakteristikum des Schlegelschen Geschichtsdenkens darf seine spezielle Verbindung von Rhetorik und Theologie gelten. In Schlegels göttlichem Wort-Prinzip und der ihm korrespondierenden rhetorischen Anthropologie wirken unausgesprochen die Tradition des rhetorischen Humanismus und die Wort-Theologie Luthers128 weiter. 3.3 ›Liebevolle Ironie‹. Die narrative Rhetorik philosophischer Historiographie Schlegels Darstellung der Weltgeschichte in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte liegt auch ein eigenes narratives Konzept der Geschichtsschreibung zugrunde. Auch in der Frage der Historiographie stellt Schlegel wieder einen Zusammenhang von Historie und Rhetorik her. Er widerspricht der geschlossenen Form des logischen Systems, und bevorzugt die offene Form eines konjekturalen, historischen Denkens.129 Dabei kommt es ihm nicht auf die lückenlose logische Konsequenz, sondern auf den »historischen Gang«130 an, der das Ganze der Weltgeschichte sichtbar werden lässt. Schlegel hat in diesem Zusammenhang drei Grundregeln seiner Historiographie aufgestellt. Die drei Regeln orientieren sich an der klassischen rhetorischen Kunstlehre, nach der eine Erzählung

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Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 646. Schlegel: KA 9,155. Vgl. Andrea Grün-Oesterreich / Peter L. Oesterreich: »Dialectica docet, rhetorica movet: Luthers Reformations der Rhetorik«. In: Rhetorica movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, Leiden/Boston/Köln 1999, S. 25–41. Zum konjekturalen Denkstil der Rhetorik s.: Gonsalu K. Mainberger: Rhetorica I. Reden mit Vernunft. Aristoteles. Cicero. Augustinus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 15–260. Schlegel: KA 9,341.

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(narratio) die drei Tugenden der Kürze (brevitas), Klarheit (perspicuitas) und Glaubwürdigkeit (probabilitas) besitzen soll. Die erste Grundregel bezieht sich auf die Invention des historischen Stoffes. Sie entspricht dem rhetorischen brevitas-Gebot, das eine überschaubare Kürze der Erzählung verlangt. Gerade die Darstellung der Universalgeschichte erfordert eine methodische Selektion des scheinbar unermesslichen historischen Materials. »Die erste Grundregel des historischen Wissens und Forschens, insofern damit eine Erkenntnis des Ganzen beabsichtigt wird und erreicht werden soll, ist also, daß man die Aufmerksamkeit auf dieses und das, was für diesen Zweck wesentlich und wirklich bedeutend ist, vorzüglich festhält, ohne sich allzusehr in das Einzelne der speziellen Untersuchungen, und der historischen Tatsachen zu verlieren, da die Menge und Mannigfaltigkeit der Gegenstände sich in jeder Hinsicht nach allen Seiten ins Unermeßliche erstreckt; auf welchem Ozean des einzelnen historischen Wissens sonst jenes Ziel dem Auge völlig verschwindet.«131 Der zweite Grundregel betrifft die Disposition des historischen Materials oder die Form des ›historischen Ganges‹. Sie lässt sich so ausdrücken: »Man muß nicht alles erklären wollen … Und wenn es bloß etwas einzelnes ist, was uns nicht recht erklärlich scheint, und was wir unerklärt stehen lassen, so wird uns dieses auch nicht immer hindern, das Ganze der historischen Entwicklung des Menschen dennoch zu begreifen, soweit dieses nach menschlichem Maßstabe möglich ist, und also zu verstehen, wenn auch im einzelnen noch irgend eine minder wichtige Lücke bleibt.«132 Diese zweite Grundregel fordert den ›Mut zur Lücke‹ in der historischen Darstellung. Damit sieht Schlegel keineswegs die narrative Tugend der Klarheit und Perspikuität angegriffen, da der Gesamtsinn der Universalgeschichte durch eine Erklärungslücke im Detail nicht verletzt wird. Im Gegenteil – so argumentiert Schlegel – führt der Versuch der Anwendung gleichsam mathematischer Gewissheit in der Historie zu »willkürlichen und gewaltsamen Hypothesen«133, die die gesamte Darstellung verderben. Die dritte historiographische Grundregel betrifft die narrative Tugend der Glaubwürdigkeit. Sie besteht darin, »daß man besonders, wo von der älteren und ältesten oder der Urgeschichte die Rede ist, nicht gleich das, was uns fremd dünkt oder anfangs wunderbar scheint, bloß deswegen als unmöglich oder unwahrscheinlich wegwerfen muß«134. Diese dritte 131 132 133 134

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Schlegel: KA 9,11f. Schlegel: KA 9,14. Ebd. Schlegel: KA 9,38.

Grundregel fordert die Anerkennung des historisch Anderen und wendet sich gegen die unhistorische Haltung »nur das bei uns Gewöhnliche und allgemein Bekannte, als das Wahre oder Wahrscheinliche gelten zu lassen«135. Mit dieser dritten Grundregel kommt der späte Schlegel noch einmal auf seine frühe Kritik der historisch-kritischen Aufklärung zurück. Im Athenaeum-Fragment 25 hatte der junge Schlegel die Hauptgrundsätze der so genannten historischen Kritik als ›Postulat der Gemeinheit‹ und ›Axiom der Gewöhnlichkeit‹ karikiert: »Postulat der Gemeinheit: Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn es ist außerordentlich, und zum mindesten verdächtig. Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns und um uns ist, so muss es überall gewesen sein, denn das ist ja alles so natürlich.«136 Auch der späte Schlegel warnt mit seiner dritten Grundregel der Historiographie wieder vor dem historischen Fehlschluss der unreflektierten Universalisierung des Gegenwartsbewusstseins. Letztlich ist auch seine späte Geschichtsphilosophie mit ihrem Eintreten für die Alterität und Pluralität der historischen Ereignisse und Welten der Grundfigur der Ironie verpflichtet. Ihr urbaner und toleranter Geist warnt vor jeder einseitigen Verabsolutierung. Es ist die Figur der ›Ironie der Liebe‹, die beim späten Schlegel die Idee des göttlich Unendlichen mit der Einsicht in die Endlichkeit des nur konjekturalen menschlichen Geistes verbindet. »Die wahre Ironie … ist die Ironie der Liebe. Sie entsteht aus dem Gefühl der Endlichkeit und der eigenen Beschränkung, und dem scheinbaren Widerspruch dieses Gefühls mit der in jeder wahren Liebe mit eingeschlossenen Idee eines Unendlichen.«137 In dieser ›liebevollen Ironie‹, die den historiographischen Stil der spätromantischen Geschichtsphilosophie bestimmt, hat sich die frühromantische Figur der infiniten Ironie nun merklich abgeschwächt. Darin kommt ein tropologischer Vorzeichenwechsel zum Ausdruck, der die Geschichtsphilosophie des späten F. Schlegel charakterisiert. Er besteht in einer Inversion des Dominanzverhältnisses von identitätsauflösender Ironie und totalisierender Synekdoche. Die merklich abgeschwächte negativ-distanzierende Energie der Ironie vermag die synekdochische Totalität der späten Geschichtsphilosophie nicht mehr zu sprengen. Ihr Spielraum be135 136 137

Schlegel: KA 9,38. Schlegel: KA 2,149. Schlegel: KA 10,460.

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schränkt sich nunmehr auf die durch den affirmativen Grundaffekt der Liebe getragene narrative Binnenkonstruktion der philosophischen Historiographie. Als ein wichtiges Motiv für diese auffällige spätromantische Refinitisierung der infiniten Ironie darf wohl die vom jungen F. Schlegel selbst angesprochene Gefahr eines infiniten ironischen Regresses vermutet werden. Der extreme und unbegrenzte Gebrauch der Ironie kann nämlich in letzter Konsequenz zu ihrer Selbstzerstörung führen. Ihr maßloser Gebrauch lässt am Ende die fatale Situation entstehen, dass man ›nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann‹. Auf seine eigene frühromantische Frage: ›Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können?‹, antwortet nun der späte F. Schlegel: Es sind nicht die Götter der Neuen Mythologie oder der erst in der Zukunft ›kommende Gott‹, sondern es ist der in der Geschichte bereits geoffenbarte persönliche Gott des Christentums, der die Rettung vor dem existenziell bedrohlichen infiniten ironischen Regress bringt.138 Aus dieser christlich-spirituellen Kehrtwendung Schlegels erklärt sich auch die Wandlung der infiniten zur liebevollen Ironie. Der neue christlich-spirituelle Ernst hebt die »bloß poetische Ansicht«139 einer Ironie, die »über dem ganzen Werke und allem andern, ja auch über dem gesammten Weltall erhaben schwebt«140 auf. In der Spätphilosophie Schlegels herrscht die Figur der Ironie nicht mehr unbedingt, sondern begrenzt den Ernst der spirituellen Liebe. Diese Limitation schließt z. B. eine materialistische oder atheistische Deutung der Geschichte entschieden aus. Zudem verliert die Ironie des späten Schlegel ihre radikale Negativität und wird versöhnlich. Das frühromantische »Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten«141 mildert sich merklich ab. In der Grundstimmung liebevoller Ironie kann »der scheinbare oder wirkliche aber unbedeutende und geringfügige Widerspruch, die unendliche Idee …, nicht aufheben, sondern dient ihr im Gegentheile nur zur Bestätigung und Verstärkung«142 Schlegels späte Geschichtsphilosophie ist somit durch eine Refinitisierung der Ironie und ihre Bindung an die spirituelle Liebe gekennzeichnet. Der Spielraum der Ironie bleibt bei aller Konjekturalität der Darstellung

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80

Vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982. Schlegel: KA 10,446. Schlegel: KA 10,447. Schlegel: KA 2,160. Schlegel: KA 10,357.

durch die Grundidee der Geschichte als »Wiederherstellung des verlorenen göttlichen Ebenbildes im Menschen«143 begrenzt. Tropologisch lässt sich der spätromanische historiographische Stil Schlegels als eine revidierte Konfiguration von negatorischer Ironie und integrativer Synekdoche bestimmen.144 Die Figur der liebevollen Ironie vereinigt nun in sich ein negativ distanzierendes und ein positiv integrierendes Moment. Als Ironie hält sie nämlich einerseits die kritische Einsicht in die unaufhebbare Differenz zwischen der historischen Darstellung und der gegensätzlichen Vielfalt des geschichtlichen Lebens fest. Sie erlaubt so ein neues sokratisches »Lächeln des Geistes«145, das die Pose der »ängstlichen systematischen Allwissenheit«146 abzustreifen versucht. Vonseiten der ›liebevollen‹ Integration werden nun alle ironischen Gegensätze in die synthetische Perspektive einer »allmählichen Annäherung«147 an die Wahrheit gestellt. Dass sich mit dieser Entschärfung der Ironie und ihrer synthetisierenden Überwölbung durch die Liebe trotz aller Polemik auch eine geheime Annäherung des späten Schlegel an das »synekdochische Geschichtsverständnis«148 Hegels vollzieht, gehört am Ende zur objektiven Ironie der Geistesgeschichte.

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Schlegel: KA 9, 3. Zum Zusammenhang der rhetorischen Tropenlehre mit Theorie der historiographischen Stile s. White: Einbildungskraft, S. 50–57. Der distanzierende Charakter der Ironie besteht darin, dass ihr ein Oppositionsverhältnis von Gemeintem und Gesagtem zugrunde liegt; der integrative Charakter der Synekdoche dagegen, dass sie auf der Relation von Teil und Ganzem beruht. Schlegel: KA 10,356. Schlegel: KA 10,474. Schlegel: KA 10,474. Withe: Einbildungskraft, S. 58.

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IV. Die Ironie als geheime Grundfigur der Philosophie Schellings

Schelling hat bisher innerhalb der Philosophiegeschichte ein merkwürdig uneinheitliches Bild hinterlassen. Aufgrund der Wandlungsfähigkeit seines Werkes ist er als ›Proteus‹, wegen des Variantenreichtums seines Oeuvres als ›Phönix‹ und des verschlungenen und gefahrvollen Abenteuers seines Philosophierens als ›Odysseus‹ bezeichnet worden.1 Seine »eine gelehrte und würdevolle Rhetorik« und sein Talent für die »Kunst der Inszenierung«2 faszinierte seine Anhänger und stieß seine Gegner ab. Auf der einen Seite galt er schon früh als gescheiterter Systemphilosoph, der »nur ein vages Philosophieren, ein unsicheres Improvisieren poetischer Philosopheme, verbreitet«3, um dann aber ganz im Gegenteil als der sogar Hegel überbietende Vollender des so genannten Deutschen Idealismus gefeiert zu werden.4 Die folgenden Studien wollen versuchen, diese Vieldeutigkeit des Schellingbildes nicht zugunsten eines Einheitsbegriffes seiner Person und seines Werkes aufzulösen, sondern im Gegenteil als authentischen Ausdruck des duplizitären romantischen Denkstils deuten. Sie wollen dazu beitragen, einen anderen Schelling zu entdecken, der das von Fichte angestoßene romantische Selbsterfindungsprojekt mit der F. Schlegelschen Idee der infiniten Ironie verbindet und so die Kunst des romantischen Philosophierens auf höchstem Niveau demonstriert. In diesem neuen Koordinatensystem, das Schelling nicht von Hegel her liest, sondern ihn aus seiner Konfiguration mit Fichte und F. Schlegel deutet, stellt sich der andere Schelling als der romantische Philosoph par excellence dar. Aus dieser Perspektive, die F. Schlegel gleichsam als Alter Ego Schellings entdeckt, bildet die ironi1 2 3 4

Vgl. Xavier Tilliette: Schelling, Stuttgart 2004, S. 37. Tilliette: Schelling, S. 89. Heinrich Heine: Die romantische Schule. Hg. v. Helga Weidmann, Stuttgart 2006, S. 25. Vgl. Walter Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 21975 und neuerdings Wolfgang Janke: »Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre«, Amsterdam / New York 2009.

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sche Alterität geradezu die Signatur des Schellingschen Philosophierens und erklärt die ungewöhnliche Versatilität von Persönlichkeit und Werk. Diesen anderen Schelling entdecken zu wollen, heißt eine neue Aufmerksamkeit für sein variantenreiches Widerspiel von System und gegenläufiger Asystasie, ironischer Alterität und synekdochischer Identität und seine subjekttheoretischen Figuren der Perversion und Restitution zu entwickeln, die sich aus der ursprünglichen Duplizität seines romantischen Denkstils ergeben.

1. ›Transzendentale Kunst‹. Die philosophische Freiheit vom System Schellings System des transzendentalen Idealismus aus dem Jahre 1800 kann als ein frühromantisches Meisterstück der rhetorischen Kunst des Philosophierens gelten. Schelling versucht hier das von Fichte angestoßene, aber in seiner Darstellungsform insuffizient gebliebene transzendentalphilosophische Projekt der absolut freien Selbsterfindung des Ich in einer überzeugenderen Form seinem Leserpublikum nahe zu bringen. Dabei greift Schelling das in der Grundsatzphilosophie Fichtes nur punktuell angedeutete Moment der Narrativität auf und erweitert es zur systematischen Darstellungsform der Transzendentalphilosophie als einer umfassenden »Geschichte des Selbstbewusstseins«5. Mit dieser neuen Narrativität glaubt Schelling die gegenüber der Grundsatzphilosophie Fichtes überzeugendere Darstellungsform des transzendentalen Wissens gefunden zu haben. Zwar lasse sich der transzendentale Idealismus auch dem »hartnäckigsten Dogmatiker demonstrieren«6, aber »volle Überzeugung«7 gewönne er in der neuen narrativen Präsentation der gesamten transzendentalen Entstehungsgeschichte des menschlichen Selbstbewusstseins. Indem Schelling hier das transzendentale Wissen in der narrativen Form eines Erzählsystems fasst, versucht er sein bisheriges Überzeugungsdefizit zu tilgen und durch das Surplus der Narrativität eine es perfektionierende rhetorische Figuration zu verleihen. Durch dieses neue narrative Vor-Augen-Führen der Geschichte des Selbstbewusstseins soll – ausgehend von der ›ursprünglichen Empfindung‹ über die ›produktive Anschauung‹ bis ›zum absoluten Willensakt‹ – das trans5 6 7

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Schelling: SW 3,389. Schelling: SW 3,378. Schelling: SW 3,378.

zendentale Wissen eine neue rhetorische Evidenz gewinnen, die ihm den Charakter endlich die erstrebte ›volle Überzeugung‹ und Gewissheit verleihen könnte. Das Beispiel der Narrativität des Systems des transzendentalen Idealismus zeigt, dass Schellings Kunst des Philosophierens sich von Anfang an nicht auf ein logisches oder dialektisches Organon reiner Begriffskunst reduzieren lässt und dass seine philosophische Rhetorik gleichermaßen auch die narrativen Formen philosophischer Erzählkunst einschließt. Dieser Hinweis auf die Rhetorizität seines Systems ist hier allerdings nicht im Sinne einer (post-)modernen »Entlarvung«8 oder ›Dekonstruktion‹ des Schellingschen Philosophierens gemeint, sondern wendet sich vornehmlich gegen das von der Rezeptionsgeschichte favorisierte, orthodoxe Bild einer rhetorikrepugnanten, rein begriffssprachlichen ›Systemphilosophie‹ Hegelscher Provinienz, das einen unverfälschten Zugang zur narrativen Rhetorizität der frühromantischen Systematizität Schellings von vorne herein verstellt. 1.1 Wider die ›eitle Demostriersucht‹. Die rhetorische Rettung philosophischer Freiheit Es sind vor allem die metaphilosophischen Selbstdarstellungen des Hegelschen Systems, die die Rezeptionsgeschichte bis heute in ihren Bann schlägt und das orthodoxe, normative Bild der Systemphilosophie prägt. Die drei Dogmen, die das Selbstbild des so genannten Deutschen Idealismus als reiner Systemphilosophie begründet haben, seien hier im Rückgang auf einige Textstellen aus Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes kurz angesprochen. Das erste Dogma ist das von der Absolutheit des Systems. Demnach ist das System die einzig mögliche Darstellungsform philosophischer Wahrheit. »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.«9 Das zweite Dogma ist das von der szientifischen Finalität. Es formuliert die Zielprogrammatik einer endgültigen Aufhebung der Philosophie in die Wissenschaft. So erklärt Hegel: »Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft 8

9

Bezzola: Rhetorik, S. 153. Einen allgemeinen Überblick zu den philosophischen Aspekten der neueren Rhetorik-Renaissance geben u.a.: Rhetorik und Philosophie. Hg. v. Helmut Schanze / Josef Kopperschmidt, München 1989 u. Rhetorik und Philosophie (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 18). Hg. v. Peter L. Oesterreich, Tübingen 1999. Hegel: W 3,14.

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näherkomme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, – ist es, was ich mir vorgesetzt.«10 Das dritte Dogma ist schließlich das von der logikaffinen und rhetorikrepugnanten Privilegierung der Begriffssprache. Es behauptet, dass die Wahrheit »an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz«11 habe. Die Unangemessenheit dieses durch die drei Hegelschen Dogmen umrissenen orthodoxen Bildes der Systemphilosophie für den frühromantischen Schelling beweist schon ein kurzer Blick in Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus aus dem Jahre 1795. Dort finden wir z. B. folgende aufschlussreiche Stelle: »Die höchste Würde der Philosophie besteht gerade darin, daß sie alles von der menschlichen Freiheit erwartet. Nichts kann daher verderblicher für sie seyn, als der Versuch, sie in die Schranken eines theoretisch-allgemeingültigen Systems zu zwängen.«12 Wider das Dogma der philosophischen Absolutsetzung des begrifflichen Systems findet sich schon beim jungen Schelling die Gegentendenz, »die eitle Demonstriersucht niederzuschlagen, um die Freiheit der Wissenschaft zu retten«13. Auch dem szientistischen Finalitätsdogma widerspricht Schelling: »Philosophie, ein treffliches Wort! Mag man dem Verfasser eine Stimme einräumen, so stimmt er für Beibehaltung des alten Worts. Denn soviel er einsieht, wird unser ganzes Wissen immer Philosophie bleiben, d. h. immer nur fortschreitendes Wissen, dessen höhere oder niederere Grade wir nur unserer Liebe zur Weisheit, d. h. unserer Freiheit verdanken.«14 Schelling warnt in diesem Zusammenhang, die ›Freiheit im Philosophieren‹ nicht zu verlieren und sich nicht zum ›Sklaven des Systems‹ zu machen. Schließlich wird auch das dritte Dogma von der Exklusivität der Begriffssprache schon vom so genannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus durch die programmatische Forderung einer ›Mythologie der Vernunft‹ bestritten. Es ist wiederum Schelling, der auch im System des transzendentalen Idealismus an der Zielprogrammatik einer »neue(n) Mythologie«15 als einer Wiedervereinigung von Wissenschaft und Poesie festgehalten hat und dann in seiner späteren Weltalter-Philosophie tatsächlich den Übergang in eine neue historiopoetische Sprachlichkeit gewagt

10 11 12 13 14 15

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Ebd. Hegel: W 3,15. Schelling: SW 1.306f. Schelling: SW 1,307. Ebd. Schelling: SW 3,639.

hat, die sich explizit wiederum »gegen die erzwungenen Begriffe einer leeren und begeisterungslosen Dialektik«16 wendet.17 Gegen den Identitätslogiker Hegel sticht somit der Schelling als Denker der Differenz ab, der seine Philosophie von Anfang an nicht als Werk logischer Notwendigkeit, sondern als kontingente, freie Geistestat begriffen hat. Noch im Übergang zu seiner Spätphilosophie, in seinen Münchener Vorlesungen über das System der Weltalter von 1827/28, sieht Schelling das Wesen der Philosophie als »freie Überzeugung«18. Das wache Bewusstsein Schellings für die permanent aufbrechende rhetorische Differenz zwischen der spekulativen Wahrheit einerseits und ihrer glaubwürdigen öffentlichen Darstellung andererseits hält sein Denken in einer permanenten produktiven Krise. Aus ihr erklärt sich auch die gedankliche und stilistische Deviativität und Wandlungsfülle seines vielgestaltigen Werkes, das die hegelianisch geprägte orthodoxe Philosophiegeschichtsschreibung nicht in geringe Verlegenheit gesetzt hat und ihn lediglich als fragwürdigen ›Proteus‹ des so genannten ›Deutschen Idealismus‹ erscheinen ließ. 1.2 Die narrative Inszenierung der transzendentalen Vorgeschichte des Ich Für die philosophische Frühromantik ist das System nur eine literarische Darstellungsform der Philosophie unter anderen.19 Eine extreme Gegenform im Kontext der philosophischen Romantik um 1800 ist z. B. das aphoristische und fragmentarische frühromantische Symphilosophieren, wie es sich im Schlegelschen Athenäum findet. Ein Beispiel dafür ist das Athenäum-Fragment 53, das F. Schlegels ironische Systemkritik mit unübertrefflicher Prägnanz ausdrückt: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«20

16 17

18

19

20

Schelling: SW 8,203. Vgl. Peter L. Oesterreich: Philosophie, Mythos und Lebenswelt. Schellings universalhistorischer Weltalter-Idealismus und die Idee eines neuen Mythos, Frankfurt a. M. 1984. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hg. v. Siegbert Peetz, Frankfurt a. M. 21998, S. 4. Zur Vielfalt der Darstellungsformen in der Philosophie s. Gottfried Gabriel: »Formen des Philosophierens«. In: Philosophie: Studium, Text und Argument. Hg. v. Norbert Herold / Sybille Mischer, Münster 1997, S. 61–78. Schlegel: KA 2,173.

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Generell sind sowohl das System als auch das aphoristische Fragment mögliche Darstellungsformen der frühromantischen Philosophie. Dass sich Schelling bei seiner Darstellung des transzendentalen Idealismus um 1800 für die Systemform entscheidet, liegt sicher auch an seinem – tropologisch gesprochenen – zweifellos wesentlich stärker profilierten synekdochischen Denkstil, der sich von der infinit ironischen Denkart F. Schlegels charakteristisch unterscheidet. Ein anderer wichtiger Grund für die Wahl der Systemform ist, dass Schelling, wie schon Fichte, den ›Anschluss‹ an das szientistische Erfolgsparadigma der neuzeitlichen Mathematik und Naturwissenschaften sucht.21 Damit knüpft Schelling an die kantische ›Revolution der Denkart‹, die der spekulativen Philosophie bekanntlich endlich den ›sicheren Gang einer Wissenschaft‹ geben wollte, an. Indem Schelling eine um 1800 aktuelle und Modernität ausstrahlende Darstellungsform der Philosophie wählt, versucht er, die rhetorische Differenz zwischen ihrer spekulativen Wahrheit und den wissenschaftlichen Glaubwürdigkeitsstandards seiner Zeit zu überwinden, um die neue und schwer verständliche Transzendentalphilosophie in der Konkurrenz der Wissenschaften besser platzieren zu können. Wahrscheinlich, ohne sich dessen bewusst zu sein, folgt somit das System des transzendentalen Idealismus der rhetorischen Regel vom endoxalen Anschluss an die topischen Standards der wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft seiner Zeit. Schellings Bemühung um einen Anschluss seiner Transzendentalphilosophie an das szientifische Erfolgsparadigma des neuzeitlichen Rationalismus drückt folgende – dialogisch stilisierte – Stelle aus dem System des transzendentalen Idealismus besonders plastisch aus: »Cartesius sagte als Physiker: gebt mir Materie und Bewegung, und ich werde euch das Universum daraus zimmern. Der Transzendental-Philosoph sagt: gebt mir eine Natur von entgegengesetzten Thätigkeiten, deren eine ins Unendliche geht, die andere in dieser Unendlichkeit sich anzuschauen strebt, und ich lasse euch daraus die Intelligenz mit dem ganzen System ihrer Vorstellungen entstehen.«22 Schelling parallelisiert hier die Figur seines Transzendentalphilosophen mit der Person Descartes und stellt sie damit zunächst ausdrücklich in die Tradition des neuzeitlichen Rationalismus. Dieser vordergründige rationalistische Gestus, der zweifellos mit Schellings Entscheidung für die Darstellungsform des Systems verbindet, muss allerdings nicht unbedingt als schlagendes Gegenargument gegen die im Punkte der 21

22

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Zur rhetorischen Technik des endoxalen ›Anschließens‹ vgl. Josef Kopperschmidt: »Quo vadis rhetorica? Rhetorik unter Bedingungen allseitiger Wertschätzung«. In: Rhetorik 18 (1999), S. 1–24, hier: S. 18–23. Schelling: SW 3,427.

Narrativität bereits angesprochene Rhetorizität des Systems des transzendentalen Idealismus gewertet werden. Aus der Perspektive heutiger rhetorischer Metakritik kann es im Gegenteil durchaus als ein philosophisches Beispiel für die Rhetorik der Wissenschaft (Rhetoric of Science) gelten, die durch den Anschluss an ein bereits allgemein anerkanntes szientifisches Erfolgsparadigma ihre eigene Credibilität zu steigern versucht. Zudem lässt sich anmerken, dass die Schriftfassung des Systems des transzendentalen Idealismus, die, wie Schelling betont, aus der »zweimalige(n) Erfahrung bei dem öffentlichen Vortrag des Systems«23 hervorgegangen ist und den neuartigen akademischen Vortragsstil spiegelt, den Schelling wenig später in seiner Vorlesung über die Methode des akademischen Studiums ausdrücklich dargestellt hat. Er entwirft hier das Konzept der ›lebendigen Lehrart‹ eines genetischen Vortragsstils, der auf dem rhetorischen Evidentia-Prinzip aufbaut. Demgemäß lässt im Unterschied zum bloß historischen Lehrvortrag, der seine Hörer lediglich über bereits vorliegende Wissensgegenstände informiert, der genetische Vortrag »in jedem Fall das Ganze der Wissenschaft gleichsam erst vor den Augen des Lehrlings entstehen«24. Die Evidenz der philosophischen Lehre bildet somit das Resultat ihrer rhetorischen Genese. Sie beruht auf einem lebendigen Vortragsstil, der die Redegegenstände nicht als fertig vorhandene voraussetzt, sondern vor dem inneren Sinn der Hörer sukzessiv entstehen lässt. Dementsprechend wird das System des transzendentalen Idealismus die transzendentale Genese des menschlichen Selbstbewusstsein, die sich an sich als »Ein absoluter Akt«25 vollzieht, vom Philosophen zunächst analytisch in seine einzelnen Teilakte zerlegt, um sie dann in der narrativen Darstellungsform der Geschichte des Selbstbewusstseins für den Leser aus seinen Teilakten zu präsentieren. So »lassen wir successiv vor unseren Augen gleichsam entstehen, was durch die Eine absolute Synthesis, in der sie alle befaßt sind, zugleich und auf einmal gesetzt ist«. Der zunächst dunkle ›eine absolute Akt des Selbstbewußtseins‹ wird durch analytische Zerlegung (partitio) und anschließendes synthetisch-sukzessives VorAugen-Führen (evidentia) dem Leser veranschaulicht. Von daher lässt sich das System als eine kunstvolle, philosophische Inszenierung der transzendentalen, unbewussten Vorgeschichte des selbstbewussten Ich verstehen, das seine rhetorische Evidenz, performative Wirklichkeit und persuasive Wirksamkeit inmitten der akademischen oder 23 24 25

Schelling: SW 3,334. Schelling: SW 5,234. Schelling: SW 3,387.

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literarischen Öffentlichkeit, die die Interaktion zwischen dem vortragenden Philosophen und seinen Hörern bzw. des philosophischen Schriftstellers mit seinen Lesern entfaltet. Diese rhetorische Wirklichkeit des Systems transzendiert so die introspektive Vorstellungswelt der transzendentalen Reflexion in Richtung auf die interpersonale Öffentlichkeit eines ›Wir‹, in der Philosoph, Hörer und dargestellte Intelligenz schließlich sich selbst nicht nur vollständig transparent, sondern auch einig geworden sind. Die spekulative Rede des Systems, die sich im rhetorischen Dreieck zwischen Autor, Leser und ihrem Redegegenstand bewegt, versucht nämlich, auch eine zunehmende Identifikation der sie konstituierenden drei Momente zu bewerkstelligen. Am Ende sollen das introspektive Bewusstsein des Transzendentalphilosophen und das zuschauende seines Publikums, im Bewusstsein, die gemeinsame Entstehungsgeschichte des eigenen Selbstbewusstseins miterlebt zu haben, verschmelzen. Die Geschichte der dargestellten Intelligenz hat sich damit schließlich auch als transzendentale Vorgeschichte des Redner-Ichs als des Hörer-Ichs enthüllt. Die rhetorische Anamnese ihrer gemeinschaftlichen Herkunft aus dem Absoluten und ihrer bisher ›bewusstlos‹ gebliebenen transzendentalen Vorgeschichte verbindet das vorher getrennte Bewusstsein des Autors und seiner Leser zum Wir einer transzendentalphilosophisch aufgeklärten Kommunikationsgemeinschaft. Sowohl ihren anamnetischen Charakter als auch ihre Gemeinschaft stiftende und befreundende Psychagogie teilt die philosophische Rhetorik Schellings mit der antiken Platons.26 Eine weitere Analogie zwischen der philosophischen Rhetorik des antiken Idealismus Platons und des transzendentalen Schellings betrifft die Paradoxalität ihrer persuasiven Intention. So beabsichtigt bekanntlich die philosophische Bildung bei Platon gegen die herrschende Doxa nichts weniger als eine Umkehr (periagoge) der gesamten Seele.27 Diese paradoxe persuasive Intention philosophischer Bildung nimmt der Systemgedanke Schellings auf. So fordert Schelling in der Vorrede des Systems des transzendentalen Idealismus, dass ein System »die ganze nicht bloß im gemeinen Leben sondern selbst in dem größten Theil der Wissenschaften herrschende Ansicht der Dinge völlig verändert und sogar umkehrt«28. 26

27 28

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Zum psychagogischen Charakter der philosophischen Rhetorik Platons im Phaidros s. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 152–202. Vgl. Platon: Politeia, 518d. Schelling: SW 3,329.

Das System des transzendentalen Idealismus will die Leser nicht bloß theoretisch informieren, sondern durch die akademische Inszenierung redegeführter philosophischer Neuerfindung versuchen, sie im Ganzen ihrer Geisteshaltung und ihres Lebensstils umzuformen und gleichsam zu ›neuen Menschen‹ zu machen. Schellings transzendentaler Idealismus bildet in dieser Hinsicht nicht nur ein theoretisches ›System der Freiheit‹, sondern auch eines der praktischen Befreiung, das in einer Linie des von Kant eröffneten Programms einer neuen »Cultur der Vernunft«29 und Fichtes späterer Perspektive eines Übergangs der Philosophie als einer reinen ›Vernunftwissenschaft‹ zur ins geschichtliche Leben wirklich eingreifenden »Vernunft-Kunst«30 liegt. Das Grundproblem, das auch die Rhetorik des Systems bewegt, entspringt dabei einer doppelten rhetorischen Differenz. Die erste Differenz ist die zwischen der Sache (res) des Denkens und ihrer – mündlichen bzw. schriftlichen – sprachlichen Darstellung (verba bzw. signa). In ihr besteht das allgemeine Darstellungsproblem der Philosophie. Konkret für das System des transzendentalen Idealismus gesprochen, erhebt sich hier die Frage: Wie lässt sich die ›bewusstlose‹ Genesis des Selbstbewusstseins, die aus einer Reihe gerade nicht ins empirische Bewusstsein fallender Akten transzendentaler Subjektivität besteht, überhaupt sprachlich darstellen? Oder kürzer: Wie lässt sich das transzendental Vorbewusste und damit zunächst im empirischen Bewusstsein der Leser nicht Präsente vom philosophischen Autor literarisch präsentieren und bewusst machen? Die zweite nicht sachliche, sondern interpersonale Differenz ist die zwischen dem spekulativ-paradoxalen Standpunkt des Philosophen und dem ihm zu Anfang der Rede gewöhnlich entgegengesetzten endoxalen Bewusstseinsstandpunkt seiner Hörer. In dieser zweiten Differenz liegt, allgemein gesprochen, das typische Mitteilungsproblem der Philosophie, das in der Unangemessenheit (indecorum) zwischen dem Bewusstseinsstandpunkt des philosophischen Autors und seiner Rezipienten besteht. Konkret für das System des transzendentalen Idealismus stellt sich die Frage, wie das ›gemeine Bewusstsein‹ von Hörern, die noch nicht aus dem ›dogmatischen Schlummer‹ erwacht sind, mit dem transzendental aufgeklärten Bewusstseinsstandpunkt des Philosophen vermittelt werden kann. Die spekulative Rede des Systems lässt sich nun als eine kunstvolle und elegante Doppelstrategie rhetorischer Synthesis begreifen, die versucht, die beiden Grundprobleme der rhetorischen Differenz, nämlich erstens das 29 30

Kant: AA 3,19. Fichte: W 2,81.

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Darstellungsproblem und zweitens das Mitteilungsproblem des transzendentalen Idealismus, parallel und in einem Zuge zu lösen. Die literarische Darstellung transzendentaler Subjektivität beabsichtigt als Selbstaufklärung über die eigene, bisher ›bewusstlose‹ transzendentale Genesis, das Bewusstsein des aufmerksamen Lesers auf den Bewusstseinsstandpunkt des Philosophen zu erheben. Diese hintergründige philosophische Rhetorik, die sich hinter dem vordergründigen rationalistischen Gestus entdecken lässt, durchzieht nun, wie im Folgenden wenigstens angedeutet werden soll, Anfang, Mitte und Ende des Systems. Das Problem der differenten Bewusstseinsstandpunkte, das interpersonale Mitteilungsproblem, wird besonders am Anfang und am Ende wirksam. Am Anfang des Systems entspringt ihm die topische Invention der transzendentalen Grundfrage und am Ende die inartifizielle Beglaubigung der durchgeführten Transzendentalphilosophie durch die Kunst. Aus dem zweiten Problem der Differenz zwischen der Sache und ihrer literarischen Repräsentation, d. h. dem sachlichen Darstellungsproblem, geht die Narrativität des Systems selbst als eine Geschichte des Selbstbewusstseins hervor. Die spekulative Rede des Systems hat zweifellos auch gegen starke emotionale Widerstände seiner Rezipienten, wie z. B. die Furcht vor den »als ungeheuer vorgespiegelten Consequenzen«31, zu kämpfen, um die von ihr angezielte ›Revolution der Denkart‹ durchzusetzen. Wie gelingt es nun der spekulativen Rede Schellings, die anfängliche Kluft zwischen dem Bewusstseinsstandpunkt seiner Hörer zu dem der Transzendentalphilosophie zu überbrücken? Wie kann sie den »magischen Kreis«32 des objektivistischen Gegenstandsbewusstseins, in der seine Hörer zunächst eingeschlossen sind, durchbrechen? Zunächst fängt das System des transzendentalen Idealismus gerade nicht ›wie aus der Pistole geschossen‹ sogleich mit seinem Prinzip, d. h. der ursprünglichen Identität des Idealen und Realen bzw. der bewussten und bewusstlosen Produktion an. Um den Leser zur transzendentalen Fragestellung zu führen, bedient es sich vielmehr wiederum der rhetorischen Methode des topischen Anschlusses und setzt zunächst bei den allgemeinen Überzeugungen des gewöhnlichen Bewusstseins an. Das System setzt an bei den ›ursprünglichen Überzeugungen‹, die im ›gemeinen Verstande‹, d. h. im sensus communis, aufgesucht werden können: »Nun reducirt sich aber alles Wissen auf gewisse Überzeugungen, oder ursprüngliche Vorur31 32

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Schelling: SW 3,339. Schelling: SW 3,422.

teile … Die Eintheilung der Transzendental-Philosophie selbst wird bestimmt durch jene ursprünglichen Überzeugungen, deren Gültigkeit sie in Anspruch nimmt. Diese Überzeugungen müssen vorerst im gemeinen Verstande aufgesucht werden.«33 Auch die Transzendentalphilosophie nimmt somit bei der Er-findung (inventio) ihrer eigenen Problemstellung das Geltungsfundament des sensus communis in Anspruch. Auf dem Boden dieser endoxalen Ausgangsbasis findet der Philosoph nun zwei entgegengesetzte Überzeugungen im Umkreis des gewöhnlichen Bewusstseins seiner Rezipienten vor. Erstens findet sich die dogmatische, realistische Vorstellung: »Daß nicht nur unabhängig von uns eine Welt der Dinge außer uns existiere, sondern auch, daß unsere Vorstellungen so mit ihnen übereinstimmen, daß an den Dingen nichts anderes ist, als was wir an ihnen vorstellen.«34 Dazu kommt zweitens die entgegengesetzte idealistische Ansicht: »Die zweite ebenso ursprüngliche Überzeugung ist, daß Vorstellungen, die ohne Notwendigkeit, durch Freiheit, in uns entstehen, aus der Welt des Gedankens in die wirkliche Welt übergehen, und objektive Realität erlangen können.«35 Nun ergeben diese beiden im sensus communis jederzeit auffindbaren Ansichten unmittelbar gegeneinandergestellt einen Widerspruch. Während B die »Herrschaft des Gedankens«36, d. h. des Ideellen über die Sinnenwelt behauptet, macht umgekehrt A das Ideelle unserer Vorstellung zur »Sklavin des Objektiven«37. Dieser im Kontext des gewöhnlichen Bewusstseins de facto auffindbare Widerspruch der realistischen mit der idealistischen Weltansicht, bildet das von Schelling exponierte Ausgangsproblem seines Systems. »Dieser Widerspruch muß aufgelöst werden, wenn es überhaupt eine Philosophie gibt.«38 Somit ergibt sich als höchste Aufgabe der Transzendentalphilosophie die Beantwortung der Frage: »Wie können die Vorstellungen zugleich als sich richtend nach den Gegenständen, und die Gegenstände sich richtend nach den Vorstellungen gedacht werden.«39 Den Ausgangspunkt zur transzendentalphilosophischen Beantwortung dieser grundlegenden Frage bildet dann das Prinzip des Systems des transzendentalen Idealismus, nämlich die ›ursprüngliche Identität‹ der einerseits im freien Handeln mit Bewusstsein

33 34 35 36 37 38 39

Schelling: SW 3,346. Ebd. Schelling: SW 3,347. Ebd. Ebd. Schelling: SW 3,348. Schelling: SW 3,348.

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produktiven und andererseits im »Produciren der Welt ohne Bewußtseyn produktiv(en)«40 freien Tätigkeit des Ich. Indem Schelling zeigt, dass Problemstellung und Prinzip seines Systems auf die in der Lebenswelt selbst latent vorhandenen widersprüchlichen Grundüberzeugungen des gewöhnlichen Bewusstseins antwortet und die transzendentale Fragestellung hervortreibt, wahrt er die rhetorische Grundregel des endoxalen Anschlusses und verleiht ihr gleichsam einen ›Sitz im Leben‹. Mit dieser topischen Invention der transzendentalen Fragestellung, die den Leser, ausgehend von einer im gewöhnlichen Bewusstsein schon auffindbaren Fragestellung bis zum Prinzip des transzendentalen Idealismus hinführt, räumt er von Anfang an den überzeugungswidrigen Eindruck der lebensfremden Künstlichkeit seiner transzendentalen Kunst des Philosophierens aus. Diese Anfangsrhetorik des Systems führt das gewöhnliche Bewusstsein des Lesers über eine geradezu mäeutische Entbindung der transzendentalen Fragestellung hin zu jenem spekulativen Prinzip der absoluten Identität, mit der dann die Darstellung des Systems in der narrativen Form der Geschichte des Selbstbewusstseins beginnen kann. Wie kann aber die spekulative Rede des Philosophen die zunächst »völlig blinde und bewusstlose«41 Produktionsreihe transzendentaler Subjektivität seinen Hörern bzw. Lesern zu Bewusstsein und zu überzeugender Darstellungen bringen? Diese Frage führt noch einmal zu einer genaueren Betrachtung des Verhältnisses von Narrativität und Systematizität. Wie schon der Titel System des transzendentalen Idealismus anzeigt, entscheidet sich Schelling darstellungstechnisch für die Form des Systems. Nun lassen sich im Kontext des Deutschen Idealismus auch für den Systembegriff mehrere Varianten denken. Für seine Darstellung des transzendentalen Idealismus von 1800 wählt Schelling folgende Variante, die das Moment der Autarkie und Harmonie betont: »System«, definiert er, »sey ein Ganzes, was sich selbst trägt und in sich selbst zusammenstimmt.«42 Schelling knüpft hier zweifellos zwar an die kantische Architektonik und »Kunst der Systeme«43 an, dergemäß sich das ›System‹ als »Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee«44 definiert. Aber zugleich akzentuiert Schelling mit der Betonung der Autarkie und harmonischen Fügung den organologischen Charakter des Systemganzen. Das System wird nicht 40 41 42 43 44

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Ebd. Schelling: SW 3,454. Schelling: SW 3,353f. Kant: AA 3,860. Ebd.

mehr wie bei Kant am Leitfaden der Architekturmetapher als ein artifizielles wissenschaftliches Werk gedacht, dessen Teile nach Maßgabe einer äußeren Vernunftidee zusammengefügt werden. Charakteristisch für die synekdochische, organologische, an den Selbstorganisationen der Natur abgelesene Systemidee Schellings ist dagegen die ausschließlich durch das eigene, innere Identitätsprinzip getragene, rein immanente Zusammenstimmung oder harmonische Fügung. Konkret gesprochen beruht der Darstellungszusammenhang des Systems des transzendentalen Idealismus auf zwei unterschiedlichen Konstitutionsmomenten: erstens aus der Konsistenz der als ›Stufenfolge‹ entworfenen transzendentallogischen Konstitutionslehre, und zweitens der narrativen Kontinuität der erzählten ›Geschichte des Selbstbewusstseins‹. Für Schellings System des transzendentalen Idealismus ist deshalb eine ParallelKonstruktion kennzeichnend. In ihr überlagern und verweben sich einerseits die transzendentallogische, reinrationale Konstruktion des Selbstbewusstseins, die, rhetorisch gesprochen, der argumentatio, und andererseits die narrative seiner Geschichte, die der narratio entspricht. Zu der für die Rhetorik des Systems des transzendentalen Idealismus signifikanten, und deshalb im Folgenden herausgestellten, narrativen Konstruktion bemerkt Schelling in der Vorrede: »Das Mittel übrigens, wodurch der Verfasser seinen Zweck, den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen, zu erreichen versucht hat, ist, daß er alle Theile der Philosophie in Einer Kontinuität und die gesammte Philosophie als das, was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseins … vorgetragen hat.«45 Somit soll die narrative Konstruktion des Systems den transzendentalen Idealismus in der Form einer historia continua, d. h. als ›fortgehende Geschichte des Selbstbewusstseins‹ darstellen. Dabei erfüllt die Rhetorik dieses Systems durchaus die drei Kriterien und Tugenden des Erzählens (virtutes narrationis), die die klassische Rhetorik vorschreibt. So definiert Quintilian die Erzählung (narratio) als eine »zum überreden nützliche Darstellung eines tatsächlichen oder scheinbar tatsächlichen Vorgangs«46. Die Tugenden der Erzählung sind ferner drei: Erstens soll sie klar und durchsichtig (lucida et perspicua), zweitens kurz (brevis) und drittens glaubwürdig (credibilis) sein. 45 46

Schelling: SW 3,331. »narratio est rei factae aut ut factae utilis ad persuadendum expositio« (Quintilianus: Institutionis, VI,2,31. Schon in dieser Definition der narratio als einer parteilichen und möglicherweise täuschenden Erzählung deutet sich das Subjektivitäts- und Fiktionalitätsproblem philosophischer Narrativität an, das Schelling später bewegt.

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Wie erzeugt sich nun die Luzidität und Perspikuität der narrativen Rhetorik des Systems des transzendentalen Idealismus? Die Klarheit und Durchsichtigkeit der Geschichte des Selbstbewusstseins entsteht dadurch, dass ihre narrative Konstruktion keine Zusammenstückelung beliebiger Einfälle darstellt, sondern auf einer durchdachten Disposition beruht, die sich durch lückenlose Kohärenz auszeichnet. »Es kam, um diese Geschichte genau und vollständig zu entwerfen, hauptsächlich darauf an …, daß kein nothwendiges Mittelglied übersprungen sei, und so dem Ganzen einen inneren Zusammenhang zu geben, an welchen keine Zeit rühren könne, und der für alle fernere Bearbeitung gleichsam als das unveränderliche Gerüste dastehe, auf welches alles aufgetragen werden muß.«47 Die einzelnen Momente der Geschichte des Selbstbewusstseins werden in ihrer Bedeutung erst aus ihrem Zusammenhang als »Stufenfolge von Anschauungen …, durch welche das Ich bis zum Bewußtsein in der höchsten Potenz sich erhebt«48 durchsichtig und einleuchtend. Erst aus dem Kontext der narrativen Gesamtkonstruktion wird gleichsam als Glied einer lückenlosen Kette die volle Bedeutung jedes seiner Momente ersichtlich. Allerdings verlangt das brevitas-Gebot der Rhetorik, dass die Anzahl der Teile einer narrativen Konstruktion überschaubar bleiben soll, um die durch Differenzierung gewonnene Klarheit und Durchsichtigkeit nicht wieder zu zerstören. Auch Schellings Geschichte des Selbstbewusstseins muss deshalb, dem Gebot der Kürze der Erzählung entsprechend, selektiv vorgehen: »Die Philosophie kann also nur diejenigen Handlungen, die in der Geschichte des Selbstbewusstseins gleichsam Epoche machen, aufzählen, und in ihrem Zusammenhang miteinander aufstellen.«49 Dem rhetorischen brevitas-Gebot im System des transzendentalen Idealismus entspricht somit die Beschränkung der narrativen Konstruktion auf eine überschaubare Anzahl von Epochen. In dem System der theoretischen Philosophie sind es bekanntlich drei: Die erste Epoche reicht von der ursprünglichen Empfindung bis zur produktiven Anschauung; die zweite von der produktiven Anschauung bis zur Reflexion; und die dritte von der Reflexion bis zum absoluten Willensakt. So stellt sich das System der theoretischen Philosophie insgesamt gesehen in einer epochal kurz gefassten und überschaubaren historia tripartita dar. Was begründet schließlich drittens die Credibilität des Systems? Die Glaubwürdigkeit der Geschichte des Selbstbewusstseins, die Schelling 47 48 49

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Schelling: SW 3,331. Schelling: SW 3,331. Schelling: SW 3,398.

vorstellt, resultiert einerseits aus den bereits erwähnten Momenten narrativer Kohärenz und Kürze. Darüber hinausgehend ist es die bereits erwähnte rhetorische Evidenz des Vor-Augen-Führens, die der narratio transzendentalis eine besondere Kraft (energeia) und Klarheit (enargeia) gibt und sie so zu einer so viel wie möglich »allgemein lesbare(n) und verständliche(n) Darstellung des transzendentalen Idealismus«50 macht. Zusätzliche Glaubwürdigkeit gewinnt das System ferner dadurch, dass es als fortgesetzte, sich epochal potenzierende Entstehungsgeschichte des Selbstbewusstseins die literarische Form des Bildungsromans, z. B. Goethes Wilhelm Meister, imitiert und auch in dieser Hinsicht wiederum den topischen Anschluss an das zeitgenössische Leserpublikum sucht. 1.3 ›Document der Philosophie‹. Die Kunst als öffentliche Beglaubigung Allerdings weckt die Narrativität des Systems auch den Verdacht, dass es nicht Faktisches, sondern lediglich Fiktives vor Augen führt und somit nur subjektives, sophistisches Phantasma, aber keine objektive philosophische Wissenschaft darstellt. Das Problem der mangelnden Verallgemeinerungsfähigkeit des transzendentalen Idealismus hat Schelling in seiner abschließenden Allgemeinen Anmerkung zu dem ganzen System allerdings selbst angesprochen und zugestanden. Demnach gilt erstens: »Daß das ganze System zwischen zwei Extreme fällt, deren eines durch die intellektuelle, das andere durch die ästhetische Anschauung bezeichnet ist.«51 Zweitens muss festgestellt werden: Die intellektuelle Anschauung »kommt im gemeinen Bewußtsein überhaupt nicht vor«52. Daraus folgt drittens die prinzipielle Einsicht, »daß und warum Philosophie als Philosophie nie allgemeingültig werden kann«53. Grundsätzlich hat das System als Produkt der »transcendentale(n) Kunst«54 also zunächst nur eine nicht verallgemeinerungsfähige subjektive Evidenz für den transzendentalphilosophisch geschulten Philosophen. Als freie Konstruktion der spekulativen Rede gewinnt die ansonsten unbewusst bleibende transzendentale Genesis des empirischen Bewusstseins allein Existenz und Evidenz in der von Philosophen rhetorisch induzierten inneren intellektuellen Anschauung seiner Zuhörer: »Das Produkt ist außer der Construktion schlechterdings nichts, es ist überhaupt nur, indem 50 51 52 53 54

Schelling: SW 3,334. Schelling: SW 3,639. Ebd. Ebd. Schelling: SW 3,345.

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es construiert wird.«55 Diese durch die spekulative Rede hervorgebrachte Vollzugsevidenz des Systems setzt den freien, inneren Mitvollzug der rhetorischen Konstruktion durch die Rezipienten voraus. Jenseits seiner internen Vollzugsevidenz bleibt es unentscheidbar, ob das System des transzendentalen Idealismus eine bloße Erfindung oder Fiktion oder eine wirkliche philosophische Entdeckung darstellt. Zu den Stärken des transzendentalen Idealismus Schellingscher Provenienz gehört, dass er das für die Transzendentalphilosophie typische, später auch von der Analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts bemängelte Introspektionsproblem und das damit verbundene Defizit ihrer öffentlichen und allgemeinen Verallgemeinerungsfähigkeit frühzeitig erkannt und zugestanden hat. Aus dem Bemühen, dieses öffentliche Credibilitätsproblem zu entschärfen, erklärt sich die zentrale Stellung, die Schelling am Ende des Systems des transzendentalen Idealismus der Kunst zugesteht. Die Kunst soll hier das allgemeine Glaubwürdigkeitsdefizit der spekulativen Philosophie kompensieren. Es sei »das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie …, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann«56. Schelling spielt in seiner Bestimmung der Kunst als ›Dokument der Philosophie‹ auf die rhetorische Lehre von den artifiziellen, d. h. in der Rede selbst gelegenen, und den äußeren inartifiziellen Beweismitteln an. Zu den inartifiziellen Beweismitteln (probationes inartificiales) gehören nämlich – wie bereits Cicero bemerkt – Dokumente, Verträge und Zeugenaussagen.57 Damit nimmt die Kunst die Stellung eines inartifiziellen Arguments für die Credibilität des transzendentalen Idealismus ein. Was die spekulative Rede der ars transcendentalis mit ihrer inneren Vollzugsevidenz eingestandenermaßen nicht zu leisten vermag, soll am Ende durch das äußere inartifizielle Argument der Kunst erreicht werden, nämlich ihre Objektivität und öffentliche Verallgemeinerungsfähigkeit. Die Kunst allein ist nach Schelling, »welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann«58. So bedient sich die Rhetorik des Systems am Ende der inartifiziellen Beglaubigung durch die Kunst, um einen Ausweg aus der introspektiven Aporie der Selbstbewusstseinsphilosophie zu finden. 55 56 57 58

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Schelling: SW 3,371. Schelling: SW 3,627. Vgl. Marcus Tullius Cicero: Über den Redner / De oratore. Hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1976, 2,116. Schelling: SW 3,629.

1.4 Schellings spätromantischer Abschied vom Systemdenken Mit der artifiziellen Beglaubigung des philosophischen Systems durch die topische Invention der transzendentalen Fragestellung am Anfang, zudem der internen narrativen Konstruktion der Geschichte des Selbstbewusstseins und schließlich der externen, inartifiziellen Credibilisierung durch die Kunst, ist die Rhetorik des Systems des transzendentalen Idealismus in ihren Umrissen sichtbar geworden. Für Schelling selbst hat allerdings diese mehrdimensionale Rhetorik des Systems auf Dauer das Problem der rhetorischen Differenz zwischen der beanspruchten spekulativen Wahrheit und ihrer glaubwürdigen öffentlichen Darstellung nicht befriedigend lösen können. Seine kritische Sensibilität für das unbewältigte Credibilitätsproblem seiner Philosophie hat ihn nicht nur zu weiteren Systementwürfen, sondern auch zu neuen Formentwürfen systematischen Philosophierens angetrieben. Beispiele sind das mythopoetische Erzählsystem der Weltalter oder das späte Komplementärsystem von negativer und positiver Philosophie. Das Motiv, das Schelling auf den Weg vom rein rationalen Systemdenken zum geschichtlichen Denken seiner Weltalter- und Spätphilosophie vorangetrieben hat, verrät schon eine subversive Metapher aus dem System des transzendentalen Idealismus. Sie steckt in der bereits zitierten Textstelle »Cartesius sagte als Physiker: gebt mir Materie und Bewegung, und ich werde euch das Universum daraus zimmern«59. In der metaphorischen Charakterisierung des rationalistischen Systems als eines bloß ›gezimmerten‹ Universums artikuliert sich – vermutlich unabsichtlich – bereits ein tiefgreifender Reduktionismusverdacht, der Schelling auf seinem weiteren Denkweg immer mehr zu Bewusstsein kommt und zum Problem wird. Schon früher in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus hatte Schelling systemkritisch angemerkt: »Ein System des Wissens ist notwendig entweder Kunststück, Gedankenspiel … oder es muß Realität erhalten.«60 Die Angst vor der leeren Begrifflichkeit und Seinsferne des rationalistischen Systems lässt Schelling dann später in den Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 die Suche nach einem neuen ›System der Welt‹ beginnen. Dieses zu findende ›Weltsystem‹ soll auch dem in der Freiheitsschrift geforderten Ideal eines ›Systems der Freiheit‹ entsprechen. Programmatisch richtet es sich gegen die repressiven Einseitigkeiten und totalitären Geltungsansprüche der bisherigen »höchst illiberal(en)«61 59 60 61

Schelling: SW 3,427. Schelling: SW 1,305. Schelling: SW 7,421.

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Schulsysteme. Als ›System der Freiheit‹ »darf es nichts ausschließen …, nichts einseitig unterordnen oder gar unterdrücken«62. Der geheime Verdacht, der dann den spätromantischen Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen zunehmend beunruhigt und zu neuen Entwürfen systematischen Philosophierens antreibt, äußert sich hier indirekt in seiner Theorie des geistigen Irrtums. Wie schon das Böse, ist demnach auch der geistige Irrtum nicht nur als Beraubung oder Mangel, sondern als aktive Verkehrung zu verstehen. »Auch der Irrthum ist keine bloße Privation der Wahrheit. Er ist etwas höchst Positives. Er ist nicht Mangel an Geist, sondern verkehrter Geist.«63 Diese Definition als perversio veritatis tritt der verharmlosenden gewöhnlichen Meinung von der Dummheit des Irrtums entgegen und macht darauf aufmerksam, dass »der Irrthum höchst geistreich, und doch Irrthum seyn kann«64. Mit diesem Problem der höchsten, weil geistigen Korruption, berühren die Privatvorlesungen den tiefsten Grund ihrer Systemkritik. Die generelle Einsicht in die Irrtumsfähigkeit des Geistes lässt im Philosophen die spezielle Vermutung aufkommen, dass auch das eigene philosophische System nichts weiter als ein geistreicher Irrtum sei. Dieser beunruhigende Verdacht treibt bei Schelling die selbstkritische Reflexion hervor, die konsequent zu jener progressiven Relativierung des rationalistischen Gestus seiner frühromantischen Systementwürfe führt, die wir im geschichtlichen Denken seiner Weltalter-Philosophie und in der Positiven Philosophie seiner späten Schaffensepoche beobachten. Rückblickend kündigt sich in der hier explizierten hintergründigen Rhetorik des transzendentalen Idealismus von 1800, bei aller vordergründigen Systemeuphorie, schon Schellings langsamer Abschied vom Systemdenken an. Es ist ein Abschied, der unter dem übermächtigen Eindruck des falschen Bildes vom Idealismus als reiner ›Systemphilosophie‹ bis heute weitgehend unentdeckt geblieben ist. Wie früh dagegen gerade bei Schelling schon systemkritische Gedanken laut werden, mag abschließend die folgende Stelle aus seinen Philosophischen Briefen belegen: »Nichts empört den philosophischen Kopf mehr, als wenn er hört, daß von nun an alle Philosophie in den Fesseln eines einzelnen Systems gefangen liegen soll … In dem Augenblicke, da er selbst sein System vollendet zu haben glaubte, würde er sich selbst unerträglich werden. Er hörte in dem Augen-

62 63 64

Schelling: SW 7,421. Schelling: SW 7,468. Ebd.

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blick auf, Schöpfer zu seyn, und sänke zum Instrument seines Geschöpfs herab.«65

2. Das Helldunkel in Schellings Kunst des Philosophierens »… so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt, und das Wunder, das, wenn es auch nur einmal existiert hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müsste.«66 Schon am Ende seines System des transzendentalen Idealismus kündigt sich bei Schelling ein romantisches Bündnis von Philosophie und Kunst an, das sich in der Folgezeit einer philosophiegeschichtlich wohl herausragenden Symbiose steigert. Dies bezeugen eindrucksvoll seine Jenenser Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802/3) und seine Münchner Akademierede von 1807 Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. Darüber hinausgehend gewinnt das Paradigma der Kunst bei Schelling zudem eine zentrale philosophiekonzeptionelle, d. h. metaphilosophische Bedeutung, die den Gesamtstil seines Philosophierens durchformt. Schelling entwirft im Zuge der romantischen Bewegung und am Vorbild der zeitgenössischen Genieästhetik die Philosophie selbst als Kunst. Demnach versteht der Philosoph sich selbst als »wissenschaftliches Genie«67, das seine Produktion nicht mehr nach dem Vorbild der Mathematik oder der Experimentalphysik, sondern nach dem Paradigma des ingeniösen, künstlerischen Schaffens ausrichtet. Damit erscheint die gesamte Philosophiegeschichte nun als fortgesetzte Metamorphose einer Philosophia perennis, deren Vielfalt historischer Darstellungsformen einem der Poesie analogen »philosophischen Kunsttrieb«68 entspringt. Im Zuge dieses ästhetischen Paradigmenwechsels vertritt Schelling in seinen metaphilosophischen Vorlesungen über die Methodenlehre des akademischen Studiums offensiv die Idee der Philosophie als freier Kunst. Demnach seien die Philosophen als »Meister (Magistros) der freien Künste«69 anzusehen und die philosophische Fakultät sollte sich eher an der alten Artistenfakultät und der Tradition der artes liberales orientieren, an65 66 67 68 69

Schelling: SW 1,306. Schelling: SW 3,618. Schelling: SW 4,284. Schelling: SW 5,498. Schelling: SW 5,284.

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statt den rationalistischen Weg in die mathematisch formalisierte und präzisierte Wissenschaft einzuschlagen.70 Dieser ästhetisch-poetische und der hintergründige rhetorische Paradigmenwechsel der Philosophie, den Schelling um 1800 in vorderster Front der frühromantischen Bewegung vollzieht, produziert auf der Inhaltsebene jene Spitzenformulierungen, die für ihre Kritiker als typische Dokumente des Versuches einer so genannten ›romantischen Verzauberung‹ der Welt gelten. Dazu gehört z. B. Schellings Diktum, dass die objektive Welt insgesamt als »Ein absolutes Kunstwerk«71 aufzufassen sei oder die These: »Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt.«72 Allerdings sollte der vordergründige Eindruck einer ›romantischen Verzauberung‹ der Philosophie Schellings nicht den Blick auf die philosophiekonzeptionellen Problemstellungen verstellen, aus denen seine Zuwendung zum ästhetischen Paradigma resultiert. Schellings Hinwendung zur Kunst um 1800 bildet nämlich die Konsequenz seiner permanenten, metaphilosophischen Überlegungen über die möglichen Formen des Philosophierens, die sein Denken – erinnert sei an seine frühe Abhandlung Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt aus dem Jahre 1794 – schon von Anfang an bewegen. Die entschiedene ästhetische Wendung dieser philosophiekonzeptionellen Formüberlegungen markiert um 1800 jenes bereits zitierte Diktum aus seinem System des transzendentalen Idealismus, »daß die Kunst das einzige und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie sey«73. Als ›Organon‹ und als ›Dokument‹ der Philosophie gibt die Kunst für Schelling die zentrale Antwort auf die drängenden Darstellungs- und öffentlichen Mitteilungsprobleme spekulativen Philosophierens.74 Im Anschluss an die neue Ästhetik Baumgartens und Kants, aber auch an Fichtes Theorie der produktiven Einbildungskraft, entwickelt Schelling ein neues philosophiekonzeptionelles Paradigma, das die öffentliche Lehrbarkeit des Absoluten ermöglichen und sicherstellen soll. An die Stelle des alten Aristotelischen Organon oder des Novum Organum Francis Bacons, welches sich an der Logik oder Dialektik ausrichtete, tritt jetzt das neue Kunst-Paradigma Schellings, das sich nunmehr an der Poetik und Rhetorik orientiert.

70 71 72 73 74

Vgl. Wolfgang Janke: Kritik der präzisierten Welt, Freiburg/München 1999. Schelling: SW 3,627. Schelling: SW 3,628. Schelling: SW 3,627. Vgl. Oesterreich: Das gelehrte Absolute.

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2.1 ›Göttliche Imagination‹. Das Prinzip der produktiven Einbildungskraft Die zentrale Organon-Kategorie, das wichtigste begriffliche Werkzeug für die neue Kunst-Philosophie, bildet wiederum wie schon in F. Schlegels Philosophie infiniter Ironie die Kategorie und das Tätigkeitsmuster der produktiven Einbildungskraft, die – vorbereitet durch die Wissenschaftslehre Fichtes – bei Schelling zum universalen Prinzip seiner romantischen Philosophie aufsteigt. Geistesgeschichtlich betrachtet gehört die Imagination schon für die antike Rhetoriktradition zu den grundlegenden Vermögen des Menschen. So schreibt der römische Rhetorikprofessor M. F. Quintilianus im sechsten Buch seiner Institutio oratoria ihr die erstaunliche Fähigkeit zu, uns durch Bilder (visiones) abwesende Dinge dermaßen eindrücklich im Geiste zu vergegenwärtigen, dass wir sie mit eigenen Augen zu sehen glauben und sie wie leibhaftig vor uns stehen.75 Als derart plastisch bilderzeugendes Vermögen gehöre die Imagination zur natürlichen Grundausstattung des Menschen und tritt nach Quintilian insbesondere in Zeiten der Muße hervor, wenn wir unseren unerfüllten Hoffnungen nachhingen und gleichsam am hellen Tage träumten. Die Phantasiebilder dieser Tagträume könnten dann so lebhaft werden, sodass wir wirklich meinten, auf Reisen zu sein, zu Schiff zu fahren, in der Schlacht zu stehen, zum Volke zu reden und über Reichtümer zu verfügen, die wir nicht besitzen. Quintilian selbst interessiert sich dann vor allem für die artifizielle rhetorische Formung dieser schon im menschlichen Alltag auftretenden, natürlichen, imaginativen Begabung des Menschen. Sie ermöglicht nämlich die oratorische Technik des Vor-Augen-Führens, der rhetorischen Verdeutlichung (enargeia), die Cicero auch Veranschaulichung (evidentia) oder Ins-Licht-Rücken (illustratio) nennt. Dabei lenkt der Redner mittels seiner Worte die Imagination seiner Hörer so, dass diese meinen, die Dinge, von denen die Rede ist, selbst zu sehen und die Geschehnisse, über die berichtet wird, wirklich zu erleben. Dieser rhetorisch oder poetisch erzeugte Schein des Authentischen war es, der schon früh das Misstrauen der Philosophie gegenüber der Imagination hervorgerufen hat. Das Zerwürfnis von philosophischer Vernunft und Imagination beginnt schon mit Platons Kampf gegen die Phantasmen der sophistischen Rhetorik sowie gegen die Trugbilder der mythologischen Dichter und Künstler. In ihrer Rolle als trugbilderzeugende Phantasie, die 75

Quintilianus: Institutiones, VI 2,28.

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das Nichtseiende als seiend und das Seiende als nichtseiend darstellt, wird die Imagination geradezu zur Gegenspielerin der philosophischen Vernunft stilisiert.76 Diese imaginationsrepugnante Haltung des antiken Platonischen Idealismus setzt sich bekanntlich im neuzeitlichen Kampf des Rationalismus gegen die trügerischen Phantasmen und täuschenden, subjektiven Vorstellungsbilder der Einbildungskraft fort. So rät Descartes in seinem Diskurs über die Methode, dass wir, ob wir nun schlafen oder wachen, uns niemals von unseren Sinnen oder der Einbildungskraft, sondern nur von unserer Vernunft leiten lassen sollten.77 Erst in der »Phantasieapologetik des 18. Jahrhunderts«78, in der sich die Linien des Concettismus, des englischen Sensualismus und der neuen Ästhetik Baumgartens mit dem Geniegedanken treffen, bricht sich allmählich eine neue imaginationsaffine Gesinnung Bahn. Die Imagination wird nun nicht mehr nur als erkenntnisgefährdende Quelle falscher Vorstellungsbilder gesehen, die durch die Ratio streng kontrolliert werden muss. Vielmehr wird nun ihre alte rhetoriktheoretische Verbindung mit dem Ingenium und der Inventio – vor allem im Zuge der Genie-Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts – neu entdeckt, sodass sie als produktive Einbildungskraft den Charakter eines ingeniösen Vermögens gewinnt, das ein bisher noch nie Dagewesenes, Neues zur Darstellung zu bringen vermag. Spätestens mit Kants transzendentalkritischer Wende stößt die Imagination auch in der Philosophie ihre alte Trugbildrolle als bloß täuschende Phantasie ab und gewinnt unter dem Namen der ›Einbildungskraft‹ den Charakter eines für die Sinnlichkeit des menschlichen Selbstbewusstseins grundlegenden produktiven Vermögens. Im Anschluss an Kants bahnbrechende »Entdeckung einer apriorischen Produktivität der Einbildungskraft«79 erreicht die philosophische Rehabilitierung der Imagination dann, wie gesagt, in Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre einen weiteren Höhepunkt. Als »absolut producierende Einbildungskraft«80 erzeugt sie nach Fichte durch das ihr eigene Tätigkeitsmuster eines unauf76 77 78

79 80

Vgl. Platon: Sophistes, 235dff. Vgl. René Descartes: Von der Methode. Hg. u. übers. v. Lothar Gäbe, Hamburg 1960, S. 32. Renate Lachmann: »Phantasia, imaginatio und rhetorische Tradition« in: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, S. 246– 270, hier: S. 245. Reinhard Look: Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings, Würzburg 2007, S. 21. Fichte: GA 1,2,375.

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hörlichen, vorbewussten ›Hin-und-Her-Schwebens‹ den gesamten sinnlichen Stoff des menschlichen Selbstbewusstsein, der dann durch die fixierende Tätigkeit des Verstandes zu der uns bekannten gegenständlichen Weltvorstellung verfestigt wird. Dieses transzendentale Konzept der Einbildungskraft als absolut produktives Vermögen, dessen ursprünglich synthetische Tätigkeit die Realität des menschlichen Welt- und Selbstbewusstseins allererst erzeugt, fasziniert dann die Poetologie der Frühromantik und findet z. B. in F. Schlegels frühromantischem Konzept einer ›progressiven Universalpoesie‹ ihren wohl spektakulärsten Ausdruck. Der Prozess der Positivierung und Universalisierung der Imagination in der frühromantischen Philosophie und Poetologie bildet aber noch nicht die Endstation des begriffsgeschichtlichen Aufstiegs der einst verfemten rhetorisch-poetischen Kategorie. Vorbereitet durch den Begriff der produktiven Anschauung im System des transzendentalen Idealismus (1800) ist es dann Schellings Philosophie der Kunst (1802/3), welche die Annäherung von Imagination und philosophischer Vernunft nicht mehr nur im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie, sondern in einer neuen, universell erweiterten Metaphysik des Absoluten vollzieht. In der Philosophie der Kunst rückt die Kategorie der produktiven Einbildungskraft als »Princip der göttlichen Imagination«81 unübersehbar ins Zentrum der philosophischen Systematik. Das Universum stellt sich dementsprechend als Werk dieser ›göttlichen Imagination‹ und damit als ein ›absolutes Kunstwerk‹ dar. Vor dem Hintergrund absoluter imaginativer Kreativität erscheint nun auch das Kunstschaffen als höchste Potenz menschlicher Tätigkeit, sodass sich bei Schelling die traditionelle aristotelische Rangfolge von Theorie, Praxis und Poiesis umkehrt. Infolge dieser Umbesetzung, welche die Poiesis als Vermögen künstlerischer Kreativität in die Spitzenposition menschlichen Seinkönnens bringt, rückt nun auch die Philosophie in die unmittelbare Nähe zur Kunst. Im Gegensatz zur kontemplativen, am theoretischen Paradigma ausgerichteten klassischen Metaphysik versteht sich Schellings an der künstlerischen Kreativität orientierte spekulative Philosophie. Diese versteht sich nicht mehr nur als ›Erkenntnis‹, sondern darüber hinausgehend dezidiert auch als lehrhafte »Darstellung«82 und philosophische Inszenierung des Absoluten.

81 82

Schelling: SW 5,393. Schelling: SW 5,367.

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2.2 Wissenschaftliches Genie und philosophisches Künstlertum Aus diesem neuen, ästhetisch erweiterten Selbstverständnis der Philosophie als lehrhafte Darstellung und philosophische Inszenierung des Absoluten erklären sich Schellings philosophiegeschichtlich avantgardistische, metaphilosophische Reflexionen zur Kunst des Philosophierens. Als Versuch einer lehrhaften Darstellung des Absoluten versteht die spekulative Philosophie ihre Hauptaufgabe nicht mehr allein in der intellektuellen Erkenntnis des Absoluten, sondern darüber hinausgehend auch in ihrer angemessenen Darstellung und glaubhaften Mitteilung in mündlicher oder schriftlicher Rede. Das erweiterte Spektrum der philosophischen Rede vom Absoluten schließt nun die fünf von der klassischen Rhetoriktheorie vorgezeichneten Aufgaben bei der Verfertigung eines Redekunstwerkes ein: erstens die Erfindung der Gedanken (inventio); zweitens ihre systematische Anordnung oder Konstruktion (dispositio); drittens die sprachliche Ausdrucksgestaltung (elocutio); viertens das Gedächtnis (memoria); und schließlich fünftens die öffentliche Aufführung und lehrhafte Inszenierung (actio). In Schellings rhetorikaffiner Kunst des Philosophierens vollzieht sich die Invention des philosophischen Wissens in der intuitiven und ingeniösen Form der intellektuellen Anschauung, welche als heuristisches Hintergrundwissen seine begriffssprachliche Systemkonstruktion leitet. Tropologisch gesehen steht die philosophische Invention in der Form der intellektuellen Anschauung bei Schelling unter dem Vorzeichen der synekdochischen Teil-Ganzes-Relation, aus der sich dann die organologische Disposition und Konstruktion seiner Systemarchitektur erklärt. So erklärt Schelling, dass die »wahre philosophische Kunst«83 bei ihrer Konstruktion »im Theil das Ganze und im Ganzen den Theil vor Augen hat«84, um so das Universum, ausgehend vom Absoluten als organologisch verfasste Totalität darzustellen. Besondere Sorgfalt hat ferner Schelling der elokutionären sprachlichen Ausdrucksgestaltung seiner Texte gewidmet. Dabei geht es ihm – wie noch gezeigt werden soll – u.a. um die Steigerung ihrer bildhaft-symbolischen Ausdrucksgestalt durch die philosophische Metaphorik. Hinzu kommt Schellings besondere sprachkünstlerische Kreativität bei der Aufführung und Inszenierung seiner Philosophie entweder in der Form des akademischen und populären Vortrags oder in der literarischen Inszenierung schriftlicher Veröffentlichung. Auffällig ist dagegen – wie 83 84

Schelling: SW 7,50. Ebd.

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übrigens für die meisten Texte der Deutsche Idealismus – das Zurücktreten der Memoria. Die historischen Quellen des eigenen Philosophierens werden tendenziell eher dissimuliert als zitiert. In dieser auffälligen Dissimulation der Memoria spiegelt sich wiederum das künstlerische Selbstverständnis des spekulativen Philosophen als eines wissenschaftlichen Originalgenies. Scheinbar befreit von allen historischen und topischen Vermittlungen schöpft es die Erkenntnis des Absoluten aus der authentischen Unmittelbarkeit seines eigenen ingeniösen Sehenkönnens, um die Philosophie jeweils neu zu erfinden. Diesen genialischen Innovations- und Originalitätsanspruch des philosophischen Künstlertums überträgt Schelling im Rahmen ihrer lehrhaften Inszenierung auch auf seine Hörer- und Leserschaft. Das kongeniale Verstehenkönnen der von Schelling entworfenen spekulativen Philosophie verlangt auch von ihren Rezipienten ein »homogenes Genie«85, um ihren kongenialen Nachvollzug zu ermöglichen. Der Gestus des originellen Schöpfertums durchdringt damit auch die rezeptionelle Seite der Kunst des Philosophierens und gipfelt in Schellings pädagogischem Imperativ: »Lerne nur, um selbst zu schaffen.«86 Ohne das göttliche Vermögen der Produktion sei man – so Schelling – nicht wahrer Mensch, sondern nur eine leidlich klug eingerichtete Maschine. Dieses außerordentlich anspruchsvolle Selbstbild des Philosophen als wissenschaftliches Genie, das Schelling in seiner Metaphilosophie entwirft, hat allerdings seine Licht- und Schattenseiten. Sie unterwirft den philosophischen Künstler einem permanenten Originalitäts- und Innovationsdruck, der einerseits die ungeheure Produktivität des jungen Schelling, aber auf der anderen Seite auch seine Schreib- und Schaffenskrise ab 1809 erklärt. Sie schränkt die Nachvollziehbarkeit seiner Philosophie auf ein elitäres, kongenial begabtes Publikum ein und schließt damit auf der anderen Seite alle jene aus, für die – wie Hegel in seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ironisch bemerkt – das Schellingsche Absolute wie eine Nacht erscheinen muss, in der bekanntlich alle Kühe schwarz seien. Einerseits führt Schellings philosophisches Künstlertum somit zu einer vielseitigen Produktion von unterschiedlichen Systementwürfen und literarischen Formexperimenten, welche die einheitliche Gestalt eines Gesamtwerkes scheinbar vermissen lassen und ihm in der Vergangenheit den problematischen Beinamen eines ›Proteus‹ der Philosophie einbrachten. Andererseits ist es gerade die in seinen Texten vielfältig demonstrierte 85 86

Schelling: SW 5,241. Ebd.

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philosophische Kunst, die Schelling heute, zu einem Zeitpunkt, da die Gegenwartsphilosophie den literarischen und rhetorischen Charakter philosophischer Texte entdeckt, außerordentlich interessant macht und zu einen ›Zeitgenossen inkognito‹ werden lässt. Dabei war für Schelling – wie auch J. Jantzen betont – insbesondere »die literarische Darstellung des philosophischen Gedankens ein Grundproblem«87. Schelling versuchte, seine Philosophie in ganz unterschiedlichen literarischen Großformen (Traktat, Vorlesung, Briefform, Dialog und Mythos) darzustellen und durch diese Variantenfülle sein Publikum zu überraschen und zu fesseln. Auch auf der mikrologischen Ebene der Gedankenfiguren und Begriffe gelingen Schelling immer wieder innovative Varianten. Man denke nur an die Grund-Existenz-Distinktion der Freiheitsschrift. Gerade in diesem Text zeigt sich Schelling aber nicht nur als Virtuose der begrifflichen, sondern auch der bildlichen Darstellungskunst. Der Text der Freiheitsschrift bildet ein Meisterstück philosophischer Kunst, das nicht nur auf Grund der rationalen Qualität seiner begrifflichen Konstruktion, sondern auch wegen der imaginativen Attraktivität seiner ausgeprägten Licht-Finsternis-Metaphorik in die philosophische Weltliteratur eingegangen ist. 2.3 Die philosophische Licht-Finsternis-Metapher der Freiheitsschrift Aufgrund ihrer charakteristischen bipolaren Licht-Finsternis-Metaphorik gehört Schellings Freiheitsschrift, die als das erste vollgültige Dokument seines spätromantischen Philosophierens gelten kann, zum Typus jener neuartigen Hell-Dunkel-Literatur, die im Gegensatz zur einseitigen LichtMetaphorik der Aufklärung gerade auch die dunkle und nächtige Seite des Daseins machtvoll zur Geltung bringt. Zu dieser, der Nachtseite zugewandten romantischen Literatur gehören auch die pseudonym veröffentlichten und fälschlicherweise Schelling lange Zeit zugerechneten Nachtwachen des Bonaventura (1805), die mit folgender, in charakteristisches Helldunkel getauchter Nachtszene beginnen: »Die Nachtstunde schlug … Es war eine von jenen unheimlichen Nächten, wo Licht und Finsternis schnell und seltsam miteinander abwechselten. Am Himmel flogen die Wolken, vom Winde getrieben, wie wunderliche Riesenbilder vorüber, und der

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Jörg Jantzen: »Ein tätiges Band zwischen der Seele und der Natur. Schellings Rede ›Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur‹ am 12. Oktober 1807‹«. In: Akademie Aktuell. Zeitschrift der bayrischen Akademie der Wissenschaften, 1 (2007), S. 18–21, hier: S. 20.

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Mond erschien und verschwand in rasendem Wechsel.«88 Ein allein auf Grund seines prägnanten Titels oft zitiertes popularphilosophisches Beispiel dieses dunklen, literarischen Genres bilden G. H. Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808). Schelling selbst knüpft dann 1809 in seiner Freiheitsschrift mit ihrer ausgeprägten Licht-Finsternis-Metaphorik an diese literarische Hell-Dunkel-Malerei der Romantiker an. Dass dieser neue, dunkel eingefärbte Stil seiner philosophischen Literatur an einigen Stellen den imaginativen Einschlag ins Nächtige sogar überbetont, hat Schelling selbst in seinem Brief an Schubert am 27. Mai 1809 bemerkt und offen eingestanden: »In meinen bisherigen Darstellungen ist vielleicht die Tagseite zu sehr hervorgehoben, so gut wie übrigens die entgegengesetzte von Anfang bekannt war. Nur habe ich an einigen Stellen zu sehr in’s Dunkel gemalt.«89 Tatsächlich hatte schon der frühromantische Naturphilosoph Schelling lange vor der Freiheitsschrift an einigen Stellen seiner früheren natur- und transzendentalphilosophischen Schriften literarisch ins Dunkel gemalt. So beginnt schon seine Abhandlung Ueber das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur mit dem Eingangssatz »Das Dunkelste aller Dinge, ja das Dunkel selbst …, ist die Materie.«90 Erinnert sei auch an den »dunkeln Begriff des Genies«91, der im System des transzendentalen Idealismus auf den bewusstlosen Anteil genialer Produktion anspielt. In der Freiheitsschrift kommt es aber nun zu einer Potenzierung und Infinitisierung dieses vorher nur sporadisch hervorgetretenen Dunkels. In der Metaphorik des Textes steigt die dunkle Nachtseite nun zum gleichrangigen Gegenpol der Tagseite auf. Durch das Darstellungsmittel einer nun durchgängigen LichtFinsternis-Metaphorik wird die Freiheitsschrift insgesamt zu einem Musterbeispiel der Hell-Dunkel-Malerei philosophischer Spätromantik. Dieser universelle Gebrauch des literarischen Helldunkels in der Freiheitsschrift verleiht dem unanschaulichen rationalen Sinn der zentralen Gedankenfigur des Textes, der Grund-Existenz-Distinktion, eine besonders eindringliche imaginative Präsenz. Der unanschauliche rationale Sinn dieser Gedankenfigur wird von Schelling hier durch die imaginative Bildlichkeit der sie tragenden philosophischen Leitmetaphorik bildhaft vergegenwärtigt. Dadurch wird das begriffliche Verstehenkönnen tatsächlich stellenweise zu jenem Sehenkönnen gesteigert, welches dem Text – durch 88 89 90 91

Bonaventura, Nachtwachen. Hg. v. Wolfgang Paulsen, Stuttgart 1990, S. 5. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Aus Schellings Leben. In Briefen, Bd. II. Hg. v. Gustav Leopold Plitt, Leipzig 1870, S. 161. Schelling: SW 2,359. Schelling: SW 3,616.

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die Durchdringung von Begriff und Bild – jene eindrückliche symbolische Evidenz verleiht, die als Ausdruck virtuoser philosophischer Darstellungskunst gelten kann. Die Licht-Finsternis-Metaphorik durchzieht dabei in der Freiheitsschrift den gesamten Themenbereich und Topoi der generellen und speziellen Ontologie. So bildet das literarische Hell-Dunkel z. B. den imaginativen Hintergrund für derart universalontologisch bedeutsame Sentenzen wie: »Alle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht; das Samenkorn muß in die Erde versenkt werden und in der Finsterniß sterben, damit die schönere Lichtgestalt sich erhebe und am Sonnenstrahl sich entfalte.«92 Ferner verwendet Schelling das Helldunkel auch bei seinen speziellen Schilderungen der Theo-, Kosmo- und Anthropogenese. So lässt er z. B. schon die innere Schöpfungssehnsucht Gottes als den ›dunkle(n) Grund‹ einer »ersten(n) Regung des göttlichen Daseyns«93 erscheinen, aus dem dann seine ›lichten Gedanken‹ erwachsen. Ferner stellt er den kosmologischen Schöpfungsprozess dar als »eine innere Transmutation oder Verklärung des anfänglich dunkeln Prinzips in das Licht«94. Schließlich findet sich im Zusammenhang mit der Anthropogenese folgendes, besonders eindrückliches Beispiel der philosophischen Helldunkelmalerei: »Diese Erhebung des allertiefsten Centri in Licht geschieht in keiner der uns sichtbaren Creaturen außer im Menschen. Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Princips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tiefste Abgrund und der höchste Himmel, oder beide centra.«95 Am Ende ist es nicht zuletzt Schellings Kunst des literarischen Helldunkels, welche die Faszination der Freiheitsschrift ausmacht und sie zu einem vielbesprochenen Werk der philosophischen Weltliteratur hat werden lassen. Erinnert sei nur an jene oft zitierte Passage, die zu jenen ›erhabenen‹ – und man könnte im Falle Schellings hinzufügen ›abgründig-erhabenen‹ – literarischen Gipfelpunkten gehören, durch die nach PseudoLongin Dichter und Schriftsteller ihren ganzen Ruhm und ihre Unsterblichkeit zu gewinnen pflegen. Sie lautet: »Nach der ewigen That der Selbstoffenbarung ist nämlich die Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein 92 93 94 95

Schelling: SW 7,360. Schelling: SW 7,360/1. Schelling: SW 7,362. Schelling: SW 2,363.

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anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Creatur; Finsterniß ist ihr nothwendiges Erbtheil.«96 2.4 Die Magie des Hell-Dunkel in der Philosophie der Kunst Wie erklärt sich dieser auffällige metaphorische Stilwechsel in Schellings philosophischer Literatur, das ›Nachdunkeln‹, ja die stellenweise ›Verfinsterung‹ der imaginativen Lichtführung seiner Freiheitsschrift, die mit dem ›dunklen Grund‹ nun auch verstärkt die Nachtseite zur Geltung bringt? Lässt sich dieser Stilwechsel nur als Ausdruck einer neuen literarischen Konvention oder einer typischen romantischen »Verliebtheit in das Dunkle, Nächtige, Schauervolle, ja Dämonische«97 deuten? Oder artikuliert sich hier in erster Linie eine theosophisch-gnostizistische Wende im geistigen Klima seiner frühen Münchener Zeit, die Schelling zu einer intensiven Jakob-Böhme-Lektüre motiviert hatte? Die folgende Deutung versucht eine andere Spur zu verfolgen. Schelling hatte sie selbst gelegt, als er in seinem Brief an Schubert schrieb, dass ihm die der Tagseite entgegengesetzte Nachtseite schon früher bekannt gewesen sei. Die Spur dieser früheren Bekanntschaft mit dem Helldunkel, das Schelling in der Freiheitsschrift literarisch so eindrucksvoll in Szene setzt, führt in seine Jenenser Vorlesungen über die Philosophie der Kunst zurück. Das Helldunkel wird hier innerhalb der Konstruktion der Malerei abgehandelt. Neben der Zeichnung und dem Kolorit begegnet das Helldunkel in der Philosophie der Kunst als die zweite konstitutive Dimension der Malerei, die – wie Schelling betont – »gleichwohl die Substanz der Malerei«98 sei. Was Schelling am pikturalen Helldunkel hier fesselt, und zur ›Substanz der Malerei‹ werden lässt, sind seine gleichsam ›magischen‹ Möglichkeiten bildhafter Scheinerzeugung. »Das Helldunkel ist der eigentlich magische Theil der Malerei, indem es den Schein aufs höchste treibt.«99 Die ästhetische Phänomenologie, welche Schelling hier in seiner Philosophie der Kunst 96 97 98 99

Schelling: SW 7,359/60. Horst Fuhrmans: »Einleitung«. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1974, S. 17. Schelling: SW 5,540. Schelling: SW 5,533.

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in enger Verbindung mit seiner Aufwertung des ›göttlichen Prinzips der Imagination‹ entwickelt, verlässt die von Platons Kunstkritik ausgehende Tradition der metaphysischen Abwertung des Scheines als eines sophistischen und trugbildnerischen Phantasmas und greift die bei Schiller vorgebildete Tendenz zur ästhetischen Rehabilitierung und Positivierung des ästhetischen Scheins auf. Das Reich des ästhetischen Scheins und der schönen Künste etabliert sich schon in Schillers Ästhetischen Briefen als ein autonomer und von der entfremdeten empirischen Realität separierter Bereich der Schönheit, und der Freiheit, »der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht«100. In Schellings Philosophie der Kunst verstärkt sich diese Tendenz zur ontologischen Verselbstständigung des Ästhetischen. Die Welt der Kunst gewinnt nun den Charakter einer die empirische Realität an Wahrheit und Authentizität weit übertreffende Wirklichkeit, die eine eigenständige ›poetische Existenz‹ besitzt. Im Sinne seiner Philosophie des Absoluten bildet bei Schelling die autonome Kunst allerdings nicht mehr nur ein Reich der Selbstverwirklichung menschlicher Subjektivität im freien Spiel ihrer Wesenskräfte, sondern der Offenbarung des Absoluten in der öffentlich zugänglichen Form der Kunst. Das eigentliche ›Wunder‹ der Kunst besteht nun nach Schelling darin, dass ihr etwas scheinbar völlig Unmögliches und Paradoxes gelingt, nämlich die Darstellung des in sinnlicher Form eigentlich Undarstellbaren. Kant hatte noch im § 59 seiner Kritik der Urteilskraft einen kritisch-restriktiven Symbolbegriff vertreten, demgemäß den Vernunftideen »keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann«101. Eine direkte Veranschaulichung von Vernunftideen sei also unmöglich; sie ließen sich nur indirekt und »bloß analogisch«102 repräsentieren. Dagegen erfindet Schellings Philosophie der Kunst jenen für die Romantik typischen, neuen Symbolbegriff, der das scheinbar Unmögliche doch ermöglichen soll. Das Symbol sei – wie Schelling sich ausdrückt – nicht allegorisch, sondern ›tautegorisch‹. Das Symbol verweist als Bildträger nicht nur allegorisch auf einen eigentlich undarstellbaren, unendlichen Sinn, sondern vergegenwärtigt und präsentiert ihn vollständig selbst. In der tautegorischen Selbstreferentialität des Symbols sind Gesagtes und Gemeintes, Sinnlichkeit und Sinn, Bild und Begriff »absolut eins«103. Im Kunstwerk verdichtet und potenziert sich 100 101 102 103

Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, S. 112. Kant: AA 5,351. Ebd. Schelling: SW 5,51.

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somit nach Schelling auf geradezu ›magische Weise‹ die bloß zeichenhafte Repräsentation zur Realpräsenz und sinnlichen Gegenwart der Sache selbst. Durch diese ›Magie‹ der direkten, symbolischen Darstellung des Absoluten vermag es die Kunst, tatsächlich das intersubjektive zugängliche ›Dokument‹ der Philosophie zu sein. In der Malerei tritt diese magische Kraft der Symbolisation nun insbesondere in der Dimension des Helldunkels hervor. Erst das Helldunkel lässt aus den einzelnen durch die Zeichnung voneinander abgesetzten Figuren die Totalität des Bildes entstehen. Das mit allen möglichen Lichteffekten spielende Kontinuum der Helldunkel-Malerei ermöglicht nämlich – rezeptionsästhetisch gesehen – einen stetigen visuellen Übergang zwischen den ansonsten separierten figuralen Bildelementen, »zwischen denen sich das Auge ohne Widerstand hin- und herbewegt«104. Aus dieser rekursiven Blickbewegung des Betrachters heraus entsteht so das in sich geschlossene Bilduniversum des Gemäldes. Dass ein Gemälde ferner den Eindruck einer von der empirischen Realität völlig abgelösten eigenständigen Wirklichkeit gewinnen kann, verdankt es nicht zuletzt den das Auge fesselnden visuellen Kontrastbildungen des Helldunkels. So bemerkt Schelling, dass zwar das Licht der ›positive Pol der Schönheit‹ sei, aber »es wird offenbar und erscheint nur im Kampf gegen die Nacht, welche, als der ewige Grund alles Daseyns, selbst nicht ist, obgleich sie durch ihre beständige Gegenwirkung sich als Macht erweist«105. Dieses allgemeine phänomenologische Gesetz der Intensitätssteigerung durch Kontrastbildung begründet auch die besondere Wirkung des pikturalen Hell-Dunkels. Erst durch die ›beständige Gegenwirkung‹ gewinnt das Licht gegen das Dunkel und das Dunkel gegen das Licht jene ›magische‹, gesteigerte Intensität und Wirksamkeit, auf die es Schelling ankommt. »Der Zauber der Malerei besteht aber darin, die Negation als Realität, Dunkel als hell, und dagegen die Realität in der Negation, das Helle als dunkel erscheinen«106 zu lassen. Gerade das Dunkel spielt bei der Realisation des Lichtes im Kunstwerk eine entscheidende Bedeutung. Es ist – wie Schelling sich ausdrückt – gleichsam »Stoff des Malers, gleichsam der Leib, an dem er die flüchtigste Seele des Lichtes fasset«107. Die Meisterleistung der Helldunkelmalerei verkörpert schließlich für Schelling ein ganz bestimmtes Gemälde, das er schon bei seinem Besuch der Gemäldegalerie in Dresden im Jahr 1798 bewundert hatte. Gemeint ist 104 105 106 107

Schelling: SW 5,533. Schelling: SW 5,541. Schelling: SW 5,533. Ebd.

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das berühmte Bild Die heilige Nacht von Correggio, in dem die Künste des Helldunkels zu einer in seinen Augen unübertroffenen Meisterschaft gelangen. »Durch die Künste des Helldunkel ist es sogar möglich geworden, die Bilder ganz selbstständig zu machen, nämlich die Quelle des Lichts in sie selbst zu versetzen, wie in jenem berühmten Gemälde des Correggio, wo ein unsterbliches Licht, von dem Kinde ausgehend, die dunkle Nacht mystisch und geheimnisvoll erleuchtet.«108 Was Schelling an der Heiligen Nacht bewundert, ist die hier meisterhaft ausgeführte Möglichkeit, die Lichtquelle als »sakrales Leuchtlicht«109 in das Zentrum des Bildes selbst zu versetzten. Die Nachtszene des Stalles in Bethlehem wird bei Correggio allein durch den magisch leuchtenden Leib des Christuskindes in der Mitte erhellt und reflektiert sich in den es umgebenden Gestalten des Elternpaares, der Hirten und der Engel, ehe es sich schließlich in der Finsternis des Bildrandes verliert. Durch diese Technik der internen Beleuchtung, die auf jede andere externe Lichtquelle verzichtet, gewinnt das Gemälde für den Betrachter den Eindruck höchster visueller Selbstständigkeit und Autonomie. Das Gemälde scheint ganz aus sich selbst zu leuchten und bringt somit auch formal – durch die Helldunkel-Technik seiner selbstreferenziellen Lichtführung – die von ihm dargestellte Geburt des Absoluten optimal zur Geltung. Von daher stellt für Schelling Correggio den »höchsten Gipfel in der Erreichung der Kunst des Helldunkels«110 dar. Dieses ›himmlische Genie‹ sei »Maler aller Maler«111, »der eigentliche Maler kat exochen«112 und »in ihm ist das eigentlich romantische Prinzip der Malerei ausgesprochen«113. Das pikturale Helldunkel Correggios – so die abschließende These – ist das künstlerische Vorbild für Schellings eigenes literarisches Helldunkel in der Freiheitsschrift. Schelling kann damit gleichsam als der Correggio des Deutschen Idealismus bezeichnet werden. In Hinsicht auf ihre philosophische Metaphorik erklärt sich die Erfindung der Helldunkel-Metaphysik in der Freiheitsschrift somit aus Schellings erfolgreicher Übertragung der Helldunkel-Malerei auf das Gebiet der philosophischen Literatur. Ut pictura philosophia. Am Ende erklärt sich dieser Paradigmenwechsel weg 108 109

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Ebd. Birgit Kloppenburg / Gregor J. M. Weber: »Das Licht in Correggios Notte«. In: La famosissima Notte! in: Correggios Gemälde ›Die Heilige Nacht‹ und seine Wirkungsgeschichte. Hg. v. Birgit Kloppenburg / Gregor J. M. Weber, Emsdetten/Dresden 2000, S. 25–31, hier: S. 25. Schelling: SW 5,534. Schelling: SW 5,537. Schelling: SW 5,538. Schelling: SW 5,534.

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von der bis zur Aufklärung vorherrschenden Tradition der platonischen Licht-Metaphysik mit ihrer einseitigen, hellen, heliotropen Metaphorik und hin zur romantischen Helldunkel-Metaphysik aus der literarischen Befolgung einer künstlerischen Maxime, die nach Schelling auf Leonardo da Vinci, den »Vorläufer des himmlischen Genies Correggio«, zurückgeht. Sie lautet: »Maler, wenn du den Glanz des Ruhmes begehrst, fürchte die Dunkelheit der Schatten nicht.«114

3. Tragische Ironie. Das philosophische Drama der menschlichen Freiheit Zu den Kontinuitäten der wandlungsreichen Philosophie Schellings gehört zweifellos, dass sie sich selbst als Philosophie der Freiheit versteht. So erklärt Schelling in seinem frühen System des transzendentalen Idealismus, »daß der Anfang und das Ende dieser Philosophie Freiheit ist«115. In seiner späten Philosophie der Offenbarung finden wir dann den ebenso tiefsinnigen wie interpretationsbedürftigen Satz, der sich gut als Motto für das gesamte spätromantische Philosophieren eignet: »Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.«116 Tatsächlich lässt sich das gesamte spätromantische Philosophieren Schellings als Versuch begreifen, die abenteuerlichen Möglichkeiten der göttlichen und menschlichen Freiheit zu ergründen und zur Darstellung zu bringen. Dabei gestaltet sich in Schellings romantischer Sicht das gesamte geschichtliche Universum zu einem theatrum mundi für die philosophische Dramatik der verschlungenen und abgründigen Selbsterfindungsprojekte göttlicher und menschlicher Freiheit. In der Freiheitsschrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen inszeniert Schelling gleichsam die philosophische Tragikkomödie der endlichen, menschlichen Freiheit, die sowohl in der tragischen Möglichkeit zur selbstdestruktiven Perversion zum Bösen als auch zur reintegrativen Restitution ihrer universellen Vernunft steht. In diesen berühmten Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 und den bisher weniger beachteten Stuttgarter Privatvorlesungen von 1810 löst Schelling sich deutlich vom transzendentalen und moralischen Freiheitsbegriff Kants und Fichtes. Er stellt hier eine eigenständige Lehre der realen, 114 115 116

Ebd. Schelling: SW 3,376. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1. Hg. v. Walter E. Erhardt, Hamburg 1992, S. 79. Zur Schlüsselstellung dieser Sentenz vgl. Walter E. Ehrhardt, »Schelling«. In: TRE XXX, S. 92f.

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menschlichen Freiheit vor, die den idealistischen Freiheitsbegriff aufnimmt und zugleich anthropologisch konkretisiert und modifiziert. Dabei legen die beiden genannten Schriften seinen neuen anthropologischen Freiheitsbegriff nach seinen entgegengesetzten Seiten aus. Während die Freiheitsschrift im Zusammenhang mit dem Phänomen des Bösen die korruptive Seite und die tragische Ironie der menschlichen Freiheit betont, heben die Stuttgarter Privatvorlesung mit ihrer Tendenz zur Wiederherstellung der menschlichen Gesamtnatur ihr restitutives Gegenmoment hervor. Die Freiheitsschrift und die Stuttgarter Privatvorlesung lassen sich somit als die korrespondierenden Gegenstücke der anthropologischen Freiheitslehre Schellings verstehen. 3.1 ›Der umgekehrte Gott‹. Die tragische Perversion des Bösen Das zentrale Anliegen der Freiheitsschrift ist die Überwindung des ethischen Formalismus Kants und des subjekttheoretischen Frühidealismus durch die Entwicklung eines realen und personalen Freiheitsbegriffs, der zugleich das alte theologische und metaphysische Thema des Guten und Bösen integriert. Der »reale und lebendige Begriff« der Freiheit ist – so lautet die bekannte Definition – »daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey«.117 Vor dem Hintergrund der kantischen Moralphilosophie und ihres formalen Freiheitsbegriffes enthält Schellings Bestimmung der realen menschlichen Freiheit eine überraschende Wendung. Definiert als ›Vermögen des Guten und Bösen‹ erscheint die menschliche Freiheit plötzlich mit einer tiefen ethischen Zweideutigkeit belastet. Für ein moralisches Freiheitsverständnis muss es tief irritierend sein, mit Schelling die menschliche Freiheit nicht nur als ›Vermögen des Guten‹, sondern auch als ›Vermögen des Bösen‹ zu denken. Das eigentlich Böse ist nach Schelling ein genuin anthropologisches Phänomen, das die Sonderstellung der menschlichen Freiheit inmitten der Natur und gegenüber dem Absoluten betrifft. Erst im Menschen wird der universale Gegensatz von Egoismus und Universalwille zur vollständigen Entfaltung hervorgetrieben: »Im Menschen ist die ganze Macht des finsteren Princips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts.«118 Ferner weichen erst in der menschlichen Person die instinktiven Naturbestimmungen der Freiheit. Die menschliche Persönlichkeit zeich117 118

Schelling: SW 7,352. Schelling: SW 7,363.

116

net nach Schelling ein freies und geistiges Selbstverhältnis aus, das sie aus allen Ordnungen der Natur hervorhebt und heraushebt. In ihr manifestiert sich ein geistiger Wille, »der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur ist«119. Allerdings besagt diese Außer- und Übernatürlichkeit der menschlichen Persönlichkeit nicht die Identität mit dem Absoluten. Ihr Proprium liegt in der Beweglichkeit des geistigen Willens, die der absoluten Entschiedenheit des Göttlichen zum Guten entbehrt und auch die Möglichkeit der Auflösung sittlicher Identität und ihre Verkehrung zum Bösen einschließt. »Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich seyn, – und dieses ist die Möglichkeit des Guten und Bösen.«120 Schellings Anthropologie, die die Sonderstellung der menschlichen Freiheit sowohl gegenüber den Ordnungen natürlicher Selbstorganisation und dem ewig zum Guten entschiedenen Willen des Absoluten vertritt, entdeckt in ihr eine abgründige moralische Zweideutigkeit, die als unaufhebbare, ironisch-duplizitäre Grundanlage endlich menschlicher Freiheit das enthusiastische moralische Freiheitspathos der Aufklärung fragwürdig erscheinen lässt. Sein realer Begriff der Freiheit als ›Vermögen des Guten und des Bösen‹ formuliert die in die Krise geratene neuzeitliche Freiheitskonzeption, die sich bewusst wird, dass das Böse ihr weder von außen zugestoßen ist noch zufällig anhängt, sondern ihrem eigenen Wesen entstammt. Die sich infinitisierende moderne Freiheit der menschlichen Selbsterfindung entdeckt sich selbst als mögliche Quelle des eigentlich Bösen. Die konsequente reflexive Selbstaneignung realer Freiheit expliziert nämlich die Möglichkeiten eines unbegrenzten Seinkönnens, das in letzter Konsequenz auch die Grenzen der Gesetzgebung rein praktischer Vernunft radikal zu überschreiten vermag. Im Gegensatz zu den Konzeptionen transzendentaler und moralischer Freiheit deckt der Schellingsche Begriff der realen Freiheit die sicher geglaubte Verbindung von Freiheit und Moralität auf und legt ihre Kontingenz frei. Auf der Linie der neu entdeckten Möglichkeiten radikalen Andersseinkönnens liegt schließlich auch die extreme Möglichkeit des Bösen. Diese »allgemeine Möglichkeit des Bösen besteht darin, wie gezeigt, daß der Mensch seine Selbstheit, anstatt sie zur Basis, zum Organ zu machen, vielmehr zum Herrschenden 119 120

Schelling: SW 7,364. Ebd.

117

und zum Allwillen zu erheben, dagegen das Geistige in sich zum Mittel zu machen streben kann«121. Das Böse entsteht demnach nicht durch bloße Abweichung, sondern durch radikale Verkehrung der sittlichen Grundverhältnisse durch die menschliche Freiheit. Schelling beschreibt hier – ähnlich wie Kant122 – eine negative ›Revolution der Gesinnung‹, in der sich das sittliche Grund-Existenz-Verhältnis so ins Gegenteil verkehrt, dass das Universale im Menschen, seine Vernunft, durch seine partikularen Interessen instrumentalisiert wird. Verführt durch die Möglichkeit absoluter Selbstverfügung, macht sich der Mensch durch die totale Verkehrung seines Vernunftgebrauchs zu einem – wie Schelling im Anschluss zu Augustinus’ perversa imitatio dei formuliert – »umgekehrte(n) Gott«123. Insgesamt bildet das Böse bei Schelling ein spezifisch anthropologisches Phänomen heraus, dessen Möglichkeit im Wesen der menschlichen Freiheit wurzelt und dessen Wirklichkeit auf einer durch sie bewirkten »positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Principien«124 beruht.125 Mit diesem »allein richtigen Begriff des Bösen«126 als perversio positiva richtet er sich explizit gegen die klassischen privatio-Theorien, die das Böse auf »etwas bloß Passives, auf Einschränkung, Mangel, Beraubung«127 zurückführen wollen.128 Mit dieser Gedankenfigur der ›positiven Verkehrtheit‹ oder ›Umkehrung der Prinzipien‹ hinterlässt der inversive Charakter der frühromantischen Ironie eine deutliche Spur in der Anthropologie des spätromantischen Schelling. Von daher kann an dieser Stelle auch von der tragischen Ironie der zum Bösen verkehrten Subjektivität des Menschen gesprochen werden.

121 122 123 124 125

126 127 128

Schelling: SW 7,389. Zu Kants Differenz der Reform und Revolution der Gesinnung s.: Immanuel Kant: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6,47. Schelling: SW 7,390. Schelling: SW 7,366. Zur zunehmenden Bedeutung der Anthropologie in der Weltalter-Philosophie Schellings s.: Jochem Hennigfeld: »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Die Menschlichkeit des Absoluten«. In: Friedhelm Decher / Jochem Hennigfeld (Hg.): Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, Würzburg 1992, S. 37–49 und Temilo v. Zantwijk: Panpersonalismus. Schellings transzendentale Hermeneutik der menschlichen Freiheit, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000. Schelling: SW 7,366. Schelling: SW 7,368. Zur Begriffsgeschichte der neuzeitlichen Positivierung des Bösen s.: Friedrich Hermanni: »Die Positivität des Malum. Die Privationstheorie und ihre Kritik in der neuzeitlichen Philosophie«. In: Die Wirklichkeit des Bösen. Systematischtheologische und philosophische Annäherungen. Hg. v. Friedrich Hermanni / Peter Koslowski, München 1998, S. 50–72.

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Das Gegenbeispiel für diese nur negative und privative Bestimmung des Bösen als Unvollkommenheit und Beraubung bildet dagegen nach Schelling der Mensch selbst: »Denn schon die einfache Ueberlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Creaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen könne.«129 Gerade der Mensch, in dem sich die in der Natur schon angelegten Kräfte potenzieren und in freier Form verfügbar werden, tritt hier als Beispiel gegen die privatio-Theorie auf: Das außerordentlich Vollkommene und Befähigte besitzt anscheinend eine besondere Affinität zum Bösen. Auch die gängige religiöse Vorstellung des Teufels weist für Schelling in diese Richtung: »Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitirteste Creatur, sondern vielmehr die illimitirteste. Unvollkommenheiten im allgemeinen metaphysischen Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltener das Gute begleitet.«130 Diese Vorstellung symbolisiert die innere Gefährdung des menschlichen Geistes durch das Böse und zeigt, wie gerade höchste Intelligenz und außergewöhnliche Kompetenz ihm verfallen können. Der Grund des Bösen liegt nach Schelling nämlich nicht in einer äußeren Überwältigung der Vernunft durch die Sinnlichkeit, sondern in der inneren Verführung des Geistes durch die Möglichkeiten seiner eigenen Freiheit. Je größer die Fähigkeiten einer Persönlichkeit sind, desto mehr bedrängt sie der Überhang der in ihrem Vermögen ruhenden, noch nicht zur Existenz gebrachten, sondern im Grund zurückgehaltenen Möglichkeiten. Dieser Hang, auch die Möglichkeit des Bösen zu verwirklichen, erklärt sich dadurch, dass die menschliche Persönlichkeit, als Geist, immer zugleich »ein selbstisches … Wesen«131 ist. Auch die im Vermögen ihrer Freiheit stehenden Möglichkeiten des Bösen ziehen als Möglichkeiten der individuellen Selbstverwirklichung den Eigenwillen an. Diese ›Sollizitation des Bösen‹ hat bei aller moralischen Negativität ein positives ontologisches Motiv: in verkehrter und letztlich selbstdestruktiver Form erstrebt auch das Böse als »Erhebung des Eigenwillens«132 eine Überführung von bloßer Möglichkeit ins aktuelle Sein. Die eigentümliche Produktivität und Aktivität des Bösen – seinen positionellen Charakter – hat Schelling im Blick, wenn er es als positive 129 130 131 132

Schelling: SW 7,368. Ebd. Ebd. Schelling: SW 7,365.

119

Verkehrtheit bestimmt. Zugleich wird eine eigentümliche Negativität von Moralität vor dem Hintergrund der Schellingschen perversio-Theorie des Bösen deutlich. Die ethische Kraft der Persönlichkeit besteht gerade im Vermögen, die Möglichkeiten des Bösen nicht zur Wirklichkeit und Existenz kommen zu lassen, sondern als Möglichkeiten im Grunde zurückzuhalten. Damit kehrt sich hinsichtlich des Bösen der ontologische Vorrang der Aktualität gegenüber der Potentialität um: Die Möglichkeit des Bösen besitzt einen höheren Rang als die Wirklichkeit. Sittliche Kompetenz oder Tugend besteht somit nicht in einem allseitigen Seinlassen, sondern zu einem großen Teil in der zurückhaltenden Beherrschung von ›bösen Möglichkeiten‹ der eigenen Freiheit. Die grundsätzliche ethische Zweideutigkeit der menschlichen Freiheit, die eben ein Vermögen des Guten und des Bösen ist, erfordert – so lautet eine unausgesprochene Botschaft der Freiheitsschrift – ihren zurückhaltenden und asketischen Gebrauch. Erfasst dagegen der Geist der positiven Verkehrtheit die Gesamtpersönlichkeit, so entsteht das, was Schelling »Partikularkrankheit«133 nennt. 3.2 Tragische Selbstverkennung und enthusiastische Selbstzerstörung Die Metapher der ›Krankheit‹ für das Böse rechtfertigt Schelling damit, dass die physische Krankheit »das wahre Gegenbild des Bösen«134 sei. Analog zur physischen Krankheit, die eine falsche Ordnung der Lebenskräfte darstellt, verkehrt das Böse die ethischen Grundkräfte der Person. Die ethische Grundordnung besteht in der Unterordnung des Egoismus unter das Universale der Vernunft oder – in der Sprache der Grund-Existenz-Ontologie – darin, dass der Partikularwille lediglich den Grund für die Existenz des Universalwillens darstellt. Das Böse macht nun von der in der menschlichen Freiheit liegenden Möglichkeit Gebrauch, diese ethische Grundordnung zu verkehren. Aus der generellen Erhebung des Partikularen in die Position des Universalen folgt die Partikularkrankheit, die dadurch entsteht, »daß das, was seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im Ganzen bleibe, für sich zu sein strebt«135. In der Partikularkrankheit bricht sich ein radikaler Egoismus menschlicher Subjektivität Bahn, der alle Bindungen und Verpflichtungen an die natürliche und kulturelle Mitwelt negiert, um nur noch

133 134 135

Schelling: SW 7,366. Ebd. Ebd.

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für sich selbst da zu sein und sich zur Totalität der Wirklichkeit zu erheben. Dabei liegt das Böse nicht in einzelnen Taten oder ihren destruktiven Folgen, sondern in einem die gesamte Persönlichkeit ergreifenden verkehrten »Grundwollen«136. Dieses im Grundwillen der Persönlichkeit wirkende radikal Böse zieht nun eine Verkehrung des personalen GrundExistenz-Gefüges nach sich, durch die sich das individuelle Subjekt zwar von allen physischen wie metaphysischen Ordnungen isoliert, aber andererseits auch neue – wenngleich böse – Möglichkeiten seiner Selbstverwirklichung hinzugewinnt. Die Loslösung von aller äußeren Ordnung durch Freisetzung des »finstern oder selbstischen Princip(s)«137 und die Entfesselung von scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der eigenen Freiheit kann durchaus zu einer euphorischen Aufbruchsstimmung führen. Ausdrücklich betont Schelling die Möglichkeit einer positiven Stimmung des Bösen: »wie es einen Enthusiasmus zum Guten gibt, ebenso gibt es eine Begeisterung des Bösen.«138 Allerdings wird diese enthusiastische Hochstimmung von Anfang an von einer untergründigen melancholischen Grundstimmung und einer unterschwelligen »Angst des Lebens«139 durchzogen. Die sich selbst in den künstlichen Ordnungen der ›positiven Verkehrtheit‹ absolut setzende menschliche Freiheit führt nach Schelling somit »ein Leben der Lüge«140. Im Sinne eines permanenten Selbstbetrugs versucht das in seinen Omnipotenzwahn verstrickte maligne Subjekt vor allem jene äußeren und inneren Naturbedingungen vor sich zu verbergen, die ihn als Basis und Grund die Existenz seines eigenen verkehrten Geistes unweigerlich selbst bedingen. Dennoch bleibt ein vom Enthusiasmus des Bösen nur überlagertes latentes Wissen um die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit, das sich affektiv in der melancholischen ›Angst des Lebens‹ einen dauernden Schatten auf das emphatische Lebensgefühl des malignen Subjektes wirft. In dieser permanenten Duplizität von vordergründigem Enthysiasmus und untergründiger Melancholie tritt die affektive Zweideutigkeit der tragischen Ironie maligner Subjektivität hervor. Der emphatisch inszenierte Selbstbetrug der zum Bösen verkehrten Subjektivität vermag, bei aller vordergründiger Simulation eigener Omnipotenz, doch das unterschwellige Bewusstsein der dissimulierten eigenen Endlichkeit nie ganz zu verdrängen. 136 137 138 139 140

Schelling: SW 7,385. Schelling: SW 7,372. Ebd. Schelling: SW 7,381. Schelling: SW 7,366.

121

In der untergründigen Melancholie bekundet sich eine Endlichkeit, die der Mensch mit allem Kreatürlichen teilt und eine absolute Grenze seiner scheinbaren Omnipotenz anzeigt: Diese spezifische Endlichkeit menschlicher Personalität besteht in einer unaufhebbaren Differenz zwischen der rationalen Existenz und der sie bedingenden natürlichen Basis, über die sie als ihren dunklen Grund – im Unterschied zum Absoluten – nie ganz verfügen kann. »Auch in Gott wäre ein Grund der Dunkelheit, wenn er die Bedingung nicht zu sich machte, sich mit ihr als eins und zur absoluten Persönlichkeit verbände. Der Mensch bekommt die Bedingung nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen darnach strebt … Daher der Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörlich Melancholie alles Lebens.«141 Die Melancholie bezeugt die Differenz zwischen der ichhaften Rationalität und einer im Grunde unverfügbaren natürlichen Vitalität, die als dunkler Grund das persönliche Leben des Menschen bedingt. Dementsprechend lautet Schellings anthropologische Grundthese: »… alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde.«142 Dieser für die menschliche Persönlichkeit konstitutive dunkle Grund kann – je nach Gebrauch der Freiheit – einen produktiven oder einen destruktiven Charakter annehmen: In produktiver Hinsicht bildet er die vitale Basis von vitalen Antrieben und Leidenschaften, auf die auch rationale Lebensformen nicht verzichten können. »Denn so hoch wir auch die Vernunft stellen, glauben wir doch z. B. nicht, daß jemand aus reiner Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein großer Mensch sey.«143 Bei der durch den Missbrauch der Freiheit verursachten positiven Verkehrung tritt dagegen das negative Potential des dunklen Grundes hervor. Die vorher durch den Universalwillen harmonisch verbundenen Vitaltriebe beginnen sich unter dem Einfluss des zur Herrschaft gelangten egoistischen Partikularwillens als »Heer der Begierden und Lüste«144 zu verselbstständigen und zerrütten schließlich die gesamte Persönlichkeit. Der »sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch«145 des Bösen und seines ›falschen Lebens‹ besteht einem hybriden Sich-absolut-setzen des Partikularen, das schließlich »aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt«146. Die Ordnungen positiver Verkehrtheit erwei141 142 143 144 145 146

Schelling: SW 7,399. Schelling: SW 7,413. Ebd. Schelling: SW 7,365. Schelling: SW 7,390. Schelling: SW 7,391f.

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sen sich letztlich als instabil, weil der in ihnen zur Herrschaft gelangte Partialwille, bei seiner instrumentalisierenden Durchdringung des Ganzen, überall eine partikularisierende und fragmentarisierende Wirkung hinterlässt, die ihn und seine Mitwelt auf Dauer zerrüttet und »das Band der Creatürlichkeit«147, das ihn selbst trägt, zerstört. Angesichts der letztlich selbstdestruktiven Auswirkungen des zur Herrschaft gelangten subjektiven Egoismus, der nicht nur die Persönlichkeit moralisch zerstört, sondern ihre gesamte innere und äußere Natur in Mitleidenschaft zieht, bricht der anfängliche Enthusiasmus des Bösen zusammen und endet in einem tragischen Untergang »mit Schrecken und Horror«148. 3.3 Die glückliche Rückkehr zur universellen Vernunft Die philosophische Anthropologie der Stuttgarter Privatvorlesungen spielt in der philosophischen Regie des Schellingschen Dramas der menschlichen Freiheit die Möglichkeit ihrer Restitution und Wiederherstellung durch. Sie bildet in Schellings philosophischer Tragikkömodie der menschlichen Freiheit den zweiten Akt, der durch eine erneute Inversion ihre selbstdestruktive Perversion und tragische Selbstverfehlung im Bösen wieder aufhebt und hinter ihr gesamtes Drama schließlich doch im Guten enden lässt. Dabei rückt in der philosophischen Dramaturgie Schellings die Figur der Ironie in den Hintergrund, um der synekdochischen Tendenz einer heilsamen Reintegration des Menschen im Ganzen des Universums freien Lauf zu lassen. Die im Bösen peripher gewordene menschliche Freiheit gewinnt so die ihre vernunftgemäße zentrale Stellung im Universum zurück. Diese reintegrative Rezentrierung geschieht in den Stuttgarter Privatvorlesungen allerdings in einem Zuge mit der Abschaffung der klassischen metaphysischen Hierarchie, die dem intelligiblen Kosmos eine Vorrangstellung gegenüber der sichtbaren Naturwelt zugesteht. Mit der Emanzipation der Natur als einer gleichgewichtigen Parallelwelt zur Geisterwelt rückt Schelling den Menschen als den Verbindungspunkt beider Welten in ihre Mitte. »Der Mensch ist das in der Natur erwartete Band zwischen dem Göttlichen und Natürlichen, der Indifferenz Punkt, zwischen Geist und Natur.«149 Diese Zentralstellung des Menschen zwischen dem physischen und dem geistigen Kosmos prädestiniert ihn gleichzeitig zum Mittler. 147 148 149

Schelling: SW 7,391. Schelling: SW 7,390. Schelling: V 165.

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Seine erste und eigentliche Bestimmung ist es, »leitendes Medium zwischen der geistigen Welt und der Natur, in so fern also Veredler der Natur zu werden«150. Als »die leitende Verbindung«151 soll der Mensch gewissermaßen jener ›Übergang‹ von der Natur in die Geisterwelt sein, der »die Communikation zwischen der geistigen und der physischen Welt«152 ermöglicht. Die damit verbundene kommunikative Bedeutungssteigerung des Menschen lädt ihm allerdings auch das ungeheure Gewicht universeller Verantwortung auf: Das Schicksal der kommunikativen Wiedervereinigung beider Welten zum geeinten Universum und damit die Wiederbringung allen Seins, die »Apocatastasis Panton«153 hängt nun ganz davon ab, ob der Mensch seiner medialen Bestimmung, der Mittler zwischen Natur- und Geisterwelt zu sein, gerecht wird.154 Dem Menschen diese zentrale Stellung und entscheidende Bedeutung inmitten des geschichtlichen Universums bewusst zu machen und ihn von der medialen Bestimmung seiner Freiheit zu überzeugen, bildet das durchaus ernst gemeinte persuasive Haupt-Ziel der Privatvorlesungen. Es ist die Angst vor der leeren Begrifflichkeit, die Schelling in den Privatvorlesungen die Suche nach einem neuen »Weltsystem«155 beginnen lässt. Dabei soll das zu findende ›Weltsystem‹ auch formal dem schon in der Freiheitsschrift geforderten Ideal eines ›System der Freiheit‹ entsprechen. Programmatisch richtet es sich gegen die repressiven Einseitigkeiten und totalitären Geltungsansprüche der bisherigen »höchst illiberal(en)«156 Schulsysteme. Auch im formalen Sinne soll es ein ›System der Freiheit‹ werden und »darf es nichts ausschließen (z. B. die Natur), nichts einseitig unterordnen oder gar unterdrücken«157. Das bisherige Schicksal der Menschheit erscheint aus der ernsten Sicht der Stuttgarter Privatvorlesungen allerdings als Geschichte gefallener Freiheit und korrumpierter Natur. Die historische Anthropologie Schellings enthält eine der düstersten Geschichtsdeutungen der gesamten philosophi150 151 152 153 154

155 156 157

Schelling, V 177. Ebd. Ebd. Schelling: V 208. Zum restitutiven Denken Schellings im Gesamtzusammenhang der abendländischen Spiritualität (Philosophia perennis), insbesondere der Gedankenfigur einer allgemeinen Wiederherstellung (Apokatastasis) s. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, S. 538–584 und S. 702–733. Schelling: SW 7,421. Ebd. Ebd.

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schen Literatur. Die aus ihrem Mittelpunkt gefallene Menschheit gerät demnach in die Abhängigkeit der durch den Missbrauch der Freiheit verdorbenen Natur. Inmitten der selbsterregten allgemeinen »Gegenwart des Bösen«158, gedemütigt durch Krankheit und Tod fristet der Mensch sein Dasein in physischer Abhängigkeit und Erniedrigung. Die Armut tritt als das »Böse in großen Massen«159 auf. Gegen sie müssen die arbeitenden Menschen einen ständigen »kleinen Krieg«160 mit der Natur führen. Selbst der Staat ist für Schelling, »um es gerade heraus zu sagen, eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs«161. Die von Plato und Fichte vertretene Vorstellung eines Vernunftstaates sei ein »Widerspruch in sich selbst«162, weil die verlorene geistige Einheit der Menschen durch physische Mittel nicht zu erzwingen ist. Der Staat und die Staatenwelt seien deshalb prinzipiell instabil, »precär und temporär«163 und der Krieg ist daher ihr notwendiges und »höchste[s] Phänomen«164. Die »Wiedererhebung«165 und Befreiung der Menschheit aus dieser Epoche ihrer Erniedrigung verlangt deshalb nicht nach einer politischen Veränderung der äußeren Welt, sondern nach einer ›Revolution der Denkart‹, die den Menschen die verlorene geistige Einheit wiederbringt. Dieses Projekt der Potenzierung des Selbstverständnisses, das die in der Moderne verloren gegangene geistige Welt den Menschen wieder erschließen will, verfolgt die integrative Anthropologie der Privatvorlesungen. Ihre systematische Tropologie ist deshalb nicht nur als eine Freiheitslehre, sondern auch als eine Theorie der Befreiung zu lesen. Zunächst einmal versteht Schelling unter »Anthropologie«166 die Lehre vom Menschen als »geschaffener, endlicher Geist«167. Dabei nehmen die Privatvorlesungen das zentrale Thema der menschlichen Freiheit aus der Freiheitsschrift auf und führen es in anthropologischer Konkretisierung weiter. So weichen in der Bestimmung der »ganz eigenthümliche(n) Freiheit«168 des menschlichen Geistes die frühidealistisch prometheischen Autonomie- und Selbstbestimmungsmotive weitgehend dem neuen meta158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168

Schelling: V 169. Schelling: SW 7,462. Schelling: V 172. Schelling: SW 7,461. Ebd. Ebd. Schelling: SW 7,462. Schelling: SW 7,463. Schelling: SW 7,457. Ebd. Ebd.

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physischen Kontext. Die Einzigartigkeit der menschlichen Freiheit bestimmt sich jetzt primär aus ihrem besonderen Ort innerhalb der metaphysischen Topographie: »Dadurch also, daß der Mensch zwischen dem Nichtseyenden der Natur und dem absolut-Seyenden = Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei.«169 Es ist ausschließlich diese besondere Mittelstellung des Menschen zwischen der Natur und dem Absoluten, die ihn von einer ständig drohenden doppelten Abhängigkeit zu befreien vermag: »… er ist frei von Gott dadurch, daß er eine unabhängige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daß das Göttliche in ihm geweckt ist, das mitten in der Natur über der Natur.«170 Die Tropologie der Anthropologie, auf deren Boden sich die Freiheitslehre der Privatvorlesungen entwickelt, beschreibt nun die geistige Gesamtnatur des Menschen – gemäß der allgemeinen Potenzenlehre Schellings – durch eine Dreifachheit von Potenzen. »Diese drei Seiten oder Potenzen des Geistes im Allgemeinen sind in der deutschen Sprache vortrefflich durch Gemüth, durch Geist und durch Seele bezeichnet.«171 Die spezielle Freiheitslehre der Privatvorlesungen gründet nun auf dem Boden der skizzierten Topographie integrativer Anthropologie, die die geistige Gesamtnatur des Menschen durch die Dreifachheit von Gemüt, Geist im engeren Sinne und Seele erklärt. »Die eigentliche menschliche Freiheit besteht nun eben darauf, daß der Geist einerseits der Seele unterworfen ist, andererseits über dem Gemüth steht.«172 Mit dieser Erklärung zur eigentlichen menschlichen Freiheit verfolgt die integrative Anthropologie Schellings einen eigenen, von der Diskussion um die transzendentale, moralische oder praktische Dimension der Freiheit weitgehend übersehenen restitutiven Freiheitsbegriff. Eigentliche Freiheit besteht anthropologisch konkretisiert hier in der Wiedererstehung der geistigen Gesamtnatur des Menschen in ihrer ursprünglichen Ordnung. Die »moralische Verfassung der Seele oder Tugend im höchsten Sinn, nämlich als virtus«173 gründet demnach in der Wiederherstellung der harmonischen Ordnung der Potenzen, an deren Spitze die Seele stehen soll. Der praktische Grundsatz der Privatvorlesungen lautet daher kurz und bündig: »Lasse die Seele in dir handeln.«174 Mit dem anthropologischen Prinzip der Seele gewinnt der – schon in der Freiheitsschrift verfolgte – 169 170 171 172 173 174

Schelling: SW 7,458. Ebd. Schelling: SW 7,465. Schelling: SW 7,470f. Schelling: SW 7,472f. Schelling: SW 7,473.

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reale Begriff der Freiheit, der sich gegen den ethischen Formalismus Kants wendet, eine weitere, anthropologische Konkretisierung. »Kant hat von jenem Prinzip bloß den formellen Ausdruck. ›Handle der Seele gemäß‹ heißt so viel als: handle nicht als persönliches Wesen, sondern ganz unpersönlich, störe ihre Einflüsse in dir selbst nicht durch deine Persönlichkeit. Das Höchste in allen Werken auch der Kunst und Wissenschaft entsteht eben dadurch, daß das Unpersönliche in ihnen wirkt.«175 Auch bei der Erklärung des Bösen entwickelt die intuitionistische Seelenlehre der Privatvorlesungen die aus der Freiheitsschrift bekannte Inversionsfigur der Positiven Verkehrtheit weiter: »Je nachdem der Geist, d. h. der Wille …, den Eingebungen von oben, d. h. den Eingebungen der Seele, oder den Eingebungen von unten, d. h. den Eingebungen des Eigenwillens, folgt, je nachdem er entweder das Niedere oder das Höhere zu seinem Princip macht, je nachdem handelt er auch gut oder böse.«176 Aufs Ganze gesehen bietet die integrative Anthropologie Schellings – wie schon an ihrer Differenz zwischen der geistigen Gesamtnatur und dem Geist im engeren Sinne ersichtlich wird – die begriffliche Architektonik eine um das Affektiv-Unbewusste des Gemütes und das Intuitive der Seele erweiterten Subjektbegriffes. Die Privatvorlesungen verlassen somit die Verkürzungen bloßer Bewusstseinstheorie und dringen zu einer anthropologischen Theorie des menschlichen Geistes vor, durch die der Mensch wieder in seine universelle Mittlerstellung zwischen Natur- und Geisterwelt eingesetzt werden soll. Anthropologisch konkretisierte Freiheit heißt somit Verbinden- und Vermittelnkönnen. Es geht letztlich darum, »durch Freiheit entwickelt das Band beider Welten in sich wiederherzustellen«177. Dabei gehört es wieder zur reflexiven Qualität der Privatvorlesungen, dass sie dasjenige Vernunftverständnis, das ihren Weg in die Metaphysik ermöglicht, ausdrücklich darlegen. Die Frage nach dem Vernunftbegriff der Privatvorlesungen führt noch einmal in die integrative Anthropologie Schellings zurück. Ihre paradoxale Lehre vom Vorrang der Seele vor dem Geist findet ihre nähere anthropologische Begründung auf dem Boden einer Phänomenologie des korruptiblen Geistes. »Es ist zwar die gewöhnliche Meinung, daß der Geist das Höchste im Menschen sey. Allein daß er es durchaus nicht seyn kann, folgt daraus, daß er der Krankheit, des Irrthums, der Sünde oder des Bösen fähig ist.«178 Die Beispiele der Geisteskrankheit, des Irrtums und des Bö175 176 177 178

Ebd. Schelling: SW 7,471. Schelling: SW 7,465. Schelling: SW 7,467.

127

sen bezeugen, so argumentiert Schelling, eine konstitutive Schwäche des individuellen Geistes. Seine Anfälligkeit und Korruptibilität weisen auf ein schwerwiegendes ontologisches Defizit hin. Als »relativ Nichtseiendes«179 vermag der Geist allein auf sich gestellt nicht die volle Integrität seines eigenen Seins zu erlangen und bedarf deshalb des Beistandes einer höheren Instanz, eben der Seele. An dieser Stelle wird noch einmal die für die gesamten Privatvorlesungen typische Gedankenführung deutlich: Die Einführung der Seele folgt nicht einem äußeren, sprunghaften Einfall, sondern entwickelt sich aus dem inneren Korruptibilitätsproblem des Geistes selbst heraus. A contrario argumentiert heißt das, wenn es »nicht wieder eine höhere Instanz über dem Geiste gäbe«180, wäre auch für die Philosophie selbst die fundamentale Differenz von Wahrheit und Irrtum obsolet, da gerade der individuelle Geist des Menschen sich als labil und veränderlich erweist. Er kann nämlich auf sich allein gestellt »nicht der höchste Richter seyn, weil seine Aussprüche sich nicht gleich bleiben«181. Diese Argumentation aus dem Corruptio mentis-Topos vertieft Schelling weiter durch eine Theorie des Irrtums, die er analog zur seiner Perversionstheorie des Bösen aus der Freiheitsschrift konstruiert. Wieder ist »das Böse … nicht bloße Privation des Guten, nicht bloße Verneinung der inneren Harmonie, sondern positive Disharmonie«182. Ebenso muss der Irrtum nicht nur negativ als Beraubung oder Mangel, sondern positiv als aktive Verkehrung der Wahrheit bestimmt werden. »Auch der Irrthum ist keine bloße Privation der Wahrheit. Er ist etwas höchst Positives. Er ist nicht Mangel an Geist, sondern verkehrter Geist.«183 Diese positive Definition des Irrtums als perversio veritatis tritt vor allem der gewöhnlichen Meinung von der Dummheit des Irrtums entgegen und will darauf aufmerksam machen, dass »der Irrthum höchst geistreich, und doch Irrthum seyn kann«184. Der geistreiche und intelligente Irrtum ist, weil er vor anderen und in seiner höchsten Form sogar vor sich selbst verborgen bleibt, potenzierter Irrtum. Wie schon bei der Theorie des Bösen, will auch Schellings Positivierung des Irrtums das Bewusstsein für die intelligenten, verdeckten und deshalb umso gefährlicheren Varianten der geistigen Korruption wecken. 179 180 181 182 183 184

Ebd. Schelling: SW 7,468. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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»Wer mit den Mysterien des Bösen nur einigermaßen bekannt ist (denn man muß es mit dem Herzen ignorieren, aber nicht mit dem Kopf), der weiß, daß die höchste Corruption gerade auch die geistigste ist, daß in ihr zuletzt alles Natürliche, und demnach sogar die Sinnlichkeit, ja die Wollust selbst verschwindet, daß diese in Grausamkeit übergeht, und daß der dämonisch-teuflische Böse dem Genuß weit entfremdeter ist als der Gute.«185 Mit diesem Problem der höchsten, weil geistigen Korruption sprechen die Privatvorlesungen den tiefsten Grund ihrer eigenen Rationalitätskritik an. Sie entspringt nicht, wie allgemein angenommen wird, einer vermeintlich typisch ›romantischen‹ Vorliebe für das so genannte ›Irrationale‹, sondern der modernen Problematik korrumpierter Rationalität. Die Einsicht in die Korruptibilität des Geistes lässt die Vermutung aufkommen, dass auch das eigene philosophische System nichts weiter als ein geistreicher Irrtum sei. Dieser beunruhigende Verdacht treibt jene Bemühungen selbstkritischer Rationalität hervor, die in der integrativen Anthropologie ihre eigenen Grenzen und Möglichkeiten nach zwei entgegengesetzten Seiten hin sondiert, einerseits in Richtung auf das Unbewusste des Gemütes und andererseits auf das Intuitive der Seele. Auf der Seite des Gemütes wagt sich die kritische Reflexion in den gewöhnlich als ›irrational‹ perhorrifizierten ›dunklen Grund‹ des menschlichen Bewusstseins hinein. Dabei stellt sich überraschenderweise das so genannte ›Irrationale‹ als genetisches Prinzip des rational kontrollierten Selbstbewusstseins heraus. »Bewußtseyn entsteht durch eine Scheidung von Principien, die zuvor implizite im Menschen waren, z. B. rationales und irrationales.«186 Die Ratio bedarf nämlich eines regellosen und chaotischen Materials, um ihre regelnde und ordnende Macht verwirklichen zu können. Paradoxal formuliert heißt das: »Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn«187; oder zum Oxymeron verkürzt: der Verstand ist »geregelter Wahnsinn«188. Diese kritische Reflexion der Ratio auf ihre eigenen, aber sie selbst transzendierenden Konstitutionsbedingungen bringt ihr einen doppelten Gewinn: einerseits erlöst sie sie von ihrer absolutistischen Selbsttäuschung und eröffnet ihr auf der anderen Seite ein neues Verständnis für ihre eigenen, schöpferischen Möglichkeiten: Das begriffene ›Irrationale‹ wandelt vom bedrohlichen ›dunklen Grund‹ zur Quelle genialer Invention: »Die 185 186 187 188

Ebd. Schelling: SW 7,425. Schelling: SW 7,470. Ebd.

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Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben, sind die Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand. Daher der umgekehrte Spruch: nullum magnum ingenium sine quadam dementia; daher der göttliche Wahnsinn, von dem Plato, von dem die Dichter sprechen.«189 Auch vonseiten der Seele führt daher die Selbsterkundung ihrer eigenen Grenzen am Ende nicht zur Selbstdestruktion, sondern zur Potenzierung von Rationalität. Der Verstand steigert sich durch die neu entdeckte Möglichkeit freiwilliger Seelenführung selbst zur Vernunft. »Vernunft sey nichts anderes als der Verstand in seiner Submission unter das Höhere, die Seele.«190 Damit tritt Schelling der Auffassung entgegen, dass die Vernunft ein qualitativ vom Verstand verschiedenes höheres Vermögen sei und betont: »Verstand und Vernunft sind dasselbe, nur auf verschiedene Weise angesehen.«191 Ratio und Intellekt stehen somit – in Schellings eigener Terminologie ausgedrückt – nicht in einer qualitativen, sondern nur ›quantitativen Differenz‹. Die Vernunft ist der durch Verbindung mit der Seele potenzierte Verstand. Der Übergang zur Vernunft lässt sich deshalb gerade nicht durch eine weitere Steigerung der einseitig diskursiven Verstandestätigkeit erreichen. Er verlangt im Gegenteil von der ganz auf Aktivität eingestellten modernen Subjektivität eine radikale Umstellung ihres Tätigkeitsmodus zur relativen Passivität. Völlig zu Recht wird deshalb – so Schelling – allgemein angenommen: »Bei dem Verstand ist offenbar etwas mehr Aktives, Thätiges, in der Vernunft mehr etwas Leidendes, sich Hingebendes.«192 Die Entwicklung der Vernunft setzt somit die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich dem Intuitiven der Seele zuzuwenden und sich von ihm leiten zu lassen. »Daher es eine ganz verschiedene Sache ist, ob man von jemand sagt, er sey ein verständiger oder ein vernünftiger Mensch. Sagt man von jemand, er habe viele Vernunft gezeigt, so ist darunter immer mehr gemeint, daß er Submission unter höhere Beweggründe als daß er Aktivität gezeigt habe.«193 Die Vernunftlehre der Privatvorlesungen, die auch für die Philosophie als Wissenschaft betont, dass in ihr »eigentlich die Seele thätig ist«194, vertritt somit einerseits einen dezidierten Intuitionismus. Die Vernunft sei »nur das Aufnehmende der Wahrheit, das Buch, worein die Eingebungen 189 190 191 192 193 194

Ebd. Schelling: SW 7,472. Schelling: SW 7,471. Schelling: SW 7,472. Ebd. Ebd.

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der Seele geschrieben werden«195. Von dieser intuitionistischen Seite passt dieser anthropologische Vernunftbegriff zu der von Schelling vielerorts vorgetragenen Lehre von der intellektuellen Anschauung, die der Philosophie das anschauliche Sinnfundament der antiken und mittelalterlichen Metaphysik zurückgeben will. Auf der anderen Seite bildet die Vernunft für Schelling nicht nur ein visionäres Vermögen, sondern auch ein kritisches Organ. Sie ist »zugleich auch ein Probierstein der Wahrheit. Was die Vernunft nicht annimmt, was sie zurückstößt, was sie nicht in sich verzeichnen lässt, das ist nicht von der Seele eingegeben, das kommt aus der Persönlichkeit.«196 Vermutlich auch durch seine jüngste Oetinger-Lektüre an die deutsche SwedenborgDebatte197 erinnert, ist sich hier Schelling auch der besonderen Gefahr jener geistigen Verirrung bewusst, die die rational unkontrollierte Vision und ›Geisterseherei‹ bereithält. Da diese nicht zwischen objektiver geistiger Entdeckung und subjektiver phantastischer Fiktion zu unterscheiden vermag, bringt sie es bloß zu jenen »schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft«198, die Kant in seinen Träume eines Geistersehers zu Recht kritisiert. Gerade die spekulative Rede darf nicht, falls sie sich nicht der ›Geisterseherei‹ verdächtig machen will, ungeprüft alles, was ihr intuitiv einfällt, ungeprüft sagen. Die engen Grenzen des vernünftig Sagbaren sind auch für die Metaphysik durch systematische Konstruierbarkeit ihrer Begriffe vorgezeichnet. Die Vernunft zeigt hier ihre andere, kritische Seite, die konsequent alle nicht systemgerecht, more geometrico, entworfene Begrifflichkeit verwirft. »Sie ist in dieser Beziehung für die Philosophie das, was der reine Raum für den Geometer. Was in der Geometrie falsch ist, einen unrichtigen Begriff, nimmt der Raum nicht an, stößt es zurück; z. B. ein Dreieck, in dem die größere Seite dem kleineren Winkel gegenüber läge.«199 Somit vereint die Vernunft der Privatvorlesungen das intuitive Moment intellektueller Anschauung mit dem konstruktiven systematischer Begrifflichkeit. Als potenzierter Verstand verliert sie in der Zuwendung zum Seelisch-Intuitiven nicht den Grundcharakter kritischer Rationalität. Ihr 195 196 197

198 199

Ebd. Ebd. Zur deutschen Swedenborg-Kontroverse, in der sich Kant durch seine polemische Kritik am vermeintlichen ›Erzphantasten‹ und Oetinger dagegen durch seine Parteinahme für Swedenborg profilierten s. Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs, Limburg an der Lahn 1947. Kant: AA 2,348. Schelling: SW 7,472.

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kritischer Intuitionismus ermöglicht einen neuen Stil spekulativer Rede, der die Gehalte intellektueller Anschauung in den Grenzen systematischer Konstruktion artikuliert. Jenseits der geistreichen Irrtümer systematischer Fiktion und der gefährlichen Irrwege naiver Vision versucht sie nun ihren eigenen Weg zur Metaphysik der Geisterwelt zu finden. 3.4 Das gefährliche Spiel der freien Selbsterfindung Insgesamt spielt Schellings philosophisches Drama die zwei entgegengesetzten Grundoptionen der Freiheit moderner Subjektivität als eines zweideutigen ›Vermögen des Guten und des Bösen‹ durch. Es führt seinem Publikum so das zweideutige und gefahrvolle Spiel der freien Selbsterfindung moderner Subjektivität vor Augen. Die dem modernen Projekt der freier Selbsterfindung immanente Duplizität, die in die tragische Richtung der Perversion und Selbstverfehlung oder auch in die Gegenrichtung ihrer heilsamen Reintegration ausschlagen kann, führt er im romantischen Helldunkel seiner philosophischen Literatur plastisch vor Augen. Dabei entdeckt die Freiheitsschrift zunächst die mit der Möglichkeit des Bösen verbundene korruptive Seite menschlicher Freiheit auf. Als ›Vermögen des Bösen‹ enthält die Freiheit ein versucherisches Potential subjektiver Selbstermächtigung. Gerade in reflexiv potenzierter Form kann dieses zur Quelle »falsche(r) Imagination«200 werden, die die virtuellen Wunsch- und Wahnwelten unbegrenzter Selbstverwirklichung hervorbringt. Die moderne Figur des Bösen bei Schelling bildet nicht mehr wie bei Augustinus eine objektive Gestalt eines metaphysischen Weltdramas. Bis in seine spätere Philosophie der Offenbarung erklärt Schelling das Böse als einen »vom Menschen hervorgegangenen Geist«201. Es ist die von allen physischen und metaphysischen Bindungen sich ablösende infinit gewordene Imagination moderner Subjektivität selbst, die reflexiv versenkt in ihre eigene, scheinbar unendlichen Möglichkeiten ihrer Selbsterfindung eine Affinität und Inklination zum Bösen aufweist. In seine autosuggestiven Bilder verliebt, droht gerade das hochreflektierte und exzellent befähigte Subjekt durch die fortwährende »Aufnahme des Nichtseyenden in seine Imagination«202 schließlich jeden objektiven Seinsbezug zu verlieren und im Modus tragischer Ironie sich seinen eigenen Untergang zu berei200 201 202

Schelling: SW 7,390. Schelling: SW 14,269. Ebd.

132

ten. Diese romantische Modernitätskritik Schellings warnt so davor, dass das neuzeitliche Projekt radikal reflexiver Selbsterfindung und Autopoiesis die Menschheit zu einer imaginativen Verblendung verleiten könnte, die in Seinsferne, Sinnlosigkeit und Selbstzerstörung zu enden droht. Auf der anderen Seite deuten die Stuttgarter Privatvorlesungen mit ihrem restitutiven Freiheitsbegriff auch die ernsthafte Möglichkeit der geglückten Rückkehr menschlicher Subjektivität zur Objektivität des Seins an. Dieser wird von Schelling nicht als Exodus aus der Moderne konzipiert, sondern als alternativer aber immanenter Weg moderner Subjektivität begriffen. Das Sein der Natur und der geistigen Welt soll demnach nicht unmittelbar durch die Selbstaufgabe, sondern vermittels jener Selbsterweiterung menschlicher Subjektivität geschehen, die in der integralen Anthropologie Schellings ihren theoretischen Ausdruck findet. Dieser Rückweg zur Objektivität des Seins führt über die reflexive (Neu-)Erschließung derjenigen unbewussten Regionen menschlicher Subjektivität, die der Geist des neuzeitlichen Rationalismus verdrängte: das Intuitive der ›Seele‹ und die Gefühlswelt des ›Gemüths‹. Das neue Ethos, das Schellings Privatvorlesungen für die durch Rationalitätskritik geläuterte und erweiterte modernen Subjektivität vorschlagen, besteht darin, dass der Mensch seinen ihm bestimmten ›Sitz‹ in der Mitte des lebendigen Universums wieder einnehmen soll. Der neuzeitliche Mensch soll zu einem ›Mittler‹ (homo mediator) wandeln, dessen ›eigentliche Freiheit‹ darin besteht, »die Communikation zwischen der geistigen und physischen Welt permanent zu machen«203.

4. Göttliche Ironie. Das Universum als Selbstinszenierung absoluter Freiheit »Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.«204 Diese Schlüsselsentenz enthält bereits in nuce die duplizitäre Gesamtanlage der gesamten Schellingschen Philosophie der Freiheit. Ausgehend vom Prinzip der Freiheit versucht schellings romantisches Philosophieren ein universelles philosophisches Gesamtdrama zu kreieren, in der die Geschichte der göttlichen Freiheit absoluter Subjektivität mit der Geschichte der endlich-menschlichen Freiheit in einer universellen Gesamtdeutung zusammengefasst wird. In Anknüpfung an den Theatrum-mundi-Topos führt der spätromantische 203 204

Schelling: V 177. Schelling: Urfassung, S. 79.

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Schelling seinen Hörern hier ein großes philosophisches Welttheater vor Augen. Unter seiner philosophischen Regie lässt er das gesamte geschichtliche Universum im Lichte der dramatischen Selbstinszenierung der göttlichen Freiheit erscheinen. Dieses universelle philosophische Drama, in der die göttliche Komödie der weltschöpferischen Autoinvenienz und Offenbarung des Absoluten im geschichtlichen Universum mit der Tragikkomödie der vom Bösen versuchten menschlichen Freiheit verbindet, soll am Ende Theo-, Kosmo- und Anthropogenese in einem großen Weltdrama vereinigen und seinem Publikum plastisch vor Augen stellen. Von daher lässt sich gerade Schellings romantisches Philosophieren aus der metaphysischen Infinitisierung der im Renaissance-Humanismus bereits vorgetragenen neuzeittypischen Idee radikal autoinvenienter Subjektivität verstehen. Wie bereits erwähnt, lässt schon G. Pico della Mirandolas in seiner Oratio Über die Würde des Menschen (De dignitate hominis) durch den Mund der literarischen Figur Gott-Vaters verkünden: Der Mensch sei sein eigener, frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer, der dazu geschaffen sei, sich selbst zu derjenigen Gestalt auszuformen, die er bevorzugt.205 Das paradoxale Bild des sich selbst erschaffenden Bildhauers veranschaulicht schlagartig das anspruchsvolle und zunächst anthropologisch fokussierte Autopoiesis-Projekt des Renaissance-Humanismus, in dessen Zentrum die Selbsterfindung des Menschen steht. Demnach entspringt die Würde des Menschen daraus, sich aus seiner Freiheit selbst erfinden zu können und zu sollen. Dieses humanistische Leitmotiv der Selbsterfindung des Menschen bleibt für die neuzeitliche Philosophie auch in der Folgezeit bestimmend und hat wesentlich zum europäischen Konzept des Menschen als freier Subjektivität beigetragen. So findet es sich als Autonomie- und Selbstbestimmungsmotiv auch im Zentrum der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings wieder und belegt so beispielhaft die These Ernesto Grassis, dass sich der Geist des italienischen Renaissance-Humanismus auch in der so genannten klassischen deutschen Philosophie weiterentwickelt hat.206 Dass selbst Kant dem Leitmotiv der Selbsterfindung des Menschen verpflichtet bleibt, beweist schon ein erster flüchtiger Blick in seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Seine populäre AnthropologieVorlesung behandelt bekanntlich nicht nur das rein theoretische Problem der Natur des Menschen. Ihr eigentliches, schon im Titel angezeigtes, 205 206

Vgl. Mirandola: De hominis dignitate, S. 7. Vgl. Ernesto Grassi: Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, Darmstadt 1986, S. 158ff.

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pragmatisches Interesse zielt vielmehr auf eine Beantwortung der Frage, was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll«207. Im Zentrum der Kantischen Anthropologie steht somit die Frage nach dem freien Sich-selbst-Machen-Können und -Sollen menschlicher Subjektivität. Das eigentliche pragmatische Anliegen der Kantischen Anthropologie bildet die philosophische Aufklärung über Möglichkeiten und Grenzen der Selbsterfindung im interaktiven ›Spiel‹ der gesellschaftlichen Welt. Allerdings verbleibt Kants pragmatische Darstellung des autopoietischen Potentials menschlicher Freiheit in den gesicherten Grenzen der Geschmackskultur seiner Zeit. Bezeichnenderweise bildet für Kant die geistreich scherzhafte Konversation einer Tischgesellschaft, die ›aus lauter Männer von Geschmack‹ besteht, für ihn die höchste Möglichkeit von Humanität, die die menschlichen Ansprüche von Tugend und Wohlleben harmonisch in sich vereinigt. Dagegen stellt sich für Schellings spätere Philosophie der Freiheit das Selbsterfindungsproblem menschlicher Subjektivität auf eine entgrenzende Weise noch einmal neu. Schon mit F. Schlegels infiniter Ironie hatte die Jenenser Frühromantik eine weitgehende Ablösung des Freiheitsgedankens aus der normativen Topik der bürgerlichen Welt literarisch inszeniert. Später war es – wie im vorherigen Kapitel gezeigt – Schelling, der in seiner Freiheitsschrift den freien Willen des Menschen zum anthropologischen Prinzip erhob und von seiner unmittelbaren Bindung an die moralische Vernunft löste. Angezeigt durch das oft zitierte Diktum ›Wollen ist Urseyn‹ vollzog Schelling nun eine Hinkehr zu einer Willensanthropologie, die die menschliche Freiheit als ›Vermögen des Guten und Bösen‹ nicht mehr per se als vernünftig und moralisch erscheinen ließ. Allerdings verschärfte diese radikale Infinitisierung menschlicher Freiheit, die ihre ›dunkle‹, dem Bösen und der ›falschen Imagination‹ zugeneigte Kehrseite in aller Deutlichkeit vor Augen führte, nun auch das bedrängende Problem ihrer Ambivalenz, Irrationalität und potentiellen, inneren Haltlosigkeit. Denn wie kann, ausgehend vom Gedanken einer entfesselten menschlichen Freiheit, die sich sowohl von den äußeren lebensweltlichen sittlichen Rahmenbedingungen als auch von der inneren moralischen Vernunftnormierung emanzipiert, der Prozess der Selbsterfindung des Menschen noch gelingen? Muss der Mensch nicht gerade am potentiell destruktiven, selbstgefährdenden Potential seiner eigenen, scheinbar abgründigen Freiheit scheitern? Schließlich hat nicht zuletzt diese bedrängende Ambivalenz-Problematik jenen spätromantischen Neu207

Kant: AA 7,119.

135

ansatz einer tieferen Durchdringung und Ergründung der Freiheitsidee hervorgetrieben, die zu jener metaphysischen Infinitisierung und Absolutierung der Autoinvenienzidee führt, die wir in Schellings Erlanger Vorlesungen mit dem Titel Initia philosophiae universae (1820/21) finden. 4.1 Göttliche Verstellungskunst. Die spekulative Ironia-divina-Theologie Im Zentrum der Erlanger Vorlesungen steht nun nicht mehr allein die menschliche Freiheit, sondern das in der göttlichen Freiheit absoluter Subjektivität aufbrechende Autoinvenienzproblem. In der folgenden Deutung soll die These belegt werden, dass gerade auch hinsichtlich der universellen Geschichte der göttlichen Freiheit die infinite Ironie jene Grundfigur darstellt, die innerhalb der philosophischen Dramaturgie Schellings eine hintergründige Schlüsselrolle spielt. Zunächst sei bemerkt, dass schon die frühromantische Naturphilosophie Schellings, welche die ›Natur als Subjekt‹208 konzipiert, diese zugleich auch als Produkt göttlicher Dissimulation versteht: »… das Absolute verhüllt sich hier in ein andres, als es selbst in seiner Absolutheit ist, in ein Endliches …«209 Die Natur wird hier als objektiver Ausdruck der schöpferischen dissimulativen Ironie des Absoluten begriffen. Das Tätigkeitsmuster der verstellenden Inversion, das der Figur der romantischen Ironie innewohnt, rückt damit schon in der frühen Naturphilosophie ins begriffskonstruktive Zentrum des Schellingschen Philosophierens. Die inversive Figur der romantischen Ironie bildet damit gleichsam den begrifflichen Schlüssel, durch den sich im Kontext der neuen dynamischen Naturphilosophie das alte metaphysische Grundproblem der Differenz von Unendlichem und Endlichen, Absoluten und Bedingten, göttlichem Einen und natürlichen All auf eine neue und für das romantische Denken charakteristische Weise löst. Damit gewinnt die Figur der infiniten Ironie schon in der frühen Naturphilosophie Schellings den metaphysischen Charakter einer ironia divina, die das Universum als infinit diversifizierten ironischen Ausdruck des Absoluten versteht. Dieses frühromantische und zunächst auf das Phänomen der Natur bezogene Ironie-Konzept wird von Schelling über die anthropologische Inversionsfigur der Perversio positiva der Freiheitsschrift bis in seine späte

208

209

Vgl. Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling. Hg v. Reinhard Heckmann / Hermann Krings / Rudolf W. Meyer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983. Schelling: SW 2,67.

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Philosophie der Mythologie und Offenbarung weiter ausgebaut.210 Hier ist es wiederum die »wohlgefällige Verstellungskunst«211 der ironia divina, aus der sich sowohl die Schöpfung als auch der gesamte mythologische Prozess der vorchristlichen Religion erklären lässt. Gerade in der verschlungenen Pluralität der mythologischen Gottesvorstellungen enthüllt sich der durch »göttliche Ironie äußerlich verstellte Gott«212. Am Ende glaubt Schelling sogar durch den ironischen Inversionsschematismus seiner Potenzenlehre, das kreative Geheimnis absoluter Subjektivität dechiffriert zu haben. »Und so ist denn nun durch dieses Wunder der Umstellung oder Umkehrung der Potenzen das Geheimnis des göttlichen Seyns und Lebens erklärt.«213 Damit hat sich für Schelling durch den ironischen Stil »der göttlichen Handlungsweise«214, die sich durch die Inversionsfiguren seiner Potenzenlehre systematisieren und wissenschaftlich darstellen lässt, das eigentliche kreative Geheimnis absoluter Subjektivität und seiner Weltschöpfung auf ›wunderbare‹ Weise enthüllt. Schellings Inszenierung der ironia divina als das eigentliche kreative Geheimnis des Absoluten und seiner vor dem gewöhnlichen Auge verborgenen infinit variablen Selbstdarstellung im geschichtlichen Universum stellt zweifellos ein Meisterstück der romantischen Kunst des Philosophierens dar. Sie realisiert auf eine bemerkenswerte Weise das von Novalis einst geforderte Programm der Romantisierung der Welt, durch welches das ›Gemeine tatsächlich einen hohen Sinn‹, das ›Gewöhnliche ein geheimnisvolles Ansehen‹, das ›Bekannte die Würde des Unbekannten‹ und das ›Endliche einen unendlichen Schein‹ gewinnt. Mit dem Inversionsschematismus der ironia divina deckt Schelling zudem jene bei Novalis ›noch ganz unbekannte‹ Operation der romantischen Potenzierung auf, die aus philosophischer Perspektive hinter dem gewöhnlichen Anschein aller Dinge das verstellte Absolute entdecken lässt. Schellings Kunst des romantischen Philosophierens veranstaltet somit ein geistreiches und intellektuell interessantes Spiel des Verstellens, Suchens und Findens, das auch in kommunikativer Hinsicht von jener doppelten Inversion lebt, die schon den rhetorischen Tropus der Ironie charakterisiert. Diese zweifache Inversion bildet zunächst die generelle Gelingensbedingung jedes ironischen Redeaktes. Dabei besteht die erste 210 211 212 213 214

Vgl. Petr Rezvykh: »Die ›Göttliche Ironie‹ bei Schelling«. In: Vorträge zur Philosophie Schellings. Hg. v. Elke Hahn, Berlin 2008, S. 177–190. Schelling: Urfassung, S. 135. Schelling: SW 12,90. Schelling: SW 12,91. Ebd.

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oratorbezogene Inversion des ironischen Redeaktes darin, dass der Autor ironischer Rede das Gegenteil von dem äußert, was er eigentlich meint. Ferner besteht die zweite, auditorbezogene Inversion darin, dass der Adressat zudem versteht, dass die Äußerung des Autors nicht ernst gemeint ist, sondern dass er eigentlich das Gegenteil von dem meint, was er sagt. Der ironische Redeakt besteht somit in einer wechselseitigen und doppelt inversiven Orator-Auditor-Interaktion, die an den Intellekt und die redereflexive Sprachkompetenz aller beteiligten Parteien hohe Ansprüche stellt. So muss der Orator die Kompetenz der rhetorischen Verstellung besitzen und es auf kunstvolle Weise verstehen, seine eigentliche Meinung zu dissimulieren und das Gegenteil zu simulieren. Dabei hat er gleichzeitig für ausreichende Ironieanzeichen zu sorgen, ohne welche die Adressaten seine uneigentliche Äußerung für ernstgemeint und echt halten würden und seine ironische Intention sich zur Lüge verfremden würde. Auch die Auditoren müssen ein intelligentes und reflektiertes Verhältnis zur Rede besitzen, um aufgrund der gegebenen Ironieanzeichen von der Uneigentlichkeit des direkt Geäußerten auf das eigentlich Gemeinte und damit auf den dahinter stehenden, gegenteiligen Sinn schließen zu können. Der spätromantische Schelling hat insbesondere in seiner Philosophie der Offenbarung seine eigene philosophische Ironia-divina-Theologie vorgetragen, welche die von F. Schlegel vorgezeichnete frühromantische Infinitisierung und philosophische Potenzierung des rhetorischen Tropus’ nun ganz ins Metaphysische steigert. Das anspruchsvolle rhetorische Modell der höchst redereflexiven, inversiven und interaktiven ironischen Kommunikation bildet das grundlegende Paradigma des spätromantischen Philosophiestils Schellings. Dabei führt die Figur der Ironie mit dem ihr eigenen Schematismus doppelter Inversion nicht nur die semantische Regie in der philosophischen Begriffskunst der Schellingschen Potenzenlehre, sondern bestimmt auch die kommunikative Pragmatik philosophischer Lehre. In dieser pragmatisch-kommunikativen Hinsicht weiht der spekulative Philosoph gleichsam als Mediator seine Hörer und Leser in die Geheimnisse der göttlichen Ironie ein und macht sie zu interaktiven Teilnehmern des universellen Spiels göttlicher Verstellungskunst. Denn die Tatsache, dass das kommunikative Gelingen der ironia divina, die sich auf ironisch verstellte und indirekte Weise im Universum durchgängig artikuliert, gleichermaßen vom intelligenten Verstehen der philosophischen Adressaten abhängt, erhebt diese nunmehr zu interaktiven Partnern des Absoluten. Die Rezipienten werden also von Schelling als intelligente Mitspieler in die schöpferische Inszenierung der göttlichen Ironie im geschichtlichen Universum einbezogen. Allerdings verlangt diese aktive Teilnahme an 138

diesem spätromantischen Spiel spekulativer Philosophie, wie gesagt, die hermeneutische Kompetenz einer kongenialen Dechiffrierung des latenten ironischen Doppelsinnes, der ›in allen Dingen wohnt‹. Damit zielt die Heuristik des romantischen Denkstils gerade nicht auf die identitätslogische Gewinnung von Eindeutigkeit, sondern im Gegenteil auf die methodische Entdeckung von ironischer Zweideutigkeit. Die Grundintention der romantischen Inventio verfolgt somit nicht das rationalistische Ziel einer komplexitätsreduzierenden Verminderung (diminutio) von Vieldeutigkeit. Im Gegenteil, ihre ironieaffine Inventio legt es geradezu auf die komplexitätspotenzierende Vermehrung (amplificatio) der Sinnebenen an. Sie sucht gezielt, wie Schelling sich ausdrückt, gerade jene »verstellte Sichselbstentgegensetzung, jenes in dem selben Sein ein anderes Sein, jene allotautosis«215, in allen Dingen aufzufinden. Mit diesem Neologismus ›Allotautosis‹, der mit ›Selbst-Andersheit‹ übersetzt werden könnte, bezeichnet Schelling hier den grundsätzlich ironischen Doppelsinn, der sich für den heuristischen Blick des rhetorisch figurierten romantischen Denkstils ursprünglich auch in der Gottheit selbst auffinden lässt. Die Duplizität und Paradoxie der Figur der infiniten Ironie geht beim späten Schelling damit explizit in die philosophische Beschreibung der Seinsweise absoluter, göttlicher Subjektivität ein und verleiht der spekulativen Theologie Schellings selbst jene unorthodoxe, deviative und alteritätsaffine Note, die sie in die Nähe der Rhetoriktradition rückt und aus dem identitätslogischen Hauptstrom der Metaphysikgeschichte hervorragen lässt. Gerade der für Schellings spekulative Ironiadivina-Theologie zentrale Gedanke der Allotautegorie verdeutlicht somit auch im Punkte des Absoluten wiederum die typische Heuristik des romantischen Philosophierens, dem es auch hier um die absichtliche Auffindung jener infiniten ironischen Doppelsinnigkeit geht, die dem Interesse nach spielerisch allegorischer Selbstpotenzierung romantischer Subjektivität entgegenkommt. Die im philosophischen genus grande abgefasste Schlüsselpassage der spekulativen Ironia-divina-Theologie Schellings, welche die Stärke der dem ›gemeinen Bewusstsein‹ geradezu absurd erscheinenden »göttlichen Torheit«216 exponiert, sei hier zitiert: »Nur der Starke kann und darf schwach sein, weil er der Starke ist. Es ist nicht jedem gegeben, die tiefe Ironie in allen göttlichen Handlungsweisen zu begreifen, und wer sie früher bei der Weltschöpfung nicht begriffen hat, wird sie auch später in der 215 216

Schelling: Urfassung,453. Schelling: Urfassung, S. 421.

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Erlösungslehre nicht mehr begreifen. Es ist nicht jeder gemeinen Denkart gemäß, zu begreifen, daß einer und derselbe uno eodem actu etwas setzt und negiert; dies scheint gegen alle Vernunft zu sein – dies ist ganz gegen den Satz vom Widerspruche, wie er gemeiniglich verstanden wird; und doch ist dies das Verhältnis Gottes in der Schöpfung, daß er was er setzt, uno eodemque actu wieder aufhebt und negiert. Freilich müssen wir sagen, Gott ist ein anderer, als der das blinde Sein Setzende, und ein anderer, als der es wieder Umwendende, Negierende; aber er ist nicht als der eine und der andere ein anderer Gott; sondern seine Gottheit, die absolute Freiheit Gottes (eben darin besteht die Gottheit) besteht in der Kraft des Widerspruches, in der Kraft dieser Absurdität, dieser scheinbaren Unmöglichkeit.«217 Schelling verbindet hier seine Ironia-divina-Theologie mit dem Begriff einer absoluten göttlichen Freiheit. Die ›tiefe Ironie in allen göttlichen Handlungsweisen‹ ist demnach der spezifische Modus, in dem sich ›die absolute Freiheit Gottes‹ im geschichtlichen Universum artikuliert. Schellings spätromantische Freiheitslehre verlässt damit die konventionelle Bahn der identitätslogischen Konzeptionen menschlicher Freiheit, um einen neuen, an der rhetorischen Tropologie orientierten Denkweg zu suchen, auf dem sich die neuzeitliche Freiheitsidee mit der romantischen Figur der infiniten Ironie trifft. Aus heutiger Perspektive könnte man hier von einer bereits in der romantischen Philosophie angelegten impliziten tropologischen Wende oder ›rhetorical turn‹ der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie sprechen. Um den auch philosophiegeschichtlich exzeptionellen Charakter dieses von Schelling hier vorgestellten spätromantischen Begriffs absoluter Freiheit genauer zu bestimmen, sei das bereits zitierte Motto seiner philosophischen Freiheitslehre noch einmal in seinem Kontext vorgestellt: »Der absolute Geist geht über alle Formen hinaus. Er ist der von seinem Geist sein freie Geist – das Geist sein ist ihm nur eine Form des Seins. Diese Freiheit von sich selbst gibt ihm erst die überschwängliche Freiheit, die – sozusagen – alle Gefäße unseres Denkens und Erkennens so auffüllt und ausdehnt, daß wir fühlen, daß wir am Höchsten stehen – daß wir fühlen, daß wir das erreicht haben, worüber nichts Höheres mehr ist. Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.«218 In intertextueller Anspielung auf den so genannten ontologischen Gottesbeweis aus dem Proslogion des Anselm von Canterbury gibt Schel217 218

Ebd. Schelling: Urfassung, S. 78f.

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ling hier eine neue, originelle Antwort auf die einst von Anselm aufgeworfene Frage nach dem ›worüber nicht höheres gedacht werden kann‹ (›quo nihil maius cogitari potest‹). Abweichend von der Linie der ontologisch ausgerichteten Substanzmetaphysik zielt Schellings subjekttheoretisch dynamisierte Antwort nun nicht mehr auf das ens perfectissimum als das denkbar Höchste, sondern auf die potentia perfectissima der absoluten göttlichen Freiheit. Mit dieser Gedankenfigur der absoluten Freiheit als ›der Gottheit Höchstes‹ macht Schelling an dieser Stelle die ultimative und höchste Denkmöglichkeit neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie namhaft. Die philosophiegeschichtliche Pointe des romantischen Schelling liegt nun darin, dass die in der geistigen Sehnsucht (desiderium intellectuale) den Menschen affektiv antizipierte ›überschwängliche‹ absolute Freiheit den autonomistischen Aufklärungsbegriff der Freiheit transzendiert. Das rationalistische Autonomiekonzept erweist sich für Schelling deshalb als defizitär, weil es zwar das Subjekt von allen äußeren Bedingungen befreit, aber nur, um es erneut der inneren Notwendigkeit eines vermeintlich allgemeinen Vernunftgesetzes zu unterwerfen, was der Gedankenfigur einer von jeder Form von Notwendigkeit ›abgelöster‹ und deshalb ›absoluter‹ Freiheit widerspricht. Zudem widerstrebt die ›grausame‹219 interne Prozedur der freiwilligen Selbstunterwerfung, die das identitätslogische Konzept autonomer Subjektivität dem Menschen abverlangt, dem menschlichen Freiheitsempfinden. Die intellektuell zu Ende gedachte und auch affektiv befriedigende Freiheit lässt sich dagegen – so argumentiert Schelling – nur in einer absoluten und auch jedweden inneren Selbst- und Identitätszwang hinter sich zurücklassenden göttlichen ›Freiheit von sich selbst‹ finden. Erst in der von allen äußeren und inneren Notwendigkeiten freien und deshalb infiniten libertas pura, die sich alternativ zu allen identitätslogischen Selbst-Konzepten neuzeitlicher Subjektivität als ironie- und alteritätsaffine ›Freiheit von sich selbst‹ bestimmt, erreicht das neuzeitliche Freiheitsdenken bei Schelling seine höchste Möglichkeit. Trotz aller scheinbaren Paradoxie ist diese unorthodoxe tropologische Konzeption absoluter Freiheit, die sich durch die Figur infiniter Ironie artikuliert, gedanklich völlig konsequent. Freiheit in höchster Potenz, als libertas pura, kann in letzter Konsequenz nur als von jedweder Form äußerer und innerer Notwendigkeit abgelöst gedacht werden. Sie weist alle Formen ihrer Beschränkung, selbst durch die innere Selbstverpflichtung auf eine vermeintliche Gesetzgebung einer allgemeinen Vernunft, von sich zu219

Vgl. Grausamkeit und Metaphysik. Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur. Hg. v. Mirjam Schaub, Bielefeld 2009, insbesondere S. 11–31.

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rück. Dabei besitzt Schellings unorthodoxe Lehre von der allotautegorischen göttlichen Freiheit durchaus auch ihren ›Sitz im Leben‹, nämlich in der plausiblen lebensweltlichen Intuition, dass sich wirkliche geistige Souveränität gerade in der Fähigkeit beweist, auch von sich selbst frei sein zu können. Der absolut freie Geist ist demnach der sogar ›von seinem Geist freie Geist‹, der im Sinne der ironischen Allotautegorität sich selbst keiner inneren Notwendigkeit mehr zu unterwerfen hat und deshalb die unbeschränkte Lizenz besitzt, spielerisch über alle Formen seiner selbst hinauszugehen und »durch diese Ironie das Widerspiel«220 seiner selbst sein zu können. Die mit ironischer Allotautegorität verbundene Figur purer, absoluter Freiheit kontert hier fraglos die dem identitätslogischen Aufklärungsmodell autonomer Subjektivität innewohnende Tendenz zur »rationale(n) Selbstbehauptung – von der Angst getrieben, sich in der Vermischung mit dem Anderen zu verlieren«221. Diese tritt beim spätromantischen Schelling aber gerade nicht als Anwältin des Glücksversprechens selbstvergessener Selbstauflösung auf, sondern argumentiert im Gegenteil im philosophischen Interesse eines konsequent zu Ende gedachten neuzeitlichen Projektes freier Selbsterfindung und plädiert für eine künstlerisch-kreative Selbstbestärkung moderner Subjektivität. Schellings spätromantischer Gedanke einer puren infiniten göttlichen Freiheit, die das schon von der Genieästhetik des Sturm und Drang kritisierte rationalistische Regel- und Gesetzesdenken relativiert, erschöpft sich keineswegs in bloßer Aufklärungskritik, sondern enthält den positiven Impuls zu einer umfassenden, metaphysisch legitimierten Freisetzung der künstlerisch-kreativen Potenzen menschlicher Subjektivität. Denn die ironieaffine kreative Omnipotenz der göttlichen Freiheit wirkt nach Schelling »nicht nur in Gott, sondern, auch im Menschen, insofern ihm ein Strahl göttlicher Schöpfungskraft verliehen ist«222. Indem dies generell für jedes »Kunst- und Geisteswerk«223 gilt, begreift sich schließlich auch die romantische Kunst des Philosophierens selbst als Filiation der infiniten Freiheit göttlicher Kreativität. Am Text der bisher eher unterschätzten Erlanger Vorlesungen lassen sich Schellings metaphilosophische Reflexionen, die den Zusammenhang

220 221 222 223

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung in die Philosophie. Hg. v. Walter E. Ehrhard, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 111. Hartmut Böhme / Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983, S. 20. Schelling, Urfassung, S. 421. Ebd.

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seiner eigenen Kunst des Philosophierens mit dem der ›ewigen Freiheit‹ absoluter Subjektivität herstellen, nachverfolgen. 4.2 ›Frei von allem System‹. Asystasie als Darstellungsform göttlicher Weisheit Mit den metaphilosophischen Erlanger Vorlesungen, in denen Schelling im Sinne einer Philosophie der Philosophie versucht, den Begriff der Philosophie als Wissenschaft – ausgehend vom universellen Primat der Freiheit – zu exponieren, hat sich die Schellingforschung lange Zeit schwer getan. Schon ihr Herausgeber Horst Fuhrmans beurteilte diese Einleitungsvorträge Von der Natur der Philosophie als Wissenschaft als »relatives Unikum«224 im Schaffen Schellings und auf Xavier Tilliette wirken sie noch in jüngster Zeit »wie ein Torso oder ein erratischer Block«225. Dagegen haben die Arbeiten von Lore Hühn226 und Jörg Jantzen227 in der letzten Zeit begonnen, diesen rätselhaften Text unter den Aspekten der Grenzwertigkeit des Wissens und der personalen Sucht-Problematik zu erschließen und ihren wichtigen Stellenwert für Schellings Gesamtwerk herauszustellen. Schon der Generaltitel der Vorlesungen Initia philosophiae universae erinnert, wie H. Fuhrmans bemerkt hat, an die »Initial-Weihen der Mysterienreligionen«228. Schellings Vorlesungen wollen nicht nur sachlich in die Anfangsgründe der Universalphilosophie einführen, sondern, darüber hinausgehend, ihre Hörer in ihr prinzipielles ›Geheimnis einweihen‹ und sie selbst so zu Philosophen werden lassen. Explizit macht Schelling am Ende der zweiten Vorlesung seine Hörer auf diese Besonderheit seiner Vorlesungsrhetorik aufmerksam: »Wir hören freien Vortrag, wir hören hier Philosophieren; und der Unterschied zwischen Philosophie und Philosophieren ist dem Unterschied zwischen Gold haben u. Gold machen gleich. Wer philosophiert, der hat auch Philosophie.«229 Die Selbsterfindung der Philosophie soll hier im Element des ›freien Vortrages‹ stattfinden. Die alchemistische Metapher des Gold-Machens betont dabei die 224 225 226 227

228 229

Schelling: I 177. Tilliette: Schelling, S. 309. Lore Hühn: Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze des menschlichen Wissens, Stuttgart/Weimar 1994, S. 195–226. Jörg Jantzen: »Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person«. In: ›Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde‹. Schellings Philosophie der Personalität. Hg. v. Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni, Berlin 2004, S. 215–225. Schelling, I XVIII. Schelling: I 7.

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Produktivität dieser öffentlichen, rhetorischen Selbsterzeugung der Philosophie im Element spekulativer Rede. Das ›Machen‹ ist dem ›Haben‹ hier so überlegen wie das produktive Prinzip dem Produkt. Mit diesem Hinweis über den Vorrang des ›Machens‹ vor dem ›Haben‹ spielt Schelling wiederum an die Konzeption seiner ›genetischen Lehrart‹ in seinen Jenaer Vorlesungen Über die Methode des akademischen Studiums an. Statt der bloßen historischen Mitteilung von fertigen Wissensbeständen will Schellings neue, genetische Lehrmethode den Entstehungsprozess des Wissens selbst vor Augen führen und so seine Hörer zu authentischen Zeugen und Mit-Erfindern der Philosophie machen. Die inhaltlich vorgetragene Philosophie der freien Subjektivität der Erlanger Vorlesungen bestimmt somit auch die rhetorische Psychagogie und Performanz ihrer Mitteilungsformen. Bekanntlich ist aller Anfang schwer. Dies gilt in äußerster Verschärfung für die Philosophie, die als erste Wissenschaft nichts voraussetzen darf und vor der Grundaufgabe steht, auch ihr eigenes Prinzip selbst erfinden zu müssen. Die Selbsterfindung der Philosophie hat somit mit der Invention ihres eigenen Prinzips zu beginnen. Aber wo kann und soll diese inventive Suchbewegung spekulativer Rede überhaupt ansetzen? Schellings metaphilosophische Überlegungen in seinen Erlanger Vorlesungen beginnen zunächst mit einer reflexiven Vergegenwärtigung des sie leitenden Vorverständnisses. Philosophie bestimmt sich demnach als das Bestreben, »ein System des menschlichen Wissens zu finden«230. Damit erweist sich Schellings philosophische Rede zunächst einmal im topischen Horizont des zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses verankert. Dementsprechend wird die Frage nach der legitimen Darstellungsform von Wissenschaft durch den dem zeitgenössischen Kontext vorherrschenden Topos des wissenschaftlichen Systems beantwortet. Philosophie als Wissenschaft ist demnach nur in der Darstellungsform des Systems möglich. Allerdings geben die Erlanger Vorlesungen diesem konventionellen System-Topos sogleich auch eine eigene, originelle Ausdeutung, die sich aus der Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen jeden Systems erschließt. Demnach geht jedes ›System‹, das wörtlich als ›Zusammenbestehen‹ übersetzt werden kann, aus dem Gegenteil seiner selbst, d. h. einem ›Unbestand‹, oder – wie Schelling sich ausdrückt – aus einer ›Asystasie‹ hervor. Dynamisch auf seine Entstehungsbedingungen hin angesehen, setzt nämlich jedes System voraus, »daß es ursprünglich und von sich

230

Schelling: I 8.

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selbst nicht im System – daß es also ein asystaton, ein nicht Zusammenbestehendes, sondern vielmehr sich Widerstreitendes ist«231. Bei dieser dynamischen Ausdeutung des zeitgenössischen SystemTopos’ greift Schelling auf eine Charakteristik des Werdens, die sich schon in der Physik des Aristoteles findet, zurück. Demgemäß vollzieht sich jedes Werden als ein Übergang von etwas in sein Gegenteil. Jede Ordnung geht somit aus Unordnung oder Chaos als ihren Entstehungsgrund hervor. Oder in der Grund-Existenz-Figur der Schellingschen Freiheitsschrift formuliert, existiert jedes widerspruchsfreie System nur auf dem Grunde überwundener Widersprüchlichkeit. Das Auftreten von Widersprüchlichkeiten bildet demnach die produktive Basis der Entstehung neuer philosophischer Systeme. Jede Ordnung muss aus dem Chaos geboren werden, jede Einheit aus der Differenz entstehen. So treibt der ›schroffste‹ cartesianische Dualismus nach Schelling die ganze Reihe von philosophischen Systemen von Spinoza über Leibniz, die französischen Materialisten bis zu Kant und Fichte hervor. Die enorme Fruchtbarkeit dieser anfänglichen cartesianischen Asystasie der neuzeitlichen Philosophie erzeugt allerdings sogleich auch wieder ein neues Problem, nämlich das der Pluralität der Systeme. Welche innovative Ordnungsform kann aus dieser neuzeitlichen Asystasie der vielen untereinander konkurrierenden Systeme hervorgehen? Oder: In welcher neuen, synthetischen Darstellungsform kann die Wahrheit angesichts der Vielzahl sich widersprechender Systeme überhaupt existieren? Angesichts des aufgeworfenen Problems der widersprüchlichen Pluralität der philosophischen Systeme nimmt Schellings Vorlesung nun eine unerwartete, personalistische Wendung.232 Die gesuchte metasystemische Synthesis, die die vielen philosophiegeschichtlich auftretenden und widerstreitenden Systeme übergreifen soll, ist demnach nicht mehr auf der propositionalen Ebene eines wissenschaftlichen Gefüges von Sätzen, sondern nur im Geist des philosophierenden Subjektes selbst zu finden. Schellings spekulative Rede geht damit einen anderen Weg als die Hegels. Sie sucht gerade nicht nach einem abschließbaren wissenschaftlichen System, das als absolute Darstellungsform beansprucht, die Pluralität der bisherigen Partialsysteme zu vereinigen und in sich aufzuheben. Im Gegenteil: Schelling bestreitet hier generell die propositionalistische Überzeugung, dass überhaupt irgendein System von Sätzen jemals der eigentliche Ort der Wahr231 232

Ebd. Zu Schellings anthropologischem bzw. ›pan-personalistischem‹ Denken s.: v. Zantwijk, Pan-Personalismus; Schellings philosophische Anthropologie. Hg. v. Jörg Jantzen / Peter L. Oesterreich, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.

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heit sein kann. Auch jedes mit Absolutheitsanspruch auftretende neue System wird sich zudem – so seine Prognose – philosophiegeschichtlich bald zu einem bloßen Partialsystem relativieren. Deshalb besteht philosophische Bildung für ihn zunächst darin, sich von der geistigen Gefangenschaft, die die persönliche Fixierung auf ein bestimmtes literarisch fixierbares ›Partialsystem‹ bedeutet, zu befreien. Dass ferner nur der lebendige Geist selbst der Ort der gesuchten systemübergreifenden Synthesis werden kann, versuchen die Erlanger Vorlesungen durch eine medizinische Analogie zu verdeutlichen. Auch das Ganze des menschlichen Leibes besteht, so führt Schelling aus, aus unterschiedlichen organischen Teilsystemen. Krankheit und Leiden entstehen dabei durch einseitiges Hervortreten eines dieser Partialsysteme. So tritt z. B. das gestörte Verdauungssystem durch heftige Bauchschmerzen einseitig hervor und vermag das menschliche Bewusstsein auf sich zu fixieren und geradezu zu ›versklaven‹. Das Gegenteil gilt von der Gesundheit. Sie befreit das Bewusstsein von jeder einseitigen Fixierung: »Der Gesunde aber fühlt keines dieser Systeme insbesondere, er weiß nicht, wie man zu sagen pflegt, daß er ein Verdauungs- etc. System hat; er ist frei von allem System.«233 Analoges gilt vom Verhältnis der einzelnen philosophischen Systeme zum geistigen Gesamtorganismus philosophierender Subjektivität. Auch hier gilt es, im Ganzen zu leben und sich von jeder einseitigen Fixierung frei zu machen, um seine geistige Gesundheit zu erhalten. »Ebenso in der Philosophie: wer bis zum Ende durchgedrungen ist, sieht sich wieder in völliger Freiheit; er ist frei vom System – über allem System.«234 Das Ziel philosophischer Bildung ist somit die Freiheit von jedem in sich geschlossenen System. Die Asystasie des philosophischen Systems – so argumentiert Schelling – kann nicht wieder durch ein weiteres Partialsystem, sondern nur durch ›jenes höhere Bewusstsein‹ überwunden werden, das am Ende ›über allem System‹ steht. Erst durch den schmerzhaften Prozess der ›Verzweiflung‹ am Systemdenken lässt sich diese persönliche Souveränität des freien Geistes gewinnen. Mit dieser personalen Wendung, die den Ort der gesuchten metasystemischen Synthesis in den lebendigen Geist philosophischer Subjektivität selbst verlegt, ist allerdings noch nicht seine Möglichkeit erklärt. Ein äußeres, subjektives Motiv für seine Entstehung ist sicherlich das menschliche Bestreben, die quälende Befangenheit des eigenen Bewusstseins in der 233 234

Schelling: I 12. Schelling: I 13.

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konfliktreichen Asystasie widerstreitender philosophischer Partialsysteme zu beenden. Was sind aber die inneren, objektiven Entstehensbedingungen des gesuchten Universalwissens? Wie lässt sich zudem – vorläufig einmal ganz abgesehen von der endlich-menschlichen Person des Philosophierenden – das es hervorbringende absolute Wissenssubjekt charakterisieren? Insofern es aus der Asystasie widerstreitender Partialsysteme hervorgehen soll, setzt die Genesis des gesuchten Universalwissens zunächst zwei grundlegende Entstehungsbedingungen voraus. Selbst wenn sich Widerstreitendes in ein und derselben Hinsicht ausschließt, lässt sich seine Vereinigung in unterschiedlichen Momenten einer Bewegung durchaus denken. Obwohl sich z. B. Jugend und Alter an sich widersprechen, kann ein und dieselbe Person im Laufe ihres Lebens jung und alt werden. Die erste Voraussetzung, unter der sich die gesuchte Synthesis der konkurrierenden Systeme denken lässt, ist somit »die allgemeine Idee der Fortschreitung, der Bewegung in dem System«235. Die zweite Voraussetzung ist, dass seinem Werden, das entgegengesetzte Momente durchlaufen soll, ein und dasselbe Subjekt zugrunde gelegt werden muss. Jedes Werden nämlich setzt als Wechsel zwischen zwei entgegengesetzten Momenten ein identisches Drittes voraus, das die Kontinuität des Übergangs vom einen zum anderen gewährleistet. So wird z. B. innerhalb einer Biographie vorausgesetzt, dass Jugend und Alter differente Lebensphasen ein und derselben Person sind. Auch dem Entwicklungsprozess des universellen Wissens, dessen Momente die entgegengesetzten Partialsysteme bilden, muss daher ein und dasselbe Subjekt zugrunde gelegt werden. Auch »zu dieser Bewegung bedarf es eines Subjekts der Bewegung und Fortschreitung«236. Speziell für das Subjekt des universellen Wissensprozesses lassen sich wiederum zwei Bedingungen formulieren. Es muss erstens das Subjekt aller möglichen Partialsysteme sein, oder anders formuliert: »… es ist nur Ein Subjekt, das durch alles geht.«237 Im entgegengesetzten Fall wäre die Asystasie der widerstreitenden Systeme nicht in den einen universalen Werdegang des universellen Wissens auflösbar. Die zweite Bedingung ist, dass das universelle Wissenssubjekt in keinem Moment dieser Entwicklungsgeschichte verharrt. Es ist dasjenige, das durch alles hindurchgeht und dadurch jeder Fixierung entgeht. Nur indem es in keiner einzelnen Wissensgestalt verbleibt, sondern aus jeder wieder hervorgeht, kann es das produktive Prinzip allen Wissens werden. Also »dieses Eine Subjekt muß 235 236 237

Schelling: I 15. Ebd. Ebd.

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durch alles gehen und in nichts bleiben«238. Eine dritte wichtige Präsupposition betrifft den objektiv produzierenden Charakter des von dem präsupponierten absoluten Wissenssubjekt erzeugten Universalwissens. Nach dem Verum-Faktum-Prinzip muss ihm – im Unterschied zum bloß subjektiven Wissen endlich-menschlicher Subjektivität – der privilegierte Charakter unmittelbar objektiver Hervorbringung eignen. Dieses zugleich das reale Universum produzierende Wissen absoluter Subjektivität nennt Schelling im Anschluss an die Sophia-Tradition der Philosophia perennis ›Weisheit‹: »Um daher jenes Wissen, das zugleich objektives Hervorbringen und Erzeugen ist, von dem bloßen Wissen zu unterscheiden, das nur eine ideale Wiederholung des ursprünglichen Wissens ist, mußte man in der Sprache einen eignen Ausdruck suchen, nämlich Weisheit.«239 Das absolute Wissenssubjekt bestimmt sich somit zugleich als Prinzip der Weltschöpfung, deren ursprüngliche Weisheit die endliche Subjektivität des Menschen lediglich im Element eines nicht mehr ursprünglich produktiven, sondern nur reproduktiven ›bloßen Wissen‹ zu imitieren versucht. »Nun aber findet sich die Weisheit nicht im Menschen. Das menschl. Wissen ist blos [noch] ideale Nachbildung jener Weisheit. Diese ist jene producirende Kraft, jener Baum des Lebens, von dem der Mensch nicht kosten durfte; genug, daß er von dem Baum der Erkenntnis gekostet hat. – Aber doch sucht der Mensch jene ewige Weisheit …«240 Damit fällt sicherlich schon an dieser Stelle ein melancholischer Schatten auf das philosophische Streben des Menschen, das lediglich eine Imitation der ursprünglichen Weisheit im depotenzierten Element des bloßen Wissens sein kann. 4.3 ›Durch alles durchgehen‹. Die infinite Alterität absoluter Selbsterfindung Die Erlanger Vorlesungen, die derart die Unfixierbarkeit absoluter Subjektivität betonen, retten sie nun zwar einerseits vor der Gefahr ihrer systematischen Vergegenständlichung und produktiven Selbstvernichtung. Auf der anderen Seite werfen sie aber gerade dadurch auch das Problem ihrer Unfasslichkeit auf. Dieses Definitionsproblem wird durch die folgende Umschreibung eher verschärft als gemildert: »Durch alles durchgehen und nichts seyn, nämlich nichts so seyn, daß es nicht auch anderes seyn 238 239 240

Ebd. Schelling: I 26. Schelling: I 27.

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könnte.«241 Gerade durch seine geradezu unendliche Wandlungsfähigkeit, die es ihm erlaubt, jede beliebige Systemgestalt anzunehmen, um sie danach wieder abzulegen, droht das absolute Subjekt selbst für sich und für uns zu einem unbestimmbaren Nichts zu werden. Es scheint sich grundsätzlich nicht ›definieren‹, d. h. – so Schelling – wörtlich, ›in eine Grenze einschließen‹ zu lassen. Die infinit allotautegorische Freiheit absoluter Subjektivität lässt sich in keine Systemgrenzen einschließen und bedingt somit die Asystasie der sie verfolgenden Philosophie. Das gesuchte absolute Subjekt erscheint somit zunächst als ein schlechthin Indefinibles. Der zum Prinzip aufsteigende Gedankengang der Initia droht damit an der begrifflichen Leere eines unbestimmten Nichts zu scheitern. Erst eine weitere Erläuterung Schellings gibt einen ersten Hinweis für einen Ausweg aus dieser Aporie: »Es ist nichts, das es wäre, und es ist nichts, daß es nicht wäre. Es ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen, das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche.«242 Damit stellt sich gerade seine Unfasslichkeit als negatives Proprium der unüberwindlichen Macht oder ›Incoerciblität‹ des gesuchten Prinzips heraus. Wieder führt hier die infinite Ironie als geheime Grundfigur des Schellingschen Philosophierens die Begriffsregie. Das Indefinible wird hier zum negativen Charakteristikum der an sich unfasslichen, infiniten Freiheit absoluter Subjektivität, die in allen Formen des philosophischen Wissens nur auf indirekte, ironisch verstellte Weise in Erscheinung tritt und die durch alle Anstrengungen spekulativer Begriffskunst doch niemals zu einer abschließenden systematischen Vollpräsenz gebracht werden kann. Damit schließt der spätromantische Schelling wiederum an jenes schon vom frühen F. Schlegel bereits exponiertes metaphilosophisches romantisches »Prinzip der relativen Undarstellbarkeit des Höchsten«243 an, das die spekulative Philosophie lediglich als Spurensuche und unendliche Annäherung an das Absolute verstehen lässt. Alle Versuche philosophischer Darstellungsversuche vermögen die allotautegorische Duplizität absolut freier Subjektivität nicht aufzuheben und die sich im geschichtlichen Universum spiegelnde infinite Potentialität seines Wesens nicht erschöpfend repräsentieren. Das Absolute in seiner universellen Autoinenienz bleibt für die spekulative Philosophie eine ›natura anceps‹, deren Doppelgesichtigkeit sich im unaufhörlichen Widerspiel von Selbst-Produktion und Selbst-Destruktion manifestiert. Die Erlanger 241 242 243

Schelling: I 16. Schelling: I 17. Friedrich Schlegel: Schriften zur kritischen Philosophie 1795–1805. Hg. v. Andreas Arndt / Jure Zovko, Hamburg 2007, S. 210.

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Vorlesungen verweisen damit hier paradigmatisch auf die fundamentale Paradoxie aller autoinventiver Subjektivität hin. Um seiner eigenen Unfasslichkeit zu entgehen, muss sich das direkt unfassliche Subjekt einerseits auf das indirekte Weise objektiv selbst darstellen. Auf der anderen Seite muss es jede Form objektiver Selbstdarstellung wieder zerstören, um der Gefahr seiner Vergegenständlichung zu entgehen und die Freiheit seines produktiven Wesens zu bewahren. So bezeugt sich z. B. das Talent und kreative Potential eines bildenden Künstlers erst in den vielfertigen Werken seines tatsächlichen Kunstschaffens. Ein Vorschein dieses unaufhebbaren ›Überschusses‹ absoluter Subjektivität über jede Form seiner objektiven Repräsentanz erscheint insbesondere bei jenen genialen Künstlern, deren Produktivität niemals zu enden und deren schöpferische Kraft sich in keinem ihrer vollendeten Kunstwerken zu erschöpfen scheint. Schelling verteidigt damit den geradezu faustischen Überschuss von schöpferischer Subjektivität gegen jede Form ihrer Objektivation. Seine Erlanger Vorlesungen verweisen damit auf das subversive Potential des prinzipiell unsaturierbar Subjektiven. In allen Formen seiner geschichtlichen Selbstdarstellungen versteht die souveräne Subjektivität des Absoluten, das kreative Potential ihrer infiniten schöpferischen Freiheit durch ihren ironischen Handlungsstil zu wahren. Die Geschichte wird somit zur fragmentarischen Spur einer ›ewigen Freiheit‹, die den drohenden tragischen Untergang in die selbstgeschaffenen Notwendigkeiten durch die originäre Weisheit ihrer allotautegorischen Freiheit stets zu entgehen versteht. Schellings spätromantische Philosophie der Freiheit steht hier wiederum F. Schlegels frühromantischer Figur der infiniten Ironie, jenem ›steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹, näher, als dem dialektischen Vermittlungsgedanken Hegels. 4.4 Spekulative Philosophie als ›offener Punkt‹ der ewigen Freiheit Allerdings lassen sich in Schellings Erlanger Vorlesungen auch Momente einer – scheinbar – »desaströse(n) Aneignungslogik«244 finden, die auf der Ebene des Absoluten die Möglichkeit des tragischen Untergangs seiner ›ewigen Freiheit‹ durchspielt und zugleich die wichtige Rolle philosophischer Subjektivität in diesem universellen Drama absoluter Selbsterfindung hervorhebt. Wie gesagt, deuten die Erlanger Vorlesungen das geschichtliche Universum als die fragmentarisch bleibende Spur, die das absolute Subjekt in immer erneuten Versuchen ihrer vergeblichen Selbsterfindung durch 244

Hühn, Fichte und Schelling, S. 199.

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Raum und Zeit zieht. Weltproduktion erscheint in der Perspektive der Erlanger Vorlesungen als Ausdruck einer zunächst vergeblichen Suche des absoluten Subjekts nach sich selbst. Somit wird die Weltschöpfung als Moment der Selbsterfindung absoluter Subjektivität gedeutet und das klassische Grundproblem der Schöpfungsmetaphysik ganz im dominierenden Kontext der subjekttheoretischen Autoinvenienzproblematik vorgetragen. Das tragische Selbstverfehlungsmotiv, das subjekttheoretisch dem bereits erwähnten generellen Autoinvenienz-Paradox entspringt, verleiht der in den Erlanger Vorlesungen vorgetragenen universalgeschichtlichen Selbsterfindungsproblematik der ›ewigen Freiheit‹ eine dramatische Steigerung, indem es die Möglichkeit eines Scheiterns des Absoluten vor Augen führt. Die von Schelling in diesem Zusammenhang inszenierte dramatische Krise lässt das geschichtliche Universum zum Ausdruck einer tragischen Inventorik werden, in dem sich das absolute Subjekt, gerade indem es sich durch konkrete Gestaltannahme objektiv zu erfassen sucht, als reine Subjektivität zugleich immer wieder selbst verfehlt. Die Suche nach sich selbst schlägt aus dem Verlangen und der Sehnsucht nach adäquater Selbstdarstellung schließlich in die qual- und leidvolle Erfahrung einer unstillbaren Sucht nach Sein um, die durch keinen welthaften Ausdruck gestillt werden kann. Schon auf der Ebene absoluter, weltschöpferischer Subjektivität beginnt somit – wie Jörg Jantzen sich ausdrückt – jene tragische Geschichte einer »süchtigen Rotatorik«245, eines qualvollen unaufhörlichen Kreises und vergeblichen Suchens absoluter Selbsterfindung. Schließlich scheint diese tragische Kehrseite des Autoinvenienzparadox’ sogar die innovative weltschöpferische Produktivität absoluter Subjektivität zu überwältigen. Einstimmend in die Klage des Prediger Salomon über die Eitelkeit der Welt, bemerkt Schelling die allgemeine Hemmung ihrer kreativen Potenz im sichtbaren geschichtlichen Universum: »Nun sehen wir aber, wie jene Magie zerstört [ist] und sich [immer] nur dieselbe Form wieder dafür hinsetzt. Und gerade das ist eine Hemmung, und gleichsam unwillig darüber zerstört sie immer sich selbst, in der Hoffnung, etwas Neues zu zeugen. Die Sterne u. Sonne gehen nur unter, um in derselben Gestalt wieder aufzugehen, u. um durch diese äußere Bewegung ihren inneren Tod zu verbergen.«246 An dieser Stelle legen die Erlanger Vorlesungen die negative spätromantische Grunderfahrung frei, die ihre spekulative Rede bewegt: der tragische Untergang subjektiver Kreativität 245 246

Jantzen, Sucht und Verlangen, S. 224. Schelling: I 28.

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in der objektiven Welt. »Woher dieser Stillstand, läßt sich nicht erklären, aber der Anblick der Welt überzeugt uns von demselben … Die Sonne geht auf, um unter-, sie geht unter, um wieder aufzugehen. Das Wasser läuft ins Meer, um wieder aus ihm zu kommen. Ein Geschlecht kommt, das andere geht, alles arbeitet, um sich aufzureiben und zu zerstören, und es kommt doch nichts Neues. Objektiv also ist die Fortschreitung gehemmt.«247 Mit dieser vor Augen geführten Möglichkeit des tragischen Untergangs der kreativen Potenz absoluter Subjektivität im objektiven Universum bricht freilich der Gedankengang der Erlanger Vorlesungen nicht resignativ ab. Schellings philosophische Dramatik endet eben nicht in der Tragödie eines katastrophalen Scheiterns der Freiheit, sondern löst auch diese Krisis des Absoluten im Sinne seiner philosophisch inszenierten göttlichen Komödie. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, dass, angesichts der Hemmung und Sistierung der absoluten Freiheit in der äußeren geschichtlichen Welt, nun das interne Forum des philosophischen Selbstbewusstseins zum eigentlichen Inszenierungsort ihrer Kreativität wird. Das absolute Subjektivitätsprinzip erweist sich durch diese im Zuge dieser philosophischen Internalisierung wiederum gleichsam als ein Phönix, der nach seinem Untergang im Objektiven der äußeren, geschichtlichen Welt, im Inneren des philosophischen Selbstbewusstseins wieder neu entsteht. Das philosophische Bewusstsein selbst ist nun nach Schelling der einzige noch »offene Punkt«248, in dem sich der Prozess der Selbsterfindung des Absoluten, nach seinem tragischen Scheitern im Objektiven, der geschichtlichen Welt fortzusetzen vermag. Zweifellos fängt hier der spätromantische Schelling auch das äußere politische Scheitern der frühromantischen Freiheitsidee in Zeiten der Restauration ein. Zugleich klären die Erlanger Vorlesungen die Studierenden über die Möglichkeit einer philosophisch verinnerlichten Fortsetzung des absoluten Selbsterfindungsprojektes auf, das sie selbst ganz in den Fokus der universellen Geschichte der Selbsterfindung absoluter Subjektivität versetzt. Die Selbsterfindungsproblematik des absoluten Wissenssubjektes geht an diesem Punkt somit in die der Bildung der angehenden Philosophierenden über. Die philosophische Vorlesung wird somit selbst zum zentralen Inszenierungsort der philosophischen Fortsetzungsgeschichte eines in der äußeren geschichtlichen Welt bereits gehemmten absoluten Freiheitsgeschehens, dessen kreative Energie sich nun ganz im Fokus der Philosophie 247 248

Ebd. Ebd.

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sammelt und konzentriert. Von daher gewinnt der auf den ersten Blick vielleicht melancholisch und resignativ wirkende spätromantische Rückzug des Freiheitsgeschehens aus der äußeren Welt in das interne Forum des Philosophierens einen positiven Sinn. Denn im Kairos der rhetorischen Performanz philosophischer Lehre manifestiert sich nun die gesamte kreative Energie des Absoluten auf eine äußerst konzentrierte und gedrängte Weise und verleiht dem vortragenden Philosophen sowie seinem Publikum das neue, gesteigerte Selbstbewusstsein, in eigener Person zu entscheidenden Mitspielern des universellen Weltdramas zu werden. Allerdings setzt diese symphilosophische Neuerfindung, die Schellings Vorlesungsrhetorik hier initiieren will, wie er selbst seinen Hörer erklärt, eine »Umwendung in uns«249 voraus, die zunächst den negativen Akt einer ekstatischen Selbstaufgabe allen bisherigen Wissens verlangt. Den aus der Geschichte der abendländischen Spiritualität wohlbekannten pragmatischen Figuren von Periagoge, Ekstasis und Kartharsis korrespondiert wiederum semantisch das Gedankenmotiv des Nicht-Wissens. Der Anfangspunkt des Innewerdens der per se indefiniblen reinen Subjektivität bildet demnach zunächst einmal die Epoche des konsequenten ›Nicht-Wissens‹. Dabei ist der Gedanke, dass die Indefinibilität geradezu das Charakteristikum des absoluten Subjekts darstellt, sicher nicht nur für Schellings zeitgenössische Hörer gewöhnungsbedürftig. Aber gerade er kann den angehenden Philosophiestudierenden nicht erspart werden. Deshalb betont Schelling an dieser kritischen Stelle seiner Einführungsvorlesung: »Zu diesem muß sich erheben, wer der vollkommen freien, sich selbst erzeugenden Wissenschaft mächtig werden will.«250 Die Erlanger Vorlesungen verlangen gerade im Moment der Entdeckung des gesuchten Prinzips von ihren Hörern das Verlassen ihres bisher gewohnten vorstellenden Denkens, das sich jeweils auf ein definibles Seiendes bezieht. Vor allem ein Fehlschluss muss hier abgehalten werden, nämlich die fälschliche Gleichsetzung des absoluten Wissenssubjekts mit Gott – vorgestellt als höchstem Seienden. Damit mutet Schelling seinen zeitgenössischen Hörern einen geradezu ungeheuren Verzicht zu, nämlich: Alles gedanklich zu verlassen, was ist, alles Seiende, also selbst Gott. Hier »gilt es alles zu lassen – nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes«251. 249 250 251

Schelling: I 32. Schelling: I 17. Schelling: I 17f.

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Die Invention des philosophischen Prinzips erfordert somit die Destruktion tradierter Denkgewohnheiten und die Geltungsvernichtung der lebensweltlich eingeführten religiösen Topik. Um das Befremdliche dieses schwierigen und schmerzhaften kathartischen Aktes, das den Adepten der Philosophie das Fallenlassen ihrer liebgewordenen, gewöhnlichen Vorstellungen abverlangt, zu mildern, greift Schelling an dieser außerordentlich kritischen Stelle seiner Vorlesungen zu zusätzlichen vertrauensbildenden Argumenten. Er folgt dabei wiederum dem rhetorischen Anschlussprinzip, das vorschreibt, die Einführung des Neuen immer mit der Anknüpfung an schon Bekanntes und Vertrautes zu verbinden. Wie problematisch Schelling gerade diese Passage seines Vortrags hält, zeigt sich daran, dass er diese Technik topischer Anknüpfung hier gleich mehrfach anwendet. Für seine philosophiegeschichtlich gebildeten Hörer knüpft er erstens an die neuplatonische Rede von der ›Übergottheit‹ an: »Es ist also insofern über Gott, und wenn selbst einer der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit gewagt hat von einer Uebergottheit zu reden, so wird dieß auch uns verstattet seyn, und es wird ausdrücklich hier bemerkt, damit nicht etwa das Absolute – jenes absolute Subjekt – geradezu mit Gott verwechselt werde.«252 An die christlichen Theologen richtet sich die folgende Anspielung auf das Neue Testament (Mt 10,39): »Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. Hier heißt es: Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden.«253 Es folgt für die Kenner der Antike und der platonischen Philosophie eine originelle Variation des Philosophieren-heißt-Sterbenlernen-Motivs aus dem Phaidon: »Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen.«254 Die Reihe der Anspielungen gipfelt schließlich in einem analogen Bogenschlag zu Dantes Göttlicher Komödie: »Was Dante an der Pforte des Infernum geschrieben seyn läßt, dieß ist in einem andern Sinn auch vor den Eingang der Philosophie zu schreiben: ›Laßt alle Hoffnung fahren, die 252 253 254

Schelling: I 18. Schelling: I 18. Schelling: I 18f.

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ihr eingeht‹. Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen. Schwer ist dieser Schritt, schwer, gleichsam noch vom letzten Ufer zu scheiden.«255 Diese vierfache Amplifikation, die die rhetorische Kunst der Erlanger Vorlesungen exemplarisch vor Augen führt, bildet allerdings nicht nur eine vertrauensbildende redetechnische Maßnahme, sondern wirft auch ein Licht auf Schellings eigenes Philosophieverständnis. Die Anspielungen, Variationen und Verknüpfungspunkte mit der philosophischen, religiösen und literarischen Tradition lassen durchblicken, dass Schelling sein Schaffen in der Linie der Philosophia perennis256 versteht. Es geht ihm demnach auch in den Erlanger Vorlesungen nicht so sehr darum, eine völlig neue Philosophie zu entwerfen, sondern die eine ursprüngliche Wahrheit, deren Spuren sich in der religiösen, philosophischen und künstlerischen Überlieferung der Menschheit entdecken lassen, in neuer Form und Darstellungsweise wieder zur Geltung zu bringen. Durch die negative Bestimmung absoluter Subjektivität als das ›Unfassliche‹ und ›Indefinible‹ und die anschließenden amplifizierenden Erläuterungen, die eine Katharsis des Bewusstseins im Sinne der Docta ignorantia bewirken sollten, haben die Initia den Weg für eine abschließende positive Charakterisierung frei gemacht. Denn die infinite Selbstdarstellung absoluter Subjektivität im produktiven Wechselspiel von Selbstschöpfung und Selbstzerstörung verbinden die Erlanger Vorlesungen nun mit dem abschließenden Begriff der Freiheit. Demnach zeichnet sich das Prinzip absoluter Subjektivität dadurch aus, »daß es sich in eine Gestalt einschließen, daß es sich faßlich machen kann, also daß es frei ist, sich in eine Gestalt einzuschließen und nicht einzuschließen«257. Daran anschließend kann Schelling generell erklären: »Freiheit ist das Wesen des Subjekts, oder es ist selbst nichts anderes als die ewige Freiheit.«258 Alles sein zu können, aber nichts sein zu müssen, das ist zunächst das Privileg der mit ›ewiger Freiheit‹ ausgestatteten absoluten Subjektivität, deren – wie Schelling sich ausdrückt – mit ›magischer‹ Produktivität ausgestatteten Wissen das reale Universum erzeugt. Es ist demnach die ewige Freiheit absoluter Subjektivität, die sich allen Prozessen der Weltschöpfung, auf die sie sich eingelassen hat und allen Geschichten, in die sie 255 256 257 258

Schelling: I 19. Vgl. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 689ff. Schelling: I 21. Ebd.

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sich verstrickt hat, wieder zu entwinden weiß, um wieder in die Souveränität ihres ursprünglichen Anfangenkönnens zurückzukehren. Aber warum sollte sich die absolute Subjektivität überhaupt in eine endliche Gestalt einschließen und so zum Prinzip des gegenständlichen Universums werden? Als Antwort halten die Erlanger Vorlesungen nicht nur das bereits angesprochene Standardargument bereit, dass sich jedes Prinzip erst durch den Prozess seiner Verwirklichung hindurch als solches fasslich werden und bewähren kann. Das entscheidende Argument für den Übergang in die Notwendigkeit liegt vielmehr in der konsequent zu Ende gedachten Souveränität der ewigen Freiheit selbst. Ihre äußerste Möglichkeit besteht demnach darin, auch von sich selbst frei sein zu können. »Denn wäre es nur so die Freiheit, daß es nicht auch Nicht-Freiheit werden könnte, daß es Freiheit bleiben müßte, so wäre ihm die Freiheit selbst zur Schranke, selbst zur Nothwendigkeit geworden, es wäre nicht wirklich absolute Freiheit.«259 Dass auch zur geistigen Souveränität der menschlichen Persönlichkeit die Fähigkeit zur scherzhaft-ironischen Selbstdistanzierung gehört, mag diesen prinzipiellen Gedanken Schellings anthropologisch illustrieren. Im Unterschied zur ewigen Freiheit absoluter Subjektivität erweist sich allerdings das endliche, menschliche Subjekt von vorne herein in vielerlei Hinsicht durch die Beschränkungen objektiver Verhältnisse limitiert. Sistiert in der Notwendigkeit ihrer biologischen, historischen, psychologischen und sozialen Bedingungen vermag sie oft ihr eigenes, inneres Potential des Andersseinkönnens und der schöpferischen Neugestaltung nicht auszuleben. In der Regel besitzt das bürgerliche Subjekt nur in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen wie dem Maskenspiel des Karnevals oder den ausgegrenzten Freiräumen von Literatur, Theater, Musikdrama und bildender Kunst die Chance, seiner alltäglichen Rollenfixiertheit zu entgehen und mit Möglichkeiten des Alteritätsprinzips zu experimentieren. Dass schließlich die Philosophie der vielleicht einzig verbliebene ›offene Punkt‹ ist, in dem die ursprüngliche, ewige Freiheit im Menschen wieder hervorbrechen kann, mag die eigentliche Botschaft der Erlanger Vorlesungen sein. Schellings eigene Philosophie mit ihren zahlreichen Aufbrüchen, Neuanfängen und Umbrüchen ist vielleicht das beste Beispiel für die Offenheit eines lebendigen Denkens, das die Asystasie unterschiedlicher Systementwürfe synthetisiert. Sein wandlungsreiches Schaffen mit seinen vielfältigen literarischen Formen, Systementwürfen, seinen

259

Schelling: I 22.

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Krisen und kreativen Neuansätzen kann am Ende auch als Ausdruck des in den Initia vorgetragenen Prinzips ewiger Freiheit verstanden werden.

5. Diabolische Ironie. Die anthroprogenetische Satanologie Es ist die ›dunkle Nachtseite‹ der Schellingschen Personalitätslehre, die hier unter dem Titel der ›anthroprogenetischen Satanologie angesprochen werden soll. Sie tritt mit der maliziösen Kehrseite der menschlichen Freiheit, die in der Freiheitsschrift bekanntlich auch als ›Vermögen des Bösen‹ definiert wird, hervor. Schellings Theorie des Bösen ist in der letzten Zeit bereits ausgiebig interpretiert und kommentiert worden.260 In der ›panpersonalen‹261 Perspektive Schellings zieht der Missbrauch der menschlichen Freiheit mit seinen desintegrativen Folgen das gesamte Universum in Mitleidenschaft. Neben der Freiheitsschrift betonen deshalb auch die Stuttgarter Privatvorlesungen und das Gespräch Clara, dass vom Menschen im Modus der ›positiven Verkehrtheit‹ eine depotenzierende Wirkung ausgeht, die sowohl die natürliche Umwelt als auch die soziale Mitwelt262 betrifft. Im Menschen selbst erregt die perversio positiva eine ›Partikularkrankheit‹, die durch den »eigensüchtigen Bewahrungsversuch des fragilen Lebens«263 nur gesteigert wird. Die fortschreitende Desintegration des eigenen personalen Potenzengefüges endet schließlich – »mit Schrecken und Horror«264 – in der Selbstzerstörung.265

260

261 262

263 264

Siehe u.a. Jörg Jantzen, »Die Möglichkeit des Guten und des Bösen«. In: Ottfried Höffe / Anemarie Pieper, F.W.J. Schelling. Über die Möglichkeit der menschlichen Freiheit, Berlin 1995, S. 61–90; Wilhelm G. Jacobs: »Die Entscheidung zum Bösen oder Guten im einzelnen Menschen«. In: Otfried Höffe / Annemarie Pieper (Hg.): F.W.J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Berlin 1995, S. 125–148 und Renate Breuninger: »Das Böse in der Philosophie Schellings«. In: Breuninger, Renate / Welsen, Peter (Hg.): Religion und Rationalität, Würzburg 2000, S. 69–83. Vgl. v. Zantwijk: Pan-Personalismus. Zu den desintegrativen Folgen für das menschliche Naturverhältnis und die Gemeinschaftsbildung s. Friedrich Hermanni: Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie, Wien 1994, S. 229–240. Zur Isolation des desintegrierten menschlichen Geistes von der ‹Geisterwelt’ s. meinen Aufsatz »Die Freiheit, der Irrtum, der Tod und die Geisterwelt. Schellings anthropologischer Übergang in die Metaphysik«. In: Schellings philosophische Anthropologie. Hg. v. J. Jantzen / P. L. Oesterreich, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 23–50. Thomas Buchheim: »Einleitung«, F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Hamburg 1997, XXXI. Schelling: SW 7,391.

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Die folgenden Überlegungen wollen nun auf eine weitere begriffliche Ausarbeitung des personalen Desintegrations-Motivs aufmerksam machen, die sich in Schellings Philosophie der Offenbarung findet und in der Schelling seine diabolische Variante der romantischen Ironie vorträgt. Gemeint ist das negative Gegenstück zur Christologie: die Lehre vom Satan.266 Im Rahmen seiner anthropogenetischen Satanalogie, vertritt Schelling die These, dass die Entstehung des Teufels als Folge der Desintegration menschlicher Personalität zu verstehen ist. Die Thematisierung des Teufels innerhalb seiner Philosophie der Offenbarung bedeutet für die Reputation des philosophischen Lehrers Schelling kein unbeträchtliches Risiko. Öffentlich vom Teufel zu reden, könnte sein Ethos als wissenschaftlicher Philosoph gefährden oder ihn in die Nähe eines Theosophen wie Jakob Böhme oder gar eines ›Geistersehers‹ wie Swedenborg rücken. Deshalb betont Schelling in der Eingangspassage seiner Satanalogie ausdrücklich die wissenschaftliche Seriosität seiner Untersuchung. Er gehöre gerade nicht zu denjenigen, »welche in der Wissenschaft auf Abenteuer à la Don Quixote«267 gehen. Stattdessen kündigt er gleich zu Anfang eine ›kritische und historische Untersuchung‹ des Themas ›Satan‹ an. Zugleich erweckt Schelling im Exordium seiner Satanalogie die gespannte Aufmerksamkeit seines Publikums, indem er vorweg auf den innovativen und unorthodoxen Charakter seiner Lehre verweist. Die ›gewöhnliche‹ oder ›orthodoxe‹ Vorstellung vom Teufel, gegen die sich Schelling richtet, bezieht sich auf den metaphysischen Lucifer-Mythos, demgemäß der Teufel mit dem gegen Gott rebellierenden und gefallenen Engel Lucifer identifiziert wird. Diese orthodoxe Vorstellung vom Teufel als ›Haupt alles Bösen‹, lässt sich nach Schelling folgendermaßen beschreiben: »Sie denkt sich diesen Satan als einen zwar mächtigen, aber doch keineswegs unbeschränkten individuellen, erschaffenen Geist, als einen ursprünglich guten Engel, der aus Hochmuth sich über Gott habe erheben 265

266

267

Vgl. Jochem Hennigfeld, F. W. J. Schellings ›Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und der damit zusammenhängenden Gegenstände‹, Darmstadt 2001, S. 86–113. Während die Christologie bis in die jüngste Zeit ein wichtiges Thema der Schelling-Forschung ist (vgl. Christian Danz, Die philosophische Christologie F. W. J. Schellings, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1996) bildet die Satanalogie noch immer ein wenig erschlossenes Gebiet. Eine bemerkenswerte Ausnahme aus neuerer Zeit ist der Versuch von Albert Franz, »Die philosophische Idee des Bösen. Zur Satanalogie Schellings und Dantes«. In: Trierer Theologische Zeitschrift 99 (1990), S. 81–94. Schelling, Urfassung, S. 616.

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wollen, sich ihm widersetzt habe, hierauf – von Gott ausgestoßen und seiner eignen Verkehrtheit überlassen – nun, wie Abtrünnige zu thun pflegen, alles aufgeboten habe, um auch andere, besonders die Menschheit von Gott abzuziehen und sie von sich abhängig zu machen.«268 Schelling findet diesen Lucifer-Mythos in seiner modernen dichterischen Umdeutung, die von Miltons Paradise Lost und Klopstocks Messias ausgeht, in der zeitgenössischen Öffentlichkeit vor. Der Teufel wird hier nicht mehr, wie noch in Dantes Divina comoedia, als zottiges, menschenfressendes Ungeheuer geschildert, sondern als intelligenter, stolzer Rebell. »Milton und Klopstock haben sich alle Mühe gegeben, dem Satan nach der gewöhnlichen Vorstellung eine gewisse Erhabenheit zu geben, aber selbst der classisch gebildete Milton hat es nicht vermocht.«269 Die neueren Dichter, die den orthodoxen Lucifer-Mythos derart ästhetisch positivieren, sind nach Schelling eifrige advocati diaboli, die zwar dem Teufel eine neue Würde zubilligen, aber andererseits den alten metaphysischen Realismus noch vertiefen. Durch die detaillierte dichterische Darstellung als konkrete individuelle Person depotenzieren sie zugleich die Erhabenheit des Diabolischen als eines unfassbaren, universellen Geistprinzips. Dabei richtet sich Schellings Kritik am metaphysischen Realismus nicht generell gegen die Positivierungstendenz der modernen Dichtung. Im Gegenteil: Gleich zu Anfang macht Schelling seinen Hörern klar, dass er dem Satan eine »noch höhere Realität und eine noch höhere Bedeutung«270 zuzuschreiben gedenkt. Schellings sich daran anschließender Entwurf einer eigenen und, wie sich zeigen wird, anthroprogenetischen Satanalogie gliedert sich in einen kritischen Teil, der die orthodoxe Vorstellung des Teufels destruiert und einen positiven Teil, der dann seine ›eigentliche philosophische Bedeutung‹ herausstellt. 5.1 Die Allgegenwärtigkeit des satanischen Prinzips In seinem kritischen Teil der Satanalogie widerlegt Schelling mit fünf Argumenten und Hinweisen zum Alten und Neuen Testament die orthodoxe Vorstellung von der individuellen Geschöpflichkeit des Satans. Der erste ethymologische Hinweis bezieht sich auf den hebräischen Namen ›satan‹, aus dessen griechischer Übersetzung ›diabolos‹ und schließlich das deutsche ›Teufel‹ entstanden ist. Schelling erinnert daran, »daß in dem 268 269 270

Schelling: SW 14,242. Schelling: SW 14,246. Schelling: SW 14,243.

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Namen ›Satan‹ schlechthin nichts speciell Bezeichnendes liegt, daß er vielmehr von möglichst allgemeiner Bedeutung ist. Der Name ist bekanntlich aus dem Hebräischen, wo er eben nur W i d e r s a c h e r im A l l g e m e i n e n bedeutet.«271 Insofern ›Satan‹ nur ganz allgemein ›Widersacher‹ heißt, liegt in ihm – wie Schelling bemerkt – zwar die Andeutung eines allgemeinen Geistes, aber nicht einer individuellen, erschaffenen Person. Schon dieser ethymologische Hinweis auf einen transpersonalen Charakter des Satanischen stellt somit die orthodoxe Vorstellung des Teufels als individuelles Geschöpf infrage. Die zweite Bemerkung weißt zunächst darauf hin, dass es im Alten und Neuen Testament keine einzige Stelle gibt, in der gesagt wird, dass der Teufel erschaffen worden sei. Im Gegenteil wird ihm im Neuen Testament eine Erhabenheit zugebilligt, die sich mit der Vorstellung von einer endlichen, erschaffenen und individuellen Person nicht vereinbaren lässt. Er wird als ›Fürst dieser Welt‹ und bei Paulus sogar als ›Gott dieser Welt‹ bezeichnet. Nur indem Satan derart als eine über alles Individuelle erhabene, außer- und übergeschöpfliche Macht dargestellt wird, kann er – so Schelling – den würdigen Gegenpart zu Christus spielen. Dies sei für die Bogomilen sogar der Anlass, Satan den »älteren Bruder Christi«272 zu nennen. Bei aller zugestandenen Erhabenheit stellt aber die Bibel den Satan insgesamt nicht als ein eigentlich böses Prinzip dar. Der kritische Blick auf die Quellenlage im Alten und Neuen Testament weist sowohl die gewöhnliche Vorstellung vom Satan als individuellem Geschöpf, als auch die manichäistische Vorstellung eines gottgleichen bösen Prinzips zurück. Der Schlüssel zur biblischen Grundbedeutung des Satans lässt sich dagegen – so Schellings dritte Bemerkung – im Buch Hiob finden. Hier wird Satan zunächst ausdrücklich zu den ›Söhnen Gottes‹ gezählt. Ferner wird er im Buch Hiob keineswegs als eigentliche Ursache des Bösen oder als direkter Feind Gottes vorgestellt. Satan tritt hier nicht als das originale Böse, sondern als der von Gott selbst zugelassene Versucher auf. Er verkörpert somit ein zur göttlichen Ökonomie selbst gehöriges und von Gott anerkanntes Prinzip. Damit hat Schelling die positive Grundbedeutung des Satans als Macht der Versuchung, die das Innere und die Gesinnung der Menschen in Zweifel zieht und auf die Probe stellt, exponiert. Demnach ist der Satan die Macht, die »ohne selbst böse zu seyn, dennoch das verborgene Böse 271 272

Ebd. Schelling: SW 14,245.

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hervor= und an den Tag bringt, damit es nicht unter dem Guten verborgen bleibe«273. Der Teufel erfreue sich an dem hervor- und an den Tag gebrachten Bösen nur deshalb, weil es die Bestätigung seines Zweifels an der frommen Gesinnung des Menschen sei. Damit wird er systematisch gerade nicht mit dem »absolut Bösen«274 identifiziert. Eine Pointe der Satanalogie Schellings besteht in dieser angesichts der gewöhnlichen Teufelsvorstellung paradoxal anmutenden ethischen Positivierung des Satanischen: Im Rückgriff auf das Buch Hiob gewinnt der Satan innerhalb der göttlichen Ökonomie die legitime, mäeutische Aufgabe, das im Menschen bereits latent vorhandene Böse zu entbinden und an den Tag zu bringen. Schellings viertes, exegetisches Argument weist ferner auf die orthodoxe Vorstellung vom Teufel mit dem Hinweis auf die Versuchungsgeschichte Christi zurück: »Ist Satan ein b l o ß e s Geschöpf, so sind die Worte absurd, die er zu Christus sagt, die Worte: Diese ganze Macht und Herrlichkeit ist mein, ich gebe sie, wem ich will! Ist aber Satan ein Princip, und zwar, das schon fühlt, daß ihm bald nur noch das äußere Weltreich angehören wird …, so sind diese Worte ganz consequent.«275 Wäre der Teufel nur als endliches, beschränktes Individuum vorgestellt, so wäre nicht nur speziell die Versuchungsgeschichte Christi unglaubwürdig. Ganz allgemein könnte er im Drama der Heilsgeschichte keinen adäquaten Gegenpart zu Christus spielen. Gegen die Vorstellung einer endlichen, individuellen Person spricht fünftens vor allem die Allgegenwart, die Satan zugeschrieben wird. Demgemäß besitzt der Teufel einen immer und überall gegenwärtigen Einfluss. Diese ubiquitäre und alles durchdringende Macht und Gewalt kann nicht von einem einzelnen Individuum ausgehen, da Individuelles sich gegenseitig ausschließt, sondern nur von einem allgemeinen kosmischen Prinzip. Von dieser Art eines universellen geistigen Prinzips sei Satan, der »überall und immer um, ja in dem Menschen ist und jeden Augenblick ihm sich nicht nur vorstellen oder darstellen, sondern auch ihm sich insinuiren kann«276. 273 274

275 276

Schelling: SW 14,248. Carl Daub: Judas Ischariot oder das Böse in Verhältniß zum Guten, Erstes Heft, Heidelberg 1816, S. 155. Daub stellt ein zeitgenössisches systematisches Kontrastporgramm zu Schellings anthroprogenetischer Satanalogie dar. Er greift zwar das in Schellings Freiheitsschrift vertretene Gedankenmotiv vom aktiven, positionellen Charakter des Bösen als perversio positiva auf, aber nur, um mit seiner Hilfe die traditionelle, dogmatische Vorstellung vom Satan als Figur des ›absolut Bösen‹ in potenzierter Form zu wiederholen. Schelling: SW 14,254. Schelling: SW 14,255.

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Mit diesem fünften Kontra-Argument aus der Allgegenwärtigkeit des satanischen Prinzips endet Schellings Refutation der gewöhnlichen Vorstellung vom Teufel. Vorausblickend lässt schon der kritische Teil zwei Grundtendenzen der Schellingschen Satanalogie erkennen. Das Diabolische wird als allgemeines Prinzip erstens ethisch positiviert, d. h. in die göttliche Ökonomie einbezogen und zweitens transpersonal infinitisiert, d. h. als allgegenwärtiges und ubiquitäres Prinzip verstanden. Ferner macht dieser fünfte Hinweis deutlich, wie Schelling die Einwirkung des Teufels auf den Menschen versteht. Der Satan vermag nicht direkt den menschlichen Willen zu okkupieren, sondern besitzt lediglich eine indirekte Vorstellungs- und Darstellungsmacht, durch die er die Menschen verführt. Gleichsam als versierter Rhetor verfügt er dabei über alle Mittel persuasiver Simulation, Suggestion und Insinuation. 5.2 Die ›trügerische Magie‹ der Versuchung Nach der kritischen Destruktion der gewöhnlichen Vorstellung gibt Schelling im positiven Teil seiner Satanalogie eine eigene philosophische Erklärung des Teufels. Die von Schelling hier entwickelte ›eigentliche Idee des Satans‹ entsteht auf dem Boden des geschichtlichen Denkens seiner Spätphilosophie. Als Resultat enthält sie den Gedanken, dass der Teufel zwar kein ewiges und unerschaffenes, sondern ein vom Menschen ausgehendes geschichtliches Prinzip darstellt. Dabei erweist sich die geschichtliche Progenese des Satanischen als Folge der Korruption und Desintegration menschlicher Personalität. Der satanische Geist stellt sich als ein Abspaltungsprodukt desintegrierter menschlicher Subjektivität heraus. In Schellings Erklärung des Satans verbindet sich die anthropozentrische Perspektive seiner Stuttgarter Privatvorlesung mit der Grund-Existenz-Ontologie der Freiheitsschrift. Demnach beruht alle menschliche Persönlichkeit auf einem ›dunklen Grund‹. Jenes dunkle B-Prinzip, das die Möglichkeit der geschichtlichen Entwicklung des Satanischen enthält, wird innerhalb des menschlichen Bewusstseins vor dem Sündenfall durch das göttliche A-Prinzip beherrscht und in Schranken gehalten. Erst durch die ›unvordenkliche Tat‹ der menschlichen Freiheit im Sündenfall wird das vorher in Schranken gehaltene B-Prinzip entfesselt, sodass es aus der integrierten Seinsverfassung des Menschen als reiner negativer Geist hervortritt. So entsteht der Satan als ein zwar aus dem Menschen selbst hervorgegangenes, aber dann schrankenlos, transpersonal und allgegenwärtig gewordenes geistiges Prinzip. Der Teufel erweist sich nach dieser Erklärung somit als ein vom Menschen erregter, ›gewordener‹ Geist, der, nachdem er 162

ursprünglich im individuellen, menschlichen Bewusstsein integriert war, dieses entfesselt transzendiert und es schließlich aufzuheben droht. Für Schelling hat die genealogische Erklärung der Existenz des Teufels somit eine dezidiert anthropologische Basis. Die Entstehungsgeschichte des Satans beginnt mit dem Menschen. Aufgrund der im Sündenfall-Mythos symbolisierten ›unvordenklichen‹ Tat der Freiheit geht der satanische Geist aus dem Menschen hervor. Diese Progenese transzendiert allerdings die endliche Form menschlicher Personalität und führt zur transpersonalen Verselbstständigung des diabolischen Geistes als ein universell wirkendes Realprinzip. Einmal entfesselt und freigesetzt existiert der Teufel als ein »universelles Princip, ein Leben eigner Art zwar, ein falsches Leben, eines, das nicht seyn s o l l t e , aber doch i s t , und einmal erregt, nicht wieder, wenigstens nicht unmittelbar wieder zurückgebracht werden kann«277. Als derart verselbstständigte und schrankenlos gewordene Potenz bedroht das diabolische Prinzip schließlich auch den Menschen selbst. Die schon im kritischen Teil anklingende Tendenz zur Positivierung des Teufels findet ferner im positiven Teil der Schellingschen Satanalogie ihre Fortsetzung. Auch hier betont Schelling, dass der Satan selbst nicht böse sei, sondern lediglich eine »das Böse im Menschen a h n e n d e und es hervor, an den Tag zu bringen suchende Macht«278 sei. Der Teufel ist somit wiederum nicht als sich gegen Gott empörender, und zum Bösen pervertierter gefallender Engel zu sehen, sondern als eine zur göttlichen Ökonomie gehörige und von Gott selbst anerkannte Macht der Versuchung zu verstehen. Seine Natur ist es, »das Verbotene, das nicht seyn Sollende in Möglichkeit zu stellen, damit das eigentlich Böse, das nur in der Gesinnung liegt, offenbar werde«279. Als gottgewollte Macht der Versuchung in der gefallenen Welt ist somit der Satan, wie Schelling zugespitzt formuliert, sogar das ›eigentliche Mysterium Gottes‹. Bei der näheren Bestimmung des Satanischen greift Schelling hier wiederum auf die vom jungen Friedrich Schlegel konzipierte Gedankenfigur der romantischen Ironie zurück. Auch in Schellings anthroprogenetischer Satanalogie führt die Figur der infiniten Ironie die begriffliche Regie. Wie bereits gesagt, prägen Antithese und Zweideutigkeit bereits den Charakter der Ironie als rhetorischen Tropus. Diese infinite romantische Ironie bildet für den frühen F. Schlegel bekanntlich das produktive Prinzip jener ›ewigen Agilität‹, die das ›unendlich volle Chaos‹ des Universums ermöglicht. 277 278 279

Schelling: SW 14,257. Schelling: SW 14,260. Schelling: SW 14,261.

163

Der späte Schelling greift diese frühromantische Gedankenfigur in seiner Satanalogie wieder auf und lässt das diabolische Prinzip geradezu als Inbegriff infiniter Ironie erscheinen. Der tropologisch durch unendliche Ironie definierte Teufel avanciert beim späten Schelling zu einem hintergründigen Antagonisten des weltgeschichtlichen Offenbarungsgeschehens. Das Definitionsproblem, das der Topos von der unfasslichen Vielgestaltigkeit und Ortlosigkeit des Teufels als »transpersonaler Macht«280 artikuliert, erklärt sich aus seinem infinit ironischen Wesen. Aus der schon von F. Schlegel hervorgehobenen ironischen ›Wechselbestimmung‹ wird hier in Schellings Philosophie der Offenbarung die Versatilität und der unerschöpfliche ›Rollenwechsel‹ des Satans. Er ist »seiner Natur nach versatil und nie sich selbst gleich; unerschöpflich in seiner Natur wechselt es die Rollen«281. Angesichts seiner ironischen Natur verwundert es nicht, dass das Satanische für uns zunächst in einer verwirrenden Ambivalenz erscheint. Es trägt gleichsam ein doppeltes Gesicht: Einerseits zeigt es sich als Ursache von Zwietracht und allem Bösen. Auf der anderen Seite erscheint es als ein wohlgelittenes, zur göttlichen Haushaltung gehöriges und sogar ›mit Majestät bekleidetes Prinzip‹. Als Inbegriff infiniter Ironie wird das Satanische bei Schelling zu einem produktiven Prinzip erhoben, das die Momente des kreativen Chaos und der ›ewigen Agilität‹ im geschichtlichen Universum repräsentiert. Die Positivierung des Satanischen durch die romantische Gedankenfigur der infiniten Ironie gipfelt in Schellings Bestimmung der ›eigentlichen philosophischen Idee des Satans‹. Demgemäß ist es »das nothwendige primum movens aller Geschichte«282. Demnach beginnt erst mit dem Sündenfall und der Progenese des im Menschen angelegten diabolischen Prinzips die Menschheitsgeschichte, die sich nach Schelling in zwei Epochen gliedert. In der ersten Epoche des Heidentums und der Mythologie herrscht das Diabolische auch in der Religionsgeschichte. Auch in der zweiten Epoche, die mit dem Sieg Christi über den Satan anbricht, ist die Macht des Diabolischen nicht aus der Welt verschwunden. Der ›Fürst dieser Welt‹ – so Schellings These – hat sein Wirkungsfeld lediglich vom religiösen auf das politische Feld verlagert. Die moderne politische Geschichte bildet somit »ein neues Theater der Wirkungen des Satans, die nicht minder blutbedeckte Schaubühne«283. Für Schelling beweist dieser geschichtliche Rollen-

280 281 282 283

Joachim Track: »Teufel VI. Systematisch-theologisch«. In: TRE XXXIII, S. 136. Schelling: SW 14,269. Schelling: SW 14,271. Schelling: Urfassung, S. 639.

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wechsel und das Überspringen vom religiösen auf das politische Gebiet die unerschöpfliche Kreativität des Satanischen, die in seiner ironischen und versatilen Natur gründet. Eindrücklich schildert Schelling den zumeist unbewussten Einfluss des diabolischen Geistes auf den Menschen. Dabei besteht die Macht des Satans über den Menschen nicht in einer unmittelbaren Willensbestimmung, sondern in seinem persuasiv vermittelten suggestiven Einfluss, der in der Vorspiegelung verführerischer Möglichkeiten besteht: »Jener Geist ist im Besitz des Menschen, noch ehe dieser es ahndet oder weiß, und, an sich unendliche Möglichkeit, die nie völlig verwirklicht ist, spielt er in allen Formen, Farben und Gestalten … Als diese unerschöpfliche Quelle von M ö g l i c h k e i t e n , die je nach Umständen und Verhältnissen andere, neue und wechselnde sind, ist dieser Geist der immerwährende Erreger und Beweger des menschlichen Lebens, das Princip, ohne das die Welt einschlafen, die Geschichte versumpfen, stillstehen würde. Dieß ist die eigentliche philosophische Idee des Satan.«284 Die eigentliche Seinsmodalität des Diabolischen ist demnach nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit. Der Satan verkörpert nach Schelling das Prinzip infiniter Potentialität, das als bloße Allmöglichkeit nur durch den Willen des Menschen zur Wirklichkeit gelangen kann. Daher wird die an Möglichkeiten unerschöpfliche Natur des diabolischen Geistes zugleich von einem ›ewigen Hunger nach Wirklichkeit‹ getrieben. Gleichsam als hungriger Löwe sucht der Versucher nach Gelegenheiten, das, was in ihm bloß Potentialität ist, durch den menschlichen Willen zu realisieren. Er geht umher »und sucht, welchen er verschlinge in seiner ewigen Sucht, seinem nie ersättigten Bedürfnis, das, was in ihm als bloße Möglichkeit ist, durch den Menschlichen Willen zu verwirklichen«285. Dabei stehen ihm alle Möglichkeiten der visuellen und verbalen Suggestion zur Verfügung. Die indirekte, ideelle Gewalt, die das Diabolische über den Menschen besitzt, ist vor allem die der persuasiven Simulation, d. h. der täuschenden Darstellung von verlockenden Möglichkeiten menschlicher Selbstverwirklichung. Wenn Schelling in diesem Zusammenhang den Satan als ›Sophisten‹ im eigentlichen Sinne bezeichnet, knüpft er an Platons Kritik der sophistischen Rhetorik an, die eine Trugbildnerei durch Worte sei. Durch die ›falsche trügerische Magie‹ von vorgestellten Möglichkeiten, die den menschlichen Willen anlockend an sich zieht, gewinnt das universelle 284 285

Schelling: SW 14,270f. Schelling: SW 14,271.

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diabolische Prinzip seine ideelle, persuasive Macht über den Willen des Menschen. Für das scheinbar unbegrenzte Reich diabolischer Simulation gilt ein für die Spätphilosophie Schellings grundlegender Begriffszusammenhang: »Möglichkeit, Macht, Magie sind immer beisammen.«286 Insofern die diabolische Macht lediglich eine ideelle ist, die sich an die innere Imagination und geistige Vorstellungsfähigkeit des Menschen wendet, bedroht sie weniger die ›grob materiellen Naturen‹, sondern vorzüglich die intelligenten und außerordentlich begabten. Gerade die geistigen Naturen stehen in Gefahr, dem Einfluss diabolischer Vorspiegelungen und Simulationen zu erliegen. Damit wiederholt Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung den schon in seiner Freiheitsschrift angesprochenen Topos. Er beinhaltet die allgemeine Auffassung von der besonderen Anfälligkeit der genialischen Natur für diabolische Verführung, die literarisch z. B. in Goethes Faust und später in Th. Manns Dr. Faustus ausgestaltet worden ist. Auch bei Schelling werden gerade die besonders Befähigten viel öfters vom Bösen als vom Guten begleitet.287 Hohe Intelligenz und Imaginationsgabe scheinen zugleich mit dem Horizont schöpferischer Invention auch den Umkreis verführerischer und abseitiger Möglichkeiten zu erweitern. 5.3 Diabolische Ironie als ›primum movens aller Geschichte‹ Insgesamt versucht Schelling der alten religiösen und metaphysischen Rede vom Teufel einen neuen Sinn zu geben. Durch seine kritische Destruktion des orthodoxen Luzifer-Mythos bekämpft Schelling jenen metaphysischen Realismus, den nicht nur die moderne Dichtung, sondern auch die heutige mediale Darstellung des Teufels noch vertritt. Auf der anderen Seite ist für ihn das Diabolische keine bloß subjektive Fiktion oder intersubjektive Projektion, sondern ein universell herrschendes Geistprinzip, das zwar ursprünglich vom Menschen ausgeht, aber innerhalb der Geschichte eine selbstständige Existenz und transpersonale, geistige Realität gewinnt. Insgesamt kann der Standpunkt der Schellingschen Satanalogie als anthroprogenetischer Realismus bezeichnet werden. Insofern die Progenese des Satanischen zwar das menschliche Sein radikal transzendiert, aber doch als Folge menschlicher personaler Desintegration erklärt wird, bildet Schellings Satanologie eine moderne Rekonstruktion des alten metaphysischen Realismus auf anthropologischer Basis.

286 287

Schelling: SW 14,259. Schelling: SW 7,368.

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Schellings anthroprogenetische Satanalogie bedeutet dabei zunächst eine vielleicht paradoxal erscheinende, ethische Positivierung des Diabolischen. Entgegen der gewöhnlichen Vorstellung ist demnach der Satan selbst nicht böse, sondern lediglich eine Macht der Versuchung, die den Menschen auf die Probe stellt. Böse im eigentlichen Sinne kann nur – wie schon die Freiheitsschrift betont – der freie Wille des Menschen sein. Der diabolische Geist treibt lediglich das im Menschen schon latent vorhandene Böse hervor und bringt es zu Tage. Zweitens wird das Diabolische durch Schelling entindividualisiert und infinitisiert. Es gewinnt den Charakter eines allgegenwärtigen, transpersonalen geistigen Prinzips, das als primum movens die menschliche Geschichte bewegt. Durch diese Infinitisierung schützt und befreit Schelling das diabolische Prinzip zugleich vor seiner modernen literarischen, medialen und doxalen Fixierung, die bis zu seiner endgültigen Depotenzierung in der Form der Karikatur führen kann. Indem Schelling den Satan als Objekt der Literatur und der gewöhnlichen Meinung kritisiert, rettet er seine an sich ungegenständliche, gleichsam numinose Allgegenwart als universelles Prinzip. Die dritte Haupttendenz der Schellingschen Satanalogie ist schließlich ihr Grundzug zur anthropologischen Refundierung. Das Diabolische ist keine völlig fremde, dämonische Macht, sondern gründet ursprünglich in der Person des Menschen selbst. Es ist ein aus ihm selbst entsprungenes, sich dann verselbstständigendes und sich geschichtlich gegen ihn wendendes Prinzip. Die Progenese des universellen satanischen Geistes erklärt sich aus einer personalen Desintegration, die durch den korruptiven Missbrauch der menschlichen Freiheit verursacht wird. Die anthroprogenetische Satanalogie in der Philosophie der Offenbarung bildet damit einen ergänzenden und vertiefenden Beitrag zur modernen Selbsterkenntnis menschlicher Freiheit. Schellings Satanologie verdeutlicht vor allem den anthropologischen Grund für die Anfälligkeit der menschlichen Freiheit gegenüber dem Bösen: die an sich positive Fähigkeit zur freien Imagination unendlicher Möglichkeiten, die in verselbstständigter Form die menschliche Freiheit zum Bösen verführen kann. Es ist die entfesselte Macht des ironischen Alteritätsprinzips, d. h. des potenziell infiniten Anderssehen-, Andersdeuten- und Andershandelnkönnens, durch die das Satanische den menschlichen Willen anzuziehen und zu verleiten vermag. Das Einfallstor für das Diabolische ist somit der moralisch indifferente Möglichkeitssinn des Menschen, der gleichermaßen die ›guten‹ wie auch ›bösen‹ Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vor Augen führt. 167

Insgesamt gesehen kann Schellings anthroprogenetische Satanalogie auch als Beitrag zur allgemeinen Philosophie der Person288 gelesen werden, der die diabolische Schattenseite geschichtlicher Personalität transparent macht. Der satanische Geist bildet demnach das unabtrennliche alter ego der menschlichen Person in der geschichtlichen Welt. Wie die literarische Figur des Mephistopheles in Goethes Faust besitzt er einen ambivalenten Charakter. Einerseits geht er als Abspaltungsprodukt aus personaler Desintegration hervor und bildet in dieser Hinsicht den geschichtlichen Ausdruck menschlicher Nicht-Identität. Auf der anderen Seite vermag der satanische Geist dem Menschen – gerade als verselbstständigtes und infinit gewordenes Alteritätsprinzip – auch das entgrenzte Andere seiner selbst vor Augen zu führen. Indem er der menschlichen Freiheit ihre bisher verborgenen Möglichkeiten zu Bewusstsein bringt, bewirkt er nach Schelling sogar indirekt allen Fortschritt in der Geschichte. Dass Schelling selbst insgesamt diesem produktiven Aspekt des Satanischen ›als primum movens aller Geschichte‹ den Vorzug einräumt, macht am Ende ihn hier zu einem spätromantischen advocatus diaboli. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass das gefährliche Spiel mit dem Alteritätsprinzip sowohl die Chance zu fruchtbarer Innovation als auch das Risiko diabolischer Verirrung birgt. Dennoch nimmt Schelling selbst das von ihm thematisierte, risikoreiche Alteritätsprinzip für den Vollzug seiner philosophischen Rede selbstbewusst in Anspruch. In überzeugender retorsiver Übereinstimmung demonstiert er die philosophische Freiheit des Andersdeutenkönnens, wenn er selbstbewusst feststellt: »Wir haben die Bedeutung des Satans anders bestimmt …«289 So gewinnt Schellings ethische Positivierung des Diabolischen und seine Exposition als produktives Prinzip am Ende auch einen ganz persönlichen Sinn. Das thematische Interesse Schellings am Thema des Teufels entspringt nicht zuletzt der Angst vor dem Versagen seiner eigenen philosophischen Produktivität, die ihn insbesondere in der Krisenzeit des Scheiterns seines großangelegten Weltalter-Projektes nach 1809 quälte. Mit seiner anthroprogenetischen Satanalogie versichert sich Schelling in seiner Spätphilosophie aber – offensichtlich erfolgreich – aufs Neue der Möglichkeitsbedingung seiner eigenen philosophischen Kreativität. So scheint schließlich das ›primum movens aller Geschichte‹ auch Schellings eigene philosophische Biographie zu bewegen. 288 289

Vgl. Dieter Sturma (Hg.): Person. Philosophiegeschichte. Theoretische Philosophie. Praktische Philosophie, Paderborn 2001. Schelling: Urfassung, S. 649.

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V. Spielarten romantischer Transformationsrhetorik

Das romantische Philosophieren hat sich bereits in den vorhergehenden Kapiteln als ein variantenreiches, rhetorisches Experiment der Selbsterfindung moderner Subjektivität herausgestellt. Dabei geht es der rhetorischen Kunst des romantischen Philosophierens keineswegs nur um eine bloße Information, sondern um eine tiefgreifende Transformation ihrer Adressaten. Von daher können die Texte der romantischen Philosophen als Dokumente einer philosophischen Transformationsrhetorik gelesen werden. Aus dieser persuasionspragmatischen Perspektive betrachtet verstehen sie sich als Versuche, die bereits eingangs erwähnte programmatische Agenda einer qualitativen Selbstpotenzierung, in der ›das niedere Selbst‹ sich in ein höheres und ›besseres Selbst‹ verwandeln soll, tatkräftig ins Werk zu setzen. So gestaltet sich das romantische Philosophieren zu einem Experimentierfeld moderner Selbsterfindung, auf dem der philosophische Redner seine Hörer durch die Performanz seiner philosophischen Rede in einen ihn selbst transformierenden Kontakt mit dem Absoluten zu bringen sucht. Dementsprechend erschöpft sich der persuasive Sinn dieser romantischen Transformationsrhetorik nicht in einer bloßen Belehrung (docere), sondern zielt auf eine, die gesamte Persönlichkeit revolutionierende Bewegung (movere), die als Operation der Substitution des ›gewöhnlichen‹ durch das ›bessere‹ romantische Selbst durchaus in Analogie und Konkurrenz zur religiösen Bekehrung steht. Die Absicht einer Revolutionierung des Selbst im Rhythmus von ›Selbstschöpfung und Selbstzerstörung‹ bestimmt daher letztlich die gesamte persuasive Dynamik des romantischen Philosophierens. Somit könnte die infinite Ironie geradezu als persuasionspragmatische ›Superfigur‹ des romantischen Philosophierens bezeichnet werden.

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1. Die rhetorische Kunst philosophischer Psychagogie Mit ihrer Transformationsrhetorik zielen die romantischen Philosophen zudem auf eine Restitution der Philosophie als lebensstilformende Weisheitslehre an. Sie versuchen so, die neuzeitliche Verkürzung der Philosophie zur bloßen Wissenschaft zurückzunehmen und ihr den antiken Vollsinn als einer das Selbst des Menschen umformenden Weisheitslehre wiederzugeben. Auf moderne, romantische Weise streben sie danach, die Philosophie aus ihrer dienenden Stellung sowohl gegenüber der Theologie (ancilla theologiae), der Wissenschaft (ancilla scientiae) und dem Wirtschaftsleben (ancilla oeconomiae) zu befreien, um für sie den selbstständigen Status einer freien und lebensstilformenden Weisheitslehre zurückzugewinnen. Das antike Vorbild, gerade auch in Hinsicht auf die Ironizität des romantischen Philosophierens ist die in den Platonischen Dialogen durch den Ironiker Sokrates vor Augen geführte Kunst der Seelenführung. Die vom frühen Schlegel hochgelobte »große Kunst, die Sokrates im Sprechen mag besessen haben, den ausgebreiteten, lebendigen Einfluß, den er dadurch auf die Gemüther erlangte«1, bildet auch den philosophiegeschichtlichen Hintergrund für die philosophische Psychagogie der romantischen Transformationsrhetorik. In dieser philosophiegeschichtlichen Perspektive knüpft das romantische Philosophieren an die Ansätze einer rhetorischen Psychologie und Psychagogie an, deren Wurzeln über Platon bis weit in die antike Sophistik zurückreichen. 1.1 Das Vorbild der Platonischen ›Seelenführung durch Rede‹ Die Frage nach dem Anfang der wissenschaftlichen Psychologie jenseits von Mythos und Religion führt uns in die sophistische Aufklärung des 5. Jh.s v. Chr. zurück. Die Psychologie beginnt hier gerade nicht mit einer einsamen, inneren Selbstbeobachtung, sondern der methodischen Untersuchung öffentlich wahrnehmbarer Redewirkung auf die menschliche Seele. Die geradezu ungeheuere und erstaunliche Macht der Rede (deinotes legein) führt z. B. der Sophist Gorgias auf ihr Vermögen zurück, öffentliche Stimmung zu erzeugen und zu beherrschen. Damit gibt Gorgias eine pathozentrische Deutung des Rhetorischen, die bereits am öffentlichen Phänomen der demokratischen Mengenkommunikation abgelesen ist. So wie die Medizin durch ihre Medikamente und Drogen auf die Verfassung 1

Schlegel: KA 12,201.

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des Körpers einwirkt, so vermag auch die persuasive Rede nach Gorgias die Seelenlage der Menschen gezielt zu verändern. Wie in der Medizin, so gibt es auch in der Rhetorik einen unterschiedlichen Gebrauch ihrer Mittel. So »erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuß, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung«2. Die Frage nach der wissenschaftlichen Entdeckung des Psychischen bei den Sophisten führt hier auf den Zusammenhang von öffentlicher Überredung und Seele, Peitho und Psyche. Eine Quelle der bei Platon später begrifflich ausgearbeiteten und philosophiegeschichtlich äußerst erfolgreichen Grundunterscheidung des Psychischen und Somatischen bildet hier die methodische Beschäftigung der sophistischen Rhetoriker mit der von ihnen beobachteten rhetorischen Kausalität, die, anders als die physische Kausalität, keine primär körperliche, sondern seelische Veränderungen bewirkt. Während die ärztliche Kunst mit Medikamenten auf den Körper heilsam einzuwirken versteht, vermag die Redekunst durch den Logos gezielt die Seele der Menschen zu formen. Diese von den Sophisten entdeckte rhetorische Psychologie setzt sich in der Philosophie Platons fort und steigert sich dort zum Programm einer philosophischen Psychagogie. Entgegen weitverbreiteter Ansicht ist Platon als Philosoph keineswegs ein genereller Antirhetoriker. Er ist lediglich der Kritiker einer bestimmten Rhetorik, nämlich der sophistischen Rhetorik. Es sollte nicht übersehen werden, dass Platon neben seiner in der Tat vernichtenden Kritik der sophistischen Rhetorik – z. B. im Dialog Gorgias – dann im Pheidros eine eigene philosophische Rhetorikkonzeption entwickelt hat. Platons theoretische Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen einer philosophischen Rhetorik finden sich vor allem im Phaidros.3 Die theoretische Begründung der philosophischen Rhetorik, die sich im Phaidros inhaltlich vertritt, wird so durch die im Dialog dargestellte Redepraxis selbst plastisch vor Augen gestellt. Aus dieser nahtlosen retorsiven Übereinstimmung des propositionalen Gehaltes und des performativen Vollzuges entspringt die besondere persuasive Kraft und Glaubwürdigkeit dieses platonischen Dialoges. Der bestimmende Gesichtspunkt für Platons Entwurf einer philosophischen Rhetorik im Phaidros ist seine Idee der philosophischen Bildung. Im Unterschied zur Sophistik vertritt Platon dabei 2 3

Leontinoi: Reden, S. 11ff. Zur philosophischen Rhetorik im Phaidros s. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung.

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eine ›starke‹ Anthropologie, die den Menschen nicht als redetechnisch stabilisierbares, bloßes Meinungswesen, sondern als ein der Einsicht fähiges Vernunftwesen ansieht. Demgemäß hat die philosophische Rhetorik die Aufgabe, das im Menschen angelegte Vernunftpotential zu wecken und zu fördern. Sie soll jene von der philosophischen Bildung geforderte und im so genannten Höhlengleichnis vor Augen geführte, völlige ›Umkehr‹ (periagoge) der gesamten Seele bewerkstelligen, durch die der Mensch aus dem ›heillosen‹ Zustand seiner Gefangenschaft inmitten der gewöhnlichen Ansichten zur philosophischen Einsicht befreit werden kann. Platon greift dabei den gorgianischen Topos von der Analogie zur Medizin auf, wenn er nun auch seine eigene neue philosophische Rhetorik in die Analogie zur ärztlichen Kunst stellt. Es habe »dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst wie mit der Heilkunst«4. Wie die Medizin den kranken Körper des Menschen kunstmäßig durch Zuführung von Medikamenten heilen kann, so soll die philosophische Rhetorik die korrumpierte Seele durch Zuführung von Reden in ihrer ursprünglichen Bestform und Tugend wieder herstellen. Platon entwirft im Phaidros das Programm einer von den öffentlichen Ursprungsorten der sophistischen Rhetorik abgelösten psychagogischen Universalrhetorik. So definiert er die Redekunst als »eine Seelenleitung durch Reden, nicht nur in Gerichtshöfen und was sonst für öffentlichen Versammlung, sondern dasselbe auch im gemeinen Leben und im Kleinen sowohl als großen Dingen«5. Diese neue Universalrhetorik Platons erhebt einen infiniten Kompetenzanspruch sowohl in Hinsicht auf ihre Redengegenstände (›große und kleine Dinge‹) wie auch hinsichtlich ihrer lebensweltlichen Aufführungsorte (›öffentliches und privates Leben‹). Mit diesem universalen und ubiquitären Kompetenzanspruch überbietet die philosophische Rhetorik Platons sogar die Sophistik. Mit ihrer Hilfe hofft Platon, auch das kommunikative Grundproblem seiner Metaphysik, das in der rhetorischen Differenz zwischen den gewöhnlichen Weltansichten und der philosophischen Einsicht besteht, lösen zu können. Von daher stellt seine psychagogische Universalrhetorik das zentrale Werkzeug und Organon seiner philosophischen Bildungskonzeption dar. Mit ihrer Hilfe soll es möglich sein, die Seelen der Menschen aus ihrer endoxalen Gefangenschaft zu befreien und in Richtung der spekulativen Vernunfteinsicht zu führen. Das romantische Programm einer Potenzierung des menschlichen Selbst durch die transformierende Dynamis philo4 5

Platon: Phaidros, 270b. Platon: Phaidros, 261af.

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sophischer Rhetorik erweist sich somit in der Platonischen Philosophie vorgebildet. Das antike Vorbild für die moderne philosophische Rhetorik der romantischen Philosophen stellt vor allem Sokrates dar, der in der DialogLiteratur Platons als Mediator und Pyschagoge die philosophischen Transformationsprozesse rhetorisch initiiert und begleitet. Dabei hatte schon Platon im Phaidros betont, dass die leibhafte Konpräsenz des Lehrenden sowie die Unmittelbarkeit seiner »lebendige(n) und beseelte(n) Rede«6 sich nicht medial durch die Schrift substituieren lasse. Das geschriebene Wort sei lediglich ein ›Schattenbild‹ der mündlichen Rede, das zudem der Willkür seiner Interpreten willkürlich ausgeliefert ist. Auf die naheliegende Frage, wie Platon angesichts dieses Vorzugs der Mündlichkeit seine eigene Dialogliteratur verstehe, findet sich im Phaidros folgende scherzhaft-ironische Antwort: Sie sei lediglich ein nicht mit vollem Ernst, sondern nur des Spieles wegen angelegtes »Schriftgärtchen«7, wenn er schreibe, so, um im vergesslichen Alter einen Vorrat von Erinnerungen zu besitzen. Ansonsten besäße der Lernende der literarisierten Philosophie lediglich eine ›Spur‹ der philosophischen Erkenntnis, der er nachgehen könnte. 1.2 Fichtes popularphilosophische Rückeroberung der politischen Öffentlichkeit Fichtes Berliner Vorlesungszyklus (1804–1808), zu denen seine popularphilosophischen Vortragsreihen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, der Anweisung zum seligen Leben und die Reden an die deutsche Nation zählen, bilden einen Kulminationspunkt romantischer Transformationsrhetorik. Das antike Vorbild platonischer Psychagogie verbindet sich hier mit dem rhetorischen Impuls der Französischen Revolution, die den realgeschichtlichen Einfluss politischer Rede überaus erfolgreich vorexerzierte und mit der programmatischen Kraft von Kants Idee einer ›Revolution der Denkart‹, die, über die bloße Schulphilosophie hinausgehend, letzten Endes auf nicht weniger als eine neue menschheitliche ›Kultur der Vernunft‹ abzielte. Insbesondere in öffentlichen Berliner Vorlesungszyklen verwandelt der philosophische Gelehrte Fichte sein Katheder zur »Rednerbühne«8 und den Hörsaal zum Inszenierungsort seiner philoso6 7 8

Platon: Phaidros, 276a. Platon: Phaidros, 276d. Riedel: Öffentliche Rede, S. 214.

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phischen Transformationsrhetorik, um das romantische Projekt einer Erneuerung der zeitgenössischen Kultur voranzutreiben. Seiner popularphilosophischen Rede gelingt es dabei tatsächlich, wie das Beispiel der Reden an die deutsche Nation beweist, aus dem esoterischen Zirkel der Transzendentalphilosophie auszubrechen und im exoterischen Raum der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit eine folgenreiche Wirkung zu entfalten. Fichtes metaphilosophisches Konzept seiner philosophischen Rhetorik nimmt bei einer kritischen Reflexion des kontingenten Verhältnisses von reiner Vernunft und realer Tatbegründung seinen Ausgang. Sie führt zu der kritischen Erkenntnis, dass die rein theoretische Begründung und Rechtfertigung des praktischen Wissens keineswegs schon eine notwendige Beziehung zur realgeschichtlichen Tatbegründung führt. Bloßes Wissen ohne persönliche Überzeugung und persuasive Selbsttransformation führt in der Regel eben nicht zur Änderung des eigenen Handlungsstils. Es ist diese rhetorische Differenz zwischen reiner Vernunft und realgeschichtlicher Tatbegründung, die Fichte zu seiner Konzeption einer philosophischen Transformationsrhetorik führt. In ihr potenziert sich die Transzendentalphilosophie seiner Wissenschaftslehre als reine Vernunftwissenschaft zu einer geschichtsbestimmenden Vernunftkunst, die es vermag, weltgestaltend in die geschichtliche Wirklichkeit einzugreifen Diese Eingebundenheit der philosophischen Theorie in das allumfassende Projekt der Menschheit hat Fichtes romantisches Philosophieren von Anfang an bestimmt. Immer wieder hat Fichte sich in seinen metaphilosophischen Reflexionen über die Rolle des Gelehrten in der Gesellschaft mit dem Problem der öffentlichen Lehrbarkeit seiner Wissenschaftslehre beschäftigt. Ein Beispiel dafür sind seine öffentlichen Vorlesungen Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, die er im Jahre 1805 an der Universität Erlangen gehalten hat. Demnach spielt der Gelehrte die wichtige Rolle des rhetorischen Mediators, der die philosophischen Ideen durch seine Vorlesungs- und Vortragskunst seinem Publikum vermittelt. Anknüpfend an die Platonische Schriftkritik soll dieses nicht nur in schriftlich vermittelter Form, sondern vor allem in der kommunikativen Unmittelbarkeit des mündlichen Vortrags, sei er akademischer oder öffentlicher Vorlesungen, geschehen. Dabei besitzt auch Fichtes philosophische Kunst der Darstellung und Mitteilung philosophischer Ideen einen ausgesprochen menschenbildenden, psychagogischen Charakter, der nach der Generalregel der rhetorischen Angemessenheit (aptum) Rücksicht auf die jeweilige Disposition ihrer Rezipienten nimmt. Die interpersonale 174

Psychagogie des lehrenden Philosophen, der sein Publikum von seinen philosophischen Ideen überzeugen will, soll demnach »in diesem Geschäfte Rücksicht auf die zu bildenden Menschen, den Standpunkt ihrer Bildung und ihre Bildsamkeit überhaupt«9 nehmen. Auch in diesem Punkt weiß sich Fichte wiederum mit dem klassischen philosophischen Psychagogie-Modell Platons einig, der schon im Phaidros ebenfalls betont hatte, dass die rhetorische ›Seelenführung durch Rede‹ jeweils angemessen zu »der Seele Arten«10, mit der sie es jeweils zu tun hat, zu vollführen sei. Von daher betont Fichte, dass »ein Wirken in diesem Fache Werth hat, nur, inwiefern es gerade auf diejenigen passet, auf die es berechnet ist, und auf keine anderen«11. Die persuasiv wirksame philosophische Seelenführung setzt somit die ständige Rücksichtnahme des Gelehrten auf die Situations- und Adressatenangemessenheit seiner Rede voraus. Fichtes ausführliche Schilderung des idealen philosophischen Psychagogen, der die rhetorische Generalregel der Angemessenheit, in jeder Situation und vor jedem Publikum zu wahren versteht, lässt diesen geradezu als Virtuosen des Lehrvortrags erscheinen: »Der akademische Lehrer hat den Beruf, nicht nur überhaupt die Idee, in dem Einen und vollendeten Begriffe, in dem er sie erblickt, so wie der Schriftsteller, mitzutheilen; sondern er muß sie auf das mannigfaltigste gestalten, ausdrücken und kleiden, um in irgend einer dieser zufälligen Hüllen sie an diejenigen, nach deren gegenwärtiger Bildung er sich zu richten hat, zu bringen. Er muß daher die Idee nicht bloß überhaupt, er muß sie in einer großen Lebendigkeit, Beweglichkeit und innerer Wendbarkeit und Gewandtheit besitzen: … die vollendete Fähigkeit und Fertigkeit, in jeder Umgebung den Funken der sich zu gestalten beginnenden Idee anzuerkennen, immer das geschickteste Mittel zu finden, um gerade diesem Funken zu vollkommnem Leben zu verhelfen, allenthalben und in jedem Zusammenhange anzuknüpfen wissen dasjenige, worauf es eigentlich ankommt.«12 An dieser Stelle, die dem philosophischen Lehrer die Fähigkeit zu einer geradezu unendlichen Varianz seiner Ausdrucks- und Darstellungsformen abverlangt, wird der innere Zusammenhang von philosophischer Psychagogie und Rhetorik noch besonders deutlich: Das Gelingen philosophischer Selbsttransformation und die redepraktische Vermittlung von Vernunft und Leben ist wesentlich von der rhetorischen Kompetenz und Gewandtheit des philosophischen Lehrers abhängig. Dabei beabsichtigt 9 10 11 12

Fichte: GA 1,8,125. Platon: Phaidros, 271b. Fichte: GA 1,8,125. Fichte: GA 1,8,130.

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Fichtes Forderung nach einer tendenziell infiniten Vielfalt philosophischer Ausdrucksformen nicht ein von der Lebenspraxis abgelöstes sprachkünstlerisches Virtuosentum. Ihn leitet nicht so sehr das ästhetische Interesse an der inneren stilistischen Formvollendung philosophischer Rede, sondern das psychagogische Bildungsinteresse an einer jeweils angemessenen und deshalb persuasiv wirksamen Mitteilungsform der Idee. Der akademische Lehrer soll zwar ›eine Unendlichkeit von Formen besitzen‹ aber es kommt ihm »nicht darauf an, daß er die vollkommene Form finde, sondern daß er die in jedem Zusammenhange passendste finde«13. Im Unterschied zur philosophischen Idee befindet sich das geschichtliche Leben in einer ständigen Wandlung und mit ihm die jeweils zeitgemäßen sprachlichen Mitteilungsformen. Die lehrhafte Anwendung ist allein schon deshalb innerhalb der Geschichte unabschließbar, weil sie immer in neuer Gestalt formuliert werden muss, um wirksam sein zu können. »Es folgt aus dieser von dem akademischen Lehrer zu fordernden Gewandtheit in der Gestaltung der Idee noch eine neue Forderung an ihn – diese, daß seine Mittheilung stets neu sey, und die Spur des frischen und unmittelbar gegenwärtigen Lebens trage. Nur das unmittelbar lebendige Denken belebt fremdes Denken, und greift ein in dasselbe: eine veraltete und todte Gestalt, sey sie auch vorher noch so lebendig gewesen, muß erst durch den andern und seine eigne Kraft wieder in das Leben gerufen werden.«14 Dieses Zitat verdeutlicht auch, wie sehr Fichte die Lehre an das lebendige Denken des Lehrers und den denkenden Mitvollzug der Hörer gebunden hat. Die ständige Erneuerung der sprachlichen Ausdrucksformen bedeutet dabei keine vom Denkvollzug abgelöste nachträgliche Stilisierung durch die rhetorische Ausdruckskunst (elocutio). Sie gründet in der Lebendigkeit des genetischen Denkstils, der seinen Gegenstand nicht nur historisch aufgreift, sondern ihn immer wieder neu zu erfinden und darzustellen versucht. Insofern philosophische Lehre derart Neuerfindung, eine Art schöpferischer Re-inventio der Idee ist, enthält schon die Denktätigkeit des Lehrers eine variantenreiche Lebendigkeit, die sich von selbst seiner Redetätigkeit und vermittels ihrer schließlich auch seinen Hörern mitteilt. Dass die Rede in der Lebendigkeit des Denkens gründet, dessen vivifizierende Kraft sich auch auf ihre Zuhörer überträgt, bildet nach Fichte geradezu die Möglichkeitsbedingung ihrer Wirksamkeit auf andere. Für diese rhetorische Übertragung gilt die alte Regel, das Ähnliches nur durch Ähnliches bewirkt werden kann (similia similibus). Nur das unmit13 14

Ebd. Ebd.

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telbar lebendige Denken des Lehrers kann das Denken der Hörer beleben und somit in das geschichtliche Leben eingreifen. Das Eingreifen der Idee ins Leben anderer setzt wiederum die Ergriffenheit des philosophischen Lehrers voraus: »er muß die Idee kennen, sie ergriffen haben, und von ihr ergriffen sein«15. Dass das Ethos und die Persönlichkeit des Redners für die Überzeugungskraft seiner Rede eine wichtige Bedeutung besitzt, lehrt schon die klassische Rhetorik.16 Das Ethos ist neben der Sachdarstellung und dem Pathos eine der drei großen Quellen für die rhetorische Erzeugung von Glaubwürdigkeit und Überzeugung. Die Persönlichkeit des Gelehrten spielt deshalb eine mitentscheidende Rolle bei den persuasiven Transformationsprozessen philosophischer Lehre. Deshalb lautet ein Fichtescher Imperativ, dass der Gelehrte selbst das lebendige Exemplum seiner Lehre darstellen und sie so performativ durch seine eigene Person beglaubigen solle: »… lehre er nicht bloß durch Worte, sondern durch die That: sey er selbst das lebendige Beispiel und die ununterbrochene Erläuterung desjenigen Satzes, den er ihnen zum Leiter ihres ganzen Lebens geben will.«17 Neben diesem ethologischen Moment der persönlichen Glaubwürdigkeit des Gelehrten kommt mit dem adressatenbezogenen pathelogischen Aspekt des Affektiven auch das zweite, über die rein kognitive Sachdarstellung hinausgehende Quelle interpersonaler Überzeugung zum Tragen. Anhand zahlreicher Passagen aus den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters, der Anweisung zum seligen Leben und den Reden an die deutsche Nation, in denen Fichte selbst seine öffentliche Redepraxis reflektiert, lassen sich zudem Grundzüge einer Theorie öffentlichen Vernunftgebrauchs gewinnen, in dem wiederum die affektive ›Ergriffenheit‹ der Adressaten ein wichtiges Mittel zur Beglaubigung vom philosophischen Lehrer vorgeschlagenen philosophischen Begrifflichkeit bildet. Eine Schlüsselstelle für das Verständnis dieser philosophischen Affektrhetorik bildet zweifellos die Zweite Vorlesung der Anweisung zum seligen Leben, in der Fichte im Anschluss an Jacobi und die Schottische Schule des Common Sense seine Lehre von den vernunftgewirkten Evidenzgefühlen des ›natürlichen Wahrheitssinns‹ entwickelt. Zunächst betont Fichte, dass auch der popularphilosophische Vortrag in inhaltlicher Hinsicht keineswegs oberflächlich ist und prinzipiell dieselbe inhaltliche Tiefe und Gründlichkeit aufweist wie die streng wissen15 16 17

Fichte: GA 1,8,129. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hg. v. Christof Rapp, 1. Halbb., Berlin 2002, 1356a. Fichte: GA 1,8,128.

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schaftliche Vorlesung. Der populäre Vortrag will durchaus auch ›die tiefste Metaphysik und Ontologie‹ und dieselben elementaren ›Grundwahrheiten‹ darstellen wie die szientifische Vorlesung. Dazu will er auf der einen Seite die ›künstliche und systematische Entwicklung‹ des szientifischen Vortrags vermeiden, der vor dem Hintergrund des rhetorischen Gegensatztopos von Kunst (ars) und Natur (natura) als ein schwer nachvollziehbares, artifizielles Unternehmen erscheint. Auf der anderen Seite will der populäre Vortrag aber durchaus den positiven Wahrheitsgehalt der philosophischen Lehre vollständig zur Geltung bringen. Seine Differenz zum szientifischen Vortrag besteht nach Fichte nämlich nur im Verzicht auf das künstliche, wissenschaftliche Verfahren der umständlichen diskursiven Gewissheitssicherung durch die dialektische Widerlegung des Irrtums. Die vorwissenschaftliche Evidenz des natürlichen Wahrheitssinns und seines intuitiven Evidenzgefühls bildet ferner nicht nur die positive Grundlage der redepraktischen Durchsetzung der Philosophie im populären Vortrag. Als heuristisches und erkenntnisleitendes Inventionsprinzip liegt sie – wie Fichte betont – auch der wissenschaftlichen Philosophie selbst zugrunde. »Nun ist es offenbar, daß der Philosoph, schon vor diesem seinem Beweise, und um denselben auch nur entwerfen und anheben zu können, somit unabhängig von seinem künstlichen Beweise, die Wahrheit schon haben und besitzen müsse. Wie aber konnte er in den Besitz derselben kommen, außer von dem natürlichen Wahrheitssinne geführt; welcher, nur mit einer höhern Kraft, als bei seinen übrigen Zeitgenossen, bei ihm heraustritt; somit, auf welchem andern Wege erlangt er sie zuerst, außer auf dem kunstlosen, und populären Wege?«18 Auch die genetische Evidenz wissenschaftlicher Philosophie bleibt somit in der faktischen Evidenz des vorwissenschaftlichen Lebens fundiert. Die wissenschaftliche Konstruktion bedarf der Leitung des natürlichen Wahrheitssinns, wenn ihre Systematik nicht bloß ein Produkt willkürlicher Reflexion sein soll. Insofern sich auch der Philosoph im Entwurf seines Beweisgangs vom natürlichen Wahrheitssinn leiten lassen muss, gewinnt der populäre Weg vorwissenschaftlicher Wahrheitsfindung eine grundlegende Bedeutung auch für die wissenschaftliche Philosophie: Das Populäre folgt dem wissenschaftlichen System als dessen lebenspraktische Anwendung nicht nur nach, sondern geht der wissenschaftlichen Philosophie auch voraus. Dieser Betonung des fundamentalen Charakters des natürlichen Wahrheitssinns und des populären Wegs liegt Fichtes lebensphilosophische 18

Fichte: FW 2,361.

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Überzeugung zugrunde, dass die wissenschaftliche Philosophie als abstrakte Reflexionsform aus dem Leben hervorgeht und schließlich wieder in es hineinführt. Dabei wird vor dem Hintergrund der schon von Cicero in seiner Topik getroffenen Unterscheidung von Erfindung (inventio) und Beurteilung (iudicium) das vorwissenschaftliche Leben als Bereich der ursprünglichen Erfindung der Wahrheit durch den ›Vernunftinstinkt‹ und die philosophische ›Vernunftkunst‹ als Ort ihrer Verdeutlichung, reinigenden Kritik und Rechtfertigung bestimmt. Die Vernunftkunst dient somit lediglich zur Gewissheitssicherung ursprünglicher Wahrheit, die sich in intuitiver Form schon im Evidenzgefühl des natürlichen Wahrheitssinns mitteilt. Der natürliche Wahrheitssinn bildet die anthropologische Voraussetzung, auf den die Fichtesche Konzeption einer philosophischen Rhetorik aufbaut. Er ist das intuitive Organ der Empfänglichkeit für alle Vernunft, das jeder philosophische Redner beim Hörer voraussetzen muss. »An diesen natürlichen Wahrheitssinn nun, … wendet der populäre Vortrag sich unmittelbar, ohne noch etwas anderes zu Hülfe zu ziehen; rein und einfach aussprechend die Wahrheit, und nichts, als die Wahrheit, wie sie in sich, keinesweges, wie sie dem Irrtume gegenüber, ist; und rechnet auf die freiwillige Beistimmung jenes Wahrheitssinnes.«19 Der öffentliche Vortrag führt durch seine direkte Thematisierung zur Aktualisierung der im natürlichen Wahrheitssinn potenziell angelegten Grundwahrheiten und rechnet dabei auf die freie Zustimmung der Hörer aufgrund ihres Evidenzgefühls. Diese Annahme eines natürlichen Wahrheitssinns, eines ihm korrelierenden Evidenzgefühls und die Überzeugung, dass alle Philosophie in einem Wahrheitsgefühl gründet, sind keine völlig neuen Motive des Fichteschen Denkens. Schon in seiner frühen programmatischen Abhandlung Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) findet sich die Anmerkung, »dass der Philosoph der dunklen Gefühle des Richtigen oder des Genie in keinem geringeren Grade bedürfe, als etwa der Dichter oder der Künstler; nur in einer andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits-, jener des Wahrheits-Sinnes, dergleichen es allerdings giebt.«20 Die eigentliche Aufgabe der Philosophie besteht somit in der Erneuerung der schon im Vernunftinstinkt gegebenen ursprünglichen Wahrheit – jedoch auf einem neuen reflexiven und methodischen Niveau. Ihre artifizielle Leistung liegt nicht in der materialen Findung der Wahrheit, sondern deren formaler Rechtfertigung: »… die sich selbst schlechthin durchsichti19 20

Ebd. Fichte: GA 1,2,143.

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ge Kunst des Philosophierens darf keinen Schritt tun, ohne zugleich die Gründe anzugeben, warum sie also einherschreitet.«21 Die Wiederholung der ursprünglichen Wahrheit in der freien und sich selbst transparenten Form der wissenschaftlichen Gewissheit ist die Aufgabe der Philosophie als Vernunftwissenschaft. Der popularphilosophische Vortrag, der an den natürlichen Wahrheitssinn und die intuitiven Vernunftgefühle seines Publikums appelliert, versteht sich somit keineswegs als ein bloß technisches und äußerliches Verfahren zur Herstellung öffentlicher Zustimmung, sondern als ein erinnernder Anstoß zur Erweckung des im menschlichen Gemüt apriori angelegten und sich unmittelbar affektiv artikulierenden ursprünglichen Vernunftpotentials. In diesem mäeutischen und anamnetischen Grundzug erweist sich die Fichtesche Rhetorik wiederum den Platonischen Dialogen verwandt. Dennoch unterscheidet sich die Popularphilosophie Fichtes durch ihre moderne persuasive Infinitisierungstendenz von ihrem antiken Vorbild. Fichtes romantischer Transformationsrhetorik geht es, wie insbesondere die Reden an die deutsche Nation zeigen, darum, den Platonischen Rückzug der Philosophie aus der politischen Lebenswelt umzukehren. Seine Popularphilosophie will wieder aus dem esoterischen, akademischen Zirkel der Schulphilosophie ausbrechen, um das exoterische Forum der politischen Öffentlichkeit für die Philosophie zurückzugewinnen. Diese über den akademischen Bereich hinausgehende Progression seiner romantischen Transformationsrhetorik kann als moderner Versuch einer philosophischen Rückeroberung der lebensweltlichen Öffentlichkeit gedeutet werden. Dieser externen Infinitisierungstendenz, die auf die Rückeroberung des externen Forums der politischen Öffentlichkeit abzielt, korreliert ferner eine in die entgegengesetzte Richtung laufende, interne Infinitisierungstendenz romantischen Philosophierens. Durch diese in die Innerlichkeit moderner Subjektivität hinein drängende Parallelexpansion romantischer Transformationsrhetorik versucht sie gerade auch das interne Forum des individuellen Selbstbewusstseins als rhetorisches Szenarium philosophischer Selbsterfindung zu erschließen.

21

Fichte: FW 2,86.

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1.3 Innere Unterredungskunst. Schellings ›eigentliches philosophisches Geheimnis‹ Diese Internalisierungstendenz romantischer Transformationsrhetorik besteht darin, den inventiven Prozess philosophischer Selbsterfindung vom externen Forum des philosophischen Lehrgesprächs, welche die Sokratischen Dialoge plastisch vor Augen führt, in das interne autopersuasive Forum des philosophischen Selbstbewusstseins hinein zu verlegen. Hier ist es vor allem Schelling, der insbesondere in seinem Weltalter-Fragment aus dem Jahre 1813 ein Modell ›innerer Unterredungskunst‹ entwickelt, das sich, ausgehend von der bereits erwähnten integrativen Anthropologie seiner Stuttgarter Privatvorlesungen, wie folgt erläutern lässt. Bereits hier, in den Stuttgarter Privatvorlesungen, hatte Schelling die geistige Gesamtnatur des Menschen durch eine Dreifachheit von intrapersonalen Potenzen beschrieben. »Diese drei Seiten oder Potenzen des Geistes im Allgemeinen sind in der deutschen Sprache vortrefflich durch Gemüth, durch Geist und durch Seele bezeichnet.«22 Damit entwirft Schelling eine dreistellige anthropologische Tropologie der menschlichen Gesamtnatur, welche gegenüber dem Rationalismus der Aufklärung das »Unmittelbare und Andere zur Vernunft«23 im Menschen aufwertet und neben seiner frühen Naturphilosophie eine weitere romantische Quelle der modernen Tiefenpsychologie bildet. Ähnlich wie in Fichtes Lehre vom unmittelbaren Wahrheitssinn geht es auch Schelling dabei um die Rehabilitierung des intuitiven Wissens in der Philosophie. Der freie und selbstbewusste Geist des Menschen, sein Ich, der das rationale Zentrum seiner Persönlichkeit bildet, wird demnach gleich mit einer doppelten Alterität konkurrierender intrapersonaler Potenzen konfrontiert, dem Gemüt und der Seele, die sich als die beiden gleichsam dunklen Zonen der menschlichen Persönlichkeit seiner diskursiven Verfügungsmacht entziehen. Das reflektierende, individuelle Ich sieht sich somit in die Mitte zwischen zwei ihm zunächst fremde intuitive Wesensmächte gestellt. Das Unterbewusste des Gemüts bildet dabei das Alter Ego seiner triebhaft, affektiven Natur und das Überbewusste der Seele jenes, die ihn mit dem Übernatürlichen oder Göttlichen verbindet. Innerhalb dieser dreistelligen anthropologischen Tropologie stellt nun die Seele aufgrund ihres intuitiven Bezuges zum göttlichen Wissen die 22 23

Schelling: SW 7,465. Odo Marquardt: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S. 4.

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dritte und höchste Potenz des Menschen dar. Die Pointe der spekulativen Seelenlehre Schellings besteht also darin, dass die Seele als die höchste rein intuitive Potenz der menschlichen Person gerade in ihrem überindividuellen und deshalb ›unpersönlichen‹ Charakter, ein geradezu göttliches Ingenium im Menschen bildet: »Die Seele ist das eigentlich Göttliche im Menschen, also das Unpersönliche.«24 Gerade in dieser ›unpersönlichen‹ und überindividuellen Seite des Seelischen liegt für den Spätromantiker Schelling nun das göttliche Urwissen in der intuitiven Form reflexionsloser UrWissenschaft verborgen. Der spekulative Topos der göttlichen Sophia, der in der Tradition der Philosophia perennis die von der Philosophie immer wieder gesuchte göttliche Weisheit darstellt, gewinnt hier beim spätromantischen Schelling eine durch die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie hindurchgegangene moderne Reformulierung.25 In seiner Weltalter-Philosophie baut Schelling diese spekulative Psychologie seiner Stuttgarter Privatvorlesungen weiter aus. Wiederum betont Schelling, dass die »menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung«26 besitzt. Die Seele ist somit das ›innere Organ‹ des Menschen für das Absolute. Die Invention des absoluten Wissens setzt somit nicht in der Empirie der objektiven Außenwelt, sondern in der inneren, seelischen Tiefendimension der menschlichen Person an, in der das göttliche Urwissen in einer Art ›transzendentalem Gedächtnis‹27 verborgen liegt. Der Romantiker Schelling vertritt hier eine starke anthropologische MemoriaTheorie, dergemäß die Invention der Philosophie als spekulativer Wissenschaft in der Form der Anamnese eines vom Alltagsbewusstsein zumeist überlagerten und verdrängten transzendentalen Urgedächtnisses geschieht. Dass es sich hier um eine moderne Reprise der Platonischen AnamnesisLehre handelt, wird von Schelling hierbei ausdrücklich betont. »Was wir Wissenschaft nennen, ist nur erst Streben nach dem Wiederbewußtwerden, also mehr noch ein Trachten nach ihr, als sie selbst; aus welchem Grund ihr unstreitig von jenem hohen Manne des Alterthums der Name Philosophie beigelegt worden ist.«28 In Schellings literarischer Darstellung des visuell-eidetischen Charakters dieses transzendentalen Gedächtnisses als eines ›verdunkelten Bildes‹ treffen wir zudem wieder auf seine romantische 24 25 26 27

28

Ebd. Vgl. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, insb. S. 702ff. Schelling: SW 8,200. Zum Methodenstil und zum Theorem des transzendentalen Gedächtnisses in den Weltaltern s. meine Interpretation in: Philosophie, Mythos und Lebenswelt, S. 131ff. Schelling: SW 8,201.

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Helldunkel-Metaphorik. »Es ruht in diesem die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrer Bedeutung. Aber dieses Ur-Bild der Dinge schläft in der Seele als ein verdunkeltes und vergessenes, wenn gleich nicht völlig ausgelöschtes Bild.«29 Das transzendentale Gedächtnis wird hier zunächst im Platonischen Sinne als verdunkeltes ›Ur-Bild‹ gefasst, das gleichsam als ein in der menschlichen Subjektivität ruhender ›dunkler Grund‹ die Basis für den anamnetischen Prozess der Selbsterfindung der Philosophie als spekulativer Wissenschaft abgibt. Auch der anamnetische Prozess selbst, die innere Dramatik der philosophischen Selbsterfindung, in der sich die Genese des philosophischen Wissens mit der Autogenese des philosophischen Selbst verbindet, gestaltet sich nach dem Vorbild der rhetorischen Psychagogie Platons als eine ›Art Seelenführung durch Rede‹. Sie vollzieht sich nach Schelling ebenfalls in der dialogischen Form eines Frage-Antwort-Spiels, das sich allerdings nicht auf dem äußeren Forum des Sokratischen Dialogs, sondern auf dem inneren Forum des philosophischen Selbstbewusstseins abspielt. Das dialogische Frage-Antwort-Spiel der philosophischen Anamnesis wird hier von Schelling vom externen Forum des Sokratischen Dialogs in das interne Forum des einsamen philosophischen Forschers hineinverlegt. »Es ist also im Menschen eines, das wieder zur Erinnerung gebracht werden muß, und ein anderes, das es zur Erinnerung bringt; eines, in dem die Antwort liegt auf jede Frage der Forschung, und ein anderes, das diese Antwort aus ihm hervorholt; dieses andere ist frei gegen alles und vermag alles zu denken, aber es wird durch jenes Innerste gebunden, und kann ohne die Einstimmung dieses Zeugen nichts für wahr halten.«30 Diese Internalisierung folgt hier nicht mehr nur dem antiken Vorbild Platons, sondern auch der von Descartes ausgehenden Tendenz der neuzeitlichen Transzendentalphilosophie, das interne Forum des meditierenden Ich zum eigentlichen Inszenierungsort philosophischer Wahrheits- und Gewissheitsfindung zu machen.31 In dem von Schelling hier vorgestellten Modell philosophischer Autokommunikation gestaltet sich die anamnetische Genese des spekulativen Wissens nach der Art eines rhetorischen Überzeugungsprozesses.32 Die 29 30 31

32

Schelling: SW 8,200. Schelling: SW 8,201. s. Peter L. Oesterreich: »Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego«. In: Rhetorik 21 (2002), S. 37– 48. Vgl. Christian Schorno: Autokommunikation, Selbstanrede als Abweichungsbzw. Parallelphänomen der Kommunikation, Tübingen 2004.

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inventive Potenz des transzendentalen Gedächtnisses und die alle möglichen Hypothesen bildende Potenz des forschenden Denkens treten dabei in einen interaktiven, dialogischen und persuasiven Prozess ein, aus dem das spekulative Wissen in der Form eines durch Überzeugung begründeten ›Für-wahr-Haltens‹ entspringt. Dabei nimmt Schelling die etymologische Bedeutung des deutschen Wortes ›Überzeugen‹ auf, was so viel heißt wie ›durch Zeugen überführen‹33, wenn er hier betont, dass das forschende Denken des Philosophen auf das Zeugnis seines transzendentalen Gedächtnisses angewiesen ist. Ohne die ›Einstimmung dieses Zeugen‹ vermag es seinen rein hypothetischen Charakter nicht zu überwinden und sich zur Wissenschaft zu erheben. Die Weltalter wiederholen damit die schon in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen hervorgehobene Genese menschlicher Vernunft, die als potenzierter Verstand, aus der freiwilligen Bezugnahme seiner diskursiven Rationalität auf das intuitive Wissensfundament des Seelischen hervorgeht. Darüber hinausgehend stellt Schelling hier in den Weltaltern nun auch die interne Rhetorizität dieses Prozesses heraus. Demnach bildet für Schelling die interne Rhetorik des einsamen, lautlosen, inneren Dialogs den eigentlichen Ursprungsort seines romantischen Philosophierens. Konkret entspringt die Genese spekulativer Wissenschaft aus der rhetorischen Differenz zwischen den beiden an der dialogischen Interaktion beteiligten intrapersonalen Potenzen: einerseits der fragenden Reflexivität des diskursiven Forschergeistes und andererseits dem antwortenden, intuitiven Ingenium der Seele. Dabei bildet die »Ahndung und Sehnsucht nach Erkenntnis«34 das pathelogische Movens der interaktiven Dramatik jenes inneren Dialogs. Für sich allein genommen enthält nämlich das seelische Ingenium noch kein artikuliertes Wissen, sondern bildet lediglich die Quelle einer sprachlich noch unfasslichen und begrifflich undifferenzierten Ur-Intuition, in der für Schelling nach Analogie der theosophischen Zentralschau Jacob Böhmes, zunächst »alles ohne Unterscheidung, zumal, als Eins«35 liegt. Erst unaufhörlich »angerufen«36 von den sehnsüchtigen Fragen des alle denkbaren Hypothesen bildenden, suchenden Forschergeistes bewegt, nimmt diese zunächst unfassliche Ur-Intuition in der Form des inneren Dialogs eine diskursive und verständliche Form an, »damit es selbst ein an-

33 34 35 36

Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 938. Ebd. Schelling: SW 8,201. Ebd.

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deres habe, in welchem es sich beschauen, darstellen und sich verständlich werden könne«37. Die kunstvolle Inszenierung dieses inneren Forschungsgesprächs, aus dem nach Schelling die Selbsterfindung der Philosophie als spekulativer Wissenschaft resultiert, setzt allerdings die ungewöhnliche Operation einer spannungserzeugenden Selbstpolarisierung voraus, die Schelling als ›Selbstverdopplung‹ philosophischer Subjektivität beschreibt: »Diese Scheidung, diese Verdopplung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwei Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes, ein unwissendes, das aber Wissenschaft sucht, und ein wissendes, das aber sein Wissen nicht weiß, dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst, das eigentliche Geheimnis des Philosophen, ist es, von welcher die äußere, darum Dialektik genannt, das Nachbild, und wo sie zur bloßen Form geworden, der leere Schein und Schatten ist.«38 Das ›eigentliche Geheimnis des Philosophen‹, das Schelling hier seinem Publikum enthüllt, besteht somit in seiner ›inneren Unterredungskunst‹, die eine kunstvolle Selbstpolarisierung in die beiden gegensätzlichen interaktiven Instanzen voraussetzt, die das ›stille Gespräch‹ seines inneren Dialogs erst ermöglicht. Erst die kunstvolle ›Selbstverdopplung‹ und Selbst-Polarisierung des philosophischen Subjekts lässt jene innere Spannung entstehen, die sich dann im ›geheimen Verkehr‹ der inneren Unterredungskunst produktiv entlädt. Mit dem philosophischen ›Geheimnis‹ dieser inneren Unterredungskunst hat Schelling in seinen Augen den persönlichen Ursprungsort aller authentischen philosophischen Erkenntnis freigelegt. Das Innere der schöpferischen Persönlichkeit des Philosophen selbst und die Hermetik seiner internen Rhetorik stellt sich hier als die primäre Quelle aller philosophischen Wissenschaft heraus. Insofern das dialogische Innenleben der Forscherpersönlichkeit derart zum inventiven Ursprungsort philosophischer Erkenntnis erhoben wird, erscheinen die externen Formen des mündlichen und schriftlichen Philosophierens lediglich abgeleitet und sekundär. Angesichts der Originalität der inneren Unterredungskunst relativieren sich für Schelling selbst die überlieferten Platonischen Dialoge zu einem bloßen ›Nachbild‹ seiner inneren Unterredungskunst und schon gar die dialektische Systemphilosophie Hegels zum Zerrbild »einer leeren und begeisterungslosen Dialektik«39.

37 38 39

Schelling: SW 8,200f. Schelling: SW 8,201. Schelling: SW 8,203.

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Rückblickend auf die Weltalter stellt sich Schellings ›philosophisches Geheimnis‹ als eine starke Theorie kreativer philosophischer Subjektivität heraus, in deren Zentrum mit der inneren Unterredungskunst ein Modell interner philosophischer Rhetorik steht.40 Zwar findet sich die Anlage zum inneren Selbstgespräch mehr oder weniger bei jedem Menschen; aber das eigentliche philosophische Geheimnis Schellings besteht in ihrer artifiziellen Steigerung zur rhetorischen Kunstform einer kreativen philosophischen Technologie des Selbst.41 In seinen Erlanger Vorlesungen hat Schelling die personinterne Dramatik der Selbstdifferenzierung des Philosophierenden in entgegengesetzte Persönlichkeitsanteile, die dann als imaginative Protagonisten des internen Dialogs interagieren, näher dargestellt. Die Geburt des philosophischen Selbst als Subjekt innerer Unterredungskunst geschieht demnach in einer von ihm selbst bewusst herbeigeführten inneren »Krisis«42, welche die vorher indifferent sich überlagernden personinternen Potenzen gegeneinander frei setzt, polarisiert und aktiviert und so den ›geheimen Verkehr‹ der inneren Unterredungskunst initiiert. Schellings philosophisches Geheimnis besteht damit am Ende in der inneren rhetorischen Selbstkultivierung philosophischer Subjektivität, die durch methodische ›Selbstverdopplung‹ der eigenen Persönlichkeit jene interne rhetorische Differenz antithetischer intrapersonaler Instanzen hervortreten lässt, deren Spannungsverhältnis den dialogischen Prozess schöpferischer Autopersuasion induziert. Das Ideal des selbstschöpferischen romantischen Philosophen, das Schelling hier entwirft, besitzt durch die ingeniöse Kunst seiner inneren ›Selbstverdopplung‹ wiederum eine unverkennbare Affinität zu F. Schlegels frühromantischem Ideal eines Pluralismus’ der Persönlichkeit. Die antithetische und duplizitäre Spur der Figur frühromantischer Ironie lässt sich somit bis in Schellings spätromantisches Geheimnis der inneren Unterredungskunst hinein verfolgen. An den beiden Beispielen Fichte und Schelling wird deutlich, dass die moderne, infinite Expansionstendenz der romantischen Transformationsrhetorik die akademisch fokussierte der philosophischen Rhetorik Platons gleich in zwei extrem entgegengesetzte Direktionen überschreitet, nämlich einerseits durch ihre popularphilosophische Externalisierung in Richtung auf die außerakademische politische Öffentlichkeit und andererseits durch ihre Internalisierung in die Gegenrichtung einer rhetorischen Selbstkulti40 41 42

Zum Begriff der internen Rhetorik vgl. Jean Nienkamp: Internal Rhetorics. Toward a History and Theory of Self-Persuasion, Carbondale/Edwardsville 2001. Zum Begriff der Selbsttechnologie und Selbstkultur vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2005, hier insb. S. 66ff. Schelling: SW 9,253.

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vierung philosophischer Subjektivität. Während Fichtes popularphilosophischer Ausbruch aus der Schulphilosophie auf eine Wiedereroberung und eine Transformation der äußeren geschichtlichen Lebenswelt tendiert, zielt Schellings Projekt der inneren Unterredungskunst in umgekehrter Richtung auf eine schöpferische Selbstpotenzierung der Innenwelt philosophischer Subjektivität. Vielleicht ist es nicht überinterpretiert, zu bemerken, dass sich auch in dieser insgesamt duplizitären, antithetischen und inversiven Infinitisierungstendenz romantischer Transformationsrhetorik wiederum das Muster der romantischen Ironie wiedererkennen lässt.

2. Reden wider den Tod als dem drohenden Ende aller Selbsterfindung Schon nach antiker Platonischer Lehre heißt ›Philosophieren‹ bekanntlich ›Sterbenlernen‹. Eine Grundaufgabe der Philosophie als Weisheitslehre besteht in der im Phaidon durch Sokrates vor Augen geführten philosophischen Kunst, das Sterben zu verstehen. Zur Kunst des Philosophierens (ars philosophandi) gehört deshalb nicht nur die Weisheit diesseitiger Lebenskunst (ars vivendi), sondern auch die Kunst des philosophischen Sterbenkönnes (ars moriendi). Der beängstigende Ernstfall des Todes stellt auch die vielleicht größte Herausforderung für die philosophische Psychagogie und ihrer weisheitlichen Transformationsrhetorik dar. Tatsächlich bedeutet der natürliche Tod ein zuhöchst furchterregendes und beängstigendes Phänomen, das von jeher die religiöse und metaphysische Rede bewegt hat. Insbesondere der schockierende Anblick des erst erstarrten und später verwesenden Leichnams, der den Menschen mit dem Augenschein seines endgültigen Untergangs und dem drohenden Ende aller Selbsterfindung konfrontiert, hat die vielfältige Widerrede religiöser und philosophischer Thanatologien hervorgerufen. Das schockierende Phänomen des natürlichen Todes konfrontiert den Menschen zunächst mit der totalen Ohnmacht seines Machen- und Wissenkönnens. Sein ambivalenter Charakter erweckt im Menschen sowohl die konkrete Endfurcht vor dem endgültigen Untergang als auch die unbestimmte Endangst vor einem ungewissen, jenseitigen Weiterleben. Damit stellt das Todesphänomen den Menschen vor ein pathelogisches Dilemma: Entweder erscheint der Tod als endgültiges Ende und damit als furchtbares Schreckbild des »persönliche(n) Weltuntergang(s)«43, durch 43

Georg Scherer: »Tod VIII«. In: TRE 33, Berlin 2002, S. 629–635, hier: S. 635.

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den der Mensch selbst und mit ihm alle vertrauten Sinn- und Handlungsbezüge völlig verlöschen oder, im Gegenteil, der Tod beängstigt durch jene Verhülltheit des jenseitigen Weiterlebens, auf die schon Heraklit hingewiesen hat, wenn er sagt: »Der Menschen wartet, wenn sie gestorben, was sie nicht hoffen noch wähnen.«44 Die persuasive Rede der spekulativen Philosophie, welche sich kämpferisch der ›Doppelspitze‹ dieses thanatologischen Dilemmas entgegenstellt, steht vor der zweifachen rhetorischen Herausforderung, einerseits auf überzeugende Weise die Furcht des Menschen vor seinem totalen Untergang zu stillen sowie andererseits die Angst vor dem ungewissen Jenseits nach dem Tode. Die rhetorische Auseinandersetzung der spekulativen Rede mit jenem thanatologischen Dilemma findet in der philosophischen Romantik dabei zweifellos einen ihrer philosophiegeschichtlichen Höhepunkte. Die außergewöhnliche Schärfe, mit der die romantischen Philosophen, beginnend mit Fichte, zunächst die Vorstellung eines endgültigen Untergangs des Menschen im natürlichen Tode bekämpft haben, erklärt sich aus ihrem gemeinsamen Interesse an einer starken Subjektphilosophie, die sich durch das Phänomen des natürlichen Todes bedroht sehen musste. »So ist die Leiche die sinnliche Erscheinung der unmöglich gewordenen Selbstbestimmung.«45 Für die spekulative Rede der Idealisten birgt der natürliche Tod deshalb eine so starke phänomenale Herausforderung, weil sich in ihm der totale Untergang von Subjektivität in die Objektivität und Verdinglichung zu manifestieren scheint. Im natürlichen Tod scheint sich der endgültige Sieg des Objektiven über das Subjektive, der Fremdbestimmung über die Selbstbestimmung, des Materiellen über das Geistige zu manifestieren. Die Macht der schöpferischen Selbsterfindung menschlicher Subjektivität scheint im extremen Ernstfall des Todes ein für alle Mal zu enden. Dass der Tod tatsächlich eine – wie M. Heidegger sich später ausdrückt – »unüberholbare Möglichkeit«46 des menschlichen Seinkönnens sein soll, ist für das auf philosophische Selbstpotenzierung angelegte Denken der romantischen Philosophen nicht akzeptierbar. Im Gegenteil wenden ihre spekulativen Reden alle ihr zur Verfügung stehenden persuasiven Mittel auf, um der ernsten und erschreckenden äußeren Erscheinung des natürlichen Todes eine andere Seite abzugewinnen. Das eigentliche Interesse der 44 45 46

Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. v. Hermann Diels / Walter Kranz, Bd. I, o. O. 171974, S. 157. Scherer, Tod VIII, S. 632f. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1972, S. 258.

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romantischen Philosophen gilt dem Triumph schöpferischer Subjektivität angesichts der ernsthaften Möglichkeit ihres totalen Scheiterns im Tod. Die Rhetorik ihrer spekulativen Philosophie diminuiert daher das Trauma des natürlichen Todes, indem es ihn gerade nicht als Phänomen der Depotenzierung, sondern, im Gegenteil, jeweils als Potenzierung von Subjektivität deutet. Dabei kritisiert die moderne, subjekttheoretisch konzipierte Thanatologie romantischen Philosophierens auch die traditionelle Unsterblichkeitstopik der überlieferten Substanz-Metaphysik. 2.1 Kritik der substanzmetaphysischen Thanatologie Den gemeinsamen Ausgangspunkt für die neue, subjektzentrierte Thanatologie der philosophischen Romantik bildet die subjektphilosophische Kritik an der überlieferten Seelen- und Unsterblichkeitslehre der Substanzmetaphysik. An vorderster Front bekämpft Fichte deren substantialistische Psychologie und Unsterblichkeitslehre, indem er sie mit der ihm eigenen polemischen Intensität als ›Gespensterglaube‹ einer »todgläubigen Seins-Philosophie«47 bezeichnet. Dahinter steht Fichtes generelle Verdinglichungs- und Entfremdungskritik an der überlieferten Substanzmetaphysik. Diese sei – so Fichte – dem grundsätzlichen ontologischen Irrtum verfallen, das Sein nicht als tätiges Subjekt, sondern als dinghafte Substanz zu begreifen. Auch die neuzeitliche Metaphysik versucht demnach, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele substanzmetaphysisch zu begründen, indem sie sie als denkendes ›Ding‹ (res cogitans) vergegenständlicht. Diese Tendenz zur Verdinglichung teilt die Substanzmetaphysik mit dem Objektivismus des gewöhnlichen Alltagsbewusstseins, das in der Regel auch »das Sein, als ein stehendes, starres und totes«48 missversteht. Dagegen macht aus der Sicht von Fichtes neuer Subjektphilosophie, die zunächst von der Dynamik der ›Tathandlung‹ des Ichs und später von einem absoluten ›esse in mero actu‹ ausgeht, der statische, substanzialistische Seelenbegriff keinen Sinn mehr. Aus der radikal subjekttheoretischen Sicht des Fichteschen Idealismus muss der Begriff einer substanziellen Seele als objektivistischer Kategorienfehler und die Fragestellung nach ihrer Unsterblichkeit als Scheinproblem verworfen werden. Von daher ist Fichtes Diktum zu verstehen, dass seine Wissenschaftslehre nichts über die Unsterblichkeit der Seele aussagen könne: »… denn es ist nach ihr keine

47 48

Fichte: W 2,662. Fichte: W 2,342.

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Seele, und kein Sterben, oder Sterblichkeit, mithin auch keine Unsterblichkeit.«49 Fichtes radikale Kritik an den Verdinglichungstendenzen der traditionellen Substanzmetaphysik setzt sich auf moderate Weise bei Hegel fort. In seiner Enzyklopädie wendet Hegel gegen die rationale Psychologie der überlieferten Schulphilosophie ein: »Die alte Metaphysik betrachtet die Seele als Ding.«50 Auch für ihn beruhen die klassischen Unsterblichkeitsbeweise somit auf einem substanzialistischen Kategorienfehler. So setzt der klassische Beweis für die Unsterblichkeit, der von der unzerstörbaren Einfachheit der Seelensubstanz her argumentiert, ihre Verdinglichung voraus. Denn nur hinsichtlich eines Dinges kann gefragt werden, ob es einfach oder zusammengesetzt sei. »Nun aber ist«, wie Hegel bemerkt, »in der Tat die abstrakte Einfachheit eine Bestimmung, die dem Wesen der Seele so wenig entspricht als die der Zusammengesetztheit.«51 Von daher plädiert Hegel für eine Substitution des mit substanzialistischen Missverständnissen belasteten Begriffs der ›Seele‹ durch den subjekttheoretisch aufgeladenen, dynamischen Begriff des ›Geistes‹, der als ›absolute Aktuosität‹ zu verstehen sei. Erst auf dem Boden dieser dynamischen Geistphilosophie wird dann das Seelische in entsubstanzialisierter Form als der »in die Leiblichkeit versenkt(e)«52 Geist reformulierbar. Die von Fichte und Hegel vorgetragene Kritik an dem verdinglichten Seelenbegriff der klassischen Metaphysik findet sich auch in Schellings Philosophie der Offenbarung wieder. »Die alte Metaphysik«, so argumentiert auch Schelling, »wollte die Unzerstörlichkeit der Seele dadurch beweisen, daß sie die Seele zu einem Ding machte, welches von den körperlichen sich nur dadurch unterscheide, daß es nicht, wie diese, ein zusammengesetztes sey.«53 Dagegen ist aus der Perspektive des neuen dynamischen Denkstils des Idealismus durchaus auch die Möglichkeit denkbar, dass auch die Seele keine einfache Substanz sei, sondern ein in sich differenziertes »Ganzes zusammengehöriger Funktionen und Thätigkeiten«54. Durch den Aufweis dieser Denkalternative, die ganz auf der Linie seiner späteren subjekttheoretisch fundierten Potenzenlehre liegt, zeigt Schelling, dass die vermeintlich apodiktischen ›Unsterblichkeitsbeweise‹ der philoso-

49 50 51 52 53 54

Fichte: W 1,550f. Hegel: W 8,100. Hegel: W 8,101. Hegel: W 8,100. Schelling: SW 14,216. Ebd.

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phischen Tradition keineswegs rational zwingend sind, sondern problematisch bleiben. Darüber hinausgehend führt Schelling auch ein empirisches Argument gegen die ältere, metaphysische Lehre von der generellen Inkorruptibilität der menschlichen Seele ins Feld. Sein Ausgangspunkt ist dabei die empirische Beobachtung der mit dem Alter für alle Menschen anscheinend unvermeidlichen körperlichen Verfallsprozesse. Diese wahrnehmbaren körperlichen Verfallsphänomene lassen es sehr wahrscheinlich erscheinen, dass auch die Seele als forma corporis mit zunehmendem Alter ihre formgebende Kraft verliert. Eine Funktion der Seele nach der anderen scheine allmählich nachzulassen, bis auch das die einzelnen Funktionen zur Gesamtwirkung verknüpfende Prinzip schließlich erlischt, sodass »auf diese Art die Seele ihrer Unkörperlichkeit ohnerachtet doch aufgelöst werden«55 könnte. Aber selbst einmal angenommen, die Seele sei an sich inkorruptibel, folgt daraus nach Schelling, der hier das alte monopsychistische Argument des averroistischen Aristotelismus aufgreift, noch nicht notwendig ihre individuelle Unsterblichkeit. Denn es sei durchaus denkbar, dass die individuellen Eigenschaften von Personen nicht zur Substanz der Seele an sich gehören, sondern jeweils aus ihrer akzidentiellen Beziehung zum menschlichen Körper entspringen. Selbst wenn also die Seele als ein vom Körper unterschiedenes Prinzip an sich unauflöslich und unsterblich wäre, so könnte es doch sein, dass sie zwar, solange ihre »Beziehung zu dem Körper dauerte, diesen beseelte und in diesem Bezug selbst individuelle Eigenschaften annähme«56, aber nach der Zerstörung ihres Körperbezugs im Tod, diese Individualität wieder verlöre. Insgesamt gesehen erweisen sich in Schellings Augen die so genannten ›Unsterblichkeitsbeweise‹ der Philosophietradition von Platon bis Kant lediglich als höchst problematische Argumente, von deren schwacher Überzeugungskraft keine glaubwürdige philosophische Rede wider den Untergang des Menschen im Tode zu erwarten ist.57

55 56 57

Ebd. Schelling: SW 14,217. Schließlich reizt auch Kants Unsterblichkeitspostulat aus der Kritik der praktischen Vernunft Schelling zu der witzigen Replik: Selbst aus dem von Kant so sehr angepriesenen moralischen Beweisgrund würde »nur so viel folgen, daß jeder Mensch nach dem Tode so lange lebe, bis er die ihm gebührende Belohnung oder Bestrafung erhalten« (Schelling: SW 14,216) hätte.

191

2.2 Fichtes Unendlichkeit jenseitiger Geisterwelten Die Tendenz des romantischen Philosophierens, das Problem des natürlichen Todes mit allen Mitteln ihrer philosophischen Rede zu diminuieren, und dem äußeren Schreckbild des Todes eine hoffnungsvolle, jenseitige Seite subjektiver Selbstpotenzierung zu geben, zeichnet sich in aller Deutlichkeit bereits in Fichtes früher Wissenschaftslehre ab. G. Scherer hat völlig zu Recht bemerkt, die Grundtendenz des Fichteschen Denkens sei es, »den Tod zu entzaubern, für Schein zu erklären, um eine Ursprünglichkeit und Übermacht, einen Triumph des Lebens zu konstituieren, der seinsgleichen in der Geschichte der Metaphysik sucht«58. Ausgangspunkt der Fichteschen Relativierung des physischen Todes aus seiner transzendentalreflexiven Perspektive bildet die Feststellung, dass auch das gefürchtete Phänomen des natürlichen Todes lediglich eine Vorstellung unseres Selbstbewusstseins sei. Derart als bloße Erscheinung des empirischen Bewusstseins durchschaut und entzaubert, kann der Tod – so argumentiert Fichte – der absoluten Setzungsmacht des transzendentalen Ichs nichts anhaben. Der Tod verliert somit seinen furchtbaren Charakter und wird von Fichte – wie G. Frankenhäuser bemerkt – zu einer Art »Scheintod degradiert«59. Hinzu kommt, dass nur der Tod der Anderen Gegenstand meines Selbstbewusstseins sein kann. Dagegen kann der eigene Tod überhaupt nicht als Phänomen meines empirischen Bewusstseins auftreten. Fichte gibt hier dem alten Argument Epikurs, dass, solange ich bin, der Tod nicht ist, eine durch Descartes hindurch gegangene transzendentalphilosophische Akzentuierung: Demnach bin ich, solange ich denke und vorstelle, nicht tot und kann mich unmöglich als tot denken. Solange ich denke, bin ich nicht tot. Das Denken des eigenen Todes ist somit mit einem unhaltbaren performativen Widerspruch verbunden und in sich widersinnig, sodass Fichte formulieren kann: »Ich werde überhaupt nicht für mich sterben, sondern nur für andere – für die Zurückbleibenden, aus deren Verbindung ich gerissen werde.«60 Die weit verbreitete Furcht vor dem Tode beruht nach Fichte allein auf dem verdinglichten Selbstverständnis des gewöhnlichen Bewusstseins, das sich irrtümlich am Maßstab äußerer, objektiver Gegenstände auffasst und 58 59

60

Georg Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979, S. 134. Gerald Frankenhäuser: Die Auffassungen von Tod und Unsterblichkeit in der klassischen deutschen Philosophie von Immanuel Kant bis Ludwig Feuerbach, Frankfurt a. M. 1991, S. 132. Fichte: W 1,371.

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sich somit als Subjekt permanent missversteht. Dagegen kann, ausgehend von der Tathandlung absoluter Subjektivität, selbst die eigene Todesstunde nur als »Stunde der Geburt zu einem neuen herrlicheren Leben«61 verstanden werden. Im dritten Buch seiner Bestimmung des Menschen veranschaulicht Fichte seine aus transzendentalphilosophischer Sicht konzipierte Unsterblichkeitslehre durch die philosophische Metapher der Leiter. Demnach ist die Erscheinung des Todes in Wahrheit die »Leiter, an welchem mein geistiges Auge zu dem neuen Leben meiner selbst, und einer Natur für mich hinübergleitet«62. Der Tod wird hier nicht als endgültiger Untergang, sondern als Aufstieg zu einem neuem Leben aufgefasst, der einen unendlichen Weg der Selbst- und Weltpotenzierung eröffnet. Die Ablösung der statischen, christlich-metaphysischen Porta-vitae-Metapher durch die aszendente Metapher der Leiter deutet ferner auf eine Infinitisierung der subjektiven Dynamik: An die Stelle der zirkulären Rückkehr des Menschen zu Gott tritt bei Fichte eine unendliche Linie progressiver Selbststeigerung. In »tausendmal tausend durchlebten Geisterleben«63 soll der sittliche Wille des Individuums sich stetig steigern, um so den universellen »Fortgang der Vernunft und Sittlichkeit im Reiche der vernünftigen Wesen«64 zu befördern. Fichte entwirft hier die Unsterblichkeit in Form einer infiniten Palingenese, die einerseits Kants Konzeption moralischer Subjektivität aufnimmt und andererseits an die zeitgenössische Diskussion um die Wiedergeburtslehre anknüpft, die von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts ausging.65 In der Peroratio am Ende der Bestimmung des Menschen führt Fichte seinen Lesern schließlich das Panorama eines verklärten Universums vor Augen. In dieser vom moralischen Glauben getragenen philosophischen Unsterblichkeitsvision zeigt sich das Universum nicht mehr als »jener in sich selbst zurücklaufende Zirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wiederzugebären«, sondern »trägt das eigene Gepräge des Geistes; stetes Fortschreiten zum Vollkommnern in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht«.66 Die eschatologische Perspektive dieses postmortalen »Univer61 62 63 64 65

66

Fichte, W 1,371. Fichte, W 1,374. Fichte: W 1,360. Fichte: W 1,368. Zur von Lessing ausgehenden deutschen Diskussion um Metempsychose, Palingenese und Metamorphose vgl. Kurt Röttgers: »Übergang«, Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt 2007, S. 471– 485. Fichte: W 1,373.

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sum(s) in einer verklärten Gestalt«67 liegt in einer fortschreitenden Auflösung der für das endliche Selbstbewusstsein konstitutiven Differenz von Geist und Materie, Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich: »Die tote lastende Masse, die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden, und an ihrer Stelle fließt, und woget und rauscht der ewige Strom von Leben, Kraft und Tat – vom ursprünglichen Leben.«68 Durch diese von der ganzen Überzeugungskraft des moralischen Glaubens getragene und durch die Metapher des Stroms veranschaulichte Unsterblichkeitsvision versucht Fichtes spekulative Rede, hier die Hoffnung auf ein potenziertes Fortleben des Ich in einer unendlichen Folge von Geisterwelten zu sichern. Diese angesichts des Todesproblems gewonnene Seins- und Selbstgewissheit ichhafter Subjektivität lässt Fichte am Ende der Bestimmung durch den imaginären Mund seines literarischen Ichs abschließend seinen Lesern verkünden. In einer Art Glaubensbekenntnis des transzendentalen Idealismus versichert es: »So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest, und vollendet für alle Ewigkeit.«69 Dabei beginnt Fichte – durch das Todesproblem provoziert – in der forcierten Unsterblichkeitslehre der Bestimmung auch bereits an die Grenzen seiner frühen kritischen Transzendentalphilosophie zu stoßen und sie in Richtung auf das religiöse Vereinigungsdenken seiner späteren transzendentalen Metaphysik zu überschreiten. So versichert er, dass »nur das religiöse Auge«70 die Unsterblichkeitsvision eines verklärten Universums zu erschauen vermag, in dem die für unser diesseitiges Bewusstsein konstitutive Differenz von Ich und Nichtich in einer unendlichen Annäherung an das Absolute bereits zu schwinden beginnt. Mit diesem Aufkommen des religiösen Denkens im Schlussteil der Bestimmung tritt hier nebenbei schon jene Gedankenfigur der Selbstpotenzierung von Subjektivität durch ihre Entindividualisierung hervor, die dann beim späten Fichte z. B. in seiner Konzeption der persönlichen Selbstaufopferung in den Grundzügen71 oder im mystischen Vereinigungsdenken der Anweisung zum seligen Leben72 eine Hauptrolle spielen wird. 67 68 69 70 71

72

Fichte: W 1,371. Ebd. Fichte: W 1,375. Fichte: W 1,371. Zur Gedankenfigur der Selbstaufopferung der eigenen Person zugunsten der Idee expliziert Fichte vor allem in der dritten und vierten Vorlesung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (vgl. Einzelkommentar W 2,947f.). Bereits hier, am Ende der Bestimmung, deutet sich stellenweise jene Ablösung des Konzeptes der Selbstbehauptung moralischer Subjektivität durch den der mystischen Selbstvernichtung im religiösen Vereinungsdenken, die dann in der

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Der Grund für diese progressive, postmortale Entindividualierungstendenz liegt für Fichte darin, dass der Begriff der individuellen Persönlichkeit als Kategorie des endlichen Selbstbewusstseins nicht auf das Absolute übertragen werden kann. Von daher liegt es nahe, dass die postmortale Perspektive einer unendlichen Annäherung an das apersonale Absolute auch das Moment der progressiven Auflösung der eigenen, individuellen Persönlichkeit enthält. So steigert sich Fichtes Vision der Selbstpotenzierung durch progressive Entindividualisierung schließlich bis zur Antizipation eines eigentlich unerreichbaren völligen Untergangs im Absoluten: »… meine gesamte Persönlichkeit ist mir schon längst in der Anschauung des Ziels verschwunden und untergegangen.«73 Fichte entwirft damit schon in der Bestimmung des Menschen eine von Jacobi beeinflusste philosophische Eschatologie, in der das endliche Ich den Abschlussgedanken seiner geradezu mystischen Selbstvernichtung und Vereinigung mit dem Absoluten projiziert: »… ich falle hier mitten in das absolut Unbegreifliche hinein.«74 Dieses absolut Unbegreifliche, das ursprünglich, reflexionslose, absolute Sein und Leben lässt sich nur noch durch die Metapher des »Lichtstrome(s)«75 repräsentieren, welche das Lichtmotiv der klassischen Metaphysik mit dem die Dynamik der modernen Subjektphilosophie typisierenden Strommotiv verbindet. Neben dieser Tendenz zu einer radikalen rhetorischen Diminuierung der Schrecken des natürlichen Todes findet sich bei Fichte aber auch die rhetorische Gegentendenz der Amplifizierung des Todes in einem metaphorischen Sinne. Nachdem Fichtes spekulative Rede den Tod im physischen Sinne radikal verkleinert und philosophisch für irrelevant erklärt hat, lässt sie ihn als spirituellen Tod im großen Stil in die Texte seiner Wissenschaftslehre zurückkehren. Im Rahmen der bipolaren Leben-Tod-Metaphorik veranschaulicht die Todesmetapher an vielen zentralen Stellen nicht nur die abstrakte, philosophische Begrifflichkeit der Fichteschen Philosophie, sondern gewinnt auch eine wichtige metaphilosophische Bedeutung zur Charakterisierung des eigenen Gesamtsystems. So steht z. B. die Todesmetapher in Fichtes Anweisung zum seligen Leben für das negative Reflexionsprinzip des endlichen Selbstbewusstseins, das die unendliche Energie des akthaften göttlichen Daseins gleichsam wie ein Prisma aufspaltet und so »die Verwandlung des unmittelbaren Lebens

73 74 75

Anweisung zum seligen Leben ihren endgültigen Durchbruch findet (vgl. Einzelkommentar W 2,961ff.). Fichte: W 1,368. Fichte: W 1,370. Fichte: W 1,371.

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in ein stehendes und totes Sein«76 bewirkt. Durch dieses Reflexionsprinzip entsteht die Endlichkeit unseres gegenständlichen Selbstbewusstseins, indem es die intelligierende Tätigkeit absoluter Subjektivität hemmt und zum stehenden Bild einer objektiven, materiellen Welt erstarren lässt. Von daher kann das Reflexionsprinzip von Fichte metaphorisch als »Tod in der Wurzel«77 bezeichnet werden. Insofern wir dieses Reflexionsprinzip als endliches Selbstbewusstsein in uns tragen, sind wir selbst es, die den metaphorischen Tod in alles hineinprojizieren. Es ist somit unser eigener, gleichsam todbringender Blick, der das – von Fichte mit der Metapher des Lebens belegte – akthafte Sein des Absoluten vergegenständlicht und zu einem dinghaft vorhandenen Seienden gerinnen lässt. »Nicht im Sein, an und für sich, liegt der Tod, sondern im ertötenden Blicke des toten Beschauers.«78 Allerdings bleibt dem gewöhnlichen Bewusstsein das von der transzendentalphilosophischen Radikalbesinnung der Wissenschaftslehre aufgedeckte und der menschlichen Subjektivität selbst innewohnende spirituelle Todesprinzip verborgen. Von daher erklärt sich auch die von den meisten Menschen geteilte, objektivistische Weltanschauung, die von der Vorstellung eines Universums der vorhandenen Dinge an sich ausgeht. Auch die von den Idealisten kritisierte Substanzmetaphysik, die mit ihrer subjektvergessenen Ontologie einer Welt an sich vorhandener Dinge auf der Weltanschauung des gewöhnlichen Bewusstseins aufbaut, gehört nach Fichte somit in das »Lager des Todes«79. Fichtes thanatologische Metaphorik lässt somit das gewöhnliche Alltagsbewusstsein und die ihm korrelierende dogmatische Substanzmetaphysik als ein gewaltiges, spirituelles Totenreich erscheinen, dem sich seine Wissenschaftslehre kämpferisch entgegenstellt. Die Todesmetapher gewinnt hier unverkennbar auch einen polemischen, metaphilosophischen Charakter, der sich gegen die von den Idealisten gemeinschaftlich verworfene, dogmatische Substanzmetaphysik richtet. Umgekehrt dient Fichte die Metapher des Lebens auch zur apologetischen Bekräftigung seines eigenen systematischen Standpunktes. So stilisiert er sein eigenes transzendentalphilosophisches Philosophieren zu einem das Leben endgültig erringenden, siegreichen Kampf gegen den spirituellen Tod: »… es verfolgt grade den Tod bis in seine letzte Verschanzung, um zum Leben zu kommen.«80 76 77 78 79 80

Fichte: W 2,393. Fichte: W 1,594. Fichte: W 2,342/3. Fichte: W 1,594. Fichte: W 1,543.

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Die Todesmetapher indiziert hier das negative, pathelogische Ursprungsmotiv, das Fichtes gesamte spekulative Rede bewegt: die Depotenzierungsangst ichhafter Subjektivität. Umgekehrt spricht sich in der ihr entgegengesetzten Lebensmetapher ein positives Potenzierungsverlangen aus, von dem her sich die prinzipielle Parteinahme der Wissenschaftslehre für die radikale Freisetzung menschlicher Subjektivität erklärt, aufgrund derer Fichte postulieren kann: »… und so ist unser System vor dem Tode … gesichert, weil es das Leben selbst zu seiner Wurzel aufgenommen.«81 Inmitten des selbstvergessenen Totenreiches des verdinglichten Bewusstseins wird für Fichte die Philosophie selbst zu einem Ort freigesetzter Subjektivität und damit zu einer prämortalen Antizipation jener infiniten, postmortalen Potenzierung von Subjektivität, die seine Thanatologie prognostiziert. Somit ist es am Ende das ›unsterbliche‹ Philosophieren selbst, das den spirituellen Tod schon im Hier und Jetzt zu überwinden scheint. 2.3 Schellings Tod als Potenzierung der menschlichen Persönlichkeit Schellings personalistische Thanatologie widerspricht vehement den Entindividualisierungstendenzen, die sich schon bei Fichte andeuten und in Hegels Auffassung vom Tod als totale Aufhebung der endlichen Subjektivität in das allgemeine, universalgeschichtliche Leben des Absoluten ihren Höhepunkt finden wird. Den Hintergrund für Schellings thanatologische Neubewertung des Individuellen und Persönlichen bildet das für ihn einschneidende biographische Ereignis des frühen und unerwarteten Todes seiner Frau Caroline am 7. September 1809. Aus der Stimmung einer lang anhaltenden, tiefen Trauer angesichts des kaum zu verschmerzenden Verlustes seiner geliebten Frau schreibt Schelling am Osterfest 1811: »Anhaltendes Nachdenken und Forschen hat bei mir jedoch nur dazu gedient, jene Überzeugung zu bestätigen, daß der Tod, weit entfernt die Persönlichkeit zu schwächen, sie vielmehr erhöht, in dem er sie von so manchem Zufälligen befreit.«82 Das pathelogische Motiv, welches Schellings Rede vom Tod als einer potenzierenden Metamorphose der Persönlichkeit hier bewegt, ist nicht die Furcht vor dem eigenen Untergang, sondern die Verlustangst, die angesichts des physischen Todes eines anderen geliebten Menschen entsteht. 81 82

Fichte: W 1,555. Brief an Georgii vom Osterfeste 1811: Zitiert nach Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Brief über den Tod Carolines vom 2. Oktober 1809 an Immanuell Niethammer. Hg. u. komm. V. Johann Ludwig Döderlein, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975.

197

Schelling hat selbst das seelische Verlangen benannt, das seine philosophische Lehre vom Tod eingedenk der geliebten Verstorbenen motiviert: »… ihre ganze Persönlichkeit möchten wir erhalten, nichts, auch das Kleinste nicht, von ihnen verlieren.«83 Dabei bezieht seine neue, personalistische Thanatologie, die das Fortbestehen der gesamten Persönlichkeit nach dem Tode unterstreicht, auch die Leiblichkeit mit ein. Dass diese neue Wertschätzung der Leiblichkeit als integrales Moment konkreter Subjektivität einen anthropologischen Differenzpunkt zu Fichte und Hegel bildet, hebt Schelling eigens hervor. »Ich habe von je her das Leibliche nicht so herabgesetzt, als der Idealismus unserer Zeiten gethan hat und noch thut.«84 Schelling hat seine personalistische Thanatologie zuerst 1810 in seinem philosophischen Roman Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt und den Stuttgarter Privatvorlesungen vorgelegt und dann in leicht modifizierter Form im Rahmen seiner späteren Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung vorgetragen. Die von Schelling durchgängig vertretene thanatologische Grundthese besagt, dass der natürliche Tod des Menschen als eine Essentifikation seiner gesamten Persönlichkeit aufzufassen sei. In der 32. Vorlesung seiner Philosophie der Offenbarung entwickelt Schelling diese These in der kritischen Auseinandersetzung mit der weit verbreiteten platonischen Vorstellung, dass der Tod als eine Trennung von Körper und Seele aufzufassen sei. Gemäß dieser gewöhnlichen Vorstellung sei der Tod »der Scheidungsprozeß, der die Seele von dieser sie einschließenden und umgebenden Materie befreit und sie rein und in ihrer Lauterkeit darstellt«85. Gegen diese reduktionistische Vorstellung, die den Leib von der Seele im Tode abspaltet und damit das Fortbestehen des Menschen auf den rein seelischen Anteil seiner Persönlichkeit verkürzt, stellt Schellings spekulative Rede ein pathelogisches Argument heraus, welches er dem sensus communis entnimmt. Schelling beruft sich auf den schon von Fichte in seiner Anweisung beanspruchten, sich unmittelbar emotional artikulierenden, natürlichen Wahrheitssinn der Menschen, wenn er bemerkt: »… so ist es schon dem natürlichen Gefühl zu wider, sich zu denken, daß der Mensch nur einem Theile nach, und daß nicht der ganze Mensch, nicht der Mensch seinem ganzen Esse fortdauere.«86

83 84 85 86

Schelling: Aus Schellings Leben, S. 248. Ebd. Schelling: SW 14,206/7. Schelling: SW 14,206. Zu Fichtes Lehre vom natürlichen Wahrheitsgefühl s. Fichte: W 2,902ff.

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Umgekehrt sieht sich Schellings eigene Thanatologie, dergemäß die gesamte Persönlichkeit des Menschen nach dem Tode fortbestehe, durch ihre Angemessenheit gegenüber der natürlichen Empfindung bestätigt. Dagegen würde es der »natürlichen Empfindung angemessener seyn zu sagen …, daß es aber immer der ganze und selbe Mensch ist, welcher in der einen und in der andern Art des Seyns als fortdauernd gedacht werden muß«87. Dass die Erfindung der spekulativen Rede sich dermaßen pathelogisch in der natürlichen Empfindung begründet sieht, erklärt sich aus Schellings Anthropologie, die das »dunkle Prinzip«88 des Affektiven als Ausgangspunkt und inventive Basis für die Begriffsbildung schöpferischer Philosophie ansieht. Zu den intersubjektiv verbindlichen Grundlagen der philosophischen Reflexion gehören für Schelling auch jene in der Gemeinsprache vorkommenden Ausdrücke, in denen sich natürliche Empfindung unmittelbar ausspricht. »Es gibt Ausdrücke in allen Sprachen, welche die erste, noch durch keine Reflexion gestörte Empfindung der Sache ausdrücken.«89 Aufschlussreich wird für Schelling hinsichtlich des thanatologischen Problems eines persönlichen Fortbestehens nach dem Tode die alltagssprachliche Verwendung des Wortes ›Geist‹: »Dahin gehört, daß man ein abgeschiedenes Wesen, inwiefern man es erscheinen läßt, einen Geist nennt, nicht etwa eine Seele, man denkt sich also dabei den ganzen Menschen, nur vergeistigt, essentificirt.«90 Nach dem Tod besteht demnach der ganze Mensch in einer vergeistigten oder, wie Schelling sich ausdrückt, ›essentifizierten‹ Form fort. Schon in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen hatte Schelling den Tod als einen essentifikatorischen Übergang des Menschen aus der Naturwelt in die Geisterwelt gedeutet. Auch in seinen späten Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung hält Schelling an seiner thanatologischen Essentifikationslehre fest, dergemäß der Mensch im Akt des Sterbens nichts Wesentliches verliert, sondern nur das Zufällige an ihm untergeht. »Der Tod des Menschen möchte also nicht sowohl eine Scheidung, als eine Essentification seyn, worin nur Zufälliges untergeht, aber das Wesen, das was eigentlich der Mensch ist, bewahrt wird.«91 Der Tod gewinnt hier für Schelling als Akt der Verwesentlichung der gesamten Person den Charakter einer potenzierenden Ganzbewahrung. Er bildet eine kathartische Metamorphose, in der die individuellen Qualitäten 87 88 89 90 91

Ebd. Schelling, SW 7,472. Schelling, SW 2,208. Ebd. Schelling: SW 2,4,206.

199

der gesamten Persönlichkeit einschließlich ihres charakteristischen leiblichen Erscheinungsbildes nicht nur erhalten, sondern sogar ins Wesentliche gesteigert werden. Die essentifizierende Wirkung des Todes, die Verwandlung des physischen Menschen in seine postmortale Geistpersönlichkeit, gleicht – wie Schelling erläutert – dem Effekt des chemischen Prozesses, »in welchem der Geist oder die Essenz einer Pflanze ausgezogen wird. So denkt man sich, daß in das Oel, das aus einer Pflanze gezogen wird, alle Kraft und alles Leben übergehe, das die Pflanze in sich hatte.«92 Die Bedeutung der Essentifizierung des Menschen im Tod wird von Schelling auch aus dem Gesichtspunkt der Selbstentfremdungstendenzen, denen die menschliche Persönlichkeit im prämortalen Diesseits unterliegt, erläutert. Damit wird die Kritik der subjektiven Selbstentfremdung bei Schelling schon innerhalb seiner Theorie des natürlichen Todes abgehandelt und spaltet sich nicht wie bei Fichte und Hegel in einer eigenen Allegorie des spirituellen Todes ab. Vielmehr bleibt das Thema des spirituellen Todes als personales Depotenzierungsproblem in die Thanatologie Schellings integriert. Demnach existiert der Mensch in der diesseitigen Naturwelt in der anthropologischen Differenz von Wesen und Erscheinung. Im prämortalen Diesseits kann er sein eigentliches Sein niemals ganz zur Erscheinung bringen und bleibt somit mehr oder weniger von sich selbst entfremdet. »Denn kein Mensch erscheint in seinem Leben, ganz als der er Ist.«93 Dagegen wird er als Essentifizierter nach dem Tode in der permanenten Identität von Wesen und Erscheinung und somit ungetrennt von sich selbst existieren. »Nach dem Tode ist er bloß noch Er selbst.«94 Um dem Missverständnis vorzubeugen, dass der Prozess dieser Essentifizierung den Menschen in einen unwirklichen, reinen Geist oder geradezu in ein ›luftähnliches Wesen‹ auflöst, wiederholt Schelling auch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung eine gewagte dämonologische These, die er schon in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen vertreten hatte. Demnach potenziert der Prozess der Essentifizierung den gesamten Menschen inklusive seiner Leiblichkeit, sodass er sich – wie Schelling sich ausdrückt – in ein ›dämonisches‹ Wesen verwandelt. »Wir könnten das Produkt dieser Essentifikation, um es vom rein Geistigen zu unterscheiden, das Dämonische nennen. Dieses Dämonische ist ein höchst wirkliches Wesen, es ist der wahren Schätzung nach noch wirklicher, selbst als der gegenwärtige Leib, der nur zusammengesetzt und wegen der gegen92 93 94

Ebd. Schelling: SW 14,207. Ebd.

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seitigen Ausschließung seiner Teile ein gebrechliches, zerstörbares Ganzes ist.«95 Auch auf den paulinischen Topos »vom ›soma pneumatikon‹ (1 Kor 15,44)«96 anspielend weist Schelling darauf hin, dass die Seins- und Wirklichkeitssteigerung, die der dämonisch transformierte Mensch im postmortalen Reich der Geisterwelt insgesamt erfährt, gerade auch die leibliche Seite seiner Gesamtpersönlichkeit einbezieht. Allerdings hat Schelling in seiner späten Philosophie der Offenbarung eine elaborierte Drei-Stadien-Theorie des menschlichen Gesamtlebens vorgetragen, die ein zweites postmortales Reich der endgültigen Verklärung postuliert und somit zu einer Relativierung der Geisterwelt führt. Am Leitfaden seiner Potenzenlehre entwickelt er hier nun in aller Deutlichkeit eine Lehre von insgesamt drei »Stadien des menschlichen Gesammtlebens«97. Gemäß der triadischen Potenzenfolge des Seinkönnens, Seinmüssens und Seinsollens gliedert sich das Gesamtleben des Menschen in drei sukzessive Lebensabschnitte: erstens in das diesseitige Leben in der Naturwelt, zweitens in die erste postmortale Existenz in der Geisterwelt und schließlich drittens in das zweite postmortale Leben in der endgültigen Verklärungswelt. Dabei tritt die Einseitigkeit, die nicht nur das diesseitige natürliche Leben, sondern auch die postmortale Existenz in der Geisterwelt belastet, nun in aller Deutlichkeit hervor. »Es ist insofern eine dem Menschen durch sein in der Schöpfung gesetztes Wesen auferlegte Nothwendigkeit, daß, wenn er unmittelbar und zuerst das natürliche Leben lebt, er hierauf ebenso einseitig das geistige Leben, das Leben unter der Herrschaft der geistigen Potenz lebe, um erst in einer dritten Stufe natürliches und geistiges Leben, wie sie es ursprünglich seyn sollten, wieder in eins zu bringen.«98 Schellings spekulative Rede erweitert somit den imaginären Raum der postmortalen Existenz um ein zweites Reich einer endgültigen Verklärungswelt und spricht dem Verweilen der Verstorbenen im Geisterreich nur noch eine transitorische Bedeutung zu. Demnach erreicht der Mensch seine eigentliche Bestimmung erst nach einer Art zweiten postmortalen Essentifizierung, die nicht wie die erste in einen Akt der Vergeistigung, sondern umgekehrt in einem der Renaturierung besteht. In dieser Konzeption der eschatologischen Verklärungswelt als einer 95 96

97 98

Schelling, Urfassung, S. 596. Hartmut Rosenau, Essentifikation. »Die theonome Existenz des Menschen in Schellings Spätphilosophie«. In: Schellings philosophische Anthropologie. Hg. v. Jörg Jantzen / Peter L. Oesterreich, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 51–74, hier: S. 62. Schelling: SW 14,209. Schelling: SW 14,212.

201

Art altera natura artikuliert sich hier beim späten Schelling noch einmal das konnaturale Denken seiner frühen Naturphilosophie. Diese Erweiterung und Akzentverschiebung der Schellingschen Thanatologie erklärt sich vordergründig auch aus dem christologischen Interesse der Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung. Da Christus nicht nur ganz Gott, sondern auch ganz Mensch ist, kann Schelling die Dreistadienlehre seiner anthropologischen Thanatologie auch in der Christologie anwenden. Demnach durchläuft auch »das menschliche Leben Christi«99 die drei Momente des allgemeinen menschlichen Gesamtlebens: erstens die Erscheinung im Fleische, zweitens ein dreitägiges Verweilen in der Geisterwelt vom Kreuzestod bis zur Auferstehung und schließlich die Wiederkehr in der sichtbaren Welt in verklärter Leiblichkeit. Hinter dem christologisch interessierten Religionsphilosophen verbirgt sich aber noch ein anderer Schelling, der mit der Akzentverschiebung seiner späten Thanatologie auf ein weiteres, nun postmortales Depotenzierungsproblem menschlicher Subjektivität verweist. Der Glanz der in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen noch euphorisch konzipierten Geisterwelt hat sich beim späten Schelling merklich verdunkelt. Auch die Geisterwelt erlaubt – wie Schelling in der Philosophie der Offenbarung nun feststellt – nur ein einseitig-geistiges Leben, in dem »das Können erloschen, unwirksam geworden, und die Nacht eintritt, wo niemand wirken kann«100. In dieser neuen Perspektive erscheint die Geisterwelt nicht mehr als Reich dämonisch gesteigerter Personalität, sondern als Totenreich machtloser und ihres Könnens beraubter Subjektivität. Umgekehrt erfährt die diesseitige Naturwelt eine relative subjekttheoretische Wiederaufwertung, da sie jedem Subjekt unter der Signatur des Seinkönnens ein freies und selbstbestimmtes Leben erlaubt. Dagegen erscheint das unter dem dominanten Prinzip des Seinmüssens stehende Geisterreich als ein Reich erstarrter Identität, »in welchem also das natürliche Prinzip, d. h. die Potenz des Andersseyns, die Potenz der freien Bewegung eigentlich zur Impotenz gebracht wird«101. Das Depotenzierungsproblem von Subjektivität, das angesichts des natürlichen Todes aus Identitätsverlustangst die Konzeption der Geisterwelt hervorgetrieben hat, stellt sich angesichts der Unsterblichkeit des essentifizierten Menschen in anderer Form neu: nämlich als Alteritätsimpotenzproblem. Angesichts eines ewigen Seinmüssens in der imaginier99 100 101

Schelling: SW 14,217. Schelling: SW 14,210. Schelling: SW 14,213.

202

ten Geisterwelt, das jedes weitere Seinkönnen und Werden des essentifizierten Menschen ausschließt, schlägt das Identitätsverlangen beim späten Schelling in eine Alteritätssehnsucht um, welche aus der Angst vor der ewigen Enge der eigenen, in Notwendigkeit erstarrten, postmortalen Identität entspringt. In metaphorischer Verselbstständigung hatte diese Sistierungsphobie freier Subjektivität, d. h. die Befürchtung, gleichsam zu einer unveränderlichen Substanz zu erstarren, auch schon die entfremdungskritische Rede vom spirituellen Tod bei Fichte bewegt. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass der späte Schelling in seiner Kritik an der postmortalen Sistiertheit des essentifizierten Menschen einen anderen Entfremdungstypus zur Sprache bringt als die Depotenzierung durch Verdinglichung oder Gewohnheit. Denn der postmortale Selbstentfremdungstypus, den Schelling hier thematisiert, bezieht sich nicht mehr auf das Diesseits, sondern vielmehr auf die beängstigende Aussicht einer jenseitigen Potenzierung personaler Identität, die jede Alterität, und damit »jede Freiheit und jeden Spielraum«102 verloren hat. Insofern Leben Werden und Veränderung einschließt, erscheint nun die ›überstarke‹ Identität der dämonischen Existenz, deren absolute Notwendigkeit jede Möglichkeit weiterer Selbstveränderung vernichtet, als eine unerträgliche Form petrifizierter Subjektivität. Diese Verschiebung seiner pathelogischen Motivik von der Angst eines postmortalen Identitätsverlustes zu einem neuen Alteritätsverlangen ist es, die Schelling in seinen späten Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung seine Konzeption einer dritten, eschatologischen Verklärungswelt hervorbringen lässt, welche der freien Bewegung der Subjektivität wieder einen jenseitigen Spielraum eröffnet. »Aber es kommt eine dritte Zeit oder Periode, wo das geistige Seyn wieder zur freiesten Beweglichkeit entbunden, das Moment des Könnens, der freien Bewegung, welches das des gegenwärtigen Lebens ist, wieder aufgenommen wird.«103 2.4 Hegels tröstliche Totalaufhebung des Individuums Hegels spekulative Rede, welche die universelle Selbstverwirklichung des Absoluten in der literarischen Großform des Systems darzustellen versucht, relativiert auf radikale Weise das menschliche Individuum, indem sie es zu einem bloßen Moment eines übergreifenden, weltgeschichtlichen Prozesses herabsetzt. Der Trost, der dabei von Hegels synekdochischer 102 103

Schelling: SW 14,214. Schelling: SW 14,210.

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Sicht einer positiven Aufhebung alles bloß partikular Individuellen in die höhere Einheit einer umfassenden Totalität ausgeht, besteht in Stillung der menschlichen Endangst durch Bestreitung der negativen Ernsthaftigkeit individuellen Todes. Diese tröstliche Positivierung des Todes beginnt schon in Hegels Behandlung des physischen Todesphänomens in seiner Enzyklopädie, das hier als integrales und produktives Moment des in der allgemeinen Natur sichtbaren organischen Lebensprozesses interpretiert wird. Demnach wohnt der organischen Natur gleichsam ein Selbsttötungsprogramm inne, das durch die regelmäßige Vernichtung der einzelnen Individuen die Reproduktion der Gattung sicherstellt. Aus der Sicht des transindividuellen Gattungsprozesses erscheint somit der physische Tod ganzer Individuen nicht als widersinnig, sondern im Gegenteil als äußerst sinnvoll, weil er als integrales Moment der Selbstvermittlung der Gattung ihre permanente Regeneration ermöglicht. Aus der von der spekulativen Rede Hegels eröffneten übergreifenden Perspektive sub specie naturae verliert somit der Tod des Individuums seinen Schrecken. Hegels spekulative Rede entwickelt in diesem Zusammenhang geradezu eine Thanatodicee, die den Sinn des individuellen Todes aus der Teleologie der organologischen Selbstvermittlungsprozesse rechtfertigt, in denen sich der schöpferische Geist der natura naturans artikuliert: »Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten.«104 Die rhetorische Positivierung des natürlichen Todes findet hier ihre Klimax im philosophischen Wiedergebrauch des mythologischen Unsterblichkeitssymbols des Vogels Phönix, der sich immer wieder selbst verbrennt, um aus seiner Asche neu entstehen zu können. Hegel lässt den immanenten Geist der Natur damit gerade nicht als individuenverschlingendes Ungeheuer erscheinen, sondern im Unsterblichkeitssymbol des Vogels Phönix, der die individuelle Selbstvernichtung als notwendige Bedingung fortgesetzter Selbstschöpfung versinnbildlicht. Konsequenterweise hat Hegel auch für das menschliche Individuum keine Unsterblichkeitslehre entwickelt. Der einzelne Mensch als natürliche Person geht bei ihm mit seiner gesamten leibhaften Individualität im Tod unter. »Der Mensch als einzelnes Lebendiges, seine einzelne Lebendigkeit, Natürlichkeit muß sterben.«105 Dagegen betont Hegel die Unsterblichkeit des transindiviuell Allgemeinen, d. h. des Denkens: »Das Denken, als dies 104 105

Hegel: W 9,538. Hegel: W 17,260.

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für sich selbst seiende Allgemeine ist das Unsterbliche.«106 Aus dieser Perspektive der Unsterblichkeit des Allgemeinen versucht Hegel wiederum dem Tod des einzelnen Menschen seinen erschreckenden Charakter zu nehmen. Durch seine Aufhebung in das Allgemeine der menschlichen Gattungsgeschichte erscheint der Tod des Individuums ebenso notwendig wie sinnvoll. Das Bedürfnis nach individueller Unsterblichkeit und einem ewigen Leben nach dem Tode erklärt Hegel dagegen lediglich für eine subjektive Wunschvorstellung. In allegorischer Form verkörpert sich dieser Wunsch im Paradiesmythos des Alten Testaments als Baum des Lebens. Dieser Allegorie liegt aber – so Hegel – ein verbreitetes Selbstmissverständnis des endlichen Selbstbewusstseins zugrunde. Die scheinbare Gewissheit eines unzerstörbaren Ichs, das von absoluter Wichtigkeit und deshalb wesentlicher Gegenstand göttlichen Interesses sein kann, bildet nämlich nur die unwahre Form seines reinen Fürsichseins. Dieses abstrakte Selbstbewusstsein nimmt in der religiösen Vorstellung die Gestalt des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit an: »Dies kommt in der Gestalt vor, daß der Mensch unsterblich ist, Gegenstand des Interesses Gottes, über die Endlichkeit, Abhängigkeit, über die äußeren Umstände erhaben, die Freiheit von allem zu abstrahieren; es ist darin gesetzt, der Sterblichkeit entnommen zu sein.«107 Den genealogischen Boden der religiösen Vorstellung von einer individuellen Unsterblichkeit in einem jenseitigen ewigen Leben bildet nach Hegel somit ein abstraktiver Fehlschluss des menschlichen Selbstbewusstseins. Im eigentlichen Sinne unsterblich und ewig ist für Hegel nur der Geist. Das ewige Leben des absoluten Geistes ereignet sich aber nicht im Jenseits einer postmortalen Zukunft, sondern schon im Hier und Jetzt seiner weltgeschichtlichen Selbstverwirklichung. »Der Geist ist ewig, also deshalb schon gegenwärtig.«108 Vermittels der Partizipation an der Gegenwärtigkeit des absoluten Geistes in der Geschichte vermag auch das endliche Subjekt, seiner Ewigkeit und Unsterblichkeit teilzuhaben. Damit kann Hegel den Unsterblichkeitstopos der klassischen Metaphysik folgendermaßen rekonstruieren: »So muß bei der Unsterblichkeit der Seele nicht vorgestellt werden, daß sie erst späterhin in Wirklichkeit träte; es ist gegenwärtige Qualität.«109 Auf diese Weise vermag Hegels Geistphilosophie den Ausfall der traditionellen, tröstlichen und futurischen Perspektive 106 107 108 109

Hegel: W 9,538. Hegel: W 17,160. Hegel: W 17,261. Ebd.

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eines ewigen Lebens nach dem Tode durch die präsentische Eschatologie seiner Geistphilosophie zu kompensieren, die von der Vollpräsenz des Absoluten im Kairos der geschichtlichen Gegenwart ausgeht. Darüber hinausgehend gewinnt der Tod als philosophische Metapher auch im Werk Hegels einen wichtigen Stellenwert. Auffällig ist dabei ein zweifacher und gegenwendiger allegorischer Sinn, den die Todesmethaper bei Hegel gewinnt. Einerseits wird sie stellenweise kritisch gebraucht, indem sie für die abgestumpfte Geistlosigkeit des gewöhnlichen Lebens steht. Ein Beispiel dafür stellt die folgende metaphorische Wendung des Sterbens aus der Rechtsphilosophie dar: »… der Mensch stirbt auch aus Gewohnheit, das heißt, wenn er sich ganz im Leben eingewohnt hat, geistig physisch stumpf geworden.«110 In diesem polemisch gegen das normale Leben gerichteten Gebrauch der Metapher des Sterbens artikuliert sich bei Hegel, ähnlich wie bei Fichte, kritisch die kontrafaktische, schöpferische Intention der idealistischen Subjektivitätsphilosophie. Während bei Fichte der Akzent auf einer Kritik der Verdinglichungstendenzen des gewöhnlichen Bewusstseins liegt, polemisiert hier Hegel gegen die alle geistige Spontaneität vernichtenden Gewohnheiten des alltäglichen Lebens. Auf der anderen Seite macht Hegels spekulative Rede von der Metapher des Todes einen ausgedehnten affirmativen Gebrauch. Hier veranschaulicht sie auf thematisch vielfältige Weise die produktive Macht des Negativen in den dialektischen Prozessen des geistigen Lebens. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür stammt aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes: »Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.«111 Der allegorische Tod erscheint bei Hegel somit nicht wie bei Fichte im Gegensatz zum Leben, sondern als dessen integrales Moment. Das Verweilen in der »ungeheuere(n) Macht des Negativen«112, die der Tod als philosophische Metapher für die scheidende Tätigkeit des Verstandes repräsentiert, sei gleichsam »die Zauberkraft«113, durch die sich über die Negation der Negation, also gleichsam den Tod des Todes, das Leben des Geistes bewährt. Hegels allegorische Positivierung des Todes erreicht ihre Klimax zweifellos in der Religionsphilosophie. Die Todesmetapher gehört hier zum zentralen religiösen Vorstellungsgehalt, in der sich die der absoluten Subjektivität Gottes immanente Negativität, versinnbildlicht. Gegen Fichtes 110 111 112 113

Hegel: W 7,302. Hegel: W 3,36. Ebd. Ebd.

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pure Positivität des Absoluten betont Hegel seine immanente Negativität, die in der religiösen Vorstellung Gottes durch die Todesmetapher zum Ausdruck kommt: »… so ist das Moment des Todes hochzuachten als wesentliches Moment Gottes selbst.«114 Es ist vor allem dieses Motiv des »Sterben Gottes«115, das Hegels Präferenz für die christliche Religion legitimiert, weil sie das negative Moment des Absoluten in der religiösen Vorstellung des Kreuzestodes Christi widerspiegelt.

3. Mesmerismus und Rhetorik bei Schopenhauer Der rhetorische Kunstcharakter des spätromantischen Werkes Arthur Schopenhauers rückt in der letzten Zeit zunehmend in den Fokus der philosophischen Forschung. Schopenhauer erweist sich dabei als ein versierter philosophischer Schriftsteller, der in der provokativen literarischen Inszenierung seiner pessimistischen Willensmetaphysik vielfach »ästhetische und rhetorische Momente wirksam«116 werden lässt. Dabei lässt sich z. B. detailliert zeigen, dass seine antithetisch zu Leibniz’ Optimismusformel vorgebrachte Mundus-pessimus-These – die Welt sei die schlechteste aller möglichen Welten – durch eine rhetorisch-enthymematische Argumentation in der erweiterten Form des Epicheirems gestützt wird.117 Allerdings befindet sich die rhetorische Rekonstruktion der Philosophie Schopenhauers erst in den Anfängen. So steht merkwürdigerweise eine nähere Untersuchung der eigenen Rhetorik-Theorie Schopenhauers aus dem zweiten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung noch aus. Dies ist umso erstaunlicher, weil Schopenhauer zu den romantischen Philosophen gehört, die ein sowohl explizites als auch positives Verständnis der Rhetorik entwickelt haben. Zu diesem Interpretationsdefizit der Schopenhauerschen Rhetorik mag allerdings beigetragen haben, dass sie bisher im Schatten seiner oft zitierten und spektakulär wirkenden eristischen Dialektik stand oder sogar fälschlicherweise mit ihr identifiziert wurde.

114 115 116

117

Hegel: W 16,421. Ebd. Michael Pauen: »Zur Hölle verzaubert. Pessimismus zwischen Rhetorik und Radikalkritik«. In: Entzauberte Zeit. Der Melancholische Geist der Moderne. Hg. von Ludger Heidbrink, München/Wien 1997, S. 255–280, hier: S. 258. Andreas Dörpinghaus: »Schopenhauers rhetorische Argumentation für den Pessimismus«. In: Schopenhauer Jahrbuch 80 (1999), S. 63–86.

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3.1 Die Rhetorik als eine Technik der Vernunft Fragt man nach dem systematischen Ort, den Schopenhauer der Rhetorik als Disziplin zuweist, so erhalten wir die Antwort: »Logik, Dialektik und Rhetorik gehören zusammen, indem sie das Ganze einer Technik der Vernunft ausmachen, unter welcher Benennung sie auch zusammen gelehrt werden sollten: Logik als Technik des eigenen Denkens, Dialektik des Disputierens mit andern und Rhetorik des Redens zu vielen (contionatio); also entsprechend dem Singular, Dual und Plural, wie auch dem Monolog, Dialog und Panegyrikus.«118 Die Rhetorik definiert sich demnach bei Schopenhauer als Technik der Vernunft. Als solche bildet sie zusammen mit der Logik und Dialektik eines der drei Werkzeuge, mittels derer sich die Vernunft sprachlich artikuliert. Damit ordnet Schopenhauer die Rhetorik von vorne herein den Artikulationsorganen der objektiven Vernunftwahrheit zu und spricht sie vom weit verbreiteten Vorwurf einer bloßen sophistischen Scheinkunst frei. Dabei ist er sich wie kaum ein anderer Philosoph der schneidenden Differenz zwischen der objektiven, philosophischen Wahrheit einerseits und ihrer intersubjektiven, lebensweltlichen Geltung andererseits durchaus bewusst. Für das Feld des Scheines, der Doxa und des lebensweltlichen Kampfes um Geltung reserviert er nämlich eine andere, eigens dafür geschaffene neue Disziplin: die eristische Dialektik oder ›die Kunst, Recht zu behalten‹. Die drei Vernunftkünste Logik, Dialektik und Rhetorik, die auf unterschiedliche Weise jeweils für die kommunikative Selbstdarstellung der Vernunft zuständig sind, werden bei Schopenhauer nicht wie z. B. bei Aristoteles hinsichtlich des Geltungsgrades ihrer Prämissen unterschieden. Ihre ratio distinctionis liegt dagegen in der Differenz der drei Grundformen menschlicher Rede: dem Monolog, dem Dialog und der ›Rede vor vielen‹. Die Logik ist dabei für die Autokommunikation im einsamen Selbstgespräch des Denkenden mit sich selbst zuständig. Dagegen fungiert die Dialektik als Spezialistin für die dialogische »Kunst des auf gemeinsame Erforschung der Wahrheit, namentlich der philosophischen, gerichteten Gespräches«119. Beispiele und Muster der dialektischen Erforschung der Vernunftwahrheit findet Schopenhauer vor allem in den Platonischen Dialogen. Die Rhetorik dagegen tritt als Expertin für diejenigen Redesituationen auf, die den Dialog allein schon zahlenmäßig überschreitet. Ganz im Sinne der traditionellen Rhetoriktheorie wird sie von Schopenhauer 118 119

Schopenhauer: SSW 2,135 Schopenhauer: SSW 2,136.

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zuständig erklärt für denjenigen Redetypus, in dem ›einer vor vielen‹ anderen redet, um sie zu überzeugen. Indem Schopenhauer derart die Rhetorik als Technik des Vernunftgebrauchs in eine Reihe mit der Dialektik und der Logik stellt, hebt er zugleich mit ihrem Vernunft- und Wahrheitsbezug und auch ihren Status als Wissenschaft hervor. Schon allein aufgrund des ihr eigenen figuralen Gehaltes sei sie analog zur Logik ernsthafter wissenschaftlicher Untersuchung würdig. »In der Rhetorik sind die rhetorischen Figuren ungefähr, was in der Logik die syllogistischen, jedenfalls aber der Betrachtung würdig.«120 Diese Nähe von Logik, Dialektik und Rhetorik als die drei großen formalen Techniken der Vernunftartikulation begründet sich ferner in Schopenhauers sprachphilosophischer Überzeugung von der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Vernunft und Rede im menschlichen Selbstbewusstsein. Schopenhauer vertritt hier – vermutlich durch seine Affinität zur klassischen Philologie vermittelt – die humanistische Grundüberzeugung von der engen Zusammengehörigkeit von Wort und Sache (res et verbum). So betont er ausdrücklich die »enge Verbindung des Begriffs mit dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft«121. Dieser klassisch-humanistische Res-verbum-Integralismus findet allerdings bei ihm eine weiterführende, moderne, von Kant ausgehende transzendentalanalytische Begründung. Demnach liegt es an der spezifisch temporalen Verfasstheit des menschlichen Selbstbewusstseins, dass selbst die logische Artikulation der Vernunft im denkenden Selbstgespräch in aller Regel des Wortes und der zusammenhängenden Rede bedarf. Schopenhauer geht nämlich mit Kant davon aus, dass das endlich menschliche Selbstbewusstsein in seinen inneren und äußeren Wahrnehmungsakten durch die ästhetische Anschauungsform der Zeit bestimmt ist. Zwar haben die Begriffe als allgemeine, abstrakte Vorstellungen auch ein objektives Dasein jenseits der Zeitreihe; als solche fallen sie aber nicht in die subjektive Wahrnehmungswelt des individuellen, empirischen Selbstbewusstseins. Als abstrakte, unanschauliche intelligible Einheiten bleiben sie dem forum internum des menschlichen Selbstbewusstseins per se transzendent, flüchtig und unfasslich. »Daher müssen sie, um in die unmittelbare Gegenwart eines individuellen Bewusstseins treten, mithin in eine Zeitreihe eingeschoben werden zu können, gewissermaßen wieder zur Natur der einzelnen Dinge herabgezogen, individualisiert und daher an 120 121

Schopenhauer: SSW 2,98 Schopenhauer: SSW 2,136.

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eine sinnliche Vorstellung geknüpft werden: dies ist das Wort.«122 Erst in Verbindung mit dem Wort und der zusammenhängenden Rede werden daher die reinen Begriffe im internen Forum des zeitlich verfassten individuellen Selbstbewusstseins darstellbar, können die ansonsten flüchtigen und unfasslichen intelligiblen Einheiten der Vernunft in das menschliche Selbstbewusstsein eingehen und werden so für es in der diskursiven Form zusammenhängender, innerer Rede verfügbar, sodass von einem kontrollierten und geordneten Denkprozess gesprochen werden kann. Das Wort und die zusammenhängende Rede nehmen somit eine entscheidende hermeneutisch-vermittelnde Funktion zwischen der reinen Vernunft und dem endlich-menschlichen Bewusstsein ein: Sie stellen die Verbindung her »zwischen der Vernunft, deren Objekte bloß allgemeine, weder Ort noch Zeitpunkt kennende universalia sind, und dem an die Zeit gebundenen, sinnlichen und insofern bloß tierischen Bewusstsein«123. Die reinen, objektiven Universalia der Vernunft werden somit für den individuellen Denker durch den Wortgebrauch allererst frei verfügbar und disponibel. Erst diese Operationabilität ermöglicht dann die logischen Grundfunktionen des Denkens wie urteilen, vergleichen, schließen, beschränken usw. Eine Übung des Denkens ist somit wenigstens für das endlich menschliche Selbstbewusstsein nur im Element und Medium der inneren Rede möglich, sodass Schopenhauer konklusiv formulieren kann: »Wort und Sprache sind also das unentbehrliche Mittel zum deutlichen Denken.«124 Gemäß der klassisch-rhetorischen Ars-natura-Dialektik lassen sich ferner die Phänomene des Logischen, Dialektischen und Rhetorischen bereits in den inartifiziellen Formen des natürlichen Vernunftgebrauches in der menschlichen Lebenswelt vorfinden. Der lebensweltlich ubiquitäre praktische Vernunftgebrauch in seinen logischen, dialektischen und rhetorischen Artikulationsweisen geht somit seiner theoretischen Reflexion und technischen Methodisierung vorher. »Alle drei Wissenschaften haben das Gemeinsame, dass man ohne sie gelernt zu haben, ihre Regeln befolgt, welche sogar selbst erst aus dieser natürlichen Ausübung abstrahiert sind.«125 Als zur menschlichen Natur gehörig haben so das Logische, Dialektische und Rhetorische als Formen des inartifiziellen Vernunftgebrauchs einen universalanthropologischen Status. Schon hier bei Schopenhauer lässt sich somit bereits vor Nietzsches Lehre von der Rhetorik als 122 123 124 125

Schopenhauer: SSW 2,90. Schopenhauer: SSW 2,90. Ebd. Schopenhauer: SSW 2,136.

210

›unbewusster Kunst‹ oder Gadamers Ubiquitäts-These eine Tendenz zur anthropologischen Universalisierung des Rhetorischen ablesen.126 3.2 Sympathie als kommunikatives Agens der Redekunst Speziell der Rhetorik als Vernunfttechnik hat Schopenhauer im zweiten Band seines Hauptwerkes ein kurz gefasstes, aber gehaltvolles und gelehrtes Kapitel gewidmet. Es enthält eine eigene, philosophische Konzeption der Rhetorik, in der sich überliefertes Wissen der klassischen Rhetorik mit seiner eigenen spätromantischen Willensmetaphysik verbindet. Im Zentrum dieser originellen Synthese steht dabei der Begriff der Sympathie. Schopenhauers Charakterisierung des Rhetorischen beginnt mit der folgenden Definition der Beredsamkeit: »Beredsamkeit ist die Fähigkeit, unsere Ansicht einer Sache oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben auch in andern zu erregen, unser Gefühl darüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen.«127 Diese Definition wirkt in ihrem ersten Teil gemessen an der klassischen Rhetoriktheorie nicht sonderlich originell. So folgt Schopenhauer hier zunächst der aristotelischen Grundbestimmung der Rhetorik als einer menschlichen ›Fähigkeit‹ (dynamis). Ihre persuasive Dynamik geht ferner – ganz im Sinne der oratorzentrierten römischen Rhetorik Ciceros und Quintilians – vom Redenden aus und intendiert eine willentliche Übertragung seiner Ansichten und Gesinnungen auf seine Hörer. Dabei betont die Schopenhauersche Definition, ebenfalls in Konkordanz mit der Rhetoriktradition, das Gewicht der Gefühlserregung, des Pathos, in der rhetorischen Kommunikation. Erst das Ende dieser komplexen Definition, die das eigentliche Telos des rhetorischen Prozesses benennt, nämlich die anderen ›in Sympathie mit uns zu setzen‹, scheint aus dem topischen Theorierahmen auszubrechen und irritiert die Erwartungshaltung des an der klassischen Rhetoriktradition orientierten Lesers. Auffällig wirkt hier vor allem der Ausfall des Persuasionsbegriffs. So ist in der Schopenhauerschen Definition von der Rhetorik als einer Kunst der Überzeugung (ars persuadendi) zunächst nicht die Rede. Vergeblich suchen wir ferner nach geläufigen Standardausdrücken rhetoriktheoretischer Terminologie im Umfeld des Persuasionsbegriffes wie ›Überzeugung‹, ›Überredung‹ oder ›Glaubhaftmachen‹.

126

127

Zur Universalisierung der Rhetorischen bei Heidegger und Gadamer s. Peter L. Oesterreich: »Phänomenologie«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, S. 921–927. Schopenhauer: SSW 2,154.

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Stattdessen stehen wir vor der merkwürdigen Tatsache, dass bei Schopenhauer der ansonsten zentrale Persuasionsbegriff durch den Sympathiebegriff ersetzt wird. Dieses Substitutionsmanöver wirkt auf den ersten Blick umso irritierender, weil – anders als beim Überzeugungsbegriff, der nach Aristoteles neben den Ethos- und Pathosmomenten immer auch die sachaufweisende Argumentation einschließt – zunächst überhaupt nicht ersichtlich wird, wie, ausgehend vom bloßen Sympathiebegriff der Rhetorik, jener objektive Wahrheitsbezug gesichert werden soll, den sie doch als Vernunftkunst dringend bedarf, um sich z. B. von der eristischen Dialektik abzuheben. Um dieses Begriffsrätsel zu lösen, bedarf es an dieser Stelle eines kurzen Exkurses zur speziellen Bedeutung der Sympathie bei Schopenhauer. Unter ›Sympathie‹ versteht Schopenhauer nämlich ein vom gewöhnlichen Bewusstsein abweichendes und in diesem Sinne geradezu ›paranormales‹ Stimmungsphänomen, durch das die ansonsten verborgene metaphysische Identität des Willens für uns erfahrbar wird. »Demnach ist Sympathie zu definieren: das empirische Hervortreten der metaphysischen Identität des Willens durch die physische Vielheit seiner Erscheinungen hindurch, wodurch sich ein Zusammenhang kundgibt, der gänzlich verschieden ist von dem durch die Formen der Erscheinungen vermittelten, den wir unter dem Satze vom Grund begreifen.«128 Als Beispiele nennt Schopenhauer in diesem Zusammenhang drei Formen der Sympathie, die sich auf die Gebiete der Ethik, der Sexualität und der ›Magie‹ des animalischen Magnetismus beziehen. Auf dem Gebiet der Ethik tritt die Sympathie als Mitleid auf, das für Schopenhauer die intuitive, affektive Basis aller Gerechtigkeit und Menschenliebe (caritas) bildet. Dabei bekundet sich in der impliziten Form des unmittelbaren Vernunftgefühls jene Erkenntnis der metaphysischen Identität aller Wesen, die sich im Kontext der Metempsychosenlehre und der Brahmanenformel ›tat tvam asi‹ so explizieren lässt: »Du wirst einst als der, den du jetzt verletzest, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden.«129 Obwohl das Mitleid derart die Basis aller Ethik und Tugend darstellt, ist es dennoch – wie Schopenhauer hervorhebt – von keiner »Anstrengung unseres Intellektes begleitet«130, da es die metaphysische Wahrheit der Identität aller Wesen in der unmittelbaren Gefühlsform

128 129 130

Schopenhauer: SSW 2,771f. Schopenhauer: SSW 2,770. Ebd.

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der Sympathie bekundet und gerade deshalb alle Menschen unabhängig ihres intellektuellen und reflexiven Niveaus zu bewegen vermag. Als zweites Beispiel der Sympathie nennt Schopenhauer die Geschlechtsliebe (amor). Auch in der sexuellen Sympathie bekundet sich wiederum ein überindividueller Zusammenhang: das Leben der Gattung, das hier seinen Vorrang vor den einzelnen Individuen geltend macht. Durch das individuelle Liebesgeschehen hindurch artikuliert sich in der Sympathie der Liebenden – wie Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe hervorhebt – der potenzierte Wille der Gattung: »diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der Liebesangelegenheiten, das Transzendente ihrer Entzückungen und Schmerzen beruht, welches in zahllosen Beispielen darzustellen die Dichter seit Jahrtausenden nicht müde werden«131. Das dritte Exemplum für das Auftreten der Sympathie ist der animalische Magnetismus, der Schopenhauer vielleicht mehr noch als Fichte, Hegel und Schelling fasziniert und mit dem er sich in seinem Versuch über das Geistersehn und was damit zusammenhängt ausführlich beschäftigt hat. Der magnetische Schlaf führt für ihn in seiner gesteigerten Form zum Phänomen des ›Hellsehens‹. Diese besteht in einer paranormalen Bewusstseinserweiterung, die nach Schopenhauer die »unmittelbare Teilnahme an den Gedanken eines andern Individuums, zuletzt sogar die Fähigkeit, das Abwesende, Entfernte, ja das Zukünftige zu erkennen, also durch eine Art von Allgegenwart«132 ermöglicht. Im Vorgriff auf den Tod eröffnet sich hier ein sympathetischer Zusammenhang, der das principium individuationis transzendiert und den im Normalbewusstsein herrschenden Schein der individuellen Getrenntheit der Dinge und Personen aufhebt. Das sympathetische Phänomen des animalischen Magnetismus’ wird für Schopenhauer geradezu zum Gegenstand einer ›Experimentalmetaphysik‹, die am Ende seine metaphysische Grundannahme einer Identität aller Wesen auch empirisch auszuweisen vermag. 3.3 Die ›Magie‹ des animalischen Magnetismus Die mit dem Phänomen des animalischen Magnetismus verbundene Bewegung des Mesmerismus gehört zu den Kometen der neueuropäischen Geistesgeschichte. Sein plötzliches Erscheinen erstaunte das vorrevolutionäre Frankreich und die deutsche Spätromantik, erregte begeisterte Zu131 132

Schopenhauer: SSW 2,683. Schopenhauer: SSW 2,771.

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stimmung und verbitterte Ablehnung, evozierte populärwissenschaftliche Kontroversen, aber auch ernsthafte philosophische Deutungen, um dann rasch wieder vergessen zu werden. Als Franz Anton Mesmer (1734–1815) in Wien in den Jahren 1774/75 das Phänomen des ›thierischen Magnetismus‹ entdeckte und seine magnetischen Kuren entwickelte, stand noch seine medizinisch-therapeutische Deutung im Mittelpunkt des Interesses.133 In Paris wurde der animalische Magnetismus dann zu einem gesellschaftlichen Zentralereignis. Der Mesmerismus gewann die Dimension eines populären wissenschaftlichen Weltbildes, das sich in den so genannten ›Harmoniegesellschaften‹ landesweit verbreitete und nahm schließlich Züge einer radikaldemokratischen politischen Theorie an, die in die Französische Revolution mündete.134 Ab 1812 setzte mit der Wiederentdeckung Mesmers durch K. Ch. Wolfart die positive Rezeption des animalischen Magnetismus durch die deutsche Philosophie ein.135 Nicht Nebendarsteller, sondern wichtige Hauptfiguren romantischen Philosophierens wie Fichte, Schelling, Hegel und eben Schopenhauer sahen im animalischen Magnetismus einen paradigmatischen empirischen Beleg für ihre eigene spekulative Philosophie und legten jeweils eine entsprechende philosophische Deutung des Mesmerismus vor. Aber keiner hat wohl dem animalischen Magnetismus so viel Aufmerksamkeit geschenkt und Bedeutung zugeschrieben wie Schopenhauer. Polemisch behauptet er in seinem Versuch über das Geistersehn die Realität des Phänomens: »Wer heutzutage die Tatsachen des animalischen Magnetismus und seines Hellsehns bezweifelt, ist nicht ungläubig, sondern unwissend zu nennen.«136 Seine philosophische Deutung erscheint dabei auf den ersten Blick ebenso maßlos wie kryptisch: Aus philosophischer Sicht sei der animalische Magnetismus die bedeutendste Entdeckung und selbst eine Art von ›Experimentalmetaphysik‹: »Der animalische Magnetismus ist freilich nicht vom ökonomischen und technologischen, aber wohl vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet die inhalt-schwerste aller jemals gemachten Entdeckungen; wenn er auch einstweilen mehr Rätsel aufgibt als löst. Er ist wirklich die praktische Metaphysik, wie schon Baco von Verulam die Magie definiert – er ist gewissermaßen eine Experimen133 134 135 136

Siehe Peter Sloterdijk: Der Zauberbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785, Frankfurt a. M. 1985. Vgl. Robert Darnton: Mesmerismus und das Ende der Psychoanalyse in Frankreich, Frankfurt a. M. 1986. Siehe dazu Walter Artelt: Der Mesmerismus in Berlin, Mainz/Wiesbaden 1965. Schopenhauer, SSW 4,278.

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talmetaphysik: denn die ersten und allgemeinsten Gesetze der Natur werden von ihm beseitigt; daher er das sogar a priori für unmöglich Erachtete möglich macht.«137 Um den Referenzbereich dieser hier anklingenden philosophischen Deutung in Erinnerung zu rufen, will ich das Phänomen des animalischen Magnetismus kurz charakterisieren. Durch die Technik des Magnetisierens versetzt das magnetisierende Subjekt ein magnetisierungsfähiges Objekt in körper- bzw. bewusstseinsverändernde Zustände. Um den so genannten ›magnetischen Rapport‹ herzustellen, kann der Magnetiseur zur Übertragung seiner Energie metallische Leiter, z. B. einen Stabmagneten, benutzen. Aber schon Mesmer erkannte die Überflüssigkeit dieser Instrumente und bemerkte, dass ›die bloße Richtung der Hand‹, ja selbst die Blicke oder der ›bloße Wille‹ des Magnetiseurs, die gewünschte Wirkung erzielen.138 Die typischen Operationen des Magnetisierens selbst hat Hegel in seiner Anthropologie anschaulich beschrieben: »Die nähere Weise, wie der Magnetiseur operiert, ist vornehmlich ein Bestreichen, das indes kein wirkliches Berühren zu sein braucht, sondern so geschehen kann, daß dabei die Hand des Magnetiseurs von dem Körper der magnetischen Person etwa einen Zoll entfernt bleibt. Die Hand wird vom Kopfe nach der Magengrube und von da nach den Extremitäten hin bewegt … Ob der Magnetiseur in einer bestimmten Entfernung noch wirksam ist, das fühlt derselbe durch eine gewisse Wärme in seiner Hand.«139 Das Resultat des durch diese Technik der ›magnetischen Striche‹ eingeleiteten Rapports ist eine Krisis der magnetisierten Person. Die Erscheinungsweise dieser Krisis ist allerdings nicht eindeutig. An erster Stelle ist ihr medizinisch-therapeutischer Effekt zu nennen. Dieser verbindet sich häufig mit einem hypnotischen Zustand: Die magnetisierte Person verfällt in den so genannten ›magnetischen Schlaf‹. Sie wird somnambul und erwacht geheilt von ihren Symptomen. Allerdings ist der therapeutische Effekt nicht immer an den hypnotischen gebunden. So berichtet Fichte über ein Gespräch mit dem in Berlin auch praktizierenden Magnetiseur Wolfart: »Das Gespräch mit Wolfart geht darauf hinaus: das Magnetisiren gebe Belebung, und dadurch Heilung, auch ohne Somnambulismus. Dieser letztere sei nur Eine der Krisen. Indem ich die Sache zugebe, möchte ich 137 138

139

Schopenhauer: SSW 4,323. Vgl. Franz Anton Mesmer: Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen. Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen. Hg. v. Karl Christian Wolfart, Berlin 1814, repr. Amsterdam 1966, 112. Hegel: W 10, 153.

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doch erinnern, daß die clairvoyance, Darstellung des vollkommenen Bewußtseins in einem fremden Zustande, die vollkommenste, tief erschütterndste Krise sei.«140 In dieser Stellungnahme Fichtes tritt sofort der Phänomenaspekt des animalischen Magnetismus hervor, der das Interesse des Philosophen auf sich zieht: Aufregend ist nicht der therapeutische Effekt, sondern das durch den Somnambulismus hervorgerufene paranormale Bewusstsein. Dieses erweist sich nämlich gegenüber dem alltäglichen Bewusstsein als depotenziert und potenziert zugleich. Gerade indem das gewöhnliche Selbstbewusstsein in einen ›fremden Zustand‹ fällt, wird es zu außergewöhnlicher Erkenntnisfähigkeit gesteigert und gewinnt die Potenz des perfekten Hellsehens (clairvoyance). Diese im Phänomenbereich des animalischen Magnetismus hervortretende, paranormale Potenzierung des menschlichen Bewusstseins stellt für das ein wichtiges empirisches Paradigma für die Philosophie der Spätromantik dar. Vor der folgenden Charakterisierung der Magnetismusinterpretation Schopenhauers seien einige kontrastierende Deutungen kurz angesprochen. Auf den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, Mesmers 1814 von Wolfart herausgegebenes Hauptwerk Mesmerismus oder System der Wechselwirkungen den philosophischen Deutungen des animalischen Magnetismus zuzurechnen. Aber das Magnetismusphänomen hat sich hier zu einem vollständigen philosophischen System amplifiziert, das sowohl eine kosmologische Physik, als auch eine Ethik, eine politische Theorie und sogar einen radikaldemokratischen Verfassungsentwurf enthält. Mesmers System ist stark durch den französischen Materialismus geprägt und erklärt das Phänomen des animalischen Magnetismus durch ein ›universelles Fluidum‹, das auch das menschliche Nervensystem durchströme. »Eingetaucht in den Ozean der Allflut welche den Raum erfüllt, hängt der Mensch unmittelbar mit der physischen Ordnung und mit der Kette der Natur zusammen.«141 Der Magnetiseur stelle dementsprechend den harmonischen Fluss des universellen Fluidums im Organismus des Patienten wieder her, der im Krankheitszustande gestört und gehemmt worden war. Die magnetische Kur reintegriere zugleich den Patienten in die ›universelle Harmonie‹ der fluidalen Allnatur und rehabilitiere ihn als Naturwesen. In der politischen Konsequenz dieses fluidalen Naturalismus fordert schließlich Mesmer im vorrevolutionären Frankreich, unter den

140 141

Johannes Gottlieb Fichte: Nachgelassene Werke. Hg. v. Johannes Gottlieb Fichte, Bonn 1834/35, Bd. 3, S. 299. Mesmer: Mesmerismus, S. 4.

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Schlagworten ›Freiheit und Gesundheit‹, eine demokratische Therapie der gesamten menschlichen Gesellschaft. Die durch die transzendental-kritische Philosophie Kants hindurchgegangene Magnetismusdeutung der deutschen philosophischen Romantik hebt sich dagegen deutlich gegen diesen materialistischen und dogmatischen Fluidismus Mesmers ab. Der therapeutische Effekt tritt in den Hintergrund. In den Vordergrund treten die paranormalen Bewusstseinsphänomene, insbesondere das mit dem Somnambulismus verbundene Hellsehen. Anders als bei Mesmer bildet der animalische Magnetismus nicht mehr den Quellpunkt der gesamten Theoriebildung, sondern bietet sich der philosophischen Romantik als empirisch-objektives Paradigma und Beweisstück für ihre gegenüber dem gewöhnlichen Bewusstsein vertretenen extraordinären spekulativen Sachverhalte an. So fragt etwa der spätromantische Fichte in seinem Tagebuch über den animalischen Magnetismus (1813): »Jenes fluide universel! ob es nicht in mein System der Wissenschaftslehre eben als das letzte Objektive der Erscheinung … eingehen sollte?«142 Fichtes früher Tod verhindert zwar diese systematische Konsequenz, lässt ihm aber noch Zeit für eine interessante – Schopenhauers mesmeristische Rhetorikdeutung stützende – Analogie zwischen dem Phänomen des animalischen Magnetismus und seiner eigenen akademischen Lehrrhetorik: »Die Analogie mit der Mittheilung einer Evidenz und Ueberzeugung … Das Phänomen, daß meine Zuhörer mich verstehen unter meinen Augen, aus dem Auditorio nicht mehr, ist von gleicher Art.«143 Theoretisch affirmativ deutet den animalischen Magnetismus auch Schelling im Kontext in seinem Gespräch Clara. Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Das magnetische Hellsehen macht demnach die daimonische Seelenpotenz im Menschen sichtbar. Das im Normalzustand geteilte und dekonzentrierte Gemüt sammle sich »zur höchsten innern Klarheit und einem Bewußtseyn …, mit dem das im Wachen nicht von ferne zu vergleichen«144 sei. Im Gegensatz zum depotenzierten Normalzustand des Bewusstseins bedeutet der paranormale Ausnahmezustand des magnetischen Schlafes und seines Hellsehens eine Steigerung der Erkenntnisfähigkeit und beginnende ›Essenzifizierung‹ der gesamten menschlichen Existenz. Das Hervortreten des dämonischen Wesens der menschlichen Person im ›magnetischen Schlaf‹ unterstütze als empirischer 142 143 144

Fichte: Nachgelassene Werke, S. 311. Fichte: Nachgelassene Werke, S. 300f. Schelling: SW I,9,65.

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Beleg die spekulative Interpretation des Todes als Übergang in die Geisterwelt und endgültige ›Essenzifizierung‹. Eine kritischere Einstellung gegenüber den paranormalen Bewusstseinszuständen finden wir dagegen in der Anthropologie Hegels. Einerseits bestätigt das Phänomen des magnetischen Rapportes und des zeit- und raumüberbrückenden Hellsehens seine spekulative These von der Allmacht des transpersonalen und ideellen Prinzips des Seelischen: »Die Seele ist das Allesdurchdringende, nicht bloß in einem besonderen Individuum Existierende.«145 Aber die Erkenntnis des im Somnambulismus hervortretenden ›Genius‹ der fühlenden Seele sei lediglich individuell, partikular und subjektiv. Es sei deshalb »töricht, Offenbarungen über Ideen vom somnambulen Zustand zu erwarten«146. Bei Schopenhauer findet sich im Gegensatz zum zurückhaltenden Urteil Hegels wieder eine emphatisch affirmative Deutung des animalischen Magnetismus. Er sieht in diesem Phänomen eine ›direkte Bestätigung‹ seiner Willensmetaphysik. Dementsprechend ändert sich der Referenzpunkt seiner philosophischen Deutung. In seiner Abhandlung Animalischer Magnetismus und Magie äußert sich nicht wie bei Schelling ein primär auf die kognitive Verfassung des somnambulen Objektes, sondern das Interesse an einer seine Willensmetaphysik beglaubigende Deutung des animalischen Magnetismus, die sich auf volitive Vermögen des magnetisierenden Subjektes konzentriert. Schopenhauer interessiert »hingegen der aktive Teil, das eigentliche Agens, vermöge dessen der Magnetiseur diese Phänomene hervorruft«147. Dabei lehnt Schopenhauer aus der Sicht seiner spätromantischen Willensmetaphysik den materialistischen Fluidismus Mesmers ab und erklärt, dass »jenes Agens nichts anderes ist als der Wille des Magnetisierenden«148. Mit dieser willensmetaphysisch motivierten subjekttheoretischen Erklärung erhebt sich allerdings die Frage: Wenn allein der innere Wille des Magnetiseurs die magnetische Wirkung hervorbringt, welchen Sinn haben dann seine äußeren Hilfsmittel und Operationen? Auch hier meint Schopenhauer eine plausible Antwort gefunden zu haben: »Die Manipulation scheint nur ein Mittel zu sein, den Willensakt und seine Richtung zu fixieren und gleichsam zu verkörpern.«149 Die leiblichen Aktionen haben zwar einen fixativen Sinn. Das eigentliche Agens, so betont Schopenhauer – und 145 146 147 148 149

Hegel: W 10,143. Hegel: W 10,134 Schopenhauer: SSW 3,423. Schopenhauer: SSW 3,424. Ebd.

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hier ist der metaphysische Ansatzpunkt seiner Magnetismusdeutung –, sei aber »der Wille in seiner Ursprünglichkeit, als Ding an sich«150. Die fixierende Bedeutung der äußeren Aktionen ergibt sich ebenfalls zwanglos aus einem leibtheoretischen Topos seiner Willensmetaphysik, dass nämlich »der Organismus die bloße Erscheinung, Sichtbarkeit, Objektivität des Willens«151 sei. Die leibhaften Aktionen des Magnetiseurs koinzidieren somit mit seinen inneren reinen Willensakten. Sie bilden aber nicht bloß ihre expressiv-symbolische Repräsentanz in der Erscheinungswelt, sondern haben auch eine generative Funktion. Mit den symbolischen Manipulationen konzentriert und richtet sich der innere magnetisierende Wirkwille des Magnetiseurs aus. Der aktive Leib des Magnetiseurs und nicht sein vorstellendes Selbstbewusstsein stelle somit das magnetische Fixationszentrum in der Erscheinungswelt dar. Nur der reine – von der Vorstellung abgesonderte – Wille, aber nicht das reflexive Bewusstsein und seine vorstellungsvermittelten Willensanstrengungen wirken magnetisch. Dagegen gewönne der durch die symbolischen Leiboperationen potenzierte reine Wille den paranormalen Charakter einer geradezu omnipotenten Willensmacht: »Im Magnetiseur nimmt der Wille einen gewissen Charakter von Allmacht an und in der Somnambule der Intellekt den der Allwissenheit. Dabei werden beide gewissermaßen zu einem Individuo: sein Wille beherrscht sie und ihr Intellekt ist seiner Gedanken und sinnlichen Empfindungen teilhaft.«152 Der Wille des Magnetiseurs hebt hier partiell das principium individuationis auf, negiert die gewöhnliche Isolation des Willens und durchbricht das normale Raum-Zeit-Kausalitätskontinuum. Gleichzeitig konstituiert sich eine paranormale »unterirdische Verbindung«153 und Lebenseinheit zwischen Magnetiseur und somnambuler Person. Für Schopenhauer tritt hier die ›unterirdische Verbindung‹ eines nexus metaphysicum zu Tage. Dieser durch das ›Wesen an sich aller Dinge gehende‹ metaphysische Zusammenhang ermöglicht im Gegensatz zu den äußeren Wirkungen des nexus physicum ein direktes und inneres Wirken von einem Punkt der Erscheinung auf jeden beliebigen anderen. Damit eröffnet sich für Schopenhauer grundsätzlich die Perspektive einer – an die gewöhnlichen Gesetze der Erscheinungswelt nicht mehr gebundenen »übernatürliche[n], d.i. metaphysische[n] Herrschaft über die Natur«154. Die theoretische 150 151 152 153 154

Schopenhauer: SSW 3,426. Schopenhauer: SSW 3,425. Ebd. Schopenhauer: SSW 3,437. Schopenhauer: SSW 3,429.

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durch den animalischen Magnetismus empirisch belegte Hypothese eines nexus metaphysicum lässt für Schopenhauer die Idee einer praktischen Metaphysik wiederaufleben: »Der animalische Magnetismus tritt demnach geradezu als die praktische Metaphysik auf, als welche schon Baco von Verulam in seiner Klassifikation der Wissenschaften (›Instauratio magna‹ lib. 3) die Magie bezeichnete: er ist die empirische oder ExperimentalMetaphysik.«155 Nach dem bisherigen Gedankengang erscheint diese Instauration einer empirischen Metaphysik plausibel: Genauso wie es eine empirische Naturwissenschaft für den nexus physicum gibt, soll es doch wohl auch eine Experimentalmetaphysik für den nexus metaphysicum geben. Dabei habe die Experimentalmetaphysik, die den metaphysischen Einfluss des Willens inmitten der Erscheinungs- und Körperwelt untersucht, nicht nur einen Repräsentanten im rechtverstandenen animalischen Magnetismus, sondern der gesamten Tradition der Magietheorie. Deren Grundproblem sei gerade auch die Möglichkeit einer Befreiung des Willens aus seiner individuellen Isolation gewesen: »Hierzu den Weg zu finden, die Isolation, in welcher der Wille sich in jedem Individuo befindet, aufzuheben, eine Vergrößerung der unmittelbaren Willenssphäre über den eigenen Leib des Wollenden hinaus zu gewinnen – das war die Aufgabe der Magie.«156 In der Experimentalmetaphysik fänden auch die magietheoretischen Spekulationen eines Agrippa v. Nettesheim, Theophrastus Paracelsus und Jakob Böhme endlich ihre willensmetaphysisch aufgeklärte wissenschaftliche Form. 3.4 Das spätromantische Ende der philosophischen Ironie Insbesondere durch das Beispiel der ›Magie‹ animalischen Magnetismus erfährt Schopenhauers zunächst irritierende Definition der Rhetorik als eines Vermögens, ›andere Sympathie mit uns zu versetzen‹, seine nähere Erläuterung. Demnach wird der innere Zusammenhang des Rhetorischen mit der philosophischen Wahrheit der Schopenhauerschen Willensmetaphysik deutlich. Auch das Rhetorische gehört demnach zu der Reihe außergewöhnlicher Phänomene, die das ansonsten herrschende Prinzip der Individuation punktuell aufheben und einen sympathetischen Zusammenhang darstellen, der zum empirischen Index der metaphysischen Wahrheit wird. Auch die Beredsamkeit vermag jene außerordentliche metaphysische Grundstimmung der Sympathie zu erzeugen, die das gewöhnlich zwischen 155 156

Ebd. Schopenhauer: SSW 3,438.

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Drangsal und Langeweile hin und her getriebene Willensschicksal der vielen Einzelnen momenthaft aufhebt, um in der außergewöhnlichen Homoiostase des konsensuellen Sympathieerlebens die metaphysische Identität des Willens durchscheinen zu lassen. Aus diesem Wesen der Sympathie als empirischer Bekundung metaphysischer Identität erklärt sich nun sowohl der eigentümliche Wahrheitsbezug des Rhetorischen als auch der merkwürdige Ausfall des Persuasionsbegriffs in Schopenhauers Rhetorik-Definition. Philosophisch betrachtet zielt nämlich die Rhetorik nicht primär darauf, andere von der propositionalen Wahrheit bestimmter Aussagen argumentativ zu überzeugen, sondern jene Grundstimmung der Sympathie zu erzeugen, in der sich die ansonsten verborgene metaphysische Wahrheit empirisch bekundet. Neben der Ethik, der Sexualität und der ›Magie‹ des animalischen Magnetismus bildet somit das Rhetorische für Schopenhauer ein weiteres, ausgezeichnetes Phänomen, in dem sich momenthaft das ansonsten hinter dem ›Schleier der Maya‹ verborgene ›Wesen der Welt‹ und die Wahrheit der metaphysischen Identität aller Wesen sympathetisch offenbart. Der Erzeugung dieser außergewöhnlichen sympathetischen Homoiostase, die die eigentliche Aufgabe des Redners darstellt, setzt allerdings das Normalbewusstsein der Hörer zunächst einen erheblichen Widerstand entgegen, den es unter Einsatz aller rhetorischen Mittel zu überwinden gilt. Dieser rhetorische Widerstand, der in der mentalen Disharmonie und Stimmungsdifferenz des individuellen Hörerbewusstseins besteht, wird durch eine Vielzahl separierender Faktoren hervorgerufen. Zu ihnen können nach Schopenhauer die unterschiedliche gegenwärtige Lage, Beschäftigung, soziale Umgebung, ferner die differenten körperlichen Zustände und augenblicklichen Gedankengänge der Zuhörer gehören. Um gegen diesen rhetorischen Widerstand die allseitige sympathetische Übereinstimmung zu erzeugen, muss der Redner versuchen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine durchgreifende Homogenisierung der Mentalität seiner Hörer hervorzurufen: »… dies alles aber dadurch, dass wir mittelst Worten den Strom unserer Gedanken in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, dass er den ihrer eigenen von dem Gange, den sie bereits genommen, ablenkt und in seinen Lauf mit fortreißt.«157 Indem hier Schopenhauer den rhetorischen Grundakt der Mentalitätshomogenisierung mit der Metapher des elektrischen Stromes unterlegt, spielt er auf moderne Weise auf jene dynamische Kraft und erstaunliche Macht (deinotes) des rhetorischen Logos an, die schon die antike Sophistik unter 157

Schopenhauer: SSW 2,154.

221

Berufung auf die Göttin der Überredung, die Peitho, verkündete und pries. Auch die sophistische Vorstellung von der Rhetorik als ›Werkmeisterin der Überredung‹ findet sich bei Schopenhauer wieder. Schon Protagoras hatte bekanntlich auf den transformierenden Metabolie- und Bekehrungscharakter der Rhetorik hingewiesen, wenn er in seinem Fragment 6b zur Redestreitkunst hervorhebt, es käme darauf an, die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen und umgekehrt.158 Daran anknüpfend vertritt auch Schopenhauer die Auffassung, dass die Rhetorik gerade in Fällen starker Differenzen zwischen der Redner- und Hörermentalität ihre Meisterschaft zu beweisen vermag. »Dies Meisterstück wird umso größer sein, je mehr der Gang ihrer Gedanken vorher von dem unserigen abwich.«159 Dabei sind es, wie Schopenhauer ausdrücklich betont, nicht nur die verbalen Kunstmittel, sondern vor allem das Ethos und die Persönlichkeit des Redners selbst, d. h. seine eigenen Überzeugungen und Leidenschaften, die die Dynamik des rhetorischen Homogenisierungsprozesses vorantreiben. Schon die lateinische Rhetorik und Poetik bei Cicero, Quintilian und Horaz hatte hier die Regel der Selbsterregung vorgegeben, die besagt, »Affizierung des anderen setze Selbstaffizierung voraus«160. So lehrt Quintilian in seiner Institutio oratoria: »Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach meinem Empfinden, darin, sich selbst der Erregung hinzugeben.«161 Allerdings versteht Schopenhauer die rednerische Gefühlsdarstellung nicht so sehr im Sinne Quintilians als künstliche, simulatorische Selbstaffektion, sondern als authentischen Persönlichkeitsausdruck, der »mehr Gabe der Natur als Werk der Kunst« sei, allerdings nicht ohne sogleich hinzuzufügen: »… doch wird auch hier die Kunst die Natur unterstützen.«162 Bei aller Betonung des Ingeniums der Persönlichkeit, das ganz im Sinne der klassischen Rhetoriktheorie die naturgegebene Grundlage aller Beredsamkeit bildet, vernachlässigt Schopenhauer aber auch nicht die Kunstform der Rhetorik, die sie als regelgeleitete Technik der Vernunft vor der inartifiziellen praktischen Beredsamkeit auszeichnet. Mit diesem Kunstaspekt der Rhetorik rückt nun auch ihre auf die propositionale Wahrheit ausgerichtete Argumentationsstrategie ins Zentrum seiner Überlegungen. 158 159 160

161 162

Vgl. Diels/Kranz: Fragmente, S. 266. Schopenhauer: SSW 2,154. Vgl. Rüdiger Campe: »Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Näherung ausgehend von Quintilian ›Institutio oratoria‹ VI 1–2«. In: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. Hg. von Josef Kopperschmidt, München 2000, S. 135–152, hier: S. 138f. Quintilianus: Institutionis Bd. 1, VI 2,26. Schopenhauer: SSW 2,154.

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Im Unterschied zur eristischen Dialektik geht es der Rhetorik demnach nicht in erster Linie darum, lediglich Recht zu behalten, sondern die anderen von der Wahrheit der eigenen Ansichten und Gesinnungen zu überzeugen. In formaler argumentationstechnischer Hinsicht vertritt Schopenhauer in Anknüpfung an Aristoteles ein am Syllogismus orientiertes, dialektikanaloges Rhetorikkonzept, das jedoch das eristische Moment der bloßen Geltungsdurchsetzung zugunsten des propositionalen Wahrheitsanspruchs zurückstellt. Mit dieser Grundentscheidung für die argumentative Kraft der sachorientierten Rede distanziert sich seine Rhetorik z. B. von jenen unsachlichen argumenta ad hominem, d. h. allen jenen Formen des beleidigend und grob Persönlichwerdens, die die eristische Dialekt in ihrem Kunstgriff 38 empfielt.163 Die argumentationstechnische Grundregel der Schopenhauerschen Rhetorik lautet: »Um einen andern von einer Wahrheit, die gegen einen von ihm festgehaltenen Irrtum streitet, zu überzeugen, ist die erste zu befolgende Regel eine leichte und natürliche: man lasse die Prämissen vorangehn, die Konklusion aber folgen.«164 Schopenhauer rät hier zum ordo naturalis der sich im Syllogismus artikulierenden argumentativen Vernunft, dergemäß im Schlussverfahren die Prämissen der Konklusion voranzugehen haben. Diese erste Regel richtet sich vor allem gegen das umgekehrte Verfahren, aus Eifer, Rechthaberei oder Hastigkeit zuerst »die Konklusion laut und gellend dem am entgegengesetzten Irrtum Hängenden entgegenzuschrein«165. Dieses in der Rhetorik verbotene Strategem gehört dagegen als Kunstgriff 14 durchaus zum Arsenal der eristischen Dialektik: »Ein unverschämter Streich ist es, wenn man nach mehreren Fragen, die er beantwortet hat, ohne dass die Antworten zu Gunsten des Schlusses, den wir beabsichtigen, ausgefallen wären, nun den Schlusssatz, den man dadurch herbeiführen will, obgleich er gar nicht daraus folgt, dennoch als dadurch bewiesen aufgestellt und triumphierend ausschreit.«166 Aus der Sicht der Rhetorik ist dieses Strategem letztlich schon deshalb nicht überzeugungswirksam, weil es als verbaler Gewaltstreich beim Adressaten Misstrauen hervorruft und den Widerwillen beim Hörer verstärkt: »… und nun stemmt er seinen Willen gegen alle Gründe und Prämissen, von denen er schon weiß, zu welcher Konklusion sie führen.«167 163 164 165 166 167

Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Kunst Recht zu behalten. In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt. Hg. v. Franco Volpi, Frankfurt a. M. / Leipzig 1995, S. 71f. Schopenhauer: SSW 2,154. Ebd. Schopenhauer: Die Kunst recht zu behalten, S. 51. Schopenhauer: SSW 2,154.

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Im Gegensatz zu seiner eristischen Dialektik rät die Rhetorik Schopenhauers deshalb zu einer umgekehrten Argumentationsstrategie, die den Hörerwiderstand nicht provoziert, sondern herabstimmt: »Daher soll man vielmehr die Konklusion völlig verdeckt halten und allein die Prämissen geben, deutlich, vollständig und allseitig.«168 Die vollständige Aufdeckung der Prämissen, die die Präsuppositionen des Redners für den Hörer transparent machen, soll demnach vom Verschweigen der Konklusion begleitet werden. Dieses strategische Konklusionsverschweigungsgebot erinnert sowohl an das allgemeine rhetorische Kunstverbergungsgebot (celare artem) und überdies an die 3. Klugheitsregel von Balthasar Graciáns Handorakel,169 die in Schopenhauers eigener Übersetzung lautet: »Über sein Vorhaben in Ungewißheit lassen … Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm.«170 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass Schopenhauer unter Rhetorik keine symmetrische, konsensorientierte Kommunikation versteht, sondern eine vom Rednerwillen ausgehende strategische Stimmungs- und Gedankenübertragung durch Rede versteht. Allerdings wäre es vorschnell, diese im Konklusionsverschweigungsgebot gegebene Lizenz zu strategischem Redehandeln als grundsätzliche Abkehr von der Vernunft- und Wahrheitsorientiertheit seiner Rhetorik zu werten. Argumentationstheoretisch lässt sich zunächst einmal festhalten, dass auch Schopenhauer wie schon Aristoteles unter der rhetorischen Deduktion in der Form des Enthymems keinen vollständigen, sondern nur einen verkürzten Syllogismus versteht.171 Diese enthymematische Verkürzung der vollständigen syllogistischen Schlussform besteht bei Aristoteles allerdings in der Tilgung eines Teils der Prämissen, bei Schopenhauer dagegen im Verschweigen der Konklusion. Während ferner für Aristoteles das verkürzte enthymematische Schlussverfahren durch das mangelnde Urteilsvermögen der vielen, ungeübten Zuhörer, »die nicht in der Lage sind, über vieles hinweg zusammenzuschauen und von weither Schlüsse zu ziehen«172, motiviert ist, traut Schopenhauer – wenigstens in der Rhetorik – seinem Publikum durchaus eine starke rationale Kompetenz zu, die es erlaubt, aus 168 169

170 171 172

Ebd. Zur Gracián-Rezeption Schopenhauers vgl. Sebastian Neumeister: »Schopenhauer, Gracián und die Form des Aphorismus«. In: Schopenhauer Jahrbuch 85 (2004), S. 31–46. Baltarsar Gracián: Handorakel und die Kunst der Weltklugheit, übers. von Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1992, S. 1. »Ich bezeichne nämlich die rhetorische Deduktion als Enthymem« (Aristoteles: Rhetorik, 1356b). Aristoteles: Rhetorik, 1357a.

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den vollständig vorgetragenen Prämissen die Konklusion selbst zu ziehen: »… sie wird sich in der Vernunft der Hörer notwendig und gesetzmäßig von selbst einfinden, und die so in ihnen selbst geborene Überzeugung wird um so aufrichtiger, zudem von Selbstgefühl statt von Beschämung begleitet sein.«173 Dieses Konklusionsverschweigungsgebot Schopenhauers zielt somit gerade nicht auf die strategische Täuschung und Depotenzierung seiner Hörer, sondern ganz im Gegenteil auf die Potenzierung ihrer Subjektivität durch selbstvollzogene Überzeugung. In diesem Sinne hält Schopenhauer auch jene ironische Verstellung durchaus für legitim, die nicht im dissimulatorischen Verschweigen der eigentlich gemeinten Konklusion, sondern im simulatorischen Vortrag ihres Gegenteils besteht. »In schwierigen Fällen kann man sogar die Miene machen, zu einer ganz entgegengesetzten Konklusion, die man wirklich beabsichtigt, gelangen zu wollen.«174 Ein Musterbeispiel dieser strategischen Ironie sieht Schopenhauer in der berühmten Antoniusrede aus Shakespeares Julius Caesar. Aber diese Figur der strategischen Ironie soll sich keineswegs zur Lüge verfremden. Um sein persuasives Redeziel zu gefährden, darf der Redner – so schärft Schopenhauer in seinem Rhetorik-Kapitel noch einmal ein – wirklich nur Wahres vortragen und muss sich hüten, Wahrheiten mit Halbwahrheiten oder mit Scheinbaren vermischt vorzutragen. Denn »das Falsche wird bald erkannt oder doch gefühlt und verdächtigt nun auch das mit ihm zusammen vorgetragene Triftige und Wahre«175. Mit diesem strikten Redlichkeitsgebot profiliert sich die Rhetorik noch einmal gegen die eristische Dialektik, die im Kunstgriff 36 vorschlägt: »Den Gegner durch sinnlosen Wortschwall verdutzen … so kann man ihm dadurch imponieren, daß man ihm einen gelehrt und tiefsinnig klingenden Unsinn, bei dem ihm Hören, Sehn und Denken vergeht, mit ernsthafter Miene vorschwatzt, und solches für den unbestreitbarsten Beweis seiner eignen Thesis ausgibt. Bekanntlich haben in neuern Zeiten, selbst dem ganzen Deutschen Publikum gegenüber, einige Philosophen diesen Kunstgriff mit dem brilliantesten Erfolg angewandt.«176 Kants Aufklärungsmaxime des Selbstdenkens wirkt hier zweifellos auch noch in Schopenhauers willensmetaphysisch begründeter romantischer Transformationsrhetorik weiter fort. Zwar beginnt der rhetorische Überzeugungsprozess asymmetrisch mit einer einseitigen Rednerinitiative 173 174 175 176

Schopenhauer: SSW 2,154f. Schopenhauer: SSW 2,155. Ebd. Schopenhauer, Die Kunst Recht zu behalten, S. 70.

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und schließt sogar den Gebrauch strategischer Mittel wie die Konklusionsverbergung und die ironische Verstellung ein, aber er endet symmetrisch im eigenständigen allseitigen Mitvollzug des vom Publikum selbst vervollständigten Gedankenganges. Am Ende des rhetorischen Überzeugungsprozesses konvenieren somit Redner- und Hörersubjektivität und stellt sich auch auf der propositionalen Ebene jene die Individualität transzendierende Homoiostase her, auf die Schopenhauers sympathetische Rhetorik eigentlich abzielt. Indem die spätromantische Transformationsrhetorik Schopenhauers auf jene sympathetische Homoiostase aller Beteiligten abzielt, in der alle Momente individueller Differenz und Alterität geschwunden sind, um der transpersonalen Wahrheit des einen metaphysischen Urwillens Raum zu geben, erlöst sie zwar das individuelle Ich von der Last seiner Individualität, aber in dieser Figur der erlösenden Depotenzierung individueller Subjektivität zeichnet sich auch bereits das epochale Ende des romantischen Projekts der freien Selbsterfindung ab. Von daher verwundert es nicht, dass in eins mit dieser spätromantischen Tendenz zur Depotenzierung des Subjektes auch die Figur der Ironie ihre infinite, philosophische Bedeutung wieder verliert. Sie endet bei Schopenhauer wieder als die, die sie vor ihrem von der Frühromantik initiierten Höhenflug als infinitisierte, philosophische Figur war, in der beschränkten Rolle eines im schulrhetorischen Sinne gebrauchten strategischen Kunstmittels. Mit diesem Verschwinden der Ironie als gedankenstilistischer Grundfigur aus dem systematischen Zentrum des romantischen Philosophierens beginnt sich auch die ebenso spannungsreiche wie produktive Duplizität und Bipolarität des romantischen Denkstils aufzulösen. Der monopolare Grundzug synekdochischer Totalisierung und Depotenzierung individueller Subjektivität gewinnt in Schopenhauers leidzentrierter, ernster und pessimistischer Willensmetaphysik ein erdrückendes Übergewicht. Das von Ironie und Ernst getragene duplizitäre romantische Spiel jener optimistischen Subjektphilosophie, die bei Fichte, F. Schlegel und Schelling zu den zahlreichen Spielarten der philosophischen Selbsterfindung führten, neigt sich in der spätromantischen Philosophie Schopenhauers so ihrem epochalen Ende entgegen.

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