Speyer als Hauptstadt des Reiches: Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert 9783110499292, 9783110499810

During the 16th and 17th centuries, Speyer was an organizational center for the Holy Roman Empire. It headquartered the

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German Pages 260 [261] Year 2016

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Inhalt
Vorwort und Danksagung
Einleitung
I. Speyer als Zentralort des Reiches
Speyer als Zentralort des Reiches: Methodische Überlegungen
Religionsprozesse am Reichskammergericht. Zum Wandel des reichspolitischen Konfliktpotentials der Kammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit (1530–1541)
Speyer als Tagungsort des Hofrats Kaiser Karls V
Eine gute Gelegenheit für Integration. Der Burgundische Reichskreis auf dem Reichstag zu Speyer 1570
Visitationen des Reichskammergerichts: Akteure und Handlungsspielräume
II. Die Reichsstadt Speyer
Die Reichsstadt Speyer zu Beginn der Frühen Neuzeit. Ein wenig bekanntes Kapitel der Stadtgeschichte im Überblick
Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht
Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689): ein kunsthistorischer Blick auf die bauliche Überlieferung des höchsten Gerichts
III. Speyer und die Nachbarn
Bistum und Hochstift Speyer im Spannungsfeld von Reformation und Katholischer Reform im 16. und frühen 17. Jahrhundert
Die Stadt Speyer, der Bischof, sein Henker und das Reich. Zu den Streitigkeiten um das Recht zur peinlichen Strafvollstreckung in Speyer
Speyer als juridischer Zentralort des Reiches und sein Umfeld. Akteure und Interessen, Handlungsfelder und Handlungsformen im Mittelrheingebiet im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung
IV. Zugang zu neuen Quellen
Reichskammergerichtspersonal in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689
Die Wetzlarer Visitationen und ihre Folgen: Ein Archivbericht
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Speyer als Hauptstadt des Reiches: Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert
 9783110499292, 9783110499810

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Anette Baumann, Joachim Kemper (Hrsg.) Speyer als Hauptstadt des Reiches

bibliothek altes Reich

Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal

Band 20

Speyer als Hauptstadt des Reiches Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert Herausgegeben von Anette Baumann und Joachim Kemper

ISBN 978-3-11-049981-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049929-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049706-9 ISSN 2190-2038

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlag- und Vorsatzabbildung: Speyer. Kupferstich von Matthäus Merian d. Ä., 1645. Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar. Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort und Danksagung Die dem vorliegenden Band zugrunde liegende Wissenschaftliche Tagung in Speyer, zugleich 14. Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit (15. bis 16. Oktober 2015), war eine gemeinsame Veranstaltung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung Wetzlar e.V. und der Stadt Speyer (Organisation und Koordination: Abteilung Kulturelles Erbe, Stadtarchiv Speyer). Die Veranstaltung wurde vor Ort auch von der Bezirksgruppe Speyer im Historischen Verein der Pfalz e.V. unterstützt und finanziell gefördert. Reise- und Aufenthaltskosten finanzierte die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung mit Geldern des Hessischen Ministeriums der Justiz. Der Tagungsband wurde durch das genannte Justizministerium und die Bezirksgruppe Speyer finanziell gefördert. Tagungen und Tagungsbände brauchen Vorbereitungen und Absprachen, zumal wenn die Arbeit an zwei Orten zu leisten ist. Wir danken vor allem Frau Andrea Müller, die schon seit vielen Jahren die Forschungsstelle bei der Organisation von Tagungen und bei der Herstellung von Tagungsbänden zuverlässig und kompetent unterstützt, sowie Frau Marion Hardt für die Organisation und die Gästebetreuung während der Tagung vor Ort in Speyer. Unser Dank gilt auch dem Verlag für die zügige Abwicklung und den Reihenherausgebern für die Aufnahme in die Reihe. Nicht zuletzt schulden wir den Autorinnen und Autoren für die zügige Lieferung der Beiträge den allerherzlichsten Dank. Anette Baumann und Joachim Kemper Wetzlar und Speyer im Juni 2016

Inhalt Vorwort und Danksagung

V

Anette Baumann und Joachim Kemper Einleitung 1

I

Speyer als Zentralort des Reiches

Siegrid Westphal Speyer als Zentralort des Reiches: Methodische Überlegungen

11

Gabriele Haug-Moritz Religionsprozesse am Reichskammergericht. Zum Wandel des reichspolitischen Konfliktpotentials der Kammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit (1530–1541) 23 Eva Ortlieb Speyer als Tagungsort des Hofrats Kaiser Karls V.

35

Yves Huybrechts Eine gute Gelegenheit für Integration. Der Burgundische Reichskreis auf dem Reichstag zu Speyer 1570 46 Anette Baumann Visitationen des Reichskammergerichts: Akteure und Handlungsspielräume 68

II Die Reichsstadt Speyer Joachim Kemper Die Reichsstadt Speyer zu Beginn der Frühen Neuzeit. Ein wenig bekanntes Kapitel der Stadtgeschichte im Überblick 87 Martin Armgart Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht

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VIII

Inhalt

Anja Rasche Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689): ein kunsthistorischer Blick auf die bauliche Überlieferung des höchsten Gerichts 114

III Speyer und die Nachbarn Hans Ammerich Bistum und Hochstift Speyer im Spannungsfeld von Reformation und Katholischer Reform im 16. und frühen 17. Jahrhundert 139 Andreas Deutsch Die Stadt Speyer, der Bischof, sein Henker und das Reich. Zu den Streitigkeiten um das Recht zur peinlichen Strafvollstreckung in Speyer 168 Alexander Jendorff Speyer als juridischer Zentralort des Reiches und sein Umfeld. Akteure und Interessen, Handlungsfelder und Handlungsformen im Mittelrheingebiet im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung 189

IV Zugang zu neuen Quellen Hans-Helmut Görtz Reichskammergerichtspersonal in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689 229 Sylvia Kabelitz Die Wetzlarer Visitationen und ihre Folgen: Ein Archivbericht

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Anette Baumann und Joachim Kemper

Einleitung 2005 nannte Eike Wolgast einen Aufsatz: „Editionsprojekt. Die Geschichte der Reichstage ist die Geschichte der Regierung von Deutschland“1. Er griff damit eine These auf, die bereits Leopold von Ranke zum Zweck der Edition der Reichtagsakten vertrat und die Peter Moraw und Volker Press 1975 neu formulierten2. Sie stellten damals fest, dass man zwar einiges über die spektakulären Ergebnisse der Reichstage wisse, aber wenig über das Funktionieren des Reichstages im 16. und 17. Jahrhundert, über Entscheidungsprozesse und informelle Einflüsse. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der Reichstag gilt zwar in der Forschung neben dem Herrscherhof unbestritten als das zweite Hauptforum der politischen Existenz im Reich3; er wird aber nach wie vor meist isoliert von der ausrichtenden Stadt und Region sowie den dort eventuell angesiedelten Reichsinstitutionen gesehen. Das ist auch bei den Speyerer Reichstagen der Fall. Speyer wird nicht als Zentralort des Reiches wahr genommen, obwohl die Stadt neben zahlreichen Reichstagen im Gegensatz zu allen anderen Reichsstädten eine der ersten zentralen Institutionen des Heiligen Römischen Reiches, das Reichskammergericht, beherbergte. Dieses Gericht wurde regelmäßig von den Ständen visitiert, die dort nicht nur die Rechtsprechung begutachteten, sondern auch politische Entscheidungen trafen. Reichstag und Visitation interagierten, nicht zuletzt auf Grund ihrer personellen Besetzung und räumlichen Nähe im Speyerer Ratshof. Maximilian Lanzinner stellte zudem fest, dass die „Visitationstage eine Brückenfunktion zwischen dem Kammergericht und dem Reich“ hatten4. Er wies auch auf sogenannte Justiztage hin, die zwar z.T. getrennt von den Reichstagen stattfanden, aber immer in engem Zusammenhang mit ihnen standen5. Lanzinner beklagte außerdem den Umstand,

1 Eike Wolgast: Editionsprojekt „Die Geschichte der Reichstage ist die Geschichte der Regierung von Deutschland“, in: Akademie Aktuell, Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 01 (2005), S. 39–44. 2 Peter Moraw: Rechtspflege und Reichsverfassung im 15. und 16. Jahrhunert. Wetzlar 1990 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 10); Volker Press: Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Zu einem Forschungsschwerpunkt, in: Zeitschrift für historische Forschung 2 (1975), S. 95–107, 102. 3 Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250–1490. Berlin 1985 (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3). 4 Maximilian Lanzinner: Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556–1586. Wetzlar 1995 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 17), S. 22. 5 Lanzinner: Reichsversammlungen (wie Anm. 4), S. 13.

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Anette Baumann und Joachim Kemper

dass die Arbeitsweise der Visitationen, trotz hervorragender Aktenlage, noch nicht untersucht wurde.6 Speyer lag zudem in direkter Nachbarschaft zweier kurfürstlicher Territorien, die unterschiedlichen Konfessionen anhingen und über ihr Personal ebenfalls Einflussmöglichkeiten in Speyer wahrnahmen.7 Eine wichtige, von der Forschung bisher nicht wahrgenommene Rolle spielten dabei die Speyerer Bischöfe, die von 1558 bis 1662 immer wieder in der Funktion des Kammerrichters das Reichskammergericht leiteten. Das zeigt auch die neuere Untersuchung von Harriet Rudolph zum Reich und seiner Herrschaftsinszenierung bei Kaisereinzügen.8 Rudolph schildert in ihrem eindrucksvollen Werk einzelne Speyerer Bischöfe und ihre Funktion bei Kaisereinzügen und Banketten.9 Der Speyerer Reichstag von 1570 spielt in der Untersuchung sogar eine zentrale Rolle. Es wird aber nicht einmal erwähnt, dass die Bischöfe auch Kammerrichter und damit Stellvertreter des Kaisers waren. Die Funktion dieses speziellen Amtes bleibt unerforscht. Insgesamt findet das Reichskammergericht auch in Bezug auf den Reichstag 1570 in der Studie keinerlei Beachtung. Dies zeigt noch einmal, wie gewinnbringend eine Untersuchung der Überschneidung der Einflussbereiche verschiedener Reichsinstanzen am Ort Speyer wäre. Die Forschung hat die Interaktionen dieser Instanzen, die ein vielfältiges Bezugssystem bildeten, bis jetzt nicht nur nicht untersucht, sie hat sie nicht einmal in ihrer vollen Bedeutung erkannt. Der Aufsatzband will hierzu einen Anfang machen und neue Forschungen anregen. Eine der Ursachen für die mangelnde Beachtung von Speyer als Zentralort des Reiches liegt wohl darin, dass allgemeine Forschungen zu den Zentralorten des Reiches erst seit wenigen Jahren unternommen werden.10 Sie beziehen sich dabei 6 Lanzinner: Reichsversammlungen (wie Anm. 4), S. 22. 7 Siehe hierzu beispielhaft: Regina Baar-Cantoni: Religionspolitik Friedrichs II. von der Pfalz im Spannungsfeld von Reichs- und Landespolitik. Stuttgart 2011, und Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Stuttgart 1970. 8 Harriet Rudolph: Das Reich als Ereignis. Formen und Funktionen der Herrschaftsinszenierung bei Kaisereinzügen (1558–1618). Köln/Weimar/Wien 2011 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und der Frühen Neuzeit, Bd. 38). 9 Rudolph: Das Reich als Ereignis (wie Anm. 8), S. 562. 10 Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im deutschen Sprachraum. Berlin 2013; Matthias Asche: Reichsmemoria im 19. und 20. Jahrhundert – Beobachtungen zu Formen und Funktionen der Erinnerungskultur in ehemaligen Reichsstädten, in: Mathias Asche/Thomas Nicklas/Matthias Stickler (Koord.): Was vom Alten Reich blieb … Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert. München 2011 (Veröffentlichungen der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung, A-Reihe, Bd. 134), S. 223–260; Andreas Klinger: Das Reich und seine „Hauptstädte“, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich. München 2006 (bibliothek altes Reich, Bd. 1), S. 73–79; Karl

Einleitung

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meist auf den Umstand, dass analog zu der Verfasstheit und territorialen Vielgestaltigkeit des Reiches mehrere Zentren politischer Interaktion und verdichteter Kommunikation zwischen Kaiser und Reich bestanden. Es waren Städte ohne Hof. Die Veröffentlichungen zu Regensburg, Wetzlar, Wien oder Frankfurt zeigen, dass hier noch einiges zu tun ist. Meist handelt es sich bis in die jüngste Zeit um Stadtgeschichten bzw. Sammelwerke, die – wenn überhaupt – nur in einem Teilaspekt die zentrale Funktion der Stadt für das Reich in den Mittelpunkt stellen.11 Die Reichsstadt Speyer, die das Reichskammergericht von 1527 bis 1689/90 beherbergte, ist in ihrer Funktion als zentraler politischer und juristischer Versammlungsort in der Forschung nicht präsent. In Bezug zum Reichskammergericht hängt dies vor allem mit dem kulturellen Gedächtnis der Stadt zusammen: seit der Zerstörung der Stadt 1689/90 durch französisches Militär gibt es im Stadtbild keine Spuren des Gerichts mehr. Siegrid Westphal stellt in ihrem Beitrag fest, dass Speyer nicht nur ein zentraler Ort des Reiches gewesen sei, sondern auf Grund der dort seit 1527/30 abgehaltenen Reichstage, des kurzzeitig dort angesiedelten Reichsregiments und dann des Reichskammergerichts und der Grablege der salischen Kaiser eine spezifische Erinnerungskultur mit einer reichsweiten Bedeutung gepflegt habe. Sie zeigt, dass es der Stadt gelungen sei, den Topos der „Kaiserstadt“ auf die Reichsinstitutionen zu übertragen. Mit der dauerhaften Ansiedlung des Reichskammergerichts sei damit der Sprung von punktueller zu struktureller Zentralität gelungen. Gabriele Haug-Moritz geht in ihrem Beitrag über die Religionsprozesse noch darüber hinaus. Sie macht deutlich, dass in den 1530er Jahren Speyer nicht nur ein Zentralort des Reiches gewesen sei, sondern meint: „Speyer war das Reich“.

Härter: Aachen – Frankfurt – Nürnberg – Regensburg. Politische Zentren des Reiches zwischen 1356 und 1806, in: Bernd Heidenreich/Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Wahl und Krönung. Frankfurt am Main 2006, S. 175–188; Peter Moraw: Das Hauptstadtproblem in der deutschen Geschichte, in: Damals 24 (1992), S. 246–271; Uwe Schultz: Die Hauptstädte der Deutschen. Von der Kaiserpfalz in Aachen zum Regierungssitz Berlin. München 1993; Alfred Wendehorst: Das Hauptstadtproblem in der deutschen Geschichte, in: ders./Jürgen Schneider (Hrsg.), Hauptstädte. Entstehung, Struktur und Funktion. Neustadt an der Aisch, S. 83–90. 11 Evelyn Hils-Brockhoff (Hrsg.), Die Kaisermacher: Frankfurt am Main und die Goldene Bulle 1356–1806. Aufsatzband. Frankfurt/Main 2006; Hans Werner Hahn: Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870. München 1991; Sigrid Schieber: Normdurchsetzung im frühneuzeitlichen Wetzlar. Herrschaftspraxis zwischen Rat, Bürgerschaft und Reichskammergericht. Frankfurt/Main 2008 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft); Michael Kubitza: Regensburg als Sitz des Immerwährenden Reichstags, in: Peter Schmid (Hrsg.), Geschichte der Stadt Regensburg, Bd. 1. Regensburg 2000, S. 148–162. Karl Vocelka/Anita Traninger (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16.–18. Jahrhundert). Wien u. a. 2003.  

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Anette Baumann und Joachim Kemper

Eva Ortlieb kann die Funktion des Zentralortes zudem für eine andere wichtige Institution zeigen: den Reichshofrat. Sie stellt Speyer als Tagungsort des Hofrats Karls V. vor – der zu dieser Zeit mit dem Reichshofrat praktisch identisch gewesen und nicht nur in Prag oder Wien zu verorten sei, wie dies häufig in der Forschung geschieht, sondern immer am jeweiligen Aufenthaltsort des Kaisers getagt habe; so auch in Speyer. Aufenthalte Karls V. in Speyer sind mehrfach in den 1530er und 1550 belegt, allerdings immer nur wenige Tage. Auf dem Reichstag von 1544 habe der Kaiser sich längere Zeit in Speyer aufgehalten. Gleichzeitig markiert dieses Datum auch den Beginn des Reichshofrates als einer ständigen Institution. Einen Blick auf den Reichstag von 1570 gewährt uns Yves Huybrechts. Er zeigt die enge Verflechtung von Reichstag und Reichskammergericht anhand der Verhandlungen des Reichstags zur Stellung des Burgundisches Reichskreises. Ein weiterer Aufsatzkomplex nimmt die Situation der Stadt Speyer ins Visier. Joachim Kemper widmet sich der Speyerer Stadtgeschichte und gibt einen Überblick über die Forschungen zur Stadt. Martin Armgart untersucht im Band das Zusammenleben zwischen Speyerer Bürgern und den Angehörigen des Reichskammergerichts, während Anja Rasche in ihrem Aufsatz eine Rekonstruktion der Reichskammergerichtsgebäude am Speyerer Ratshof präsentiert. Sie verdeutlicht, dass das Reichskammergericht nach diversen Erweiterungen über einen Komplex von drei eigenen, miteinander verbundenen Gebäuden entlang der Speyerer Großen Himmelsgasse verfügt habe, die sich mit dem Rathaus der Stadt die Zufahrt über den Speyerer Ratshof teilten. Das Reichskammergericht habe also nicht, wie oft in der Literatur beschrieben, „im Ratshof“ getagt. Versucht man, sich dem Thema aus der Richtung der Reichskammergerichtsforschung zu nähern, so ist ein ähnlich defizitärer Forschungsstand zu erkennen. Zwar gibt es zahlreiche wichtige Forschungen zu bestimmten Themen des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert mit einer langen Forschungstradition – erinnert sei hier nur an Untertanenprozesse sowie Religionsstreitigkeiten – aber Untersuchungen zum Gericht selbst und seiner Verankerung in der Stadt oder gar im Reich finden sich nur ansatzweise.12 Symptomatisch für das fehlende Bewusstsein für die Funktion der Stadt Speyer ist der Aufsatz von Bernhard Diestelkamp „Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts. Unbearbeitete Forschungsfelder“.13 Hier werden sorgfältig alle rechtshistorischen Forschungsdesiderate aufgelistet. Die 12 Bernhard Diestelkamp: Gesellschaftliches Leben am Hof des Kammerrichters. Wetzlar 2002 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 29), vor allem S. 17–20. 13 Bernhard Diestelkamp: Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts. Unbearbeitete Forschungsfelder, in: B. C. M. Jacobs/E. C. Coppens (Hrsg.), Een Rijk Gerecht. Opstellen  





Einleitung

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Funktion der Reichsstadt als Gerichtsort wird nicht erwähnt. Allerdings kannte Diestelkamp das reiche Quellenmaterial nicht, das im Stadtarchiv Speyer kürzlich aufgefunden wurde, und eine Analyse der Bestände in Wien war damals noch nicht aktuell. Eine rechtshistorische Arbeit befasst sich mit den Visitationen des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert.14 Der Fokus der Arbeit liegt jedoch bei den vorwiegend gedruckten Rechtsvorschriften und deren Änderungen im Rahmen der Visitationen. Anette Baumann stellt dagegen in dem Aufsatzband die ersten Erkenntnisse aus ihrem Forschungsprojekt zu den Speyerer Visitationen und ihren Hauptakteuren vor. Dem Aufsatz liegen umfangreiche und bisher unzureichend verzeichnete Bestände aus den Akten der Reichshofkanzlei in Wien und des Mainzer Erzkanzlerarchivs, ebenfalls in Wien, zugrunde. Neben Einzelerkenntnissen, die gänzlich unbekannte und für die zukünftige Forschung wichtige Einblicke in das Verhältnis Götz von Berlichingens zum Reichskammergericht gewähren, kann sie zeigen, dass ab den 1560er Jahren das Reichskammergericht fast ausnahmslos von Reichshofräten visitiert wurde. Letztendlich könne man, so ihre vorläufige These, den Reichshofrat ab diesem Zeitpunkt als Justizaufsichtsbehörde des Reiches bezeichnen. Noch weniger befriedigend ist die Forschungssituation bezüglich der Kanzlei des Gerichts, die als selbständige Verwaltungseinheit zu betrachten ist. Sie unterstand dem Mainzer Erzbischof als Reichskanzler, der auch aus diesem Grund eine der Schlüsselfiguren in der Reichs- und Verfassungsgeschichte war. Smend und Duchhardt haben sich damit befasst.15 Wenn Duchhardts Aufsatz von 1994 den Titel trägt: „Ein Dissertationsprojekt zur Reichskammergerichtskanzlei“, dann beschreibt er jedoch kein Projekt der Forschung des 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr einen misslungenen Versuch vom Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist bis jetzt bei diesem mehr als 200 Jahre alten Versuch geblieben. Auch der Tagungsband kann hier keine Abhilfe schaffen.

aangeboden aan prof. mr. P. L. Nève. Nijmegen 1998 (Rechtshistorische reeks an het Gerard Noodt Instituut, S. 115 ff. 14 Klaus Mencke: Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Köln/Wien 1984 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 13). 15 Rudolf Smend: Das Reichskammergericht. Köln/Weimar 1911; Heinz Duchhardt: Ein Dissertationsprojekt zum Reichskammergericht, in: Friedrich Battenberg/Filipp Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag. Köln/ Weimar/Wien 1994, S. 311–316; Heinz Duchhardt: Kurmainz und das Reichskammergericht, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 110 (1974), S. 181–217.  



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Anette Baumann und Joachim Kemper

Mit Blick auf die Quellen- und Editionslage ist das grundsätzliche Forschungsdefizit nicht zu erklären, denn für Forschungen zu den Reichstagen in Speyer liegt entsprechendes Quellenmaterial vor. Das ist nicht zuletzt den Bemühungen der Reichstagseditoren zu verdanken: Insgesamt handelt es sich um Quellen zu zehn Speyerer Reichstagen im Untersuchungszeitraum, wobei zumindest für die Zeit Kaiser Karls V. (1519–1555) und für 1570 ausgezeichnet aufbereitetes Quellenmaterial zur Verfügung steht.16 Dem Forschungsdefizit zur Bedeutung Speyers für die Geschichte des Reiches im 16. und 17. Jahrhundert liegt nach Erachten der Herausgeber des Bandes auch ein generelles methodisches Problem zugrunde: Obwohl die entsprechenden Quellen in unterschiedlicher Aufbereitung vorhanden sind, hat die Forschung bislang keinen Zugang zur Interaktion von Reichstag, Reichskammergericht und Reichsstadt Speyer für das 16. und 17. Jahrhundert gefunden. Gerade die programmatisch ja immer wieder eingeforderten Bezüge zwischen Stadt-, Landesund Reichgeschichte, die ein schärferes Licht auf das konkrete Funktionieren des Heiligen Römischen Reiches werfen können, sind bislang für diesen zentralen Ort des Reiches nicht realisiert worden. Der Tagungsband will auch hierzu einen ersten Beitrag leisten und Anregungen für weitere Forschungen bieten. So beleuchtet Hans Ammerich in seinem Aufsatz über das Bistum Speyer im 16. Jahrhundert diese Aspekte. Er zeigt einige Konfliktsituationen zwischen Bistum und Reichsstadt Speyer auf, ebenso zwischen dem Bistum und den Klöstern im Stadtgebiet. Auch der Einfluss der Kurpfalz wird deutlich, denn sie unterstützte seit dem Jahr 1538 die evangelische Predigt in der Stadt, die aber immer wieder unterbrochen wurde. Erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 sei dann ein protestantischer Prediger für die Augustinerkirche in Speyer berufen worden. Die Klöster und einige katholische Pfarrkirchen habe man aber unangetastet gelassen, um keine Konflikte mit dem Kaiser und dem Reichskammergericht heraufzubeschwören. Die Bischöfe verfolgten jeweils ihre eigenen Ziele, prägend

16 Wolfang Steglich (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V.: Bd. 8/I: Die protestierenden Reichsstände und Reichsstädte zwischen den Reichstagen zu Speyer 1529 und Augsburg 1530, Bd. 8/II: Die Schwäbischen Bundestage zwischen den Reichstagen zu Speyer 1529 und Augsburg 1530. Göttingen 1971 (Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe); Erwein Eltz (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V.: Der Speyrer Reichstag von 1544. Göttingen 2001 (Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. 15/I–IV); Silvia Schweinzer-Burian (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V.: Der Reichstag zu Speyer 1542. München 2003 (Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. 12/I–II); Maximilian Lanzinner (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten: Der Reichstag zu Speyer 1570, Teilbd. 1: Protokolle, Teilbd. 2: Akten und Abschied. Göttingen 1988 (Deutsche Reichstagsakten, Reichsversammlungen 1556–1662).

Einleitung

7

sei jedoch vor allem die im Sinne des Trienter Konzils durchgeführte Reform des Bischofs Eberhard von Dienheim gewesen. Andreas Deutsch behandelt dagegen einen Konflikt zwischen dem Speyerer Rat und dem Bischof bezüglich der städtischen Hochgerichtsbarkeit. Die Situation in Speyer war schwierig, denn der Rat hatte den Blutbann innerhalb der Stadt inne. Dies bedeutet, dass er das Recht hatte, einen Nachrichter zu bestellen. Allerdings konnten die vom Rat verkündeten Todesurteile nur durch einen Scharfrichter des Bischofs vollstreckt werden. Deshalb versuchte die Stadt, auf mehr oder weniger subtilen Wegen gegen das bischöfliche Privileg vorzugehen. Alexander Jendorff geht über das Bistum und die Stadt in seinem Beitrag hinaus. Er stellt die Frage, wie das regionalpolitische Umfeld auf das Reichskammergericht ein- und vor allem auch wie das Reichskammergericht zurückwirkte. Dabei untersucht er das Verhältnis zwischen Mainz, Kurpfalz, dem Kraichgauer Ritteradel und dem Bistum Speyer. Eine besondere Rolle spielte dabei auch der Umstand, dass eben die Bischöfe von Speyer ab Marquard von Hattstein auch Kammerrichter waren und so eine rechtswahrende Funktion für den Kraichgauer Adel ausübten. Eine Sonderrolle im vorliegenden Band nehmen die Projektstudien von HansHelmut Görtz und Sylvia Kabelitz ein – beziehen sich doch beide Autoren auf Quellenverzeichnungen im Archiv- bzw. Bibliotheksumfeld: Görtz weist auf neu verzeichnete (und edierte) Quellen mit Reichskammergerichts-Relevanz in Speyer hin, während Kabelitz unbekannte Quellen zur Wetzlarer Visitation vorstellt. Den Herausgebern erschien es gerechtfertigt, auch diese Beiträge mit aufzunehmen, um so auf vielfältige Weise Forschungen und Studien zu Zentralorten, Reich und Reichskammergericht anzuregen.

I Speyer als Zentralort des Reiches

Siegrid Westphal

Speyer als Zentralort des Reiches: Methodische Überlegungen Heutige Staaten verfügen über Hauptstädte, die nicht nur Zentren der politischen Macht sind, sondern auch repräsentative Funktionen und kulturelle Ausstrahlung besitzen.1 Sie beherbergen eine Vielzahl von Institutionen, die sich an die Zentren der Macht quasi anlagern. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation besaß kein solches Zentrum bzw. keine „Hauptstadt“ im klassischen Sinne, sondern zeichnete sich durch eine spezifische Vielschichtigkeit und „Polyzentralität“ aus.2 Diesen Zustand hat die ältere Geschichtsschreibung mit Blick auf die späte Entwicklung zum Nationalstaat als Mangel an territorialer und politischer Integrität beschrieben. Neuere Forschungen haben dagegen auch die produktive Wirkung der Vielfalt und Konkurrenz der zahlreichen Zentren des Alten Reichs hervorgehoben: Es waren Orte, deren Zentralitätsfunktionen auf politischen, wirtschaftlichen, konfessionellen und kulturellen Faktoren beruhten und die eine besondere Anziehungskraft und Ausstrahlung im Reich besaßen. Sie übernahmen überregionale administrative Aufgaben, fungierten als Umschlagplätze für den wirtschaftlichen Austausch und boten Bühnen für die Aushandlung von kulturellen Paradigmen. Begriffe wie Hauptstädte, Residenzen, Zentren oder Metropolen (Bischofssitze) drücken dies aus. Sie alle bezeichnen Orte, „an denen ein besonderer Reichtum an Ressourcen versammelt ist: Akkumulationen von politischer Macht und Herrschaftswissen, von ökonomischen Waren und finanziellem Kapital, oder von religiösen Gütern (im weitesten Sinne), die allesamt eng gekoppelt sind an den Sitz von politischen Amtsträgern und administrativen Institutionen, an wirtschaftliche Produktionsstätten, Gewerbe und Handelsinstitutionen oder an Institutionen des religiösen Kults.“3 Ursache der Polyzentralität war, dass sich die Staatlichkeit auf zwei einander komplementären Ebenen verteilte: auf die des Reiches einerseits sowie seiner

1 Andreas Klinger: Das Reich und seine „Hauptstädte“, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich. München 2006 (bibliothek Altes Reich, Bd. 1), S. 73–79. 2 Wolfgang Adam/Siegrid Westphal: Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, S. XXV–XXIX. 3 Claudius Sittig: Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, S. XXXI– LVI, S. XXXIII.

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Siegrid Westphal

Territorien andererseits.4 Kaiser und Reichsstände regierten gemeinsam auf Reichsebene. In den vielfältigen Territorien des Reiches hatten die Kurfürsten, Fürsten, Grafen und Herren sowie die Reichsstädte das Sagen, allerdings beschränkt durch die reichsrechtliche Ebene. Auf Reichsebene existierten mehrere wichtige politische Zentren: „die Versammlungsorte des Reichstags, die Sitze der höchsten Reichsgerichte und Reichskreisinstitutionen, die Wahl- und Krönungsorte der Kaiser, die fürstlichen Residenzen und dann natürlich den kaiserlichen Hof. […] Die dezentrale Verteilung der verschiedenen Institutionen und Machtzentren ergibt ein genaues Abbild der politischen Verfasstheit des Reiches, das insgesamt über alle für das staatliche Funktionieren notwendigen Einrichtungen verfügte, doch diese eben nicht an einem Ort konzentrierte.“5 Im Mittelpunkt des Beitrags wird eines dieser politischen Zentren des Reiches behandelt, nämlich die Reichsstadt Speyer, die von 1527/30 bis 1689 Sitz des Reichskammergerichts war und damit eines der beiden höchsten Gerichte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation beherbergte.6 Im Fokus steht die Frage, inwiefern die von dem Ökonomen und Geographen Walter Christaller in den 1930er Jahren entwickelte Theorie der zentralen Orte auf Speyer als Sitz des Reichskammergerichts übertragen werden kann. Dafür wird zunächst der Ansatz von Christaller in aller Kürze vorgestellt, dann die Stadt Speyer zu Beginn des 16. Jahrhunderts und ihre Beweggründe zur Aufnahme des Gerichts betrachtet und abschließend die Anwendbarkeit des Ansatzes von Christaller auf Speyer diskutiert.

Die Theorie der zentralen Orte Kategorien wie Landschaft, Zentrum und Peripherie oder der Raum haben erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts größere Bedeutung als Untersuchungskategorien erhalten. Vor allem der Geschichtsforschung sowie der Kultur- und Sozialgeographie geht es darum, die Bedeutung von Raumstrukturen für die Lebenswirklichkeit der Menschen einerseits und die Raumgestaltung durch die Menschen andererseits in den Blick zu nehmen.

4 Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495– 1806. München 1999. 5 Klinger: Reich (wie Anm. 1), S. 73. 6 Jost Hausmann: Die Städte des Reichskammergerichts, in: ders. in Verbindung mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts. Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9–36.

Speyer als Zentralort des Reiches: Methodische Überlegungen

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Mit spezifischen Raumvorstellungen korrespondiert der Aspekt der Zentralität, der sich vor allem von der von Walter Christaller 1933 verfassten Abhandlung „Das System der zentralen Orte“ ableiten lässt.7 Es geht ihm um die im Raum festgelegten Orte, insbesondere die Städte, um unterschiedliche Entwicklungen und Stadien von Siedlungen zu erklären. Das Gegenteil von Zentralität ist Ambulanz. Beides wird gemessen am Angebot von sogenannten zentralen Gütern zur Versorgung der Bevölkerung. Bestimmte Faktoren des Handels wie Bevorratung größerer Warenmengen, die Rechnungsführung und Organisation, die eine erhöhte Kapitalanlage in Immobilien notwendig machen, führen seiner Ansicht nach zur Herausbildung eines festen Standorts.8 Diese Standorte entwickeln sich zu zentralen Orten, die durch das Versorgungs- und das Zentralitätsprinzip gekennzeichnet sind, wobei sie einer Hierarchisierung unterliegen: Zentrale Orte sind nach Christaller Siedlungen mit Mittelpunktfunktion für einen umgebenden Bereich, in dem sie zentrale Güter und Dienste anbieten. Der Hierarchie der Güter entspricht eine Hierarchie der Orte. Je mehr Güter und Dienstleistungen angeboten werden, desto höher ist der Rang des Zentrums. Gebiete, die von einem Zentrum versorgt werden, werden als Ergänzungsgebiete bezeichnet.9 Zentralität bzw. ein Bedeutungsüberschuss einer Siedlung/Stadt ergibt sich durch das Verhältnis zwischen den zentralen Gütern und Diensten, die für die Stadt und das Ergänzungsgebiet angeboten werden und denen, die nur von den Stadtbewohnern in Anspruch genommen werden (Differenz=Bedeutungsüberschuss). Je größer die Anzahl von Diensten und Gütern pro Einwohner ist, desto höher ist die Zentralität einer Stadt. Die Theorie der zentralen Orte ist ein standortgeographischer Ansatz und hat aus verschiedensten Perspektiven Kritik erfahren. Hauptkritikpunkte waren die mangelnde Flexibilität und die große Realitätsferne sowie die Methode. Insbesondere der nationalsozialistische Entstehungskontext sowie die zeitliche Bedingtheit seiner Methode wurden moniert. Dies führte nach 1945 unter veränderten Rahmenbedingungen zur Weiterentwicklung seiner Theorie, die bis in die Gegen-

7 Walter Christaller: Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen. Jena 1933 (ND Darmstadt 1968). 8 Christaller: Orte (wie Anm. 7), S. 30. 9 Horst Todt: Die Struktur des Wirtschaftsraums: Eine vergleichende Betrachtung der Konzeptionen von Walter Christaller und August Lösch, in: Hans-Michael Trautwein (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXIX. Berlin 2014 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 115/XXIX), S. 187–206.

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wart z. B. bei der Landesentwicklungsplanung und Gebietsreformen Verwendung findet.10 Das Modell der zentralen Orte fand auch Eingang in die historische Forschung, hat doch bereits Christaller selbst auf die Bedeutung des geschichtlichen Ablaufs mit seinen „unberechenbaren Bestimmtheiten und Wirklichkeiten“ hingewiesen.11 Am stärksten wurde es in der mittelalterlichen Geschichtsforschung rezipiert, insbesondere zur Analyse von Markt- und Siedlungsnetzen sowie der Stadt-Land-Beziehungen.12 Ein Beispiel ist hier der Aufsatz von Harm von Seggern, der versucht, mit Hilfe von Christallers Modell die Residenzenbildung vom 13. bis zum 16. Jahrhundert am Beispiel des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg zu analysieren und nur zu eingeschränkten Ergebnissen kommt.13 Allerdings sieht von Seggern durchaus die Möglichkeit gegeben, das ökonomisch geprägte Modell Christallers auch auf den Bereich von Politik und Herrschaft zu übertragen, da Christallers Definition der zentralen Dienste nicht nur den Handel und das Bankenwesen sowie die Produktion umfasst, sondern neben dem Verkehrsund Gesundheitswesen und der Darbietung kultureller und geistiger Güter (Kirche, Schule, Theater usw.) und einer Reihe anderer Dienstleistungen die „Verwaltungstätigkeit des Staates“ beinhaltet.14 Darunter fällt für Christaller auch die Tätigkeit von Gerichten.15 Nicht zuletzt dieser Aspekt bietet in der Tat die Möglichkeit, das Modell Christallers auf Speyer als Sitz des Reichskammergerichts anzuwenden. Durch das Angebot der Rechtsprechung auf Reichsebene wurde – mit den Worten Christallers – ein Gut höherer Art zur Verfügung gestellt, für das Menschen bereit waren, größere Entfernungen (Verkehrsprinzip) zurückzulegen. Der Bedeutungsüberschuss lenkte somit den Verkehr an diesen zentralen Ort. Damit kann Speyer zur Zeit der Tätigkeit des Reichskammergerichts als Ort höherer zentraler Ordnung bezeichnet werden. Ein spezifisches Problem von Christallers Modell besteht allerdings darin, dass es relativ statisch ist und Dynamiken wenig berücksichtigt.16 Aus diesem Grunde bietet es sich an, die Theorie der zentralen Orte – wie im Bereich der  

10 Günter Heinritz: Zentralität und zentrale Orte. Eine Einführung. Stuttgart 1979. 11 Christaller: Orte (wie Anm. 7), S. 77. 12 Vgl. Rolf Kiessling: Die Zentralitätstheorie und andere Modelle zum Stadt-Land-Verhältnis, in: Hans-Jörg Gilomen/Martina Stercken (Hrsg.), Zentren. Ausstrahlung, Einzugsbereich und Anziehungskraft von Städten und Siedlungen zwischen Rhein und Alpen. Zürich 2001, S. 17–40. 13 Hans von Seggern: Die Theorie der „Zentralen Orte“ von Walter Christaller und die Residenzenbildung, in: Reinhard Butz/Jan Hirschbiegel/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 105–144. 14 Christaller: Orte (wie Anm. 7), S. 29. 15 Todt: Struktur (wie Anm. 9), S. 205. 16 Todt: Struktur (wie Anm. 9), S. 203 f.  

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archäologischen Forschungen bereits geschehen – mit Modellen der Netzwerkanalyse zu kombinieren. Güter und Dienstleistungen können so als „zentrale Funktionen“ verstanden und Zentralität als Konzentration von Interaktion definiert werden. Zentralorte sind demnach Bereiche hoher Interaktionsknotendichte. Nicht allein das Vorhandensein von Gütern und Diensten, sondern ihre Nutzung und die dabei entstehenden Handlungen und Interaktionen sowie die dadurch erzeugte Ausstrahlungs- und Anziehungskraft machen demnach die eigentliche Zentralität eines Ortes aus. Zudem lassen sich auf diese Weise Konjunkturen von Zentralität eines Ortes messen, was gerade für die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts in der Speyrer Zeit von Relevanz ist, wie die quantitativen Untersuchungen von Filippo Ranieri gezeigt haben.17 Forschungen zu den höchsten Gerichten des Alten Reiches können auf diese Weise neu gelesen werden. Ranieri, der als erster etwas zum Geschäftsanfall des Gerichts aussagen konnte, gelang es, eine langfristige, säkulare Veränderung der Funktion des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert nachzuweisen. Die Verlagerung der Gerichtsnutzung hin zu einem Korrektiv bei Streitigkeiten um Herrschaftsrechte, die in vorherigen Zeiten gewaltsam ausgetragen worden waren, wurde von ihm als zunehmende Verrechtlichung der sozialen und politischen Konflikte des Alten Reichs gedeutet. Prozesse am Reichskammergericht dienten ihm als Indikator einer dynamischen Entwicklung der Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, was sich an der unterschiedlichen Nutzung zu verschiedenen Zeiten und durch unterschiedliche Gruppe ablesen lässt. Wenn man im Reichskammergericht ein Angebot von Kaiser und Reichsständen für das Reich sieht, das diverse Konjunkturen erlebte, dann muss dies auch auf die zentralörtliche Funktion Speyers Rückwirkungen gehabt haben.

Speyer zu Beginn des 16. Jahrhunderts Dass Speyer zu einem Zentralort des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wurde, war keinesfalls geplant, sondern hat sich aufgrund der volatilen politischen Entwicklung auf Reichsebene im 15. Jahrhundert ergeben. Aufgrund der umfassenden Gefährdung des Friedens im Reich bemühten sich Kaiser und Reichsstände im Zuge der sogenannten Reichsreform um verschiedene Wege, den

17 Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert. Köln/Wien 1985 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 17/I u. II).

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Frieden zu sichern und dauerhaft zu bewahren.18 Entscheidend war der auf dem Wormser Reichstag von 1495 beschlossene „Ewige, das heißt unbefristete Landfriede“, zu dessen Durchsetzung und Schutz das Reichskammergericht gegründet wurde. Der ewige Landfriede bedurfte der Exekution, die in der „Handhabung Friedens und Rechts“ ihren Niederschlag fand. Zuständig sollte der Reichstag sein, der damit Eigenständigkeit gewann und als Kommunikationsforum von Kaiser und Reich konstituiert wurde. Die 1495 geschaffene Ordnung sollte dazu dienen, einen allgemeinen und zeitlich unbefristeten Frieden durch ein unwiderruflich verstandenes Fehde- und Gewaltverbot herzustellen. Die Streitbeilegung sollte künftig nur vor Gericht ausgetragen werden. Zum Symbol dieses Prozesses, der in der Forschung mit dem Begriff „Verrechtlichung“ (Winfried Schulze) umschrieben wird, avancierte das Reichskammergericht, das im Zuge von Appellationsverfahren für alle Untertanen zugänglich war. „Während auf den Reichstagen nur die beteiligten Reichsstände und ihr Personal sowie die Bürger der gastgebenden Stadt das Funktionieren des Reiches erfahren konnten, war die Stätte des Reichskammergerichts tatsächlich für alle Reichsbewohner der Platz, das „Reich vor Ort“ zu erleben.“19 Dabei war das Reichskammergericht nicht die alleinige oberste Rechtsinstanz des Reiches, sondern es teilte sich diese Funktion mit dem Reichshofrat. Doch während dieser an den Kaiserhof gebunden blieb, sollte das Kammergericht vom Hof des Königs gelöst und seiner 1495 erlassenen Ordnung entsprechend „im Reiche an einer fuglichen stat“ gehalten werden.20 Dazu wurde die Reichsstadt Frankfurt am Main bestimmt, die jedoch von Anfang an dagegen Widerstand leistete, weil sie aufgrund der Privilegierung des Reichskammergerichtspersonals wirtschaftliche Nachteile und die Gefährdung des inneren Friedens befürchtete. Da zudem die Finanzierung nicht ausreichend gesichert war und Kaiser wie Reichsstände das Gericht nicht stützten, durchlief es eine lange Phase der Unsicherheit und musste mehrmals den Sitz wechseln. Erst 1507 beschloss der Konstanzer Reichstag die dauerhafte Einrichtung und Finanzierung über das Matrikelwesen, was die Existenz des Gerichts gewährleistete. Als Sitz wurde die Reichsstadt Worms bestimmt. 1513 musste das Gericht aufgrund von Unruhen in der Stadt Worms für mehrere Monate nach Speyer ausweichen, „was

18 Siegrid Westphal: Reichskammergericht, Reichshofrat und Landfrieden als Schutzinstitute der Reichsverfassung, in: Thomas Simon/Johannes Kalwoda (Hrsg.), Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte. Berlin 2014 (Der Staat, Beiheft 22), S. 13–37. 19 Klinger: Reich (wie Anm. 1), S. 76. 20 Rudolf Smend: Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911; Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994.

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die Stadt dazu bewog, sich um die ständige Beibehaltung des RKG in Speyer zu bewerben“.21 Speyer gelang es jedoch nur, die kaiserliche Zusicherung zu erhalten, dass man das Gesuch bei einer weiteren Verlegung des Gerichts in Erinnerung rufen würde. Eine neue Situation entstand 1521, als auf dem Wormser Reichstag die Wiedererrichtung des Reichsregiments für die Zeit der kaiserlichen Abwesenheit vom Reich beschlossen und das Reichskammergericht dem Reichsregiment unterstellt wurde. Da als Sitz des Reichsregiments Nürnberg bestimmt wurde, musste das Reichskammergericht seinen Sitz ebenfalls dorthin verlegen. Bereits 1524 kam es jedoch zu einer weiteren Verlegung nach Esslingen und zur Neubesetzung des Reichsregiments und Austausches einiger Kameralen, da die Reformation unter den Angehörigen beider Reichsinstitutionen immer mehr Anhänger gefunden hatte. Als sich zudem im Esslinger Raum der Bauernkrieg zu einer gefährlichen Bedrohung auswuchs, bot sich Speyer erneut als Sitz von Reichsregiment und Reichskammergericht an. „Obwohl auch Nürnberg, Nördlingen und Augsburg wieder in die Diskussion gebracht worden waren, wurde auf dem Reichstag auf Betreiben der rheinischen Kurfürsten 1526 Speyer zum neuen Gerichtssitz bestimmt.“22 1527 wurde dann der Gerichtsbetrieb in Speyer wieder aufgenommen, wo die Stadt im Ratshof Räume für das Gericht und die Kanzlei zur Verfügung stellte, die von ihr unterhalten werden sollten. 1530 wurde Speyer zum dauernden Sitz des Reichskammergerichts bestimmt, was 1555 in der Reichskammergerichtsordnung normativ geregelt wurde, obwohl aufgrund der Lebensumstände des Personals über eine neuerliche Verlegung des Gerichts nach Worms diskutiert worden war. Letztlich blieb es bis 1689 in Speyer angesiedelt, bis es von französischen Truppen in Folge des Pfälzischen Erbfolgekrieges vertrieben wurde. Auch wenn es in diesem Zeitraum immer wieder Klagen der Stadt über das privilegierte Gericht in den eigenen Mauern und die hohen Kosten für den Unterhalt der Gerichtsgebäude gab, so dürfte doch die Ansiedelung des Reichskammergerichts mehr Vor- als Nachteile für die Stadt gebracht haben. Dies erklärt sich vor allem vor dem Hintergrund der zu Beginn des 16. Jahrhunderts schwierigen Situation der Stadt.23

21 Hausmann: Städte (wie Anm. 6), S. 16. 22 Hausmann: Städte (wie Anm. 6), S. 22. 23 Willi Alter: Die Reichsstadt Speyer und das Reichskammergericht, in: Wolfgang Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3. Stuttgart 1989, S. 213–290; Paul Warmbrunn: Speyer, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren in der Frühen Neuzeit, Bd. 3. Berlin/Boston 2012, S. 1787–1831; Kurt Andermann: Speyer um die Wende des 16. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Bürger – Kleriker – Juristen. Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten. Ostfildern 2014, S. 9–19; Joachim Kemper (Hrsg.), Das Reichskammergericht und

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Durch weitreichende Privilegierung unter Kaiser Heinrich V. im Jahr 1111 hatte sich die Stadt Speyer im Verlauf des Mittelalters von der Herrschaft der Bischöfe befreien und um etwa 1294 den Status als freie Stadt gewinnen können. Die geistlichen Fürsten verließen Speyer und bezogen ihre Residenz in Bruchsal bzw. Udenheim/Philippsburg.24 Die große Gruppe der Geistlichen, darunter auch das einflussreiche Domkapitel, die über zahlreiche Privilegien verfügte, blieb jedoch weiterhin in der Stadt präsent.25 Aus der reichsstädtischen Bevölkerung, die überwiegend in Zünften organisiert war, wurden der Stadtrat bzw. die beiden Stadträte gewählt. Speyer besaß auch noch im 16. Jahrhundert eine reine Zunftverfassung, obwohl es im Zuge von Bürgerunruhen (1512/1525) Versuche gegeben hatte, die oligarchische Struktur und die Machtstellung des von wenigen Familien dominierten Stadtrates zu brechen.26 Neben der Funktion als oberster Regierungsund Verwaltungsinstitution kam dem Rat auch die Aufgabe als höchste Gerichtsund Berufungsinstanz in Zivil- und Kriminalsachen zu, wobei die Strafgerichtsbarkeit den vom Rat eingesetzten „Monatsrichtern“ übertragen wurde.27 Die Stellung als Reichsstadt, die verkehrsgünstige Lage und Einbindung in überregionale Verkehrsnetze sowie ein reges Wirtschaftsleben verhalfen Speyer im Verlauf des Mittelalters zu wirtschaftlicher Blüte. Mit rund 7200 Bürgern zählte die Stadt um 1500 zur Gruppe der größeren Mittelstädte und bewegte sich auch ökonomisch im Mittelfeld.28 Allerdings führten Entwicklungen auf europäischer Ebene wie die Verlagerung der Handelswege im Zuge der Entdeckung der Neuen Welt und innerstädtische Probleme zwischen den verschiedenen rivalisierenden Schichten der Stadtbevölkerung dazu, dass die Wirtschaft, vor allem die einst blühende Speyerer Tuchproduktion, stark an Bedeutung verlor.29 Soziale Spannungen innerhalb der Stadtgesellschaft vor allem mit dem Klerus sowie die

Speyer. Eine Stadt als juristischer Mittelpunkt des Reiches 1527–1689. Speyer 2014 (Schriftenreihe der Abteilung Kulturelles Erbe der Stadt Speyer, Bd. 2). 24 Kurt Andermann/Otto B. Roegele (Hrsg.), Residenzen der Bischöfe von Speyer. Speyer, Udenheim, Bruchsal. Bruchsal 1989. 25 Gerhard Fouquet: Das Speyrer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde. Mainz 1987; ders.: Der Domklerus, in: Andermann (Hrsg.), Bürger – Kleriker – Juristen (wie Anm. 23), S. 35–47. 26 Hubert Neumann: Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Speyer im 16. Jahrhundert. St. Augustin 1997. 27 Pirmin Spieß: Das Speyerer Monatsgericht. Von der satzungsrechtlichen Rüge zur Inquisition am Beispiel der Sanktionen, in: Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hrsg.), Residenzen des Rechts. Sigmaringen 1993 (Stadt in der Geschichte, Bd. 19), S. 9–17. 28 Warmbrunn: Speyer (wie Anm. 23), S. 1797. 29 Warmbrunn: Speyer (wie Anm. 23), S. 1798.

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Einführung der Reformation in der Stadt im Jahr 1540 kamen hinzu.30 Kurt Andermann spricht für das 16. Jahrhundert von kaum zu übersehenden Krisensymptomen, von einer „Gratwanderung zwischen hohem Anspruch und schwindenden Ressourcen“.31 Wirtschaftliche und religiöse Zentralortfunktionen, welche die Stadt im Mittelalter besessen hatte, gingen seit 1500 immer stärker verloren. In dieser Situation ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Stadt ihren zunehmenden Bedeutungsverlust durch die Ausrichtung von Reichstagen und die Ansiedelung von Reichsinstitutionen kompensieren wollte. Fünf Reichstage fanden im 16. Jahrhundert in Speyer (1526, 1529, 1542, 1544 und 1570) statt, wobei insbesondere die Reichstage von 1526 und 1529 hervorzuheben sind, da sie entscheidende Stationen in den reformatorischen Auseinandersetzungen der 1520er Jahre bildeten.32 Insbesondere die Speyerer Protestation der lutherischen Reichsstände gegen den Speyerer Reichsabschied von 1529 ist bis heute von Bedeutung, haben ihr die Protestanten doch ihren Namen zu verdanken. Die Ausrichtung der Reichstage offenbarte jedoch auch die Misere, in der sich die Reichsstadt befand. „Die glanzvollen Reichstage, die die Speyrer brauchten, um gegenüber aller Welt ihren Anspruch auf Reichsfreiheit und Reichsstandschaft zu demonstrieren, bedeuteten jedes Mal eine logistische und finanzielle Herausforderung, die man sich im Grunde schon lange nicht mehr leisten konnte und die die Bürger jedesmal [sic!] in mehrfacher Hinsicht schwer belastete.“33 Verliehen die Reichstage der Stadt Speyer nur für einen begrenzten Zeitraum zentralörtliche Funktion, so besaß die dauerhafte Etablierung des Reichskammergerichts in Speyer einen anderen Charakter. Damit war die Hoffnung verbunden, den Anspruch auf reichsweite Bedeutung und zentralörtliche Funktionen für das Reich zu verstetigen und damit die Krise der Reichsstadt zu bewältigen. Die Überzeugung, ein besonderer Ort des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu sein, besaß aber deutlich ältere Wurzeln. So wurde Speyer schon im Mittelalter als zentraler Ort des Reiches wahrgenommen, was sich an den im 12. Jahrhundert in Chroniken verwendeten Bezeichnungen als Hauptstadt bzw. Metropolis Germaniae ablesen lässt.34 Dies hing weder mit der Stellung des Speye-

30 Andermann: Speyer (wie Anm. 23), S. 16. 31 Andermann: Speyer (wie Anm. 23), S. 18. 32 Willi Alter: Von der Konradinischen Rachtung bis zum letzten Reichstag in Speyer (1420/22 bis 1570), in: Wolfgang Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 1. Stuttgart 1983, S. 369–570. 33 Andermann: Speyer (wie Anm. 23), S. 17 f. 34 Caspar Ehlers: Ein Erinnerungsort im 12. Jahrhundert – Speyer, in: ders. (Hrsg.), Places of Power – Orte der Herrschaft – Lieux du Pouvoir. Göttingen 2007 (Deutsche Königspfalzen, Bd. 8), S. 119–140, S. 121.  

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rer Bischofs in der kirchlichen Hierarchie des 12. Jahrhunderts noch der wirtschaftlichen Bedeutung der Stadt zu jener Zeit oder der Funktion als Königs- bzw. Bischofspfalz während des Reisekönigtums zusammen, sondern verweist in erster Linie auf die Grablege der Salier im Dom, als deren Erben sich noch die Staufer verstanden.35 Das Domkapitel, aber auch die Stadtbürger entwickelten aus dieser besonderen Stellung des Doms als kaiserliche Grablege und „deutsche Königsgrabkirche“ ein spezifisches Selbstverständnis als Zentralort des Reiches, das deutlich von der Memoria an die salischen Kaiser geprägt war.36 Dieses Selbstverständnis wurde in der Speyrer Historiographie des 15. Jahrhunderts und im späthumanistischen Städtelob neu belebt.37 Neben den üblichen stereotypen Aspekten einer Reichsstadt wird darin das besondere Verhältnis der Stadt zu den Kaisern des Reichs hervorgehoben.38 An diese literarische Tradition konnten die späteren Chronisten der Stadt wie z. B. Wilhelm Eisengrein oder Christoph Lehmann anknüpfen, wenn sie in ihren Beschreibungen der Bischofsgeschichte oder der Stadt Speyer die lokalen Führungseliten wie Klerus und Stadtrat mit den Vertretern des kaiserlichen Reichskammergerichts auf eine Stufe stellen und damit den Topos der Kaiserstadt aktualisieren, indem sie ihn auf eine Reichsinstitution übertragen. Als Beispiel sei hier das Städtelob von Wilhelm Eisengrein aus seiner „Harmonia Ecclesiae Historica“ von 1576 in deutscher Übersetzung zitiert, wobei er selbst wiederum auf ein Lied des gekrönten Dichters Kaspar Brusch verweist:  

Speyer, königlich hehres Haus der Rechtsprechung Du, Schöner besitzt der Rhein ja kaum eine Tochter. Göttersegen erhob Dich durch der Versammlungen Dreiheit: Durch die des Klerus, der Richter des Kaisers, der Väter der Stadt. Deinem Haupt die Königskrone bewahre die Gottheit.39

Speyer als Zentralort Geht man von Christallers Modell der zentralen Orte aus, dann kann Speyer in der Zeit als Sitz des Reichskammergerichts durchaus als Zentralort des Heiligen

35 Helmut Flachenecker: Das Bild der Kaisergräber in der Speyrer Bistumschronistik, in: Ehlers (Hrsg.), Places of Power (wie Anm. 34), S. 183–196. 36 Ehlers: Erinnerungsort (wie Anm. 34), S. 138. 37 Ehlers: Erinnerungsort (wie Anm. 34), S. 135. 38 Franz Staab: Ein späthumanistisches Städtelob. Das Kapitel „Spira“ in der „Harmonia Ecclesiae Historica“ von 1567 des Wilhelm Eisengrein, in: Primin Spieß (Hrsg.), Palatia Historica. Festschrift für Ludwig Anton Doll zum 75. Geburtstag. Mainz 1994, S. 361–397. 39 Staab: Städtelob (wie Anm. 38), S. 397.

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Römischen Reiches deutscher Nation bezeichnet werden, der sich durch das Angebot eines höheren Dienstes im juristischen Sektor für das Reich auszeichnete. Allerdings kann das Modell nicht alle Aspekte von Zentralität abbilden, da es in erster Linie von ökonomischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ausgeht. Drei Aspekte gilt es, in Ergänzung des Modells von Christaller zu beachten, die an der Geschichte der Stadt Speyer deutlich werden. Eine Siedlung wird nicht unbedingt als zentraler Ort geplant, sondern entwickelt sich in der Regel erst im Laufe eines längeren Zeitraums durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu einem zentralen Ort bzw. Zentrum. Er kann diesen Status aus verschiedenen Gründen aber auch wieder verlieren. Die temporale Dimension von Zentralität zeigt sich gerade an der Reichsstadt Speyer, die seit 1527 bzw. 1530 nicht nur Reichsstadt und Sitz eines Bistums war, sondern auch Veranstaltungsort von Reichstagen sowie mit dem Reichsregiment und mit dem Reichskammergericht für längere Zeit Reichsinstitutionen beherbergte, die Speyer zu einem politischen und juristischen Zentralort des Reiches werden ließen. Mit der Zerstörung der Stadt im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689 und der Verlagerung des Reichskammergerichts in die Reichsstadt Wetzlar ging der Status als Zentralort des Reiches jedoch gewaltsam verloren und konnte in der Folge nicht mehr wiedergewonnen werden. Damit wird ein weiterer Aspekt der temporalen Dimension von Zentralität angesprochen. Es geht um den Übergang von punktueller zu struktureller Zentralität, von befristeten Zentralitätsfunktionen eines Ortes zu einer Verstetigung von Zentralität an einem Ort im Reich. Es war im 15. Jahrhundert die massive Bedrohung des innergesellschaftlichen Friedens im Reich, die sich trotz aller Sicherheitsmaßnahmen nicht eindämmen ließ, die letztlich zu einer einschneidenden Transformation führte, die auf unbefristete Regelungen und institutionelle Lösungen zielte. An die Stelle der Hoftage trat der Reichstag, der nicht mehr am kaiserlichen Hof, sondern in einer Reichsstadt durchgeführt werden sollte. An die Stelle des beim Kaiser angebundenen Hofgerichts sollte ein vom Kaiser weitgehend unabhängiges, an einem festen Ort angesiedeltes höchstes Gericht Recht auf Reichsebene sprechen. Speyer profitierte von der Reichsreform auf verschiedenen Ebenen. Es richtete nicht nur mehrere Reichstage aus, sondern wurde auch für einige Jahre (1527–1530) zum Sitz des Reichsregiments, einer weiteren Reichsinstitution, die aus Sicht der Reichsstände durchaus von Dauer hätte sein sollen, um ihre Mitregierung im Reich zu gewährleisten. Die Verstetigung als Zentralort des Reiches wurde jedoch mit der Aufnahme des Reichskammergerichts erreicht. Noch ein weiterer Aspekt von Zentralität lässt sich an der Reichsstadt Speyer veranschaulichen, der nicht durch das Modell von Christaller abgebildet wird. Zentralität ist eine dynamische Größe und speist sich aus unterschiedlichen Faktoren. Wenn einer dieser Faktoren sich verändert oder verloren geht, kann ein

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anderer Faktor an dessen Stelle treten und den Verlust kompensieren. Zudem gilt es, neben den zentralörtlichen Funktionen auch das Selbstverständnis einer Siedlung als Zentralort zu berücksichtigen – ein Faktor, der bei Christaller überhaupt keine Rolle spielt. So war Speyer bereits im Mittelalter durch die Funktion als kaiserliche Grablege ein Zentralort des Reiches, der vor allem memoriale Funktion hatte. An diese Funktion konnte Speyer ab 1500 anknüpfen, als die Stadt aufgrund verschiedener Faktoren im wirtschaftlichen Sektor einen Bedeutungsverlust erfahren musste. Das spezifische Selbstverständnis als zentraler Erinnerungsort des Reiches besaß offenbar die Kraft, den Verlust von zentralörtlicher Funktion im wirtschaftlichen Bereich zu kompensieren. Mehr noch, Speyer bot sich aufgrund dieser Tradition auch an, neuer Zentralort des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu werden, was der Stadt durch die Aufnahme des Reichskammergerichts für mehr als 150 Jahre auch gelang.

Gabriele Haug-Moritz

Religionsprozesse am Reichskammergericht Zum Wandel des reichspolitischen Konfliktpotentials der Kammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit (1530–1541) Sich den Religionsprozessen am Reichskammergericht zuzuwenden, heißt, eine Thematik zu behandeln, in deren Vorzeichen sich die Reichskammergerichtsforschung in den 1960er Jahren als integraler Bestandteil der neueren Reichsgeschichtsforschung etablierte und der auch noch nach einem halben Jahrhundert die wissenschaftliche Aufmerksamkeit gilt.1 Folgerichtig stellt sich der Forschungsstand als gut dar.2 Ich werde die Thematik daher für einen exakt definierten Zeitraum erörtern, der vom November 1530 bis Januar 1541 reicht. Diese zeitliche Beschränkung ist einerseits dem Thema des Bandes, andererseits der Materie, mit der ich mich befasse, den sog. Reformationsprozessen, geschuldet. Der Augsburger Reichstagsabschied vom 19. November 1530 markiert nicht nur im Umgang mit der reformatorischen Umgestaltung des Kirchenwesens eine Zäsur, sondern er war es auch, der Speyer endgültig zu einem Zentralort des Reiches werden ließ. Bestimmte er doch, dass, bis sich Kaiser und Reichsstände auf anderes verständigten (was 160 Jahre dauern sollte), das kaiserliche Kammer-

1 Der Beitrag stellt die um Belege erweiterte Fassung meines Speyrer Vortrags dar. Er fasst unter der Fragestellung des Bandes Ergebnisse zusammen von Gabriele Haug-Moritz: Der Schmalkaldische Bund (1530–1541/42). Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Leinfelden-Echterdingen 2002 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 44), v.a. S. 193–204, 277–287 sowie dies.: Die kaiserliche Gerichtsbarkeit in der Deutung der Protestanten der Reformationszeit, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/Wien 2007 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 53), S. 215–232. Beide Studien erlauben den Zugang zu der bis zum Zeitpunkt ihres Erscheinens publizierten Literatur und beinhalten auch die einschlägigen Quellennachweise. Im Folgenden werden daher nur wörtliche Zitate und die neuere, seit 2007 erschienene Literatur nachgewiesen. 2 Vgl. zuletzt: Tobias Branz: Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen am Reichskammergericht, in: Anja Amend-Traut u. a. (Hrsg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis. München 2012 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 11), S. 151–178; ders.: Reformationsprozesse am Reichskammergericht: Zum Verhältnis von Religionsfriedens- und Landfriedensbruchtatbeständen und zur Anwendung der Tatbestände in reichskammergerichtlichen Reformationsprozessen. Aachen 2014 (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 8)

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gericht stettigs zu[o] Speyer bleiblich sein und gehalten und sonst niergent anderswohin verändert werden soll.3 Damit wurde, wie im Reichstagsabschied ebenfalls ausgeführt, den administrativen Erfordernissen Rechnung getragen, die mit der seit 1495 wachsenden Bedeutung des Kammergerichts in der „Handhabung Friedens und Rechtens“ einhergingen. Die das Kammergericht betreffenden Regelungen des Jahres 1530 markieren einen wichtigen Meilenstein in der Transformation des Höchstgerichts zu einer Institution im modernen Verständnis, in der sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein wie in keiner zweiten Kaiser und Reich als institutioneller Handlungszusammenhang konkretisierte. Dies gilt umso mehr für die Untersuchungszeit. Denn das Dezennium zwischen 1530 und 1540/41 ist zugleich die Zeit des 16. Jahrhunderts, in der das Reich als handelnder Gesamtverband inexistent war. Wie sehr das Reich im ersten frühneuzeitlichen Jahrhundert mehr Ereignis und ideelle Größe als institutionell verfestigtes Handlungsgefüge war, verdeutlicht das reichstaglose vierte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wie kein anderer Zeitraum des ersten neuzeitlichen Säkulums. Nur einmal, 1532, versammelten sich Kaiser und Reich in Nürnberg und Schweinfurt um über die Türkengefahr und über den Umgang mit den seit 1530 grundsätzlich veränderten religionspolitischen Konfliktlagen zu verhandeln. Und so lässt sich pointiert formulieren: In der Zeit, mit der ich mich beschäftige, war Speyer nicht ein Zentralort des Reiches, er war das Reich. Ein Reich freilich auch – und hierfür steht die inhaltliche Dimension der kammergerichtlichen Tätigkeit, die ich erörtern werde –, in dem sich die Konfliktlagen grundlegend veränderten, die mit dem Religionsdissens einhergingen und in Speyer verortet waren. Schlagend zeigt sich dieser Wandel in der Funktion, die 1530 Kaiser und Reichstagsmehrheit, 1541 der Kaiser der kammergerichtlichen Judikatur bei der Bewältigung dieser Konfliktlagen zuschrieben: 1530 drohten Kaiser und Reichstagsmehrheit solchen Obrigkeiten eine fiskalische Klage an, die gegen die pro-reformatorische Druckschriftenproduktion nicht einschritten oder kirchliche Abgaben nicht wie bislang entrichteten. A priori unter Achtandrohung

3 Eine moderne Edition des Reichstags(abschieds) liegt nicht vor. Ich zitiere daher nach dem, inzwischen digital verfügbaren – http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn: nbn:de:bvb:12-bsb10146519-7 (abgerufen am: 12. Dezember 2015) Mainzer Druck des Jahres 1530 (VD16 R 779). ABschiedt des Rei=||chßtags zů Aug=||spurg Anno M.D.xxx.|| gehalten.||, [Mainz 1530], Eiii; vgl. hierzu Jost Hausmann: Die Städte des Reichskammergerichts, in: ders. (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts. Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9– 36 und jetzt auch Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil 1: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011(QFHG, Bd. 26/I), S. 38–47.

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stellten sie Eingriffe in kirchliche Eigentumsrechte, die sie als Verstöße gegen den ‚kaiserlichen Landfrieden‘ deklarierten. War diesbezüglich offen gelassen, wem die Kompetenz zukam, die Acht zu erklären, so sagten sich der Kaiser und die altgläubigen Reichsstände gegenseitig zu, dass ein rechtsförmiges Verfahren eingeleitet werden sollte, wenn ein militärischer Konflikt wegen des Reichstagsabschieds drohte. Für den Fall, dass sich der Beschuldigte dem rechtlichen Verfahren entzog, sollte der kaiserliche Fiskal unverzüglich Klage auf Achterkennung einbringen und das Gericht sein Urteil fällen.4 Etwas mehr als zehn Jahre später, am 28. Januar 1541, erließ Karl V. im Vorfeld des Regensburger Reichstages in Speyer ein Edikt aus Rö. Kay. Macht Vollkommenheit, in dem er alle Würckung der […] Acht, so wider die Stätte Goslar und Minden an unserm Kay. Cammergericht . . . ergangen, Deßgleichen alle ander Proceß, die Religionsach belangend [. . .] bisß auff berürten Reichstag, und solang bis daß ein anders verordnet wurd aussetzte. Doch nicht nur in Religionssachen sollte die reichskammergerichtliche Judikatur sistiert werden, sondern auch in allen Angelegenheiten, die unter dem Schein der Religion als davon herrürendt oder darauß fliessende, vor unserm Kay.Cammergericht schwebend sind.5 Im Gegensatz zu den Bestimmungen des Nürnberger Anstandes des Jahres 1532 machte sich Karl V. damit die weite und inhaltlich unspezifische protestantische Lesart dessen zu eigen, was Religionssachen sind, und er verkündete die Suspension der kammergerichtlichen Tätigkeit nunmehr öffentlich. Waren die 1532 den seinerzeitigen kurpfälzischen und kurmainzischen Vermittlern gemachten religionspolitischen Zugeständnisse des Kaisers, wie etwa das Protokollbuch Mathias Albers belegt, den Assessoren am Kammergericht im Detail nur vom Hören-Sagen bekannt,6 so machte die öffentliche Verkündigung den kaiserlichen Willen nunmehr auch für das Kammergericht zur verbindlichen Handlungsgrundlage. Erstmals seit 1530 waren damit im Januar 1541 die rechtlichen Folgeprobleme, die mit dem Religionsdissens einhergingen, zumindest bis zu einer weiteren kaiserlichen Verordnung, neutralisiert. Dass sich der nach nahezu zehnjähriger Abwesenheit ins 4 Vgl. Abschied (wie Anm. 3), Aiii–Diiiv. 5 Friedrich Hortleder: Der Römischen Keyser und Königlichen Maiestete, Auch des Heiligen Römischen Reichs [. . .] Handlungen und Ausschreiben [. . .] von den Ursachen des Teutschen Kriegs Kaiser Carls des Fünfften [. . .], 4. Buch, 38. Kapitel. Franckfurt am Meyn 1617. Wegen der fehlerhaften und zudem in den Ausgaben von 1617 und 1645 nicht übereinstimmenden Paginierung zitiere ich mit Angaben des Buchs und Kapitels, die das zuverlässige Auffinden der Quelle ermöglichen. Das Edikt wird als Wittenberger Einblattdruck auch von VD16 nachgewiesen (ZV 21429). 6 Steffen Wunderlich: Das Protokollbuch von Mathias Alber. Zur Praxis des Reichskammergerichts im frühen 16. Jahrhundert. 2 Teilbände. Köln u. a. 2011 (QFHG, Bd. 58/1,2), S. 1012–1015, 1017–1021.  

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Reich zurückkehrende Kaiser genötigt sah, die kammergerichtliche Judikatur auszusetzen, um die Voraussetzungen zu schaffen, auf dem Regensburger Reichstag seine auf Ausgleich bedachte Religionspolitik zu realisieren, zeigt den zentralen Stellenwert an, der den Reformationsprozessen in den vergangenen zehn Jahren reichspolitisch zugewachsen war, und führt zugleich medias in res. Die Veränderungsdynamiken der politischen Bedeutung der in Speyer anhängigen Reformationsprozesse im Untersuchungszeitraum zu verdeutlichen, ist das Ziel des Beitrags. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung, die sich der Thematik der Reformationsprozesse aus der Perspektive einzelner betroffener Stände7 beziehungsweise aus derjenigen des Kammergerichts und seiner Assessoren8 genähert hat, wähle ich einen anderen „Sehepunkt“ – denjenigen der beklagten protestantischen Stände. Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich ihnen einen knappen Überblick über die in protestantischem Verständnis aus der reformatorischen Umgestaltung des Kirchenwesens resultierenden Prozesse geben. Dieser Überblick dient (auch) als Grundlage des zweiten Teils, in dem ich aufzeigen möchte, dass es nicht der gegen die Protestanten vom Kammergericht geführte „rechtliche Krieg“ war, so die vorherrschende Sicht der Forschung, aus dem die wachsende politische Brisanz der kammergerichtlichen Judikatur resultierte, sondern der Wandel der Formen protestantischer Interessenwahrung im Reich. (1) Vier Mal stellten die protestantischen Obrigkeiten Prozesse und Beschwerungen zusammen, die in ihrem Verständnis die Religion betrafen, und kommunizierten sie Dritten: 1532 und 1539 übergaben sie ihre Auflistungen auf den Religionsvergleichstagen in Schweinfurt bzw. Frankfurt den kurfürstlichen Vermittlern sowie, 1539, zudem dem Erzbischof von Lund als kaiserlichem Emissär. 1533 und 1535 wurden sie für die protestantischen Prokuratoren am Kammergericht, Dr. Ludwig Hierter und Johann Helfmann, ausgearbeitet. Nach Abschluss des Frankfurter Anstandes im April 1539 wurden keine neuen Verfahren mehr eröffnet.9 Mehr als eines Aufsatzes würde es bedürfen, die Inkonsistenzen der Auflistungen aufzuzeigen. Inkonsistent sind sie in Hinblick auf die von den Protestanten

7 Zuletzt Wolfgang Friedrich: Territorialfürst und Reichsjustiz. Recht und Politik im Kontext der hessischen Reformationsprozesse am Reichskammergericht. Tübingen 2008 (Jus ecclesiasticum, Bd. 83). 8 Zuletzt Wunderlich: Alber (wie Anm. 6). 9 Detailnachweis bei Haug-Moritz: Schmalkaldischer Bund (wie Anm. 1), S. 194 f. Zum Verfahren in der causa Haina jetzt ausführlich Friedrich: Territorialfürst (wie Anm. 7), S. 37–43, 88–96, 142– 146, 170–183 u.ö.  

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benannten und gegen sie vor dem Kammergericht anhängigen Verfahren, willkürlich erscheint der Zeitpunkt der erstmaligen Etikettierung als Reformationsprozess, waren doch etliche Verfahren schon mehrere Jahre gerichtlich anhängig bevor sie benannt wurden. Und auch zwischen dem, was in der Forschung bislang als Reformationsprozess vorgestellt wird, und den Prozessen, die von den Protestanten angeführt wurden, besteht eine nur partielle Kongruenz. Ich beschränke mich bei der Analyse der Zusammenstellungen auf diejenigen Aspekte, die für den weiteren Argumentationsgang entscheidend sind: 1. Die Zahl der benannten Verfahren steigt zwischen 1530/31 und 1541, sprunghaft in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre, an. Jedoch nur vier von mehr als 30 im Jahr 1539 benannten Prozessen werden über den ganzen Zeitraum hinweg, wenn auch nicht in jeder Auflistung, benannt. Dass drei dieser vier Verfahren Städte (Straßburg, Konstanz, Magdeburg) betrafen und im Konflikt mit dem Abt des Klosters Haina eine Stadt, Göttingen, zumindest auch involviert war, indiziert Grundsätzlicheres: Am umfänglichsten und kontinuierlichsten sind Städte, insbesondere süddeutsche Reichsstädte, mit Kammergerichtsverfahren konfrontiert.10 Zwischen 1535 und 1539 steigt aber vor allem die Zahl der gegen Fürsten geführten Prozesse rasch. 2. Das Mindener, in der kaiserlichen Suspensionsdeklaration von 1541 angeführte Achtverfahren wird, wiewohl seit 1531 rechtshängig, erstmals 1539 als Reformationsprozess ausgewiesen. Im Oktober 1538 war die Stadt Minden in die Acht erklärt worden, im März 1540 war das Achtexekutionsurteil ergangen.11 Und auf keiner protestantischen Prozessliste der Jahre 1532 bis 1539 findet das 1541 bereits

10 Am Rande: Die Rede von dem gegen die Protestanten geführten „rechtlichen Krieg“, die auch in den jüngsten Forschungen noch Verwendung findet, geht maßgeblich darauf zurück, dass die Forschung der 1960er/70er Jahre zu den Religionsprozessen der Reformationszeit gerade auf die (süddeutschen) Reichsstädte fokussiert war (bibliographische Nachweise gebündelt bei Jahns: Reichskammergericht [wie Anm. 3], S. 48/Anm. 21). Ranke lässt sich im Übrigen nicht, wie Martin Lies es tut (Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg 1534–1541 [Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 231], Göttingen 2013, S. 255/19), als historiographischer „Kronzeuge“ einer solchen Etikettierung der kammergerichtlichen Tätigkeit ins Feld führen. Im Gegenteil: Ranke reflektiert darauf, warum der „Gedanke des gerichtlichen Krieges“ [Hervorhebung GHM], wie er im Augsburger Reichstagsabschied begegnet, in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre den kaiserlichen Intentionen zunehmend zuwider lief (Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 4. Berlin 1843, S. 71, 125 f., 279). 11 Hierzu zuletzt Wunderlich: Alber (wie Anm. 6), S. 1281–1286.  

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mehr als ein Jahrzehnt währende, vom Kaiser ebenfalls als auszusetzen benannte Verfahren Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttels gegen die Reichsstadt Goslar. Auch dieser Prozess war im Oktober 1540 in die Achterklärung Goslars gemündet.12 Das heißt, die beiden in der kaiserlichen Suspensionserklärung explizit benannten und als „Religionssachen“ deklarierten Kammergerichtsprozesse, waren offenkundig bis beziehungsweise noch 1539, auch im Verständnis der protestantischen Obrigkeiten, keine gewesen. 3. Der Fiskal tritt als Kläger nur in zwei Prozessen in Erscheinung, wiewohl in nahezu allen benannten Prozessen das Problem der kirchlichen Abgaben berührt wird. Dieser „Zurückhaltung“ des Fiskals korreliert der Umgang des Kammergerichts mit den anhängigen Prozessen. Nur in sieben der angeführten Verfahren ergingen rechtliche Erkenntnisse, darunter das einzige vom Kammergericht verkündete Achtexekutionsurteil gegen die Stadt Minden im März 1540. Weitere drei Verfahren wurden fortgesetzt, ohne dass jedoch rechtliche Entscheide publik gemacht worden wären.13 Kurzum: Auch in den Reformationsprozessen der 1530er Jahre begegnet uns der strategische Einsatz der justiziellen Möglichkeiten für die Durchsetzung eigener Interessen, den die neuere Forschung als für die frühneuzeitliche Justizpraxis charakteristisch herausgearbeitet hat.14 Dass diese Strategie durchaus erfolgversprechend war, zeigen etliche außergerichtlich verglichene Verfahren. Und die hohe Zahl der von protestantischer Seite nur einmal benannten Kammergerichtsprozesse deutet ebenfalls in diese Richtung, auch wenn wir über den Verfahrensverlauf nicht in jedem Einzelfall unterrichtet sind. Der „rechtliche Krieg“ gegen die protestantischen Stände hatte also nicht stattgefunden. Warum aber kam dann der Kammergerichtsjudikatur eine so ausschlaggebende Bedeutung zu, dass Karl V. sie 1541 suspendierte? (2) Am 23. Dezember 1530 versammelten sich, auf ein Ausschreiben Kurfürst Johanns von Sachsen hin, die fürstlichen und gräflichen Mitglieder des 1526 gegründeten Magdeburger Bundes, die Mehrzahl der protestations- und appellationsverwandten Fürsten und Städte des Jahres 1529, sowie Vertreter der Städte

12 Zuletzt, auch zum Kontext dieses Prozesses, ebd., S. 1045–1083. 13 Detailnachweise bei Haug-Moritz: Schmalkaldischer Bund (wie Anm. 1), S. 203 f. 14 Vgl. hierzu jüngst, in konzisem Überblick: Anette Baumann/Alexander Jendorff: Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang, in: diess. (Hrsg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014 (baR, Bd. 15), S. 9–30.  

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Magdeburg und Bremen in Schmalkalden, um über die nunmehrige Situation zu beraten.15 Als sie am Silvestertag wieder auseinandergingen, hatten sie die Weichen gestellt, die für den Umgang mit der potentiellen kammergerichtlichen Judikatur entscheidend werden sollten. Sie verabredeten zwei, wechselseitig aufeinander bezogene, aber formal, legitimatorisch, inhaltlich und in Hinblick auf den Teilnehmerkreis divergierende Formen künftiger Kooperation. (a) „Alle in Schmalkalden (1) im Dezember 1530 anwesenden Stände sagten sich zu, wo der keyserlich viscal, der bundt zu Schwaben oder jemant anderst ir chur und f. gnad oder der gemelten graffen und stett aine oder mer oder jemandt von den irn in sachen unsern hailigen glauben oder was demselbigen anhangt, uff den ußgangen abschidt furnemen und [. . .] beklagen wolt oder wurde, das ir aller gnaden und gunsten ainander in sölichem beystendig, rettlich und hulflich sein söllen16. Sie schlossen sich dergestalt zu einer rechtlichen Streitgenossenschaft (litis consortium) zusammen, das heißt, sie erklärten die potentiellen gerichtlichen Beschwerungen jedes Einzelnen – nicht aber die daraus möglicherweise erwachsenden Konsequenzen, das ist deren militärische Exekution, zu einer alle gleichermaßen betreffenden Angelegenheit.17 Auf dem nächsten, im Juni 1531 in Frankfurt abgehaltenen Versammlungstag der Protestanten, gewann das litis consortium in seiner gemeinsamen Vollmacht für ihre Prozessvertreter am Kammergericht, die Prokuratoren Helfmann und Dr. Hierter, konkrete Gestalt. Den beiden Prokuratoren oblag es, sie alle sambtlich oder jedem in sonderhait obgedachter sachn halben zu verdreten und zu verandwurten.18 Wem das Recht zugeschrieben wurde, zu definieren, ob es sich um 'obgedachte Sachen', also Religionssachen und „was ihnen anhängt“, oder um andere gerichtliche Beschwerungen des einzelnen Liitis

15 Im Detail, mit der älteren Literatur Haug-Moritz: Schmalkaldischer Bund (wie Anm. 1), S. 1 f., 122‒170. 16 Ekkehart Fabian (Hrsg.), Die schmalkaldischen Bundesabschiede, Teil 1: 1530‒1532. Mit Ausschreiben der Bundestage und anderen archivalischen Beilagen. Tübingen 1958 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte, Bd. 7), S. 13; vgl. auch ders. (Hrsg.), Urkunden und Akten der Reformationsprozesse. Am Reichskammergericht, am kaiserlichen Hofgericht zu Rottweil und an anderen Gerichten, Teil 1: Allgemeines 1530‒1534. Tübingen 1961 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte, Bd. 16/17),S 18‒24; zu den Reformationsprozessen des Schwäbischen Bundes: Horst Carl: Der Schwäbische Bund 1488‒1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation. Leinfelden-Echterdingen 2000 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 24), S. 414‒422. 17 Grundlegend hierzu: Diethelm Böttcher: Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit. Berlin 1991 (Historische Forschungen, Bd. 46), S. 172‒174. 18 Vgl. Fabian: Urkunden (wie Anm. 16), S. 31‒34, 44‒46.  

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consors handelte, wurde der handelnden Ausgestaltung der Beteiligten überantwortet. (b) Ein am 31. Dezember1530 kleiner, im Sommer 1531 rasch anwachsender Teil der Anwesenden verständigte sich, zeitlich befristet, überdies auf ein „christliches Verständnis“, das auf einer vertraglichen Grundlage aufruhte. Begründet mit der Gefährlichkeit der Zeitläufte und nicht mit dem Augsburger Reichstagsabschied und legitimiert mit den Pflichten, die den Bündnern aus ihrem obrigkeitlichen Amt erwachsen, sagten sich die Teilnehmer des christlichen Verständnisses zu, gemeinsam zur „Gegenwehr“ zu schreiten. „Gegenwehr“ meint nicht, sich zu verteidigen, sondern ein Verständnis des Umgangs mit den innerweltlichen Folgeproblemen des Religionsdissenses zu teilen, das darin bestand, militärische Gewalt als letztes Mittel einzusetzen, wenn kein anderer Weg mehr offenstand, die Vertragsinhalte zu realisieren. Diese Inhalte waren offen formuliert und vom Ermessen der Bündnisteilnehmer abhängig gemacht. Der Bündnisfall ist gegeben, so bestimmt der Bundesvertrag, wenn ein militärischer Konflikt droht oder bereits eingetreten ist, der wegen (1) des ‚Wortes Gottes‘, evangelischer Lehre und des heiligen Glaubens und (2) was ‚daraus folgt und diesem anhängt‘ ausgefochten wird, aber auch dann (3) so ayn ander sach gegen aynem aus uns zu aynem schein furgewant wurde, das aber wir und die andern, die solcher zeit nit angegriffen, ermessen möchten, das es vornemlich umb dieses gots worts willen beschee.19 Dieser Zusammenschluss firmiert in der Forschung unter der Bezeichnung Schmalkaldischer Bund. Nicht durchsetzen konnte sich, wie gerade jüngst wieder deutlich wurde,20 die bereits von Ranke vorgenommene Unterscheidung von juridischem und militärischen Bündnis, die freilich den divergierenden korporativen Charakter der beiden Formen der Kooperation protestantischer Obrigkeiten verwischt, und auch nicht die von mir vorgeschlagene zwischen Schmalkaldischem Bund und gesamtprotestantischer Handlungsgemeinschaft. Wer aber diese Unterscheidung negiert, verschließt sich das Verständnis der politischen Bedeutung der Reichskammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit. Bis 1536, das heißt in der Zeit, in der, der Schmalkaldische Bund aus „Worten“ und nicht aus „Taten“ bestand, wie der sächsische Kurfürst Johann Friedrich formulierte, waren die rechtlichen Problemstellungen eine Agende, die von der rechtlichen Streitgenossenschaft behandelt wurde. Die beschwerten Stände wurden beim vornehmsten und mächtigsten protestantischen Reichsstand, dem sächsischen Kur-

19 Haug-Moritz: Schmalkaldischer Bund (wie Anm. 1), S. 77. 20 Vgl. z. B. die in den Anmerkungen 2 und 10 angeführten Arbeiten von Branz und Lies.  

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fürst, vorstellig, wobei die oberländischen Städte, die Hauptbetroffenen reichskammergerichtlicher Aktivitäten, ihren „Weg“ zum Kurfürsten, auch wenn sie nur schriftlich ihr Anliegen vortrugen, konsequent über Hessen nahmen.21 Der Kurfürst und der Landgraf entschieden wie mit den vorgetragenen Streitfällen umgegangen werden sollte und damit de facto auch darüber, ob sie als Religionssachen zu betrachten waren oder nicht. Nur einmal, 1533, verabredeten auf einem wiederum in Schmalkalden stattfindenden Versammlungstag, sämtliche consortes in den Angelegenheiten einzelner Stände beim Kammergericht vorstellig zu werden. Vier Möglichkeiten standen dem sächsischen Kurfürsten und hessischen Landgrafen offen, dem einzelnen Stand ‚rätlich, beiständig und behilflich’ zu sein: (1) Sie konnten Hilfe zur Selbsthilfe leisten und die „Beschwerten“ an der Expertise der in ihren Diensten stehenden Juristen (Universitäten und Hofgerichte) teilhaben lassen; (2) sie konnten – und in diesen Fällen handelte der Kurfürst immer nur gemeinsam mit dem Landgrafen – bei dem „Beschwerenden“ zugunsten des Beschwerten intervenieren und sie konnten sich (3) formell, im Namen aller „der protestation verwant“, oder auch informell an Karl V. oder Ferdinand wenden und sich für einzelne Stände einsetzen.22 (4) Die vierte und letzte Form des Umgangs mit gerichtlichen Beschwerden, denen sich einzelne Stände ausgesetzt sahen, bestand darin, beim Reichskammergericht selbst einzukommen. Entweder wurde, was selten geschah, ein einzelner Fall auf kurfürstliches Begehr dem kammergerichtlichen Kollegium schriftlich vorgetragen oder eine Gesandtschaft wurde nach Speyer abgeordnet. So begaben sich Emissäre des Litis consortium im Sommer 1533 auf die, auf einem Tag der Streitgenossenschaft beschlossene Reise und machten die Beschwerungen einzelner Stände namhaft. Nachdem unabweislich war, dass die Intervention der Gesandtschaft beim Kammergericht erfolglos sein würde, wurde, was ebenfalls auf dem Schmalkaldener Tag des Sommers 1533

21 Die Aktivitäten der Reichsstädte sind zuverlässig und umfassend dokumentiert in Ekkehart Fabian (Hrsg.), Die Beschlüsse der oberdeutschen schmalkaldischen Städtetage. Quellenbuch zur Reformations- und Verfassungsgeschichte Ulms und der anderen Reichsstädte des oberländischen Schmalkaldischen Bundeskreise, Bd. 1: 1530/31; Bd. 2: 1531/32; Quellenbuch zur Geschichte des Zerfalls des Schwäbischen Bundes, der Religionsprozesse protestierender Städte und der Erneuerung des Schmalkaldischen Bundes, Bd. 3: 1533–1536. Tübingen 1959/60 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte, Bd. 9/10, Bd. 14/15, Bd. 21/24) sowie in ders.: Urkunden (wie Anm. 16); zu den Jahren 1534/35, die durch Fabian: Urkunden nicht mehr abgedeckt sind, vgl. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. H 87, 94, 98 und 99 (Aktenzusammenstellung der vorgebrachten reichskammergerichtlichen Beschwerungen; Celle, Pommern, Hamburg, Bremen, Magdeburg, Konstanz, Memmingen, Straßburg, Esslingen, Heilbronn, Isny, Frankfurt, Lindau, Riga). 22 Vgl. mit Detailnachweisen Haug-Moritz: Schmalkaldischer Bund (wie Anm. 1), S. 278 f.  

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in Aussicht genommen worden war, eine zweite Gesandtschaft gebildet und abgeordnet. Sie sollte das Kammergericht im Namen der protestantischen Streitgenossenschaft rekusieren. Seitdem aber die Rekusation am taktischen Geschick des Kammerrichters, Graf Adam von Beichlingens, gescheitert und im März 1534 vom Kammergericht förmlich für nichtig erklärt worden war, war den protestantischen Obrigkeiten dieser Weg versperrt. Denn, so ließ Prokurator Helfmann 1535 Landgraf Philipp wissen, interveniere man nach der gescheiterten Rekusation namens des litis consortium, so stehe man selbst von der Rekusation ab.23 Die auf die gemeinsame Konfliktbewältigung auf dem Rechtsweg zielende rechtliche Streitgenossenschaft konnte nun nicht mehr den adäquaten Umgang mit den reichskammergerichtlichen Beschwerungen einzelner Stände darstellen. Im Dezember 1535 verständigten sich daher die schmalkaldischen Bündner auf dem, seit Dezember 1531, ersten Versammlungstag, zu dem ausschließlich sie und nicht auch die rechtlichen Streitgenossen geladen wurden, auf die Art und Weise wie der neuen Situation Rechnung zu tragen sei. Sie kamen überein, dass künftig jede betroffene Obrigkeit einzeln das Kammergericht rekusieren solle und, für die Folgezeit wesentlich gewichtiger, präzisierten den Bündnisfall in einer Hinsicht: Sollte ein Achturteil in Prozessen ergehen, die „Religionssachen“ im bündischen Verständnis betreffen, so war der Bündnisfall gegeben. Seit Dezember 1535 stand die Rechtsprechung des Kammergerichts daher auch im Vorzeichen potentieller physischer Gewaltanwendung. Erst jetzt – und nicht zum Zeitpunkt seiner Gründung – wurde der Schmalkaldische Bund auch zum „Vollstreckungsschutzbund“ gegen kammergerichtliche Urteile. Dass der bislang de facto nur auf dem Papier existierende Schmalkaldische Bund ebenfalls im Dezember 1535 um zehn Jahre verlängert wurde, sich seine Teilnehmerzahl nahezu verdoppelte, ohne jedoch jemals zu einer Vereinigung aller protestantischen Obrigkeiten zu werden, und mit der sogenannten „Verfassung zur Gegenwehr“ zu einem schlagkräftigen, Entscheidungsfindungsprozesse verbindlich festschreibenden politischen Bündnis wurde, das sich seit 1537 immer stärker

23 Nachweise ebd.,S. 281‒284; vgl. auch Friedrich: Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 7), S. 161–166, allerdings nicht über den älteren Forschungsstand hinausführend. Dass ihm der in meiner Habilitationsschrift gegebene Hinweis auf die identische Haltung des Kammergerichts zur bayerischen Rekusation des Jahres 1524 (Haug-Moritz, Schmalkaldischer Bund, S. 282/327) „unklar“ bleibt (ebd., S. 166/159), ist bedauerlich, belegt die Nichtigkeitserklärung der bayerischen Rekusation doch Entscheidendes – die Tatsache, dass die Kammergerichtsassessoren, unabhängig davon ob die Rekusierenden dem alten oder neuen Glauben anhingen, das Rechtsmittel der Rekusation als unzulässig erachteten.

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militarisierte, das alles sind die Kontexte, die die Kammergerichtsjudikatur je länger desto mehr zum Reichsfriedensproblem werden ließen. Zwei Ereignisse ließen dieses Problem virulent werden: Zum einen die in Konfrontation und nicht in Ausgleich mündende Mission Reichsvizekanzler Helds 1537, der von Karl V. entsandt wurde, nachdem sich die schmalkaldischen Bündner, wie auch in den Jahren zuvor, 1536 an König Ferdinand und Kaiser Karl V. gewandt hatten, um zu einer Klärung der Fragen der kammergerichtlichen Rechtsprechung zu gelangen; zum anderen die Achterklärung gegen die seit 1536 dem Schmalkaldischen Bund angehörende Stadt Minden. Zwar griffen die Bündner (vorläufig noch) nicht zu den Waffen, veränderten aber inner- wie außerbündisch ihre Kommunikationsstrategie. Innerbündisch arbeiteten die, seit 1536 als Hauptleute des Bündnisses firmierenden kursächsischen und hessischen Fürsten zielstrebig darauf hin, dabei geschickt ihre verfahrensrechtlichen Prärogativen nutzend, das Goslarer Kammergerichtsverfahren zu einer „Religionssache“ zu machen, womit ihnen 1542 schließlich Erfolg beschieden sein sollte. Und: Sie stellten, was 1534 unterlassen worden war, die Rechtsförmigkeit der Rekusation des Kammergerichts durch Öffentlichkeit her. Ein intensiver Diskussionsprozess der schmalkaldischen Bündner24 ging der 1538 in deutscher und lateinischer Sprache in Druck gegebenen Kammergerichtsrekusation25 voraus. Ihr wichtigstes Anliegen war es, die Rekusation auf eine Art und Weise zu bewerkstelligen, dass, so der sächsische Kurfürst, der ‚kaiserlichen Majestät der Glimpf und dem Kammergericht der Unglimpf zugemessen‘ werde, damit der Kaiser ‚darob kein Beschwerung trage‘. Von der Prämisse ausgehend, daß der ordentlich Gerichtszwang des H. Reichs nit auff deß Cammerrichters und der Beysitzer des Key. Cammergericht iederzeit wesenden, sondern der Rö. Key. Ma. Person beruhen und bleibend seye,26 postulierten sie an Stelle der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung diejenige des Kaisers. Und so ist es auch nicht erstaunlich, dass, als die Schmalkaldener 1542 den Städten Goslar und Braunschweig die bündische Militärhilfe angedeihen ließen, sie diese nicht mit dem schmalkaldischen Bündnis rechtfertigten, sondern als Mittel, die kaiserliche Achtsuspension des Jahres 1541 durchzusetzen.27

24 Dokumentiert bei Hortleder: Ursachen (wie Anm. 5), 7. Buch, Kapitel 5–16. 25 VD 16 weist – allesamt digital verfügbare – deutsche Drucke aus Wittenberg, Augsburg und Ulm nach (S. 984–986) sowie einen lateinischen Wittenberger Druck, der ebenfalls online verfügbar ist (S. 990). 26 Hessisches Staatsarchiv Marburg, Politisches Archiv Landgraf Philipps, Nr. 2576, o.F. (Schreiben Kurfürst Johann Friedrichs an Landgraf Philipp von Hessen, 15. November 1538). 27 Gabriele Haug-Moritz: Widerstand als „Gegenwehr“. Die schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr“ und der „gegenwehrliche Krieg“ des Jahres 1542, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der Frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-

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Zusammenfassung 1.

Speyer war 1530 durch die dauerhafte Etablierung des kaiserlichen Kammergerichts endgültig zu einem Zentralort des Reiches geworden. Im vierten, reichstagslosen Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts war es freilich noch mehr – nicht nur ein Zentralort des Reiches, sondern dessen Zentrum.

2.

Die Bewältigung der innerweltlichen Folgen des religiösen Dissenses mittels der neuen, 1495 geschaffenen judikativen Möglichkeiten unterlag zwischen dem Ende des Augsburger und dem Beginn des Regensburger Reichstages einem grundlegenden Wandel – von der Überantwortung in die Zuständigkeit des Kammergerichts zur Sistierung von dessen Tätigkeit durch den Kaiser.

3.

Dieser Wandel lässt sich nicht aus der kammergerichtlichen Perspektive erklären und verstehen. Denn das Kammergericht erfüllte die ihm im Augsburger Reichstagsabschied zugedachte Funktion, die innerweltlichen Folgeprobleme der religiösen Pluralisierung rechtlich zu sanktionieren, nicht. Zwar schlugen je länger desto mehr altgläubige Stände den Rechtsweg ein, doch kammergerichtliche Entscheide in diesen Prozessen ergingen nur selten. Nur gegen ein einziges Mitglied, gegen die Stadt Minden, erging in einem Prozess, der von den Protestanten als die Religion betreffend betrachtet wurde, nach mehr als achtjähriger Verfahrensdauer ein Achtexekutionsurteil.

4. Dass sich die Mittel „ziemlicher Hilfe“, das ist die im Schmalkaldischen Bund gemeinsam organisierte Gegenwehr, und die „Mittel von Recht und Billigkeit“, so die Formulierung im Rekusationslibell des Jahres 1534, nicht ausschlossen, sondern im zeitgenössischen Verständnis gleichwertige Alternativen politischen Handelns darstellten, verleiht dem Geschehen seine Dynamik. In dem Maß, in dem die protestantischen Obrigkeiten in der zweiten Hälfte der 1530er Jahre nur noch auf die erste der beiden Handlungsmöglichkeiten setzten und setzen konnten, eskalierte der Konflikt.

britischen Vergleich. Berlin 2001 (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft, Bd. 26), S. 141‒ 161, v.a. S. 157‒160.

Eva Ortlieb

Speyer als Tagungsort des Hofrats Kaiser Karls V. Zu den Besonderheiten des Reichshofrats, die dieses oberste Gericht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation von dem anderen Reichshöchstgericht, dem Reichskammergericht, unterschieden, gehört der Verzicht auf einen festen Sitz: Der Reichshofrat solle, so heißt es noch in der Ordnung von 1654, die bis zum Ende des Alten Reichs geltendes Recht war, unserem kays. hoff ie und allezeit, welcher orthen derselbig gehalten wirdt, nachfolgen.1 Tagungsort des Reichshofrats waren demnach nicht nur die großen Residenzstädte der habsburgischen Kaiser, Wien und Prag – sowie, während des kurzen wittelsbachischen Kaisertums, Frankfurt am Main –, sondern auch verschiedene andere Städte innerhalb des Reichs. Zum Tagungsort des Reichshofrats wurden diese Städte insbesondere dann, wenn dort ein Reichstag stattfand, den der Kaiser persönlich besuchte; mit dem Kaiser kam auch der Reichshofrat zu einem mehrwöchigen oder mehrmonatigen Aufenthalt in die Reichstagsstadt.2 Das gilt auch für die Reichs- und Reichstagsstadt Speyer, die damit auch zu den Tagungsorten des Reichshofrats zu rechnen ist.3 Die Regierungszeit Kaiser Karls V. stellt aus zwei Gründen eine entscheidende Phase der Entstehung des Reichshofrats dar.4 Zum einen lässt sich seit den 1540er Jahren eine Verstetigung des kaiserlichen Hofrats für Reichsangelegenheiten (consilium imperiale) beobachten, der vorher nur für die Zeit der Anwesenheit des Kaisers im Reich, insbesondere während der vom Kaiser persönlich besuchten Reichstage, besetzt und bei der Abreise des Kaisers wieder aufgelöst worden war. Zum anderen setzte sich ein charakteristischer Aufgabenbereich für diesen Rat durch, der sich am treffendsten mit dem Begriff der Parteiensachen5 beschreiben

1 Text ediert bei Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766. Bd. 2: Bis 1766. Köln/Wien 1990 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 8), S. 45–260 (Zitat S. 62). 2 Eva Ortlieb: Reichshofrat und Reichstage, in: Thomas Olechowski/Christian Neschwara/Alina Lengauer (Hrsg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag. Wien/Köln/Weimar 2010, S. 343–363. 3 Etwa während des Reichstags von 1570: Hermann Becker: Der Speyerer Reichstag von 1570. Ein Beitrag zur Geschichte des 16. Jahrhunderts. Phil. Diss. Mainz 1969, S. 26 u.ö. 4 Eva Ortlieb: Die Entstehung des Reichshofrats in der Regierungszeit der Kaiser Karl V. und Ferdinand I., in: Frühneuzeit-Info 17 (2006), S. 11–26. 5 Bereits das Innsbrucker Libell Kaiser Maximilians von 1518 spricht von partheihändel, die Hofratsordnung König Ferdinands von 1541 von parteiensachen. Auch in der Reichshofratsord-

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lässt: Anträge einzelner Personen, Personengruppen oder Institutionen in Lehenssachen, Gratialangelegenheiten – hier ging es vor allem um kaiserliche Privilegien – und im Bereich der Justiz. Dieses Tätigkeitsprofil bestimmte später auch den seit 1559 zunehmend als solchen bezeichneten Reichshofrat,6 selbst wenn sich die Gewichte im 17. Jahrhundert stark zugunsten der gerichtlichen Agenden verschoben.7 Sofern sich Karl V. im Reich aufhielt, unterhielt er an seinem Hof in der Regel einen Hofrat, der strukturell dem späteren Reichshofrat entspricht. Damit gehören alle Städte, die der Kaiser auf seinen Reisen im Reich besuchte, potentiell zu den Tagungsorten seines Hofrats – auch Speyer, das im 16. Jahrhundert zweifellos zu den Zentralorten des Reichs zählte: als Sitz des sog. Reichsregiments, als Sitz des Reichskammergerichts sowie als Reichstagsstadt. Welchen Beitrag der kaiserliche Hofrat zu der zentralörtlichen Funktion Speyers leistete, soll im folgenden untersucht werden. In einem ersten Schritt ist festzustellen, wann genau Speyer als Tagungsort des Hofrats fungierte. Danach wird das Tätigkeitsprofil des Hofrats in Speyer analysiert, wobei insbesondere nach Besonderheiten, die mit dem Tagungsort zusammenhängen, zu fragen ist. Abschließend sind die Ergebnisse auf die Bedeutung der Stadt Speyer als Zentralort des Reichs zurückzubeziehen.

1 Der Hofrat Karls V. in Speyer Aufgrund seiner Konstruktion als Rat am kaiserlichen Hof ist der Hofrat Karls V. immer dann in Speyer zu vermuten, wenn sich der Kaiser in der Reichsstadt aufhielt. Diese Aufenthalte sind einerseits durch die Speyerer Stadtgeschichtsforschung, andererseits durch die Regestierung der kaiserlichen Verfügungen,

nung von 1559 werden dem Hofrat insbesondere partheyensachen zugewiesen: Thomas Fellner/ Heinrich Kretschmayr (Hrsg.), Die österreichische Zentralverwaltung. Abt. 1: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749). Bd. 2: Aktenstücke. Wien 1907 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 6), Nr. 10, S. 84–91 (Zitat S. 85); Nr. 15, S. 272–275 (Zitat S. 272); Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates. Bd. 1: Bis 1626. Köln/Wien 1980 (QFHG, Bd. 8), S. 27–36 (hier S. 28). 6 Seit der Ordnung von 1559 wurde für den bisher als Hofrat bzw. consilium imperiale bezeichneten Rat zunehmend der Begriff Reichshofrat verwendet: Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, Bd. 33), S. 5; Wolfgang Sellert: Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 5), S. 1–12 (hier S. 4). 7 Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 6), S. 7.

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aus denen sich das Itinerar des Kaisers ergibt, ermittelt worden. Danach war Karl V. zum ersten Mal 1530 in der Stadt, wenn auch nur für wenige Tage.8 Ebenfalls jeweils nur kurz besuchte der Kaiser Speyer in den 1540er Jahren: in der zweiten Januarhälfte 1540,9 von der zweiten Januarhälfte bis Anfang Februar 1541,10 von Ende Juli bis Anfang August 1543,11 in der zweiten Märzhälfte 154612 sowie Ende August und Anfang September 1548.13 Deutlich mehr Zeit, nämlich vom 30. Januar bis Mitte Juni, verbrachte Karl im Jahr 1544 in der oberrheinischen Reichsstadt. Anlass war der Reichstag dieses Jahres, der am 20. Februar eröffnet wurde und am 10. Juni mit der Unterzeichnung des Reichsabschieds zu Ende ging.14 Zum letzten Mal hielt sich Karl im Juni 1550 in Speyer auf.15 Allerdings muss nicht jeder Aufenthalt des Kaisers zwangsläufig Sitzungen seines Hofrats im Sinn eines organisierten Ratsgremiums in der betreffenden Stadt bedeuten. Für die Termine in den Jahren 1530, 1540–1543 und 1546 ist der Nachweis solcher Sitzungen kaum möglich, da sich einerseits aus dieser Zeit keine Protokolle aus dem Hofrat erhalten haben, andererseits die Kanzleitechnik der Zuteilungsvermerke noch bei weitem nicht konsequent genug gehandhabt wurde, um jedes Einlaufstück der bearbeitenden Institution zuordnen zu können. Dasselbe gilt für den Aufenthalt Karls in Speyer 1548; die Protokollierung der hofrätlichen Sitzungen in diesem Jahr endet mit dem 18. August und setzt erst Ende September wieder ein.16 Für 1550 dagegen sind Sitzungen des Hofrats in

8 Vom 2. bis zum 4. Dezember: Willi Alter: Von der Konradinischen Rachtung bis zum letzten Reichstag in Speyer (1420/22–1570), in: Stadt Speyer (Hrsg.), Geschichte der Stadt Speyer. 2. Aufl. Stuttgart u. a. 1983, S. 369–570 (hier S. 526). 9 Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 8), S. 526. 10 Ebd., S. 527; Lothar Groß: Die Reichsregisterbücher Karls V. Wien 1930, S. 128, Nr. 7232–7246 (20. Januar bis 2. Februar). 11 Erwein Eltz: Einleitung, in: ders. (Bearb.), Der Speyrer Reichstag von 1544. Bd. 1. Göttingen 2001 (Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 15), S. 51–146 (hier S. 99); Groß: Reichsregisterbücher (wie Anm. 10), S. 130 f., Nr. 7350–7358 (28. Juli bis 3. August). 12 Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 8), S. 527; Groß: Reichsregisterbücher (wie Anm. 10), S. 135, Nr. 7548 (29. März). 13 Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 8), S. 527; Groß: Reichsregisterbücher (wie Anm. 10), S. 138, Nr. 7655 (31. August). 14 Aktenedition: Erwein Eltz (Bearb.), Der Speyrer Reichstag von 1544. 4 Bde. Göttingen 2001 (Deutsche Reichstagsakten Jüngere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 15). 15 Alter: Von der Konradinischen Rachtung, S. 527. 16 Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv (künftig: ÖStA HHStA), Reichshofrat (künftig: RHR), Protocolla rerum resolutarum (künftig: Prot. rer. res.) XVI/3a und 3b.

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Speyer belegt. Am 24., 25. und wohl auch 26. Juni arbeiteten die Hofräte, wie im Protokoll ausdrücklich festgehalten wurde, in der oberrheinischen Reichsstadt;17 das zuvor protokollierte Treffen fand am 20. Juni in Mainz,18 das folgende am 30. Juni an einem nicht angegebenen Ort und am 3. Juli in Ulm statt.19 Kein Zweifel an Sitzungen des Hofrats besteht außerdem für die Zeit des Reichstags von 1544. Wie aus einer Protokollnotiz hervorgeht,20 kamen die Hofräte am 23. Februar, also drei Tage nach der Eröffnung des Reichstags, zusammen, um ihren Ratseid abzulegen. Als Präsident fungierte der Pfalzgraf Friedrich, der wenig später Kurfürst von der Pfalz wurde. Diese Sitzung fand im Quartier des Pfalzgrafen statt – es ist denkbar, dass dies auch für die folgenden Treffen des Hofrats galt.21 Der Hofrat tagte bis zum 10. Juni in Speyer;22 die nächste Hofratssitzung fand laut Protokoll am 23. Juni in Metz statt.23 Damit lässt sich festhalten, dass Speyer – abgesehen von wenigen Sitzungen im Juni 1550 – im wesentlichen während des Reichstags von 1544 Tagungsort des Hofrats Karls V. war. In erster Linie war es Speyers Funktion als Reichstagsstadt, in zweiter Linie als Gastgeber des Kaisers, die den kaiserlichen Hofrat in die oberrheinische Reichsstadt brachten.

2 Die Tätigkeit des Hofrats Karls V. in Speyer Die mit dem Jahr 1544 einsetzende Überlieferung der Resolutionsprotokolle des Reichshofrats24 ermöglicht eine Analyse der Tätigkeit des Hofrats Karls V. wäh-

17 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/5, fol. 402v (25. Juni), XVI/6, fol. 132v–141r (24.–26. Juni, Ortsangabe zum 26. Juni undeutlich). 18 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/5, fol. 402r. 19 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/6, fol. 141v–142r. 20 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 153r, 162r. Abgedruckt bei Gustav Winter: Der ordo consilii von 1550. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichshofrathes, in: Archiv für Österreichische Geschichte 79 (1893), S. 101–126 (hier S. 105). 21 Auch während des Reichstags von 1547/48 fanden Hofratssitzungen im Quartier des damaligen Hofratspräsidenten, des Erzherzogs Maximilian, statt: C. L. P. Tross (Hrsg.), Des Grafen Wolrad von Waldeck Tagebuch während des Reichstags zu Augsburg 1548. Stuttgart 1861 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 59), S. 15. 22 ÖStA, HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 103. 23 Ebd., fol. 104. 24 Lothar Groß: Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806. Wien 1933 (Inventare österreichischer staatlicher Archive, Bd. 5, Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1), S. 247–260; ders.: Die Reichsarchive, in: L[udwig] Bittner (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Bd. 1. Wien 1936 (Inventare österreichischer staatlicher Archive, Bd. 5, Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 4), S. 273–394;  



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rend des Speyerer Reichstags,25 selbst wenn die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind, da es keine Garantie für die Vollständigkeit der protokollarischen Aufzeichnungen gibt. Immerhin lässt sich für die annähernd vier Monate, die der Reichstag dauerte, die beachtliche Zahl von über 900 Fällen nachweisen, die von den Hofräten behandelt wurden. Damit bestätigt sich eine Besonderheit, die auch für den späteren Reichshofrat bis 1654, als der letzte der klassischen, als periodische Versammlungen organisierten Reichstage zu Ende ging, zu beobachten ist: Reichstagsjahre waren fast immer Zeiten, in denen der Hofrat besonders stark in Anspruch genommen wurde.26 Um welche Angelegenheiten es vor dem Hofrat während des Reichstags von 1544 ging, lässt sich anhand von drei Indikatoren beschreiben: erstens der geographischen Herkunft der Antragstellerinnen und Antragsteller, zweitens ihrer sozialen Herkunft sowie drittens des Gegenstands ihrer Vorbringen. Darüber hinaus soll nach Antragstellern aus Speyer gefragt werden. Geographisch gesehen, stammten die vor dem Hofrat auftretenden Parteien aus dem gesamten Reichsgebiet und darüber hinaus.27 Die mit einem Anteil von über einem Viertel größte Gruppe kam aus den rheinischen Reichs- und Ritterkreisen, insbesondere aus dem Oberrheinischen sowie dem Kurrheinischen Reichskreis. Zählt man die Antragsteller aus dem Elsass dazu, erhöht sich der Anteil der „Rheinländer“ vor dem Hofrat auf annähernd ein Drittel. Im Hinblick auf ihre Inanspruchnahme des Hofrats an zweiter Stelle standen Parteien aus Schwaben, also dem Schwäbischen Reichskreis einschließlich der Gebiete der Schwäbischen Reichsritterschaft, die rund ein Viertel der Antragsteller stellten, gefolgt von Personen aus den sächsischen Reichskreisen, von denen immerhin ein knappes Fünftel der Anträge kamen. Parteien aus dem Fränkischen Reichskreis einschließlich der Fränkischen Ritterkreise brachten gut 10 Prozent der

Tobias Schenk: Die Protokollüberlieferung des kaiserlichen Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, in: Wilfried Reininghaus/Marcus Stumpf (Hrsg.), Amtsbücher als Quellen der landesgeschichtlichen Forschung. Münster 2012 (Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 27), S. 125‒145. 25 Die folgende Analyse basiert auf dem Protokollband ÖStA, HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, der aus mehreren Teilen besteht. Maßgeblich ist der zeitgenössisch mit 1–106 foliierte Teil, der ein durchgehendes Protokoll der Hofratsberatungen zwischen Februar und Juni 1544 (mit Nachträgen bis 4. Juli 1544) darstellt. In die Analyse wurden nur diejenigen Einträge einbezogen, die sich auf Sitzungen des Hofrats in Speyer beziehen. 26 Eva Ortlieb/Gert Polster: Die Prozessfrequenz am Reichshofrat, in: ZNR 26 (2004), S. 189–216 (hier S. 204–206 und Grafik 2, S. 214). 27 Vereinzelt wurden auch von Personen aus Spanien, Ungarn, Polen, England oder dem Kirchenstaat Anträge gestellt: ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 56 (Abendano), fol. 33 (Doczy), fol. 58 (Niemieczkofsky), fol. 104 (Pager), fol. 67 (Bonasonus).

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Anträge an den Hofrat ein. Alle anderen Gebiete des Reichs – die Niederlande, Bayern und die österreichischen Erbländer – sind mit weniger als fünf Prozent unter den Antragstellern vertreten. Die Zahlen deuten darauf hin, dass der Hofrat während seiner Arbeit in Speyer überdurchschnittlich viele Personen aus der näheren und weiteren Umgebung, also dem Rheingebiet im weiteren Sinn, anzog. Bestätigt wird diese Vermutung durch eine Analyse der Tätigkeit des Reichshofrats während des Reichstags von 1559, die ich in anderem Zusammenhang unternommen habe. Danach kamen während dieses Reichstags rund 40 Prozent der Antragsteller aus Schwaben, während Personen aus dem Rheingebiet nur rund 15 Prozent der Anträge einbrachten.28 Der Reichstag von 1559 fand in der schwäbischen Reichsstadt Augsburg statt. Es ist also davon auszugehen, dass der jeweilige Tagungsort – einschließlich Speyers – das Tätigkeitsprofil des kaiserlichen Hofrats und des Reichshofrats insofern beeinflusste, als verstärkt Antragssteller aus der betroffenen Region ihren Weg vor die kaiserlichen Räte fanden. Im Hinblick auf die soziale Herkunft der Antragstellerinnen und Antragsteller führt die Analyse der Tätigkeit des kaiserlichen Hofrats während des Reichstags von 1544 zu dem Ergebnis, dass rund die Hälfte der Personen, deren Angelegenheiten im Hofrat behandelt wurden, zur nicht adeligen, dem Reich mittelbar unterworfenen Bevölkerung gehörte. Etwa ein Drittel war reichsunmittelbar, der Rest entfällt auf den landsässigen Adel, landsässige Städte und die landsässige Geistlichkeit. Interessant ist an diesen Zahlen vor allem der Anteil der Reichsstände unter den Antragstellern vor dem Hofrat, da diese soziale Gruppe, die zum Reichstag geladen wurde und 1544 in Speyer mehrheitlich entweder persönlich anwesend oder durch Gesandte vertreten war, die räumliche Nähe zum Hofrat des Kaisers genutzt haben könnte, um ihre Anträge vorzubringen. Die Analyse zeigt, dass dieser Personenkreis die Arbeit des Hofrats während des Reichstags durchaus nicht dominierte: Sie brachten nur gut 20 Prozent der Anträge ein. Ein Vergleich mit anderen Perioden der Tätigkeit des Hofrats außerhalb von Reichstagen deutet darauf hin, dass dieser Anteil trotz Schwankungen in etwa konstant geblieben zu sein scheint. 1551 – nach dem zu Ende gehenden Reichstag von 1550/51 – waren gut 15 Prozent der Personen, deren Vorbringen im Hofrat behandelt wurden, Reichsstände; im reichstagslosen Jahr 1556 liegt ihr Anteil bei etwas mehr als 20 Prozent.29 Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass sich der Rahmen 28 Ortlieb: Reichshofrat und Reichstage (wie Anm. 2), S. 346. 29 Mangels geeigneter Vergleichszahlen in der Literatur greife ich auf eine Erhebung auf der Grundlage der reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle zurück, die ich selbst im Rahmen einer größeren, noch nicht publizierten Studie durchgeführt habe.

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eines Reichstags für die Sitzungen des Hofrats nicht oder kaum auf die soziale Herkunft der dort auftretenden Antragsteller auswirkte. Inhaltlich gesehen, lassen sich die vom kaiserlichen Hofrat in Speyer verhandelten Fälle vier verschiedenen Gegenstandsbereichen zuordnen. Erstens finden sich politische, diplomatische und administrative Agenden; dabei ging es beispielsweise um Steuerfragen, die mit den Reichsständen verhandelt wurden, um Session und Reichsunmittelbarkeit, um Probleme hinsichtlich der Grenzen des Reichs und konfessionelle Fragen, vereinzelt auch um organisatorische Belange wie der Aufenthalt jüdischer Kaufleute in der Reichstagsstadt.30 Zweitens wurden Lehenssachen behandelt, also Anträge auf Belehnung oder die kaiserliche Zustimmung zu Verkauf, Verpfändung oder dem Tausch von Reichslehen. Den dritten Gegenstandsbereich bilden kaiserliche Gunsterweise, insbesondere Wappen, Nobilitierungen und Privilegien, aber auch Schutzbriefe, Legitimationen oder Laienherrenpfründe. Viertens bearbeitete der Hofrat Anträge von Personen, die sich in Konfliktsituationen befanden. Dabei konnte es sich um Klagen und Prozesse im engeren Sinn handeln, die aufgrund seiner späteren Geschichte in erster Linie mit dem Reichshofrat verbunden werden, aber auch und sogar vorrangig um Beschwerden und Bitten im Zusammenhang mit dem Rechtsweg: Antragsteller erbaten die kaiserliche Hilfe, um vor ihrer Obrigkeit oder anderen Institutionen zu ihrem Recht gelangen zu können oder nach Grundsätzen der Billigkeit behandelt zu werden. Die wichtigsten Aufgaben des Hofrats waren offenbar die beiden zuletzt genannten Gegenstandsbereiche, denen sich jeweils mehr als 40 Prozent der behandelten Fälle zuordnen lassen, wobei Gunsterweise noch ein wenig häufiger erbeten wurden als die kaiserliche Intervention in Konfliktsituationen. Politische Angelegenheiten gehörten dagegen nur selten zu den Beratungsgegenständen des Hofrats, und auch der durch das Lehenswesen des Reichs verursachte Arbeitsanfall blieb überschaubar – wobei allerdings in Rechnung zu stellen ist, dass der Großteil dieser Agenden während des ersten Reichstags eines Kaisers abzuwickeln war, auf dem traditionell alle Reichslehen neu geliehen werden mussten. Der Vergleich dieses Tätigkeitsprofils mit den Aktivitäten des Hofrats außerhalb von Reichstagen weist kaum Unterschiede aus. 1551 wurden etwas mehr politische Angelegenheiten behandelt, was sich im wesentlichen aus den Problemen mit der Umsetzung des Interim erklärt, die immer wieder vor den Hofrat getragen wurden. An dem hohen Anteil der Gratialangelegenheiten, gefolgt von dem erbetenen kaiserlichen Tätigwerden in Konflikten, ändert dies jedoch nichts.

30 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 7, 11, 15, 17, 28.

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1556 waren es mit rund 50 Prozent vor allem Anträge auf Vergünstigungen, die den in Brüssel versammelten kaiserlichen Hofrat beschäftigten.31 Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der Tagungsort des Hofrats sich zwar kaum auf die Art der Tätigkeit des Rats auswirkte, sehr wohl aber auf die geographische Herkunft der dort auftretenden Antragstellerinnen und Antragsteller: Die Nähe des kaiserlichen Hofs und damit des Hofrats wurde offensichtlich genützt, um Anliegen an den Kaiser vorzubringen. Beobachten lässt sich dies auch anhand der speziellen Gruppe der Speyerer Bürger bzw. Einwohner, wobei es sich bei den einschlägigen Vorgängen allerdings um Einzelfälle und nicht um statistisch relevante Größen handelt. Drei Speyerer nützen die Anwesenheit des Kaisers, um sich gegen das Vorgehen ihrer Obrigkeit zu wehren. Heinrich von Ach stritt sich mit der Stadt wegen eines Hauses, das während des Pestjahres 154232 gegen seinen, des Eigentümers, Willen als Spital verwendet worden sei. Der Hofrat ließ dem Speyerer Rat die Beschwerde mit der Aufforderung zustellen, Ach entgegenzukommen; außerdem erhielt der Antragsteller, der sich darauf berufen hatte, von Verhaftung bedroht zu sein, einen kaiserlichen Geleitbrief.33 Auch Margarethe von Altdorf genannt von Kropfberg beschwerte sich, die Stadt habe ihre Rechte im Zusammenhang mit ihrem Haus in Speyer verletzt. Vom Hofrat aufgefordert, die Beschwerdeführerin zufriedenzustellen oder einen Bericht vorzulegen, stellte der Speyerer Rat seine Sicht der Dinge dar.34 Traute Müller bemühte sich um die Freilassung ihres von der Stadt Speyer inhaftierten Ehemannes; auch in diesem Fall forderte der Hofrat einen Bericht der Stadtobrigkeit an. Auf diese Weise informiert, bestätigten die Hofräte das obrigkeitliche Vorgehen.35 Der Speyerer Gastwirt Silvester Günther beantragte das kaiserliche Geleit, da er – seiner Darstellung nach in Notwehr – den Speyerer Bürger Georg Berger getötet habe und den Beweis seiner Unschuld vorbereiten wolle.36 Um einen kaiserlichen Geleitbrief suchte auch der Speyerer Bürger Michael Hagenbach an, der nach eigenen Angaben von Bürgermeister und Rat der Stadt Basel, seiner ehemaligen Obrigkeit, verfolgt werde.37 Der Hofrat gab beiden Anträgen statt, wollte aber den von Hagenbach erbetenen Befehl an das Baseler Stadtgericht

31 Wie Anm. 29. 32 Erwähnt bei Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 8), S. 548. 33 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 20, 67, 80; ÖStA HHStA, RHR, Geleitbriefe 1, Konv. 1, fol. 1–2, 5–6. 34 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 2, 18. 35 Ebd., fol. 68, 78, 83, 95. 36 Ebd., fol. 99; ÖStA HHStA, RHR, Geleitbriefe 3, Konv. 1, fol. 161. 37 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 42; ÖStA, HHStA, RHR, Geleitbriefe 3, Konv. 2, fol. 39–43.

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sowie die Stadt, das dortige Verfahren gegen ihn einzustellen und ihn ggf. vor seiner neuen Obrigkeit zu beklagen, nicht bewilligen. Auch zwei Speyerer Pfründner lassen sich vor dem Hofrat nachweisen; sie bemühten sich um einen kaiserlichen Befehl an den Kurfürsten von der Pfalz, für die pünktliche Bezahlung ihrer Einkünfte zu sorgen.38 Nicht nur gegen die Stadt, auch gegen den Bischof von Speyer wurden Beschwerden vorgebracht, etwa von Georg Diller aus Odenheim39 oder von Hans Renhofen, der einen kaiserlichen Geleitbrief beantragte, um gegen Maßnahmen des Bischofs geschützt zu sein.40 In den Protokollen der reichshofrätlichen Sitzungen während des Augsburger Reichstags von 1559 ist von keinen Antragstellern aus Speyer die Rede – ein Befund, der allerdings nicht überstrapaziert werden darf, da die Protokollierung die Herkunft der betroffenen Parteien häufig nicht angibt. Zu den Antragstellern vor dem Hofrat gehörte natürlich auch die Stadt Speyer41 –, der Speyerer Bischof42 und das Domkapitel.43 Als Reichsstände traten diese Parteien aber auch vor dem an anderen Orten tagenden Hofrat in Erscheinung.

3 Der Hofrat Karls V. und Speyer als Zentralort des Reichs Für die Reichsstadt Speyer bedeutete die Anwesenheit und Tätigkeit des Hofrats Karls V. vor allem, dass sich in ihren Mauern neben dem Reichstag und dem Reichskammergericht eine weitere Institution befand, vor der Reichssachen im weiteren Sinn, nämlich Angelegenheiten der verschiedensten Reichsglieder und einzelner Antragsteller aus Gebieten außerhalb des Reichs, verhandelt wurden. Bei den Parteien, die vor dem Hofrat auftraten, handelte es sich nicht nur und nicht einmal in erster Linie um Reichsstände, die sich wegen des Reichstags, während dessen Speyer in allererster Linie als Tagungsort des Hofrats fungierte, ohnehin in der oberrheinischen Reichsstadt aufhielten oder durch Gesandte vertreten waren. Sie gehörten auch nicht oder nur selten zu den Parteien, die sich

38 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 104. 39 Ebd., fol. 43. 40 Ebd., fol. 84. 41 Antrag auf Schadlosbrief nach Inhaftierung und Bestrafung eines Straßburger Bürgers: ebd., fol. 54. 42 Antrag auf kaiserliches Mandat an sich selbst, keinen Konfessionswechsel in seinem Stift zu dulden: ebd., fol. 69. 43 Mandatsklage gegen Stadt Landau wegen ausbleibender Zahlung des Zehnten: ebd., fol. 69.

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wegen eines Verfahrens vor dem Reichskammergericht in Speyer befanden. Vor diesem Hintergrund stellte die Tätigkeit des Hofrats nicht nur ein zusätzliches Forum für die Erledigung von Reichssachen im weiteren Sinn dar. Vielmehr machte der Hofrat Speyer als Ort für Verhandlungen auf der Ebene des Reichs einem deutlich größeren Personenkreis bekannt und bewusst als Reichstag und Reichskammergericht, darunter vielen dem Reich mittelbar unterworfenen Personen. Die zahlreichen Antragsteller vor dem Hofrat wussten offenbar vom Aufenthalt des Kaisers in Speyer und der Möglichkeit, dort Parteienanträge vorzubringen, und dirigierten ihre Ansuchen dementsprechend dorthin – schließlich ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der vom Hofrat bearbeiteten Eingaben den Rat auch in Speyer erreichten. Manche Parteien dürften persönlich in die oberrheinische Stadt gekommen sein, um ihre Angelegenheit vor dem Hofrat zu betreiben, selbst wenn dies in den Hofratsprotokollen nur selten notiert wurde. Sie verstärkten den Strom von Personen außerhalb der Reichstagsteilnehmer, die während der Reichsversammlung in die Reichstagsstadt kamen.44 Wenn sich Zentralorte – neben der Übernahme überregionaler administrativer Aufgaben – vor allem durch die Konzentration von Interaktion auszeichnen,45 lässt sich folgern, dass die Tätigkeit des Hofrats Karls V. ebenso wie des späteren Reichshofrats in Speyer den Charakter der Stadt als Zentralort des Reichs verstärkte. Einerseits bedeutete der Hofrat einen zusätzlichen Raum für Interaktion auf Reichsebene – ein Raum, in dem andererseits zusätzliche Akteure in zusätzlichen thematischen Zusammenhängen interagierten. Speyer war aufgrund der Sitzungen des Hofrats nicht nur Ort der Reichspolitik, wie sie auf Reichstagen betrieben wurde, sowie der im Reichskammergericht verkörperten Reichsjustiz, sondern auch Ort der Ausübung von Herrschaft durch das Reichsoberhaupt in administrativer und justizieller Hinsicht. Dazu kommt, dass der kaiserliche Hofrat nicht nur Parteienansuchen bearbeitete. Vielmehr interagierte er auch mit den anderen in Speyer präsenten Reichsinstitutionen. Seine Beteiligung am Reichstagsgeschehen bestand einerseits darin, an der Ausarbeitung der kaiserlichen Verhandlungsposition mitzuwirken. Vor allem aber bearbeitete er die von den Ständen an den Kaiser weitergeleiteten

44 Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 8), S. 534, nennt Kaufleute, Händler, Supplikanten und fahrendes Volk. Vgl. auch Erwein Eltz: Die Reise zum Reichstag, in: Alfred Kohler/Heinrich Lutz (Hrsg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten. Wien 1987 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 14), S. 195–221 (hier S. 204). 45 Dazu der Beitrag von Siegrid Westphal im vorliegenden Band.

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Supplikationen.46 Mit dem Reichskammergericht arbeitete der Hofrat zusammen, indem er beispielsweise Anträge zustellen ließ47 oder Berichte anforderte48, Anweisungen an das Gericht49 und den Fiskal aussprach,50 für den Fall der Missachtung eines kaiserlichen Mandats dorthin laden ließ,51 Parteien generell52 oder für den Fall von Einwänden gegen eine kaiserliche Anordnung53 dorthin verwies sowie Fürbitt-54 und Promotorialschreiben55 zugunsten einzelner Personen ausfertigen ließ. Auch Besoldungsforderungen von Mitgliedern des Reichskammergerichts wurden vom Hofrat beraten.56 Die zentrale Rolle von Reichshofräten bei der Visitation des Reichskammergerichts, auf die Anette Baumann aufmerksam macht, erscheint vor dem Hintergrund dieser vergleichsweise intensiven Befassung schon des Hofrats Karls V. mit Angelegenheiten des Reichskammergerichts weniger überraschend.57 Die Tätigkeit des Hofrats am Tagungsort Speyer verstärkte also nicht nur additiv das Interaktionspotential auf Reichsebene, sondern erhöhte auch die Interaktionsknotendichte. Insofern stellt sie einen bisher kaum gewürdigten Beitrag zum Funktionieren des Reichs und der kaiserlichen Herrschaft im Allgemeinen und zur Funktion Speyers als Zentralort im Besonderen dar. Letzteres gilt allerdings nur für die wenigen Monate, die sich der Hofrat in Speyer aufhielt. Die Tätigkeit des Hofrat Karls V. am Tagungsort Speyer verdeutlicht damit auch die temporale Dimension von Zentralität, die für das Alte Reich mit seinen wechselnden Zentralorten von besonderer Bedeutung war.

46 Ortlieb: Reichshofrat und Reichstage (wie Anm. 2), S. 352 f., 360 f.; Eva Ortlieb: Reichshofrat und Reichstag als Empfänger von Supplikationen im 16. Jahrhundert, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5 (2015), S. 76–90. 47 ÖStA HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 69 (Lübeck). 48 Ebd., fol. 47 (Aachen). 49 Ebd., fol. 66 (Damitz). 50 Ebd., fol. 22 (Besançon). 51 Ebd., fol. 99 (Wolder contra Pommern). 52 Ebd., fol. 77 (Deutscher Orden contra Isenburg). 53 Ebd., fol. 18 (Bremen Erzbischof contra Bremen Stadt). 54 Ebd., fol. 24 (Beckin). 55 Ebd., fol. 70 (Jegrain contra Wöllwarth). 56 Ebd., fol. 14 (Adler). 57 Vgl. den Beitrag von Anette Baumann im vorliegenden Band.  



Yves Huybrechts

Eine gute Gelegenheit für Integration Der Burgundische Reichskreis auf dem Reichstag zu Speyer 1570

Einleitung „Never let a good crisis go to waste.“1 Krisensituationen müssen nicht unumgänglich zu Verzweiflung führen, sondern können Potenzial für ansehnliche Erfolge in sich tragen. Krisen sind dazu in der Lage, politische oder wirtschaftliche Umbrüche zu ermöglichen – während oftmals zuvor es an Handlungsbedarf mangelte. Krisen bringen mit anderen Worten ein „Momentum“. Aktuell scheint eine Grenzsicherungskrise zum Beispiel das Moment für weitere europäische Integration zu liefern.2 Förderten Krisen auch früher Integration? Die Europäische Union und die Staatsgebilde vergangener Zeiten lassen sich natürlich nicht unproblematisch parallelisieren. Angesichts der gegenwärtigen Integrationsproblematik drängt sich dennoch die Frage auf, ob das gesteigerte Verlangen nach Integration in Problemlagen seine historischen Präzedenzen hat. In dieser Hinsicht könnte ein Blick auf die Krisenbewältigung im Heiligen Römischen Reich sich als lehrreich erweisen.3 Das Reichsgebilde mutet mit seinen Strukturen nicht nur komplexer an als die Europäische Union, es sah sich während seiner Existenz auch mit nicht weniger komplexen Herausforderungen konfrontiert. So drohten im 16. Jahrhundert gewaltsame politische und konfessionelle Konflikte im Westen des Reiches

1 Dem amerikanischen Politiker Emanuel Rahm wird z.Z. dieses Zitat zugeschrieben: Oxford Concise Dictionary of Quotations. 6. Aufl. Oxford 2011, S. 140. 2 Wie der Europäischen Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, am 9. Januar 2015 in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament andeutete: „A united […] and asylum policy also requires stronger joint efforts to secure our external borders.” Und: „the other side of the coin to free movement is that we must work together more closely to manage our external borders.” Siehe: State of the Union 2015: Time for Honesty, Unity and Solidarity, S. 5, http://europa.eu/ rapid/press-release_SPEECH-15-5614_en.html (am 25. Januar 2016 abgerufen). 3 Ein Plädoyer hierfür u. a. bei: Peter Claus Hartmann: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation von 1648 bis 1806 – als Modell für ein Europa der Regionen noch heute aktuell?, in: Einsichten und Perspektiven: Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 2 (2008), S. 130– 149.

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die Kohäsion des Reichsverbandes zu erschüttern.4 Hier sind die Auswirkungen der Rebellion in den spanischen Niederlanden zentral. Nach seinem Herrschaftsantritt 1556 ging die Regierung des spanischen Königs Philipp II. unter anderem in diesen Provinzen rigoros gegen den Protestantismus vor. Kombiniert mit groben Verstößen gegen die Gebräuche der Niederlande, ansteigenden Steuerlasten und der fortdauernden Präsenz spanischer Soldaten, löste Philipps Vorgehen zunehmend Widerstand bei den niederländischen Landesständen aus.5 Die Enthauptung der Grafen Egmont und Horn – Anführer des niederländischen Adels – im Juni 1568 markierte als dramatischer Akt schließlich die Entwicklung zum offenen Krieg.6 Diese Auseinandersetzung zwischen der spanisch-niederländischen Regierung und den Aufständischen beeinträchtigte auch zunehmend die benachbarten Reichsstände. Sowohl die Konfiskationen und Strafzüge von Seiten der Brüsseler Regierung, als auch die Truppenmanöver beider Parteien verursachten ihnen erhebliche Schäden.7 Betroffene Stände richteten sich seit 1566 wiederholt an die Reichsinstanzen mit Bitten um Intervention und Schadenersatz.8 Doch war nicht allein die Sicherheit am westlichen Rande bedroht, sondern auch die innere Friedensordnung des gesamten Reiches.9 Der innere Friede, der mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 vor konfessionellen Spannungen bewahrt werden sollte, wurde wegen der niederländischen Unruhen auf die Probe gestellt.10 Vor allem die Verfolgung von Protestanten und die Maßnahmen gegen angesehene niederländische Adelige erhitzten seit 1568 die Gemüter.11 Ein Eingreifen gegen die spanisch-niederländische Regierung oder die Rebellen hätte

4 Siehe z. B.: Volker Press: Wilhelm von Oranien, die deutschen Reichsstände und der niederländische Aufstand, in: Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 99 (2006), S. 677–707 (hier S. 685); Maximilian Lanzinner: Der Aufstand der Niederlande und der Reichstag zu Speyer 1570, in: Heinz Angermeier/Erich Meuthen (Hrsg.), Fortschritte in der Geschichtswissenschaft durch Reichstagsaktenforschung: 4 Beiträge aus der Arbeit an den Reichstagsakten des 15. und 16. Jahrhunderts. Göttingen 1988 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 35), S. 102–117 (hier S. 103). 5 Siehe u. a.: G. Janssens: De eerste jaren van Filips II. 1555–1566, in: D.P. Blok und andere (Hrsg.), Algemene Geschiedenis der Nederlanden (künftig: AGN), Bd. 6. Haarlem 1979, S. 186– 202 und ders.: Van de komst van Alva tot de Unies 1567–1579, in: AGN, Bd. 6, S. 215–244. 6 Janssens: Van de komst van Alva (wie Anm. 5), S. 218–220. 7 Monique Weis: Les Pays-Bas espagnols et les états du Saint Empire (1559–1579). Priorités et enjeux de la diplomatie en temps de troubles. Brüssel 2003, S. 307–313; Johannes Arndt: Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 bis 1648. Köln 1998, S. 55–58. 8 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 55. 9 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 103. 10 Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 684. 11 Arndt: Das Heilige Römische Reich, S. 53–54 (wie Anm. 7); Emile de Borchgrave: Histoire des relations de droit public qui existèrent entre les provinces belges et l’empire d’Allemagne. Brüssel  



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jedoch einen „Reichskrieg“ herbeiführen können.12 In dieser anhaltenden Krisensituation wurden nun die problematischen Auswirkungen der sogenannten Augsburger Transaktion von 1548 offensichtlich. Die Niederlande waren in diesem Vertrag zwar als Teil des Reiches (unter dem Nenner des Burgundischen Reichskreises) bestätigt worden, hatten dabei aber ein derart hohes Maß an Autonomie gewonnen, dass das Reich kaum noch über Rechte oder Pflichten verfügte, um in den Niederlanden einzugreifen.13 Angesichts der zunehmenden Übergriffe und der zahlreichen Bitten um Intervention, wurde es seit 1568 geradezu unausweichlich, sich intensiver mit der Stellung der Niederlande im Heiligen Römischen Reich auseinanderzusetzen. 1569 hatte der Frankfurter Reichsdeputationstag entschieden, die Fragen nach einer Intervention in die niederländische Problematik auf den nächsten Reichstag zu verweisen.14 Tatsächlich beschäftigte eine „breite Palette von Beschwerden, Bitten und Anträgen“ den Reichstag, der ein Jahr später in Speyer tagte.15 Um diesen Reichstag geht es im Folgenden. Im Grunde war es die verfassungsrechtlich dubiose Eingliederung der Niederlande in das Reich, die die genannten Supplikationen verursachte. Dieses Integrationsproblem war 1570 zwar kein konkreter Verhandlungspunkt der Reichsversammlung,16 zahlreiche Nebenverhandlungen drehten sich dennoch implizit um die praktische Auslegung der Augsburger Transaktion. Aus ihnen resultierte meines Erachtens nicht nur ein weiterer Schritt in der Entwicklung des Burgundischen Reichskreises (der, wie gesagt, zum größten Teil aus den niederländischen Territorien bestand), sondern auch eine stärkere Hereinnahme dieses Reichskreises in den Reichsverband. Hierdurch wurde der zentrifugalen Wirkung des Burgundischen Vertrages entgegengewirkt und verhindert, dass die Verbindung zwischen Burgund und dem Reich weiter geschwächt wurde.

1871, S. 215; Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 684 f.; Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Geschichte und Aktenedition. Stuttgart 1998, S. 411. 12 Lanzinner: Der Aufstand, S. 105 (wie Anm. 4), S. 111. 13 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 56; Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 418; Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 693. 14 Helmut Neuhaus: Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert. Reichstag – Reichskreistag- Reichsdeputationstag. Berlin 1982 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 33), S. 472; Lanzinner: Maximilian, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Göttingen 1993, S. 346. Auch die Bitte der spanisch-niederländischen Regierung um Reichstruppen zur Unterstützung gegen die Rebellen wurde auf den nächsten Reichstag verwiesen: Borchgrave: Histoire des rapports (wie Anm. 11), S. 228–229. 15 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 103. 16 Siehe die kaiserliche Proposition bei: Maximilian Lanzinner: Der Reichstag zu Speyer 1570 (künftig: RzS), Bd. 1. Göttingen 1988 (Deutsche Reichstagsakten: Reichsversammlungen 1556– 1662), S. 161, Nr. 1.  

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1 Speyer 1570: Doch ein Reformreichstag? 1.1 Eine ambitionierte Agenda Gerade der Speyerer Reichstag von 1570 leuchtet in der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches kaum auf. Es erweist sich als schwierig, seine geschichtliche Bedeutung zu beurteilen, denn zum einen ist das Angebot an historischen Forschungsarbeiten über ihn sehr überschaubar.17 Zum anderen wird er überschattet von vorhergehenden Reichstagen, die prima vista wichtigeres erreichten. Schließlich hat der Augsburger Reichstag 1555 mit der Exekutionsordnung und dem Religionsfrieden für das Reich noch institutionelle Entschlüsse von entscheidender Bedeutung getroffen.18 Demgegenüber habe der Speyerer Reichstag von 1570 nur „spärliche Verhandlungsergebnisse“ erreicht, wie es – noch zurückhaltend – in der Dissertation von Hermann Becker heißt.19 Becker deutet in seiner Monografie über den Reichstag von 1570 aber an, dass dieser Reichstag mit einer ehrgeizigen Verhandlungsagenda eröffnet wurde.20 Am Auffälligsten war der scheinbare Versuch, eine Machtkonzentration zugunsten des Reichsoberhauptes – und damit zugunsten der Reichseinheit – zu bewirken.21 Am Ende des Reichstages hätten jedoch „ständischen Sonderinteressen“ einen Sieg errungen, wodurch „die eigentliche Kraft der Weiterentwicklung nicht auf der Ebene des Reiches, sondern in den größeren Territorien lag“.22 (Hier pulsiert noch die ältere Ansicht über eine ansetzende „Agonie“ des Reiches.23) Die allgemeine Annahme ist ohnehin, dass nach der Zäsur von 1555 „große Reformen“ ausbleiben würden.24 In den Jahrzehnten danach käme den Reichsversammlungen vielmehr die

17 Meines Wissens erschien vor 27 Jahren mit der Aktenedition von Maximilian Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), zuletzt eine Monografie über diesen Reichstag. Grundlegend bleibt die Dissertationsarbeit von Hermann Becker: Der Speyerer Reichstag von 1570. Ein Beitrag zur Geschichte des 16. Jahrhunderts. Mainz 1969. 18 Heinz Angermeier: Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984, S. 333. 19 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 112. 20 Ebd., S. 21. 21 Maximilian Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung der Reichsgewalt. Ein Reformversuch auf dem Reichstag zu Speyer 1570, in: Zeitschrift für historische Forschung 1985, S. 287– 310 (hier S. 287 f.). 22 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 111. 23 Siehe: Felix Rachfahl: Die Trennung der Niederlande vom Deutschen Reiche, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 19 (1900), S. 79–119 (hier S. 89). 24 Maximilian Lanzinner: „Das konfessionelle Zeitalter 1555–1618“, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 10, Stuttgart 2001, S. 1–195 (hier  

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Rolle zu, „den Reichsverband fortzuentwickeln und bislang nur Beschlossenes in Verfassungswirklichkeit umzusetzen.“25 In der Verhandlungsagenda (oder „Proposition“) des Reichstages von 1570 war allerdings genug Potenzial enthalten, den Strukturen des Reiches bedeutsame Änderungen zuzufügen. Neben Themen wie der ausstehenden Türkenhilfe, Kostenerstattungen bezüglich der Gothaer Exekution oder der kläglichen Reichsmünzordnung stand nämlich auch eine Beratung über die Reichskriegs- und Exekutionsordnung an.26 Maximilian Lanzinner hat die Relevanz dieses Verhandlungspunkts gut erörtert.27 In der Proposition wurde vorgeschlagen, die Ämter eines Generalobersten und zugefügten Generalleutnants einzurichten, um Reichstruppen zu kommandieren. Außerdem sollten die Reichskreise Geldreserven anlegen und ein Kontingent an stehenden Truppen errichten. Dafür sollte auch ein Reichszeughaus gebaut werden. Noch wichtiger war jedoch der Vorschlag, alle Truppenwerbungen im Reich vorher vom Kaiser genehmigen zu lassen. Eine günstige Entscheidung über diese vorgeschlagenen „Fundamentalreformen“28 würde dem Kaiser einen deutlichen Machtgewinn gegenüber den Reichsständen bringen.29 Stehende Kreistruppen, ein Generaloberst und restriktive Kontrolle über ausländische Truppenwerbungen hätten die exekutive Gewalt des Reiches deutlich gestärkt.30 Wenn die Reichskreise an der Grenze mit den Niederlanden nicht ausreichend gegen Übergriffe beschützt werden konnten, so hing dies auch mit der fehlenden Kapazität des Reiches zusammen, Beschlüsse in Taten umzusetzen.31 Die Vorschläge sollten eine Befriedung der Situation im Westen des Reiches bewirken.32 Der Erfolg blieb jedoch aus. Gegenüber einer positiven Ten-

S. 68). Das heißt wohlgemerkt, dass derartige Reformbewegungen bis zum Dreißigjährigen Krieg ausblieben. 25 Ebd., S. 69. 26 Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 317; Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 161 f., Nr. 1. 27 Siehe: Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung (wie Anm. 21). 28 Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 318. 29 Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung (wie Anm. 21), S. 306; ders.: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 365. 30 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 59 f.; Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 343. 31 In der Proposition „spielt [der Kaiser] allgemein auf die Truppenzüge der Jahre 1568/69 an, ohne bestimmte Heere oder Fürsten zu nennen“. Weil hiergegen nicht genug unternommen werden konnte, waren „neue Konstitutionen“ nötig: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 162, Nr. 1. 32 Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung (wie Anm. 21), S. 305.  



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denz im Reichsfürstenrat stand der Widerstand im Kurfürstenrat,33 dessen Vorrangsstellung entscheidend war. Die stehenden Kreistruppen und das Reichszeughaus fanden ebenso keine Genehmigung.34 Auch bezüglich der Kreiskassen würde der Reichsabschied keine Verpflichtungen enthalten.35 Es gelang den Reichsständen in Speyer jedoch, eine Optimierung des Reichskammergerichts zu erreichen. Die zentrale Reichsinstanz war immer weniger in der Lage, die ständig wachsende Anzahl an Prozessen zu bewältigen. Die Länge und Menge der Gerichtsverfahren galt es 1570 zu vermindern (als weiterer Punkt der Proposition).36 Der Reichsabschied enthielt konkrete Beschlüsse: Es sollten mehr Assessoren eingesetzt werden, die Gerichtstermine wurden effizienter gestaltet und die finanzielle Bürde erhöht, um beim Reichskammergericht zu appellieren. Dazu kamen noch Modifikationen im Gerichtsverfahren.37 Im Gegensatz zu Beschlüssen von vorherigen Reichsversammlungen scheinen die von 1570 die Performanz des Reichskammergerichts tatsächlich verbessert zu haben. Dass Gericht brachte in den Jahren danach deutlich mehr Prozesse zum Abschluss.38 Hierdurch wurde, zumindest temporär, eine der zentralen Institutionen des Reichsverbandes gestärkt.39 Dies demonstriert nicht nur, dass in Speyer „auch manches erreicht wurde“,40 sondern auch, wie Reichsversammlungen nach 1555 die Reichsstrukturen „fortentwickelten“. Umfassende Reformen wie die der Exekutionsordnung ließen sich angesichts konfessioneller Interessen und Besorgnisse um die territoriale Hoheit 1570 schwer beschließen.41 Kleine Modifikationen erwiesen sich als der bessere Weg, um den Erhalt der Reichsinstitutionen – und des Reichsverbandes überhaupt – zu sichern. Dies zeigt sich noch an einem weit wichtigeren Punkt. Eine Diskussion über die Stellung des Burgundischen Kreises im Reich war ersichtlich, vor allem da das Reich den Zustand an seinem westlichen Rand stabilisieren musste. Der spanisch-niederländischen Regierung war diese potentielle Entwicklung künftiger Reichsversammlungen bewusst. Philipp II. hatte den Kaiser noch im Mai 1569

33 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 88. 34 Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung (wie Anm. 21), S. 301. 35 Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 349. 36 Ebd., S. 368. 37 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 85–87; Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 4, Heft 3), S. 185 f; Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 368–371. 38 Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 370 f. 39 Smend: Das Reichskammergericht (wie Anm. 44), S. 185 f. 40 Becker: Der Speyerer Reichstag (wie Anm. 17), S. 5. 41 Siehe u. a.: Lanzinner: Friedenssicherung und Zentralisierung (wie Anm. 21).  





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gebeten, die niederländische Problematik vom nächsten Reichstag fernzuhalten. Obwohl der Kaiser dies zu versuchen zusicherte, deutete er aber an, dass es ihm nur schwer gelingen würde.42 Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba und Philipps Statthalter in den Niederlanden, hatte drei Monate vor Anfang des Reichstags noch angedeutet, notfalls selbst nach Speyer zu reisen um den Reichstag „zu dirigieren“.43 Es war jedoch Thomas Perrenot de Chantonay, der den Burgundischen Kreis als Hauptgesandter vertreten würde. Chantonay schätzte diese Charge anfänglich als ihm unwürdig (bis Anfang 1570 war er noch Ambassadeur am Kaiserhof gewesen44), sagte kurz vor Anfang des Reichstags dann doch zu, denn die Verhandlungen in Speyer seien zu wichtig.45 16 Tage nach Eröffnung des Reichstages legitimierten Chantonay und sein Adjutant Johan de Mepsche sich in Speyer beim Mainzer Erzkanzler.46

1.2 Manifestation der niederländischen Krise auf dem Reichstag Bei ihrer Ankunft auf dem Reichstag begegnete der spanischen Gesandtschaft „plus de froideur qu’auparavant“.47 Seit der Hinrichtung der Grafen Egmont und Horn war die Hartherzigkeit, womit die spanisch-niederländische Regierung handelte, den Reichsständen allzu bekannt geworden.48 Auch von Seiten des Kaisers Maximilian II. konnten Chantonay und Mepsche nicht auf kräftige Unterstützung rechnen, um „die Interessen des Burgundischen Kreises zu befördern“.49 Neben dynastischen Friktionen zwischen den spanischen und österreichischen Habsburgern veranlassten auch divergierende Auffassungen über Religion und Politik in den

42 Brief des Kaisers an König Philipp II., 26. Mai 1569, in: Louis Prosper Gachard (Hrsg.), Correspondance de Philippe II. sur les affaires des Pays-Bas (künftig: Corr.), Bd. 2. Brüssel 1848, S. 92 f. (hier S. 92). 43 Brief Albas an König Philipp II., 18. März 1570, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 125, Nr. 942. 44 Ernest Gossart: Perrenot Thomas, in: Biographie nationale, Bd. 17. Brüssel 1903, S. 59–63 (hier S. 62). 45 Siehe den Brief von Philipp II. an Alba, 26. Juli 1570, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 144– 145, Nr. 966 (hier S. 144). 46 Mainzer Protokolleintrag, 29. Juli 1570, in: Lothar Gross/Robert Lacroix (Hrsg.), Urkunden und Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des Burgundischen Kreises (künftig: UuA), Bd. 2. Wien 1945, S. 172, Nr. 607. 47 Borchgrave: Histoire des relations (wie Anm. 11), S. 230. 48 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 53–56. 49 Borchgrave: Histoire des relations (wie Anm. 11), S. 230. Hier paraphrasiert.

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Niederlanden, dass Maximilian sich von Philipp distanzierte.50 Nicht nur deshalb hatten die Initiativen der burgundischen Gesandtschaft mit „des non-recevoir polies“ zu rechnen.51 Während auf dem Reichstag die „verhärteten Fronten der burgundischen Parteiungen“ miteinander rungen,52 sahen sich die Reichsstände mit einem verfassungsrechtlichen Konflikt konfrontiert, der es dem Reich erschwerte, in die niederländische Krise einzugreifen. Der Konflikt wurde durch zahlreiche Supplikationen und Beschwerden auf der Bühne des Reichstages offenbart. Albas Instruktion an die Gesandten Chantonay und Mepsche umfasste den Auftrag, beim Reichstag eine öffentliche Verurteilung des Prinzen Wilhelm von Oranien zu beantragen,53 der inzwischen zum Anführer der niederländischen Aufständischen geworden war.54 Inwieweit sie tatsächlich eine Verurteilung erwarteten, ist unklar.55 Auf dem Reichstag erfolgte allerdings im August eine Anzeige vom Burgundischen Kreis gegen Oranien, aufgrund von angeblichem Landfriedensbruch und Rebellion gegen den Landesherrn Philipp II.56 Der betrueber alles fridlichen wesens Oranien sollte wegen seiner fridbrüchige handlungen in Burgundischen und benachbarten Kreisen unnachlesslich gestraft werden, so wie die Reichsexekutionsordnung und Landfrieden vorschrieben.57 Die Gesandten nutzten die Gelegenheit, um ungenannten Unterstützern Oraniens im Reich die Gefahr vor Augen zu führen, dass ihre Taten sie ebenfalls in die peen des fridbruchs geraten ließen.58 Hiermit sollten die protestantischen Reichsstände eingeschüchtert werden um sich nicht auf die Seite der niederländischen Rebellen zu stellen. Die Rede über Friedbrecher sollte das Reich auch von einer Intervention zugunsten der Rebellen abhalten.59 Nach Albas Wünschen sollte eine Reichsintervention sowieso nur der burgundischen Regierung zugute kommen.60 Inso-

50 Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 679 f. 51 Borchgrave: Histoire des relations (wie Anm. 11), S. 230. 52 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 412. Am Reichstag befanden sich auch protestantische Exulanten aus den Niederlanden, die ihre Sichtweise und Bitten vorstellten: Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 58 f. 53 Borchgrave: Histoire des relations (wie Anm. 11), S. 230. 54 Janssens: Van de komst van Alva (wie Anm. 5), S. 218–220. 55 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 111. 56 Beschwerde der Burgundischen Gesandten, 17. August 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 179–181, Nr. 610. 57 Ebd., S. 181. 58 Ebd., S. 180. 59 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 57. 60 Der Herzog von Alba hatte in diesem Sinne bereits 1569 einen Antrag an die Frankfurter Deputation ergehen lassen. Der Antrag war auf den Speyerer Reichstag verwiesen worden: Borchgrave: Histoire des relations (wie Anm. 11), S. 226 f.  





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fern das Reich um Hilfe gegen die Aufständischen gebeten wurde, bekannte die burgundische Regierung sich auch nachdrücklich als ein Reichsmitglied.61 Auf die Beschwerde folgte jedoch kein Entschluss. Die Reichsstände reagierten stattdessen mit einem „non-recevoir polie“: Die burgundische Regierung sollte sich mit solchen Schadensforderungen doch an den Kaiser richten.62 Das Reichsoberhaupt wurde somit als Vermittler in einem Streit zwischen den betroffenen Reichsmitgliedern eingeschaltet. (Ein Schritt, der auf dem Reichstag mehrmals wiederholt wurde.) Als Burgunds Gesandte später Klage gegen die Grafen von Ostfriesland erhoben, weil sie den Kaperern Unterstützung leisten würden, die im Dienste Oraniens operierten, neigten die Reichsstände dazu, Ostfrieslands Grafen vor Burgunds Nötigungen zu beschützen.63 Chantonay und Mepsche fanden in Speyer mehr „froideur“ vor als ihre Gegner, die ebenso Supplikationen einreichten. Im August und September reichten Stände mit Besitzungen sowohl in den Niederlanden wie auch in den Niederrheinisch-Westfälischen und Niedersächsischen Kreisen Supplikationen und Beschwerden ein.64 Unter ihnen befanden sich unter anderem der Graf von dem Berg, der Graf von Culemborg, der Herr von Bronckhorst und Batenberg und die Gräfin von Horn.65 Nach den Unruhen von 1566 war die Regierung in Brüssel gegen die Unterstützer des adeligen Protests vorgegangen, hatte sie – auch bei Abwesenheit – verurteilen und ihre Güter beschlagnahmen lassen. Hiervon waren auch Besitztümer der genannten Supplikanten nicht ausgespart gewesen. Die Supplikanten forderten Entschädigung beziehungsweise Restitution, weil die Güter ihrer Ansicht nach mit dem Burgundischen krais nichts zu tun hatten und (zum Beispiel) eher beim NiederrheinischWestfälischen Kreis ressortierten.66 Dieser Kreis hatte als Nachbarkreis aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen der burgundischen Regierung und den Rebellen sehr zu leiden. Seine Beschwerden richteten sich jedoch hauptsächlich gegen Burgund. Unter der Leitung Albas würde die spanisch-niederländische

61 Die Bitte erging als ein Mitgliede und fürnemer krais des hail. röm. reichs, in: Beschwerde der Burgundischen Gesandten, 17. August 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 179–181, Nr. 610, hier S. 181. 62 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 105. 63 Ebd., S. 106. Siehe auch: Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 56. 64 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 412; Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 57 f. 65 Ebd., S. 57; Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 109 f. Siehe auch: Gross/Lacroix, UuA (wie Anm. 46), Nr. 608, 612, 613 und 615. 66 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 57. Zitat aus der Beschwerde der Gräfin von Horn, 16. August 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 186 f., Nr. 186 (hier S. 186).  





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Regierung allerhand unbehörliche, beschwerliche arresten und kummer gegen Reichsstände oder Besitzungen im Kreis unternehmen.67 Am 9. August 1570 präsentierte der Vertreter des Herzogs Wilhelm von Jülich für den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis, den in Speyer versammelten Reichsständen eine Beschwerde gegen die Brüsseler Regierung.68 Hierin wird die Dimension der Übergriffe deutlich: Konfiskationen von Reichsgütern, Beschädigungen und Plünderungen durch vorbeiziehende spanische Truppen und Steueranmaßungen; daneben aber auch die Aufforderung an Reichsstände, vor burgundischen Gerichtsinstanzen wie dem Rat von Brabant zu erscheinen.69 Im Falle der Reichsabtei Stablo waren angeblich Appellationen an das Reichskammergericht an den Brüsseler Rat umgeleitet worden.70 Nach verschiedenen Kreistagen, deren Beschlüsse wirkungslos blieben, hatten die Reichskreisgesandten bereits 1569 in Frankfurt angedeutet, dass ihre betroffenen Mitglieder keine Reichssteuern mehr entrichten würden, solange Unterstützung von Reichs wegen ausblieb.71 Damit der Kaiser bei der Burgundischen regirung [. . .] verfügen, das soliche eingriff, vornemen und arresten abgeschafft und ufgehebt würden, wiederholten die Kreisgesandten die Drohung auf dem Speyerer Reichstag.72 Doch gerade gegen den Burgundischen Reichskreis fehlte dem Reich Handlungsraum. Der Kasus der Gräfin von Horn verdeutlicht, mit welchem Problem die niederländische Krise das Reich konfrontierte: Auf die Hornsche Bitte hin hatten die Reichsstände günstig reagiert: Der Kaiser sollte den Herzog von Alba zu einer Restitution auffordern, was er auch tat. Wenn der Herzog verweigern sollte, sollte eine Exekution gegen ihn angesetzt werden.73 Alba behauptete jedoch, die Güter der Gräfin stünden unter der Hoheit des Burgundischen Kreises und weigerte. „Nach dem [. . .] Ständedekret mußte dies die Exekution nach sich ziehen. Doch nun wichen die Stände zurück [und] baten den Kaiser um Klärung.“74 Allein schon aus tagespolitischen Überlegungen konnten von Reichs wegen weder Alba noch Oranien zu Entschädigungen oder Restitutionen gezwungen werden. Das wäre einer Parteinahme im niederländischen Konflikt gleichgekommen und hätte

67 Klage des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises an den Kaiser, 9. August 1570, in: Gross/ Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 176–179, Nr. 609 (hier S. 178). 68 Ebd., S. 176–179. Hierzu auch: Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 103; Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 55. 69 Klage des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises (wie Anm. 67), S. 178. 70 Ebd. 71 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 104. 72 Klage des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises (wie Anm. 58), S. 178. 73 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 109–110. 74 Ebd., S. 110.

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den konfessionell geladenen Konflikt auf das gesamte Reich ausweiten können.75 Doch es fehlte auch eine rechtliche Grundlage für ein direktes Eingreifen. Dies ist in der Reaktion Albas ersichtlich. Er beanspruchte namens des Burgundischen Kreises die Hoheit über die Herrschaften Wirth und Wissen, obwohl sie laut der Gräfin von Horn lehensabhängig waren vom Herzogtum Geldern als Reichslehen.76 Dieses Reichslehen machte seit dem Augsburger Vertrag von 1548 jedoch unzweifelbar einen Teil des Burgundischen Reichskreises aus,77 weshalb die spanisch-niederländische Regierung Hoheit über die genannten Herrschaften zu haben vermeinte.78 Mit ähnlicher Argumentation hantierten Burgunds Gesandten in der Auseinandersetzung über die Beschwerden des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises.79 Weder im Augsburger Vertrag, noch in darauffolgenden Verhandlungen war jedoch eine vollständige Liste mit allen Mitgliedern des Burgundischen Kreises angelegt worden.80 Hieraus wuchs ein großes Hindernis für die exekutive Gewalt des Reiches. „Es gehörte zu einem der Versäumnisse des Burgundischen Vertrages, daß die rechtliche Stellung dieser Reichslehnsträger in den Niederlanden nicht eindeutig geregelt war [. . .] Nach spanischer Diktion hingen sie fortan allein vom Souverän der Niederlande, vom spanischen König ab.“81 Und falls einem Reichsstand geschadet wurde: Wie sollte die Kreisregierung zu einer Umkehr gebracht werden? In Speyer zeigte sich, welche problematische Wirkung die Schwachstellen im Burgundischen Vertrag hatten. Zur Aufklärung sollen hier die wichtigsten Bestimmungen des Burgundischen Vertrages genannt werden.82 Nach der Errichtung des Burgundischen Kreises 1512 hatte Kaiser Karl V. zu den habsburgischen niederländischen Besitztümern noch die Territorien Zutphen, Geldern und Utrecht hinzugefügt. Diese wurden, auf Wunsch Karls V., aus dem Niederrheinisch-Westfälischen Kreis genommen und 1548 ausdrücklich dem Burgundischen Kreis zugewiesen.83 Das Herzogtum Geldern und die Grafschaft Zutphen behielten dabei jedoch die Quali-

75 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 56; Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 104–105, 110–111. 76 Supplikation der Gräfin von Horn, 16. August 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 186–187, Nr. 612 (hier S. 186). 77 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 404–406. 78 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 110. 79 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 55 f. 80 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 405–407. 81 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 57 f. 82 Eine gute Einführung bez. Entstehung und Inhalt des Vertrages bei: Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 400–406. 83 Rachfahl: Die Trennung der Niederlande (wie Anm. 23), S. 95.  



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tät eines Reichslehen.84 Zusammen mit den übrigen niederländischen Provinzen bildeten sie mit Beschluss der Augsburger Transaktion den „neuen“ Burgundischen Kreis.85 Der Kreis wurde in seiner Reichsstandschaft bestätigt und behielt das Recht, sowohl am Reichskammergericht einen Assessor zu präsentieren als auch auf Reichsversammlungen „Session und Stimme“ zu führen. Zudem blieb Burgund unter dem militärischen Schutz des Reichs stehen. Dieses Niederburgundische erbland sollte aber mit irer zugehöre sonst ganz frei, oningezogen lande und furstentumb sein.86 Das bewies sich auf dem Speyerer Reichstag als eine Ursache des Problems: Der Burgundische Kreis sollte zwar zu den Reichslasten beitragen und den Landfrieden halten, im übrigen galten weder Reichsschlüsse noch die Jurisdiktion des Reichskammergerichts für den Kreis.87 Nur wenn der Kreis seine Reichssteuern nicht entrichtete, durfte das Gericht einschreiten – im Falle von Landfriedensverletzungen, wie in den Jahren nach 1566, eher nicht. Dafür fehlte eine klare rechtliche Basis. Wenn es nicht um Reichskontributionen ginge, seien alle Territorien im Burgundischen Kreis, so betonten Chantonay und Mepsche unmissverständlich, des […] Reichs jurisdiction in erster oder anderer instanz geuberigt und gefreiet.88 Abgesehen von der Frage, ob der Burgundische Kreis jemals Kreistätigkeit entwickelt hat, war er für Historiker wie Felix Rachfahl alleine aufgrund des geringen Gehorsam zum Reich ein „Unding“. Den Ständen dieses „Unding(s)“, „war Eines sicher, dass ihnen gegenüber der Reichsgewalt irgend welcher Spielraum zur Bethätigung im Sinne einer staatrechtlichen Wirksamkeit nicht vergönnt war. [. . .] Es war ein Zustand, der in seiner Verwirrung und inneren Haltlosigkeit einzig in seiner Art darstand.“89 Rachfahl ließ hier das borussisch-nationalistische Urteil über die schwache Staatlichkeit des Heiligen Römischen Reiches wirken. Dennoch ist die Feststellung korrekt, dass eben dieses Reich gegenüber dem Burgundischen Reichskreis über ungenügend Handlungsraum verfügte, um in der niederländischen Krise „Wirksamkeit“ zu entfalten. Das Argument „Burgundischer Vertrag“ wurde von König Philipps Vertrautem, Kardinal de Granvelle, mehrmals gelobt als erprobtes Abwehrmittel gegen Einmischun84 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 397. 85 Ebd., S. 404. Zum Burgundischen Kreis gehörte auch noch die Freigrafschaft Burgund, die qua politischer und wirtschaftlicher Relevanz bereits unter der Herrschaft Maximilians I. von den niederländischen Teilen des Kreises übertroffen wurde. Hier soll sie nicht weiter berücksichtigt werden. Siehe: Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 393 f. 86 Aus dem Burgundischen Vertrag zitiert bei Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 405. 87 Ebd., S. 404 f. 88 Burgundischer Gegenbericht zum Beschluss, 13. Oktober 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 48), S. 200, Nr. 623. 89 Rachfahl: Die Trennung der Niederlande (wie Anm. 23), S. 97.  



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gen von Seiten des Reiches.90 Auch wenn protestantische Reichsstände kurz vor dem Ende des Reichstages noch in einem Schreiben behaupteten, dass die Niederländer den Religionsfrieden genießen sollten,91 wurden von Kaiser und Reich keine Vorkehrungen getroffen, um sie in diesem Sinne vor Alba zu beschützen.92 Die Gebiete des Burgundischen Kreises waren von nachfolgenden Reichsgesetzen befreit, also auch vom Religionsfrieden.93 Der streng katholische spanische Hof war in dieser Hinsicht keineswegs zu Modifikationen bereit. Am gleichen Tag, an dem das Schreiben der protestantischen Stände eingereicht wurde, lancierten Burgunds Gesandte einen heftigen Protest gegen die zahlreichen Klagen und Bitten, die auf dem Reichstag gegen die spanisch-niederländische Regierung ergingen. Die Augsburger Transaktion sei, so Chantonay und Mepsche, nach langem, sattem beratschlagen von Kaiser und Reich aufs allerbestendigst aufgerichtet worden und von Kaiser Maximilian II. bestätigt worden.94 Die Gesandten wiesen darauf hin, dass der Burgundische Kreis dem Vertrag aufs fleissigist gevolget und nachgesetzt habe. Die auf dem Reichstag erfolgten Ständedekrete mit Ermahnungen an den Kreis seien demgegenüber, so fuhren sie fort, ein Verstoß gegen den Vertrag. Weder hätten die Untertanen des Kreises ein Recht, bei Kaiser und Reich zu klagen, noch dürften die Reichsstände ihnen Gehör schenken.95 In anderen Beschwerden ermahnten sie Kläger, sich nicht an das Reich, sondern an die für sie zuständigen Behörden im Burgundischen Kreis zu wenden.96 Schließlich beanstandeten sie, die Reichsstände werden vermüge desselben Vertrags sich eins andern bedenken und dem spanischen König kain zil noch mass setzen, wie er seine Untertanen regieren solle.97 Hier folgten sie der

90 Dies tat er z. B. 1568 in einem Brief an Philipp II. über die reichsständischen Behauptungen bez. „Burgunds“ Verpflichtungen gegenüber dem Reich: Brief Granvelles an Philipp II., 3. November 1568, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 45 f., Nr. 800. 91 Schreiben der protestantischen Stände an Kaiser und Reich, 9. Dezember 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 976, Nr. 386. Das Schreiben trug die Unterschriften von u. a.: Kurpfalz, Kursachsen, Kurbrandenburg, Landgrafen von Hessen. 92 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 108 f. Siehe auch: Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 692 f. und Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 59. 93 Press: Wilhelm von Oranien (wie Anm. 4), S. 678; Weis: Les Pays-Bas (wie Anm. 7), S. 25; Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 108 f. 94 Protest der burgundischen Gesandtschaft, 9. Dezember 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 212 f., Nr. 632 (hier S. 213). 95 Ebd. 96 Siehe u. a.: Gegenbericht der burgundischen Gesandtschaft auf Beschluss der Reichsstände, 16. Oktober 1570, in: Ebd., S. 201, Nr. 624. 97 Protest der burgundischen Gesandtschaft, 9. Dezember 1570, in: Ebd., S. 212 f., Nr. 632 (hier S. 213).  

















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offiziellen spanischen Argumentationslinie, nach der es sich bei den Niederlanden um eine rein „interne“ Angelegenheit handele.98 Das Reich habe nach dieser Interpretation keine Hoheit mehr über die Untertanen im Burgundischen Kreis, womit die Distanzierung zwischen der burgundischen Regierung und dem Reich einen Höhepunkt erreichte. Trotz dieser Abwehr wurden während des Reichstages wiederholt Versuche unternommen, das Reich zu einer Intervention zu bewegen. Schon im August hatte Sachsens Gesandter wegen der Übergriffe eine Exekution gegen Alba vorgeschlagen. Alba würde die Restitutionsbitten ignorieren, weshalb gegen die burgundische Regierung als stand deß Reichs zu verfahren wäre wie gegen jeden anderen Reichsstand: Mit einer Exekution.99 Maximilian II. hatte Alba bereits erneut mit einem Schreiben zum Kurswechsel aufgefordert. Hierauf war von Seiten Brüssels jedoch keine Reaktion erfolgt. Die Reichsstände befürchteten, die Exekution würde kein besseres Schicksal haben. Verfassungsrechtlich begaben die Reichsstände sich mit ihren Exekutionsandrohungen auf Eis.100 Mit einer burgundischen Gegenargumentation auf Basis der Augsburger Transaktion musste gerechnet werden. In dieser verfassungsrechtlich unsicheren Lage blieb nur der Weg der kaiserlichen Vermittlung offen. Weil Alba nit parirt, so stellte Sachsens Gesandter fest, hett caesar auff mittel zu dencken, wie gehorsame stend defendirt und turbatores zu straffen. Die Aussicht auf Erfolg sei dennoch gering, denn Ducha d’Alba geb nichts auff caesarem und Reich.101 Warum gingen die Interventionsversuche fort? Die Reichsstände versuchten in Speyer nicht nur die Interessen der Kläger zu wahren, sondern auch die Hoheitsansprüchen des Reiches über Burgund.102 Wiederholte Forderungen nach Restitution von beschlagnahmten Gütern, nach Entschädigung, Aufhebung von Gerichtsverfahren vor burgundischen Gerichtshöfen oder der Einbeziehung in den Religionsfrieden … all dies bedeutete „streng genommen eine Revision des Burgundischen Vertrages.“103 So wie der Burgundische Vertrag sich im Jahr 1570 auswirkte, war wenn nicht eine Überarbeitung des Vertrages, dann doch zumin-

98 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 418. Spaniens Regierung blieb auch bei ihrer Position, dass ein religiöser Konflikt in den Niederlanden nicht gegeben war. Siehe: Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 57. 99 Protokoll Kurfürstenratssitzung, 25. August 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 241, Nr. 41. 100 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 110. 101 Protokoll Kurfürstenratssitzung, 2. Oktober 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 306, Nr. 60. 102 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 111. 103 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 60.

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dest eine Korrektur in seinen Auswirkungen erforderlich, um die Verbindung zum Reich zu wahren.

1.3 „Weill der burgundisch vertrag will disponirt werden.“ Die Weiterentwicklung des Burgundischen Reichskreises auf dem Reichstag Maximilian II. war nicht geneigt, bald auf den Vorschlag seines Beraters Lazarus von Schwendi einzugehen und beim Reich eine Diskussion darüber anzustoßen, „wie das Reich die Oberhoheit über die Niederlande erhalten, wie die Niederlande ihre Freiheiten bewahren und auch in den Religionsfrieden einbezogen werden könnte[n].“104 In den Jahrzehnten zwischen 1512 und 1570 hatte der Burgundische Kreis abwechselnd Momente der scheinbaren Annäherung und Momente der Distanzierung vom Reich erlebt,105 und hatten die Reichsstände sich mehrmals um eine tiefere Integration bemüht. Eine drastische Umgestaltung der Burgundischen Reichsstandschaft war politisch jedoch unrealistisch. Der spanische Hof legte den Burgundischen Vertrag deutlich in entgegengesetzte Richtung aus. Philipp II. hatte 1570 sogar die alte Idee wieder aufgegriffen, die Niederlande zum Königreich zu erheben.106 Diese Idee steigerte die Praxis, in den Niederlanden eine äußerst autonomistische Interpretation des Augsburger Vertrages anzuwenden. Als Erzherzog Karl 1568 am spanischen Hof weilte, um des Reiches Mäßigungsverlangen anzutragen, hatte Philipp erklärt, das Reich könne nur da Zuständigkeit behaupten, wo der Augsburger Vertrag dies ausdrücklich zulasse. In allen anderen Bereichen sei die burgundische Regierung vollkommen souverän.107 Karl entgegnete, die Reichsstände wären zu dieser Interpretation des Vertrages nicht bereit.108 Die Meinungen stießen in Speyer deutlich aufeinander. Im Memorandum, das Vertreter des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises einreichten, wurde tatsächlich um eine billiche mass und verfassung gebeten, die Burgund zur Rücksichtnahme auf die benachbarten Stände und die Reichsjurisdiktion bringen

104 Lanzinner: Der Reichstag zu Speyer (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 132. 105 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 390–407. 106 Wie auch seiner Korrespondenz zu entnehmen ist: Brief Philipps II. an Alba, 4. Juli 1570, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 143 f., Nr. 963 (hier S. 143). 107 Memorandum von Philipp II., 20. Januar 1569, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 58–59, Nr. 819 (hier S. 58). Der Erzherzog sollte das Memorandum zur Antwort an den Kaiser weiterreichen. 108 Antwort von Erzherzog Karl an Philipp II., 23. Januar 1569, in: Gachard: Corr. (wie Anm. 42), S. 59–60, Nr. 820.

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sollten.109 Es hieß, Burgund handele einseitig gegen benachbarte Reichsterritorien ohne jedoch von Seiten des Reiches Gegenmaßnahmen zu gestatten. Eine gemeinsame Sitzung von Kur- und Fürstenrat kam Ende Oktober 1570 zum Entschluss, dem Kaiser eine Sonderkommission zu empfehlen [d]ieweill […] der burgundisch vertrag in viellen puncten will disponirt werden.110 So kamen die Reichsstände erneut auf Burgunds „Untertanen“ zu sprechen. Mit dem Wissen „Lauch lässt man nicht sprießen“ in Gedanken hatten Reichsstände bereits vor Abschluss des Augsburger Vertrages die Bedenken geäußert, der Burgundische Reichskreis drohe seine konstituierenden Territorien immer mehr vom Reich abzusondern. Damit würden dem Reich nicht nur Hoheitsrechte, sondern auch finanzielle und militärische Beiträge entzogen werden.111 Hierdurch wurden die Reichsmatrikel zu einem Kampfschauplatz in der Auseinandersetzung über Burgunds Verhältnis zum Reich. Supplikanten, wie der Graf zu dem Berg, nutzten das Dubium aus, ob Stände wie sie seit 1548 noch „immediater“ Reichsstand oder als landsässiger Stand unter dem Burgundischen Kreis zu betrachten waren. Gegen die Wünsche der burgundischen Regierung wurden die Supplikanten nach dem Augsburger Vertrag noch oft in den Reichsmatrikeln aufgeführt und zu Reichstagen eingeladen.112 Dies war dem Grafen nützlich, als er um Reichsschutz gegen Alba flehte. Im September 1570 argumentierte dessen Supplikation mit der fortdauernden Präsenz in den Matrikeln, der Einladung zum Reichstag und dass contributiones und reichssteuer von den grafen […] gefordert worden und deswegen gewonlich fiscalische process wieder sie ausgegangen.113 Seine Reichsstandschaft könne aus diesen Gründen nicht angezweifelt werden. Als bekennender Reichsstand hätte er seine Reichssteuern aber nicht entrichtet, denn daran sei er durch forcht und verbot der Burgundischen regierung verhindert worden.114 Diese Ausflucht konnten die Reichsstände freilich leicht durchschauen. Unter anderen Umständen würden Stände wie die Grafen zu dem Berg sich nämlich auf ihre Mitgliedschaft im Burgundischen Kreis berufen, um

109 Memorial des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, 1. Oktober 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 195 f., Nr. 619 (hier S. 195). 110 Kurfürstenratsprotokoll, 31. Oktober 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 348– 349, Nr. 84 (hier S. 349). 111 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 394 f., 405 f. 112 Ebd, S. 406 f. 113 Bittschrift des Grafen zu dem Berg an die Reichsstände, 19. September 1570, in: Gross/ Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 191–193, Nr. 615 (hier S. 191). Die Grafschaft war zudem, so die Bittschrift, zu Kreistagen des Nordrheinisch-Westfälischen Kreises eingeladen worden. Siehe S. 192. 114 Ebd., S. 193.  







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von Beiträgen zu den Reichslasten befreit zu werden.115 Konfrontiert mit Übergriffen von Seiten der spanisch-niederländischen Regierung, dienten die fiskalischen Prozesse aber dem gräflichen Hilfeanliegen. Burgunds Gesandtschaft zögerte nicht mit der Gegenoffensive. Bereits am 12. September baten Chantonay und Mepsche beim Reichstag um Abstellung aller Fiskalprozesse des Reichskammergerichts gegen Stände des Burgundischen Kreises.116 Ihre Bitte galt auch den Prozessen gegen den Graf zu dem Berg. Die versammelten Kurien antworteten am 13. Oktober, dass Burgund seine Klagen vor das Reichskammergericht bringen solle und das Reich im übrigen iuris praesumptionem fur sich habe.117 [B]is die sachen mit recht erortert, baten sie, sollten die Supplikanten von weiteren solchen Gesuchen absehen.118 Unerschüttert reichten die Gesandten noch am gleichen Tag einen neuen Protest gegen die Prozesse ein.119 Die Untertanen des Burgundischen Kreises seien von der Reichskammergerichtsjurisdiktion befreit und man hoffe, das Gericht werde sich künftig an den Burgundischen Vertrag halten. Inzwischen hatte die Nachricht den Reichstag erreicht, dass in diesem Jurisdiktionskonflikt von beiden Seiten Boten festgenommen und sogar mit Leibstrafen bedroht worden waren.120 Der Konsens war aber, dass der Burgundische Kreis unrechtmäßig gegen die Reichskammergerichtsjurisdiktion handelte.121 Verzweifelt erinnerten die Kurien im November Burgund erneut daran, seine Beschwerden vor das Reichskammergericht zu tragen wie jeder andere Reichsstand.122 In dieser Erinnerung wird der Wunsch deutlich, den Burgundischen Kreis zu „normalisieren“ und den anderen Kreisen anzugleichen – eine Bestrebung, die

115 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 405–406. 116 Regest bei: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 1020–1021, Nr. 421. 117 Beschluss des Reichsrats, 13. Oktober 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 199 f., Nr. 622. 118 Ebd., S. 200. 119 Burgundischer Gegenbericht zum Beschluss, 13. Oktober 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 48), S. 200, Nr. 623. 120 Siehe: Gravamina der Assessoren, 8. Oktober 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 827–833, Nr. 351 (hier S. 830). Kurpfälzische Gesandte erinnerten daran, dass nicht nur Reichskammergerichtsboten, sondern auch Boten des Burgundischen Kreises verhaftet worden waren: Kurfürstenratsprotokoll, 12. Oktober 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), S. 320–322, Nr. 69 (hier S. 322). 121 Siehe das kurmainzische Votum in: Kurfürstenratsprotokoll, 12. Oktober 1570, in: Ebd., S. 320–322, Nr. 69 (hier S. 322); Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 413. 122 Ständedekret, 29. November 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 1090 f., Nr. 515.  

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schon länger existierte.123 Auf dem Speyerer Reichstag führte sie auch zu Taten. Österreichs Gesandte beantragten am vierten November im Reichsfürstenrat propter praeminentiam eine zusätzliche Assessorenstelle für Österreich und den Burgundischen Kreis.124 Der Antrag wurde sofort genehmigt, obwohl der Rat sich erst sechs Tage später auf eine Präsentationsweise einigte. Diese wird im Paragraph 52 des Reichsabschiedes deutlich: Österreich und Burgund sollten die zusätzliche Assessorenstelle besetzen, sobald einer von den sechs neuen Assessoren abtrat, die den andern Reichskreisen im gleichen Abschied zugesagt wurden (oder wenn erneut eine Erhöhung beschlossen werden sollte).125 In seinem vorbereitenden Gutachten für die Justizreformverhandlungen hatte das Reichskammergerichtspersonal betont, dass die Zahl der Assessoren dringend um zehn neue Stellen erhöht werden solle, um die Menge der Prozesse zu bewältigen. Das erklärt teilweise, warum der Reichsfürstenrat Österreichs Antrag ohne nennenswerten Widerspruch annahm.126 Hinter dieser Entscheidung scheinen jedoch politische Überlegungen gewirkt zu haben. Dem Burgundischen Reichskreis wurde hiermit nämlich auch eine Chance angeboten, seinen Einfluss am Reichskammergericht zu vergrößern. Zu erhoffen war, dass Burgund seine Beschwerden künftig dann auch tatsächlich vor das Gericht bringen würde, was vor allem hinsichtlich der fiskalischen Prozesse eine bedeutsame Veränderung wäre. An sich ist die Entscheidung merkwürdig, einem Reichsstand zwei Beisitzer am Reichskammergericht zu verschaffen, während der Stand von eben diesem Gericht größtenteils befreit war.127 Außerdem hatte sich unter Alba die Zahlungsdisziplin verschlechtert, womit die Kammerzieler entrichtet wurden.128 Emile de Borchgrave behauptete, der Herzog trüge damit dazu bei „à rendre l’Empire indifférent aux affaires des Pays-Bas.“129 Diese Behauptung steht jedoch in starkem Kontrast zum offensichtlichen Bemühen der Reichsstände, den Burgundischen Kreis weiterhin beim Reichsgeschehen einzubeziehen. In einer anderen Fürstenratssitzung war Chantonays Adjutant Mepsche noch in den Ausschuss

123 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 393. 124 Fürstenratsprotokoll, 4. November 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 545, Nr. 190, Anm. 1. 125 Auszug aus dem Reichsabschied, 11. Dezember 1570, in: Gross/Lacroix (Hrsg.), UuA (wie Anm. 46), S. 214 f., Nr. 634. 126 Siehe hierzu: Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 114, Anm. 51. 127 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 114. 128 Weis: Les Pays-Bas (wie Anm. 7), S. 37; Borchgrave: Histoire des rapports (wie Anm. 11), S. 233. 129 Borchgrave: Histoire des rapports (wie Anm. 11), S. 233.  

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gewählt worden, der über die Justizreformen beraten sollte.130 Die Wahl war nicht zufällig, denn er war lange Zeit Burgunds Assessor am Reichskammergericht gewesen.131 Mepsche lehnte jedoch ab, ein Schritt der laut de Borchgrave in der „esprit de lésinerie“ von Albas Regierung begründet war.132 Der geizigen Politik zum Trotz genehmigte der Herzog kurz vor Reichstagsende die zusätzliche Assessorenstelle.133 Warum? Die burgundische Reichstagskorrespondenz liegt nicht ediert vor und bisherige Untersuchungen wie de Borchgraves Werk haben diesen Reichstagsbeschluss nicht weiter beleuchtet. Dennoch lässt sich mutmaßen, dass die Brüsseler Regierung tatsächlich die Möglichkeit gesehen hat, mit einem zusätzlichen Assessor mehr Einfluss am Reichskammergericht zu gewinnen (ähnliche Überlegungen wurden für die Deputationsmitgliedschaft vermutet134; siehe unten). Schließlich wurden die Assessoren mit dem ausdrücklichen Befehl nach Speyer geschickt, dort zu jeder Zeit die Interessen des Burgundischen Kreises zu wahren.135 Mit dem Beschluss des Reichstages konkretisierte sich nicht nur ein Versuch von Seiten des Reiches, Burgund erneut zum Reich zu führen,136 sondern auch, die Inkorporation der privilegienbelasteten Kreise im Reich an die anderen Reichskreise anzugleichen. Paragraph 52 des Reichsabschieds verknüpfte die neuen Präsentationen der Österreichischen und Burgundischen Kreise nämlich explizit mit denen der anderen Reichskreise. Hiermit wurde, trotz seines „papiernen“ Charakters,137 der Burgundische Kreis zumindest qua Prozedur zum „normalen“ Reichskreis gemacht. Angesichts der niederländischen Krise scheint die Instandhaltung der Kommunikationslinien Hauptanliegen gewesen zu sein. Dies zeigt sich auch in Entscheidungen, die Burgunds Beteiligung an der Entscheidungsfindung auf Reichsebene ausbauten. Unter der Herrschaft des Königs Philipp II. verschlechterte sich nämlich nicht nur die Zahlungsdisziplin des Kreises, seine Gesandten besuchten auch weniger Reichsversammlungen. Als der niederländische Konflikt sich vertiefte, ging Brüssel selten noch auf kaiserliche Einladungen zu Reichskreis- und Deputationstagen ein.138 Burgunds Desinteresse verschwand jedoch, als die Mei-

130 Fürstenratsprotokoll, 28. August 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 496–497, Nr. 149 (hier S. 97). 131 Borchgrave: Histoire des rapports (wie Anm. 11), S. 202. 132 Ebd., S. 231. 133 Ebd., S. 233. 134 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 113. 135 Borchgrave: Histoire des rapports (wie Anm. 11), S. 201 f. 136 Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (wie Anm. 11), S. 414. 137 Ebd., S. 400. 138 Ebd., S. 412; Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 112 f.  



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nungen im Reich sich schärfer gegen die spanisch-niederländische Regierung richteten. Die Tatsache, dass die Kläger über burgundische Übergriffe zunehmend Gehör im Reich fanden, musste schließlich die Aufmerksamkeit Brüssels wieder auf das Reich richten.139 Die Notwendigkeit, sich an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, wurde vor allem wichtig, als Burgunds Gesandten 1569 die Teilnahme am Frankfurter Deputationstag verwehrt wurde, wo gerade Vorwürfe und Anträge wegen der burgundischen Übergriffe zu hören waren.140 Chantonay forderte noch Anfang September im Reichsfürstenrat das Recht für Burgund, bei künftigen Deputationstagen anwesend zu sein.141 Der Burgundische Vertrag räume explizit, so der Gesandte, das Recht auf Sitz und Stimme bei allen Reichsversammlungen ein. Wohlwissend, dass der Kreis mit seinen Reichssteuern nachlässig geworden war, fügte Chantonay seinem Antrag noch folgende Drohung bei: Sollte burgundischen Gesandten der Zugang zu künftigen Deputationen verweigert werden, würde Burgund keine Reichssteuern mehr entrichten.142 Im Fürstenrat wurde der Antrag bereits drei Tage später genehmigt.143 Gegen das burgundische Recht auf Teilnahme konnte vertragsmäßig kaum Widerspruch erhoben werden. Im Kurkolleg herrschte jedoch Zweifel darüber, ob der Burgundische Kreis tatsächlich zu Deputationstagen einzuladen war. Der Gesandte Kurtriers meinte, der Kreis habe zu wenig mit dem Reich zu tun um bei Deputationstagen anwesend zu sein. Der Kreis sei aliquo modo Reichstand, nit immediate. Dabei sprach der Gesandte auch das Problem an, dass sich auf dem Reichstag mehrmals offenbart hatte: In appellationibus und religion sachen erkennen Reichs nit.144 Auch Sachsen hatte deß burgundischen kraiß halben kain interesse, denn Burgund gehör nit immediate zum Reich.145 Hier zeigt sich erneut das Bewusstsein der Reichsstände bezüglich der störenden Wirkung des Augsburger Vertrages. Es gab auch pragmatische Gründe zur Zurückhaltung. Der Mainzer Kurfürst befürchtete als Reichserzkanzler für jeden Deputationstag gantz Teutschland einladen zu müssen.146 Dennoch sahen auch die Kurfürsten Nutzen in der Einbeziehung des Burgundischen Kreises. Wo Deputationen über Landfriedenssachen berieten, sei die Teilnahme Bur139 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 112 f. 140 Ebd. 141 Fürstenratsprotokoll, 6. September 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 510–511, Nr. 154 (hier S. 511). 142 Ebd. 143 Fürstenratsprotokoll, 9. September 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 513, Nr. 156. 144 Kurfürstenratsprotokoll, 11. September 1570, in: Lanzinner: RzS (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 268– 271, Nr. 45 (hier S. 268). 145 Ebd. 146 Ebd., S. 269.  

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gunds ein guter Weg, um den Kreis active und passive im landtfrieden zuhalten.147 Hier kam erneut der Wunsch zum Vorschein, den Burgundischen Kreis in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Aber, so warnte Triers Gesandter: In andern fällen sollten nit zugelassen werden.148 Die Kurfürsten überließen dem Fürstenrat schließlich die Entscheidung über Burgunds Zulassung, weil es ihrer Meinung nach eine rein-fürstliche Angelegenheit betraf.149 Auch bei diesen Vorgängen spielte hauptsächlich der Wunsch mit, die Kommunikation zwischen dem Reich und dem Burgundischen Reichskreis zu verbessern. Im besten Falle bewirkten sie eine bessere Mitarbeit Burgunds bei der Exekution von Deputationsbeschlüssen.150 Die Einbeziehung des Burgundischen Kreises reflektierte auch, so Helmut Neuhaus, „das Bemühen [. . .] den gesamten geographischen Raum des Reiches von den Mitgliedern der ordentlichen Reichsdeputation besser abzudecken.“151 Auf dem Speyerer Reichstag wurde bemängelt, dass Beschlüsse von Deputationstagen kaum ausgeführt wurden, weil sie unter anderem nicht allen Kreisen bekannt gewesen waren oder weil nicht alle Kreise an der Beschlussfassung beteiligt gewesen waren. Dies konnte, wie der Fall Burgunds demonstriert, auch als Ausrede zur Beitragsverweigerung benutzt werden. Die Initiative, alle Kreise fortan bei Deputationen zu berücksichtigen, konnte den Burgundischen Kreis keineswegs umgehen. Vor allem nicht während der niederländischen Krise.152 Noch konnte die Krise eskalieren, weshalb der gegenseitige Informationsaustausch unbedingt verbessert werden musste. Hierin hielten sowohl der Kaiser, die Reichsstände als auch der Burgundische Kreis (der sich selbst um die Hilfe einer Reichsarmee bemühte) es für wichtig, eine Annäherung zwischen dem Reich und Burgund zu bewirken, damit Konflikte zeitig reguliert werden konnten. Der Brüsseler Reichspolitik war jede erweiterte Einflussmöglichkeit im Reich sowieso vorteilhaft. Ob die vergrößerten Deputationstage mit der Einbeziehung von unter anderem Burgund besser ihre Funktion als „Reichssicherheitsrat“ erfüllen konnten, erfordert allerdings weitere Forschungsarbeit.153

147 148 149 150 151 152 153

Ebd. Ebd. Ebd., S. 270 f. Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 113. Neuhaus: Reichsständische Repräsentationsformen (wie Anm. 14), S. 432. Lanzinner: Friedenssicherung und politische Einheit (wie Anm. 14), S. 364. Neuhaus: Reichsständische Repräsentationsformen (wie Anm. 14), S. 432.  

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2 Fazit Die Regierung des Burgundischen Reichkreises hielt 1570 das Reich fern. Ihre Eingriffe in benachbarte Kreise und gegen angebliche Reichsstände wirbelten im Reich jedoch Staub auf. Wie sollte verhindert werden, dass die niederländische Krise die nordwestliche Peripherie weiter destabilisierte? Eine Überarbeitung des Augsburger Vertrages war politische Utopie. „Beharren auf Rechtspositionen, konfessionelle Neutralität“ und „Konfliktsteuerung durch Kaiser und Ständetage“ waren die Wege, womit die Speyerer Reichsversammlung eine Eskalation zu verhindern suchte.154 Richtungweisend war der Versuch, die Kommunikation zwischen dem Burgundischen Reichskreis und den übrigen Reichsständen zu befördern. Die Einbeziehung Burgunds auf künftigen Reichsdeputationstagen ist ein Beleg hierfür, die Genehmigung einer zweiten burgundischen Assessoratsstelle ebenso. Indem Informationsaustausch, Einflussnahme und Verantwortungsgefühl gefördert wurden, wirkten die Reichstagsbeschlüsse entspannend auf die Krise.155 In diesem Beitrag wurde ein weiterer Aspekt des Reichstages beleuchtet: Die stärkere Integration des Burgundischen Kreises. Burgunds verstärkte „Hereinnahme“ erfolgte nicht mittels einer Reform der Augsburger Transaktion, sondern durch genannte kleinere Änderungen. Die Distanzierung, die sich unter der Herrschaft Philipps II. zu vergrößern drohte, wurde aufgehalten. Der Speyerer Reichstag stellte damit nicht nur die stabilisierende Funktion von Reichsversammlungen unter Beweis,156 sondern auch ihre integrative Rolle für den Reichsverband.

154 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 114–117. 155 Arndt: Das Heilige Römische Reich (wie Anm. 7), S. 59 f. 156 Lanzinner: Der Aufstand (wie Anm. 4), S. 117.  

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Visitationen des Reichskammergerichts: Akteure und Handlungsspielräume 1 Einleitung 1533 schrieb der kaiserliche Kommissar Ulrich von Helfenstein einen vertraulichen Bericht an Kaiser Karl V. über die Reichskammergerichtsvisitation und sein Personal. Helfenstein berichtete darin, dass der Kammerrichter von Beichlingen, Stellvertreter des Kaisers am Gericht, den Sitzungen der Richter nicht folgen könne1 und bei Empfängen von welschen Gesandten ihre lateinische Rede nicht verstünde. Der Kammerrichter ließe sich dies aber nicht anmerken und hielte einfach in beiden Fällen eine deutsche Rede. Chaos sei die Folge und das Ansehen des Gerichts leide. Außerdem habe er keine Liebe für die Sachen2 und ermahne die Prokuratoren nicht, schnell und effizient zu arbeiten. Der Kommissar hielt diesen Zustand für unhaltbar und schlug vor, den Kammerrichter, den Kaiser Karl V. persönlich eingesetzt hatte, zu entlassen.3 Helfenstein sähe sonst die Arbeit des Reichskammergerichts gefährdet. Der zweite Punkt, den Helfenstein ansprach, war noch heikler. Auch hier ging es um eine Person, die in einem besonders engen Verhältnis zum Kaiser stand: der Fiskal des Gerichts4. Er hatte die alleinige Aufgabe, die Interessen des Kaisers auf dem Wege des Prozesses durchzusetzen.5 Helfenstein beschuldigte den Fiskal, korrupt zu sein. Der Fiskal Caspar Mart hatte den Reichsritter und Fehdeführer Götz

1 Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (künftig: ÖStA HHStA), MEA RKG 2. 2 ÖStA HHSTA, MEA RKG 2. 3 „und werdet in dißer visitation beschiedlich das befunden. … das Cammergericht mit einem anderen gelerten geschickten haubt versehen werde, sonst sey und wird alle visitation unnd ordnung umbsonst unnd vergeblich.“ ÖStA HHStA, RHK RKG 316. In den offiziellen Protokollen, die im Mainzer Erzkanzler Archiv verwahrt werden, wird dies nicht erwähnt. 4 Eine Übersicht über das Amt des Fiskals siehe Björn Rautenberg: Der Fiskal am Reichskammergericht. S. 1 ff. Der Fiskal hatte am Reichskammergericht eine besondere Stellung, da er ja ein kaiserlich/königlicher Beamter war; ebd., S. 4. 5 Ebd., S. 7.  

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von Berlichingen wegen Landfriedensbruchs angeklagt6, da sich Berlichingen im Bauernkrieg mit den Bauern verbündet hatte. Eine gefährliche Anklage, denn dem Reichsritter drohte bei einer Verurteilung durch das Reichskammergericht die Acht. Ein Prozess, der im Reich große Aufmerksamkeit erregte. Plötzlich unterließ der Fiskal jedoch weitere rechtliche Schritte und die Klage wurde nicht weiter verfolgt.7 Das Vorgehen war merkwürdig und hatte die kaiserlichen Kommissare veranlasst, nachzuforschen. Die Befragung der Richter durch die Visitationskommission zeigte, dass es Götz von Berlichingen gelungen war, den Fiskal zu bestechen;8 auch wenn einige Richter dies heftig leugneten.9 Die genaue Summe, die Götz von Berlichingen bezahlt hatte, konnten die kaiserlichen Kommissare nicht herausfinden.10 Hier wollten die Richter nicht mit der Sprache herausrücken. Helfenstein empfahl dem Kaiser, den Fiskal auf der Stelle zu entlassen, da er den Fiskal für fahrlässig11 halte. Eine Entscheidung, die Karl V. nicht leicht fallen musste. Ulrich von Helfenstein12 fragte deshalb ausdrücklich nach, ob der Kaiser einen mündlichen Bericht wünsche13. Was während dieses Gesprächs zwischen kaiserlichem Kommissar und Kaiser verhandelt wurde, wissen wir nicht. Wir kennen nur das Ergebnis: Karl V. entließ den Fiskal Caspar Mart und der Kammerrichter resignierte nach einer angemessenen Frist. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde

6 Helgard Ulmschneider: Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance. Sigmaringen 1974, S. 171 und S. 178. Laut Ulmschneider wollte der Fiskal sogar Beistand und Amtshilfe leisten, wenn Götz die Bauern verklagen wolle. 7 In der Forschung gab es für das Verhalten des Fiskals bis jetzt keine Erklärung. Erst die Quellen aus der Reichshofkanzlei machen eine neue Sicht der Dinge möglich. 8 ÖStA HHStA, MEA RKG 2. Harpprecht behauptet, es habe nur eine mündliche Erklärung von Ulrich von Helfenstein an den Kaiser gegeben und nur einen sehr summarischen Bericht. Johann Heinrich Frhr. von Harpprecht: Staats=Archiv des Kayserl. und des H. Röm. Reichs Cammer=Gerichts oder Sammlung von gedruckten und mehrenteils ungedruckten Actis Publicis, ArchivalUrkunden, Kayserl. Rescripten, Verordnungen, Praesentations- und Visitations-Handlungen etc., 6 Teile, Teil 5 und 6 unter dem Titel: Geschichte des Kaiserlichen und Reichs=Cammer=Gerichts unter der Glorwürdigsten Regierung Kaisers Carl des Fünften …. Teil 1–4 Ulm 1757, 1758, 1759, 1760, Teil 5 und 6 Frankfurt a. M. 1767 und 1768, Teil 5, S. 113 § 158. 9 ÖStA HHStA, RHK RKG 316. Siehe hierzu die Einschätzung von Volker Press, Götz von Berlichingen, der feststellte, dass Götz das Reichskammergericht zuerst bekämpft habe, um es dann für seine Zwecke zu benutzen. Siehe Volker Press: Götz von Berlichingen (ca. 1480–1562). Vom „Raubritter“ zum Reichsritter, in: ders.: Adel im Alten Reich. Tübingen 1998, S. 349. 10 ÖStA HHStA, RHK RKG 316. 11 ÖStA HHStA, RHK RKG 316. 12 Press stellt fest, dass Karl V. Götz von Berlichingen sehr wohl gesonnen war und ihn 1540 von der Urfehde löste. Außerdem zog Götz zweimal in Diensten des Kaisers in den Krieg: 1542 gegen die Türken und 1544 gegen Frankreich. Volker Press: Götz von Berlichingen (wie Anm. 9), S. 352. 13 ÖStA HHStA, RHK RKG 316.

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Abbildung 1: Götz von Berlichingen (1480–1562) Bildnis auf Glas, bleiverglast, 1547 Unbekannter Künstler Aufschrift oberhalb des Bildnisses: »15 GÖTZ BERLINGEN 47« Aufschrift unterhalb des Bildnisses: »JAXTHOUSEN« aus: Goethe, Götz und die Gerechtigkeit. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar. Hrsg. vom Magistrat der Stadt Wetzlar und von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 1999, S. 166.

ihm ein Richter als Dolmetscher beigestellt. Das Schicksal Götz von Berlichingens ist bekannt. Wer waren nun diese kaiserlichen Kommissare, die ein solches Machtpotential hatten und diesen vertrauten Umgang mit dem Kaiser pflegten? Welche Aufgaben hatten sie während einer Reichskammergerichtsvisitation? Und nicht zuletzt, was ist eine Reichskammergerichtsvisitation überhaupt? Im Folgenden soll in wenigen Stichworten die Reichskammergerichtsvisitation vorgestellt werden. Danach folgt die Beschreibung der kaiserlichen Kommissare und ihrer Funktionen. In einem weiteren Schritt soll dann die Auswahl der Kommissare durch den Kaiser am Reichskammergericht näher betrachtet werden. Schließlich gilt es, die Arbeit der Kommissare vor Ort in Speyer näher zu untersuchen.

2 Die Visitation des Reichskammergerichts „Visitation“ bezeichnet zunächst einmal einen Vorgang, der mit unterschiedlichen Synonymen beschrieben wird. Der Begriff „Visitation“ kann Versammlung bedeuten. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von Geschäft, actus, aber auch von Verrichtung oder Untersuchung gesprochen.14 Ursprünglich stammen Visitationen aus dem kirchlichen Bereich und wurden seit dem Mittelalter praktiziert. Sie

14 Mencke: Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Köln/Wien 1984 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 13), S. 11.

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waren von Beginn an Aufsichtsmaßnahmen der Kirchenleitung.15 Visitationen waren somit ein zentrales Element der Informationsbeschaffung, der Disziplinierung und Normimplementierung der Kirche.16 Sie dienten auch als Kommunikationsforum, um Macht und Herrschaftsverhältnisse überhaupt zu etablieren.17 Üblicherweise gaben weltliche und kirchliche Obrigkeiten Instruktionen an eine Kommission, die sie mit den entsprechenden Vollmachten ausstatteten. Damit versehen bereiste die Kommission die für die Visitation vorgesehenen Orte oder Bezirke. Dort legte die Delegation einen Fragenkatalog vor18, die sogenannten Interrogatoria. Dieser Fragenkatalog wurde dann systematisch bei jedem Angehörigen der jeweiligen Institution abgearbeitet und darüber ein Protokoll erstellt. Besonderen Wert wurde darauf gelegt, die Visitationen regelmäßig und über einen längeren Zeitraum abzuhalten.19 In der Praxis liefen Visitationen in Kooperation von geistlicher Leitung und weltlicher Obrigkeit ab. Erst allmählich bemühte man sich um eine Trennung.20 In der Reformation wurde die Kirchenvisitation schließlich zum brauchbaren Instrument21 der kirchlichen Reform. Eine erste territorialstaatliche Kirchenvisitation gab es laut Zeeden/Lang 1527/28.22 Visitationen am Reichskammergericht gehörten zu diesem Zeitpunkt bereits zum Alltag. Schon 1495 bei der Gründung des Reichskammergerichts auf dem Reichstag zu Worms war klar, dass das Reichskammergericht einer Kontrollinstanz bedurfte. Die Rolle war ursprünglich dem Reichsregiment zugedacht. Nach dessen Scheitern übernahm der Reichstag die Rolle. Auf dem Konstanzer Reichstag von 1507 wurde beschlossen, am Ende eines jeden Jahres eine Rechnungsprüfung bezüglich des Unterhalts des Reichskammergerichts vorzunehmen. Diese Kommission sollte aus dem König, einem Kurfürsten und einem Fürsten bzw. deren Räten bestehen. Die Reichsstände konnten dann noch weitere Beteiligte durch-

15 Helga Schnabel-Schüle: Kirchenleitung und Kirchenvisitationen in Territorien des Südwestens. Repertorium der Kirchvisitationsakten. Bd. 2, Teilband II. Baden-Württemberg, Stuttgart 1987, S. 19. 16 Stefan Brakensiek/Thomas Simon: Artikel: „Visitation“, in: Enzyklopädie der Frühen Neuzeit, Bd. 14, Sp. 342–346, 343. 17 Helga Schnabel-Schüle: Kirchenvisitation und Landesvisitation als Mittel der Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertan, in: Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation im Mittelalter und Früher Neuzeit. Köln/Weimar/ Wien 1997 (Norm und Struktur, Bd. 7), S. 173–186, S. 173. 18 Brakensiek/Simon: Artikel: „Visitation“ (wie Anm. 16), Sp. 343. 19 Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang: Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa. Stuttgart 1984, S. 13. 20 Zeeden/Lang: Kirche und Visitation (wie Anm. 19), S. 14. 21 Zeeden/Lang: Kirche und Visitation (wie Anm. 19), S. 11. 22 Zeeden/Lang: Kirche und Visitation (wie Anm. 19), S. 9.

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setzen.23 Einen bestimmten Namen erhielt diese Kommission nicht. Sie gilt allerdings als die erste „Reichskammergerichtsvisitation“.24 Erst die Reichskammergerichtsordnung von 1521 bezeichnet unter dem Tit. 5 diese Art von Kommission als Visitation. Zentrale Rolle bei der Visitation sollte die Unterhaltssicherung des Gerichts und die Abstellung von Gebrechen und Notdurft spielen. Dabei zerfiel die Visitation in zwei Teile: zum einen handelte es sich um eine allgemeine Reichskammergerichtsvisitation, die von Stellvertretern des Reiches durchgeführt wurde, zum anderen um eine kurmainzische Visitation der Kanzlei,25 da die Kanzlei ja nicht dem Kaiser, sondern dem Erzkanzler von Mainz unterstand. Am Reichskammergericht gab es sogenannte ordentliche und außerordentliche Visitationen. Als ordentliche Visitationen wurden diejenigen bezeichnet, deren Zusammensetzung den Vorgaben der Reichsgesetze entsprach. Das bedeutete, dass nach einem bestimmten Schema Reichsstände für die Visitation abgeordnet wurden. Gesetzlich war zudem festgelegt, dass jede Visitation jährlich am 1. Mai beginnen sollte.26 Hierzu war keine gesonderte Beschlussfassung auf dem Reichstag notwendig. Bei einer ordentlichen Visitation nahmen auch Stände daran teil, die nicht dazu berufen waren. Die Visitation wurde zu einem reichsweiten Versammlungsort in Justizangelegenheiten. In der Literatur hat sich dafür der Begriff der „gemischten Visitation“ durchgesetzt.27 Im Gegensatz dazu musste eine außerordentliche Visitation auf dem Reichstag beschlossen werden. In diesem Fall konnten die Reichsstände, die die Visitation vornahmen, willkürlich gewählt werden. Für eine außerordentliche Visitation musste es einen besonderen aktuellen Anlass geben.28 Ordentliche Visitationen wurden im Gegensatz zu allen anderen Reichsversammlungen im 16. Jahrhundert regelmäßig zum 1. Mai eines jeden Jahres einberufen.29 Bemerkenswert dabei ist, dass die Reichskammergerichtsvisitationen die einzigen Reichsversammlungen waren, auf denen die Kurfürsten keine eigene Kurie bildeten. Die Gründe lagen wohl darin, dass jeweils nur zwei Kurfürsten an den Visitationen teilnahmen.30 So kamen jedes Jahr im Frühling acht Gesandt23 Mencke: Die Visitationen (wie Anm. 14), S. 7. 24 Brakensiek/Simon: Artikel: „Visitation“(wie Anm. 16), Sp. 345. 25 Dietrich Heinrich Ludwig von Ompteda: Geschichte der vormaligen Cammergerichtsvisitation und der Zweyhundertjährigen fruchtlosen Bemühungen zu dessen Wiederherstellung. Regensburg 1792, § 1. 26 Mencke: Die Visitationen (wie Anm. 14), S. 11. 27 Mencke: Die Visitationen (wie Anm. 14), S. 12. 28 Mencke: Die Visitationen (wie Anm. 14), S. 12. 29 Maximilian Lannziner: Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556–1586. Wetzlar 1995 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 17), S. 20. 30 Ebd.

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schaften des Kaisers und der Reichsstände in Speyer an. Für den Teilnehmerkreis sowie die Geschäftsordnung der Visitation waren frühere Regelungen von 1521, 1522 und 1548 maßgebend, die 1555 in der Reichskammergerichtsordnung zusammengefasst wurden.31 Sie galten dann bis zum Ende des Alten Reiches. Maßgebend für die Einladungen war das Visitationsschema von 1532, das jedoch 1566 vom Reichstag analog der Sessionsfolge am Reichstag geändert wurde.32 Der Mainzer Kanzler lud einen Kurfürsten und je einen geistlichen und einen weltlichen Fürsten nach Speyer, von denen im Wechsel einer persönlich kommen sollte. Außerdem schickten Prälaten, Grafen und Städte jeweils einen Gesandten.33 Damit waren alle ständischen Gruppen vertreten. Allerdings waren die Zeiträume, in denen ein bestimmter Reichsstand das Gericht besuchen konnte, beträchtlich. So erhielt ein Kurfürst nur alle fünf Jahre die Gelegenheit, nach Speyer zu reisen. Ein Reichsfürst musste dagegen 30 Jahre warten.34 Regelmäßige Visitationen fanden ab 1556 jährlich statt. Sie konnten bis zum Jahr 1588 bis auf die Jahre 1558, 1563, 1565/66 und 1582 ordnungsgemäß durchgeführt werden. Zuvor fielen die Visitationen aufgrund der Religionsauseinandersetzungen immer wieder aus oder wurden prolongiert. Visitationen in der Zeit der Ansiedlung des Gerichts in Speyer 1527 bis zum Augsburger Religionsfrieden wurden auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen Altgläubigen und Protestanten oft abgebrochen bzw. nach einem Abbruch wieder fortgesetzt. Ausnahme ist hier lediglich die Visitation von 1533.

3 Welche Rolle spielten nun die kaiserlichen Kommissare bei dieser wichtigen Reichsangelegenheit? Die kaiserlichen Kommissare waren die leitenden Visitatoren der Delegation, die das Reichskammergericht visitieren sollten, und vertraten den Kaiser während der Visitation. Sie waren Träger der königlichen Autorität und besaßen deshalb ein ausgeprägtes Selbstverständnis. Die Kaiserlichen Kommissare waren auch auf

31 Adolf Laufs: Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Köln/Wien 1976 (QFHG, Bd. 3). 32 Josef Leeb: Der Magdeburger Sessionsstreit von 1582. Voraussetzungen, Problematik und Konsequenzen für Reichstag und Reichskammergericht. Wetzlar 2000 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 24), S. 26. 33 Lanzinner: Reichsversammlungen und Reichskammergericht (wie Anm. 29), S. 20. 34 Lanzinner: Reichsversammlungen und Reichskammergericht (wie Anm. 29), S. 22.

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den Reichstagen anwesend.35 Kaiserliche Kommissare bildeten wichtige Brückenglieder in der Kommunikation zwischen Reichstag und Reichskammergerichtsvisitation und verbanden somit die Arbeit in beiden Institutionen. Meist erhielten die kaiserlichen Kommissare aus den Händen des Kaisers genaue Instruktionen für ihre Arbeit. Manchmal sahen die Instruktionen ausdrücklich Entscheidungsfreiheit vor. Dabei kontrollierten sich die Kommissare gegenseitig36 und versicherten sich beim Kaiser immer wieder über ihre weiteren Schritte. Man kann, so Pflüger, von einer „kreisförmigen Kommunikation“37 sprechen. Wichtige Informationen wurden an alle kaiserlichen Kommissare weitergeleitet. Auf Grund der Entfernungen und der Involvierung mehrerer Personen war das Kommunikationsnetz jedoch sehr anfällig für Störungen. Durch ihren direkten Kontakt zum Kaiser besaßen die Kommissare eine große Autorität und eine enorme Mobilität. Die Kommissare verhandelten während der Visitation vor Ort in Speyer im Sinne der kaiserlichen Instruktionen mit den Ständen und befragten die Angehörigen des Gerichts. Sie überwachten die Ausfertigung der offiziellen Protokolle, die im Mainzer Erzkanzlerarchiv im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien aufbewahrt sind. Zusätzlich verfertigten sie einen abschließenden Bericht an den Kaiser.38 Diese Berichte sind häufig nicht oder in geänderter Form in den Visitationsprotokollen des Mainzer Erzkanzleiarchivs enthalten. Sie befinden sich in den Beständen der Reichshofkanzlei im Österreichischen Haus- Hof- und Staatsarchiv in Wien.39 Man kann insgesamt sieben verschiedene Kategorien von Kommissaren unterscheiden. Es handelte sich dabei um Landvögte, Mitglieder der erbländischen Regierungen, königliche Hofräte und Geheime Räte sowie Mitglieder des Hofstaates. Auch Mitglieder des Reichskammergerichts wurden zu dieser Aufgabe herangezogen, ebenso habsburgische Amtsträger und süddeutsche Prälaten.40 Wichtig waren vor allem ihre Qualifikationen, wie juristische Kenntnisse und

35 Christine Pflüger: „vertreulich communiciren“ und handeln. Die kommissarisch entsandten Räte König Ferdinands als königliche Autoritätsträger, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/ Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG, Bd. 46), S. 291–334, S. 312 ff. 36 Ebd., S. 320 ff. 37 Christine Pflüger: Kommissare und Korrespondenzen. Politische Kommunikation im Alten Reich (1552–1558). Köln/Weimar/Wien 2005 (Norm und Struktur, Bd. 24), S. 189. 38 Ebd., S. 83 ff. 39 Siehe hierzu auch Sigrid Jahns, die auch auf Quellen in den Beständen der Reichshofkanzlei hinweist. Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26/I), S. 30. 40 Pflüger: Kommissare und Korrespondenzen (wie Anm. 37), S. 87 ff.  







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Erfahrungen mit der Materie. Die kaiserlichen Kommissare waren meist in zweier oder dreier Gruppen unterwegs.41

4 Die kaiserlichen Kommissare Die kaiserlichen Kommissare für die Reichskammergerichtsvisitation wurden sorgfältig durch den Kaiser ausgewählt. Visitatoren der Speyrer Frühzeit42 waren unter anderem Ulrich von Helfenstein und Marquart von Stein. Über Ulrich von Helfenstein ist sehr wenig bekannt. Wir wissen nur, dass er in Tübingen studiert hat und 1521 bereits für eine Assessorenstelle am Reichskammergericht vorgeschlagen worden war. Zwei Jahre später ist er als österreichischer und kaiserlicher Rat nachweisbar.43 Ulrich von Helfenstein fiel die Aufgabe zu, sich mit der Korruptionsaffäre Götz von Berlichingen zu befassen. Die Informationen zu Marquart von Stein, der Dompropst zu Bamberg und Würzburg war, sind dagegen umfangreicher. Stein war ein glänzender Verhandlungsführer, der eng in die Geschäfte des Schwäbischen Bundes involviert war44. Stein erschien auf Grund der räumlichen Nähe der Tagungsorte des Schwäbischen Bundes zu Speyer für besonders geeignet, die Visitationen am Reichskammergericht durchzuführen. Jedenfalls legt die kurzfristige Berufung Steins durch Karl V. am 26. April 1533 zum Kaiserlichen Kommissar für die Visitation am Reichskammergericht dies nahe.45 Der Beginn der Visitation war für den 1. Mai angesetzt. Marquart musste aber absagen und schrieb an Ulrich von Helfenstein als Begründung, dass sich doch dermassen Bundessachen hiezu (tragen), das ich von gegenwertigem Bundestag nit verreiten kann.46 Für Stein scheint dann kein Ersatz besorgt worden zu sein, so dass Helfenstein die Visitation allein durchführte. Die Episode zeigt auch, dass kaiserliche Kommissare gegenüber dem Kaiser und seinen Aufträgen einen bestimmten Ermessungsspielraum besaßen. Jedenfalls

41 Pflüger: Kommissare und Korrespondenzen (wie Anm. 37), S. 93. 42 Der Reichsabschied von 1532 hatte die Visitationen des Reichskammergerichts grundlegend neu geregelt. So wurde festgelegt, dass die Visitation alljährlich am 1. Mai stattfinden sollte. Sie sollte mit zwei kaiserlichen Kommissaren, Kurmainz, einem Kurfürst und je einem weltlichen und geistlichen Fürsten sowie Prälaten, Grafen und Städten stattfinden. Dabei sollte einer der weltlichen oder geistlichen Fürsten wechselweise in eigener Person erscheinen. Die übrigen Stände sollten einen Rat auf eigene Kosten schicken. Die Visitation sollte auch stattfinden, wenn Stände fehlten. Ompteda: Geschichte (wie Anm. 25), S. 37 ff. 43 Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 5, S. 81 § 101. 44 Horst Carl: Der Schwäbische Bund 1488–1534. Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 53 und S. 55. 45 ÖStA HHStA, MEA RKG 3, 26. April 1533. 46 ÖStA HHStA, MEA RKG 3, o.D.  

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hatte die Absage Steins keine erkennbaren Konsequenzen im Verhältnis zu Kaiser Karl V. Vielleicht waren die Angelegenheiten des Schwäbischen Bundes wichtiger. Marquard von Stein leitete jedoch die nächste Visitation von 1539. Nach 1539 ernannte Karl V. den Bischof Philipp von Speyer als Kommissar. Hier scheinen die genauen Kenntnisse der Situation vor Ort die entscheidende Rolle gespielt zu haben. Hinzu kam eine enge Vertrautheit und Rückhalt des Bischofs beim Kaiser47. Außerdem war Philipp zusammen mit dem Pfalzgrafen Johann von Pfalz-Simmern bereits 1531 und 1533 bei den Kammergerichtsvisitationen in seiner Funktion als Reichsstand anwesend gewesen.48 Er war also mit den Gepflogenheiten der Visitation bestens vertraut. Philipp war zudem gut mit den Pfälzer Kurfürsten bekannt, dessen Einfluss er im Bistum immer mehr zurückzudrängen suchte.49 Ein Grund mehr für Karl V., Philipp zu vertrauen. Der Bischof war zudem ein entschiedener Anhänger der alten Kirche und hielt regelmäßig Diözesansynoden ab. Trotz seiner Versuche, die desolaten Zustände beim Klerus zu beheben, setzte sich die lutherische Lehre fast in seinem gesamten Bistum immer stärker durch. Die dadurch zurückgehenden Einnahmen vergrößerten die Finanzprobleme für Diözese und Hochstift. Philipp von Speyer war in dieser prekären Situation auf den Kaiser angewiesen.50 Die engen Kontakte zum Kaiser und sein Dienst als Visitator des Reichskammergerichts lohnten sich jedoch. Mit Hilfe des Kaisers konnte Philipp 1546 die gefürstete Propstei Weißenburg erwerben und gewann dadurch eine zweite Reichstagsstimme.51 Sein politisches Gewicht wuchs. Seit Sommer 1552 verwüstete Markgraf Albrecht Alkibiades von Brandenburg durch seine Kriegszüge das Hochstift. Philipp musste flüchten und starb im Exil.52

47 Hans Ammerich: Philipp Freiherr von Flersheim, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Berlin 1996, S. 185–186, S. 185. 48 Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 5, S. 81 § 103 und S. 109 § 151. 49 Volker Press: Das Hochstift Speyer im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit – Porträt eines geistlichen Staates, in: ders. u. a. (Hrsg.), Barock am Oberrhein. Karlsruhe 1985 (Oberrheinische Studien, Bd. VI), S. 254. 50 Ammerich: Philipp Freiherr von Flersheim (wie Anm. 47), S. 186. 51 Ammerich: Philipp Freiherr von Flersheim (wie Anm. 47), S. 186. 52 Franz Xaver Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer, Bd. 2. Mainz 1854, ND Pirmasens 1975, S. 267–327; Hermine Stiefenhöfer: Philipp von Flersheim. Bischof von Speyer (1529–1552) und gefürsteter Propst von Weißenburg (1546–1552), München 1941 (Porträt); Lawrence G. Duggan: Bishop and Chapter. The Governance of the Bishopric of Speyer to 1552. Rutgers University Press 1978, S. 152–57; Gerhard Fouquet: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350– 1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde., Mainz 1987 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 57), besonders Bd. 2, Nr. 143; Ammerich: Philipp Freiherr von Flersheim (wie Anm. 47), S. 185.  

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Die Zeit zwischen 1534 bis 1544 bis zur Schließung des Gerichts war von zahlreichen Versuchen geprägt, ordentliche Visitationen durchzuführen. Sie wurden aber entweder ergebnislos abgebrochen oder vertagt. Bei all diesen Visitationen wirkte Philipp von Speyer als kaiserlicher Kommissar mit. Der Abbruch der Visitation von 1543 war eine Folge der Unstimmigkeiten um die Person des mainzischen Kanzlers Jakob Jonas.53 Karl V. legte das Gericht danach für rund 5 Jahre still.54 Erst nach der Neueröffnung des Gerichts im Jahre 1548 fanden wieder Visitationen statt. Philipp war auch 1550 und 1551 kaiserlicher Kommissar.55 Es lässt sich festhalten: In der Frühzeit der Speyrer Zeit bis zum Augsburger Religionsfrieden und der Neufassung der Reichskammergerichtsordnung 1555 war ein Kriterium für die Auswahl der kaiserlichen Kommissare durch Karl V. die räumliche Nähe der Kommissare zu Speyer. Die Kommissare waren mit den lokalen Gegebenheiten vertraut und bestens mit den politischen Kräften der Region vernetzt. Die Visitationen des Reichskammergerichts fanden unregelmäßig statt und wurden oft vertagt. Das Gericht hatte massive interne Probleme. Das Personal war korrupt, unzuverlässig und teilweise nicht qualifiziert. Nach dem Augsburger Religionsfrieden und der Abdankung Karls V. 1556 bekamen die kaiserlichen Kommissare eine andere Ausrichtung. Die Vertrautheit mit dem Gericht wurde nun ein immer entscheidenderes Kriterium. Ein besonders interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der kaiserliche Kommissar Wilhelm Werner Freiherr später Graf von Zimmern, der noch von Karl V. zum Visitator ernannt worden war. Zimmern kam bereits 1533 als Assessor an das Gericht, wurde Kammerrichter und resignierte 1556. Kaiser Karl V. hatte Zimmern nach seiner Resignation gebeten, das Reichskammergericht zusammen mit Abt Gerwig von Weingarten als kaiserliche Kommissare zu visitieren.56 Zimmern hatte zu Karl V. ein nicht ganz spannungsfreies Verhältnis. Grund hierfür

53 Siehe unten und Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 5, S. 154 § 229 und § 230. Philipp von Speyer ist auch 1551 und 1553 kaiserlicher Kommissar, ÖStA HHStA, MEA RKG 6, unfol. 54 Harpprecht sieht als Ursache für den Aufstieg des Reichshofrates den Stillstand des Reichskammergerichts in den Jahren 1544 bis 1548. Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 5, S. 161 § 244. Eine weitere Ursache dürfte auch die Anwesenheit Karls V. im Reich sein, der in dieser Zeit in Form des Reichshofrates eine neue Justizaufsichtsbehörde schuf. Eva Ortlieb: Vom königlichkaiserlichen Hofrat. Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527). Köln/Weimar/Wien 2002 (QFHG, Bd. 45), S. 221–289, S. 267. 55 Zu beachten ist hier, dass die Visitationen ab 1526 nie zu Ende geführt wurden. Erst 1531 kam es zu einem Bericht, der auf dem Reichstag 1532 vorgelegt wurde. Harpprecht, Teil 5, diskutiert in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Visitationen fortgeführt wurden oder es sich jedes Mal um eine neue Visitation handelte. Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 5, S. 80 § 100. 56 ÖStA HHStA, MEA RKG 4.

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waren Streitigkeiten des Gerichts mit Karl V. um seine Person. Der vormalige Kammerrichter Johann von der Pfalz war im Streit mit dem Kaiser überstürzt aus dem Amt ausgeschieden.57 Deshalb hatten sich die Richter des Gerichts selbst um einen geeigneten Nachfolger gekümmert. Sie wollten nicht auf die Entscheidung des Kaisers warten. Schließlich beschlossen sie, ihren Kollegen Wilhelm Freiherr von Zimmern zum Kammergerichtsamtsverwalter zu wählen.58 Dies geschah, obwohl Johann von Montfort den Posten des Kammerrichteramtsverwalters in Stellvertretung für den aus dem Amt ausgeschiedenen Adam von Beichlingen59 schon kurze Zeit im Jahre 1535 inne gehabt hatte.60 Normalerweise wurden der Kammerrichter und seine Stellvertreter durch den Kaiser ernannt. Die Beisitzer argumentieren jedoch, dass Montfort bereits aus dem Kammergericht ausgeschieden sei, und deshalb nur Zimmern, der sehr kompetent sei, übrig bliebe.61 Die Richter hatten mit dieser Ernennung eindeutig ihre Kompetenzen überschritten. Montfort war nicht bereit, einfach übergangen zu werden und reiste nach Brüssel, um seine Wiedereinsetzung als Kammerrichteramtsverwalter zu betreiben.62 Karl V. war mit dem Verhalten der Beisitzer nicht einverstanden. Er suspendierte Zimmern und setzte an seine Stelle Montfort unter heftigem Protest der Beisitzer als Kammerrichter ein.63 Wilhelm Werner von Zimmern hatte unter diesen Umständen das Nachsehen. Er gab sein Amt als Beisitzer auf und zog sich auf seine Güter zurück.64 Die Freiherren von Zimmern wurden in dieser Zeit in den Grafenstand erhoben. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen kann jedoch nur vermutet werden. Nach dem Tode von Montfort 1547 und der Neueröffnung des Gerichts 1548 erhielt Zimmern schließlich doch den Posten des Kammerrichters.65 Vollständig vertraut mit den Gepflogenheiten des Gerichts, erschien es nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wohl als eine besonders gute Wahl

57 ÖStA HHStA, RHK RKG 316, 1537, 1538. Ferdinand kritisiert den Bruder scharf, dass er Johann hat gehen lassen. 58 ÖStA HHStA, RHK RKG 316, 1538. 59 Karl-Heinz Burmeister: Graf Johann II. von Montfort-Rothenfels (ca. 1490–1547), in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 123 (2005), S. 44. Harpprecht behauptet, dass der Kammerrichter Pfalzgraf Johannes und auch Johann von Montfort wegen des Aufkommens der Syndikatsklagen resigniert hätten. Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 6, S. 130 § 187. Die Quellen weisen aber eindeutig auf die mangelnde Besoldung hin. 60 Burmeister: Graf Johann II. (wie Anm. 59), S. 33–57, S. 41. 61 ÖStA HHStA, RHK RKG 316. Siehe hierzu auch ÖStA HHStA, RHK RKG 317. 62 Burmeister: Graf Johann II. (wie Anm. 59), S. 46. 63 ÖStA HHStA, RHK RKG 317. Karl V. setzt Montfort im April 1541 ein. 64 Burmeister: Graf Johann II. (wie Anm. 59), S. 46. 65 Burmeister: Graf Johann II. (wie Anm. 59), S. 47.

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den in allen Belangen des Reichskammergerichts und der Rechtsprechung erfahrenen Zimmern als kaiserlichen Kommissar einzusetzen. Zumal er unter seinen Kollegen sehr großes Ansehen genoss.66 Der Graf hatte in Freiburg bei Ulrich Zasius studiert. Zimmern war allerdings nur 1556 kaiserlicher Kommissar. Danach ist er nicht mehr in Erscheinung getreten. Dies hängt wohl damit zusammen, dass Ferdinand 1558 die Nachfolge Karls V. im Reich antrat. Vor allem ab dem Kaisertum Maximilans II. 1564 und unter Kaiser Rudolph II. ab 1576 wird bezüglich der kaiserlichen Kommissare ein Rekrutierungsmuster immer deutlicher. Meist wurden jetzt drei bis vier kaiserliche Kommissare nach Speyer geschickt. Der überwiegende Teil der gräflichen Kommissare, meistens zwei, stammten nun aus dem neugegründeten Reichshofrat. Oft visitierten sie das Gericht mehrmals. Hier sei vor allem Christoph Philipp Zott von Pernegg genannt, der das Gericht insgesamt mindestens sieben Mal visitierte.67 Zott von Pernegg stammt aus Tirol. Er war ab 1559 Mitglied des Reichshofrates und starb 1579.68 Der Tiroler hatte wohl kaum Beziehungen zum Reich und zum Gericht. Bei einem anderen Visitator ist dies dagegen eher der Fall. Eitel Friedrich Graf zu Hohenzollern visitierte das Gericht mindestens fünf Mal.69. Seine Familie war eng mit dem Reichskammergericht verbunden, da der erste Kammerrichter aus dem Hause Hohenzollern stammte. Ihnen zur Seite wurde dann in der Nachfolge des Bischofs Philipp von Speyer der seit 1560 neue Bischof von Speyer, Marquard von Hattstein, gestellt,70 der auch schon für Mainz visitiert hatte.71 Hattstein war sehr eng mit Kaiser Maximilian II. befreundet und hatte in seinem Auftrag die Kurfürstenversammlung in Fulda zusammen mit Dr. Timotheus Jung und Dr. Ilsung besucht. Als kaiserlicher Kommissar weilte er neben Graf Ulrich von Montfort auf dem Reichsdeputationstag im April 1569.72 Zusammen mit Zott von Pernegg war Philipp Freiherr von Winneburg 1569 und 1570 kaiserlicher Kommissar. Winneburg hatte ab 1563 das Amt des Reichshofratspräsidenten inne, so dass nun zwei Reichshofräte das Gericht visitierten. Ferdinand I. hatte ihn zum Reichshofratspräsidenten ernannt.73 Winneburg be-

66 Harpprecht: Staats=Archiv (wie Anm. 8), T. 6, § 55. Nicht zuletzt beweist dies ja auch seine Wahl zum Kammerrichteramtsverwalter durch die Angehörigen des Gerichts. 67 1561, 1562, 1563, 1564, 1567, 1568, 1569. ÖStA HHStA, MEA RKG 6. 68 Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Wien 1942, S. 100. 69 In den Jahren von 1575 bis 1578 und 1582. 70 ÖStA HHStA, RKG 6: 1565, 1567, 1568. 71 ÖStA HHStA, MEA RKG 6. Es war im Jahr 1557. 72 Heinz Peter Mielke: Die Niederadeligen von Hattstein. Ihre politische Rolle und soziale Stellung. Wiesbaden 1977, S. 302 f. 73 Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 68), S. 105.  

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kleidete diesen Posten bis zum Tode Maximilians II. 1576. 1570 war Winneburg gleich in mehreren unterschiedlichen Funktionen in Speyer. Zum einen weilte er als kaiserlicher Kommissar ab dem 1. Mai in der Stadt, ab Juli dann in seiner eigentlichen Funktion als Angehöriger des Reichshofrats74. Ab diesem Zeitpunkt fand nämlich der Reichstag in Speyer statt. Da der Reichshofrat den Kaiser auf allen seinen Geschäften immer begleitete, tagte auch der Reichshofrat in Speyer. Reichskammergericht und Reichshofrat waren über seine Person und den Ort Speyer sehr eng miteinander verbunden.75 Bedenkt man, dass in Speyer in diesem Zeitraum auch der Reichstag tagte, so kann man gerade für diese Monate die zentrale Position der Reichsstadt Speyer im Reichsgefüge deutlich erkennen. Unter Kaiser Rudolf II. wechselte Winneburg 1582 die Institution. Rudolf II. ernannte ihn zum neuen Kammerrichter. Rudolf brauchte einen engen Verbündeten in der Reichsstadt Speyer. Handelte es sich um eine Vereinnahmung des Reichskammergerichts durch den Reichshofrat? Diese Frage kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden. Es zeigt jedenfalls die besondere Bedeutung des Kammerrichteramtes und seine Nähe zum Kaiser, die in der Forschung bis jetzt noch nicht richtig wahrgenommen und gewürdigt wurde.76 Es ist aber auch ein Beispiel für den Funktionswechsel hochspezialisierter Juristen aus dem adeligen Milieu. Gleichzeitig wird an diesem Beispiel klar, dass das Verhältnis Reichskammergericht und Reichshofrat zukünftig weit stärker über die Akteure untersucht werden muss, als dies bisher der Fall war. Die Untersuchung formaler Kriterien und gesetzliche Regelungen reichen nicht, wenn man die Rolle von Reichskammergericht und Reichshofrat in der Verfassungsgeschichte des Reiches untersuchen will. Volker Press und Peter Moraw haben dies schon 1975 gefordert.77

74 Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Mainz 2006, S. 20. Während des Reichstages war der Reichshofratspräsident nicht der Vorsitzende des Gerichts. Siehe hierzu S. 38. 75 Ullmann: Geschichte auf der langen Bank (wie Anm. 74), S. 27. Während der Reichstage hielt der Reichshofrat außerordentliche Sitzungen ab. Siehe hierzu auch die Aufsätze von Eva Ortlieb und Gabriele Haug-Moritz im gleichen Band. 76 Die Kammerrichter der Speyerer Zeit haben bis jetzt noch kein Forschungsinteresse gefunden. Die Kammerrichter von Wetzlar wurden in einer Dissertation untersucht. Die Veröffentlichung steht zur Zeit der Drucklegung noch aus. Siehe hierzu Maria von Löwenich: Der Kammerrichter Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein, in: Anette Baumann/Anja Eichler/Stefan Xenakis (Hrsg.), Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in Wetzlar. Petersberg 2012, S. 28–35. 77 Peter Moraw/Volker Press: Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 2 (1975), S. 95–107.

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Betrachtet man die bürgerlichen kaiserlichen Kommissare, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch sie sind ab den 1560er Jahren ausnahmslos Mitglieder des Reichshofrates. Hier seien nur beispielhaft wenige genannt. Johann Ulrich Zasius wird seit neustem in einer Monographie gewürdigt.78 Zasius kannte das Gericht aus eigener Anschauung, da er für verschiedene Parteien am Gericht sollicitierte. Daneben beriet Zasius auch zusammen mit dem Kaiser über die Besetzung des Kammerrichteramtes. So verhandelte er mit dem Markgrafen von Baden-Baden und Graf Friedrich von Löwenstein.79 Zasius übernahm die Visitationen des Reichskammergerichts sehr ungern.80 Ein weiteres Beispiel ist Dr. Thimotheus Jung. Jung war zuerst brandenburgischer Rat gewesen81 und hatte als Gesandter den Augsburger Reichstag von 1549 besucht. Er vertrat Österreich bei fast allen Reichstagen82 und trat schließlich, als er in kaiserliche Dienste gelangte, zum Katholizismus über. Hier zeigt sich wieder: kaiserliche Kommissare waren die Schnittstelle zwischen Reichstag, Reichskammergericht und Reichshofrat. Die Liste ließe sich weiter fortführen. Festzuhalten bleibt: Die kaiserlichen Kommissare sind oft mehrmals als Visitatoren tätig. Ab den 1570er Jahren handelte es sich vorwiegend um erfahrene Reichshofräte, die oft auch bei den Reichstagen anwesend waren. Spätestens nach dem Regierungsantritt Kaiser Rudolfs II. wurde dass das Reichskammergericht durch den Reichshofrat visitiert. Die Visitation des Reichskammergerichts in Speyer wird zum juristischen Gipfelort bei dem sich Reichshofräte und Richter des Reichskammergerichts regelmäßig begegneten.

5 Wie sah nun die Arbeit der kaiserlichen Kommissare aus? Die kaiserlichen Visitatoren moderierten die Visitationen. Sie beaufsichtigten den genauen Ablauf, besprachen zusammen mit den anderen Visitatoren den Fragen-

Siehe auch Peter Moraw: Personenforschung deutsches Königtum, in: ZHF 2 (1975), S. 7–18, besonders S. 7 und S. 13. 78 Anja Meußer: Für Kaiser und Reich. Politische Kommunikation in der frühen Neuzeit. Johann Ulrich Zasius (1521–1570) als Rat und Gesandter der Kaiser Ferdinand I. und Maximilian II. Husum 2004. 79 Meußer: Für Kaiser und Reich (wie Anm. 78), S. 180 ff. 80 Meußer: Für Kaiser und Reich (wie Anm. 78), S. 182. 81 Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 68), S. 113. 82 Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 68), S. 113.  

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katalog und befragten dann nach einem bestimmten Schema die Angehörigen des Gerichts. Begonnen wurde mit dem Kammerrichter und geendet mit den Advokaten. Die Kanzlei des Gerichts wurde genauso geprüft, obwohl sie dem Erzkanzler des Reiches und nicht dem Kaiser unterstand. Ein wichtiger Faktor war auch die Rechnungsprüfung, vor allem in den 1530er und 1540er Jahren, als die Finanzierung des Gerichts oft nur für einen kurzen Zeitraum gesichert war. Die kaiserlichen Kommissare zeigten sich aber auch in außergewöhnlichen Situationen besonders geschickt und beherrschten das Metier einen gekonnten Verhandlungsführung. Ein Beispiel hierfür ist der eingangs erwähnte Korruptionsvorwurf an den kaiserlichen Fiskal, der sich durch hartnäckige Fragen der Visitatoren an die Richter schließlich erhärten ließ. Hier zeigt sich ein unterschiedliches Bild. So bestritten die adeligen Assessoren wie von Hürnheim vehement die Bestechungsversuche des Reichsritters.83 Letztendlich ist entscheidend, dass die beiden kaiserlichen Kommissare Karl V. die sofortige Entlassung des Fiskals Caspar Mart und des Kammerrichters von Beichlingen nahe legten, auch wenn sie im Falle Marts nur in einer Suspendierung endeten und Beichlingen zuerst einmal nur einen Beisitzer als Dolmetscher zur Seite gestellt bekam. Der Kaiser war also sehr vorsichtig in dieser Hinsicht, während sich jedoch der überragende Einfluss der kaiserlichen Kommissare zeigte, die vor allem auch nicht davor zurückscheuten Entscheidungen des Kaisers zu kritisieren. An- oder Abwesenheit84 bestimmter Personen bzw. ihre Eignung für die Visitation beschäftigte die Kommissare auch noch in den 1540er Jahren. Am Beispiel des Streites um die Anwesenheit von Jakob Jonas lässt sich die Arbeitsweise der kaiserlichen Kommissare noch genauer verfolgen. Jakob Jonas war nach dem Theologiestudium in Wittenberg und den juristischen Studien in Tübingen ab dem Januar 1538 Beisitzer am Reichskammergericht für den fränkischen Kreis.85 Er blieb dort bis zum April 1541. Schließlich wechselte Jonas seinen Posten und wurde Kanzler des Mainzer Erzbischofs. Jonas, der auch den Reichstag zu Regensburg 1541 besucht hatte, pflegte seit diesem Zeitpunkt enge Beziehungen zu den Jesuiten.86 1543 sollte Jonas auf der Reichskammergerichtsvisitation als Vertreter des Mainzer Erzkanzlers auftreten. Während sich die Visitierenden, also die Angehö-

83 ÖStA HHStA, RHK RKG 316. 84 Allgemein hierzu Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014. 85 Karl Heinz Burmeister: Jakob Jonas. Humanist und Staatsmann, in: Schriften des Bodensees und seiner Umgebung 89 (1971), S. 83–94, S. 84 f. 86 Ebd., S. 89.  

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rigen des Gericht, mit der Anwesenheit des mainzischen Kanzlers einverstanden erklärten, protestierten vor allem die Visitatoren von Kursachsen und Kurpfalz energisch gegen die Funktion des mainzischen Kanzlers als Visitator. Sie warfen ihm vor, Urteile im Sinne der Altgläubigen gesprochen zu haben und deshalb nicht als Visitator tätig sein zu können.87 Außerdem befürchteten sie, dass er als Visitator ehemalige Kollegen begünstigen könne und die Visitation nach seinen Vorstellungen beeinflussen wolle. Es kam zu heftigen Diskussionen und Umfragen, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden müssen.88 Die kaiserlichen Kommissare waren dabei immer sehr um Ausgleich und Kompromiss bemüht. Sie moderierten, bezogen aber niemals eine Position. Schließlich wurden die Visitation und ihre Funktion in Frage gestellt und die Diskussion glitt in das Grundsätzliche ab. Auch die Reichskammergerichtsangehörigen diskutierten mit. Sie erklärten, dass sie auf jeden Fall für die Befragung zur Verfügung stünden und bezogen insoweit Position, dass sie die Anwesenheit von Jonas für gerechtfertigt hielten.89 Jonas lenkte schließlich nach Rücksprachen zum Teil ein, indem er versprach, wenn über die Urteile verhandelt würde, er nicht dabei sein würde.90 Damit war die Diskussion jedoch nicht beendet. Teile der Visitatoren wünschten, die Angelegenheit dem Kaiser direkt vorzutragen. Die kaiserlichen Kommissare wollten dies überlegen, unter der Bedingung, dass die Visitatoren bis zu einer Antwort des Kaisers in Speyer blieben. Sie hatten den Auftrag, die Visitation trotz Schwierigkeiten durchzuführen. Der Visitation drohte das vorzeitige Aus. Schließlich kam eine Resolution des Kaisers an, der wiederum auf die Handlungsmaxime der kaiserlichen Kommissare verwies. Intern hatte der Kaiser geäußert, dass er den canzler (Jakob Jonas) bei der Visitation wohl leiden möge91. Außerdem bekannte er, dass er die Argumente der augsburgischen Religionsverwandten nicht so ganz verstünde.92 Es folgen weitere Diskussionen. Die Visitation wurde letztendlich trotz aller Bemühungen abgebrochen. Jonas schadete die Auseinandersetzung nicht. Er war im kaiserlichen Dienst hoch angesehen und wurde ab 1556 Reichsvizekanzler.93

87 Ebd., S. 89. 88 ÖStA HHStA, MEA RKG 3. 89 ÖStA HHStA, MEA RKG 3. 90 ÖStA HHStA, MEA RKG 3. 91 ÖStA HHStA, RHK RKG 317. 92 ÖStA HHStA, RHK RKG 317. 93 Burmeister: Jakob Jonas (wie Anm. 85), S. 93; siehe auch: Anette Baumann: Die Reichsvizekanzler im 16. Jahrhundert – eine erste Annäherung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 64 (2016), S. 261–279, S. 268 f.  

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6 Zusammenfassung In der Anfangszeit in Speyer mussten die kaiserlichen Kommissare ein Gericht visitieren, das zum Teil unqualifiziertes Personal beschäftigte und auch teilweise korrupt war. Karl V. war viel daran gelegen, dass diese Behörde funktionierte und schickte deshalb Personal, das exzellent in der Region vernetzt war und ihm gegenüber unbedingt loyal handelte. Die kaiserlichen Kommissare scheuten sich aber nicht, dem Kaiser seine eigenen Fehleinschätzungen aufzuzeigen und auch ungeliebte Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. So wurden schließlich der Kammerrichter Adam von Beichlingen und der Fiskal Caspar Mart entlassen und durch geeignetere Kräfte ersetzt. Unter Maximilian II. und Rudolf II. ändert sich die Besetzung. Nach dem Augsburger Religionsfrieden hatte sich das Reichskammergericht stabilisiert und verrichtete die ständig anwachsende Arbeit nach besten Kräften. Das Verfassungsgefüge hatte sich jedoch verändert. Es war eine neue Behörde, der Reichshofrat geschaffen worden, die – jedenfalls unter Maximilian II. und Kaiser Rudolph II. – auch das Reichskammergericht kontrollierte. Der Kaiser hatte so eine besonders engmaschige Überwachung. Auf der personellen Ebene arbeiteten Kaiser und beide Behörden eng zusammen. Der Reichshofrat war zur Justizaufsichtsbehörde geworden.94 Die kaiserlichen Kommissare waren wiederum meistens auch auf den Reichstagen anwesend. Hier bietet sich auch der Anknüpfungspunkt zu Speyer. Speyer war zur Zeit der Reichstage juristischer und politischer Mittelpunkt des Reiches.

94 Siehe hierzu auch die Anmerkungen von Eva Ortlieb, die diese Entwicklung schon für die Regierungszeit unter Karl V. feststellt. Anhand der Visitationsakten zum Reichskammergericht kann dies für diese Zeit nicht nachgewiesen werden, was aber auch damit zusammenhängt, dass das Reichskammergericht durch Karl V. in den 1540er Jahren zeitweise geschlossen wurde. Hier zeigt sich, dass die These Eva Ortliebs sich verstärkt für die nachfolgenden Kaiser verwenden lässt. Ortlieb: Vom königlich-kaiserlichen Hofrat (wie Anm. 54), S. 267.

II Die Reichsstadt Speyer

Joachim Kemper

Die Reichsstadt Speyer zu Beginn der Frühen Neuzeit Ein wenig bekanntes Kapitel der Stadtgeschichte im Überblick1

1 Von „Stillstand“ und „Ruhige[n] Zeiten“ (Einleitung) Im Folgenden wird ein kleiner Überblick zur frühneuzeitlichen Geschichte der Freien Reichsstadt Speyer geboten. Die eigentliche Blüte der am nördlichen Oberrhein gelegenen Stadt wird ja gemeinhin bereits mit dem mittelalterlichen Herrscherhaus der Salier verbunden. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf dem 16. und 17. Jahrhundert, als Speyer das Reichskammergericht in seinen Mauern beherbergte. War Speyer in diesen beiden Jahrhunderten geprägt von einer Phase des „Stillstands“ (um nicht zu sagen: eines schleichenden Niedergangs) und der „Alltäglichkeiten“? Dieser Eindruck entsteht schnell, wenn man sich mit der älteren (und auch neueren) stadthistorischen Literatur in Speyer beschäftigt. Entsprechende Beiträge, beispielsweise in der grundlegenden dreibändigen Stadtgeschichte der 1980er Jahre,2 tragen solcherart Betitelungen wie: „Alltag in einer Zeit des Friedens 1570–1620“. Kapitel von Beiträgen handeln von „Ruhige(n) Zeiten“ oder davon, dass das „RKG weiter in Speyer residiert“ habe.3 Dennoch muss man gerade im Fall der dreibändigen Stadtgeschichte einräumen, dass im Nachtragsband (1989) das Reichskammergericht einen eigenen Beitrag erhalten

1 Der folgende Text basiert auf dem gleichnamigen Vortrag in Speyer am 15. Oktober 2015. Für den Druck wurde er leicht überarbeitet und mit den wichtigsten Nachweisen versehen. Die Folien des damaligen Vortrags sind im Internet abrufbar: http://de.slideshare.net/JoachimKemper/vortrag-die-reichsstadt-speyer-zu-beginn-der-frhen-neuzeit (aufgerufen am 17. Januar 2016). 2 Wolfgang Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bde. 1–2. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982 (2. durchges. Aufl.: jeweils 1983); ders. (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3. Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1989. Darin: Willi Alter: Von der Konradinischen Rachtung bis zum letzten Reichstag in Speyer (1420/22–1570), in: Eger (Red.), Geschichte Speyer, Bd. 1, S. 369–570 (v.a. Kap. 5); Norbert Ohler: Alltag in einer Zeit des Friedens, in: ebd., S. 571–655. 3 „Das Reichskammergericht residiert weiter in Speyer“ (Alter: Von der Konradinischen Rachtung, Kap. 5c, S. 537–540) bzw. „Ruhige Zeiten für Stadt und Bürger“ (Ders.: Kap. 5f, S. 547–550).

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hat:4 Der Text von Willi Alter breitet zwar letztlich über mehrere Seiten vor allem Schlägereien und Tumulte unter Beteiligung des Gerichts und seiner Angehörigen aus, aber es wird durch den schieren Umfang des Textes auch deutlich gemacht, dass die kaum fünf Seiten zum Gericht in der ersten Auflage der Stadtgeschichte doch als deutlich zu wenig erachtet worden waren. Alter verweist bedauerlicher Weise „fachjuristische Fragen“5 in den Bereich der (Allgemeinen) Rechtsgeschichte, so dass der Ertrag des Beitrags letztlich einseitig erscheint. In anderen Überblickswerken werden die Jahrzehnte vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges auch schon mehr oder weniger übersprungen – was sicherlich in nicht wenigen Fällen auch der üblichen Schwerpunktsetzung (Mittelalter und Salier/Dombau, Reformation, Stadtzerstörung 1689 usw.) bzw. der beschränkten Seitenzahl geschuldet ist.6 War Speyer, um auf die einleitende Frage zurück zu kommen, zwischen den Jahrzehnten der Reformation sowie der (Speyerer) Reichstage und den im Stadtbrand von 1689 gipfelnden Verheerungen geprägt von einem Zustand der Passivität und einer selbstzufriedenen reichsstädtischen Beschränkung? War die einst so stolze Stadt in einen Zustand der schleichenden Agonie und des Verfalls übergegangen? Vieles, was wir bis heute über den Niedergang der deutschen Städte, und der Reichsstädte zumal, in der Frühen Neuzeit zu wissen meinen, folgt anachronistischen Geschichtsbildern. Die Quellenlage für eine intensivere Erforschung der Speyerer Geschichte, auch bezüglich der Frühen Neuzeit, ist relativ gut: Die umfangreiche, aber in den letzten Jahrzehnten wenig für größere Recherchen oder Forschungsarbeiten herangezogene reichsstädtische Überlieferung im Speyerer Stadtarchiv kann als eine sehr dichte kommunale Überlieferung angesehen werden. Weder der derzeitige Stand der Erschließung, der weitgehend dem 19. Jahrhundert entstammt und eigentlich unzureichend ist, und noch viel weniger die wissenschaftliche Nachfrage entsprechen bislang der Bedeutung und Reichhaltigkeit der reichsstädtischen Überlieferung. Immerhin darf das Stadt-

4 Willi Alter: Die Reichsstadt Speyer und das Reichskammergericht, in: Eger (Red.), Geschichte Speyer (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 213–289. 5 Ders.: Speyer und das Reichskammergericht (wie Anm. 4), S. 217. 6 Gute neuere Zusammenfassung der Stadtgeschichte: Hans Ammerich: Kleine Geschichte der Stadt Speyer. Karlsruhe 2008. Eine ältere Zusammenfassung (in mehreren Aufl.) liegt vor von Fritz Klotz: Speyer. Kleine Stadtgeschichte. Speyer 1971 u.ö. (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, H. 2; zuletzt: 5. erw. Auflage 2008). Wichtig zu vielen Aspekten zuletzt der Beitrag von Paul Warmbrunn: Speyer, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hrsg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 3. Nürnberg/ Würzburg/Berlin 2012, S. 1787–1832. Ergänzend auch zuletzt: Kurt Andermann (Hrsg.), Bürger – Kleriker – Juristen. Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten. Ostfildern 2014 (darin vor allem die Beiträge von Kurt Andermann sowie Anette Baumann).

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archiv von sich behaupten, umfangreich wie nur wenige andere vergleichbare Archive in den letzten Jahren für digitale Präsentationen bzw. einen (auch) digitalen „Lesesaal“ gesorgt zu haben, stehen doch zahlreiche Akten und Amtsbücher des reichsstädtischen Archivs auch online zur Einsichtnahme bereit.7

2 Kaiser und Reich – Reichsstadt Speyer Eine kurze Beschreibung der frühneuzeitlichen Stadt Speyer kann nicht umhin kommen, zunächst auf deren Stellung als unmittelbar dem Reich unterstehende Freie Reichsstadt einzugehen. Die Speyerer Bürgerschaft, die bereits im frühen 12. Jahrhundert durch den Salierkaiser Heinrich V. grundlegende Privilegien erhalten hatte,8 erkämpfte sich in langwierigen Auseinandersetzungen mit dem bischöflichen Stadtherrn bis zum Ende des 13. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit. Diese bewahrte sie sich auch in den auf den ersten Blick verwirrenden Differenzen mit Bischof und Domkapitel sowie mit weiteren Territorialnachbarn (allen voran die Kurpfalz) – und trotz gravierender innerstädtischer Auseinandersetzungen – bis zum Ende des Alten Reiches.9

3 Speyer: Ein Zentralort des Reiches Speyer war im späten Mittelalter Veranstaltungsort von Reichstagen und Zusammenkünften der Reichsstädte (Städtetage). Die Stadt spielte, zeitweise wenigstens, unter den Kommunen des Reiches eine aktive Rolle. Die reichischen Beziehungen des 15. Jahrhunderts etwa können nicht nur anhand der überregionalen machtpolitischen Mitwirkung von Bürgermeistern und Rat nachgezeichnet werden, sondern manifestieren sich auch im umfangreichen schriftlichen Niederschlag in den Akten- und Amtsbuchbeständen des Stadtarchivs Speyer. Ein gutes Beispiel ist dabei die Überlieferung des Habsburger-Kaisers Friedrich III. (1440– 1493): Mehr als zweihundert Urkunden und andere Schreiben des Herrschers

7 Eine Übersicht zu den verschiedenen digitalen Präsentationen des Stadtarchivs sowie zu den Online-Findmitteln findet sich auf der Internetpräsenz des Stadtarchivs, http://www.stadtarchiv. speyer.de (→ Unterseite Digitale Präsentationen) (aufgerufen am 9. Januar 2016). 8 Dazu sowie zum Speyerer (Salier-)Jubiläumsjahr 2011 zuletzt z. B. der umfangreiche Katalog zur gleichnamigen Ausstellung: Die Salier. Macht im Wandel, 2 Bde. München 2011. 9 Hierzu die entsprechenden Beiträge von Alter bzw. Ohler (wie Anm. 2) sowie Ernst Voltmer: Von der Bischofsstadt zur Reichsstadt. Speyer im Hoch- und Spätmittelalter (10. bis Anfang 15. Jahrhundert), in: Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 249–368.

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werden im Stadtarchiv verwahrt. Zu dieser beispielhaft hier angeführten kaiserlichen Überlieferung gesellt sich noch die (weit umfangreichere) Korrespondenz der Stadt und ihrer Gesandten in Reichssachen während der Regierungszeit des Habsburgers.10 Speyer fungierte wenig später, im beginnenden Zeitalter der Reformation und Glaubenskämpfe, nochmals als einer der zentralen Orte des Reiches: Reichstage, die für die Entwicklung der Reformation einschneidend wurden, fanden beispielsweise in den Jahren 1526 und 1529 in Speyer statt (die „Protestation“ von Fürsten und Reichsstädten von 1529 wurde namengebend für den „Protestantismus“); weitere Reichstage folgten. Neben den großen Reichsversammlungen tagten auch mehrfach Reichsdeputationen, reichsständische Ausschüsse, in Speyer.11 Die Quellen im Stadtarchiv Speyer geben einen guten Einblick in die Einbindung der Stadt in die Reichspolitik (z. B. Beschickung von Reichstagen, Gesandtenwesen usw., später auch: Immerwährender Reichstag). Aber auch eine mehr symbolische Ebene findet Berücksichtigung, werden doch die Zeremonien bei Ereignissen wie Wahl oder Tod des Reichsoberhaupts genauso dokumentiert wie sich in größerem Umfang nach den einzelnen Kaisern geordnete Korrespondenzen finden. Auch die Herrschergräber im Dom zu Speyer, unter denen sich ja mit den Königen Rudolf I. und Albrecht I. († 1291 bzw. 1308) zwei Gründergestalten des Hauses Habsburg befanden, blieben über Jahrhunderte im Fokus des Wiener Hofes der Habsburger.12  

10 Joachim Kemper: Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) nach Archiven und Bibliotheken geordnet, Heinrich Koller/Paul-Joachim Heinig/Alois Niederstätter (Hrsg.), Heft 17: Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken der Stadt Speyer. Wien/Weimar/Köln 2002, S. 7– 14. 11 Nicht umsonst hatte sich ja die heutige Stadt zuletzt entschlossen, im Rahmen der Lutherdekade und gemeinsam mit der Protestantischen Landeskirche einen umfangreichen virtuellen Stadtführer namens „Speyer, Stadt der Protestation“ herauszugeben. Die kostenlose APP, die vom Stadtarchiv und der Landeskirche erarbeitet worden ist, enthält auch Informationen zum Reichskammergericht und den ebenso aus dem Stadtbild verschwundenen Stätten des Reichstags der Protestation. Abrufbar unter http://play.google.com/store/apps bzw. unter http://www. apple.com/de/itunes/ (→ Speyer: Stadt d. Protestation) (aufgerufen am 9. Januar 2016). 12 Zu diesem bisher wenig beachteten Aspekt zuletzt zusammenfassend: Joachim Kemper: Kaiser Rudolph von Habsburg an Kaiser Franz Josef von Österreich – Zur Nachwirkung der Speyerer Kaisergräber im Haus Habsburg, in: Helge Wittmann (Hrsg.), Reichszeichen. Darstellungen und Symbole des Reichs in Reichsstädten (2. Tagung des Arbeitskreises „Reichsstadtgeschichtsforschung“ Mühlhausen 3. bis 5. März 2014). Petersberg 2015 (Studien zur Reichsstadtgeschichte, Bd. 2), S. 255–266.

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4 Speyer und das Reichskammergericht Das zwischen 1527 und 1689 in Speyer tagende Reichskammergericht ermöglicht es, Speyer als herausragenden juristischen und politischen Treffpunkt bzw. als einen Zentralort des Reiches zu charakterisieren. Die umfangreichen Archivalien im Stadtarchiv Speyer, die sich mit dem Reichskammergericht und den Beziehungen der Speyerer zum Gericht und dessen Angehörigen auseinandersetzen, verdeutlichen, welche Rolle das Reichskammergericht in der Stadt und im Hinblick auf die Bürgerschaft selbst spielte.13 In bisherigen stadtgeschichtlichen Publikationen wird, dies muss eingeräumt werden, stattdessen eher anekdotenhaft und bunt-variantenreich auf die zahlreichen mehr oder weniger gewaltsamen Auseinandersetzungen hingewiesen – als Beispiel seien die Schlägereien zwischen Speyerer Handwerksgesellen und Dienern des Gerichts angeführt, die eben auch in die städtischen Akten Eingang fanden: Durchaus unterhaltsame Geschichten, aber kaum mehr. Allerdings haben diese kleinen „Stories“ in der lokalen Forschung lange Zeit das Bild des Gerichts in Speyer geprägt. Dazu kommt natürlich, dass die Erinnerung an das Gericht in Speyer bekanntlich eine schwierige ist: Aufgrund der folgenreichen Zerstörung der Stadt im Jahr 1689 durch französisches Militär finden sich im Stadtbild keine Spuren des Gerichts mehr.14 Ähnlich ist die Lage bei den schriftlichen Veröffentlichungen. Zu Speyer existiert neben kleineren Schriften und Beiträgen lediglich die bereits genannte Stadtgeschichte in drei Bänden aus den Jahren 1982 bis 1989.15 Darin wird das Reichskammergericht als zweifellos wichtige Institution innerhalb der Stadt an verschiedenen Stellen thematisiert. Letztlich wird in den einschlägigen Beiträgen aber das Alleinstellungsmerkmal der Reichsstadt Speyer als Zentralort des Reiches nur wenig erkannt, vielmehr werden die Quellen nur, wie eben beschrieben, in Hinsicht auf ihre Anekdotentauglichkeit ausgewertet. Weitere Stadtgeschichten zu Speyer existieren vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, teilweise in ungedruckter Form. Jüngere Zusammenfassungen der Geschichte der Stadt Speyer können verständlicher Weise nur einen kursorischen Überblick bieten, der teils auf älteren Beiträgen aufbaut.16

13 Die entsprechenden Akten des reichsstädtischen Archivs (Stadtarchiv Speyer, Bestand 1A) sind vor mehreren Jahrzehnten einer vertieften Erschließung unterzogen worden; sie heben sich damit vom sonstigen, „flachen“ Verzeichnungsstand der reichsstädtischen Archivalien ab; dieser entstammt noch dem 19. Jahrhundert. 14 Hierzu der Beitrag von Anja Rasche im vorliegenden Band. 15 Eger (Red.), Geschichte Speyer (wie Anm. 2). 16 Siehe auch Anm. 6.

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Zu den Arbeiten, die in früheren Jahrzehnten im Stadtarchiv Speyer geleistet wurden, zählte nicht nur eine vertiefte Erschließung der RKG-Betreffe des reichsstädtischen Aktenbestandes, sondern auch der Aufbau einer handschriftlichen Personenkartei zum Reichskammergericht (einsehbar bis heute im Lesesaal des Stadtarchivs). Günther Groh, langjähriger Mitarbeiter des Archivs, publizierte im Jahr 1971 einen nicht unwichtigen familien- und besitzgeschichtlichen Band, der auf der genannten Kartei basierte.17 Zu den Aktivitäten der letzten Jahre im Stadtarchiv zählte, neben der Mitarbeit an einem umfangreichen wissenschaftlichen Projektantrag (Verf., gemeinsam mit Anette Baumann), namentlich die Erarbeitung und Konzeption einer modernen Dauerausstellung zum Speyerer Reichskammergericht, die im Jahr 2014 im Altpörtel, dem ehemaligen Hauptturm der inneren Stadtbefestigung, eröffnet werden konnte.18 Der Blick auf Speyer als Freie Stadt und zentraler juristischer Anlaufpunkt im 16. und 17. Jahrhunderts sei an dieser Stelle ergänzt durch den Hinweis auf die Einbindung der Stadt in das hochkomplexe Gefüge benachbarter adliger und geistlicher Territorialherrschaften, die oft auch konfessionell gegeneinander standen. Zu den großen territorialen Nachbarn zählten rechts- wie linksrheinisch vor allem (aber nicht nur) Teile des weltlichen Territoriums des Bischofs von Speyer sowie natürlich die Kurpfalz als regionale Hegemonialmacht.19 Christoph Lehmann, der eigentlich aus Finsterwalde in der Lausitz stammende Speyerer Stadtschreiber und Historiker, verweist im Titel seiner berühmten „Speyerer Chronik“, die erstmals im Jahr 1612 erschien, auf Kaiser und Reich, die in den Augen der gebildeten Speyerer Bevölkerung wesentlich für das reichsstädtische Selbstverständnis waren.20 17 Günther Groh: Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer (Besitzverhältnisse). Mit Nachträgen zu den Familienverhältnissen. Ludwigshafen am Rhein 1971 (Schriften zur Bevölkerungsgeschichte der pfälzischen Lande, Bd. 5). 18 Kuratoren: Dr. Matthias Preißler/Verf. Zum Katalog: Das Reichskammergericht und Speyer. Eine Stadt als juristischer Mittelpunkt des Reiches 1527–1689. Speyer 2014 (Schriftenreihe der Abteilung Kulturelles Erbe der Stadt Speyer, Bd. 2). 19 Zur frühneuzeitlichen Kurpfalz überblicksartig (älterer Literaturstand): Meinrad Schaab: Geschichte der Kurpfalz. Band 2: Neuzeit. Stuttgart/Berlin/Köln 1992. Zur Geschichte des Bistums Speyer zuletzt zusammenfassend: Hans Ammerich: Das Bistum Speyer von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Annweiler 2011 (Schriften des Diözesan-Archivs Speyer, Bd. 42). 20 Chronica der Freyen Reichs-Statt Speyr: Darinn von dreyerley fürnemblich gehandelt/ Erstlich vom Ursprung/ Uffnemen/ Befreyung/ Beschaffenheit deß Regiments/ Freyheiten/ Privilegien/ Rechten/ Gerechtigkeiten/ denckwürdigen Sachen und Geschichten/ auch underschiedlichen Kriegen und Belägerungen der Statt Speyr: Zum andern/ von Anfang unnd Uffrichtung deß Teutschen Reichs/ desselben Regierung durch König unnd Kayser/ unnd was es jeder Zeit ins gemein mit demselben/ und insonders mit den Erbarn Frey unnd Reichs Stätten vor Gestallt gehabt/. . . Zum dritten/ von Anfang und Beschreibung der Bischoffen zu Speyr/ unnd deß Speyrischen Bisthumbs (Christoph Lehmann:

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Abbildung 1: Dauerausstellung zum Reichskammergericht im Altpörtel (Foto: Dr. Matthias Preißler).

5 Rat und Zünfte Wenden wir uns nun, nach dem Blick auf die reichsrechtliche Stellung der Stadt, dem Rat als nach innen gerichteter Obrigkeit in Speyer zu. Das angeführte Zitat aus der Lehmannschen Chronik bringt ebenfalls deutlich zum Ausdruck, dass die

Chronica der Freyen Reichs-Statt Speyr, Frankfurt am Main 1612). Die Lehmannsche Chronik erschien zwischen 1612 und 1711 in insgesamt vier Auflagen. Digitalisate der verschiedenen Ausgaben sind nachgewiesen bei http://archiv.twoday.net/stories/5765568/ bzw. https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Lehmann_(Schriftsteller) (aufgerufen am 9. Januar 2016).

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Befreyung der Stadt,21 nämlich von der bischöflichen Herrschaft, ein langer Prozess war. Dieser war von vielfachen inneren Konflikten und Streitigkeiten um das Stadtregiment begleitet, besonders zwischen den patrizischen Münzern und Hausgenossen einer- und den städtischen Zünften (die schließlich die Oberhand behielten) andererseits. Es bildete sich eine Oligarchie ratsfähiger Familien heraus; seit dem späten Mittelalter verfestigte sich der Rat als städtisches Regierungsgremium immer mehr, was auch an personell-familiären Kontinuitäten gut festzumachen ist. Der „Bürgeraufstand“ des Jahres 1512/1513 gegen den Rat führte zu keinen wesentlichen Veränderungen an diesem Zustand. Die Ratsbesetzung lag nach 1512/1513 in den Händen der Zünfte.22 Das Ratsregiment stellte sich, wie in vielen anderen Städten, so dar: In Speyer wurden ganze und halbe Zünfte unterschieden, die entsprechend dieser Einteilung bzw. ihrer Bedeutung zwei Personen bzw. lediglich eine Person in den Rat wählen durften. Zu den vollwertigen Zünften zählten neben den Münzern und Hausgenossen beispielsweise die Weber, die Tucher, die Schneider und die Krämer, während zu den halben Zünften z. B. die Kürschner oder die Fischer gehörten. Die meisten Zünfte vereinigten dabei ganz unterschiedliche Gewerbe in sich. Zur Krämerzunft wurden etwa auch die Glaser, Apotheker, Maler, Sattler oder Bürstenbinder gerechnet.23 Der Rat bzw. die eigentliche Stadtobrigkeit selbst umfasste zwei Ratsgremien (eingehender und ausgehender Rat), die sich jährlich in der Geschäftsführung abwechselten (insgesamt ca. 48 Ratsherren). Hinzu kam der seit 1570 genannte Geheime Rat der Dreizehner, bestehend aus den beiden Bürgermeistern sowie den beiden Altbürgermeistern sowie neun Mitgliedern der beiden Ratsgremien.  

6 Stadtbild und Bevölkerung Über die äußere Gestalt der Stadt Speyer im 16. Jahrhundert sind wir beispielsweise durch einen bekannten Holzschnitt des Sebastian Münster (1488–1552) gut unterrichtet. Seine Vorlage war wohl von einem Speyerer Künstler angefertigt worden. Auf dieser Grundlage hat dann Matthäus Merian der Ältere später eine ebenfalls bekannte Stadtansicht erstellt.24 Diese und andere Stadtansichten, wie

21 Zitiert nach Anm. 20. 22 Alter: Von der Konradinischen Rachtung (wie Anm. 2), S. 461–472. 23 Knapp dazu Klotz: Speyer (wie Anm. 6), S. 27 f. (hier nach der 4. erw. Aufl.). 24 Ludwig Anton Doll/Günter Stein (Hrsg.), Es ist Speier ein alte stat. Ansichten aus vier Jahrhunderten 1492–1880. Speyer 1991, S. 23 f. bzw. 31 f. (mit zahlreichen weiteren Abb.); Ammerich: Kleine Geschichte (wie Anm. 6), S. 83–88 (mit Abb.).  





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der aufgrund eines Prozesses am Reichskammergericht angefertigte sogenannte Klüpfelsau-Plan (ca. 1574),25 vermitteln eine sehr genaue Ansicht Speyers vor den Zerstörungen des 17. Jahrhunderts.

Abbildung 2: Speyer (Klüpfelsau-Plan, Wilhelm Besserer, LASP, Best. W 2, vorl. Nr. 21/BayHStA PlSlg. Nr. 10371)

Bereits im Dreißigjährigen Krieg erlitten drei der vier Speyerer Vorstädte schwere Zerstörungen; lediglich die Vorstadt Hasenpfuhl blieb unzerstört. Der folgenschwere Stadtbrand von 1689 sowie der Wiederaufbau im 18. Jahrhundert beendeten endgültig das im Mittelalter grundgelegte und bei Münster bzw. Merian noch gut sichtbare Stadtbild. Dieses war neben dem Dom und den weiteren Kirchen und Kapellen natürlich in besonderer Weise durch die Stadtmauer und die zahlreichen befestigten Mauer- und Tortürme geprägt. Doch sank ihre Bedeutung im Verlauf der Frühen Neuzeit rapide ab: Die „wehrhafte“ Stadt des Mittelalters existierte nicht mehr. Dies lässt sich beispielhaft am Dreißigjährigen Krieg verdeutlichen, als Speyer wechselweise, je nach Verlauf der Auseinandersetzungen von den Kriegsparteien besetzt wurde. Die städtischen Befestigungen hätten dem feindlichen Beschuss nur wenig entgegensetzen können. Im „Pfälzischen Erbfolgekrieg“ rückten französische Truppen 1688 ohne auf Widerstand zu treffen in die Stadt ein.26 25 Landesarchiv Speyer, Bestand W2 Nr. 21. 26 Zur Speyerer Stadtbefestigung findet sich seit neuestem ebenfalls eine Dauerausstellung im Speyerer Altpörtel, das sich somit aufgrund der beiden neuen Präsentationen zum Reichskammergericht bzw. den Stadtmauern auch zu einem zentralen Ort der Speyerer Stadtgeschichte

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Die Speyerer Einwohnerschaft erreichte gegen Ende des 16. Jahrhunderts, also am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, mit knapp 8 000 Personen einen Höchstwert. Man darf sich die Aufteilung so vorstellen, dass immerhin ca. 5 % davon zur Geistlichkeit und zum Reichskammergericht und dessen Umfeld zählten (wobei im Fall des Gerichts 600 bis 800 Personen anzunehmen sind). Im Verlauf der für Speyer katastrophalen Ereignisse des 17. Jahrhunderts sank die Bevölkerungszahl in Speyer rapide ab, um sich dann erst langsam wieder zu erholen.27 Speyer verfügte als verkehrstechnisch günstig gelegener Umschlag- und Handelsplatz auch im ausgehenden 16. Jahrhundert immer noch über eine gewisse Bedeutung als Markt. Zu den wichtigen Handelsgütern zählte der Wein – Speyer war eine Wein produzierende, vor allem aber mit dem einheimischen bzw. rheinischen Wein Handel treibende Stadt. Die Bedeutung des Ackerbürgertums in einer Stadt wie Speyer sollte generell nicht unterschlagen werden, umfasste die Zunft der Gärtner doch im 16. Jahrhundert immer noch ca. 180 Zunftbürger (bei ca. 1 000 Zunftbürgern insgesamt). Die im späten Mittelalter dominierende Tuchherstellung ging deutlich zurück, behielt aber immer noch Bedeutung. Um 1600 können wir von etwas mehr als 100 Tuchern und Webern in der Stadt ausgehen.28 Fünf Fähren im näheren Umfeld der Stadt führten über den Rhein (Udenheim/Philippsburg, Rheinsheim, Altlußheim, Ketsch und Rheinhausen). Der bis heute betriebenen Rheinhauser Fähre kam auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil über sie eine der reichsweiten Postrouten im Reich führte; eine Poststation in Rheinhausen wird bereits um 1500 erwähnt.29 Ein Blick auf die Einwohner der Reichsstadt bleibt unvollständig, wenn nicht auch die konfessionellen Strukturen in den Blick genommen werden. In Speyer hatte die Reformation im Sinne Luthers zu eingreifenden Veränderungen geführt.30 Rat und Bürgerschaft der Stadt, und damit der übergroße Teil der gesamten Einwohnerschaft, nahmen die lutherische Lehre an. Verschiedene Kirchen wurden sukzessive der Neuen Lehre zugeführt bzw. umfunktioniert. 1538/1540 errichtete der Rat, zunächst im Dominikanerkloster, eine eigene (lutherische)

entwickelt hat. Zur Stadtmauern-Ausstellung ist ebenfalls ein Katalog erschienen: Mauern, Türme, Tore. Die spätmittelalterliche Speyerer Stadtbefestigung. Speyer 2015 (Schriftenreihe der Abteilung Kulturelles Erbe der Stadt Speyer, Bd. 5). 27 Ammerich: Kleine Geschichte (wie Anm. 6), S. 65 u. 108; Ohler: Alltag (wie Anm. 2), S. 583 f. 28 Zahlennachweis u. a. Klotz: Speyer (wie Anm. 6), S. 108 (hier nach der 4. erw. Aufl.). 29 Klotz: Speyer (wie Anm. 6), S. 156 (hier nach der 4. erw. Aufl.). 30 Wolfgang Eger: Speyer und die Reformation. Die konfessionelle Entwicklung in der Stadt im 16. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: Eger (Red.), Geschichte Speyer (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 295–347.  

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Ratsschule. Der Siegeszug der neuen Lehre brachte für die zahlreichen Klöster und Stifte eine Zeit des Niedergangs mit sich – und dies nicht nur in „moralischsittlicher“ Hinsicht (wie auch gerne polemisiert wurde), sondern ganz unmittelbar auch personell oder wirtschaftlich.31 Dennoch hielt sich katholisches Leben in den Klöstern und Stiften sowie natürlich am Domstift, wozu namentlich auch die Anwesenheit des Reichskammergerichts in Speyer beitrug. Die katholischen Angehörigen des höchsten Reichsgerichts sowie der Klerus und zum Klerus gehörige (laikale) Personen dürften den überwiegenden Teil der katholischen Einwohnerschaft Speyer – eine Minderheit – gebildet haben.32 Die katholische Erneuerung (Gegenreformation) im Sinne des Konzils von Trient (1545/1563) dürfte dann einmal mehr durch die Anwesenheit des Reichskammergerichtspersonals begünstigt worden sein. Sie wurde wie andernorts auch von den Jesuiten getragen, die im Jahr 1567 in Speyer ein Kolleg samt Schule bzw. Gymnasium einrichten konnten. Neben Lutheranern und Katholiken standen die Anhänger des Calvinismus (Reformierte), die im Jahr 1572, zunächst protegiert von den Heidelberger Kurfürsten, die Aegidienkirche für ihre Gottesdienste erhielten.33 Fast zeitgleich mit der Durchsetzung der Reformation war 1534 die endgültige Vertreibung der Speyerer Juden besiegelt worden, womit eine seit Jahrhunderten in Speyer ansässige religiöse Minderheit aus der Domstadt vertrieben wurde. Nachdem der Rat noch im Jahr 1603 Handels- und Geldgeschäfte zwischen Juden und Christen unter Strafe gestellt und Juden untersagt hatte, sich länger in Speyer aufzuhalten (ausgenommen waren Juden als Parteien am Reichskammergericht), ist eine neue jüdische (Kultus-)Gemeinde ab 1621 greifbar. Diese umfasste zu Beginn ca. 60 Personen; die Gemeinde (deren Mitglieder erneut gegen Ende des 17. Jahrhunderts ausgewiesen wurden) verfügte über eine Synagoge samt Mikwe und Friedhof.34

31 Grundlegender und umfassender Überblick zu den Speyerer Klöstern im Rahmen der „Palatia Sacra“-Reihe: Renate Engels: Die Stadt Speyer. Teil 2: Pfarrkirchen, Klöster, Ritterorden, Kapellen, Klausen und Beginenhäuser. Trier 2005 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 61, 1,2). Hinzu kommen in absehbarer Zeit die die Klöster und Stifte der Stadt betreffenden Artikel im Pfälzischen Klosterlexikon. 32 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Hans Ammerich in diesem Band. 33 Ammerich: Kleine Geschichte (wie Anm. 6), S. 64–77. 34 Während die Geschichte der jüdischen Gemeinde des Mittelalters samt baulichen Überresten (Judenhof mit Mikwe und Resten der Synagoge) relativ gut erforscht worden ist und derzeit im Rahmen eines Welterbeantrags gewisse Aufmerksamkeit erfährt, ist die Geschichte des frühneuzeitlichen jüdischen Lebens in Speyer kaum bekannt. Knapp dazu Dorothee Menrath: Die frühneuzeitliche Geschichte der Speyerer Juden bis zur Französischen Revolution, in: Die Juden von Speyer. Speyer 2004 (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, H. 9), S. 131–139.

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Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht Damit qualificirte Leute sich an das kayserl. Cammer-Gericht zu begeben und darvon so leichtlich nicht wieder auszusetzen, sondern beständig darbey zu verharren desto mehrers ursach und anlaß haben mögen, wie es in § 141 des Jüngsten Reichsabschieds formuliert wurde1 – dafür hat die Stadt Speyer dem Reichskammergericht 1527 in ihren Mauern eine ständige Bleibe gewährt,2 dem Gericht einen Teil des Rathof-Komplexes3 eingeräumt und die Gerichtsangehörigen von verschiedenen Abgaben befreit. Speyer wurde ein Zentralort, gewissermaßen juristischer Mittelpunkt des Reiches und Residenz des Rechts, eine mit großer Macht verbundene Stadt.4 Doch bereitete das Gericht in seiner über 160 Jahre währenden Präsenz der Stadt und ihren Bürgern nicht nur Stolz und Freude. Mit den Juristen

1 Zitat aus JRA 1654 = Adolf Laufs (Bearb.), Der jüngste Reichsabschied von 1654. Abschied der Römisch Kaiserlichen Majestät und gemeiner Stände, welcher auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahr Christi 1654 aufgerichtet ist. Bern/Frankfurt a. M. 1975 (Quellen zur neueren Geschichte, Bd. 32), § 141. – Für Hinweise danke ich Dr. Raimund J. Weber, Renate Engels, Bernd und Klaus Lohrbächer. 2 Dazu eingehender Ingrid Scheurmann: Die Installation des Gerichts in Frankfurt und die Speyerer Zeit, in: dies. (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994, S. 89–109; Jost Hausmann: Die Städte des Reichskammergerichts, in: ders. (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts. Köln/Weimar/ Wien 1995, S. 9–36. 3 Zum Gebäudekomplex um den Rathof und seine Nutzung Ludwig Anton Doll/Günter Stein: Es ist Speier ein alte stat. Ansichten aus vier Jahrhunderten 1492–1880. Speyer 1991, S. 73–76; Robert Zessler: Zwischen Georgenkirche und Rathof – ein Streifzug durch die Geschichte, in: Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche). Gebäude in Speyer. Speyer 1991, S. 34–43; Renate Engels: Zur Topographie der Stadt Speyer vor 1689, in: Wolfgang Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3. Stuttgart 1989, S. 487–547 (hier S. 524 f.); Berthold Roland: Der alte Rathof in Speyer. Kaiserliche Residenz, Rathaus der Reichs-Stadt, Sitz des Reichskammergerichtes, in: Der Turmhahn 9 (1965), H. 5/6, S. 14–19, 2. Aufl. ebd. 23 (1979), H. 5/6. Zum Gebäude eingehender der nachfolgende Beitrag von Anja Rasche. 4 Die Bewertungen finden sich u. a. in den Titeln von Joachim Kemper (Hrsg.), Das Reichskammergericht und Speyer. Eine Stadt als juristischer Mittelpunkt des Reiches 1527–1689. Lingenfeld 2014 (Schriftenreihe der Abteilung Kulturelles Erbe der Stadt Speyer, Bd. 2); Bernhard Kirchgässner/Peter Becht (Hrsg.), Residenzen des Rechts. 29. Arbeitstagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung in Speyer. Sigmaringen 1993 (Stadt in der Geschichte, Bd. 19); Julia Luttenberger: Ein Gericht, sie alle zu richten. Kleine Stadt, große Macht. Speyer als Sitz des Reichskammergerichts, in: Die Rheinpfalz 70 (2014), Nr. 248 vom 25. Oktober.  





Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht

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des Reichskammergerichts und ihren „Kameralfreiheiten“ hatte sich die Stadt Speyer auch eine penibel auf allerlei Vorrechte pochende, schnell zu (recht kostenträchtigen und langwierigen) Klagen neigende Sondergruppe, einen „Corpus eigenen Rechts“ in ihre Stadt geholt. Herrschte statt eines euphorischen „Wir waren Zentralort“ im frühneuzeitlichen Speyer das Urteil vor: „Nichts als Ärger mit den Juristen und ihrem Anhang“?5

1 Vier extreme Konflikte – Ärger mit den Juristen Mitte des 17. Jahrhunderts, in den Jahren großer Erschöpfung angesichts langer Kriegszeit und erster Planungen für den Frieden, hatte der Syndicus der freien Reichsstadt Speyer, Dr. Johann Bösch,6 recht banale, wenn auch etwas anrüchige Probleme. Diese führten ihn schließlich vor das höchste Gericht des Reiches. Nachbar seines Anwesens „hinter dem Greifen“, im Bereich der heutigen Großen und Kleinen Greifengasse, war der Reichskammergerichts-Assessor Dr. Jakob Bender. Der Streitgegenstand lag im hintersten Eck ihrer beiden Grundstücke, im Winkel, wo heimbliche gewölber eingerichtet waren. Der Assessor forderte den Syndicus auf, die gemeinsame Toilettenanlage zu säubern und zu leeren. Der Vorbesitzer habe berichtet, dieses sei altes Recht. Alles sei ausschließlich über den Hof des Syndicus abzutransportieren. Denkbar drastisch wurde dem höchsten Juristen in städtischem Dienst vor Augen geführt, wer hier wessen Hinterlassenschaften zu beseitigen habe. Als der des Disputs müde Syndicus den gemeinsamen Durchbruch zumauern ließ, kam der Streit auf die juristische Ebene. Auch bei Klagen von Kameralen gegen Bürger galt der Gerichtsstand des Beklagten. So wurden zunächst Bürgermeister und Rat der Stadt bemüht. Diese lehnten ein umfassendes (und teures) Zeugenverhör als unnötig ab und reichten zunächst die Prozessschrift des Syndicus zur Stellungnahme weiter. Der Assessor lehnte jeg-

5 Wolfgang Kauer: "Nichts als Ärger mit den Juristen und ihrem Anhang". Stadt und Bürger ärgern sich über zu viele Freiheiten für Gerichtsangehörige und ihre Familien. Quellen berichten von diversen Streitigkeiten, in: Die Rheinpfalz / Speyerer Rundschau 62 (2006), Nr. 128 vom 3. Juni über die Inventarisierung der Prozessakten in Speyer. 6 Bösch war selbst aus großer Ferne zugezogen. Geboren im heute zu Hamburg gehörenden Övelgönne als Sohn eines Amtmanns, kam er als oldenburgischer Rat 1644 nach Speyer, verhandelte 1644/45 für die Stadt Speyer in Frankreich und war von 1651 bis 1674 Syndicus. HansHelmut Görtz: Reichskammergerichtspersonal und andere Personen in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689. Speyer/Freinsheim 2015 (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, künftig: BspStadtgesch., Bd. 12), S. 82.

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liche Einlassung ab, wenn er nicht zuvor in seinem alten Recht restituiert werde, und appellierte schließlich 1660 an das Reichskammergericht.7 Forderungen aus „Winkelrecht“ waren nicht singulär. In Berufung darauf verklagte auch der Reichskammergerichts-Advokat Dr. Andreas Gottwald seine Nachbarin, die Witwe des Ratsverwandten Georg Bien. In dem Haus, das die Witwe mit ihrem Mann neu erbaut hatte, am Eck der Webergasse gegenüber der Flachsgasse, solle sie zwei Fenster wieder zumauern lassen. Sie blickten in den Winkel zum Nachbarn. Ein Kellerloch und die Tür störten ihn ebenfalls und sollten zugemauert werden. Überdies müsse ihr Schweinestall abgerissen werden. Auch hier wandte sich der Jurist, unzufrieden über die erstinstanzliche Abweisung seiner Forderungen durch die Stadt, 1589 appellierend an das Reichskammergericht.8 Gefährdet war nicht nur, wer einen Juristen des Reichskammergerichts zum Nachbarn bekam. In Speyer lief man ihnen stets über den Weg, konnte wegen jeder Kleinigkeit ungewollt in einen teuren und langwierigen Prozess verwickelt werden. Beliebt war den Akten nach die Injurienklage: Ein Angehöriger des Reichskammergerichts fühlte sich beleidigt und forderte für diesen Schaden an seiner Ehre Geld – viel Geld. Vor den Mauern der alten Reichsstadt, auf dem Weg zum südlich benachbarten Dorf Berghausen, hatten Einwohner mehrere Fischwässer gepachtet, für 30 Gulden Fische eingesetzt. Im sehr trockenen Sommer 1545 setzten sie ihre Fische aus sechs Teichen in einen tieferen, den sie mit Ried und Gras abdeckten. Dann sahen sie, dass in ihrem Teich gefischt wurde, von dem Prokurator am Reichskammergericht, Lic. Christoph von Schwabach. Sein Knecht stand mit ganzem Körper im Wasser und „trübte“ dieses, so dass auch die nicht weggefangenen Fische eingingen. Zur Rede gestellt, drohte ihnen der Jurist mit einer Feuerbüchse. Die Pächter wandten sich an den Kammerrichter. Der solle eine gütliche Einigung wegen ihres Schadens vermitteln. Einen Rechtsstreit wollten sie ausdrücklich nicht führen; dafür seien sie zu arm. Den Prozess begann dafür der Prokurator. Statt 30 Gulden Streitwert wurden es 1000 Gulden. Diese Summe forderte der Prokurator für die Schmach, ihn als anlaufer und agressoren zu bezeichnen, und er verbitte sich derartigen uberlauf und stoltzwort. Die Fische

7 Bis auf das Appellationsinstrument kassierte Prozessakte Landesarchiv (künftig: LA) Speyer, E 6, Nr. 303. Inhalt erschlossen in Martin Armgart/Raimund Weber (Bearb.), Inventar der pfälzischen Reichskammergerichtsakten. Landesarchiv Speyer Best. E 6, Bd. 1. Koblenz 2009 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 111), Nr. 107, S. 80 f. 8 Ebenfalls bis auf das Appellationsinstrument kassierte Prozessakte LA Speyer, E 6, Nr. 336; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 1, Nr. 130, S. 98.  

Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht

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habe er in gutem Glauben gefischt, dass der Teich Allmende sei. Die Bedrohung mit der Waffe stritt er ab.9 Noch höher war die Schadenssumme 1578 für einige Umwohnende, die sich beim Assessor Dr. Melchior Drechsel Geld geliehen hatten. Kurz vor Fälligkeit klopften sie an das Haus Drechsels, einer der Schuldner begleitet von seiner Mutter. Der Sohn des Assessors öffnete. Der Vater sei nicht im Haus. Ihr Geld könne er nicht annehmen, erst recht nichts quittieren oder gar den Schuldbrief herausgeben. In Furcht, nun Zinsen für ein weiteres Jahr zahlen zu müssen, schoben sie den Sohn beiseite und schauten selbst nach, ob der Vater nicht feixend hinter der Tür oder in einem anderen Zimmer war. Bald darauf erhielten sie eine Klageschrift. Beim Herumlaufen seien sie auch über den gepflanzten Garten gelaufen, unter Beschädigung eines Salatbeetes. Sein Sohn sei bedroht und beschimpft worden. Dafür forderte der Assessor 2000 Gulden. Das Gericht ermäßigte auf 25 Gulden; mit ihrem Eindringen hätten sie „zu viel und Unrecht getan“. Weitere 25 Gulden machte der Assessor für seine Prozesskosten geltend. Zur Beitreibung der insgesamt 50 Gulden erwirkte der Assessor gleich ein Exekutoriale. Doch war einer der beiden Beklagten inzwischen verstorben. Seine Witwe konnte ein Armutszeugnis vorlegen und sich damit vor der Beitreibung retten.10

2 Prozessakten, Gravamina und noch viel mehr, aber nur wenig Literatur – zur Quellen- und Forschungslage Die vier recht drastischen Beispiele aus dem damaligen Speyerer Alltag stammen aus den sogenannten „pfälzischen Reichskammergerichtsakten“. Die Prozessakten mit Beklagten aus der heutigen, linksrheinischen Pfalz waren bei der Aufteilung des Wetzlarer Gerichtsarchivs nach 1840 nach München gegeben worden. Seit wenigen Jahren liegen sie als bayerisches Depositum im Landesarchiv Speyer. Als Bestand E 6 bescheren sie neben den kleinen Beständen E 1 und E 211 dem

9 LA Speyer, E 6, Nr. 2448; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 1, Nr. 114, S. 85 f. Beklagt waren Jakob und Wendel Ziegler sowie ihr gesell Valentin Degen aus Berghausen. 10 LA Speyer, E 6, Nr. 403; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 1, Nr. 285, S. 219 f. Beklagt waren Theobald Vollmer und Anton Deigfuß aus dem Dorf Hambach an der Weinstraße. 11 Der gegenwärtig 60 Nummern umfassende Bestand E 2 (Reichskammergericht, Akten) entstand 1888 aus Prozessen, die an das OLG Zweibrücken weitergegeben waren. Er nahm auch die  



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langjährigen Gerichtsort Speyer eine umfangreiche Überlieferung an Prozessakten. 2009 bzw. 2010 erschien das gedruckte Inventar zum Bestand E 6, die Gemeinschaftarbeit eines erfahrenen Rechtshistorikers, der bereits zahlreiche Reichskammergerichtsakten in anderen südwestdeutschen Archiven erschlossen hatte, und eines Regionalhistorikers, der mit den Spezifika der Pfalz vertraut war und dieses in den Austausch einbrachte.12 Die Benutzung ist seitdem hoch, auch der Niederschlag in regionaler Forschung. Aus dem nun eingehend erschlossenen Aktenbestand schöpften Untersuchungen vom benachbarten Römerberg bis ins südwestpfälzische Dahn und die Veldenzer Residenz Lauterecken im Norden der Pfalz13 – eine sehr erhebliche Veränderung gegenüber den Jahrzehnten, in denen die Akten in München lagen. Auch zum Verhältnis von Gericht und Stadt Speyer und deren Bürgern geben diese „pfälzischen Akten“ verschiedentliche Ergänzungen und Perspektivwechsel gegenüber den älteren Arbeiten. Doch findet sich dieses nicht nur in den Speyerer Akten. Das Reichskammergericht wurde von den Speyerern genutzt für Klagen gegen Gerichtsangehörige und in die Stadt kommende Prozessbeteiligte. Wenn

als „Irrläufer“ nach Speyer abgegebenen Prozessakten auf, zuletzt 2001 vom LHA Schwerin. Unter E 1 (Reichskammergericht, Urkunden) liegen 13 den Akten entnommene Pergamenturkunden; mitverzeichnet sind 61 Regesten von Urkunden, die in E 2 einliegen bzw. Kriegsverluste sind. Die beiden, 2006/07 durch Martin Armgart neu verzeichneten Bestände werden als Eigentum des Landes Rheinland-Pfalz getrennt von dem bayerischen Depositum verwahrt und sind nicht in das gedruckte Speyerer Inventar aufgenommen. 12 Darüber Raimund J. Weber: Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Staatsarchive, in: Friedrich Battenberg/ Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 57). Köln/Wien/ Weimar 2010, S. 11–33 (hier insbes. S. 11–14). 13 Als Beispiele Klaus Lohrbächer: Die älteste Ansicht von Heiligenstein aus dem Jahre 1581. Eine „Prozesskarte“ des Reichskammergerichts zu Speyer, gezeichnet von Isaak Köning, Bürger und Maler in Speyer, in: ders./Bernd Lohrbächer (Hrsg.), Die Gemeinden Heiligenstein und Berghausen im Zeitalter der katholischen Reform (Ortsgeschichte im Brennpunkt, Bd. 1). Römerberg 2007, S. 89–94 und Kartenbeilage; Martin Armgart: Ein Überfall bei der Rehhütte 1511 vor dem Reichskammergericht, in: Heimat-Jahrbuch Rhein-Pfalz-Kreis 22 (2006), S. 11–14; ders.: Prozesse der Herren von Dahn am Reichskammergericht – Exempel einer neuen Quelle der Niederadelsforschung, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz, künftig: MHVPf, 103 (2005), S. 187–227; Ernst Schworm: Der Prozess vor dem Reichskammergericht zwischen Pfalz-VeldenzLützelstein und den Herren von Mentzingen, in: Westricher Heimatblätter 38 (2007), H. 3, S. 100– 144; Berthold Schnabel: „Verstehe sich der underscheid der Religion nicht“. Dürkheimer Zeugenbefragungen in Reichskammergerichtsakten des Jahres 1582, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 75 (2008), S. 193–205; Eberhard Ref: Der Prozess des Müllers Johannes Cloninger aus Niederhausen/Appel vor dem Reichskammergericht Wetzlar (1783–1788) als genealogische Quelle, in: Pfälzisch-rheinische Familienkunde Jg. 60 (2012), S. 341–348.

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diese Speyer verlassen hatten, reiste der Gerichtsbote mit der Klageschrift hinterher. Durch die Aufteilung nach dem Beklagtenwohnsitz finden sich heute Prozesse14 und weitere Zeugnisse15 aus Speyer in weit entfernten Archiven. Sie zusammenzusuchen wäre auch für Speyer eine aufschlussreiche Aufgabe.16 Hingegen liegen nur wenige quellengestützte Arbeiten vor. Einige Quellenfunde veröffentlichten im Jahre 1953 Theodor Kaul17 und Albert Pfeiffer.18 Danach publizierte der Stadtarchivar Günther Groh über Wohnorte19 und kirchliche Kasualien20 des Personals. Die lutherischen Taufbücher wertete jüngst, mit einge-

14 Als Beispiel die Klage des Speyerer Stiftes St. Guido 1648 wegen einer Braunschweiger Zinsverpflichtung, Staatsarchiv Wolfenbüttel, RKG S 4551; Walter Deters (Bearb.), Findbuch zum Bestand Reichskammergericht und Reichshofrat 1489–1806 (6 Alt). Göttingen 1981 (Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Wolfenbüttel, H. 2), Nr. 806, S. 223. 15 Als Beispiel das Attest eines Speyerer Barbiers über das Rodtlaufen am Schienbein eines verspätet eintreffenden Boten 1618 im Appellationsprozess Rantzau ./. Brockdorf, LA Schleswig, Abt. 390, Nr. 374; Hans-Konrad Stein-Stegemann: Findbuch der Reichskammergerichtsakten (Abt. 390 und andere), Bd. 1. Schleswig 1986 (Veröffentlichungen des schleswig-holsteinischen Landesarchivs, Bd. 16), S. 280. 16 Archivübergreifende Recherchen zu Prozessen mit reichsstädtischer Beteiligung unterstützt die am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bernd Schildt in Bochum aufgebaute Datenbank; Bernd Schildt: Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank, in: Battenberg/Schildt (Hrsg.), RKG im Spiegel seiner Prozessakten (wie Anm. 12), S. 35–62. 17 Theodor Kaul: Kleine Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichtes in Speyer in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: MHVPf 51 (1953), S. 181–212, vornehmlich nach Personallisten von 1542 im Stadtarchiv Frankfurt a. M. (heute Institut für Stadtgeschichte) sowie von 1545 und 1549 im Stadtarchiv (künftig StadtA) Speyer, 1 A, Nr. 197. 18 Albert Pfeiffer: Beiträge zum Personalstand des Reichkammergerichts zu Speyer 1581–1689. Auszüge aus den ältesten Kirchenbüchern der Stadt Speyer, in: MHVPf 51 (1953), S. 213–230 (postum nach dem 1944 abgeschlossenen mschr. Mskr in der Dienstbibliothek des LA Speyer, C 1321). 19 Günther Groh: Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer (Besitzverhältnisse). Mit Nachträgen zu den Familienverhältnissen. Ludwigshafen a.Rh. 1971 (Schriften zur Bevölkerungsgeschichte der pfälzischen Lande, Bd. 5). Groh stützt sich ausschließlich auf Akten des StadtA. Ihm entgingen u. a. die in Häusern der Geistlichkeit eingemieteten Kameralen, beginnend beim Kammerrichter Graf Johan von Montfort in zwei domstiftischen Häusern in der Webergasse, seinen Nachfolgern Graf Adam von Beichlingen und Pfalzgraf Johann beim Stift St. Guido. Weiteres wäre u. a. aus der Auswertung von LA Speyer, D 21–24 zu gewinnen, so die Vermietung eines Hauses des Allerheiligenstiftes an den RKG-Advokaten Lic. Röllemann 1607, LA Speyer D 22, Nr. 180 (frdl. Hinweise Frau Renate Engels). 20 Ders.: Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer. Teil 1. Familienverhältnisse (anhand des ältesten Speyerer Kirchenbücher), in: Pfälzische Familien- und Wappenkunde Jg. 5 (1956), S. 101–111 sowie Jg. 6 (1957), S. 129–141 und 150–162; ders.: Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer. Ein Nachtrag, in: ebd., Jg. 10 (1961), S. 65. Die Arbeiten Grohs beruhen

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henden biographischen Hinweisen, Hans-Helmut Görtz aus.21 Jost Hausmann ging in seiner 1989 erschienen Dissertation über Kameralfreiheiten verschiedentlich auf Speyerer Konflikte ein.22 Umfangreich, auf 80 Seiten, mit gut gewählter sachlicher Systematik behandelte im gleichen Jahr 1989 Willi Alter „Die Reichsstadt Speyer und das Reichskammergericht“ im dritten Band der Stadtgeschichte.23 Dort findet sich auch Näheres zu einschlägigen Konfliktfeldern, Gravamina und Eingaben an Visitationskommissionen oder Eingriffe des Kaisers. Allerdings: in Alters Anmerkungen erscheinen, neben der Literatur, nur Akten des Stadtarchivs. Mehr als zwei Drittel der Nachweise entstammt zwei umfangreichen Aktenbänden, 1 A Nr. 209/1 und 2. In ihnen waren städtischerseits die Beziehungen und Streitigkeiten mit dem Reichskammergericht gebündelt. Doch war nicht alles Vorgefallene von Belang für Gravamina. Noch manch Weiteres zum Miteinander findet sich anderweitig im Stadtarchiv. Neben den Sachakten im Bestand 1 A wären auch die Ratsprotokolle mit einigem Ertrag zu sichten, wie jüngst am Jahrgang 1667 aufgezeigt wurde.24

3 Das Gericht und die Glaubensvielfalt der Stadt Forschungsdesiderat ist auch der Umgang mit Juden. Der Frühneuzeit-Beitrag im Sammelband über die Speyerer Juden verweist auf die nicht geringe Zahl von Juden, die als Partei das Gericht aufsuchten. Die Anmerkungen nennen hierzu eine kleine Zahl ausgewerteter Akten des Stadtarchivs.25 Die rigorose Judenpolitik

auf einer internen Sammlung im StadtA Speyer, eingehender dazu Joachim Kemper in diesem Band. 21 Görtz: RKG-Personal in Taufbüchern (wie Anm. 6); dazu eingehender Hans-Helmut Görtz in diesem Band. 22 Jost Hausmann: Die Kameralfreiheiten des Reichskammergerichts-Personals (QFHG, Bd. 20). Köln/Wien 1989. 23 Willi Alter: Die Reichsstadt Speyer und das Reichskammergericht, in: Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 213–289. 24 Hans-Helmut Görtz: Das Speyerer Ratsprotokoll 1667. Speyer/Freinsheim 2014 (BSpStadtgesch, Bd. 11) mit 26 Belegen im Register der Amtsträger S. 310 f. und 15 (teils weiteren) im Ortsregister S. 328. Eine Anzahl der frühneuzeitlichen Ratsprotokolle hat das StadtA Speyer als Digitalisat online gestellt. 25 Dorothee Menrath: Die frühneuzeitliche Geschichte der Speyerer Juden bis zur Französischen Revolution, in: Die Juden von Speyer. 3., erheblich erw. und überarb. Aufl. Speyer 2004 (BSpStadtgesch, Bd. 9), S. 131–139.  

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der Stadt kollidierte häufiger mit dem offenen Gerichtszugang.26 Ein extremer Fall war Löb von Derenburg, der aus Thüringen wegen eines größeren Prozesses nach Speyer kam.27 Der Rat strafte ihn wegen Nichttragens des Judenzeichens, nahm ihm seinen vom Kaiser verliehenen Ehrendolch ab. Die Prozessakte überliefert die städtische Rechtfertigung: Waffentragen sei Juden generell verboten, der Rat habe „gute Ordnung und Polizei“ durchzusetzen, wobei auch der Kaiser nicht eingreifen dürfe. Die Kameralfreiheiten gelten für Löb nicht, da dieses eine Dignität sei und Juden nach römischem Recht zu keiner Dignität fähig sind.28 Verschiedentlich erscheinen in den Prozessakten Juden mit Herkunftsnamen aus benachbarten Dörfern, Speyerer Juden im weiteren Sinne. Bemerkenswert ist der weitläufige Prozess der Witwe eines Schmuckhändlers aus dem Dorf Hanhofen – mit Kundschaft wohl vor allem aus der nahen Stadt.29 1573 klagte Leo von Berghausen, dem südlichen Nachdorf Speyers, mit drei weiteren Juden für sich und namens gemeyner Judenschafft im Reich, wegen der vom Speyerer Rat kurzfristig verfügten Ausweisung aller Juden aus der Stadt, sofern sie nicht Parteien am Reichskammergericht waren. Die Dünne der Prozessakte zeigt, dass die Klage dieses nicht stoppen konnte.30 Das Reichskammergericht wurde auch angerufen in einem frühen Streit um christliche Trikonfessionalität in Speyer. Rat und Mehrheit waren lutherisch, die katholischen geistlichen Einrichtungen blieben bestehen. Kurpfalz nutzte das

26 Für das RKG exemplarisch Friedrich Battenberg: Juden vor dem Reichskammergericht, in: Scheurmann: Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 322–327; ders.: Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Wetzlar 1992 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 13). Regionale Beispiele bei Raimund J. Weber: Prozesse vor dem Reichskammergericht unter Beteiligung jüdischer Parteien in Südwestdeutschland, insbesondere im baden-württembergischen Franken, in: Gerhard Taddey (Hrsg.), Geschützt, geduldet, gleichberechtigt. Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreiches (1918) (Forschungen aus Württembergisch Franken, Bd. 52). Stuttgart 2005, S. 61–76. 27 LA Magdeburg, Rep. A 53, Lit. I/J Nr. 15 I und II; Dietrich Lücke (Bearb.), Findbuch der Akten des Reichskammergerichts im Landesarchiv Magdeburg – Landeshauptarchiv, Bd. 2. Magdeburg 1999 (Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, Bd. 14), S. 228–232. 28 Neben der bei Menrath: frühneuzeitliche Geschichte (wie Anm. 25), S. 131 Anm. 5 zitierten Akte StadtA Speyer, 1 A, Nr. 112/2 liegt hierüber eine ergiebige Prozessakte vor, LA Speyer, E 6, Nr. 1809. 29 Raimund J. Weber: Gelle, eine jüdische Frau aus Hanhofen zwischen kaiserlicher und rabbinischer Justiz, in: Bernd Lohrbächer (Red.): 850 Jahre Hanhofen. Hanhofen 2006, S. 506–517. 30 LA Speyer, E 6, Nr. 1811; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 2, Nr. 870, S. 775 f. Als bislang einzige ging auf die Klage ein Renate Engels: Zur Topographie der jüdischen Kult- und Wohngebiete im Mittelalter, in: Juden in Speyer (wie Anm. 25), S. 93–124 (hier S. 122, Anm. 170).  

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Patronatsrecht des säkularisierten Stiftes Hördt, um 1572 einen reformierten Geistlichen in der Vorstadtkirche St. Gilgen zu platzieren. Als 1593 noch ein Diakon entsandt wurde und dieser eine reformierte Schule eröffnete, rief der Rat das Reichskammergericht an. Die Prozessakte überliefert konkrete Belege für das real existierende reformierte Gemeindeleben. Vorgelegt wurden dazu auch komplette Gemeinderechnungen von 1579 bis 1589 – im Original, wodurch die Jahrgänge uns heute vorliegen.31 Der Rat musste die reformierte Gemeinde in seiner Stadt hinnehmen, und etwa zeitgleich auch die Gründung eines Jesuitenkollegs. Den katholischen Einrichtungen waren die Kameralen eine wertvolle Stütze: kundige Rechtsberater, gut vernetzte Unterstützer, zudem Stifter von nicht unerheblichen Kapitalien. Dieses dürfte nicht unwesentlich beigetragen haben zur Überwindung der wirtschaftlichen Notlage, in die viele Klöster um 1550 geraten waren.32 Eine breitere Grundlage für die frühneuzeitliche Entwicklung der Speyerer Klöster und Stifte wird bald im Pfälzischen Klosterlexikon vorliegen.33

4 Die Kameralen – eine finanzkräftige Sondergruppe Sterben müssen alle, und so fanden auch eine Anzahl ReichskammergerichtsAngehörige in Speyer ihr Grab, ein mitunter sehr prächtig ausgestaltetes Grab, zumeist durch hiesige Handwerker. Speyer legte bereits kurz nach 1500 einen zentralen Friedhof nördlich der Stadt an.34 Die dortige gotische Friedhofskapelle blieb 1689 unzerstört. In ihrem Inneren befinden sich Grabmäler von Kameralen,

31 LA Speyer, E 6, Nr. 3; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 3, Nr. 2057, S. 1833 f. Zur reformierten Minderheit insgesamt Alfred Hans Kuby: Geschichte der evangelischen-reformierten Gemeinde in Speyer, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 57 (1990), S. 39–69 [= Wolfgang Eger (Red.), 450 Jahre Reformation in der Stadt Speyer. Speyer 1990]. 32 Exemplarisch der umfangreiche Prozess LA Speyer E 6, Nr. 2570 um ein Zahlungsmandat der Karmeliter und Dominikaner wegen vom Prokurator Dr. Kölblin rührender Zinsbriefe. 33 Jürgen Keddigkeit/Matthias Untermann/Hans Ammerich/Pia Heberer/Charlotte Lagemann (Hrsg.), Pfälzisches Klosterlexikon. Handbuch der pfälzischen Klöster, Stifte und Kommenden. Bislang 3 Bde. Kaiserslautern 2014 und 2015 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 26). Bd. 4 mit den geistlichen Einrichtungen der Stadt Speyer wird Ende 2016 erwartet. 34 Eva-Maria Urban: Der alte Friedhof in Speyer von seinen Anfängen 1502 bis zu seiner Auflassung 1881. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte Speyers, in: MHVPf 96 (1998), S. 111–156.  

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gemeinsam mit denen (hochrangiger) Speyerer Bürger. Eine Erschließung wird im Rahmen der „Deutschen Inschriften“ erfolgen.35 Die Finanzkraft der Kameralen zeigte sich neben Grabmälern und Stiftungen in der Geldanlage in Speyer und seinem Umland, in manchen Krediten an die Stadt und ihre Bürger. Dokumentiert sind sie vor allem in Prozessen wegen säumiger Zinszahlung. Prozessiert wurde insbesondere nach dem 30jährigen Krieg. Als der Vizepräsident des Reichskammergerichts Dr. Konrad Esch bald nach Kriegsende den Rat wegen seit 1641 säumiger Zinsen für seine 1620 gewährte Anleihe verklagte, antwortete die Stadt scharf: Gerade von den vielen stattlichen Cameralgütern in der Stadt gingen kaum Gelder ein. Vom Haus des Klägers seien schon seit 20 Jahren weder der gemäß Kompromiss von 1582 fällige Schoß noch andere Gelder gezahlt worden. Die Stadt sei in derartiger Finanznot, dass sie selbst Reichs- und Kreisanlagen nicht mehr zahlen könne, und erwarte auch von Dr. Esch Geduld. Die scheinbar lange Prozesslaufzeit 1653–1719 ergibt sich durch die bei jeder Säumnis wiederholte Eingabe des Gläubigers. Durch die erste Klage beim Gericht und das abgegebene grundsätzliche Zahlungsversprechen hatte der Kläger einen Rechtstitel erlangt, den er bei jedem Zahlungsverzug ohne neue Beweisaufnahme oder andere verzögernde Rechtsmittel aufgreifen konnte, bis zu einem schließlich 1719 von den Erben erwirkten Exekutoriale.36

5 Wohnen, Essen, Lebensunterhalt – Konkurrenten bei den Grundbedürfnissen Reichlich dokumentierte Konfliktfelder waren die Grundbedürfnisse, Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf. Hohe Nachfrage erhöht den Preis. Darüber wurde schon im 16. Jahrhundert geklagt: von den Kameralpersonen, weil ihnen Waren in Speyer deutlich teurer als im Umland verkauft wurden, von der Stadt, weil ihnen durch „Winkelverkauf“ und Selbstversorgung der Kameralen manch indirekte Steuereinnahme entging, von den Bürgern, die mit oft finanziell besser gestelltem Kammergerichtspersonal und Parteienvertretern konkurrieren mussten. Die Anspannung des Immobilienmarktes in den 1570er Jahren gipfelte 1582 in

35 Zu diesen und weiteren, vor allem im Historischen Museum der Pfalz verwahrten Grabinschriften von Kameralen demnächst Lenelotte Möller (Bearb.), Stadt Speyer (Die deutschen Inschriften, Mainzer Reihe); verschiedene Grabmäler auch bei Görtz: RKG-Personal in Taufbüchern (wie Anm. 6). 36 LA Speyer, E 6, Nr. 476; Armgart/Weber, Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 1, Nr. 371, S. 297 f.  

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einem Ratsstatut, das Immobilienverkäufe von Bürgern an Kamerale an die Zustimmung des Rates band.37 Willi Alters Kapitelüberschrift „Kameralengetto oder Integration in die Bürgerschaft“ verweist auf die beiden Optionen. Seine nach der Quartierliste von 1541 erstellte Kartenskizze der Wohnortverteilung38 zeigt anschaulich: die Kameralen wohnten über die gesamte Stadt verstreut. Nachbarschaftsstreitigkeiten mit alteingesessenen Bürgern waren gewissermaßen „Kollateralschäden“ des Verzichts auf ein Kameralenghetto. Eng wurde es in den Innenstadtlagen. Die Fischervorstadt im Süden, auch Altspeyer im Norden leerten sich hingegen weiter, wurden zu Gartenplätzen. Und selbst in der innenstadtnahen Vorstadt überm Hasenpfuhl wohnten nur wenige Kamerale. Ausweichen ins Umland unterstützte der Rat. So gab er zum Hausbau des Prokurators Dr. Daniel Seiblin in Berghausen 1607 noch eine größere Anzahl Backsteine und Dachziegel.39 Speyer und die Pfalz waren nicht nur Karrierestation. Häufiger wurde das Gericht zur Lebensstellung.40 Dies zeigte sich auch im Bau repräsentativer Landhäuser an der Weinstraße durch finanzkräftige Kameralen. Mitunter imitierten sie adlige Rittersitze, wie das „Weiße Haus“ in Mußbach oder Hildebrandseck in Gimmeldingen.41 Lohnende Geldanlage waren auch Felder, Gärten, Weinberge. Deren Erträge brachten die Kameralen dann nach Speyer. Ihren Wein schenkten sie dort reichlich aus, ohne, mit versteckter oder mit weniger versteckter Bezahlung, jedenfalls zum großen Unmut der Speyerer Stadtkasse, für die das „Weinungeld“ ein wichtiger Einnahmeposten war. 1566 wurde ein generelles Verbot vom

37 Alter: Reichsstadt Speyer und RKG (wie Anm. 23), S. 218–225 und S. 266 f. (zum Immobilienerwerb) bzw. S. 274–284 (zu Selbstversorgung, Verkauf von Überschüssen und Wareneinfuhr). 38 Ebd., Kapitelüberschrift auf S. 228, Karte auf S. 221 mit Missverständnissen, so Kartierung der in die Erdbrust/Johannesstraße gehörenden Häuser in die Wormser Straße (frdl. Hinweis Frau Renate Engels); zur Siedlungsverdichtung allgemein Engels: Zur Topographie (wie Anm. 3), S. 513–522. 39 Klaus Lohrbächer: Die "windigen Geschäfte" des Dr. Seiblin, Reichskammergerichtsadvokat. Seine Beziehungen zum Dorf Berghausen im frühen 17. Jahrhundert, in: Heimat-Jahrbuch RheinPfalz-Kreis 29 (2012), S. 134–139. Ähnlich die Ziegellieferung für die Witwe Küehorn in Heiligenstein im Jahre 1613. 40 Hierzu, auch mit statistischen Erhebungen, Anette Baumann: Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer (1495–1690): Berufswege in der Frühen Neuzeit, in: ZRG GA 130 (2000), S. 550–563. 41 Martin Armgart/Raimund J. Weber: Mußbach I (Weißes Haus), in: Jürgen Keddigkeit/Ulrich Burkhart/Rolf Übel (Hrsg.), Pfälzisches Burgenlexikon, Bd. 3. Kaiserslautern 2005 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 12/3), S. 618–621; Raimund J. Weber: Reichskammergerichtsakten als genealogische Quellen. Ein quellenkundlicher Beitrag aus pfälzischen Akten unter besonderer Berücksichtigung des Speyerer Kameralpersonals, in: Volker Trugenberger (Hrsg.), Genealogische Quellen jenseits der Kirchenbücher. Stuttgart 2005, S. 155–187 (hier S. 155 und 161–165).  

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Kaiser erlassen, vom Rat aber selbst unterlaufen mit der Auflage, dass die Kameralen der Stadt davon das Ungeld zahlen. Aus dem Jahr 1581 liegt eine Liste von 15 Kameralen vor, die der Rat wegen „verbotener Kaufmannschaft und Gasthaltung“ befragte.42 Anderes Extrem waren beim Reichskammergericht inskribierte Arme, einfache Bedienstete oder Prozessparteien. Sie boten Waren oder Handwerksleistungen an, um in der teuren Stadt zu überleben. Den extrem langen Speyer-Aufenthalt eines Klägers überliefert die Prozessakte des Lehrers Kißling aus Hohensülzen. Als arme Partei hatte er 1619 seinen Ortsherrn verklagt. Nach gewonnenem Prozess forderte er auch Kostenerstattung seines 15jährigen Aufenthaltes in Speyer.43 Gegen Ende des 30jährigen Krieges brachte die Stadt bei der Visitationskommission vor, eine nicht geringe Zahl Witwen und Kinder von Kameralen würde lieber in Speyer ihre Kameralfreiheiten weiter nutzten als in die zerstörte weite Welt hinauszuziehen.44

6 Feiern, Heiraten, geistiges Leben Kameralen haben in Speyer nicht nur gearbeitet, sondern auch gefeiert. Ratsakten und Prozesse geben Zeugnis über daraus entstandene Streitigkeiten, von Ruhestörung bis zu (glücklicherweise nicht allzu häufiger) Verwundung, Mord und Totschlag – und ob die Reaktionen von Nachtwache und Obrigkeit privilegienwidrig waren. In der Literatur bekannt ist durch das Eingreifen des Kaisers die Verhaftung des Lic. Georg Bien nach Totschlag an einem Bürger 1585 sowie die 1600 geführte fachliterarische Kontroverse.45 Allem Streit zum Trotz waren die Grenzen fließend. Speyerer gingen zum Reichskammergericht. Bereits 1527/30 wechselte der führende städtische Jurist Dr. Jakob Schenck an das gerade nach Speyer kommende Gericht. Unter den

42 Alter: Reichsstadt Speyer und RKG (wie Anm. 23), S. 282–284 mit jeweiligen Namen und Antworten. 43 LA Speyer, E 6, Nr. 1894; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 2, Nr. 964S. 864 f. Zu Aufenthalt von Parteien und Prozessdauer im 16. Jh. allgemein Alter: Reichsstadt Speyer und RKG (wie Anm. 23), S. 232–236. 44 Ebd., S. 251 f. zum Extremfall einer 40jährigen Tochter eines verstorbenen Protonotars und dem 70jährigen Sohn eines verstorbenen Lektors. Eingehend Hausmann: Die Kameralfreiheiten (wie Anm. 22), S. 45–47. 45 Ebd., S. 152–156; Alter: Reichsstadt Speyer und RKG (wie Anm. 23), S. 243 und 264–266, zu den Konflikten insgesamt S. 236–244 (Kapitel „Gestörter Frieden in der Stadt“).  

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späteren Prokuratoren finden sich bekannte Speyerer Namen wie Drach oder Meurer. Ebenso fand manch einfacher Bürger sein Auskommen in Diensten des Gerichtes. Mitunter sah der Rat Mißbrauch. So nahm der Wirt zum Einhorn, Johann Erhard Kühlbrunn, eine Stelle als Kopist an und forderte für seinen umfangreichen Immobilienbesitz Kameralfreiheit.46 Untereinander wurde geheiratet, Patenschaft übernommen – in nicht geringem Maße.47 Die Präsenz einer größeren Anzahl versierter Juristen nutzte Speyer auch, um für den städtischen Dienst zu rekrutieren: Mehrere Syndici, so Lic. Amandus Wolff, Dr. Hieronymus zum Lamb, Dr. Andreas Pancratius und Dr. Johann Peter Schön waren zuvor am Reichskammergericht. Syndicus wurde auch der gleichnamige Sohn des Assessors Dr. Aggaeus von Albada.48 Ebenso rekrutiert wurde der als oldenburgischer Rat in Prozesssachen nach Speyer gekommene, eingangs vorgestellte Syndicus Dr. Johann Bösch. Beflügelt wurde das kulturelle Leben. Ein größeres gebildetes Publikum war am Ort, offen für Theateraufführungen, Musik, Gedichte und Dramen. Literarisch tätig wurden auch manche der Juristen des Kammergerichts. Sie verfassen beileibe nicht nur trockene Fachbücher. Von dem zum Heidelberger Dichterkreis gezählten Petrus Denaisius reicht die Vielfalt bis zum Satiriker Johannes Fischart.49

46 Der im 30jährigen Krieg wohlhabend gewordene Wirt forderte, seinen erheblichen Immobilienbesitz von mehr als 100 Morgen und mehrere Häuser abgabenfrei nutzen und Immobilienhandel betreiben zu dürfen, da er Kopist beim Reichskammergericht geworden war; LA Speyer, E 6, Nr. 1934 und 1932; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 2, Nr. 1046 f., S. 934–936. Zur allgemeinen Beschwerde der Stadt 1652 über die neue Praxis, nicht qualifizierte wohlhabende Bürger bei der Kanzlei anzustellen; Alter: Reichsstadt Speyer und RKG (wie Anm. 23), S. 252. 47 Auszählung von Heiratsverbindungen im Stichjahr 1577 ebd., S. 229–232. Heiraten und Patenschaften bei Görtz: RKG-Personal in Taufbüchern (wie Anm. 6) und Groh: Personal Familienverhältnisse (wie Anm. 20). 48 Baumann: Advokaten und Prokuratoren (wie Anm. 40), S. 552; Groh: Personal des RKG (wie Anm. 19), S. 69 und S. 10. Liste der Syndici bzw. Ratskonsulenten bei Albert Pfeiffer: Das Archiv der Stadt Speyer. Speyer 1912, S. 12 f. 49 Hartmut Harthausen: Geistiges Leben im Umkreis des Reichskammergerichts in Speyer. Wetzlar 1997 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 19); auch bei ders.: Geistes- und Kulturgeschichte Speyers vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 349–435 (insbes. S. 360–369).  



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7 Beispiele besonderer Profiteure: der Kartenzeichner und der Tuchhändler Vom Reichskammergericht als Auftraggeber konnten manche Speyerer Bürger profitieren, besondere Fertigkeiten zu einem sehr guten Preis „auf den Markt“ bringen. An zwei Beispielen sei dieses vorgestellt. Die Prozessakten enthalten nicht nur viele hundert Seiten juristischer Ausführungen mit unterstützenden Belegen. Hingucker sind „Augenscheine“,50 mitunter großformatige Zeichnungen, in denen der Ort des Streites und oft auch dessen Umgebung abgebildet wurden, zur Veranschaulichung für das Gericht und auch zur Selbstdarstellung des Auftraggebers. Für Speyer selbst liegen Augenscheine ab der Mitte des 16. Jahrhunderts vor. Die ältesten aus dem Jahre 1555 zeigen den Platz am St. Guido-Stift.51 Seit je her in Speyer bekannt sind zwei großformatige Zeichnungen der 1570er Jahre, da sich Zweitausfertigungen im Stadtarchiv befinden. Der „Speyerer Flurplan“, mit Blick vom Altpörtel bis zum Pfälzerwald,52 entstand in einem Grenzstreit mit dem Nachbardorf Dudenhofen, der „Klüpfelsauplan“ in einem Rechtsstreit mit dem Bischof über das Weiderecht auf der Klüpfelsau am Rhein vor der Stadt. Neben der strittigen Weide zeigt er die älteste detaillierte Ansicht der Stadt von der Rheinseite. Doch war die Verbindung

50 Exemplarisch Paul Warmbrunn: Augenscheine und Pläne als Beweismittel in Reichskammergerichtsprozessen, aufgezeigt an Beispielen aus Speyer und Umgebung, in: Anette Baumann u. a. (Hrsg.), Augenscheine. Karten und Pläne vor Gericht. Wetzlar 2014, S. 9–22; Gabriele Recker: Gemalt, gezeichnet und kopiert – Karten in den Akten des Reichskammergerichts. Wetzlar 2004 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, H. 30). 51 LA Speyer E 6, Nr. 2553 o.Q; Armgart/Weber(Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 3, Nr. 2098, S. 1877 f.; eingehend Raimund J. Weber: Der Augenschein beim Speyerer St. Guido-Stift im Jahr 1555. Ein Beitrag zum Thema "Recht und Bild" aus den pfälzischen Reichskammergerichtsakten, in: Hermann Bischofberger (Hrsg.), Festgabe zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Louis Carlen. Brig 2005 (Veröffentlichungen des Forschungsinstituts zur Geschichte des Alpenraums Stockalperschloss Brig, Bd. 10), S. 29–56. 52 Doll/Stein: Es ist Speier (wie Anm. 3), S. 20–23 mit gegenüberstellender Abbildung des „Münchener“ Exemplars, jetzt LA Speyer W 2 Nr. 20 und des „Speyerer“ Exemplars aus dem StadtA Speyer, Best. 234, Nr. I 159, auch Katalogteil Nr. 1.1.07 und 070, S. 195. Eingehend hierüber Raimund J. Weber: "Ein gar nutzer Weidgang". Der Prozeß um Weide und Markung zwischen Speyer und Dudenhofen vor dem Reichskammergericht, in: Karl-Heinz Debus (Hrsg.), 850 Jahre Dudenhofen. Dudenhofen 2008 (Schriften des Vereins für Heimatgeschichte und -kultur Dudenhofen, Bd. 7). S. 89–122; ders.: Die älteste Ansicht von Hanhofen. Ein Ausschnitt aus dem „Speyerer Flurplan“ des Meisters Wilhelm Besserer, in: Lohrbächer: 850 Jahre Hanhofen (wie Anm. 29), S. 498–505. Die Karte gehört zum Prozess LA Speyer E 6, Nr. 3125, Q. 27b; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 1, Nr. 295, S. 228–231.  



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Martin Armgart

mit dem Reichskammergericht in Vergessenheit geraten. Ein kurzer Verweis auf Bäume, die schon vor dem Bauernkrieg gepflanzt waren, führte lange zur Datierung „um 1525“, noch in der Stadtgeschichte von 1983 bzw. 1989.53 Inzwischen wurde die Zeichnung mit der Prozessakte verknüpft. Das genaue Datum der Einreichung am Gericht, das „productum Spirae“ am 22. April 1574, ist jetzt auch in Speyer bekannt geworden – die Ansicht ist etwa 50 Jahre später zu datieren.54 Zeichner beider Pläne war Wilhelm Besserer, ein Speyerer Bürger. Mehr als ein Dutzend Kartenzeichnungen lassen sich ihm zuschreiben, vom saarländischen Oberwürzbach bis zur Bieger Mark am Main bei Offenbach und Krautheim an der Jagst. Auf eine noch größere, offenbar verlorene Anzahl verweisen Malereide und sonstige Hinweise in den Akten55. Einer „der profiliertesten Kartographen im Umfeld des Reichskammergerichts“ zu sein – das hat Wilhelm Besserer aus Speyer nicht nur heutigen Nachruhm eingebracht. Die Arbeit war offenbar so einträglich und verschaffte ihm derartiges Ansehen bei seinen Speyerer Mitbürgern, dass er im Stadtrat sitzen konnte. Sein paralleles Wirken für Stadt und Reichskammergericht zeigt anschaulich ein Fristverlängerungsgesuch von 1600: weil obermelter mahler Wilhelm Besserer wegen seiner früfallenden rahtsund gemeinr stadt Speyer geschäften besagten abriß also bald nit erstellen könne56. Auch ein anderer Profiteur ist dank einer Prozessakte eingehend dokumentiert. Sie ergänzt das in Karlsruhe57 verwahrte, um 1600 erstellte „Kleiderbuch“ der Stadt, in dem auch mehrere Angehörige des Reichskammergerichts dargestellt wurden.58 Wenig später starb Johann Josef von Cassel, einer der führen-

53 Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer (wie Anm. 3), Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 405 Abb. 1, auch Bd. 3, Stuttgart 1989, Abb. 10 und 11 nach S. 183. 54 Edgar Krausen (Bearb.), Die handgezeichneten Karten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Neustadt an der Aisch 1973 (Bayerische Archivinventare, Bd. 37), Nr. 98, S. 30. In Speyer rezipiert durch Doll/Stein: Es ist Speier (wie Anm. 3), S. 16–19 mit Gegenüberstellung von LA Speyer W 2, Nr. 21 und StadtA Speyer, Best. 234 Nr. I 136, auch Katalogteil Nr. 1.1.06 und 060, S. 194. Der Plan entstammt der Prozessakte LA Speyer E 6, Nr. 2506, Q. 14; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 3, Nr. 1936, S. 1727 f. 55 Paul Warmbrunn: Die Arbeiten des Malers und Kartographen Wilhelm Besserer für das Reichskammergericht in Speyer im 16. Jahrhundert, in: MHVPf 105 (2007), S. 151–179; Weber: RKG-Akten als genealogische Quellen (wie Anm. 41), S. 165 f. Die noch unpublizierten Erschließungen weiterer süddeutscher Prozessakten mögen diese Überlieferung erweitern. 56 Ebd., Nr. 95, S. 172, nach HStA Stuttgart, C 3 Bü 1031, fol. 102r. 57 GLA Karlsruhe, Abt. 65, Nr. 626. 58 Zu dieser Gruppe Anette Baumann: Die Juristen des Reichskammergerichts, in: Kurt Andermann (Hrsg.), Bürger, Kleriker, Juristen. Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten, Ostfildern 2014, S. 49–60.  



Die Stadt Speyer, ihre Bürger und das Reichskammergericht

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den Tuchhändler der Stadt. Ein heftiger Erbstreit begann. Der Prozess zog sich, die Erben verloren das Interesse. Die Geschäftsbücher blieben als Prozessbeilage in der „Leserei“, im Archiv des Gerichtes: acht Bände sogenannter Handelsbücher oder Krambücher, geführt von 1606 bis 1629, mit detaillierten Aufzeichnungen, welche Stoffe, in welchen Mengen, welche Kurzwaren und sonstige Ausschmückungen ihrer Gewänder die Kunden bezogen haben, Domdekan und Domkapitel, Ratsherren und Bürger der Stadt, Umwohnende und Angehörige des Reichskammergerichts. Die beiliegenden Geschäftsbücher ergeben eine der umfangreichsten Akten des Speyerer Reichskammergerichts-Bestandes, einen Erbschaftsprozess mit 56 cm Stapelhöhe, eine ungehobene Quelle zur Realienkunde dieser Zeit, mit vielen Details, was damals in Speyer getragen wurde, und wie viel man damals dafür auszugeben bereit war.59 Was haben die Stadt Speyer und ihre Bürger durch das Reichskammergericht gewonnen und erlitten, was haben sie für und dank des Gerichtes geleistet, wie haben sich beide Gruppen gegenseitig ergänzt, wie davon profitiert – für ein entsprechend differenzierteres Bild wäre noch viel Quellenforschung zu leisten. Hiermit zu verbinden wären vergleichende Betrachtungen anderer privilegierter Sondergruppen in städtischen Gesellschaften, von Hansekaufleuten bis Universitätsangehörigen60. Ein weites Feld bietet sich hier künftiger Forschung.

59 LA Speyer, E 6, Nr. 2036; Armgart/Weber (Bearb.), Inventar der pfälz. RKG-Akten (wie Anm. 7), Bd. 2, Nr. 1221, S. 1088 f., Klage der Maria Margarethe geb. Buntz, verw. von Leslie und Cassel ./. Maria Ursula geb. Cob, verw. Goll bzw. Göbel. Unter Auswertung der Prozessakte über den Ehemann der Klägerin Rainer Bunz: Robert von Leslie aus Speyer – der unbekannte Vetter des Wallenstein-Mörders, in: MHVPf 106 (2008), S. 353–370. 60 Entsprechende Anregungen gaben nach dem Vortrag Frau Prof. Dr. Heide Wunder und Herr Ingo Dierck.  

Anja Rasche

Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689): ein kunsthistorischer Blick auf die bauliche Überlieferung des höchsten Gerichts 1 Einleitung Warum ist die Geschichte des Reichskammergerichts in Speyer bisher so wenig im Bewusstsein der Speyerer und ihrer Gäste, aber auch der rechtshistorischen Forschung verankert? Das Fehlen von baulichen Zeugnissen im heutigen Stadtbild – ganz im Gegensatz zur Situation in Wetzlar – könnte dafür ein wichtiger Grund sein. Tatsächlich ist zwar der Ort des Reichskammergerichts in Speyer bekannt, aber es gibt vor Ort – abgesehen von einer Gedenktafel –

Abbildung 1: Gedenktafel am Gebäude der Domhof-Hausbrauerei, Große Himmelsgasse. Foto: Anja Rasche.

nur noch wenige Spuren. Das Gelände wurde nach Abbruch der Ruinen 1819 neu bebaut.

Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689)

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Man könnte fragen: Wie gewichtig ist die Rolle der materiellen Kultur für die kollektive Erinnerung? Beziehen sich Erinnerungsorte nicht häufig auf topographisch exakt bestimmbare Plätze und ihre bauliche Überlieferung? Oder erleichtern materielle Zeugnisse nicht zumindest die Erinnerung?1 Verliert man, anders herum gefragt, mit authentischen Zeugnissen der materiellen Kultur nicht ein Stück der Erinnerung?2 Dann wäre es umso wichtiger, mit den originalen Zeugen der Geschichte pfleglich umzugehen, ihre Substanz zu bewahren und ihre Erforschung voranzutreiben.3 Die neue Dauerausstellung zum Reichskammergericht im westlichen Stadttor Speyers, dem Altpörtel – initiiert und maßgeblich umgesetzt durch Joachim Kemper – beabsichtigt, das Bewusstsein der Speyerer und der zahlreichen Gäste der Stadt für das Reichskammergericht zu schärfen: ein gelungener Anfang. Die wissenschaftliche Tagung „Speyer als Zentralort des Reiches im 16. Jahrhundert: Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium“ ebenso wie die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse, bietet darüber hinaus vielversprechende Ansätze, die Forschung zur Speyerer Zeit des höchsten Gerichts zu intensivieren.4 Dabei ist es aus meiner Sicht wichtig, auch die materielle Kultur und die kultur- und kunsthistorischen Aspekte des Themas zu berücksichtigen.

1 Die Idee der Erinnerungsorte geht auf die anregenden Ansätze von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis und Pierre Nora zurück. Sie wurden für die deutsche Geschichte adaptiert von Etienne Francois und Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2001. Allerdings verweisen Erinnerungsorte nicht ausschließlich auf räumliche Orte und andere Zeugnisse der materiellen Kultur, die als Kristallisationskerne der kollektiven Erinnerung fungieren, sie umfassen auch Immaterielles, wie mythische Gestalten und Ereignisse. 2 Der Verlust von Erinnerung bedeutet aber auch den Verlust von Identität, vgl. Deutsche Erinnerungsorte (wie Anm. 1), S. 12–13. Tatsächlich überstrahlt in Speyer der Dom mit der Grablege der salischen Kaiser alle anderen Aspekte der Vergangenheit der Stadt Speyer. Zum Verhältnis von Denkmalpflege und Erinnerungskultur vgl. den gehaltvollen Aufsatz von Anke Binnewerg: Menschen und Steine. Die Anwendbarkeit von Maurice Halbwachs‘ Thesen zu Erinnerung und Raum für die Denkmalpflege, in: Hans-Rudolf Meier/Ingrid Scheurmann/Wolfgang Sonne (Hrsg.), Werte. Begründungen der Denkmalpflege in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2013, S. 90–99. 3 Leider werden auch heute noch in Speyer ganze Häuser abgerissen und neu errichtet. Hier ist z. B. der Neubau für den Drogeriemarkt Müller in der Maximilianstraße im Jahr 2013 zu nennen. Dabei wurde auch der mittelalterliche Keller zunichte gemacht, der die Stadtzerstörung 1689 überstanden hatte. 4 Noch immer arbeiten in Speyer sehr viele Juristen. Es bleibt zu wünschen, dass die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften als Unterstützerin der Erforschung der Rechtsgeschichte Speyers gewonnen werden kann.  

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2 Das Reichskammergericht in der Reichsstadt Speyer Wer ohne genaue Vorkenntnisse oder einen geschulten Blick nach Speyer kommt, wähnt sich in einer wunderschönen alten Stadt. Tatsächlich blieb Speyer im 2. Weltkrieg fast unversehrt. Der Stadtgrundriss in der historischen Altstadt ist mittelalterlich und es finden sich nur wenige offensichtliche Neubauten. Aber der Eindruck täuscht dennoch: die Stadt erlebte ihre Zerstörung und Verwüstung nicht im 20., sondern schon im späten 17. Jahrhundert, exakt gesagt im Jahr 1689. Dieses Ereignis war nicht minder traumatisierend. Speyer wurde systematisch zerstört und verlor dadurch zahlreiche historisch bedeutsame Gebäude – auch der Dom ist bis heute davon gezeichnet. Die Bevölkerung wurde aus der Stadt vertrieben und durfte mehrere Jahre nicht zurückkehren. Entsprechend kam die Wiederbesiedelung nur schleppend in Gang. Es dauerte lange, bis die einstige Bevölkerungszahl wieder erreicht wurde. Die Ruinen standen noch bis ins 19. Jahrhundert in der Stadt, teilweise sogar noch länger. Nie wieder danach wurde die vorherige Bedeutung der Stadt Speyer für das gesamte Heilige Römische Reich deutscher Nation erreicht. Bis 1689 war Speyer nicht nur durch die salischen Herrscher und ihre Grablege im 11. und beginnenden 12. Jahrhundert bedeutend, beherbergte als Teil von SchUM, dem Zusammenschluss der drei überregional wichtigen mittelrheinischen Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz, eine jüdische Gemeinde von hohem Rang und großer Ausstrahlung, sondern erlebte auch im 16. Jahrhundert eine große Blütezeit – als Ort von Reichstagen und als dauerhafter Sitz des Reichskammergerichts ab 1527. Die Stadtansicht von Braun-Hogenberg

Abbildung 2: Stadtansicht Speyers, Braun-Hogenberg um 1572. Reproduktion aus: Stephan Füssel (Hrsg.), Georg Braun und Franz Hogenberg: Städte der Welt, Gesamtausgabe der kolorierten Tafeln 1572–1617, Köln 2008, S. 91.

zeigt die Stadt ungefähr in diesem Zeitraum. Deutlich sichtbar sind die exponierte Lage am Rhein, die turmreiche Stadtbefestigung und die zahlreichen Kirchturmspitzen, die auf eine vielfältige Sakraltopographie hinweisen und das Stadtbild

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neben dem Dom prägten. So erhält man auch einen ungefähren Eindruck davon, was 1689 verloren gegangen ist. Nach Gründung 1495, zahlreichen Ortswechseln und einem Intermezzo 1513– 1514 richtet sich das Reichskammergericht 1527 in Speyer ein. Wenn man der Literatur Glauben schenkt, im Rathaus der Stadt Speyer. Ich zitiere nur stellvertretend die neueste Publikation zum Reichskammergericht in Speyer, das Begleitheftchen der Ausstellung im Altpörtel. Darin heißt es im Beitrag „Das Reichskammergericht“ von Anette Baumann: „Der Ratshof, Rathaus der Stadt, Sitz des Gerichts und nicht zuletzt glänzender Versammlungsort vieler Reichstage, wurde 1689/90 fast vollständig zerstört.“5 Zur Illustration wird im Begleitheft ein Plan gezeigt6 und ein Aquarell von Franz Stöber, das noch die Ruinen des Speyerer Ratshofes zeige, in dem das Gericht – wie es heißt – „residierte“.7 Es muss aber betont werden, dass dies kein Einzelfall, sondern die Regel ist. Wenn man im heutigen Speyer vom Rathaus spricht, wird es schnell unübersichtlich: Da gibt es zum einen das Historische Rathaus an der Maximilianstraße, das in seinem jetzigen Erscheinungsbild zur Wiederaufbauphase nach 1689 zu zählen ist.8 Die heutige städtische Verwaltung befindet sich im sogenannten Stadthaus – direkt am Dom. Wenn man als Bürger städtische Dienste in Anspruch nehmen will, muss man aber in ein Bürgerbüro gehen – welches sich an einem weiteren Ort befindet. Vor der Stadtzerstörung befand sich der oft als Ratshof bezeichnete Gebäudekomplex der Stadt Speyer an einer anderen Stelle, nordwestlich vom Dom. Jost Hausmann postuliert in seiner Publikation „Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichkammergerichts“, das Gebäude des Reichskammergerichts in einer Stadtansicht Speyers aus Sebastian Münster Cosmographie identifizieren zu können:

5 Anette Baumann: Das Reichskammergericht, in: Das Reichskammergericht und Speyer. Eine Stadt als juristischer Mittelpunkt des Reiches 1527–1689, in: Joachim Kemper (Hrsg.), Schriftenreihe der Abteilung Kulturelles Erbe der Stadt Speyer. Speyer 2014, S. 4–13 (hier: S. 12). 6 Baumann: Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 21. Der Plan wird nicht näher bezeichnet, dient vorrangig illustrativen Zwecken, Stadtarchiv Speyer, 234/52. Eher irreführend sind die Illustrationen mit Bildern des 19. Jahrhunderts (S. 22 und 23), deren Gestaltung der baulichen Umgebung augenscheinlich an der Domkrypta orientiert ist und keinerlei Zeugniswert besitzt. 7 Baumann: Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 35. 8 Tatsächlich hat sich an dieser Stelle zuvor schon die „Neue Stube“ befunden, die sich seit 1453 in städtischem Besitz befand und auch städtischen Funktionen diente, vgl. Renate Engels: Zur Topographie der Stadt Speyer vor 1689. Anmerkungen zu den Kartenbeilagen im zweiten Band der „Geschichte der Stadt Speyer“, in: Stadt Speyer (Hrsg.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3, S. 487–547 (hier: S. 525).

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Abbildung 3: Ausschnitt aus der Stadtansicht Speyers aus Sebastian Münsters Cosmographie. Reproduktion aus: Jost Hausmann (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichkammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 22.

Ich zitiere die Bildbeischrift: „Eine zeitgenössische Ansicht des RKG-Gebäudes im Speyrer Ratshof ist nicht bekannt. Der Gebäudekomplex rechts des Speyerer Domes entspricht in der Lage der Baukörper dem Ratshof. Das Gebäude mit der Rauchfahne kann als das RKG-Gebäude angesehen werden.“9 Dieser Behauptung kann nicht zugestimmt werden, denn der Ratshof war nicht auf der Nordseite des Domes angesiedelt, sondern weiter westlich gelegen. Die hier gezeigten Gebäude werden vermutlich zur Bischofsresidenz gehört haben, wobei auch offensichtlich ist, dass es sich bei dieser Stadtansicht nicht um eine bis in Details naturgetreue Widergabe der Realität handelt. Ein Plan, der dem Buch „Geschichte der Stadt Speier“ des Speyer Gymnasiallehrers C. Weiss beigefügt ist, verdeutlicht die Lage des ehemaligen Ratshofs und Reichskammergerichts-Geländes. Er verdeutlicht die Situation der Stadt um 1730. Das Gebiet, das uns interessiert, ist hier schraffiert wiedergegeben, so werden Brandstätten von 1689 gekennzeichnet.

9 Jost Hausmann (Hrsg), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts. Köln/ Weimar/Wien 1995, S. 22.

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Abbildung 4: Ausschnitt aus dem Plan von Carl Weiß, Speier 1730. Reproduktion aus: Carl Weiss, Geschichte der Stadt Speier, Speier 1876 (Beilage).10

10 Plan aus: Carl Weiss: Geschichte der Stadt Speier. Speier 1876. Vgl. zu den Urkunden, die das Gelände betreffen vor allem Johann Kaspar Zeuss: Die freie Reichsstadt Speier vor ihrer Zerstörung. Speyer 1843, S. 14–16.

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Nördlich, genauer nord-östlich vom Dom befindet sich die Bischöfliche Pfalz, nord-westlich die Jesuitenkirche (im Plan mit „K“ bezeichnet), die dort allerdings vor der Stadtzerstörung noch nicht existierte, und erst daran westlich anschließend das Gelände des mittelalterlichen Ratshofes. Dieses Gelände ist vom Rhein aus gar nicht zu sehen.11 Was bleibt zu tun? Lassen sich über das Gebäude des Reichskammergerichts respektive des Rathauses der Freien Reichstadt Speyer überhaupt weitere Informationen finden? Auskunft über den Zustand des Geländes in der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt ein Plan aus dieser Zeit. Schauen wir uns diesen einmal genauer an: Er befindet sich im Stadtarchiv Speyer. Der Plan ist im Original 66,8 auf 47 cm groß, bei dieser Größe werden viele Details sichtbar. Trotz aller technischen Möglichkeiten ist es manchmal unerlässlich, Dokumente im Original zu studieren. Bei diesem Plan ist das der Fall. Nur beim Studium des Originals lässt sich zum Beispiel feststellen, in welchem Zustand dieser ist, Gebrauchsspuren werden sichtbar. So lässt sich sagen, dass der gezeigte Plan in keinem guten Zustand ist. Vermutlich wurde er intensiv genutzt, er weist starke Gebrauchsspuren auf und hing vermutlich längere Zeit im Licht. Der Plan ist mit einem Gewebeband eingefasst, vielleicht, um ihn aufhängen zu können? Einige Partien wirken, als seien sie regelrecht abgerieben. Wie bei jeder Quelle ist auch hier zu fragen: zu welchem Zweck und von wem wurde dieser Plan angefertigt? Eine Inschrift in einer kleinen Kartusche am linken unteren Bildrand gibt darüber Auskunft (Abb. 6):

11 Als Grund für die Lage des Rathauses in Speyer, recht weit vom Markt entfernt, vermutet Berthold die Funktion des Geländes als Kaiserpfalz im Hof des Ebelin vor dem Münster. Die Stadt kaufte das Gelände erst 1340. Vgl. Zeuss: Speier (wie Anm. 10) und Roland Berthold: Der alte Rathof in Speyer, in: Stätten der Protestation. Hrsg. im Auftrag des Protestantischen Landeskirchenrates der Pfalz von Kirchenpräsident Heinrich Kron. 2., veränderte Aufl. Speyer 1979, S. 14–19.

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Abbildung 5: Plan von P.H. Blum 1754, Stadtarchiv Speyer, Bestand 234/52, I a 52. Stadtarchiv Speyer.12

12 Stadtarchiv Speyer, 234/52, Bezeichnung auf dem Plan: I 52. Der Plan ist oben links in der Kartusche mit „Fig. II Grundriss“ bezeichnet. Hat es ursprünglich auch ein Fig. I gegeben und welchem Zusammenhang entstammt der Plan ursprünglich? Auf diese Fragen habe ich bisher noch keine Antwort.

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Abbildung 6: Ausschnitt aus Abb. 5: Kartusche. Stadtarchiv Speyer.

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„Auf obrigkeitlichen Befehl, ehe die Mauern vollends abgebrochen und die Plätze verändert werden, zum angedencken im Profil und Grund Riss gebracht von P.H. [hier spätere Ergänzung] Blum, Civit Spirens. secret. et. Rationem Revisore ao 1774.“ Die Ziffer „7“ ist ebenfalls später ergänzt, ursprünglich lautete die Jahreszahl – nach Doll13 – 1754. Der Plan entstand also auf „obrigkeitlichen Befehl“, was auch illustriert wird: oberhalb der Kartusche ist der Kaiser – erkennbar an seiner Bügelkrone – zu sehen, mit den weiteren üblichen hoheitlichen Insignien, einem Zepter in seiner linken und dem (Richt-)Schwert in seiner rechten Hand. Ziel der Anfertigung des Plans war es, die Überreste zu dokumentieren oder wie es wörtlich auf dem Plan heißt: „zum angedencken“, um also an die zerstörten, historisch bedeutsamen Gebäude zu erinnern. Ausgeführt wurde er von Philipp Heinrich Blum, Geometer und Stadtschreiber in Speyer, um 1750–1775.14 Dieser Plan erweist sich somit als ein wichtiges Dokument. Leider erschwert es der schlechte Zustand sehr, alles, was mit dokumentarischen Anspruch detailgetreu darauf wiedergegeben ist, genau zu erkennen. Gezeigt wird der Grundriss des Geländes (Abb. 5): dieses wird auf dem Plan unten durch die Große Himmelsgasse, links von der Kleinen Himmelsgasse, oben von der Pistoreigasse und rechts von den Rückwänden der Häuser des heute als „Bauhof“ bezeichneten Weges in das Gelände hinein begrenzt. Ursprünglich wurde das Gelände von einer weiteren Gasse geteilt: dem Höllengässchen, das im Verlauf des 16. bis 17. Jahrhunderts allerdings durch Gebäude des Reichskammergerichts überbaut wurde. Darauf wird in der Legende am unteren Bildrand ausdrücklich hingewiesen. Am unteren Rand ist die Ansicht des Geländes von der Großen Himmelsgasse als Aufriss gezeigt. Die Gebäude werden in ihrem ruinösen Zustand wiedergegeben: „Rudera des Rathhoffes u: Cameral Hauses zu Speyer, Samt denen daran gelegenen Plätzen und Gebäudten, in der dritten Region der Stadt wie solche nach der Frantzösisch: Zerstörung ao 1689 annoch zu sehen gewesen.“ Hier standen ursprünglich die Fassaden der Gebäude, die allerdings zumeist zerstört sind und so den Blick auf die Innenseite der rückwärtigen Mauern der Gebäude freigeben. Man muss sich etwas einsehen, aber das lohnt sich.

13 L. Anton Doll/Günter Stein: Es ist Speier ein alte stat. Ansichten aus vier Jahrhunderten 1492– 1880. Speyer 1991, S. 283. 14 Angaben nach Doll/Stein: Speyer (wie Anm. 13), S. 311. Von Blum stammt eine weitere interessante Zeichnung, vgl. Doll/Stein: Speyer (wie Anm. 13), Bild 21, S. 48 und Katalog-Nr. 2.1.02, ebd. S. 238.

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Abbildung 7: Ausschnitt aus Abb. 5: Aufriss von der Großen Himmelsgasse aus: Plan von P.H. Blum 1754, Stadtarchiv Speyer, Bestand 234/52, I a 52. Stadtarchiv Speyer.

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Der Plan ist fachmännisch gezeichnet, er dokumentiert den vorgefundenen Zustand zur Entstehungszeit – das ist Anlass für den Auftrag – und ist deshalb als historische Quelle anzusehen und ernst zu nehmen. Alle Zeichnungen sind systematisch beschriftet und mit einer Legende versehen, so dass die Gebäude eindeutig zugeordnet werden können. Schwierigkeiten entstehen da, wo die Buchstaben nicht mehr lesbar sind. Hier hilft glücklicherweise eine Kopie des Planes weiter, die im 19. Jahrhundert angefertigt wurde (Abb. 8). Diese Kopie wird im Historischen Museum der Pfalz aufbewahrt.15 Auch dieser Plan ist in einem sehr schlechten Zustand, aber er zeigt noch die Beschriftungsbuchstaben, die notwendig sind, um die Legende richtig zuordnen zu können. Wenden wir uns zunächst dem Grundriss zu, der wie folgt bezeichnet ist (Abb. 6): „FiG: II Grund Riss über den öden Rathhause u: Camer Platz, mit denen umliegenden Verbrandten u: Neu erbaueten Häussern. A Gemeinsamer eingang zu dem Rathaus und Cammer bau B besonderer Eingang oder Schnecken in das Rathhaus C Eingang und grosse Steinerne Treppe zu dem Cameral haus“ Darauf folgt die Kennzeichnung der – und das ist wichtig – getrennten Bereiche von Rathaus und Kameralbau – bezeichnet mit den Buchstaben DEFG – für das städtische Gelände: „bezirck des Rathhausses“ und HIKL – für das Gelände des Reichskammergerichts: „Umfang des Grossen Cammeral Baues.“ – Weiter werden noch die anderen Gebäude auf dem Gelände genau bezeichnet, ich kürze hier ab. Das ist aus meiner Sicht eine wichtige Erkenntnis: das Gelände war in zwei verschiedene Bereiche unterteilt, dasjenige des Rathauses und dasjenige des Reichskammergerichts. Das Reichskammergericht verfügte nach Aussage dieses Planes zumindest am Ende der Speyerer Zeit über ein eigenes Gelände mit eigenen Gebäuden, die zwar durch einen gemeinsamen repräsentativen Eingang über den Ratshof zu erreichen, vielleicht aber auch nur so mit dem Rathaus verbunden waren. In Abb. 7 ist die Grenzlinie zwischen diesen beiden Bereichen mit einem Pfeil kenntlich gemacht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass von der Großen Himmelsgasse aus auch direkte Eingänge in die Gebäude des Reichskammergerichts führten. Das lässt sich leider auf dem Plan nicht mehr nachvollziehen, weil zum Zeitpunkt seiner Erstellung, die Fassadenmauern der betreffenden Gebäude bereits zerstört waren. Bei genauerer Betrachtung des Aufrisses (Abb. 7) kann man feststellen, dass die Gebäude des Reichskammergerichts sehr groß waren. Sie erstreckten

15 Der Hinweis auf diesen Plan findet sich bei Doll/Stein: Speyer (wie Anm. 13), S. 283, KatalogNr. 4.4.01, BS 570, er fand aber bisher keine Beachtung.

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Abbildung 8: Kopie des Plans von Blum, 1885, Historisches Museum der Pfalz, Inventar-Nr. BS 570.16 Historisches Museum der Pfalz Speyer.

16 Historisches Museum der Pfalz, BS 570. Vielen herzlichen Dank an Dr. Ludger Tekampe für seine umfängliche und außerordentlich freundliche Unterstützung. Dieser Plan ist bezeichnet mit: „Copiert von Jules Fehl 1885.“

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sich traufständig entlang der Großen Himmelsgasse. Ganz links sieht man zu nächst das mit „E“ bezeichnete einstöckige Häuschen: „Haus, dem hl. Geist allmosen zu Speyer gehörig“ (nächste Zeile) „Worin die Hrn: Cantzley Verwalther gewohnt haben,“ rechts anschließend ein schmales aber mindestens zweistöckiges Gebäude mit einem späteren Fachwerkeinbau, anschließend ein großes, stattliches Gebäude, vielleicht mit vier Fensterachsen und einer Durchfahrt. Die Fensterachsen im ersten und zweiten Geschoss stimmen nicht überein. Das könnte ein Hinweis dafür sein, dass dieses Gebäude später, vielleicht im Zusammenhang mit der Überwölbung des Höllengässchens, aufgestockt wurde. Weiter rechts schließt sich die überbaute Gasse an. Dieser überwölbte Gang bildet von der Großen Himmelsgasse aus vermutlich auch einen eigenen Zugang zum Gelände des Reichskammergerichts. Rechts davon sieht man ein weiteres großes Vordergebäude, von dem allerdings nur noch niedrige Reste der Fassadenwand erhalten waren (Quadersteine). Dieses ist mit „C“ bezeichnet: „der Camer gerichts bau, desen Vordertheil gegen die Strasse Völlig Niedergerissen u: Zerstöret ist.“ Die Kanzlei, durch deren Erweiterung laut Blumschen Grundriss (Buchstabe S, Abb. 7) „Gässlein Zur hölle genannt, welches bey erweiterung der Cantzeley Verbauet und gewölbet worden“, befindet sich in den rückwärtigen Gebäuden und ist entweder durch diesen Zugang oder vom Ratshof aus über eine große, steinerne Treppe zu betreten. Die Kanzlei habe sich (Buchstabe Q) „in dem untern Stock, in deren Zweyten oben die Lesserey“ befunden. Links vom Rathaus befindet sich die Wohnung des städtischen Syndicus. Vom Rathaus sehen wir im Aufriss quasi die Innenseite der zum Ratshof gelegenen Rückwand. Das Gebäude hatte die Tiefe von drei Jochen, die den Durchgang, der an der rechten Seite des Gebäudes verlief, überspannten. Insgesamt sind noch die drei Geschosse des langgestreckten Gebäudes zu sehen. Vom Erdgeschoss sehen wir nur auf die Tordurchfahrt, darüber eine Reihe Fenster und darüber noch die Widerlager für die Holzbalken, die die Geschossdecke trugen. Links – im Plan mit „B“ bezeichnet – den Treppenturm, der offensichtlich im 16. Jahrhundert angebaut wurde.17 Neben dem nun etwas genauer besprochenen Plan von P.H. Blum gibt es noch weitere Abbildungen, Zeichnungen, Drucke und Aquarelle, die den Ratshof zeigen. Das berühmteste ist sicher das Aquarell Franz Stöbers:

17 In Speyer haben sich noch weitere, eng verwandte Türme aus dieser Zeit erhalten, so in der Heydenreichstr. 8 und in der Herdstraße 39, vgl. Herbert Dellwing (Bearb.), Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz. Bd. 1: Stadt Speyer. Düsseldorf 1985. Zum Rathausbau allgemein: Stephan Albrecht: Mittelalterliche Rathäuser in Deutschland. Architektur und Funktion. Darmstadt 2004, bes. S. 157–159. Leider ohne einen Beitrag zu Speyer: Rathäuser und andere kommunale Bauten. Marburg 2010 (Jahrbuch für Hausforschung 60).

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Abbildung 9: Franz Stöber: Ruinen des Ratshofes von Norden, Historisches Museum der Pfalz, Inventar-Nr. BS 551. Historisches Museum der Pfalz Speyer.

Wenn man sich in die Zeit vor 1689 zurückversetzt, von der Großen Himmelsgasse aus durch den gewölbten Durchgang in den Ratshof geht und sich dann umdreht hat man die Perspektive, aus der dieses Aquarell gemalt ist. Wer die Situation vor Ort heute kennt: von diesem Standort aus hätte man das Domhof-Hotel im Rücken. Vom Blumschen Plan unterscheidet sich diese Ansicht aber nicht nur durch eine andere Perspektive – es zeigt auch einen anderen Zustand des Gebäudes – das zweite Stockwerk fehlt hier. Anscheinend ist der Verfall weiter fortgeschritten. Aber dafür sehen wir einige Details wie die spitzbogigen Sandstein Gewänder der Fenster, man kann feststellen, dass das Gebäude verputzt war und sieht Einzelheiten des Treppenturms. Außerdem ist das an die Durchfahrt anschließende Haus links zu sehen („Z“ laut Plan die Wohnung des Gymnasialdirektors, einst die Wohnung des Stadtschreibers), auf der anderen Seite der Brunnen – rechts im Bild – und eine zugemauerte Nische, deren reicher Sandsteinschmuck noch zu erahnen ist. Laut Plan handelt es sich hierbei um den Eingang zum Reichskammergericht vom Ratshof aus, zu dem – nach Blum – eine steinerne Treppe hinaufführte. Die Absicht Franz Stöbers war nicht, wie diejenige Blums, den Zustand möglichst originalgetreu wiederzugeben. Ihn interessierte das malerische Ambiente – zu dieser Zeit,

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der aufkommenden Romantik, wurden Ruinenbilder sehr beliebt. Einige Kinder als Staffage hat Stöber hinzugefügt, um seine Komposition zu beleben. Auf einem weiteren Aquarell Franz Stöbers

Abbildung 10: Franz Stöber, Ruinen des Ratshofes von Süden, Historisches Museum der Pfalz, Inventar-Nr. BS 550. Historisches Museum der Pfalz Speyer.

sieht man noch einmal die Situation des Rathauses mit dem Durchgang zum Ratshof, allerdings von der Großen Himmelsgasse aus: die kleine Hütte im Vordergrund nutzt die ursprüngliche Wand. Dort sieht man noch die drei Schildbögen des gewölbten Durchgangs und die Konsolen, auf denen die Kreuzrippen auflagen. Hier kann man auch gut erkennen, warum die Fenster von dieser Seite aus rechteckig, vom Ratshof aus aber spitzbogig sind: von innen ist eine rechteckige Fensterlaibung der spitzbogigen Fensteröffnung vorgeblendet. Durch den Torbogen hat man den Blick frei auf das dahinterliegende, im 18. Jahrhundert als Gymnasium genutzte Gebäude – dem heutigen Eingang zum Domhofhotel. Dieses Gebäude ist doch wohl in weiten Teilen noch mittelalterlich, wir wissen nicht, wie es ursprünglich genutzt wurde. Im Plan sind beide rückwärtigen Gebäude mit „Y“ bezeichnet: „hintergebäude worauf oben schöne Wohnung, unten aber behälter gewesen“, nach 1704 diente es als städtisches Gymnasium.

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Über dem spitzbogigen Torbogen befindet sich bis heute ein eingemauerter Sandstein, in den die Jahreszahl 1469 „anno dni m cccc lx nono“ eingemeißelt ist:

Abbildung 11: Wappenschild am Torbogen zum späteren Städtischen Gymnasium (heute Domhof-Hotel). Foto: Anja Rasche.

Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689)

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Darunter sehen wir das Speyerer Stadtwappen. Es ist auf ungewöhnliche Weise dargestellt, man könnte meinen, der Baumeister hatte Humor: es erinnert an einen Topflappen, der mit seiner gehäkelten Schlaufe schräg an einem Haken hängt. Das Gebäude bestand bereits vor der Einrichtung des Reichskammergerichts.

3 Schluss An dem Ort, an dem das Reichskammergericht in Speyer seinen Sitz hatte, kann man heute keinen Eindruck der Gebäude mehr gewinnen. Im 18. Jahrhundert dagegen, gab es noch aussagekräftige Ruinen, die uns dank des Blumschen Plans von 1754 und der Aquarelle Franz Stöbers doch noch zu einem Eindruck verhelfen können.18 Das Rathaus kann man sich damit besser vorstellen als das Reichskammergericht, aber man muss aufgrund der Überlieferungslage bildlicher Darstellungen davon ausgehen, dass beiden Institutionen zwar benachbarte aber dennoch unterschiedliche Gebäude dienten. Die verkürzte Darstellung: das Reichskammergericht tagte im Speyerer Ratshof, dieser ist das Rathaus und dieses wird mit dem Aquarell Franz Stöbers illustriert, ist irreführend. Es hat sich gezeigt, dass ein genauerer Blick auf einen altbekannten Plan durchaus zur Klärung von Fragen der baulichen Überlieferung beitragen kann. Wobei es ein Glücksfall war, die sehr zuverlässige Kopie des 19. Jahrhunderts im Historischen Museum gefunden zu haben, mit deren Hilfe man die Legenden wieder nutzbar machen kann, weil hier die Buchstaben noch lesbar sind. Archäologische Untersuchungen könnten weiteren Aufschluss bringen, diese wurden aber – wie üblich – bisher nur im Notfall durchgeführt. Deshalb bleiben sie auf kleine Bereiche beschränkt und somit stichprobenartig.19

18 Dieser Beitrag entstand auf Grundlage der Erarbeitung eines Vortrages für die Tagung. Ich plane eine eingehendere Untersuchung, unter systematischer Einbeziehung von Schriftquellen und weiterer Bildquellen. 19 Vielen Dank an Ulrich Himmelmann und Helmut Stickl für die Möglichkeit, die sorgfältigen Dokumentationen dieser fünf Grabungen in der Außenstelle Speyer der Landesarchäologie (Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz) einsehen zu können. Es handelt sich um die Akte Speyer 10 – 1–5. Insbesondere die Grabung 1989, Fundstelle 10–4 hat während der Ausschachtungsarbeiten für die Tiefgarage verschiedene spätmittelalterliche und neuzeitliche Mauerreste zu Tage gefördert, von denen eine dem Archiv des Reichskammergerichts zugeordnet wurde. Während diese und auch das ehemalige Komödienhaus, später Alhambra-Kino, erhalten blieben, wurden für die Zufahrt zur Tiefgarage mittelalterliche Keller nach Dokumentation (Fundstelle 10–5) abgebrochen. Einer der beiden Keller war ganz besonders wertvoll ausgestattet: rote Sandsteinplatten auf Sand dienten als Bodenbelag und die Wände wiesen Reste von feinem

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Abbildung 12: Audienz des Kammergerichts in Speyer, Kupferstich, Frontispiz in: Wilhelm Roding (1549–1603), Pandectae iuris civilis, Speyer 1668. Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar.

Zwei Fragmente vom Ratshof bzw. Reichskammergericht sind im Historischen Museum der Pfalz bewahrt. Ein Wappenhalter zeigt das Wappenschild mit Doppeladler, der andere das Speyerer Stadtwappen. Stilistisch lassen sie sich ins 16. Jahrhundert datieren und könnten so mit einer Baumaßnahme im Zusammen-

glattem Verputz mit roter Quaderbemalung auf. Die Funktion dieses Kellers ist bisher unbekannt. Die Dokumentation der Speyerer Keller ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689)

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Abbildung 13: Audienz am Kammergericht in Wetzlar, Kupferstich von Peter Fehr (1681–1740), um 1735. Städtische Sammlungen Wetzlar.

hang mit dem Reichskammergericht stehen, aber das muss Spekulation bleiben, solange es keine weiteren Erkenntnisse gibt.20

20 Vgl. Ludger Tekampe: Wappenhalter mit Reichsadlerschild, Katalognummer IV.75, in: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495 bis 1806, Katalog. Dresden 2006, S. 308–309.

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Die Auswertung weiterer Bildquellen zum Beispiel aus juristischen Druckwerken könnten neue Erkenntnisse bringen. Maria von Loewenich hat durch die Untersuchung der Bildquellen als Medien der Visualisierung am Beispiel der Audienz interessante Ergebnisse erzielt. Eine systematische Untersuchung der Darstellungen unter kunst- und bauhistorischen Fragestellungen21 könnte weitere Ergebnisse erbringen. Bereits ein flüchtiger Blick auf die beiden Darstellungen der Audienz in Speyer in Wilhelm Rodings Pandectae iuris cameralis 1668 im Vergleich zu Peter Fehrs Darstellung derjenigen in Wetzlar erweist, dass es sich um zwei deutlich unterschiedliche Räume handelt: Der Speyerer Raum ist lediglich von links mittels fünf rechteckiger Fensteröffnungen beleuchtet, der Raum in Wetzlar dagegen zeichnet sich durch zwei fast vollständig durchfensterte Wände mit Butzenscheiben aus. Diese Vergleiche und Untersuchungen wären in größerem Rahmen systematisch durchzuführen. Welche Rolle spielt der Raum für das Gericht, wie viele Räume benötigt es für welche Funktionen? Daneben wären auch schriftliche Quellen unter diesen Fragestellungen auszuwerten, z. B. enthalten die Ratsprotokolle gelegentlich Hinweise22 ebenso wie die Prozessakten.23 Daneben gibt es Beschreibungen Speyers, die es diesbezüglich auszuwerten gäbe. Interessant ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Chronik der Grafen von Zimmern, verfasst von Froben Christoph von Zimmern (1519–1566).24 Außerdem existiert mit der Autobiographie des Bartholomäus Sastrow (1520–1603), dem späteren Bürgermeister von Stralsund, eine ergiebige  

21 Wer hat die Darstellungen konzipiert? Wer hat sie umgesetzt? Wie wurden sie verbreitet? Wie wurden sie rezipiert? Zogen Speyer und Wetzlar wegen guter Auftragslage Maler und Stecher an? Wie waren diese organisiert, wie ihre Arbeit entlohnt? 22 Ich danke für den freundlichen Hinweis Hans-Helmut Görtz. Er macht mit seiner Arbeit die Quellen leichter nutzbar; vgl. Hans-Helmut Görtz: Das Speyerer Ratsprotokoll 1667. Transkribiert und bearbeitet von Hans-Helmut Görtz. Speyer 2014 (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, H. 11. Hrsg. von der Bezirksgruppe Speyer im Historischen Verein der Pfalz e.V.) und ders.: Reichskammergerichtspersonal und andere Personen in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689. Speyer 2015 (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, H. 12. Hrsg. von der Bezirksgruppe Speyer im Historischen Verein der Pfalz e.V.). 23 Z. B. findet sich der Hinweis, die Zustellung der Ladung erfolge durch Anschlag an die Tür des RKG und des Doms „sowie an das Gerichtshäuslein bei der Münze in Speyer“, Inventar der pfälzischen Reichskammergerichtsakten. Landesarchiv Speyer. Best. E6. Bearbeitet von Martin Armgart und Raimund J. Weber. Koblenz 2009 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 111 1–5), Akte 2516 – nach Konkordanz 1925 aus dem Jahr 1528. 24 Unter anderen Aspekten hat bereits Andreas Deutsch mehrere Chroniken untersucht, vgl. Andreas Deutsch: Das Bilder der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit, in: Anja Amend-Traut u. a. (Hrsg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis. München 2012 (bibliothek altes Reich, Bd. 11), S. 19–43.  



Das Reichskammergericht in Speyer (1527–1689)

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Quelle für den Alltag am Reichskammergericht in seiner Speyerer Zeit.25 Nicht zuletzt ließen sich anhand biographischer Forschungen unter Einbeziehung der materiellen Kultur neue Erkenntnisse gewinnen. Entsprechende Objekte sind zum Beispiel ein Steinkrug26 und ein Trinkbecher, die im Auftrag von Speyerer Kameralen gefertigt wurden, sie befinden sich im Historischen Museum der Pfalz.27 Ein ganz eigenes Feld auch für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ergibt sich, wenn man die rechtshistorisch-biographische Forschung zu den Advokaten, Prokuratoren und Assessoren sowie zum Kammerrichter des Reichskammergerichts der Speyerer Zeit mit kunst- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen koppelte: das große Repräsentationsbedürfnis der Kameralen und die Notwendigkeiten der Prozesse (z. B. Augenscheinkarten) eröffnete auch ein reiches Betätigungsfeld für Maler, Kartenmaler und Stecher, Bildhauer und Goldschmiede. Neben den Wohnhäusern gälte es auch die Grabsteine, Stiftungen und Portraits zu untersuchen. Es bleibt einer großangelegten systematischen Arbeit vorbehalten, die vielfältigen kulturgeschichtlichen Aspekte des Reichskammergerichts der Speyerer Zeit zu untersuchen. Diese kann auf zahlreichen Vorarbeiten aufbauen,28 zu denen sich dieser Beitrag hinzugesellt, der vor allem von einem genauen Blick auf einen Plan des 18. Jahrhunderts ausgeht. Für Speyer würde mit einem solchen Projekt die Erinnerungsarbeit an seine Blütezeit im 16. Jahrhundert erleichtert, denn die Erinnerung wird durch die materielle Überlieferung wirkmächtig unterstützt.  

25 Gottlieb Christian Friedrich Mohnike (Hrsg.), Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens. 3 Bde. Greifswald 1823. 26 Vgl. Ludger Tekampe: Steinzeugkrug von Wolfang Auer, Assessor am Reichskammergericht. Katalognummer IV.76, inschriftlich datiert 1628, in: Heiliges Römisches Reich (wie Anm. 20), S. 309–310. 27 Auch für diese Hinweise danke ich Ludger Tekampe. 28 Vgl. insbesondere Hartmut Harthausen: Geistes- und Kulturgeschichte Speyers vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 3 (wie Anm. 8), S. 349–443 (mit älterer Literatur) und Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806. Mainz 1994.

III Speyer und die Nachbarn

Hans Ammerich

Bistum und Hochstift Speyer im Spannungsfeld von Reformation und Katholischer Reform im 16. und frühen 17. Jahrhundert 1 Bistum und Hochstift Speyer zu Beginn der Reformation Die bald nach 1518 entstandene „reformatorische Bewegung“ war keineswegs eine Einheit und allein von Luther abhängig. Es kam bald eine ganze Reihe von Einflüssen hinzu, die Mischformen zuließen, bei denen nicht zu bestimmen ist, ob sie schon reformatorisch oder noch katholisch waren. Das Bewusstsein, sich von der bisherigen kirchlichen Lehrmeinung gelöst zu haben, entwickelte sich bei den Geistlichen und den Laien nur allmählich. Die Grenzen des Übergangs vom alten zum neuen Glauben waren fließend. Der bewegte Zeitabschnitt von 1517 bis zum Ende des Trienter Konzils (Dezember 1563) ist bestimmt durch ein Auf und Ab in den Territorien und Gemeinden, in denen kirchliche und religiöse Vorstellungen ins Wanken geraten sind. Frühestens seit dem Ende der sechziger Jahre des 16. Jahrhunderts werden die Konturen zwischen den „Alt“- und „Neugläubigen“ allmählich fassbar. Mit landesherrlichen Verordnungen zur Einführung der neuen Lehre wurde nicht die gesamte Bevölkerung innerhalb weniger Monate protestantisch; vielmehr bedurfte es einer längeren Übergangszeit, bis die Bevölkerung mit der neuen Lehre und deren Kultformen vertraut war. Für einzelne pfälzische Territorien wie beispielsweise Pfalz-Zweibrücken und Leiningen-Hardenburg lässt sich feststellen, dass manche katholischen Feiertage weiter bestanden und auch begangen wurden. Der Landesherr übernahm nach der Auflösung der katholischen Kirchenorganisation das in seinem Herrschaftsbereich bestehende Pfarrnetz und beanspruchte als Schutzherr seiner Kirche deren Besitz und Vermögen. Das landesherrliche Kirchenregiment trat somit in die „Erbfolge“ der mittelalterlichen Kirche ein. Zu einer tief greifenden Umformung kam es erst in einem oft in den Quellen nur sehr schwer festzustellenden jahrzehntelangen Ablösungsprozess. Die „reformatorische Bewegung“ stellte auch das Bistum Speyer vor besondere Herausforderungen. Der folgende Beitrag möchte die religiös-kirchliche Situation im Bistum und Hochstift Speyer im 16. und frühen 17. Jahrhundert schildern.

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Hans Ammerich

Wie stellten sich die kirchlichen Verhältnisse in der Stadt Speyer dar, in der seit 1527 das Reichskammergericht seinen Sitz hatte und die sich seit 1540 der lutherischen Reformation angeschlossen hatte? Welche Funktion kam dem Reichskammergericht im Spannungsfeld von Reformation einerseits und Bewahrung des katholischen Bekenntnisses andererseits zu? Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die von Bischof Eberhard von Dienheim (1581–1610) eingeleiteten Reformmaßnahmen zu Beginn der achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts. Die Untersuchung von Zielsetzung und Wirkung der Maßnahmen zur religiösen und sittlichen Erneuerung auf den Weltklerus und das Kirchenvolk stehen dabei im Vordergrund. Die Auswirkung auf Stifte und Klöster soll bei der Betrachtung ausgeklammert bleiben. Ebenso kann es nicht darum gehen, die Maßnahmen im Einzelnen zu betrachten. Es können lediglich Tendenzen des Reformwerks aufgezeigt werden. Zu berücksichtigen ist stets, dass der mehr oder minder starke Eifer der Bischöfe sich hemmend oder fördernd auf die Reformbemühungen auswirken konnte. Mit dem Amt des Speyerer Bischofs verband sich geistliche und weltliche Herrschaft. Das Bistum, der geistliche Jurisdiktionsbezirk des Bischofs, deckte sich nicht mit dem weltlichen Amtsbereich des Bischofs, dem Hochstift. Hochstift hieß das Territorium, das der Bischof als Lehen vom König erhielt und als weltlicher Landesherr regierte. Zwar erstreckte sich das Bistum, ebenso wie das Hochstift, zu beiden Seiten des Rheins, doch war das Erstgenannte weit umfangreicher. Bis zu den Umwälzungen im Gefolge der Französischen Revolution erstreckte sich das Bistum Speyer vom Kamm des Haardtgebirges im Westen bis in die Region von Rems und Murr im Osten und von Dürkheim im Norden bis nach Forbach im Murgtal im Süden. Das Hochstift Speyer gehörte zum Oberrheinischen Reichskreis und hatte im Reichstag eine Stimme unter den geistlichen Reichsfürsten. Es umfasste 1540 km2 links und rechts des Rheins. Mit der Erhebung der Stadt Speyer zur freien Reichsstadt ging der zentrale Teil des Hochstifts verloren. Residenzen wurden danach Udenheim, das spätere Philippsburg, und Bruchsal. Das Hochstift hatte seinen Schwerpunkt auf dem rechten Ufer des Rheins um Bruchsal, linksrheinisch um Deidesheim, um Speyer, am Haardtrand, im Bienwald und um Weißenburg.

2 Die kirchliche Situation in der Reichsstadt Speyer Als am 19. April 1529 auf dem Reichstag zu Speyer die endgültige Durchführung des Wormser Edikts beschlossen wurde, kam es zum Protest der Anhänger der

Bistum und Hochstift Speyer im Spannungsfeld

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Reformation. Weder Kurfürst Ludwig V. (1508–1544) von der Pfalz1 noch Herzog Ludwig II. (1514–1532) von Pfalz-Zweibrücken2 noch die Städte Speyer und Landau3 hatten dem Protest zugestimmt. Der pfälzische Kurfürst hatte es stets abgelehnt, Bündnissen protestantischer Fürsten beizutreten. Als aber am Ende der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts die Macht der evangelischen Stände zusehends wuchs, hatte auch Kurfürst Ludwig V. keine Bedenken mehr, den Protestanten entgegenzukommen. Zusammen mit seinem Bruder, dem Pfalzgrafen und späteren Kurfürsten Friedrich (II.), gestattete er 1538 für die Oberpfalz auf Bitten der dortigen Stände und Städte, dass die evangelische Predigt gehalten und die Kommunion unter beiderlei Gestalt ausgeteilt werden dürfe.4 Zudem hätten angeklagte Priester vor dem weltlichen Gericht zu erscheinen.5 Nun fühlte sich offensichtlich auch der Rat der Stadt Speyer stark genug, den religiösen Umbruch zu unterstützen.6 So beschloss er aufgrund eines Gutachtens der so genannten „Dreizehner“ am 27. November 1538, evangelisch gesinnte

1 Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stuttgart 1970 (Kieler Historische Studien, Bd. 7), S. 172. 2 Zur konfessionellen Entwicklung in Pfalz-Zweibrücken: Hans Ammerich: Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung und Verwaltung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches. Saarbrücken 1981 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Bd. XI), S. 95–98, hier S. 95; ders.: Im Wechsel der Konfessionen. Pfalz-Zweibrücken von der Reformation bis zum Aufgeklärten Absolutismus, in: Ebernburg-Hefte 45 (2011), S. 11–32 = Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 78 (2011), S. 227–248, hier S. 12 (228). 3 Ludwig Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz, II. Teil. Speyer 1949, S. 288; Hans Ammerich: Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer im Zeichen der Katholischen Reform, in: Georg Jenal (Hrsg.), Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag. München 1993, S. 31–54, hier S. 31 f.; in verkürzter Form auch: ders.: Das kirchliche Leben in der Reichsstadt Speyer an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: „Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng auff die fürnemste Feste“. Das Speyerer Gesangbuch von 1599. Eine Einführung. Hrsg. von Herbert Pohl im Auftrag des Bischöflichen Priesterseminars St. German, Speyer. Speyer 2003, S. 11–30. 4 Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 14: Kurpfalz I. Die Regierungszeit Ludwigs V. (1508–1544), S. 7–11, hier S. 10 f. – Zur frühen Phase der Reformation in der Kurpfalz: Meinrad Schaab: Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2: Neuzeit. Stuttgart u. a. 1992, S. 16–25. 5 Schaab: Kurpfalz (wie Anm. 4), S. 25. 6 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 3), T. II, S. 293; Wolfgang Eger: Speyer und die Reformation. Die konfessionelle Entwicklung in der Stadt im 16. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. III. Stuttgart 1989, S. 291–347, hier S. 314; Gustav Adolf Benrath: Evangelische Bewegung und Reformation in der Reichsstadt Speyer (1517–1555), in: ders.: Reformation – Union – Erweckung. Beispiele aus der Kirchengeschichte Südwestdeutschlands. Hrsg. von Klaus Bümlein/Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele. Mainz  





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Hans Ammerich

Prediger zu fördern, nachdem schon in den 1520er Jahren Gottesdienste mit lutherischen Predigten und anderen lutherischen Elementen in der Stadt abgehalten worden waren. An der Ägidienkirche predigte bereits seit 1532 der Karmeliterprior Anton Eberhardt, vom Magistrat als Prediger anerkannt, Luthers Lehre.7 Nun sollte auch der Augustinerprior Michael Diller († 1570) nicht je zuweilen, sondern alle Sonntag frühe in seiner Klosterkirch dem Volk predigen.8 Eberhardt und Diller wurden aber erst 1540 als lutherische Prediger angestellt. Wie lange Eberhardt an der Ägidienkirche predigte, ist nicht genau nachzuweisen; jedoch war er spätestens 1543 nicht mehr dort. Nach Eberhardt kamen wieder katholische Priester in die Ägidienkirche.9 Während der Aufenthalte des Kaisers in Speyer 1541 und 1544 musste Diller seine Tätigkeit unterbrechen und nach dem Augsburger Interim (1548) die Stadt endgültig verlassen. An der Pfarrkirche St. Georg übte die Stadt die Patronatsrechte aus. Dort wurde aber erst 1561 ein Prädikant angestellt.10 Die übrigen katholischen Pfarrkirchen ließ der Stadtrat unangetastet.11 Doch blieben konfessionelle Auseinandersetzungen nicht aus.12 St. Peter wurde in der Regel von den Karmeliten betreut. Für die Pfarreien St. Johann, St. Jakob und St. Bartholomäus wurden die Seelsorger vom Domkapitel ausgewählt und ernannt. Die Folgen der „reformatorischen Bewegung“ machten auch vor den Speyerer Klöstern nicht halt. Konnte noch 1538 das Augustinereremitenkloster als „Hort des alten Glaubens“ bezeichnet werden, so verbreitete von dort aus der bereits

2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 228), S. 13–32, hier S. 25–27. 7 Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 307; Benrath: Evangelische Bewegung (wie Anm. 6), S. 26. – Zu den innerevangelischen konfessionellen Auseinandersetzungen in St. Ägidien 1576/77: Daniela Blum: Multikonfessionalität im Alltag. Speyer zwischen politischem Frieden und Bekenntnisernst (1555–1618). Münster 2015 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 162), S. 57–93. 8 Zitat nach Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 314; Benrath: Evangelische Bewegung (wie Anm. 6), S. 25. 9 Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 322, 330. 10 Ludwig Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz. Teil III, 1. Hälfte. Speyer 1955, S. 47; Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 323; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 335, 343. 11 Die St. Martinskirche in Altspeyer war abgebrannt; um ihre Wiederherstellung bemühte sich der Generalvikar Siegfried Pfefferkorn. Zum Folgenden Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 48. – Ansichten von Speyerer Klöstern, Kirchen und Kapellen bei L. Anton Doll/Günter Stein: Es ist Speier ein alte stat. Ansichten aus vier Jahrhunderten 1492–1880. Speyer 1991. 12 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 42 f.; Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 329; Ammerich: Das kirchliche Leben (wie Anm. 3), S. 33.  

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erwähnte Prior Diller wenig später die lutherische Lehre.13 1541 waren das Augustinereremitenkloster und das Karmeliterkloster wohl schon nicht mehr besetzt, während im Dominikanerkloster noch 1544 Messe gehalten wurde.14 Der rheinisch-schwäbischen Augustinerprovinz gelang im Verlauf des Augsburger Interims (1548) – die Stadt Speyer nahm die Bestimmungen an – wieder eine provisorische Besetzung des Augustinereremitenklosters.15 Im Dezember 1552 waren alle Speyerer Klöster offensichtlich wieder besetzt.16 Doch der Anspruch der Stadt auf die mittelalterliche Tradition der Güterverwaltung bei den Bettelorden – es wurden weltliche Pfleger eingesetzt – führte dazu, dass Klostergebäude zunehmend entfremdet wurden, also für andere Zwecke genutzt wurden.17 1540 kam es zur Einrichtung der Ratsschule, die bereits 1525 nach Luthers Aufforderung an die Ratsherren der Städte geplant und zunächst im Dominikanerkloster untergebracht war. Sie war allerdings nicht nur aus konfessionellen Gründen notwendig geworden, sondern sollte auch der Domschule und den Stiftsschulen Konkurrenz machen, die seit dem Spätmittelalter einen starken Niedergang erfahren hatten. Die erste Schulordnung verfasste der erste Schulleiter Magister Johann Myläus aus Niederolm.18 Nach dem Augsburger Religionsfrieden (1555) ernannte der Rat wieder evangelische Prediger für die Augustinerkirche. 1570 kam es mit dem Provinzial sogar zu einer vertraglichen Vereinbarung über das Nutzungsrecht der Protestanten am

13 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 3),T. II, S. 293; Heinz-Josef Engels/Renate Engels/Katrin Hopstock: Augustinerkloster, Schule, Sparkasse. Geschichte auf einem Speyerer Bauplatz. Speyer 1985, S. 30 f.; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 102. 14 Engels/Engels/Hopstock: Augustinerkloster (wie Anm. 13), S. 31. 15 Ebenda. 16 Wolfgang Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten der Jesuiten. Dargestellt an drei Beispielen aus dem mittelrheinischen Raum, in: Die Gesellschaft Jesu und ihr Wirken im Erzbistum Trier. Katalog-Handbuch zur Ausstellung im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum Trier, 11. September 1991–21. Oktober 1991. Mainz 1991 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 66), S. 57–70, hier S. 58 Anm. 5. 17 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 58. – Pflegschaften sind für die Augustinereremiten 1553/54, 1594 und 1611 bezeugt (Engels/Engels/Hopstock: Augustinerkloster [wie Anm. 13], S. 31), für die Franziskanerminoriten bereits 1546 (Max Heinrichsperger: Speyer – Franziskaner-Konventualen und Terziarinnen, in: Alemania Franciscana Antiqua, Bd. V/6. Ulm 1959, S. 48–83, hier S. 67). 18 Karl Reissinger: Dokumente zur Geschichte der humanistischen Schulen im Gebiet der Bayerischen Pfalz. Teil 1: Historische Dokumente der bischöflichen Schulen. Berlin 1910 (Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. XLVII), S. 397–400; Benrath: Evangelische Bewegung (wie Anm. 6), S. 27 f.  



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Langhaus zu festgelegten Zeiten.19 Ab April 1595 fanden in der Franziskanerkirche erstmals evangelische Predigt und Abendmahl statt.20 1569 forderte der Stadtrat von den Dominikanern die Mitbenutzung der Konventskirche; dabei argumentierte man mit der Notwendigkeit, man wolle die Klostergebäude in rechten Gebrauch bringen, zumal die Protestanten der Stadt auf die Mitbenützung angewiesen seien.21 Prior Heinrich Stehel und der einzig noch verbliebene Konventuale verwahrten sich dagegen; vergeblich hatte der Prior darauf hingewiesen, dass Kaiser Karl V. nach 1548 bereits die Stadt angewiesen hatte, die im Klosterbereich errichtete Lateinschule wieder zu entfernen. Doch konnte Kaiser Maximilian II. am 8. November 1570 auf dem Speyerer Reichstag die Dominikaner dazu bewegen, im Langhaus simultanen Gebrauch zuzulassen.22 1567 hatte der Herzog von Württemberg als Herr der Propstei Denkendorf das Speyerer Heiliggrabkloster eingezogen.23 Prior und Konvent sprachen sich für die Augsburgische Konfession aus. Nach einem zwischen der Stadt und dem Propst von Denkendorf 1568 geschlossenen Vertrag konnte die Stadt einen Prediger an der Kirche einstellen und eine Schule einrichten. 1585 wurde das Kloster vom Herzog von Württemberg an die Stadt verkauft; später wurde das Gebäude als Lazarett verwendet. Nur mit äußerster Mühe konnten 1570 und ein Jahrzehnt später Bischof, Domkapitel und Orden das Franziskanerkloster vor dem Zugriff der Stadt schützen.24 Bischof und Domkapitel dachten vorübergehend daran, die fast leer stehenden Gebäude den Jesuiten anzubieten.25 Seit Ende 1579 waren sowohl der Stadtrat wie auch der Bischof an einem Kauf des Klosters interessiert. Aufgrund des wirtschaftlichen und sittlichen Tiefstandes betrieb Bischof Marquard von Hattstein beim Reichskammergericht und in Rom die Aufhebung des Klosters. Tatsächlich konnte er am 9. Juli 1580 die päpstliche Inkorporation in seine Mensa erreichen, die Kaiser Rudolf am 12. September bestätigte.26 Zugleich wurde auch

19 Engels/Engels/Hopstock: Augustinerkirche (wie Anm. 13), S. 31 f.; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 103. 20 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 58, Anm. 5. 21 Ebenda, S. 59. 22 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 44 f.; Ammerich: Das kirchliche Leben (wie Anm. 3), S. 34. 23 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 46 f.; Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 330; Ammerich: Das kirchliche Leben (wie Anm. 3), S. 34. 24 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 59. 25 Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 72–75. 26 Konrad Eubel: Zur Geschichte des Minoritenklosters zu Speier, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 45 (1891), S. 675–698, hier S. 685–689; Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 72–75.  





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das Kloster St. Klara dem Bischof unterstellt.27 Die Ordensleitung der Franziskaner beschloss, weder der Stadt noch dem Bischof das Kloster zukommen zu lassen, sondern es dem Orden zu erhalten.28 Für die Klöster bedeuteten die Anwesenheit des Reichskammergerichts sowie die Reichs- und Deputationstage eine gewisse Sicherheit. Die Furcht vor kaiserlichen Reaktionen ließ den Rat vor Enteignungen zurückschrecken.29 Mit Ergänzungen aus dem Provinzbereich gelang die Rettung der Klöster. Die Karmeliter taten sich aber schwer, denn ihre zehn rheinischen Konvente wiesen 1548 nur noch 18 Konventualen auf30, die Provinz der Dominikaner in Oberdeutschland zur gleichen Zeit nur noch zehn.31 Die Augustiner konnten ihre Position durch Provinzialkapitel in Speyer in den Jahren 1572, 1587 und 1607 sichern.32 Neben den Stiften Allerheiligen, St. German und St. Guido gab es vor dem Dreißigjährigen Krieg noch drei Frauenkonvente: das heute noch bestehende Dominikanerinnenkloster St. Magdalena33, das Kloster der Augustinerinnen bei St. Martin in Altspeyer34 und das nicht weit davon entfernte St. Klarakloster.35 Nachdem es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Disziplin der

27 Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 72. 28 Eubel: Geschichte (wie Anm. 25), S. 689; Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 74 f. 29 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 58; Ammerich: Das kirchliche Leben (wie Anm. 3), S. 35. 30 Gundolf Mesters: Die Rheinische Karmeliterprovinz während der Gegenreformation (1600– 1660). Speyer 1958 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 4), S. 9, Anm. 14. 31 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 45. 32 Engels/Engels/Hopstock: Augustinerkloster (wie Anm. 13), S. 34. 33 Zu St. Magdalena: Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 47 u. S. 187; 750 Jahre Kloster Sankt Magdalena Speyer 1228–1978. Speyer 1978; Doll/Stein: Speier (wie Anm. 10), S. 174 f.; Martin Armgart: Die Anfänge des Speyerer Klosters St. Maria Magdalena überm Hasenpfuhl, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte (künftig: AmrhKG) 46 (1994), S. 21–53. Reuerinnen- und Dominikanerinnen-Kloster Sankt Maria Magdalena überm Hasenpfuhl vor Speyer, bearb. von Martin Armgart. Neustadt an d. Weinstraße, Bd. 1: Urkunden und Regesten, 1995, Bd. 2: Zinsbücher, Chronik und Nekrolog, Urkunden und Regesten (Nachträge), 1997 (Stiftung zur Förderung der Pfälzischen Geschichtsforschung: Reihe A ; 1,1 und 1,2); Martin Armgart: Ein Frauenkloster, das überdauert hat: Die Dominikanerinnen von St. Maria Magdalena überm Hasenpfuhl in Speyer, in: Volker Rödel/Hans Ammerich/Thomas Adam (Hrsg.), Säkularisation am Oberrhein. Ostfildern 2004 (Oberrheinische Studien, Bd. 23), S. 199– 220. 34 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 47 u. S. 187. 35 Zu St. Klara: Rudolf Schreiber: Der Franziskanerinnenkonvent von St. Klara im Alt-Speier 1600–1800, in: AmrhKG 4 (1952), S. 185–203; Helmut Steiner: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des Klosters St. Klara in Speyer am Rhein, in: AmrhKG 8 (1956), S. 133–188; Doll/Stein: Speier (wie Anm. 10), S. 114 f.  



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Schwestern schlecht bestellt war, erlebte das Klara-Kloster am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges eine wirtschaftliche Blüte. Der Konvent war im Wachsen begriffen, die Klosteranlagen wurden beträchtlich erweitert. Doch wurde die Aufwärtsbewegung des Klosters durch den Krieg jäh unterbrochen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erholte sich das Kloster allmählich. Am 1. Dezember 1685 inkorporierte der Bischof Johann Hugo von Orsbeck das Augustinerinnenkloster und die Pfarrkirche St. Martin mit allen Liegenschaften und Gefällen dem Kloster St. Klara. Speyer zählte 1543 rund 7 300 Einwohner, wobei der Anteil des Klerus und seiner Untergebenen etwa 1 360 Personen betrug, rund 18 Prozent. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, noch vor der Zerstörung Speyer 1689, bestand bei insgesamt 5 700 Einwohnern zwar noch die gleiche Anzahl von Klerikern, aber es gab nur noch 42 katholische Bürgerfamilien. Das katholische Leben in der Stadt war im Wesentlichen auf den Gottesdienst im Dom und in den Stiften Allerheiligen, St. German und St. Guido reduziert. Schritte des Speyerer Magistrats gegen den katholischen Glauben wurden nur dadurch verhindert, dass die Stadt kaiserliche Reaktionen fürchtete, die die Funktion der Stadt als Tagungsort des Reichstags und Sitz des Reichskammergerichts gefährdet hätten.

3 Die Bischöfe von Speyer und die Katholische Reform Der Regierungsantritt des lutherischen Kurfürsten von der Pfalz Ottheinrich36 im Jahr 1556 leitete den verstärkten Kampf um die Existenz des Hochstifts Speyer wie um das Fortbestehen der Diözese ein.37 Es war die Absicht der protestantischen Kurfürsten gewesen, das Hochstift in ihr Territorium einzugliedern. Dem Fürstbischof Philipp von Flersheim (1529–1552)38 – auf den Rückhalt beim Kaiser 36 Zu Ottheinrich: Press: Calvinismus (wie Anm. 1), S. 204–220; Hans Ammerich/Hartmut Harthausen (Hrsg.), Ottheinrich und die humanistische Kultur in der Pfalz. Speyer 2008 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer, Bd. 103). 37 Franz Xaver Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer. Bd. 2, Mainz 1854, ND Pirmasens 1975, S. 345 f.; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 11; Hans Ammerich: Das Bistum Speyer von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Speyer 2011, S. 109–117. 38 Zu Philipp von Flersheim: Theodor Julius Ney: Philipp II. Bischof von Speier, in: Allgemeine Deutsche Biographie (künftig: ADB), Bd. 26. Leipzig 1888, S. 47–50; Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 267–327; Hermine Stiefenhöfer: Philipp von Flersheim. Bischof von Speyer (1529–1552) und Gefürsteter Propst von Weißenburg 1546–1552. Speyer 1941; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 4), T. II, S. 323 f.; Hans Ammerich: Flersheim,  



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bauend – war es gelungen, die Gefahr einer Einverleibung des Hochstifts in die Kurpfalz zu bannen. Der Nachfolger des 1552 verstorbenen Flersheim, Rudolf von Frankenstein (1552–1560)39, suchte dem sich ausbreitenden lutherischen Bekenntnis entgegenzuwirken. Er fiel aber schon bald in geistige Umnachtung, so dass ihm im August 1559 das Domkapitel in Marquard von Hattstein40 einen Koadjutor „sine jure successionis“ (ohne Recht auf Nachfolge) gab. Nach dem Tod Frankensteins am 21. Juni 1560 wurde Hattstein einstimmig zum Bischof gewählt.41 Als Koadjutor hatte er das Vertrauen des Kaisers Maximilian II. gewonnen, war dessen Ratgeber und wurde mehrfach mit schwierigen Aufgaben betraut.42 Der politisch gewandte Hattstein entsprach aber keineswegs den Anforderungen, die das Bischofsamt an ihn stellte. Über seinen Episkopat berichtete der päpstliche Nuntius Gropper 1573 nach Rom, dass die geistlichen Angelegenheiten mit allzu großer Gleichgültigkeit behandelt würden.43 In den letzten Jahren seiner Regierungszeit war Hattstein wiederholt krank, so dass er sein Amt kaum ausüben konnte. Als Nachfolger wählte das Domkapitel am 20. Dezember 1581 einhellig den Domsänger Eberhard von Dienheim (1581–1610), dessen Weihe wegen einer Seuche und des Beginns des Kölnischen Krieges erst am 1. Januar 1584 stattfinden konnte.

Philipp Freiherr von (um 1481–1552), in: Erwin Gatz (Hrsg.) unter Mitwirkung von Clemens Brodkorb, Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1996, S. 185–186. 39 Zu Rudolf von Frankenstein: Hans Ammerich: Frankenstein, Rudolf Freiherr von (um 1524– 1560), in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648 (wie Anm. 38), S. 189 f.; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 3), T. II, S. 73, 80, 324; Anton Philipp Brück: Der Speyerer Bischof Rudolf von Frankenstein als Mainzer Domherr, in: 900 Jahre Speyerer Dom. Speyer 1961, S. 302–309. 40 Zu Marquard von Hattstein: Hans Ammerich: Hattstein, Marquard von (1529–1581), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches (wie Anm. 38), S. 258–260; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 16–23; Heinz-Peter Mielke: Die Niederadligen von Hattstein, ihre politische Rolle und soziale Stellung. Wiesbaden 1977, S. 294–337; ders.: Schwenkfeldianer im Hofstaat Bischof Marquards von Speyer (1560–1581), in: AmrhKG 28 (1976) S. 77–82; Volker Press: Das Hochstift Speyer im Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit – Portrait eines geistlichen Staates, in: Volker Press/Eugen Reinhard/Hansmartin Schwarzmeier (Hrsg.), Barock am Oberrhein. Karlsruhe 1985 (Oberrheinische Studien, Bd. VI), S. 251–290, hier S. 262–264; Gerhard Fouquet: Der Domklerus, in: Kurt Andermann, Bürger – Kleriker – Juristen. Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten. Ostfildern 2014, S. 35–47, hier S. 43 f. 41 Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 353; Mielke: Niederadlige (wie Anm. 40), S. 301 f. 42 Mielke: Niederadlige (wie Anm. 40), S. 302–308. 43 Die Nuntiatur-Korrespondenz Kaspar Groppers nebst verwandten Aktenstücken 1573–1576. Bearb. von Wilhelm Eberhard Schwarz. Paderborn 1898, S. 414 f.  







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Die Reformarbeit wurde von Fürstbischof Eberhard von Dienheim gefördert. Dennoch waren die eingeleiteten Reformmaßnahmen durch seine finanzielle Misswirtschaft erheblich gefährdet. So stand die finanzielle Schwäche des Hochstifts Speyer einer eigenständigen politischen Linie entgegen. Der entschieden katholische Bischof Eberhard musste Konflikte mit den benachbarten evangelischen Territorien, insbesondere mit der übermächtigen Kurpfalz, vermeiden. Bei seinem Tod (9. Oktober 1610) hinterließ der Bischof, der wegen seines Finanzgebarens wiederholt vom Domkapitel scharf kritisiert wurde, eine immense Schuldenlast.

3.1 Die tridentinische Erneuerung Der moralisch-seelsorgerische Tiefstand des Klerus, besonders in den Stiften, machte es notwendig, Geistliche aus anderen Diözesen und Ordensleute nach Speyer zu holen. Bischof Philipp von Flersheim hatte erkannt, dass eine Reform mit diözesaneigenen Kräften nicht durchzuführen war. Am 24. Oktober 1540 kam Petrus Faber, ein Gefährte Ignatius von Loyolas und Mitbegründer des Jesuitenordens, im päpstlichen Auftrag nach Worms, um beim Religionsgespräch anwesend zu sein. Auf der Weiterreise zum Regensburger Religionsgespräch hielt er sich bis 6. Februar 1541 in Speyer auf. Vom Papst beauftragt, kam Faber am 15. April 1542 ein zweites Mal nach Speyer, wo er sich dem Nuntius Morone zur Verfügung stellen sollte. Bis zum 10. Oktober 1542 blieb er in Speyer. Der Bischof, so schreibt Petrus Faber über sein Wirken in Speyer, war schon entschlossen, mich eine theologische Vorlesung halten zu lassen; der Klerus war für uns sehr aufgeschlossen, und ebenso die angesehensten Laienpersönlichkeiten, nicht nur aus der Reichskammer [Reichskammergericht], sondern auch die führenden Leute der Stadt. Es war uns gelungen, ein paar wichtige Versöhnungen zustande zu bringen, und wir hatten eine offene Tür zu einer reichen Ernte gefunden – doch der Kardinal von Mainz hatte dringendst nach mir verlangt, und es hatte sich mir eine gute Gelegenheit geboten, mich mit meinen Gefährten von Speyer zu verabschieden. So langte ich hier in Mainz an, von wo aus mich Seine Eminenz mit einigen seiner Theologen zum Konzil schicken will (obwohl ich ja gezeigt habe, wie unfähig ich zu Aufgaben solchen Gewichts bin), und er hat mich geheißen, mich zur Reise bereit zu machen [. . .].44 Offenbar erreichte Petrus Faber aufgrund seiner Frömmigkeit und

44 Peter Faber, Memoriale. Das Geistliche Tagebuch des ersten Jesuiten in Deutschland, nach den Manuskripten übersetzt und eingeleitet von Peter Henrici. Anhang: Fabers Apostolat, Briefe und Unterweisungen, Brief 6, vom Übersetzer gekürzt und bearbeitet. Einsiedeln 1972, S. 339 f.;  

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Liebenswürdigkeit viele, die der katholischen Kirche inzwischen fernstanden. So berichteten die Speyerer Pfarrer dem Bischof nach Ostern 1542, dass in diesem Jahr mehr Gläubige zur Beichte und Kommunion gekommen seien als in den letzten zwanzig Jahren insgesamt45. Das Konzil von Trient, von dem Petrus Faber in seinem Brief spricht, wurde 1545 einberufen. Es tagte in drei Sitzungsperioden mit jeweils langen zeitlichen Unterbrechungen, nämlich von 1545 bis 1547, 1551/1552 und 1562/63. Petrus Faber erlebte das Ende der ersten Tagungsperiode nicht mehr. Er starb am 1. August 1546 in Rom. Das Konzil von Trient „ist bis zum II. Vatikanum wohl das wichtigste aller Allgemeinen Konzilien [. . .]. Es war die Antwort auf die protestantische Reformation und die, wenn auch nicht vollkommene, so doch eben erreichbare Erfüllung des lang angestauten Verlangens nach einer inneren Erneuerung der Kirche. Es gab der Theologie wie der Glaubensverkündigung klare Normen […].“46 Damit wurde das Tridentinum zum Fundament für den Katholizismus der Neuzeit47. Zwei große Aufgaben waren zu lösen: Neben einer verbindlichen Festsetzung der von den Reformatoren angegriffenen Glaubenslehre musste zur Stärkung der alten Kirche ein Programm zu ihrer Reform verabschiedet werden. Papst Pius IV. bestätigte am 26. Januar 1564 die Beschlüsse des Konzils; es „restaurierte nicht einfach das Mittelalter, sondern reformierte Verfassung und Seelsorge nach den Erfordernissen der Zeit. In Trient fand die alte Kirche ihr Selbstvertrauen, ihr Selbstbewußtsein wieder. Aufgrund der tridentinischen Beschlüsse begann die wirkliche Erneuerung der Kirche schließlich überall Tatsache zu werden [. . .]“48.

3.2 Klerus- und Seelsorgereform Ein wichtiger Aspekt der tridentinischen Erneuerung war jener geschichtliche Prozess, in dessen Verlauf ein „neuer Klerus“ entstehen sollte, der den Normen des Konzils entsprach. Der Pfarrklerus musste sein theologisches Wissen, sein geistliches Wirken und die Art und Weise seiner Lebensführung nach den Richt-

Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 62; Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 124. 45 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 62; Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 124. 46 Georg Schwaiger: Päpstlicher Primat und Autorität der Allgemeinen Konzilien im Spiegel der Geschichte. München/Paderborn/Wien 1977, S. 154. 47 Manfred Weitlauff: Das Konzil von Trient und die tridentinische Reform auf dem Hintergrund der kirchlichen Zustände der Zeit, in: AmrhKG 41 (1989), S. 13–59. 48 Schwaiger: Päpstlicher Primat (wie Anm. 46), S. 154.

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linien dieses Reformprogramms verändern.49 In der ungefähr 8 000 Einwohner zählenden Reichsstadt Speyer dürften um 1560 nur 30 bis 40 katholische Laien mit Bürgerrecht gewohnt haben. Immer wieder waren Klagen über Pflichtversäumnisse des Klerus zu hören50. Suspendierungen wegen mangelnden Fleißes wurden oft ausgesprochen. Die Vikare leisteten, um nicht visitiert zu werden, nur aushilfsweise den Seelsorgedienst.51 1563 klagte der Dompropst, er könne die Speyerer Pfarreien nicht visitieren, weil lediglich der Pfarrer von St. Johann die Investitur empfangen habe.52 Trunksucht, Rohheitsdelikte und Unzucht wurden oft festgestellt; das größte Übel jener Jahrzehnte war das Konkubinat53. Bezüglich der Frage, die auf dem Augsburger Reichstag von 1566 und auf dem Tag zu Regensburg 1576 erörtert wurde, ob auch Protestanten der Eintritt in das Domkapitel gewährt werden solle, setzten sich die Domherren in Speyer entschieden für die Erhaltung des katholischen Charakters des Kapitels ein.54 1568 legte man die Domherren bei der Verpflichtung auf das Bekenntnis des katholischen Glaubens fest. So konnte der Rektor des Jesuitenkollegs dem päpstlichen Nuntius Portia bei dessen Besuch in Speyer 1576 berichten, dass sämtliche Domherren katholisch seien. Des Weiteren berichtete der Nuntius, dass das Domkapitel sich gegenüber den Machenschaften der Stadt sehr mutig zeige; man würde nicht – so wie anderwärts – kämpfen durch Aufhetzung der Prediger. An der Kanzelpolemik empfand man nicht nur keine Freude, sondern man mahnte sogar auch die Prediger zur Mäßigung.

49 Zur Klerus- und Seelsorgereform in der Diözese Speyer: Hans Ammerich: Das Fürstbistum Speyer im Zeichen der tridentinischen Erneuerung, in: AmrhKG 41 (1989), S. 81–106; ferner Press: Hochstift (wie Anm. 40); Hans Ammerich: Formen und Wege der katholischen Reform in den Diözesen Speyer und Straßburg. Klerusreform und Seelsorgereform, in: Press/Reinhard/Schwarzmeier (Hrsg.), Barock am Oberrhein (wie Anm. 40), S. 291–327; Paul Warmbrunn: Konfessionalisierung im Spiegel der Visitationsprotokolle: Das Bistum Speyer in den Jahren von 1583–1718, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 19 (1993), S. 333–362; ders.: Zwischen Gegenreformation und innerkirchlicher Reform. Die katholische Kirche in der linksrheinischen Pfalz vom Tridentinum bis zum Ende des Alten Reiches (unter besonderer Berücksichtigung des Bistums Speyer), in: AmrhKG 50 (1998), S. 291–315; Hans Ammerich: Die Reaktion der oberrheinischen Bistümer Speyer, Straßburg und Worms auf die Reformation und auf die beginnende Konfessionsbildung, in: Ulrich A. Wien/Volker Leppin (Hrsg.), Kirche und Politik am Oberrhein im 16. Jahrhundert. Reformation und Macht im Südwesten des Reiches. Tübingen 2015 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, Bd. 89), S. 373–386. 50 Beispiele bei Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 34 f. 51 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 35. 52 Ebenda. 53 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 35; Eger: Speyer (wie Anm. 6), S. 329. 54 Zum folgenden Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 26 f.  



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3.3 Das Domkapitel als treibende Kraft für die Reform Die Initiative zur Reform gemäß den Richtlinien des Tridentinums im Fürstbistum Speyer ging weniger von den Bischöfen als vielmehr vom Domkapitel aus, das eine Reihe markanter Priesterpersönlichkeiten besaß. Insbesondere zu nennen ist der Domdekan Andreas von Oberstein55, dessen größter Wunsch – der Eintritt in den Kartäuserorden – wegen seines Amtes in Speyer nicht in Erfüllung ging: Da er den vollständigen Zusammenbruch des Katholizismus in der Diözese Speyer befürchtete, blieb er im Dienst des Bistums bis zu seinem Tod im Jahre 1603. Sein Nachfolger als Domdekan wurde Adolf Wolf von Metternich56. Nach seinem Studium am Germanicum in Rom wurde er häufig zu wichtigen Missionen herangezogen: 1589 reiste er nach Rom, um den Papst über die Verhältnisse in der Diözese Speyer im Rahmen des „ad limina“-Besuchs zu unterrichten57. Bereits ein Jahr zuvor hatte er den Papst im Auftrag des Bischofs aufgesucht. 1592 begleitete er – in seiner Eigenschaft als Hofmeister – die beiden für den geistlichen Stand bestimmten Söhne Philipp und Ferdinand des bayerischen Herzogs Wilhelm V. nach Rom58. Als Ferdinand Koadjutor seines Onkels Ernst von Köln wurde, begann er dort mit der Einführung der Reformdekrete. 1586 wurde er Propst von St. Guido und 1603 Nachfolger Obersteins als Domdekan59. Bis zu seinem Tod 1619 wirkte er hier im Sinne des Tridentinums. Sein Bruder Wilhelm von Metternich60, der ebenfalls 1583 bis 1587 in Rom studiert hatte, trat in den Jesuitenorden ein. Als Rektor des Speyerer Jesuitenkollegs war er wesentlich an der Durchführung der tridentinischen Reformen beteiligt. Ein Mann der Reform war auch der Stiftsdekan von St. Guido, Dionysius Burckardt61. Er galt als vorbildlich in der Seelsorge, gab dem St. Guido-

55 Zu Andreas von Oberstein: Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig: GLA KA) 61/10951, pag. 553; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 131 f.; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 235–237. 56 Zu Adolf Wolf von Metternich siehe Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 132–134. 57 GLA KA 61/10949, pag. 48; siehe dazu auch Joseph Schmidlin: Die kirchlichen Zustände in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Kriege nach den bischöflichen Diözesanberichten an den Heiligen Stuhl, Bd. 7, 5 und 6. Heft. Freiburg i.Br. 1910, S. 94; Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 409. 58 Vgl. Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 133. 59 GLA KA 61/10951, pag. 553. 60 Zu Wilhelm von Metternich siehe Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III.1., S. 134. 61 Zu Dionysius Burckardt: Franz Schorn: Johann Hugo von Orsbeck. Ein rheinischer Kurfürst der Barockzeit, Erzbischof und Kurfürst von Trier, Fürstbischof von Speyer. Köln 1976, S. 77; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 134 f.; Hans Ammerich: Burckard(t)  



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Stift eine neue Ordnung und sorgte für die Konsolidierung der Finanzen. 1596 wurde er zum Weihbischof ernannt. Schon sein Vorgänger als Weihbischof, der ehemalige Kölner Karthäusermönch Heinrich Fabricius (um 1520–1595), war ganz tridentinisch gesinnt und galt als „Wegbereiter“ des Speyerer Gesangbuchs von 1599.62 Für die Durchsetzung der Reform entscheidend war der Generalvikar Beatus Moses63, der wesentliche Maßnahmen zur Besserung des Klerus einleitete.

3.4 Die Visitation des Beatus Moses als Grundlage der Reform (1583–1588) Nachdem Eberhard von Dienheim (1581-1610)64 sein Amt als Bischof von Speyer angetreten hatte, wurde er von den Domherren auf deren erstem Generalkapitel am 17. Januar 1583 eindringlich gebeten, er möge dafür Sorge tragen, dass der Generalvikar gewissenhaft den Klerus beaufsichtige und positiv auf dessen Amtsführung einwirke. Die Pfarrer auf dem Lande seien ebenso wie diejenigen der Städte zu visitieren65. Die Anregung des Domkapitels wurde von Bischof Eberhard aufgegriffen; er beauftragte Generalvikar Beatus Moses mit der Visitation auf dem Land.66 Sie wurde während der Jahre 1583 bis 1588 durchgeführt. Nach der Visitation des Archidiakonats des Dompropstes wurde deutlich, dass die notwendigen Reformmaßnahmen beim Klerus beginnen mussten67. Mit Vorschriften allein war es jedoch noch nicht getan; es musste ihnen in den Kreisen der Kleriker

(Burghardi, Burchardi), Dionys(ius) († 1605), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches (wie Anm. 38), S. 89 (Biogramm). 62 Zu Fabricius: Hans Ammerich: Fabricius, Heinrich († 1595), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches (wie Anm. 38), S. 178; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 237–239. 63 Zu Beatus Moses siehe Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 135; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 234 f. 64 Zu Eberhard von Dienheim: Hans Ammerich: Eberhard von Dienheim, Bischof von Speyer 1581–1610, in: Herbert Pohl (Hrsg. im Auftrag des Bischöflichen Priesterseminars St. German), „Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng auff die fürnemste Feste“. Das Speyerer Gesangbuch von 1599. Eine Einführung. Speyer 2003, S. 31–37; ders.: Dienheim, Eberhard von (um 1540–1610), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches (wie Anm. 38), S. 124–126. 65 GLA KA 61/10947, fol. 4‘; vgl. auch Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 89. 66 GLA KA 61/10947, fol. 14‘. – Zur Visitation des Beatus Moses vgl. die ausführliche Darstellung Stamers: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III.1., S. 89–107. 67 Zur Beurteilung der Visitationsergebnisse: Ammerich: Formen und Wege (wie Anm. 49), S. 297–301; ders.: Fürstbistum Speyer (wie Anm. 49), S. 82–85; Warmbrunn: Konfessionalisierung (wie Anm. 49); ders.: Gegenreformation (wie Anm. 49).  

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Nachdruck verliehen werden. Dies war zweifelsohne eine schwierige Aufgabe, galt es doch gegen alte Gewohnheiten anzukämpfen. Eine Besserung der Verhältnisse und eine Erneuerung des Klerus wurden erst allmählich erreicht. Wegen des großen Priestermangels wurden die untauglichen Geistlichen nicht sofort entlassen. Deshalb konnten auch nur wenige überlastete Priester einen Kaplan erbitten. Aus Mangel an Nachwuchs waren die Frühmessereien fast alle eingegangen, die Pfründen waren oft zu den Pfarrpfründen hinzugenommen oder anderen Zwecken zugeführt worden, beispielsweise der Errichtung von Schulen.

4 Die Ausbildung des Klerus als Voraussetzung für Reformmaßnahmen Voraussetzung für die Durchführung der vom Trienter Konzil geforderten Reformmaßnahmen war ein theologisch gebildeter, geistlich geprägter, integrer Klerus. Die Ausbildung des Klerus gemäß den tridentinischen Richtlinien68 war an Voraussetzungen gebunden, die zunächst noch fehlten. Insbesondere war ein vom Konzil gefordertes Priesterseminar, das der kommenden Pfarrergeneration die spirituellen, pastoralen und wissenschaftlichen Qualifikationen vermitteln sollte, noch zu errichten. Das Domkapitel bemühte sich, seine Schülerburse für die Erziehung von Seelsorgern im Sinne des Trienter Konzils zu verwenden. Diese Einrichtung hatte bisher in erster Linie der Ausbildung des zahlreichen Klerus an der Domkirche gedient. Mit den Alumnen sollten künftig die Patronatspfarreien des Domkapitels besetzt werden. Seit 1582 übernahmen erfahrene Pädagogen aus dem seit 1566 bestehenden Speyerer Jesuitenkolleg die Leitung der Burse. Sie wurde von nun an Alumnat und Seminar genannt69. Bereits nach zehnjährigem Bestehen des Seminars wurde beiläufig berichtet, dass dessen Entwicklung erfreulich verlaufen sei.70 Künftig wurden auch von den Bischöfen, so von Eberhard

68 Zu den Bemühungen, die Ausbildung des Klerus zu reformieren, siehe Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 73–80; zur Errichtung der ersten tridentinischen Seminare für die Speyerer Diözese vgl. ders.: Die ersten tridentinischen Seminare des Bistums Speier im 16. und 17. Jahrhundert, in: St. German in Stadt und Bistum Speyer. Ein Beitrag zur Geschichte des Bischöflichen Priesterseminars Speyer. Speyer 1957, S. 103–109; Ammerich: Formen und Wege (wie Anm. 49), S. 302–305; ders.: Fürstbistum Speyer (wie Anm. 49), S. 88–91. 69 GLA KA 61/10943, pag. 386; 61/10945, pag. 952. 70 GLA KA 61/10947, fol. 412: Bewilligung von Wein in ansehung numeh desselbigen Seminarii des ganz Stifft sich zu erfreuen; vgl. dazu und zum Folgenden Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 197.

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Dienheim und Philipp Christoph von Sötern, Alumnen zur Erziehung an die Burse geschickt. Leider war dieser Einrichtung nur ein vorübergehender Erfolg beschieden: Der zuständige Präfekt erklärte im Sommer des Jahres 1636, dass die Mittel nicht vorhanden seien, um die notwendigen Einkäufe zu tätigen. Seit dieser Zeit wurde das Alumnat nicht mehr erwähnt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden Anstrengungen unternommen, wieder ein Seminar zu errichten. Doch reichten die finanziellen Mittel nicht aus, um ein Alumnat – auch in bescheidenem Rahmen – ins Leben zu rufen. Eine Unterstützung für künftige Seelsorger war erst wieder möglich, als 1705 eine größere Stiftung zugunsten des Domkapitels gemacht worden war: Die an verschiedenen Hochschulen studierenden Alumnen wurden nun mit Stipendien versorgt71. Wie schlecht es in dieser Zeit um die Priesterausbildung bestellt war, zeigt auch die Tatsache, dass lediglich sechs Alumnen aus der Diözese Speyer im Zeitraum von 1600 bis 1655 das Germanikum in Rom72 besuchten; in der Zeit von 1655 bis 1700 waren es nur vier73. Es handelte sich aber um einflussreiche Männer, so um den späteren Dompropst in Speyer und Bischof in Wien Wilderich von Walderdorf und die Bischöfe Johann Hugo von Orsbeck und Heinrich Hartard von Rollingen. Trotz verschiedenster Bemühungen war es nicht möglich gewesen, eine adäquate Ausbildungsstätte für die künftigen Geistlichen zu schaffen. Doch erwies sich die Weiterentwicklung der Domschule zum Gymnasium durch die Jesuiten in Speyer und deren Wirken im Fürstbistum als erfolgreich. Die Ergebnisse der Visitation des Beatus Moses zeigten deutlich, dass die notwendigen Reformmaßnahmen beim Klerus beginnen mussten.74 Mit Vorschriften allein war es jedoch nicht getan – es musste ihnen in den Kreisen der Kleriker Nachdruck verliehen werden. Eine Besserung der Verhältnisse und eine Erneuerung des Klerus konnte erst allmählich erreicht werden. Bereits am 30. Oktober 1587 verpflichtete der Bischof den Klerus mit einem entsprechenden Hinweis auf

71 Für vier Studenten konnten je 119 fl. zur Verfügung gestellt werden (GLA KA 61/10983, fol. 36). Mit dieser Regelung hatte aber das Domkapitel offensichtlich keine guten Erfahrungen gemacht; 1721 wurde das Alumnat in das päpstliche Seminar nach Fulda verlegt; jeweils vier Kandidaten bereiteten sich hier auf ihre spätere Aufgabe vor. Im November 1730 trat nochmals eine Änderung ein: Die Alumnen studierten von nun an am neugegründeten Jesuitenseminar in Heidelberg an der dortigen Universität. 72 Zum Collegium Germanicum siehe Andreas Steinhuber: Geschichte des Kollegium Germanikum Hungarikum in Rom, 2 Bde. Freiburg i.Br. 1906; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 80–84, 197. 73 Steinhuber: Geschichte des Kollegium (wie Anm. 72), Bd. I, S. 415 und Bd. II, S. 66; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 197. 74 Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 301; Warmbrunn: Konfessionalisierung (wie Anm. 49), S. 343.

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die Trienter Bestimmungen zur Abhaltung der Christenlehre.75 Durch Synodalerlass vom 11. November 1587 machte es Bischof Eberhard den Geistlichen zur Pflicht, an allen Sonn- und Feiertagen die Gläubigen in den Glaubenslehren zu unterweisen.76 Der religiösen Unwissenheit der Bevölkerung suchte der Oberhirte durch die Gründung zahlreicher Schulen entgegenzuwirken.77 Im Rahmen dieser Bestrebungen ist wohl auch die Idee erwachsen, ein Gemeindegesangbuch und einen Katechismus für das Volk zu schaffen, um den Gläubigen eine bessere Teilnahme an den gottesdienstlichen Feiern zu ermöglichen und die religiöse Bildung zu verbessern. Das Speyerer Gesangbuch von 1599, das in 32 Jahren fünfmal jeweils mit Nachträgen neu aufgelegt wurde, vereinigte beide Anliegen.78 An Martini 1607 forderte Dienheim den Klerus zum eifrigen Studium auf, und zwei Jahre später wies er die Geistlichen an, die Heilige Schrift und die Konzilsbeschlüsse von Trient zu studieren. Der Nachwuchs an Geistlichen sollte in Zukunft durch die Errichtung eines Priesterseminars gesichert werden. Verschiedene Bemühungen, eine adäquate Ausbildungsstätte für die künftigen Geistlichen zu schaffen, brachten jedoch nicht das gewünschte Ergebnis. Dagegen waren die Gründung eines Gymnasiums (eröffnet im Mai 1567) durch die Jesuiten in Speyer und ihr Wirken in der Diözese erfolgreich.79 Der von Bischof Eberhard von Dienheim begonnenen Reform war durchaus Erfolg beschieden, wenngleich bei Klerus und Volk keineswegs alle anlässlich der Visitation von Beatus Moses festgestellten Mängel beseitigt werden konnten.80 Manche Reformmaßnahmen mussten von den Speyerer Bischöfen immer wieder aufgegriffen werden und wurden erst nach Jahrzehnten wirksam. Eine wesentliche Erleichterung der Reformarbeit brachte die Rückkehr der im rechtsrheinischen Gebiet der Diözese gelegenen Markgrafschaft Baden-Baden zum katholischen Glauben in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts.81

75 Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 295 f. 76 Ebd., S. 296. 77 Ebd. 78 Herbert Vossebrecher: Das Speyerer Gesangbuch 1599 als Zeugnis der pastoralen Erneuerungsbewegung im 16. Jahrhundert, in: „Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng“ (wie Anm. 64), S. 39–54; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 238 f. 79 Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 305–309; P. Karl Weich SJ: Jesuiten in Speyer (1542– 1773), in: Pohl (Hrsg.), „Alte Catholische Geistliche Kirchengeseng“ (wie Anm. 64), S. 57–71; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 332–334. 80 Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 320. 81 Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 119.  



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5 Jesuiten und Kapuziner in der Priesterbildung und der Seelsorge 5.1 Errichtung eines Jesuitenkollegs in Speyer Nach dem Tod des Dompredigers Magister Johann Häring 1565 stand kein geeigneter Geistlicher für die Predigt im Dom zur Verfügung. Daraufhin wandte sich zu Beginn des Jahres 1566 der Domscholaster Andreas von Oberstein an den Erzbischof von Mainz, Daniel Brendel von Homburg, seinen Vorgänger als Domscholaster in Speyer. Er bat ihn um die Erlaubnis, dass der Rektor des Mainzer Jesuitenkollegs, Peter Lambert Auer, aushilfsweise die Stelle des Dompredigers versehen dürfe.82 Der Erzbischof von Mainz entsprach Obersteins Bitte. Er forderte aber zur Gründung eines Kollegs auf, damit das Kapitel künftig über geeignete Geistliche verfüge.83 Mit Erlaubnis unseres Erzbischofs, so berichtet Pater Auer am 14. Januar 1566, bin ich jetzt im Acker und der Ernte von Speier. Die Aussicht auf ein Kolleg ist nicht gering. An Festtagen predige ich zweimal vor einer auserlesenen und dreifach so großen Zuhörerschaft wie früher. Von den Doktoren und Assessoren (des Reichskammergerichts) kommen viele und erweisen mir unverdienterweise viele Ehre und Liebe [. . .].84 Das Domkapitel verhandelte mit Pater Auer über die Errichtung eines Jesuitenkollegs in Speyer und beauftragte ihn am 24. Januar 1566, seinen Vorgesetzten diese Absicht mitzuteilen. Bischof Marquard von Hattstein stand den Plänen jedoch abweisend gegenüber.85 Die Verhandlungen waren noch in der Schwebe, als die Frist für die Aushilfe Lamberts als Domprediger Ostern 1566 abgelaufen war. Dennoch blieb er vorläufig in Speyer. Das Domkapitel war bereit, die notwendigen Mittel zur finanziellen Sicherung des neuen Jesuitenkollegs zur Verfügung zu stellen: Für den Gottesdienst und die geistlichen Übungen sollte die Nikolauskapelle und als Wohnung das Haus des Dompredigers eingerichtet werden. Der Domprediger sollte ein Jesuit sein. Ferner sollte eine 82 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 63; ders.: (wie Anm. 58), S. 104. – Zu Lambert Auer: Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 285. 83 Daniel Brendel von Homburg an das Speyerer Domkapitel, 31. Dez. 1565 und 16. April 1566, Landesarchiv Speyer (künftig: LA SP) D 2, Nr. 905. Zur Errichtung eines Jesuitenkollegs in Speyer und seiner Entwicklung bis 1575 siehe auch Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. 1. Bd. Freiburg i.Br. 1907, S. 115–120; vgl. auch Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 63–68, 104; neuerdings ausführlich zum Jesuitenkolleg: Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 295–334. 84 Zitat nach Duhr: Geschichte der Jesuiten (wie Anm. 83), Bd. 1, S. 115. 85 GLA KA 61/10941, pag. 26, 54, 72, 74, 78; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 63.; Blum: Multikonfessionalität (wie Anm. 7), S. 296.

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Schule mit fünf Klassen unterhalten und wöchentlich zwei- bis dreimal eine theoretische Vorlesung für die künftigen Geistlichen gehalten werden. Der Entwurf einer Stiftungsurkunde wurde am 17. Januar 1567 gutgeheißen; er sah die Überlassung des Predigerhauses südlich des Doms an die Jesuiten vor.86 Nach dem endgültigen Vertrag von 1571 erhielten sie die Dechanei zwischen Propstei und Stadtmauer, den nördlichen Teil ihres späteren Kollegs.87 Am 6. Juli 1567 kam Petrus Canisius im Auftrag des Jesuitenordens nach Speyer, um dort letzte Schwierigkeiten, die einer Gründung des Kollegs noch im Wege standen, auszuräumen.88 Bereits im Mai desselben Jahres war die Schule mit zunächst drei Klassen durch Jesuitenpatres eröffnet worden.89 Noch im Herbst 1567 wurde die Bildungseinrichtung durch die vierte und im folgenden Jahr durch die fünfte Klasse erweitert. Die Jesuiten hatten zunächst den Unterricht für die Schulanfänger abgelehnt, doch übernahmen sie 1575 auf Drängen des Domdekans auch diese Aufgabe, ohne dass sie verpflichtet wurden, diese ständig auszuüben. In späterer Zeit wurde der Anfangsunterricht wieder von einem vom Domkapitel bestellten Schulmeister übernommen. Bald nach seiner Eröffnung hatte das Jesuitengymnasium schon 152 Schüler; 1580 waren es 230 Schüler, 14 Personen lebten im Kolleg, von ihnen waren fünf Priester und sechs Lehrer. Auch im Speyerer Jesuitengymnasium wurden Theaterstücke eingeübt und aufgeführt.90 Seit 1570 wurden theologische Vorlesungen – auf besonderen Wunsch des Domkapitels – zweimal wöchentlich in der Afrakapelle des Domes vom Domprediger gehalten. In der ersten Zeit wurde den Priestern der Trienter Katechismus erklärt; im Laufe der Zeit wurden die künftigen Geistlichen in der Spendung des Bußsakramentes unterrichtet.91 Ein wichtiges Ziel des Jesuitenordens war es, in allen seinen Kollegien weltweit dieselben Lehrinhalte auf demselben intellektuellen Niveau zu vermitteln. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die lateinische Sprache, Wert legten die

86 LA SP D 2, Nr. 905; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 105. 87 LA SP D 25, Nr. 343; Druck: Franz Xaver Remling: Urkundliche Geschichte der ehemaligen Abteien und Klöster im jetzigen Rheinbayern, I. Theil, Neustadt a.d. Haardt 1836, Beilage 62, S. 359–361. 88 GLA KA 61/10942, pag. 841; vgl. auch Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 105. 89 Vgl. dazu und zum folgenden Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 70 f. 90 GLA KA 61/10942, pag. 548. Dramentitel und Angaben der Daten in der Zeit von 1570 bis 1774 bei Klaus Finkel: Musikerziehung und Musikpflege an den gelehrten Schulen in Speyer vom Mittelalter bis zum Ende der freien Reichsstadt (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 5). Tutzing 1973, S. 174 f. 91 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 70.  



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Lehrer aber auch auf ein wirksames Auftreten ihrer Zöglinge. Das Theater gab die Möglichkeit, dieses Auftreten zu kultivieren. Für die öffentlichen Veranstaltungen wurden Dramen geschrieben, die heute unter dem Begriff „Jesuitendrama“ zusammengefasst werden. Diese Dramen sind auf die „Disziplinierung“ des Zuschauers ausgerichtet. Sie bieten dem Zuschauer Exempel, mit denen er sich identifizieren kann. Sie setzen die positiven neben die negativen Beispiele und grenzen diese gegeneinander ab. Im Speyerer Jesuitenkolleg entstanden auch literarische Werke, wie z. B. das Gedicht Olivetum Spirense von Pater Johannes Armbrust über den Ölberg beim Dom.92  

5.2 Reichsstädtische Angriffe gegen die Jesuiten Seitens des reichsstädtischen Rates kam es schon bald zu Angriffen gegen die Jesuiten; diese seien, so wurde argumentiert, eine neue Sekte, die im Augsburger Religionsfrieden nicht berücksichtigt sei.93 Von ihnen sei auch eine Störung des Religionsfriedens zu befürchten, weil sie in der Schule und auf der Kanzel die Augsburgische Konfession als Häresie bezeichnen würden. Der Rat der Stadt forderte vom Domkapitel die „Abschaffung“ der Jesuiten. Zusätzlich übte der pfälzische Kurfürst Friedrich III. seit der Besetzung von St. Ägidien durch einen seiner calvinistischen Prediger im Jahr 1572 konfessionellen Druck auf den Stadtrat selbst aus und verlangte im November 1573 von ihm, dass er die Jesuiten ausweisen solle. Der Kurfürst verbot seinen Untertanen die Stadt zu betreten und sperrte die Lebensmittelzufuhr.94 Zeigte sich Bischof Marquard durchaus zu Zugeständnissen bereit, so widerstand das Domkapitel dem Verlangen des Rates, der die Jesuiten unter Hausarrest stellte.95 Der Kaiser, der im Februar 1574 vom Wiener Nuntius Delfino auf die Situation in Speyer angesprochen wurde, scheint sich für die Jesuiten eingesetzt zu haben; jedenfalls hörten im Sommer des gleichen Jahres die unmittelbaren Pressionen auf.96 Doch weigerte sich der Rat 92 Ralf Georg Czapla: Jesuitische Bildapologie und Bildmeditation. Johann Armbrusters Gedicht auf den Speyerer Ölberg, in: Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 1 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 42). Wiesbaden 2005, S. 315–352. 93 Dazu und zum Folgenden: Duhr: Geschichte der Jesuiten (wie Anm. 83), Bd. 1, S. 118 f. 94 Nuntius Portia an Como, Innsbruck, 2. 12. 1573 und 6. 1. 1574. Karl Schellhaß: Die süddeutsche Nuntiatur des Grafen Bartholomäus von Portia [1. Jahr 1573/74] (Nuntiaturberichte aus Deutschland 1572–1585, Bd. III/3) Berlin 1896, Nr. 47, S. 263–267 und Nr. 54, S. 305; Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 60. 95 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 60. 96 Ebenda.  

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am 24. Juni 1575, die Jesuiten in die Rachtung der Stadt aufzunehmen und erklärte, die Angehörigen der Gesellschaft Jesu in der Stadt würden nicht mehr den städtischen Schutz genießen.97 Kaiser Maximilian II. billigte jedoch ihre Anwesenheit ausdrücklich.98 Künftig ging der Rat gegen die Jesuiten weniger direkt vor, doch war die Atmosphäre so gereizt, dass 1577 ein Bürger aufgrund eines Brandanschlags auf das Kolleg hingerichtet werden musste.99 1589 nahm Kaiser Rudolf die Speyerer Jesuitenpatres unter seine Obhut.100 Dass die Reichsstadt Speyer im Jesuitengymnasium eine Konkurrenz zum eigenen humanistischen Gymnasium sah, geht auch aus der Tatsache hervor, dass den Schülern der Jesuiten der Aufenthalt in der Stadt erschwert wurde. So wurde 1586 die Bestimmung erlassen, dass jeder Bürger, der einen Jesuitenzögling in seinem Haus aufnimmt, zehn Gulden Strafe zahlen und zehn Tage Gefängnis auf sich nehmen muss.101 Damit wurde die Annahme von Schülern erschwert, die Attraktivität des Jesuitengymnasiums eingeschränkt.

5.3 Seelsorgerische Tätigkeit der Jesuiten Zielgruppe für die seelsorgerische Tätigkeit der Jesuiten war besonders das Personal des Reichskammergerichts; es waren dies ein Vorsitzender aus dem Adel, zwei Richter aus dem Grafenstand, 16 Assessoren und 30 bis 40 Advokaten, zusammen mit ihrem Personal ca. 660 Personen. Ein Teil davon wohnte im Franziskanerkloster und sicherte dessen Existenz.102 Dieser Personenkreis gab durch seine Anwesenheit den Jesuiten das Gefühl der Sicherheit. Sie nahmen an Schulveranstaltungen und an Schauspielen teil, sie waren – außer dem Klerus selbst – die Zuhörer bei den 1577 begonnenen, aber bereits 1578 eingestellten lateinischen Predigten.103 Über die Kinder versuchte man deren Eltern und Be-

97 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 71; Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 60. 98 LA SP D 2, Nr. 347. 99 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 60. 100 LA SP D 2, Nr. 348. – Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 308. 101 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 9), T. III,1., S. 71 f. 102 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 60; Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 75. 103 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 61; Duhr: Geschichte der Jesuiten (wie Anm. 83), Bd. 1, S. 450 f.  



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kannte zu erreichen, deren erstmalige Beichten oder „Konversionen“104 man sorgfältig registrierte. Erst 1581 ließ sich eine nennenswerte Anzahl von Schülern in die gegründete Marianische Sodalität aufnehmen.105 Das pädagogische Niveau des Gymnasiums war sehr hoch und konnte mit dem des Casimirianums in Neustadt an der Haardt konkurrieren. Die Jesuitenschule suchte stets ihren hohen Standard zu bewahren. Als der Engländer Thomas Coryate, ein überzeugter Protestant, bei einem Besuch Speyers 1608 auch die Schule besuchte, verwunderte er sich darüber, als er mit einem Bruder ins Gespräch kam, dass dieser über die innere Geschichte des mittelalterlichen England genau unterrichtet war106. Zwei der berühmtesten Ordensmitglieder waren in Speyer tätig, wenngleich nur für kurze Zeit: Friedrich Spee von Langenfeld war 1615/16 als Lehrer der Grammatik und Präfekt der Engelbruderschaft am Kolleg tätig und verbrachte hier 1626/27 sein sogenanntes Terziat, die dritte Prüfungszeit zur Vorbereitung auf die letzten Ordensgelübde107. Unmittelbar darauf absolvierte 1628 der große Barockgelehrte Athanasius Kircher sein drittes Probejahr in Speyer.108 Da die Jesuiten offensichtlich vor allem die gebildete Schicht der Stadt ansprachen, waren besonders Maßnahmen für die breitere katholische Bevölkerung notwendig. Aufgrund einer großen Stiftung des Präbendars am Dom Rudger Eding109, gründete der Konvent der Franziskanerminoriten 1600 eine Trivialschule110. Nach 1600 besserte sich bei dem allgemein in Deutschland wachsenden katholischen Selbstbewusstsein auch die Situation in Speyer. 1608 konnten die Franziskanerminoriten ihr Provinzialkapitel in der Stadt halten.111 Im gleichen Jahr ließen die Augustinereremiten die Altäre im Langhaus ihrer Kirche neu weihen und setzten somit praktisch das Simultaneum im Kirchenschiff durch; der Chor war den Mönchen112 allein vorbehalten. Nachdem 1598 die Jesuiten zusätz-

104 Unter dem Begriff „Konversion“ kann – nach Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16, S. 61) – in dieser Zeit der Empfang der Sakramente durch einen ehemals „katholisch Getauften“ verstanden werden. 105 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 61. 106 Hartmut Harthausen: Geistes- und Kulturgeschichte Speyers vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Eger (Hrsg.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. III. Stuttgart 1989, S. 349–434, hier S. 389; Fouquet: Domklerus (wie Anm. 40), S. 35 f. 107 Harthausen: Geistes- und Kulturgeschichte Speyers (wie Anm. 106), S. 389. 108 Ebenda. 109 Zur Stiftung Edings siehe Eubel: Geschichte (wie Anm. 25), S. 690f; Heinrichsperger: Speyer (wie Anm. 17), S. 76 f. 110 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 62; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 79 f. 111 Ebenda. 112 Engels/Engels/Hopstock: Augustinerkloster (wie Anm. 13), S. 32.  





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lich die Dompropstei einschließlich der Christophskapelle, den südlichen Teil ihres späteren Kollegs, erhalten hatten, wurde diese Kapelle zur Jesuitenkirche umgebaut. Ihre Weihe wurde 1602 vorgenommen.113 Nun wandten sich die Jesuiten auch der Seelsorge auf dem flachen Land zu. Bewusst setzten die Jesuiten der sinnenarmen calvinistischen Frömmigkeit sinnenfrohe Elemente entgegen: das bekannte Jesuitenspiel, eucharistische Umzüge, die Errichtung von Weihnachtskrippen oder „öffentliches Singen“ deutscher Kirchenlieder.114 Zuweilen wurde derb kontrovers gepredigt und dabei nicht mit Verurteilungen der Häresie gespart. Wichtiger aber war, durch eine Hebung des katholischen Glaubensniveaus den anderen Konfessionen entgegen zu wirken. Dazu waren vor allem die Orden mit ihrer guten Ausbildung imstande. Noch glaubte man an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, die Reformation mit religiösen Mitteln überwinden zu können. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde, abgesehen vom Seuchenjahr 1638, der Unterricht im Speyerer Jesuitenkolleg zwar weitergeführt worden; er musste aber sehr stark eingeschränkt werden, da die Zuschüsse seitens des Bischofs und des Domkapitels ausblieben.115 Nach dem Krieg 1648 wurden die für die Ausbildung der Geistlichen wichtigen Vorlesungen wieder aufgenommen. Infolge der Zunahme der Schülerzahl nahm auch die Schule wieder einen Aufschwung. Der Brand der Stadt Speyer von 1689 zerstörte jedoch die Niederlassung der Jesuiten, die im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wieder hergestellt wurde. Die Leitung der Schule blieb in den Händen des Jesuitenordens bis zu dessen Auflösung im Jahr 1773.116 Die Jesuiten entwickelten auch in anderen Orten des Fürstentums eine wirksame Tätigkeit.117 1628 kamen sie nach Germersheim. Eine offizielle Niederlassung in Neustadt gab es erst seit 1700. In jenem Jahr übertrug ihnen der katholische Kurfürst Johann Wilhelm neben der Pfarrseelsorge eine Lateinschule mit fünf Klassen. Als Unterhalt dienten ihnen die Propstei Winzingen und das Spital Branchweiler. Doch schon 1625 waren Jesuitenpatres nach Neustadt gekommen

113 Bernhard Duhr: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. 2. Bd., 1. Hälfte. Freiburg i.Br. 1913, S. 169; Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 62, Anm. 33. 114 Seibrich: Gegenreformatorische Aktivitäten (wie Anm. 16), S. 62. 115 Am 17. Januar 1639 klagten die Jesuitenpatres, dass sie seit sieben Jahren keine Mittel mehr erhalten hätten (GLA KA 61/10961, pag. 464); dazu und zum Folgenden: Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 198. 116 Finkel: Musikerziehung (wie Anm. 90), S. 125 f. 117 Zum folgenden Duhr: Geschichte der Jesuiten (wie Anm. 113), Bd. 2,1., S. 172 ff.; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 185.  



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und hatten in der Stiftskirche Gottesdienst gehalten. Nach Baden-Baden hatte Markgraf Wilhelm den Orden 1622 gerufen; auch hier war mit der Niederlassung eine Lateinschule verbunden. Nach Bruchsal waren die Jesuiten zunächst 1615 gekommen; doch hatte sich der Konvent wieder aufgelöst, Bischof von Hutten nahm erst 1757 eine Neugründung vor. Von Kaiser Ferdinand II. erhielt der Jesuitenorden das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Heilsbruck bei Edenkoben; der Orden musste jedoch 1648 dieses Kloster wieder verlassen. 1662/63 stiftete Markgraf Wilhelm eine Niederlassung in Ettlingen.

5.4 Wirken der Kapuziner in ihren Niederlassungen Bischof Eberhard von Dienheim hatte 1602 die Absicht, die Kapuziner in die Diözese zu berufen.118 Seitens der Ordensleitung gab man aber dem Bischof und dem Domkapitel zu verstehen, dass sie keine Patres ins Fürstbistum entsenden könne.119 Erst Philipp Christoph von Sötern konnte 1614 zwei Kapuziner aus der kölnisch-rheinischen Ordensprovinz für die Seelsorge in Waghäusel gewinnen.120 1632 wurden sie von den Schweden vertrieben. Der Philippsburger Kommandant und kaiserliche Oberst Kaspar Baumberger veranlasste die Mönche, nach Waghäusel zurückzukehren und ließ ihnen 1638/40 ein Konventsgebäude errichten. Als 1690 das Kloster durch französische Truppen in Brand gesetzt wurde, zogen sich die Patres nach Kirrlach zurück. Acht Jahre später kamen sie nach Waghäusel zurück. Zu Gründungen des Kapuzinerordens kam es 1622 in Neustadt und ein Jahr später in Speyer.121 Die Gründung in Neustadt wurde am Ende des Dreißigjährigen Krieges zunächst aufgelöst; 1686 kamen die Patres wieder dorthin zurück. Bemühungen in den Jahren 1653 und 1655, ein Kloster in Deidesheim zu gründen, schlugen fehl.

118 Zum Wirken der Kapuziner in der Pfalz im 17. Jahrhundert siehe Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 179–183, sowie im rechtsrheinischen Teil der Diözese Speyer Georg Manz: Die Kapuziner im rechtsrheinischen Gebiet des Bistums Speyer im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. theol. (masch.), Freiburg 1979; des Weiteren Kurt Andermann: Jesuiten- und Kapuzinerniederlassungen bis 1714, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Beiwort zur Karte VIII,7. Stuttgart 1979, S. 16 (Karte), S. 22–27. 119 GLA KA 61/10951, pag. 435. 120 Vgl. dazu und zum Folgenden Remling: Geschichte der Bischöfe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 170 f.; P. Adalbert Ehrenfried: Waghäusel. Die Wallfahrt und die Kapuziner. Ulm 1966. 121 P. Arsenius Theobald Jacobs: Die Rheinischen Kapuziner 1611–1725. Ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen Reform. Münster 1933, S. 100–102.  

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Die bedeutendste Gründung war Speyer. Dort errichteten die Kapuziner 1623 mit Hilfe von Kaiser Ferdinand II. und Erzherzog Leopold von Österreich in der Vorstadt bei der St. Ägidienkirche eine Kirche mit angeschlossenem Klostertrakt. Am 3. Januar 1650 wurde das Kloster vom pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, der es als Annex des Klosters Hördt ansah, den Kapuzinern weggenommen. Zunächst hielten die Kapuziner in der Afrakapelle Gottesdienste ab. Das Domkapitel übertrug ihnen die Betreuung der Sakramentsbruderschaft mit einer Predigt in jeder Woche. Sie hielten die Vormittagspredigt an Sonn- und Feiertagen. 1651 unterbreiteten sie den Vorschlag, die Pfarrpredigt und die Predigt für die Sakramentsbruderschaft unentgeltlich zu halten, wenn man ihnen das Haus, das sie zu diesem Zeitpunkt bewohnten, überließe. Seit 1654 wohnten sie beim Allerheiligenstift. Als Klosterkirche diente die St. Peterskirche. 1688 konnten sie in ihr Kloster zurückkehren, das der evangelische Pfarrer, dem es als Wohnung zugewiesen war, wegen des Einfalls der Franzosen verlassen hatte. Vom Stadtbrand 1689 blieb die Klosteranlage mit der St. Ägidienkirche verschont, da sie außerhalb der Stadt gelegen war. Am 29. April 1709 baten die Speyerer Kapuzinerpatres den Kurfürsten von der Pfalz, Johann Wilhelm, um die Bestätigung ihrer Güter; er sei ja der Patronatsherr des Klosters Hördt und habe deshalb das Patronatsrecht an der Ägidienkirche inne, auf deren Grund und Boden sie teilweise ihre Gebäude errichtet hätten122. Die Kapuzinerpatres des Speyerer Konvents entfalteten eine erfolgreiche Tätigkeit. Sie waren als Prediger überall dort tätig, wo sie benötigt wurden: An Sonn- und Feiertagen halfen sie in verschiedenen Orten in der Diözese aus; ein Pater war zudem Sonntagsprediger im Dom, ein anderer verkündete hier an Festtagen das Wort Gottes.123 Auf Bitten des Koadjutors von Mainz und Fürstbischofs von Speyer, Lothar Friedrich von Metternich, gewährte Papst Klemens X. am 1. August 1671 den Kapuzinern das Recht, in Bruchsal eine Niederlassung zu errichten.124 Lothar Friedrich ließ ein Kapuzinerkloster und eine Kirche erbauen, die 1673 vollendet war. Nach 1685 betreuten die Bruchsaler Kapuziner die Katholiken im kurpfälzischen Amt Bretten seelsorgerisch. Eine weitere Niederlassung, gegründet 1640, befand sich in Weil der Stadt125. Kleinere Stationen waren in Karlsruhe (seit 1730)

122 LA SP D 25, Nr. 247. 123 Ludwig Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz, III. Teil, 2. Hälfte: Von der Reform zur Aufklärung Ende der mittelalterlichen Diözesen (1685–1801). Speyer 1959, S. 73. 124 Franz Xaver Remling: Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speyer. Jüngere Urkunden. Mainz 1853, ND Aalen 1970, S. 698, Nr. 354; Jacobs: Die Rheinischen Kapuziner (wie Anm. 121), S. 46 f.; Manz: Die Kapuziner (wie Anm. 118), S. 16–19; Andermann: Jesuiten- und Kapuzinerniederlassungen (wie Anm. 118), S. 25. 125 Manz: Die Kapuziner (wie Anm. 118), S. 43–46.  

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und Philippsburg (seit 1676).126 Auch in Baden-Baden gab es eine Niederlassung des Kapuzinerordens; die Patres übernahmen im Wechsel mit den Jesuiten die Predigt in der Stiftskirche.127 Die Station in Bergzabern war eine Tochtergründung des Weißenburger Konvents; diese in den Religionskriegen gegründete Gemeinschaft betreute die Katholiken in Bergzabern, Dörrenbach und Oberotterbach.128 Wo keine Ordensniederlassungen gegründet wurden, wirkten die Kapuziner durch die Wanderpredigt, so in Landau, Deidesheim, Hambach, Kirrweiler und Roschbach.129 Besonders in den protestantischen Gebieten betreuten sie die Katholiken nicht nur in der Seelsorge, sondern auch in der Krankenpflege. Dass die Hilfe des Ordens an der Wende vom 17. und 18. Jahrhundert dringend notwendig war, wird durch die Bitte des Statthalters Heinrich Hartard von Rollingen an den Provinzial der Kapuziner in Aschaffenburg deutlich: Der Provinzial möge einige Patres in die Diözese schicken, da nur wenige Seelsorger ihr Amt ausüben könnten; ein Großteil der Bevölkerung und viele Geistliche seien erkrankt.130 Wie bei den Jesuiten wurde auch bei den Kapuzinern große Sorgfalt auf die Vorbereitung der Predigt verwendet.131 Die künftigen Prediger absolvierten ein sechs- bis siebenjähriges Studium, ehe sie das Wort Gottes von der Kanzel verkündigen durften. Seit den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts predigten morgens die Kapuziner und nachmittags die Jesuiten im Dom. Als Beichtväter der Fürstbischöfe genossen die Kapuzinerpatres deren besonderes Vertrauen. Der Beichtvater von Philipp Christoph von Sötern, Pater Anton Maria Schyrl aus Reutte in Tirol, gab diesem den Rat, die päpstliche Protestbulle gegen den Westfälischen Frieden bekannt zu geben. Auch Lothar Friedrich von Metternich, Johann Hugo von Orsbeck und Damian Hugo von Schönborn hatten Kapuzinerpatres als Beichtväter, die allerdings keinen besonderen Einfluss auf die Politik der Fürstbischöfe ausübten.

126 Jacobs: Die Rheinischen Kapuziner (wie Anm. 121), S. 46 f.; P. Adalbert Ehrenfried: Die Kapuziner in Karlsruhe einst und jetzt. Karlsruhe 1962; Manz: Die Kapuziner (wie Anm. 118), S. 15 f.; Andermann: Jesuiten- und Kapuzinerniederlassungen (wie Anm. 118), S. 25. 127 Manz: Die Kapuziner (wie Anm. 118), S. 35–39; Andermann: Jesuiten- und Kapuzinerniederlassungen (wie Anm. 118), S. 25. 128 P. Archange Sieffert: Les capucins à Wissembourg sous l’ancien régime 1684–1791 et la restauration catholique dans la region de la Lauter, in: Archives de l’église d’ Alsace NS 1 (1946), S. 217–255, hier S. 235; vgl. auch Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 123), T. III,2., S. 72. 129 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 182. 130 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 123), T. III,2., S. 72. 131 Vgl. zum Folgenden Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 181.  



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6 Ausblick Die Reformmaßnahmen gemäß den Dekreten des Tridentinums hatten im Bistum Speyer nach der Visitation des Archidiakonats des Dompropstes in den Jahren 1583 bis 1588 eingesetzt. Die kirchliche Reform im Bistum Speyer wurde entschieden von Bischof Eberhard von Dienheim in Angriff genommen. Es war deutlich geworden, dass das religiös-sittliche Leben des Klerus, seine gottesdienstlichen Handlungen sowie das religiöse Verhalten der Laien in keiner Weise den Normen des Konzils entsprachen. Eine Reihe von Verordnungen zu Gottesdienst, Sakramentenspendung und Lebensführung der Geistlichen wurde erlassen. Der Klerikernachwuchs sollte durch die Errichtung eines Priesterseminars gesichert werden. Doch brachten verschiedene Bemühungen, eine adäquate Ausbildungsstätte für die künftigen Geistlichen zu schaffen, nicht das gewünschte Ergebnis. Das von den Jesuiten gegründete Speyerer Gymnasium gewährleistete die Ausbildung der künftigen Priester. Trotz der Wirren während des Dreißigjährigen Krieges waren die Grundlagen für einen tüchtigen Klerus, der die Laien unterweisen und zur Hebung ihres sittlichen und religiösen Lebens beitragen konnte, geschaffen worden. Zwar gab es immer noch zahlreiche Klagen, doch waren Fortschritte zu verzeichnen. Die Erfolge in der Klerus- und Seelsorgereform waren während der Kriege des 17. Jahrhunderts mehrfach gefährdet, denn unter Eberhards Nachfolger, Philipp Christoph von Sötern (1610–1652) – er war am 29. Mai 1609 zum Bischofskoadjutor durch das Domkapitel ernannt, am 12. August 1612 in Udenheim zum Priester und drei Tage später zum Bischof geweiht worden132 –, konnten die tridentinischen Bestimmungen kaum durchgeführt werden. Seine zahlreichen kirchlichen Ämter, seine politische Aktivität, die Personalunion mit dem Kurfürstentum Trier und vor allem der Dreißigjährige Krieg mit einer langen Gefangenschaft ließen Sötern wenig Möglichkeiten, die religiös-kirchliche Erneuerung im Fürstbistum Speyer zu fördern. Sein Nachfolger, Lothar Friedrich von Metternich (1652–1675)133, versuchte die Reformmaßnahmen durch Visitationen im Domkapitel, im Stift Odenheim und in den Dekanaten voranzutreiben.134 Nachdem Lothar Friedrich, der seit 1673 auch Erzbischof von Mainz und seit 1674 Bischof von

132 Zu Philipp Christoph von Sötern: Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III,1., S. 146–170; Press: Hochstift (wie Anm. 40), S. 267–271; Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 127. 133 Zu Lothar Friedrich von Metternich: Remling: Geschichte der Bischöfe (wie Anm. 37), S. 514– 553; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III, 1., Hälfte, S. 176–179; Press: Hochstift (wie Anm. 40), S. 271 f. 134 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 10), T. III, 1., S. 178.  

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Worms war, am 3. Juni 1675 in Mainz gestorben war, wählte das Domkapitel von Speyer am 16. Juli desselben Jahres seinen Domdekan und Koadjutor des Erzbistums Trier, Johann Hugo von Orsbeck135, zum neuen Oberhirten. Ein Jahr später wurde er zum Erzbischof von Trier geweiht, ein weiteres Jahr danach (1677) zum Bischof von Speyer ernannt. Auf Veranlassung von Bischof Orsbeck visitierten 1683 die Jesuitenpatres Wilhelm Osburg und Martin Metz 150 Pfarreien136 sowie 1701 Georg Klein und Urban Kobert, ebenfalls Jesuiten, 208 Pfarreien und 146 Kuratien137. Die Visitationsberichte machen deutlich, dass trotz der Rückschläge während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges die Grundlagen geschaffen worden waren für einen tüchtigen Klerus, der die Laien unterweisen und zur Förderung ihres sittlichen und religiösen Lebens beitragen konnte. Das Speyerer Bistum war bis zu Orsbecks Tod 1711 mit dem Erzbistum Trier verbunden: Orsbeck ist aber während seiner Regierungszeit – sieht man von einem kurzen Aufenthalt anlässlich der Huldigung im Jahr 1677 ab – Speyer ferngeblieben.138 Als Statthalter wirkte dort seit August 1676 Heinrich Hartard von Rollingen139, der nach Orsbecks Tod 1711 77jährig zu dessen Nachfolger gewählt wurde. Die besonderen Zeitumstände – die Reunionskriege, der Dom- und Stadtbrand von Speyer 1689, die Plünderung durch französische Truppen, der dreizehn Jahre dauernde Erbfolgekrieg sowie die Annexion der südlich der Queich gelegenen Gebiete des Hochstifts durch Frankreich – ließen den Bischöfen kaum Gelegenheit, in der Diözese Speyer im Sinne der Beschlüsse des Trienter Konzils zu wirken. Erst der Nachfolger Rollingens, Bischof Damian Hugo Kardinal von

135 Zu Johann Hugo von Orsbeck: Remling: Geschichte der Bischöfe (wie Anm. 37), S. 553–596; Schorn: Johann Hugo von Orsbeck (wie Anm. 61); Andreas Heinz: Erzbischof Johann Hugo von Orsbeck (1676–1711) und die Trierer Bistumsliturgie. Ergänzende Bemerkungen nach dem Erscheinen einer Orsbeck-Biographie, in: Trierer theologische Zeitschrift 86 (1977), S. 211–222; Press: Hochstift (wie Anm. 40), S. 273–275. 136 GLA KA 61/11263–11265; 78/1008. Von dieser Visitation ist nur der Bericht aus dem Amt Marientraut erhalten geblieben. Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 309–313; Warmbrunn: Konfessionalisierung (wie Anm. 49), S. 335 (zur Quellensituation). 137 GLA KA 61/11266–11267. Zum Klerus nach den Visitationen: Ammerich: Formen (wie Anm. 49), S. 309–313; ders.: Der Speyerer Klerus nach den Visitationen von 1683 und 1701. Aspekte zur Klerusreform in der Zeit von Johann Hugo von Orsbeck (1675–1711), in: Corona Amicorum. Alois Thomas zur Vollendung des 90. Lebensjahres von Kollegen, Freunden und Schülern dargeboten. Trier 1986, S. 5–14. 138 GLA KA 61/10975, pag. 353; 61/10977, pag. 392; vgl. dazu auch Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 123), T. III,2., S. 103. 139 Zu Heinrich Hartard von Rollingen: Remling: Geschichte der Bischöfe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 597–624; Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 123), T. III,2., S. 102–105; Press: Hochstift (wie Anm. 40), S. 275–277; Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 131 f.  

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Schönborn (1719–1743), konnte das Reformwerk im 18. Jahrhundert entscheidend fördern.140 Die Reformmaßnahmen hätten allerdings mit den diözesaneigenen Kräften nicht durchgeführt werden können. Deutlich ausgewirkt hat sich der Einfluss der Jesuiten und Kapuziner auf Klerus und Volk durch Unterricht, Katechese, Predigt und volksnahe Mission.

140 Stamer: Kirchengeschichte der Pfalz (wie Anm. 123), T. III,2., S. 107–114; Ammerich: Bistum Speyer (wie Anm. 37), S. 132–135.

Andreas Deutsch

Die Stadt Speyer, der Bischof, sein Henker und das Reich Zu den Streitigkeiten um das Recht zur peinlichen Strafvollstreckung in Speyer 1720 machte der Bruchsaler Scharfrichter beim Bischof wegen einer mit dem schwerdt zu Speyer hingerichten Person den 15. aug. 1720 5 fl. vor daß hinrichten, 5 fl. für Zehrung und 2 fl. vor das begraben geltend, also zusammen zwölf Gulden.1 Wahrscheinlich wäre eine bescheidenere Rechnung von der bischöflichen Kasse einfach beglichen worden, so aber kam alles anders. Der um die Sanierung der Hochstifts-Finanzen bemühte, frisch ins Amt berufene Kardinal Bischof Damian Hugo von Schönborn2 schaltete sich persönlich in die Angelegenheit ein und beauftragte die Fürstlich Speyerische Rentkammer Ende 1720 mit einem Gutachten: lmo. ob eß also herkommens, daß unser hochstifft diese executiones bezahlen müße, 2do. Ob auch recht seye, daß wen man ihme seine fünff gülden gebühr bezahle, man ihme darzu noch zehrungskosten bezahlen müße, […].3

Vermutlich staunte der Fürstbischof über das 1721 fertiggestellte Gutachten nicht schlecht: Die Kammerräte hielten fest, daß je und allewegen wan bey hiesigem statt magistrat ein thäter verurtheilt worden, von seithen dieses hohen stiffts der executer oder Scharffrichter auff g[nä]digste herrsch[a]f[t]l[liche] kosten seye gestöllet worden. Und mehr noch: Die Akten belegten, dass Bürgermeister und Rat von Speyer schon vor 100 auch mehr jahren beim kaiserlichen Hof daß ahnsuchen dahinn gethan haben, Ihnen allerg[nä]digst zu Erlauben in dergleichen fällen sich selbsten einen nachrichter stöllen zu dörffen, womit die Städter allerdings aufgrund bischöflicher gegenremonstration nie durchgedrungen seien.4 Die Auskunft

1 Bischöfliches Schreiben vom 23. Dezember 1720, in: Generallandesarchiv (künftig: GLA) Karlsruhe, Rentkammerakten, Wasenmeistereisachen, 133/907. 2 Zu Schönborns Konflikten mit der Stadt vgl. Wolfgang Hartwich: Speyer vom 30jährigen Krieg bis zum Ende der Napoleonischen Zeit (1620–1814), in: Wolfgang Eger (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 1–113 (hier S. 64 f.). 3 Bischöfliches Schreiben vom 23. Dezember 1720, in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/ 907. 4 Gutachten der Kammerräte auf die bischöfliche Anfrage vom 23. Dezember 1720, in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907.  

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der Kammerräte war korrekt, wie sich aus Akten im Karlsruher Generallandesarchiv, im Speyerer Stadtarchiv und einzelnen verstreuten Quellen nachweisen lässt.

1 Problemstellung: Grenzen der städtischen und bischöflichen Gewalt Das ausschließliche Recht zur Vollstreckung hochgerichtlicher Urteile in Speyer hatte nämlich der Bischof inne. Die Reichsstadt besaß zwar seit zirka 13005 den Blutbann innerhalb der Stadt, also das Privileg Todesurteile zu fällen, durfte aber weder einen eigenen Scharfrichter6 halten noch den Vollzug von Leibes- oder Todesstrafen durch einen auswärtigen Henker anordnen, statt dessen musste in jedem einzelnen Fall beim Bischof um „Amtshilfe“ durch dessen Nachrichter ersucht werden, der dann zumeist aus Bruchsal anreiste.7 Dieses Überbleibsel der bischöflichen Gerichtsgewalt über die Stadt Speyer8 diente den Bischöfen immer wieder als willkommenes Indiz für ihre Herrschaftsrechte über die Stadt, war also ein Stachel im Fleisch der freiheitsliebenden Reichsstädter. Für die Stadt war es eine besondere Schmach, ausgerechnet im für die Illustration reichsstädtischer Selbständigkeit wichtigen Bereich der Justiz vom guten Willen des Bischofs abhängig zu sein. Sie suchte daher wiederholt, sich des bischöflichen Privilegs zu entledigen – oder es wenigstens zu umgehen –, was auch zu rechtlichen Auseinandersetzungen führte.

5 Carl Weiss: Geschichte der Stadt Speier. Speyer 1876, S. 38. 6 Die Bezeichnungen Scharfrichter, Nachrichter und Henker werden im Folgenden der historischen Verwendung entsprechend synonym gebraucht, vgl. nur den Art. „Scharfrichter“, in: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW), Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 12. Weimar 2009–2013, Sp. 240–248; ferner: Andreas Deutsch: Die Henker – Außenseiter von Berufs wegen? Leipzig 2001. In Speyerer Quellen ist zumeist vom Nachrichter oder Scharfrichter die Rede. 7 Die Vollstreckungsgeräte wurden in Speyer im Altpörtel verwahrt. Vgl. Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A, C e 715, s. auch: Theodor Harster: Das Strafrecht der freien Reichsstadt Speier in Theorie und Praxis. Breslau 1900, S. 71, 75, 77; knapp auch Fritz Klotz: Speyer – Kleine Stadtgeschichte. 4. Aufl. Speyer 1988, S. 32. 8 Zur dem Bischof in weiten Teilen des Hochstifts zustehenden hohen Gerichtsbarkeit samt Blutbann als Teil seiner landesherrlichen Gewalt: Emil Bühler: Die Landes- und Gerichtsherrschaft im rechtsrheinischen Teil des Fürstbistums Speyer (Fürstentum Bruchsal), vornehmlich im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (künftig: ZGO) 77 (1923), S. 124– 165.

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Der hier behandelte Scharfrichterstreit ist ein Ausfluss des beständigen, über die Jahrhunderte mal mehr, mal weniger virulenten Konflikts zwischen dem Bischof und der Stadt, die ihre Freiheiten zu verteidigen und – vor allem zulasten der Privilegien des Bischofs – auch auszubauen trachtete. Mal wagten die Parteien gewaltsame Händel, mal bemühten sie die vermittelnde Diplomatie benachbarter Herrschaften. Ob im Streit um die Lußheimer Fähre, um die Jagd- und Weiderechte rund um die Stadt, um Zollprivilegien unter anderem für Speyerer Holzflößer bei Udenheim (heute Philippsburg) oder um das bischöfliche Geleitsrecht bei Rheinhausen bis zur Stadtgrenze – erstaunlich oft suchten die Parteien ihr Recht auch vor Gericht, bis hin zu Reichshofrat und Reichskammergericht.9 In nachreformatorischer Zeit spitzten sich die Auseinandersetzungen aufgrund des konfessionellen Gegensatzes zwischen dem Bischof (mit seinem in der Stadt verbliebenen Klerus) und der mehrheitlich protestantischen Bürgerschaft weiter zu.10 Wohl nicht zuletzt weil die Stadt Austragungsort zahlreicher Reichstage und Sitz des Reichskammergerichts war, wurden die Speyerer Kontroversen wiederholt auch zum Gegenstand der Reichspolitik.

2 Ablauf der Strafvollstreckungen Die Zwistigkeiten dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Nebeneinander von Fürstbischof und Stadtregierung die meiste Zeit recht gut funktionierte. Das gilt auch für den Ablauf der Strafvollstreckungen. Um Entzweiungen zwischen Bischof und Stadt zu vermeiden, war der Ablauf des Verfahrens in hohem Maße ritualisiert und blieb über die Jahrhunderte im Kern sehr ähnlich: Nachdem

9 Vgl. z. B. bei Martin Armgart/Raimund J. Weber (Bearb.), Inventar der pfälzischen Reichskammergerichtsakten (künftig: RKGA), Landesarchiv Speyer, Best. E 6. Koblenz 2009: Nr. 1928 (1536–1588); Nr. 1929 (1541–1575); Nr. 1936 (1569–1583); Nr. 1938 (1573–1575); Nr. 1939 (1574– 1578); Nr. 1940 (1580–1588); Nr. 1941 (1581–1586); Nr. 1942 (1584); Nr. 1943 (1586); Nr. 1945 (1595–1604); Nr. 1958 (1615); Nr. 1965 (1626–1629); Nr. 1969 (1653, RHR-Sache); Nr. 1970 (1657– 1688); Nr. 1986 (1642–1645); zu Speyerer Streitigkeiten vor Reichshofrat und Reichskammergericht auch: Höchstgemüssigte Vorstellung dess Unfugs deren so wohl bey Ihrer Kayserl. Majest. als denen Augspurgischen Confessions-Verwandten hochansehnlichen Gesandtschaften zu Regenspurg von Herren Burgermeistern und Rath der Stadt Speyer wider Ihrer hochfürstl. Gnaden daselbst dero Clerisey und Catholische ubergebenen Memorialien. o.O. 1715. Vgl. ferner Joachim Kemper (Hrsg.), Das Reichskammergericht und Speyer, eine Stadt als juristischer Mittelpunkt des Reiches 1527–1689. Speyer 2014, S. 20. 10 Vgl. auch in den RKGA Nr. 1929 (1541–1575); Nr. 1946 (1595–1604); Nr. 1948 (1600); Nr. 1972 (1713–1716); vgl. auch Nr. 2011 (1566).  

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der Rat sein peinliches Urteil gefällt hatte, wandten sich dessen Vertreter an die bischöfliche Verwaltung, damit diese den Scharfrichter des Bischofs für den vonseiten der Stadt festgelegten Vollstreckungstermin nach Speyer berief. Die kleinen, aber feinen Unterschiede, die sich im Laufe der Zeit ergaben, spiegeln indes das sich wandelnde Machtverhältnis zwischen Freier Reichsstadt und Fürstbischof wider. So fungierte über Jahrhunderte der bischöfliche Schultheiß als Ansprechpartner auf bischöflicher Seite. In ältester Zeit soll es sogar üblich gewesen sein, dass die bürgermeister einem Schultheißen ins Hauß gangen seyen, eine klare Geste der Subordination. Schon seit dem Schiedsvertrag von 1294 zwischen Bischof und Stadt11 befand sich der Schultheiß allerdings in einer Art Zwitterposition. Er wurde zwar weiterhin jährlich vom Bischof neu ernannt, doch musste dies auf Vorschlag des Rates erfolgen. Der Amtseid band ihn gegenüber beiden Seiten.12 Der bischöfliche Schultheiß hatte somit auch den Anordnungen des Rates nachzukommen. Ganz dem entsprechend beschreibt Schultheiß Pater Adam Meiner 1534 aus der eigenen Praxis: Wenn Bürgermeister und Rat der Stadt Speyer einen Straftäter zu einer peinlichen Strafe verurteilt hatten, sei es früher üblich gewesen, dass die beiden Bürgermeister samt ihrem Haimberger, also dem Gerichtsboten,13 und den Stadtknechten alßbaldt nach festgestandenem rathschluß und decisio [. . .] vor die Müntz kamen, um dort den hinzugerufenen Schultheißen zu informieren, gewissermaßen an einem neutralen Ort. Zu Meiners Zeit hingegen war es Brauch, dass sie sich vor die newenstube, also das neue Ratsgebäude begaben, das sich an der Stelle des heutigen „Alten Rathauses“ befand. Dort hätten die Bürgermeister dem herbeigeeilten Schultheißen früher stehend, jetzt aber sitzend die verurtheilte Persohn und Erkante straff, es seye hencken, kopff abhauwen, augen zerstechen, mit

11 An die Einhaltung dieses Verfahrens wurden die Bischöfe anlässlich ihres nach der Bischofswahl erfolgenden feierlichen Einritts durch gegenseitige Eidesleistungen von Bischof und Repräsentanten der Stadt gebunden. Hierzu am Beispiel Bischof Ludwigs: Franz Xaver Remling: Geschichte der Bischöfe zu Speyer, Bd. 2. Mainz 1854, ab S. 180. 12 U 184 bei: Alfred Hilgard (Hrsg.), Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer. Straßburg 1885; ferner: Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 37; Karl Heinrich Korz: Das Schultheißen- und Kämmerergericht von Speyer in den Jahren 1294–1689. Diss. Mainz 1963, S. 21 f. und 25 ff.; Elisabeth Rütimeyer: Stadtherr und Stadtbürgerschaft in den rheinischen Bischofsstädten – Ihr Kampf um die Hoheitsrechte im Hochmittelalter. Stuttgart 1928, S. 160 ff. 13 Speyer hatte zwei sog. Heimburgen, die auch als Polizisten fungierten, vgl. Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 33, sowie die Artikel „Heimberge(r)“ und „1Heimbürge“, in: Deutsches Rechtswörterbuch (wie Anm. 6), Bd. 5, Sp. 590 f. und 592 f.  







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ruthen außhawen, ohren abschneiden oder dergleichen, angezeigt, mit begere die Execution mit dem nachrichter zu thun zu lassen.14 Zu einer deutlichen Zäsur15 kam es mit dem Amtsantritt von Bischof Lothar Friedrich von Metternich-Burscheid im Jahre 1652, mit dem die Stadt in dauerhaftem Konflikt stand,16 weshalb er seinen immer wieder aufgeschobenen feierlichen Einritt (samt Huldigungen und gegenseitigen Eiden) verweigerte.17 Nun wurde es üblich, dass sich im Falle einer anstehenden Strafvollstreckung ein Repräsentant der Stadt Speyer direkt an den bischöflichen Amtspräzeptor, den sog. Amtskeller zu Bruchsal, wandte. So forderte der Speyerer Gerichtsälteste den Scharfrichter am 20. März 1672 beim Bruchsaler Präzeptor wie folgt an: [D]arnach E.E. Rath dießer H. Reichs Frn. Statt Speir […] einen Juden zu hafften bekommen, und selber durch urteil und Recht dahin verdammet haben, daß er seine begangene Bosheit mit dem staůpbeßen büssen solle: als thue auf erghangenen meinem hochgl. herren solches hiermit zuwissen, mit dem ansinnen, derhalbe dem scharfrichter zu Bruchsal order zu geben wolle, daß er sich morgen um 3 uhren alhier einstellen, und folgenden Freitag bemelte execution des außstreichens verrichten solle18.

14 Beschreibung „wie es mit den verurtheilten übelthätern zu Speyer gehalten wird durch Pater Adam Meiner gnädigen Herren Schultheissen daselbst angezeigt“, 1534 (Abschrift 1720), in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 15 Zu vorangegangenen Konflikten: Korz: Schultheißen- und Kämmerergericht (wie Anm. 12), S. 36 ff. 16 U.a. weil er sich – aufgrund der Folgen des 30jährigen Krieges – entschlossen hatte, in Speyer zu residieren. In die zum Teil auch kriegerischen Auseinandersetzungen wurden auch Reichshofrat und Kaiser eingeschaltet. Ein kaiserliches Mandat zwang die Stadt schließlich zum Nachgeben. 17 Remling: Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 11), S. 517 ff., insb. 519 ff., 529–532, 537. 18 Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712 (Nachrichter-Akte), Bl. 68. Weitere vergleichbare Schreiben stammen von 1674, 1677, 1728, 1730 und 1756, vgl. ebd., Bl. 50 ff. Vgl. auch die Beschreibung der Observanz vor 1652 bei: Ludwig Heinrich Reuss: Gutachten „Ob ein Fürst oder Stand des Reichs, wann Er in eines andern Territorio sich befindet oder commoriret, und sich zuträget, daß einer Seiner Bedienten […] ein Delictum oder Frevel begehet, concomitantem Jurisdictionem also habe, daß er privativè die Bestraffung habe, oder Dominus Territorii sich derselben nicht anmassen könne […]?“, abgedruckt als Beylag Lit. R, in: Grundveste GegenVorstellung und Abfertigung der also anmaßlich betittelten Höchst-gemüßigten Vorstellung deß Unfugs, deren so wohl bey ihrer Kayserl. Majest. als denen […] Gesandtschafften zu Regenspurg von Herren Burgermeistern und Rath der Stadt Speyer wider Ihro Hoch-Fürstl. Gnaden daselbst, dero Clerisey und Catholische übergebene Memorialien, wodurch die gerechteste Befugnüß deß Heil. Reichs freyer Stadt Speyer zusammt widriger Beeinträchtigungen in sacris & profanis […] vor Augen gestellet werden. Speyer 1715, S. 215–233 (hier S. 231).  





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3 Aufgaben des Stockers Um vom bischöflichen Scharfrichter weniger abhängig zu sein, hielten die Speyerer über die Jahrhunderte hinweg einen in der Stadt ansässigen Stocker oder Stockmeister als reichsstädtischen Bediensteten. Ihm oblag es, all jene Strafen zu voIlstrecken, deren Vollzug in der Kompetenz des Speyerer Magistrats lag. Dies waren namentlich die Ehrenstrafen19 – oder konkreter (wie es in einem Gutachten des 18. Jahrhunderts heißt): die Ruhten aufbinden, auf den Pranger stellen und dergleichen20. Obgleich daher vonseiten der Reichsstadt gerne behauptet wurde, der Stocker sei eigentlich eine Art Henker – von Haus aus kamen ihm andere Aufgaben zu. Wie andernorts dürfte er auch in Speyer zuallererst Gefängnisaufseher gewesen sein.21 Dennoch greift es zu kurz, wenn Schultheiß Adam Meiner in seiner – im Interesse des Bischofs formulierten – Beschreibung wie es mit den verurtheilten übelthätern zu Speyer gehalten wird 1534 berichtet: der Stocker zu Speyer thut ferner nichts, dan er steckt und pflöckt,22 er mache nichts anderes, als Gefangene in den Block zu setzen und dort anzupflocken.23 Denn der Stocker fungierte daneben als Bettelvogt, er hatte auff die bettler zu sehen,24 wie Meiner selbst ergänzt. Zusätzlich standen dem Speyerer Stocker – zumindest zu manchen Zeiten25 – auch Aufgaben zu, die andernorts ein Abdecker (Schinder) übernahm. So war er für das Wegtransportieren, Häuten und Verscharren von verendetem Vieh verantwortlich. Auch oblag ihm die Entleerung der Abtrittsgruben (unter den

19 Ähnlich die Angaben des Bruchsaler Scharfrichters Bürckert, Protokoll vom 16. März 1743, in: GLA Karlsruhe, Akten der Bruchsaler Kellerei, Wasenmeistereisachen, 133/907. (Ungenau) zitiert bei Ludwig Böer: Der Scharfrichter von Bruchsal, Bruchsal 1972 (Sonderdruck aus: Bruchsaler Zeitschrift für Kultur- u. Heimatgeschichte 9 (1971), H. 3–6 und 10 (1972), H. 1), S. 1 f. 20 Reuss: Gutachten (wie Anm. 18), S. 231. 21 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4. 2. Aufl. Leipzig 1801, S. 395; Deutsches Wörterbuch (DWB), Bd. 19, Sp. 112 f. In Speyer befanden sich die Gefängniszellen über die Stadt verteilt zumeist in den Stadttürmen. 22 Gutachten von Meiner (wie Anm. 14), in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 23 Vgl. zum Phrasem „stocken und pflocken“: Art. „1pflocken III“, in: Deutsches Rechtswörterbuch (wie Anm. 6), Bd. 10, Sp. 979. Zum „Stock, darin man die schuldner mit den Füßen beschlossen“, vgl. Klotz: Kleine Stadtgeschichte (wie Anm. 7), S. 31 f. 24 Gutachten von Meiner (wie Anm. 14), in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 25 Görtz weist anhand von Taufbuch-Auszügen nach, dass wenigstens zwischen 1665 und 1678 sowohl ein Stockmeister als auch ein Wasenmeister in Speyer lebten. Vgl. Hans-Helmut Görtz: Stockmeister, Scharfrichter und Wasenmeister in den Speyerer Taufbüchern von Predigerkirche (P) und St. Georgen (G) 1593–1689, in: Pfälzisch-Rheinische Familienkunde (im Druck).  





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Plumpsklos) in den Privathäusern der Stadt,26 was eine gute und regelmäßige Einnahmequelle darstellte.27 Gelegentlich beauftragte ihn der Rat mit weiteren Reinigungstätigkeiten.28 Schließlich kamen ihm spezielle Zuständigkeiten im Rahmen des Inquisitions- und Strafvollstreckungsverfahrens zu. Hierzu zählt insbesondere die Folter von Tatverdächtigen: wie nicht weniger die Torquirung eines Inquisiti der Löbl. Stadt Speyer Wasen- oder Stock-Meister ordinarie verrichtet,29 bestätigt etwa ein Tübinger Fakultätsgutachten aus dem frühen 18. Jahrhundert. Außerdem lag es in der Pflicht des Stockers, die zu Tode verurteilten auf seinem Karren zur jeweiligen Richtstätte zu verbringen.30 Die Aufgaben des Strafvollzugs waren somit klar zwischen Scharfrichter und Stocker aufgeteilt. Im Regelfall war bei jeder Strafverurteilung von vorneherein klar, ob die Stadt und der Stocker oder aber der Bischof und sein Scharfrichter zuständig waren. Dies allein freilich konnte den über Jahrhunderte schwelenden „Scharfrichterstreit“ nicht verhindern.

4 Der Streit im chronologischen Ablauf 4.1 Bischof Ludwigs Klage 1487 Erstmals greifbar wird der Streit im Jahre 1487. Mitte Juli hatte der Speyerer Stadtrat einen Straffälligen durch einen von auswärts bestellten Scharfrichter vom leben zum tode bringen lassen, ohne den bischöflichen Schultheißen auch nur zu kontaktieren.31 Vielleicht hatten sich die Speyerer deshalb gescheut, beim Schultheißen anzufragen, weil es sich bei dem Verurteilten um einen Priester handelte, der Bistumsverwaltung mithin die Anordnung der Hinrichtung besonders schwer fallen musste.

26 Vgl. das Gutachten von Meiner (wie Anm. 14), in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907; ferner: Klotz: Kleine Stadtgeschichte (wie Anm. 7), S. 30; Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 35. 27 Andreas Deutsch: Richter, Henker, Folterknechte – Strafjustiz im alten Hall. Schwäbisch Hall 1993, S. 36; vgl. z. B. auch Art. 7 der Zwickauer Stadtrechtsreformation von 1539/69. 28 Vgl. etwa Ratsbeschluss vom 16. April 1667, abgedruckt bei Hans-Helmut Görtz (Bearb.), Das Speyerer Ratsprotokoll 1667. Speyer 2014, S. 71. 29 Reuss: Gutachten (wie Anm. 18), S. 231. 30 Klotz: Kleine Stadtgeschichte (wie Anm. 7), S. 32. 31 Vgl. Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 26.  

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Bischof Ludwig, von den Historikern wohl zu Recht als besonders gutmütig und wohlwollend beschrieben, war über diesen Eingriff in seine oberkeit, herrlichkeit, freiheit vnd gerechtikeit merklich erbost,32 wollte allerdings das gute Verhältnis mit der Stadt nicht gefährden.33 Selbst in Lauterburg weilend, schickte er daher zunächst einige seiner Räte zu Verhandlungen in die Stadt. Als sich die Speyerer Bürger aber uneinsichtig zeigten, fand er im Schreiben vom 23. Juli 1487 deutlichere Worte: Er sei nicht gewillt, solche Rechtsübertretungen zu dulden. Um einem Einreißen der Missbräuche vorzubeugen, verlangte er, das Ir vns des berürten handels kerung, wandel und abtrag tün wöllent, […] damit vns nit ursach gegeben werde, die dinge weiter oder anders züersůchen.34 Die Speyerer wollten jedoch keinesfalls Schadensersatz zahlen. Ihnen war ebenso wie dem Bischof klar, dass jede Wiedergutmachungsleistung einer Anerkennung und Bestätigung des bischöflichen Privilegs gleichgekommen wäre. Nach weiteren vergeblichen Versuchen auf die Stadt zuzugehen, ließ Ludwig seine lieben getreuwen vor ein Schiedsgericht Philipps des Aufrichtigen, des Pfalzgrafen bei Rhein, laden.35 Da der Heidelberger Kurfürst zugleich als Schirmherr der Reichsstadt Speyer fungierte, war es der Stadt unmöglich, sich seinem Schiedsspruch zu entziehen. Im November forderte der Kurfürst die Parteien zunächst zu schriftlichen Stellungnahmen auf.36 Vermutlich kam es dann zu einer mündlichen Verhandlung. Wie der Pfalzgraf exakt entschieden hat, ist unbekannt; klar ist jedoch: Das bischöfliche Privileg, den Speyerern den Scharfrichter zu stellen, blieb am Ende unangetastet. Vermutlich mussten die Bürger dem Bischof auch eine Wiedergutmachung leisten.

4.2 Speyer wendet sich an den König, 1491 Sicher ist ferner, dass die Reichsstädter mit dem Ergebnis des kurpfälzischen Schiedsgerichts unzufrieden waren, denn sie fassten den Entschluss, sich in 32 Schreiben vom Montag nach Maria Magdalena (=23. Juli) 1487, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 28v. 33 Schreiben vom Freitag nach Lukas (=19. Oktober) 1487, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 30r. 34 Schreiben vom Montag nach Maria Magdalena (=22. Juli) 1487, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 28v. 35 Hierbei sollte es auch um die Herausgabe des Karrens eines Glasers gehen, der im Rhein ertrunken war, dieser Streit wird auch in einer Klage Bischof Philipps II. gegen die Stadt 1536 vor dem RKG erwähnt; vgl. Armgart/Weber (Bearb.), Pfälzische RKGA (wie Anm. 9), Bd. 3, Nr. 1928 (HSTAM 11883, WGR S 4349), S. 1718. 36 Schreiben vom Dienstag nach Martini, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 34.

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dieser Angelegenheit an das Reichsoberhaupt zu wenden. Für die Speyerer waren die Könige und Kaiser des Reichs weit mehr als nur die formalen Stadtherren. Aufgrund der anhaltenden Konflikte mit dem Bischof war die Stadt um einen stetigen guten Kontakt mit Kaiser und Hof bemüht,37 insoweit verwundert nicht, dass sie sich auch in der Scharfrichterfrage dorthin wandten, und zwar, soweit rekonstruierbar,38 erstmals im Jahre 1491. Wie es scheint, richteten sie ihr Gesuch direkt an König Maximilian. Umgehend reagierte Bischof Ludwig und schrieb am Freitag nach Veitstag, das wäre umgerechnet der 17. Juni 1491, an einen Vertrauten bei Hofe: herrn Vyten Frey-Herrn zum Wolckenstein. Veit von Wolkenstein, ein Enkel des Minnesängers Oswald von Wolkenstein, war seit 1478 Weggefährte, enger Vertrauter und Wortführer Maximilians I.39 Nachdem Maximilian 1486 – zu Lebzeiten des Vaters – zum römisch-deutschen König gewählt worden war, fungierte Wolkenstein (bis zu seinem Tod Ende 1498) als dessen Kämmerer und Rat. Ludwig schrieb ihm wörtlich: [W]ann Uns nu jetzt in geheim glaublich angelangt hat, wie der Raht zu Speyer bey der Königl[ichen] Majest[ät] unterstanden zu erlangen für sich selbst ein Nach-Richter zu halten, durch den sie die Urtheil über menschlich Blut vollstrecken möchten, und aber solches wider unsers Stifft Regalia, Herrlichkeit, Oberkeit und herbrachten Posseß dapferlich wäre, […] damit je und je vor viel hundert Jahren bisher […] ein Bischoffe zu Speyer, und niemand anders, ein Nach-Richter zu geben gehabt hat, daß auch nicht seltzam und fremd, dann ein Bischoff zu Speyer der ist, von dem alle Gericht geistlich und weltlich in der Stadt Speyer darruhren40.

Wolkenstein solle sich bei Maximilian so viel als füglich für Ludwig verwenden. Aufgrund seines Einflusses war es fast außer Frage, dass Wolkenstein beim König durchdringen würde. Noch im 18. Jahrhundert erinnern sich die Speyerer mit Ärger an diesen erfolgreichen Schachzug des Bischofs und werfen ihm vor, er

37 Willi Alter: Von der Konradinischen Rachtung bis zum letzten Reichstag in Speyer (1420/22 bis 1570), in: Wolfgang Eder (Red.), Geschichte der Stadt Speyer, hrsg. von der Stadt Speyer, Bd. 1. Stuttgart 1982, S. 369–570 (hier S. 434). 38 So ist das Datum im Schreiben von Bischof Ludwig zu lesen, wenn in der Datierung ein C vergessen ist: anno D. XCVIIII – alles andere lässt sich mit den Lebensdaten der Beteiligten nicht in Einklang bringen. 39 Hans von Voltelini: Artikel „Wolkenstein, Veit Freiherr von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 44. München 1898, S. 140–141. 40 Vgl. Neben-Beylag Lit. Bb., abgedruckt in: Grundveste Gegen-Vorstellung (wie Anm. 18), S. 491.

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habe den von Wolkenstein durch Versprechung eines Recompens auf seine Seite gebracht.41

4.3 Städtische Eingabe beim kaiserlichen Hofrat 1518 Damit war die Nachrichterfrage für die nächsten Jahre entschieden. Im Schnitt gab es in Speyer alle ein bis zwei Jahre eine Todesstrafe zu vollstrecken42 und das vorgegebene Verfahren scheint nun in den meisten Fällen reibungslos abgelaufen zu sein. Doch heißt dies keinesfalls, die Speyerer hätten im Scharfrichterstreit klein bei gegeben. Im Stadtarchiv hat sich der Entwurf einer abermaligen, nur wenige Jahre später aufgesetzten Bittschrift an das Reichsoberhaupt erhalten.43 Ohne auf die rechtliche Problematik einzugehen, schildern die Speyerer darin lapidar, dass sie zur Bestreitung von Execution und volzyhung Irer versprochen vrtheyle vnnd ertheylter straff zu Zeiten nit selbst eygen nachrichter bey Inen hätten, weshalb sie des Öfteren eines Bischoffs von Spire nachrichter an andern enden vsserhalb der statt Spire komende deßhalben gebraucht. Da dies allerlei nachtheyle gebracht habe, ersuchten sie den Kaiser: Vnnd ist darumb deren von Spire bitt und anruffen An E[ine] Kay[serliche] May[estät], wie sie sollen Ine solliche macht und freyheyt vnnd gewalt zů geben, ob vnnd so sie wollen, selbs ein aigen nachrichter bey Inne zu haben vnnd gebrauchen.

Mit der schwierigen Mission, das Anliegen bei Hofe erfolgreich anzubringen, wurden der einflussreiche Ratsherr, zeitweilige Bürgermeister und erfahrene Diplomat Diether Rieß44 und der jahrzehntelange Speyerer Stadtschreiber Micha-

41 Höchst-gemüßigte Triplicae in Sachen Syndici Herren Bürgermeister und Raht des Heil Reichs Freyen Stadt Speyer contra den Hoch-Fürstl. Speyerischen Ampts-Verwesern zu Marientraut Dietrich Friedrich Dünckern, abgedruckt in: Grundveste Gegen-Vorstellung (wie Anm. 18), S. 399–416 (hier S. 404). 42 Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 39. 43 Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 6r. u. v. 44 Diether Rieß wird 1514 als Bürgermeister erwähnt, vgl. Manfred Krebs (Bearb.), Die Protokolle des Speyerer Domkapitels, Bd. 1: 1500–1517. Stuttgart 1968, Nr. 4092; vgl. dort auch Nr. 4401 (17. 10. 1515: als Gesandter des Rats genannt) und Bd. 2: 1518–1531. Stuttgart 1969, Nr. 6987 u. 8462. Christoph Lehmann: Chronica der Freyen Reichs Statt Speyr. Frankfurt (Main) 1612, S. 343, erwähnt eine Beteiligung von „Diether Riesen“ 1514. Rieß unterzeichnete zudem als Vertreter Speyers den Wormser Reichsabschied von 1521 mit.

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el Geilfuß45 betraut.46 Doch an wen sollten sich die beiden am geschicktesten wenden? Die Speyerer Gesandten reisten zum Augsburger Reichstag von 1518, um ihr Gesuch an den Kaiserlichen Hofrat zu richten, zu dieser Zeit noch weniger ein Gericht als ein im Namen des Kaisers agierendes Regierungsorgan, das das Reichsoberhaupt in alltäglicheren Fragen entlastete.47 Der Zeitpunkt schien günstig, da der 1513 zum Speyerer Bischof gewählte Georg von der Pfalz vom Kaiser noch immer nicht formal mit dem Hochstift belehnt war. Es hatte auch noch kein feierlicher Einritt Georgs mit gegenseitiger Bestätigung der Rechte und Huldigung der Bürgerschaft stattgefunden, sodass im Prinzip noch alles verhandelbar schien. Allerdings gelang es dem bischöflichen Generalvikar Georg von Schwalbach just auf diesem Reichstag die kaiserliche Belehnung des Bischofs zu erlangen.48 Der Hofrat entschied denn – trotz aller Bemühungen der städtischen Gesandten – auch in der Scharfrichterfrage zugunsten des Bischofs.49

45 Bereits 1493 stellt ein Notar Michel Geilfuß in Speyer ein Instrument aus, vgl. ZGO 26 (1874), S. 459. 1497 setzt er als Stadtschreiber ein Testament auf, vgl. Armgart/Weber (Bearb.), Pfälzische RKGA (wie Anm. 9), Bd. 1, Nr. 22 (HSTAM 2387), S. 15 (vgl. ebd. auch Nr. 720, HSTAM 6612, S. 623); 1503/04 wird Stadtschreiber Geilfuss nach Florenz gesandt, vgl. Carl Weiss: Nachrichten über den Anfang der Buchdruckerkunst in Speier, Bd. 1. Speyer 1869, S. 10; 1505 ist er auf dem Reichstag zu Köln, Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe, Bd. VIII: Der Reichstag zu Köln 1505, Teil 2. München 2008, Nr. 827, S. 1292. Als Stadtschreiber wirkt er ferner z. B. 1507 an Verhandlungen mit dem neuen Bischof Philipp I. mit, vgl. Remling: Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 11), S. 216, 1518 mit dem neuen Bischof Georg, vgl. Alter: Von der Rachtung (wie Anm. 37), S. 474 f. Derselbe Geilfuß soll Melanchthon 1529 vor der Gefangennahme gerettet haben. 1531 wird Geilfuß dann nur noch retrospektiv erwähnt, vgl. Krebs: Protokolle des Speyerer Domkapitels II (wie Anm. 44), Nr. 8781 (7. Februar 1531). Zu Geilfuß auch: Klaus Graf, http://archiv. twoday.net/stories/49587546/ [verfasst am 20. Oktober 2011]. 46 Vgl. am Ende des Schreibens: Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 6v. 47 Zur Rolle des Hofrats in dieser Zeit: Eva Ortlieb: Vom Königlichen/Kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat – Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht – Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451– 1527). Köln/Weimar/Wien 2003 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 45), S. 221–289, insb. ab S. 221; vgl. auch dies.: Das Prozeßverfahren in der Formierungsphase des Reichshofrats (1519–1564), in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess. Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 117–138; Wolfgang Sellert: Prozeßgrundsätze und Stilus curiae am Reichshofrat – im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973, insb. ab S. 61; Heinrich Ulmann: Kaiser Maximilian I. – auf urkundlicher Grundlage dargestellt, Bd. 1. Stuttgart 1884, insb. ab S. 823. 48 Vgl. Remling: Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 11), insb. S. 239 f. 49 Vgl. den Bericht anlässlich des Konflikts von 1534, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 15v. u. 16r.  





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4.4 Speyerer missachten bischöfliches Privileg 1534 Nach diesem weiteren diplomatischen Misserfolg gingen einige Jahre ins Land, bevor die Reichsstadt 1534 erneut versuchte, das ungeliebte bischöfliche Privileg abzuschütteln – und zwar diesmal schlicht durch die Schaffung von Fakten.50 Die sich seit den frühen 1520er-Jahren in der Speyerer Bevölkerung ausbreitende Reformation hatte die Distanz zum Bischof nochmals erhöht. Die innerstädtischen Gewichte hatten sich durch Ansiedlung des Reichskammergerichts verschoben. Auch hatte 1529 ein neuer Mann, Philipp II. von Flersheim, den Speyerer Bischofsstuhl bestiegen; der promovierte Jurist hatte sich schnell als besonnener Lenker des durch Pest und Bauernkrieg gebeutelten Fürstbistums einen Namen gemacht51 – hatte zudem mit den alten Streitigkeiten rund ums Nachrichteramt nie zu schaffen gehabt. Das Gerichts- und Vollstreckungsprozedere begann am 30. September 153452 zunächst wie gewohnt. Kaum war durch die versammelten Ratsherren eynen Armen umb schwerer Myßhandlungen willen […] vom leben zum todt mit dem wasser gericht zu werden erkant, wandten sich die Bürgermeister an den bischöflichen Schultheißen. Jedoch wich die überbrachte Mitteilung in einem nicht ganz unerheblichen Punkt von der Gewohnheit ab: die Bürgermeister teilten dem Schultheißen nämlich mit, man sey vberkhomen dem selben Morgen donnerstags, also am Donnerstag, den 1. Oktober, hinrichten zu lassen. Üblicherweise fanden die Exekutionen freitags statt, also etwa 42 Stunden nach der in der Regel unmittelbar nach der mittwöchlichen Gerichtssitzung erfolgenden Bekanntgabe des peinlichen Urteils. Nun sollten dem Schultheißen gerade einmal 18 Stunden (davon nur fünf bei Sonnenschein) verbleiben, um einen Boten nach Bruchsal zu entsenden und den Scharfrichter von dort kommen zu lassen. Eine rechtzeitige Herbeischaffung des Scharfrichters war somit im besten Falle eine logistische Herausforderung. Dennoch habe der Schultheiß versprochen, er wol sein möglichen vleiß thůn, machten die Speyerer Ratsherren im späteren Rechtsstreit geltend. Als dann am frühen Donnerstagmorgen die Exekution stattfinden sollte, sei weder der schultheß noch der nachrichter vorhanden gewesen.53 Wie die Speyerer betonen, habe man noch bis fast Mittag gewartet, schließlich aber, als noch immer kein Nachrichter zu sehen war, nicht länger warten können. Nur deshalb

50 Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 13r. 51 Zu Flersheim etwa: Hans Ammerich: Art. „Philipp Frhr. v. Flersheim“, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 20. Berlin 2001, S. 386; Remling: Bischöfe zu Speyer (wie Anm. 11), S. 267– 327. 52 Mittwoch nach Michaelis. 53 Stellungnahme der Reichsstadt Speyer, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 18r.

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hätten die Ratsherren durch Iren stocker, der sich fur einen gefreiten meinster außgäbe, dy Execůtion ergeen lassen54. Der bischöfliche Protestbrief ließ freilich nicht lange auf sich warten. Am Montag, den 5. Oktober, schrieb Philipp: [S]ynt wir bericht, wie Ir verschienen donerstags Einen důrch N., so dieser Zyet ewer Stöcker ist, vor euch selbst, ane dargesteltt vnsers Schultheissen vom leben zům todt habt pringen lassen, das wir warlich nit gern gehört, In bedencken das ir wist, solichs nit uff ewer oder der ewern sonder vnsers schultheissen darstellen bescheen soll55.

In dem ausführlichen Schreiben berief sich Bischof Philipp mehrfach auf das Herkommen, seine verprevten Regalien vnd Freyheiten und verwies auf die Entscheidung des kaiserlichen Hofrats von 1518. Keinesfalls wollte der Bischof solch einen Eingriff in seine Privilegien dulden, ermahnte die Stadt daher dringend, derartige Verstöße in Zukunft zu unterlassen. Nur um des Friedens willen verzichte er darauf, den Vorfall unserm allergnedigsten Hern Irer Maiestatt CamerRichter vnd bysitzer solichs beschehenes vnser Hohen Regalien Ingriffs zubeclagen. Die Speyerer rechtfertigten sich daraufhin, man habe in der Vergangenheit schon öfter auf einen anderen Nachrichter oder den Stocker zurückgreifen müssen, weil der bischöfliche Scharfrichter nicht rechtzeitig verfügbar gewesen sei. Wie in den früheren Fällen hätten sie auch diesmal nicht länger mit der Hinrichtung warten können, da sie nämlich dem armen Sünder das Leben am Vortag bereits hatten abkündigen lassen, woraufhin man mit der Execůtion langer nit dan vff den nechsten tag darnach warten dürfe, zumal der Täter bereits nach seiner Festnahme einen Suizidversuch unternommen hatte. Allzu glaubhaft erscheint diese Einlassung indes nicht – humanitäre Überlegungen spielten im Strafvollzug des 16. Jahrhunderts zweifellos nur eine untergeordnete Rolle. Und in den Zeitdruck aufgrund der verfrühten Abkündigung hatte sich der Rat selbst begeben, obgleich er wusste, dass nach dem rechtsgültigen Verfahren erst ein Scharfrichter von auswärts bestellt werden musste. Sehr auffallend ist zudem die – andernorts eher seltene oder gar unübliche – Verurteilung des Täters zum Tod durch Ertränken. Während die meisten anderen Hinrichtungsmethoden, etwa die Enthauptung mit dem Schwert oder das Aufhängen am Galgen, die fachmännischen Kenntnisse eines ausgebildeten und geübten Scharfrichters erfordern, kann die Strafe des Ertränkens im Prinzip durch jeden vollstreckt werden, der sich hierzu bereitfindet: Der Verurteilte wurde schlicht in ein Fass geschlagen oder in einen Sack eingenäht und dann in den

54 Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 18v. 55 Schreiben von Montag nach Francisci, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 15v.–16v.

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Rhein geworfen. Wir dürfen also vermuten, dass es die Speyerer Ratsherren von Anfang an darauf angelegt hatten, den Stocker mit der Hinrichtung zu beauftragen. Mehr noch: Es ist anzunehmen, dass der Speyerer Magistrat auch schon bei vorangegangenen Todesurteilen auf eine Vollstreckung durch den Stocker spekuliert hatten und aus diesem Grund vorsorglich eine Hinrichtung durch Ertränken angeordnet hatten. Nach den Untersuchungen von Carl Weiss und Theodor Harster war das Ertränken im Rhein an der Wende zur Neuzeit nämlich die häufigste Hinrichtungsmethode in Speyer.56 Sie wurde in Speyer oftmals selbst dann angeordnet, wenn das Gesetz (wie etwa bei Diebstahl oder schweren Flüchen), eine andere Form der Todesstrafe vorsah.57 Vielleicht auch deshalb ließ sich Bischof Philipp von der Stellungnahme der Städter nicht allzu sehr beeindrucken. In einem Gutachten hatte er sich von seinem Schultheißen längst über die Speyerer Gebräuche informieren lassen, namentlich dass die Verkündung der Todesurteile vormahls allwegen ungevarlich auff den mitwoch, wenn burgermeister das urtheil geholt, beschehen, und allermeist die Execution auff den freytag hernach gangen.58 Das Vorbringen von Bürgermeister und Rat brauchte er also nicht gelten lassen. Da es dem Bischof – wie seinen Vorgängern – allerdings vornehmlich darauf ankam, dass sein Privileg nicht unterhöhlt würde, zeigte er sich in einem Schreiben vom 22. Dezember 1534 mit der zwischenzeitlich erfolgten Entschuldigung der Ratsherren für dißmals zůfrieden. Um aber nichts einreißen zu lassen, damit also die Speyerer Bürger nichts „ersitzen“ könnten, beharrte er auf einer Bestätigung seines Rechts und schlug eine theidigung und gütliche vnderhandlung zur Klärung dieser und anderer offener Streitfragen vor und benannte hierfür einige hochgestellte Adlige der Region.59 Am Ende der Verhandlungen stand ein Vertrag zwischen Bischof und Stadt, der das überkommene Recht der Strafvollstreckung durch den bischöflichen Nachrichter bestätigte.60

56 Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 39. Die Zahlen übernimmt Klotz: Kleine Stadtgeschichte (wie Anm. 7), S. 31: Zwischen 1450 und 1500 gab es in Speyer 36 Hinrichtungen: 16x Ertränken im Rhein, 14x Galgen, 3x Scheiterhaufen, 2x Enthaupten, 1x Rädern. Harster: Strafrecht Speier (wie Anm. 7), S. 66, weiß von 48 Hinrichtungen zwischen 1430 und 1510, davon 19x Ertränken, 18x Galgen, 5x Scheiterhaufen, 4x Schwert, 2x Rad. 57 Die Beispiele bei Weiss: Geschichte der Stadt Speier (wie Anm. 5), S. 39. 58 Gutachten von Meiner (wie Anm. 14), in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 59 Schreiben von „dienstags nach Thomae“ (22. Dezember), in: Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 20. 60 Vgl. die Bezugnahmen auf diesem Vertrag im nachfolgenden Streit von 1548: Protokoll vom 19. November 1548, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 9r.–11r., hier Bl. 9r.

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4.5 Klage des Schultheißen 1548 Der nächste aktenkundige Konflikt in der Nachrichterfrage folgte bereits gut ein Jahrzehnt später. Noch immer regierte Philipp von Flersheim als Fürstbischof, und es scheint, als hätten die Speyerer Bürger deutlich mehr Respekt vor dem Geistlichen als noch 1534. Nachdem der Bischof nämlich zur Klärung einer streitigen Strafvollstreckung Vertreter der Stadt zu sich zitiert hatte, erschien – ohne jede Verweigerung – am 16. November 1548 pünktlich um drei Uhr nachmittags eine hochrangige städtische Delegation – unter anderem mit den beiden Bürgermeistern Conrad Lutz und Nicolaus Silberradt61 sowie dem amtierenden Stadtschreiber Melchior Scherer.62 Diesmal war es der Schultheiß, der sich von den Speyerer Bürgern hintergangen fühlte und deshalb vor dem Bischof klagte. Die Speyerer hatten zwo Persohnen allhie in Malefiz Sachen gefänglich eingezogen. Für die Vollstreckung sei nach Meinung des Schultheißen in solchen der Brauch, daß Ihrer fürstl. Gnaden Schultheiß allhie den Nachrichter stellen, die Stadt im Gegenzug demselben von einer jeden Persohn sein benant Deputat und Gebührnüs bezahlen müßte. Pro zu strafendem Delinquenten stehe dem Schultheißen nach hergebrachtem Recht ein Fixum von einem Pfund Heller zu. Der Magistrat sei jedoch nur bereit gewesen insgesamt ein Pfund Heller zu entrichten, sodass mann doch ihme, dem Schultheißen, dar 1 u. zů bezahlen gewaigert.63 Die städtische Delegation sah den Schultheißen in zweifacher Hinsicht im Unrecht. Zum einen habe man bißher nie im brauch gehabt, einem Schultheißen die Bestellung des Nachrichters anderst aufzulegen, dann so einer blůtstraff vonnöthen, und der Übelthäter entweder am Leib oder den Gliedern zů straffen gewest. Im vorliegenden Fall sei jedoch von den beiden Verurteilten die ein Persohn allein mit Ruthen gezüchtiget und die ander an Pranger gestellt worden. Aus Sicht der Städter ganz wider Recht habe sich der Schultheiß dennoch angemaßt, zu verlangen, daß nun die Ein Persohn durch den Nachrichter mit Ruthen gezüchtiget werden sollte,

61 In den Reichstagsakten als „Niclaus Silberrat“ bei den Vorbereitungen des Speyrer Reichstags von 1526 erwähnt, vgl. Rosemarie Aulinger (Hrsg.), Deutsche Reichstagakten unter Karl V.: Der Reichstag zu Augsburg 1525, der Reichstag zu Speyer 1526, Der Fürstentag zu Esslingen 1526. München 2011, S. 328. 62 Melchior Scherer verfertigte bis 1562 eine Sammlung von Akten, ist daher für die Geschichtsschreibung von Bedeutung, vgl. etwa: Julius Weizsäcker (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 1: Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel, Abt. 1: 1376–1387. München 1867, Einl. p. XLV–XLVII. 63 Protokoll vom 19. November 1548, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 712, Bl. 9r.–11r., hier Bl. 9v.

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während die ander in den Pranger gleichwohl durch unsern Stecker wie von alter herkommen hett gestellt werden sollen. Der Rat habe sich entschlossen, diesem Verlangen des Schultheißen für diesmal nachzukommen, obgleich die Züchtigungsstrafe der Steckher allhie eben so wohl ha[e]tte verrichten mögen. Zum anderen sei die Klage vor dem Bischof auch deshalb gänzlich unberechtigt, weil die an den Schultheißen zu zahlende Gebühr keineswegs zu dessen Vorteil bestimmt sei, sondern nur dann fällig werde, wenn diesem durch die Bestellung des Nachrichters tatsächliche Unkosten entstünden.64 Möglicherweise war es 1548 tatsächlich noch streitig, ob der Stadt oder dem Bischof das Recht zur Vollstreckung von Züchtigungsstrafen mit der Rute zukam. Im zweiten Punkt war das Recht aber auf jeden Fall auf Seiten der Stadt: Da der bischöfliche Nachrichter nur bei einer der beiden Strafvollstreckungen aktiv wurde, konnte der Schultheiß auch nur einfache Bezahlung, also nur ein Pfund Heller, verlangen. Obgleich der Bischof in dieser Rechtssache in keiner neutralen Position stand, dürfte ihm dies kaum entgangen sein. Leider ist unbekannt, mit welchem Ergebnis der Rechtsstreit endete. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Speyerer überhaupt einem solchen Verfahren vor dem Bischof unterwarfen. Auch der Umstand, dass sich der bischöfliche Schultheiß derart in die Vollstreckungspraxis des Magistrats einzumischen wagte, belegt die damals vergleichsweise geschwächte Position der Reichsstädter.

4.6 Haftentlassung und Strafe „privatim“ 1579 Wie in der Vergangenheit folgten auch nun wieder etliche Jahre, in welchen die Strafvollstreckungen, ohne einen offenen Konflikt auszulösen, durch den vom Schultheißen herbeigerufenen bischöflichen Henker durchgeführt wurden. Erst als im Jahre 1579 der bischöfliche Nachrichter wieder einmal nicht rechtzeitig zur Stelle war, um einen jugendlichen Dieb zu bestrafen, umging der Speyerer Magistrat alle gegenüber dem Bischof eingegangenen Zusagen, indem er den verurteilten Delinquenten aus der Haft entließ – allerdings nicht ohne dafür zu sorgen, dass ihn der Stocker „privatim“ züchtigte und aus der Stadt auswies.65 Erneut ging es also um eine bloße Züchtigungsstrafe, die ohne Probleme durch den Stocker ausgeführt werden konnte, weshalb die Speyerer Ratsherren nicht einsahen, warum sie sich vom rechtzeitigen Erscheinen des bischöflichen

64 Protokoll vom 19. November 1548, a. a. O., Bl. 9v. f. 65 Vgl. Harster: Strafrecht Speier (wie Anm. 7), S. 80, mit Verweis auf das VierrichteramtsProtokoll über Frevel und Urfehden, Stadtarchiv Speyer, Sign. 001 A Nr. 705.

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Nachrichters abhängig machen sollten. Laut Harster führte der hierdurch ausgelöste Streit zu einer Einigung zwischen Bischof und Stadt, dass alle Ehrenstrafen, namentlich Halseisen und Brandmarkung, dem Stocker zustehen sollten, während Leibesstrafen – einschließlich der Züchtigung – Sache des bischöflichen Nachrichters sein sollten.66 Wie gesehen, reihte sich dieser Vertrag allerdings in eine große Reihe anderer vergleichbarer Einigungen. Und er sollte auch nicht der letzte bleiben. Da sich die Fälle zum Teil recht ähneln, sei nur noch ein letztes Beispiel aus dem frühen 18. Jahrhundert erwähnt; die Problemlage rund um das Scharfrichteramt hatte sich nun etwas verschoben.

4.7 Die Residenzfrage und der Nachrichter Die seit Mitte des 17. Jahrhunderts virulente Frage, ob es die Reichsstadt Speyer hinnehmen müsse, wenn die Fürstbischöfe die Stadt als ihre Residenz wählten, spitzte sich nach der Wahl Bischof Heinrichs Hartard von Rollingen im Jahre 1711 noch einmal zu. Der Amtsvorgänger Johann VIII. Hugo von Orsbeck war zugleich Erzbischof und Kurfürst von Trier gewesen, weshalb er sich fast nie in Speyer aufgehalten hatte; Heinrich aber hatte stets in Speyer gelebt und wollte die Stadt nicht verlassen, zumal das Umland durch den Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688– 1697) schwer verwüstet war. Die durch den Krieg ebenfalls zerstörte Reichsstadt war derweil um ihre Eigenständigkeit besorgt. Der Magistrat war daher alles andere als kompromissbereit. Dominus territorii sei alleine die Stadt, der Bischof, so er in Speyer weile, sei nichts anderes als ein Fürst oder Stand des Reichs, der in eines andern Territorio sich befindet oder commoriret.67 Nachdem die meisten anderen Ämter längst vollends an die Stadt übergegangen waren, blieb das Privileg des Bischofs, zu jeder Strafvollstreckung den Scharfrichter zu stellen, ein starkes Argument für die bischöfliche Position: Es war nicht von der Hand zu weisen, dass ein Fürst, der das Recht zur Strafvollstreckung innehat, mehr als nur ein Gast im fremden Territorium war. Am 18. Mai 1715 beauftragte die Stadt Speyer den Tübinger Rechtslizentiaten und Hofgerichtsadvokaten Ludwig Heinrich Reuss68 mit einem Gutachten zu dieser Frage, die dieser ganz im Sinne seiner Auftraggeberin entschied.69

66 Harster: Strafrecht Speier (wie Anm. 7), S. 80. 67 Vgl. die Zitate bei: Reuss: Gutachten (wie Anm. 18), S. 215–233. 68 Zu diesem: Johann Jacob Moser: Genealogische Nachrichten. 2. Aufl. Tübingen 1756, S. 276 f.; vgl. Ludwig Heinrich Reuss: De iure sacrorum. Gießen 1698. 69 Vgl. Reuss: Gutachten (wie Anm. 18), S. 215–233.  

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Der Konflikt mit dem Bischof eskalierte inzwischen weiter. Im März 1716 kam es sogar zu kriegerischen Auseinandersetzungen, als angeblich mehr als 1200 Mann auf der Stadt Speyer Territorium armata manu eingefallen. Wenig später wird von Schießereien innerhalb der Stadt berichtet – und einem Todesfall.70 Am 7. April 1716 sah sich schließlich Kaiser Karl VI. dazu gezwungen, zur Untersuchung und Schlichtung eine „Kayserl[iche] Commission“ mit dem Kurfürsten von der Pfalz und dem Landgrafen von Hessen an der Spitze einzusetzen.71 Die beiden Fürsten wiederum befassten eine kaiserliche „Subdelegations Commission“ mit der Affäre.72 Beide Streitparteien ließen nun erneut juristische Gutachten anfertigen und fachten durch mehrere Publikationen eine reichsweite Diskussion an, in welcher sie den Zwist zur Religionsfrage hochstilisierten. Allein Christian Leonhard Leuchts berühmte „Europäische Staats-Cantzley“ und die kaum weniger bekannten „Electa juris publici“ widmeten der Kontroverse mehrere hundert Seiten. Dabei ging es immer wieder auch um den Scharfrichter. So machte am 5. August 1717 der Hochfürstlich-Speyerische Präsident im Namen der bischöflichen Regierung in einer Requisition an die kaiserliche Kommission geltend, dass dem Bischof alleinig der Angriff und Bestraffung in Malefitz-Sachen gebühre, die Speyerer Ratsherren aber ihre Subjection genugsam und über die Nothdurfft an Tag legen, indem diese nämlich auch über die Ihrige selbsten in Criminal- Leib und Leben betreffende Straffen keine Urtheil durch eigenen Nachrichter vollziehen lassen dürften, vielmehr die Vollstreckung jeweils von dem hohen Stifft erbitten müssten. Vor diesem Hintergrund sei es geradezu unvorstellbar, wenn sich der städtische Rat herausnehmen wolle, über den in der Stadt weilenden Bischof und sein Personal zu urteilen oder andere hoheitliche Befugnisse über den Bischof zu beanspruchen.73

70 Vgl. die Einleitung zu: August Hoffmann: Gutachten vom 17. Mai 1718 „An & quatenus […] Episcopo in libera Imperii civitate, in qua Episcopatum habet, jus residentiae in Palatiis competat?“, abgedruckt in: ders.: In Illustrium, Non minus quam Privatorum Causis Arduis Ad eorundem Consultationes, Bd. 3, hrsg. von Heinrich Dornheck. Frankfurt (Main) 1733, S. 1–49, insb. S. 8 f. 71 Kaiserliches Schreiben, Anlage Nr. 67, in: Continuatio I. Speciei Facti Oder Fernere Wahrhaffte Erzehlung Was vor enorme Thätlichkeiten man Hoch-Fürstlicher Speyerischer Seiten gegen die Stadt Speyer von dem ersten Junii an bis auf den 7ten Julii vorgenommen, und wie endlich dieselbe durch die Kayserl. subdelegirte Herren Commissarios wieder in vorigen Stand gesetzet worden, mit Beylagen à Num. 63 usque 82. 1716, S. 15. 72 Der Pfälzische Vizekanzler Freiherr von Wieser, Herr von Metzger, Hess. Regierungsrat Ernst Freiherr von Schwarzern und Regierungsrat Justus Eberhard Passer trafen am 3. Juli in Speyer ein, vgl. Continuatio I. Speciei Facti (wie Anm. 71), S. 8. 73 Schreiben abgedruckt in: Christian Leonhard Leucht (Hrsg.), Die Europäische Staats-Cantzley 30 (1718), S. 253–259, zit. ab S. 254. Dem Speyerer Streit sind die Seiten 82–345 gewidmet.  

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Die Defensional-Notamina des Speyerer Magistrats folgten stehenden Fußes. Besonders empfindlich reagierten die Ratsherren auf die fürstbischöfliche Darstellung, sie müssten um die Stellung des Scharfrichters bitten: Falsch aber ist es, daß der Rath zu Speyer […] verbunden seyn solle, das Hoch-Stifft Speyer um Stellung des Scharffrichters bittlich oder supplicando anzulangen. Man lege dergleichen Bitt-Schreiben, so man eines hat, öffentlich auff; hat man aber keines, so schreibe man nichts, als was man beweisen kan.

In Wirklichkeit werde die Herbeischaffung des Scharfrichters nämlich dem Schultheissen […] imperativè […] durch die beide regierende Burgermeister anbefohlen. Erscheine der bischöfliche Henker nicht, bediene sich die Stadt ihres eigenen Stockmeisters, der mit andern Scharffrichtern gleiches Geschlechts und Wesens ist.74 Sicherheitshalber ließen die Ratsherren zum gesamten Fragenkomplex ein Gutachten des Frankfurter Juristen August Hoffmann verfassen, der es am 17. Mai 1718 ablehnte, eine bischöfliche Superiorität allein aus dem Umstand abzuleiten, dass der Rat bei den von ihm verurteilten Ubelthäter[n] […] vermittelst des Herrn Bischoffs Nachrichter die Execution nothwendig thun lassen müsse.75 Denn dem Bischof stehe in diesen Fällen keinerlei cognition zu, vielmehr sei es so, dass ihm allein seinen Scharffrichter zur execution herzugeben incumbiert.76

5 Wieviel darf eine Strafvollstreckung kosten? Bis Kardinal Bischof Damian Hugo von Schönborn im Jahre 1720 die – eingangs zitierte – aus seiner Sicht überhöhte Rechnung des Bruchsaler Scharfrichters Melchior Karpff in Händen hielt, scheint es keinen der Speyerer Oberhirten interessiert zu haben, dass das Bistum für sämtliche Hinrichtungen und sonstigen

74 Defensional-Notamina Uber drey von der Hoch-Fürstlichen Speyrischen Regierung wegen Burgermeister und Rath des Heiligen Reichs freyen Stadt Speyer per Notarium auff einmahl den 9. Augusti 1717 […] übergebene Requisitiones, in: Continuatio III. Speciei Facti Oder Noch fernere Wahrhaffte Erzehlung Wasgestalten man Bischöfflich-Speyerischer Seiten gegen des Heyl. Röm. Reichs Freyen Stadt Speyer annoch mit Gewalt-Thaten continuire, und was wider dieselbe [. . .] ausgeübet worden, mit Beylagen à Num. 86. usque 236. 1719, Anl. Nr. 110, Bogen i Ir. Abgedruckt auch in: Electa juris publici oder die Vornehmsten Staats-Affaires von Europa, Bd. 11 (1717), S. 889–891. 75 Hoffmann: Gutachten (wie Anm. 70), hier S. 14 f., Rn. 20 f. 76 Hoffmann: Gutachten (wie Anm. 70), hier S. 40, Rn. 63.  



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peinlichen Strafvollstreckungen der Reichsstadt aufkommen musste und nur der Schultheiß eine vergleichsweise geringfügige Gebühr kassierte. Immerhin hat sich in den Unterlagen der Bruchsaler Rentkämmerei eine vielleicht aus dem späten 17. Jahrhundert stammende Kostenrechnung erhalten, in welcher die Ausgaben des Speyerer Schultheißen so fur einenn nachrichter geben muß, zu vollstreckung der vrthel exakt aufgelistet sind. Danach gebührten drei Batzen einem botten, den nachrichter zu holen zu Bruchsall und ihnen her gen Speyer zu geleiten. Zwei Albi waren für Wein und Brot als Wegzehrung für den Scharfrichter zu zahlen. Zwei weitere Albi standen ihm für Strick und Handschuhe zu, zehn Batzen für zwey Mall. Hauptposten war die eigentliche Hinrichtung, hierfür bekam der Scharfrichter: 1 gulden zu lone oder besoldung, und so ein Persohne gefiertelt, mit dem radt oder brand gericht wirdt, so gibt man dem nachrichter dopelln lone oder besoldung. Auch für den Rückweg musste natürlich bezahlt werden, dem Scharfrichter zwei Albi für Brot und Wein für den abzug, sowie drei Batzen für den Boten, der ihn heimgeleitete.77 Dies alles war von der bischöflichen Kasse zu begleichen. Von der Stadt Speyer hingegen bekomme Er mehrer nicht als ein Maas wein und für 2. Xr. [=Kreuzer] brodt,78 gab der Bruchsaler Scharfrichter Jacob Bürckert einmal zu Protokoll. Schönborn wollte sich mit derart hohen Kosten nicht abfinden. Zur Klärung, ob die von Melchior Karpff für die Hinrichtung im August 1720 geltend gemachten (noch deutlich erheblicheren) zwölf Gulden angemessen seien, ließ er Anfragen an benachbarte Territorien senden, um zu erfahren, welche Tarife dort bezahlt würden. Erst wenn alle Fakten auf dem Tisch lägen, werde er entscheiden, waß billig und recht ist.79 Tatsächlich bemühte sich Karpff noch Jahre später vergeblich um die Bezahlung der seit 1720 von ihm durchgeführten Strafvollstreckungen.80 1727 wurde er stattdessen seines Dienstes enthoben und musste das Land verlassen, weil er beim abergläubisch[en] Christophelsgebett ertappt worden war, also einer Beschwörung des Heiligen Christophorus zum Zwecke des Herbeizauberns verborgener Schätze.81 Wegen dieses crimen sortilegii (Verbrechen des Schadenzaubers)

77 GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 78 Protokoll vom 16. März 1743, in: GLA Karlsruhe, Akten der Bruchsaler Kellerei, 133/907. Ungenau zitiert bei Böer: Scharfrichter von Bruchsal (wie Anm. 19), S. 1 f. 79 Bischöfliches Schreiben vom 23. Dezember 1720, in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/ 907. 80 Etwa: Schreiben vom Februar 1723, in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907. 81 Vgl. etwa: A. Jacoby: Art. „Christophorusbuch, -gebet“, in: Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 2. Berlin 1930, Sp. 72–75; Johann Andreas Tafinger: Dissertatio de invocatione S. Christophori ad largiendos. Tübingen 1748.  

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gebe es auch keinen Anlass mehr, ihn zu entlohnen.82 Noch rund zwei Jahrzehnte kämpften Karpff und seine Frau um eine Entschädigung für nicht bezahlte Dienste und den Verlust der im Erbbestand erworbenen Scharfrichterei. Vergeblich. Am grundsätzlichen Verfahren der Bestellung und Bezahlung der in der Stadt Speyer tätigen Scharfrichter durch das Hochstift änderte sich indes bis zum Ende der Reichsstadtzeit nichts.

6 Fazit Zweifellos stellt der hier dargestellte Scharfrichterstreit nur einen kleinen, wenngleich nicht unwichtigen Ausschnitt der fast permanent ausgetragenen Zwistigkeiten zwischen der Freien Reichsstadt Speyer und dem Bischof dar. Bisweilen wurden die Streitigkeiten militärisch ausgetragen, so etwa 1652 und 1716. Zumeist gelang aber eine – wenigstens zeitweilige – Konfliktbeilegung auf friedlichem Wege. Auch für die Speyerer war die Anrufung von Reichskammergericht oder Reichshofrat bei solchen Zerwürfnissen eine klare Option, wie die zahlreichen erhaltenen Reichskammergerichtsakten „Speyer versus Speyer“ belegen. Allein der Umstand, dass Bischof Philipp von Flersheim 1534 im Streit um sein von der Stadt missachtetes Nachrichterprivileg nur damit drohte, sich ans Reichskammergericht zu wenden, zeigt indes, dass das kostspielige und langwierige Verfahren eher als eine ultima ratio empfunden wurde. Daran änderte sich offenbar auch nichts, als das Reichskammergericht seinen Sitz in Speyer selbst hatte. Der Streit um die Scharfrichterbestellung illustriert zugleich eindrücklich, dass es neben der Anrufung der Reichsgerichte bis ins 18. Jahrhundert hinein noch ein breitgefächertes Spektrum weiterer Möglichkeiten zur Austragung derartiger Streitigkeiten zwischen reichsunmittelbaren Herrschaften gab: bilaterale Verhandlungen, Anrufung eines einzelnen machtvollen Fürsten als Schiedsrichter, Benennung mehrerer Vertrauensleute durch beide Streitparteien als Schiedsleute, Verhandlungen mit Kaiser, kaiserlichem Hofrat als Regierungsorgan oder anderen Repräsentanten des Reichs etwa auf einem Reichstag, Einsetzung einer kaiserlichen Schlichtungskommission sowie flankierende Auseinandersetzungen über Organe der Reichspublizistik. Eine dauerhafte Streitbeilegung gelang freilich auf keinem Wege ....

82 Vgl. Karpffs Schreiben vom 18. November 1727, bischöfliches Schreiben vom 19. Dezember 1727, in: GLA Karlsruhe, Rentkammerakten, 133/907.

Alexander Jendorff

Speyer als juridischer Zentralort des Reiches und sein Umfeld Akteure und Interessen, Handlungsfelder und Handlungsformen im Mittelrheingebiet im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung Das Reichskammergericht hatte seit 1526/27 seinen Sitz in Speyer und etablierte sich dort parallel zur konfessionellen Dichotomisierung des Reiches zusammen mit und neben dem Reichshofrat als das juridische Zentrum des Reiches.1 Es wurde damit nicht einfach nur in eine der traditionell königsnahen Regionen des Reiches – mithin sogar in eine traditionell zentrale – implantiert, sondern auch in ein komplexes regionalpolitisches Umfeld. Dieses lässt sich ebenso sehr als Abbild der reichskonstituierenden Statik verstehen, wie es gleichermaßen über eigene Komponenten verfügte. Um so lohnenswerter erscheint es, dieses regionalpolitische Umfeld unter der Leitfrage zu untersuchen, ob und wie es sich seit dem 15. Jahrhunderts unter den Bedingungen der konfessionellen Dichotomisierung wandelte und inwiefern die regionalpolitische Entwicklung mit der Arbeit des neu etablierten Reichskammergerichts korrelierte. Ein solches Ansinnen trifft allerdings auf geradezu dialektisch anmutende Hindernisse, die es anfangs zu problematisieren gilt.

1 Aufgaben, Problemstellungen und Methode Der bisherige Blick auf das Wirken des Speyerer Reichskammergerichts galt einer der höchsten Rechtsinstitutionen des Reiches und seiner juridischen Tätigkeit. Dabei fungierte das Gericht der Reichsstände auch als Ort ihrer jeweiligen Interessen und Selbstbehauptung in der Region gegenüber anderen Reichsständen. Dies allein böte hinreichenden Anlass, das regionalpolitische Umfeld des Reichskammergerichts zu beleuchten. Es bietet sich darüber hinaus an, weil der Sitz des Gerichts seinerseits Teil eines regionalpolitischen Kräftevielecks war. Dieses auf-

1 Dass das Reich mehr als nur ein „Justizstaat“ war, bleibt davon selbstverständlich unberührt; vgl. Heinz Angermeier: Die Reichsregimenter und ihre Staatsidee, in: Historische Zeitschrift (künftig: HZ) 211 (1970). S. 265–315.

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zuschlüsseln erscheint reizvoll, insofern sich die alteuropäische und auch die altreichische Regionalpolitik bis heute als ein immer noch viel zu wenig bzw. viel zu undifferenziert betrachtetes Forschungsfeld präsentiert, das gerne und doch nur unzureichend an die Reichskreisforschung delegiert wird. Eine solche Bemerkung mag irritieren, weil die Analyse der mittelrheinischen Regionalpolitik im Konfessionellen Zeitalter auf eine durchaus umfangreiche landesgeschichtliche Forschungsliteratur zurückgreifen kann, die den Gang in die Archive obsolet erscheinen lässt. Sie informiert den Interessierten über die „großen“ Ereignisse zwischen den Großen der Region und hält viele sozialgeschichtlich ausgerichtete Studien über die einzelnen Großen parat. Solche Sicherheiten erweisen sich bei kritischer Sichtweise allerdings nur als scheinbare. Denn einerseits werden die verschiedenen Blickwinkel – der sozial-, rechts-, dynastie- und der ereignisgeschichtliche – bisher wenig miteinander verbunden. Andererseits geht die landesgeschichtliche Forschung in ihren regionalpolitischen Analysen nicht selten weiterhin in erster Linie von herrschaftlichen, teilweise sogar (quasi- oder proto-)verstaateten Entitäten aus. Terminologisch drückt sich dies in der Verwendung eingängiger Begriffe wie Kurpfalz, Kurmainz oder Speyer aus, inhaltlich in der Darstellung von Feldzügen, Konferenzen, Vertragsabschlüssen, kurz: in den Staatsaktionen. Einer solchen Sichtweise2 liegt die Vorstellungswelt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – die geopolitisch gewendete Mächteidee der Moderne – zugrunde, die auf die regionale Politik übertragen wird. Sie verschleiert allerdings die dahinter liegenden Komplexitäten und verfälscht die historischen Bedingungen politischen Handelns im ausgehenden Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bei den Reichsständen des Mittelrheingebietes handelte es sich nicht nur um die fürstlich-dynastischen Territorialstaaten, sondern auch um geistliche Herrschaften, Reichsklöster, Grafen, Reichsstädte und Niederadelsgeschlechter, die um die Reichsstandschaft rangen oder eben nicht. Zudem handelte es sich bei den sich ausbildenden Herrschaftsentitäten nicht um personell, institutionell, territorial homogen konstruierte, anstaltsstaatlich bürokratisierte Staaten, sondern um in stetem Wandel befindliche Herrschaftsgebilde, die von einer Vielzahl von dynastisch-familiärer Interessen durchdrungen waren, die als Konglomerationen von variablen Personenverbänden nebst ebenso variablen Interessen verstanden werden müssen und zu Instabilitäten neigten.

2 Diese zugegebenermaßen undifferenzierte, weil verkürzte Analyse der landesgeschichtlichen Forschung sei an dieser Stelle aus Platzgründen gestattet. Sie soll ausdrücklich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüngere und gerade die jüngste Vergleichende Landesgeschichte sich des Problems ebenso bewusst ist, wie sie mit entsprechenden Forschungsarbeiten zahlreiche und valide Gegenangebote vorgelegt hat.

Speyer als juridischer Zentralort des Reiches und sein Umfeld

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Daraus resultierend soll das regionalpolitische Umfeld des Speyerer Reichsgerichts jenseits der rein verfassungsrechtlich bzw. verfassungspolitischen Strukturen und anhand eines akteursorientierten Zugriffs ausgeleuchtet werden. Dies meint einerseits, das regionalpolitische Umfeld weniger mit dem in den letzten Jahren primären Blick auf die Reichskreise zu untersuchen, sondern mit dem traditionell anmutenden, dafür epochenübergreifenden Blick auf die seit dem späten Mittelalter gewachsenen Beziehungen der verschiedenen im Mittelrheingebiet wirkenden Akteure zueinander, ihrer jeweiligen Vorstellungen und Zielsetzungen, die sich im entprechenden Interesse am und dem Zugang zum Reichskammergericht niederschlugen. Dies meint andererseits auch, nicht a priori von statischen Herrschaftsgrößen – oder gar noch: territorialisierten Staaten –, sondern von unterschiedlichen Akteuren bzw. Akteursformationen der Regionalpolitik auszugehen, die ein – durch die reformatorische Idee und die konfessionspolitische Entwicklung zusätzlich angereichertes – komplexes, teilweise nur schwer identifzierbares Handlungsnetzwerk kreierten. Auf diese Weise soll Speyer als juridischer Zentralort des Reiches begriffen werden, der sich im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in diesem Umfeld behaupten musste, gleichwohl aber auch auf dieses Umfeld nachhaltig einwirkte. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem sogenannten Mittelrheingebiet nicht um eine klar definierte Region, sondern einen eher amorphen, von den Akteuren konstruierten Raum handelte.

Exkurs: der Reichskreis – ein regionalpolitisches Instrument des Politikmanagements? Die Erforschung der Reichskreise hat in den letzten Jahrzehnten parallel zur Erforschung der Höchsten Reichsgerichtsbarkeit einen erfreulichen Aufschwung genommen und dabei bedeutende Erträge hinsichtlich der verschiedenen verfassungsmäßigen Politikebenen des Reichssystems erbracht. Gleichwohl erscheint der heuristische Mehrwert für die Beurteilung der Politik in den verschiedenen Regionen jedenfalls für das Konfessionelle Zeitalter begrenzt.3 Dies ist

3 Vgl. Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500–1806). Darmstadt 1989; Peter Claus Hartmann: Regionen in der Frühen Neuzeit – Modell für ein Europa der Regionen? – Einführung in die Thematik und Problematik des Kolloquiums, in: ders. (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Herrschaft: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung. Berlin 1994 (Zeitschrift für historische Forschung, künftig: ZHF, Beiheft 17), S. 9–20; Johannes Burkhardt/Wolfgang Wüst: Einleitung: Forschungen,

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bereits der Komposition der Reichskreise und ihrem Eigenleben geschuldet gewesen, was sich gerade auch an jener Region zeigen lässt, in der das Speyerer Reichskammergericht verortet war. Auf den ersten Blick wären hierfür der Oberrheinische und der Kurrheinische Reichskreis relevant, die die meisten Reichsstände der Region umfassten. Geht man konsequent von einem akteursorientierten Zugriff aus, wäre für eine entsprechende Analyse auch der Schwäbische Reichskreis zu berücksichtigen, an den sich nämlich die Kraichgauer Ritterschaft anlehnte, ohne in ihm aufzugehen. Die Problematik der Reichskreise erweist sich jedoch schon an der geographischen Dimensionierung des Oberrheinischen Kreises, dessen Mitglieder Stadt und Hochstift Speyer waren.4 Der Kreis mit seinen vier Bezirken (Mittelrhein, Hunsrück-Westrich, Hessen-Wetterau und Elsass) reichte vom Hohen Meißner im Norden bis zum Ligurischen Meer im Süden, durchbrochen von der Eidgenossenschaft und Burgund und sollte als Schutzriegel gegen den französischen Kon-

Fakten und Fragen zu süddeutschen Reichskreisen – Eine landes- und reichshistorische Perspektive, in: Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise. Stuttgart 2000 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte BayerischSchwabens, Bd. 7), S. 1–23. Kritisch zur Funktion der Reichskreise in der Regionalpolitik: Alexander Jendorff: Reichskreis- versus Regionalpolitik? Überlegungen zu Bedingungen und Möglichkeiten des regionalen Politikmanagements in der Mitte des Alten Reiches, in: Michael Müller/ Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn. Frankfurt am Main u. a. 2011, S. 251–282; Helmut Neuhaus: Das Reich in der Frühen Neuzeit. München 1997 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, künftig: EDG, Bd. 42), S. 91 f.: „Jedoch sind die höchst unterschiedlich gebildeten Reichskreise nicht eo ipso schon Regionen des Heiligen Römischen Reiches, wie sie 1993 auf einem Mainzer Kolloquium unter der Leitung P. C. Hartmanns diskutiert worden sind“. 4 Zum Folgenden, sofern nicht anders angegeben, vgl. Jendorff: Reichskreis- versus Regionalpolitik? (wie Anm. 3), S. 256–262. Zur Dimensionierung und Geschichte des Kreises vgl. Winfried Dotzauer: Der Oberrheinische Kreis, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Herrschaft: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung. Berlin 1994 (Zeitschrift für historische Forschung, künftig: ZHF, Beiheft 17), S. 97–125; ders.: Reichskreise (wie Anm. 3), S. 236–263; Traugott Malzan: Geschichte und Verfassung des Oberrheinischen Kreises von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Diss. masch. Mainz 1951/52; Konrad Ammann: Der Oberrheinische Kreis im Wandel, in: Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise. Stuttgart 2000 (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 7), S. 335–347; Hans Philippi: Der Oberrheinische Reichskreis, in: Kurt A. Jeserich/Hans Pohl/Georg Christoph v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches. Stuttgart 1983, S. 634–658.  



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kurrenten des Hauses Habsburg fungieren. Entsprechend vielfältig und wenig vereinbar waren die Interessen der überwiegend nördlich der Mainlinie situierten Kreismitglieder, zu denen Kurmainz und Kurtrier im Verlauf des 16. Jahrhunderts noch hinzustießen. Auf den ca. achtzig Kreistagen, die in dieser Zeit zumeist in Worms abgehalten wurden, erwies sich die Inaktivität des Gebildes, dessen Mitglieder sich zur Hälfte der Teilnahme enthielten und das infolgedessen ein protestantisches Gepräge erhielt. Dafür verantwortlich waren die Pfalzgrafen, die Landgrafen von Hessen und die Wetterauer Grafen. Die sich schnell entfaltende konfessionelle Spaltung des Kreises behinderte die Ausbildung eines institutionellen Zusammengehörigkeitsgefühls zusätzlich. Dies erwies sich eindrucksvoll während des Straßburger Kapitelstreits 1592, als der Kreis seine noch im Kölner Krieg 1577–1583 gewahrte Neutralität aufgab. Die Ausbildung konfessioneller Fronten zwischen den Kreismitgliedern war allerdings nicht gleichbedeutend mit der Einheit innerhalb der beiden Fraktionen, insofern es wenigstens im protestantischen Lager – nicht nur zwischen Lutheranern und Calvinisten, sondern insbesondere zwischen den beiden calvinischen Führungsmächten Hessen-Kassel und den Pfalzgrafen – seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zu massiven Friktionen kam. Für die regionalpolitischen Belange spielte der Kreis dementsprechend kaum eine Rolle. In ähnlicher Weise galt dies auch für den Kurrheinischen Kreis, der für die Region ebenfalls von Belang hätte sein können, weil mit der Kurpfalz und Kurmainz regionale Vormächte integriert waren.5 Seine Aktivitäten richteten sich primär und beinahe ausschließlich auf die Reichspolitik, obgleich einige kreisübergreifende, weil verschiedene Regionen vernetzende Projekte – wie bspw. die Gründung der Rheinischen Einung 1532 – auf den Weg gebracht wurden. Dennoch war das eigentliche Interesse der kurfürstlichen Kreismitglieder nicht auf die Regionalpolitik, sondern auf den Schutz ihrer kurfürstlichen Präeminenz in reichspolitischen Belangen gerichtet. Ihnen galt der Kreis mehr als ein substituierendes Instrument ihres Anspruchs auf Mitregierung neben dem Kaiser. Bis zu Jahrhundertmitte war zudem nur eine geringe Kreisaktivität zu beobachten,

5 Sofern nicht anders angegeben, vgl. Dotzauer: Reichskreise (wie Anm. 3), S. 80–105, 236–263; ders.: Der Kurrheinische Reichskreis in der Verfassung des Alten Reiches, in: Nassauische Annalen (künftig: NA) 98 (1987), S. 61–104; Jendorff: Reichskreis- versus Regionalpolitik? (wie Anm. 3), S. 256–258; Axel Gotthard: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. Husum 1999 (Historische Studien, Bd. 457); ders.: „Als furnembsten Gliedern des Heiligen Reichs“. Überlegungen zur Rolle der rheinischen Kurfürstengruppe in der Reichspolitik des 16. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter (künftig: RhVjbll) 59 (1995), S. 31–78; Helmut Neuhaus: Die rheinischen Kurfürsten, der Kurrheinische Kreis und das Reich im 16. Jahrhundert, in: RhVjbll 48 (1984), S. 138–160.

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wichen die Großen auf das Forum des Kurfürstentages aus. Intern stand die Kurpfalz einer katholischen Mehrheit gegenüber, die sich ihren Interventionswünschen – gerade während des Kölner Krieges – verschloss. Die konfessionelle Polarisierung führte schließlich seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zur Lähmung und Inaktivität, wobei die drei geistlichen Kurfürsten fortan enger miteinander zusammenarbeiteten. Es bleibt demnach festzuhalten, dass die beiden Reichskreise das politischrechtliche Leben jenes Umfeldes, in dem das Speyerer Reichskammergericht situiert war, nicht entscheidend prägten und auch nicht zum politischen Miteinander beitrugen. Vielmehr war das politische Gegeneinander der politischen Bühne jener beiden Reichskreise der beste Beleg für die sich ver- und aushärtenden konfessionellen Fronten in der Region. Im Gegensatz zu diesen reichspolitischen Institutionen blieben die Akteure der regionalpolitischen Szenerie jedoch allen Konflikten zum Trotz beweglich sowie kooperations- und konfliktlösungsfähig.

2 Das Mittelrheingebiet als politischer Handlungs- und Verflechtungsraum 2.1 Die regionalen Großen, oder: von der Suche nach Stabilität, von der Labilität der Dominanz und von der Permanenz der gegenseitigen Abhängigkeit 2.1.1 Das Kurerzstift Mainz als Ganerbenburg der mittelrheinischwetterauischen (Reichs-) Ritter Für das Erzstift Mainz stellte das 15. Jahrhundert einen tiefgreifenden regionalpolitischen und innerstiftischen Wendepunkt dar, dessen Effekte bis in die Frühe Neuzeit hineinwirkten.6 Von gravierender Bedeutung war hierbei sowohl der

6 Zur Situation am Mittelrhein allgemein vgl. Eduard Ziehen: Mittelrhein und Reich im Zeitalter der Reichsreform 1356–1505, 2 Bde. Frankfurt am Main 1934/37; Winfried Wilhelmy (Hrsg.), Schrei nach Gerechtigkeit, Leben am Mittelrhein am Vorabend der Reformation. Regensburg 2015 (Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz, Bd. 6), hier besonders S. 28–89. Zum Erzstift Mainz speziell: Günther Christ/Georg May: Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen. Würzburg 1997 (Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 2) (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, künftig: BMZKG, Bd. 6); Paul-Joachim Heinig: Die Mainzer Kirche am Ende des Hochmittelalters (1249–1305), in: Friedhelm Jürgensmeier

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endgültige Verlust der dominanten Stellung im hessischen Raum und am Mittelrhein als auch der soziale Wandel innerhalb der dominanten Herrschaftselite des Erzstifts. Konkret meinte dies einerseits mehrere schwerwiegende militärische Niederlagen gegen die hessischen Landgrafen, daraus folgend schlechte Verträge mit ihnen und anderen Konkurrenten sowie insbesondere die Effekte der zweiten Stiftsfehde von 1459–1463, andererseits das Ende der Eppsteiner, Nassauer und Isenburger Dominanz und deren Ablösung durch die später reichsritterschaftlich genannten Niederadelsfamilien des Mittelrheins und der Wetterau. Regionalpolitischer Niedergang und Elitenwandel korrelierten miteinander, ohne direkt aneinander gekoppelt gewesen zu sein. Der regionalpolitische Bedeutungsverlust wurde durch die unmittelbare Anbindung der Mainzer Kurfürsten an den Reichsreformprozess wenigstens teilweise kompensiert.7 Sie agierten fortan als Protektoren und Garanten der sich ausbildenden Reichsverfassung und einer Politik des „Wegs Rechtens“, also des rechtlich-kommunikativen Austrags von Konflikten, wie sie immer wieder schriftlich niederlegten. Ihre Grenzen fanden solche Bemühungen allerdings in der reichspolitischen Realität, bspw. im doppelten Scheitern des Reichsregiments, in der Überlastung des Reichskammergerichts oder im schleppenden Aufbau und Wirken der Reichskreise. Dennoch und trotz dynastischer Krisen der beiden unmittelbar stärksten Konkurrenten – der Heidelberger Wittelsbacher im Südwesten und der Landgräflichen im Norden – zu Beginn des 16. Jahrhunderts blieb das Kurerzstift von beiden und insbesondere von der Landgrafschaft Hessen abhängig. Es wurde regelrecht zum Objekt landgräflich-hessischer Politik, wie die Sickingen-Fehde 1522/23, der Bauernkrieg 1525 und die Packschen Händel 1527

(Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1: Christliche Antike und Mittelalter. Würzburg 2000 (BMZKG, Bd. 6), S. 347–415; ders.: Die Mainzer Kirche im Spätmittelalter (1305– 1484), in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 1: Christliche Antike und Mittelalter. Würzburg 2000 (BMZKG, Bd. 6), S. 416–554. 7 Vgl. Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490. Frankfurt/M. 1989, S. 411–421; ders.: Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“, in: Walter Heinemeyer, Vom Reichsfürstenstande. Köln/Ulm 1987, S. 117–136. Zugl. in: Blätter für deutsche Landesgeschichte (künftig: BlldtLG) 22 (1986), S. 117–136; Ernst Schubert: König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte. Göttingen 1979 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 63), S. 297–249; Heinz Angermeier: König und Staat im deutschen Mittelalter, in: BlldtLG 11 (1981), S. 167–182; ders.: Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984, S. 22–30, S. 174; Karl-Friedrich Krieger: König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter. München 1992 (EDG, Bd. 14), S. 52 f., 114–118; Alfred Kohler: „Kaiseridee“ und „Reichsreform“, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962–1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays. Dresden 2006, S. 33–41 (hier S. 37–40).  

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bewiesen, in deren Gefolge die beiden Konkurrenten dem Mainzer Kurerzbischof, dem Domkapitel und den ritterbürtigen Stiftseliten die Grenzen und ihre Abhängigkeiten aufzeigten.8 Auch wenn in den folgenden Jahren das kurmainzische Verhältnis zur Landgrafschaft und zu Heidelberg keineswegs dauerhaft vergiftet war – schließlich nahmen Albrecht von Brandenburg (reg. 1514–1545) wie auch Sebastian von Heusenstamm (reg. 1545–1555) religionspolitisch eine vermittelnde Haltung ein –, schufen doch erst der Schmalkaldische Krieg 1547 und dessen Effekte sowie der Tod des Landgrafen Philipp und die Vierteilung der Landgrafschaft 1567 eine regionalpolitische Entlastung. Mit beiden Vorgängen war das Ende der landgräflich-hessischen Expansionsphase verbunden. Die Kurmainzer Position stabilisierte sich, ohne neu zu erstarken, weil die seitdem geteilte Hegemonialmacht relativiert war und sich ausdifferenzierte. Dabei kam der Mainzer Position gewissermaßen die konfessionelle Differenzierung zu Hilfe. Auf der Basis der gegenseitigen Akzeptanz und Abgrenzung in Kooperation – die verschiedenen Begrenzungs- und Arrondierungsverträge der zweiten Jahrhunderthälfte standen dafür exemplarisch – entwickelten sich gutnachbarliche Beziehungen unterschiedlicher Ausprägung: zu Hessen-Kassel bis zur Regierungsübernahme des Landgrafen Moritz (reg. 1593–1627) ein gedeihliches, wenn auch manchmal angestrengtes Verhältnis, bei dem das gegenseitige Misstrauen erst seit dem Ende des 16. Jahrhunderts und gewiss nach der Calvinisierung der Landgrafschaft 1605 wuchs;9 zu Hessen-Darmstadt ein stets freundliches, wenn auch in Südhessen gewiss nicht konfliktfreies und dennoch seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zunehmend einvernehmliches Verhältnis, das auf der reichspolitischen Interessenkongruenz zwischen den reformkatholischen und den lutherisch-orthodoxen Regierungen beruhte und mit dem Kurfürstentum Sachsen einen gemeinsamen starken, gleichgesinnten Partner besaß.10

8 Nach der Sickingen-Fehde musste das Kurerzstift Strafe zahlen, weil die Haltung Albrechts von Brandenburg und seines Domkapitels nicht eindeutig gewesen waren; die Niederschlagung des Bauernkrieges wäre ohne den Landgrafen Philipp nicht möglich gewesen. Am Ende der Packschen Händel erpresste der Landgraf die endgültige Abtretung der Mainzer Diözesanrechte; vgl. Alexander Jendorff: Reformatio Catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630. Münster 2000 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 142), S. 44–47. 9 Vgl. Jendorff: Reformatio (wie Anm. 8), S. 484–493. 10 Vgl. Jendorff: Reformatio (wie Anm. 8), S. 493–496.

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2.1.2 Die hessischen Landgrafschafen zwischen regionalpolitischem Aufstieg und dynastischen Zerwürfnissen Spiegelbildlich zur Kurmainzer Entwicklung und mit dieser eng verbunden, stellte sich die dynastisch-regionalpolitische Entwicklung der hessischen Landgrafschaften dar. Der Plural erscheint an dieser Stelle für das Verständnis des regionalpolitischen Wandels nicht unwichtig. Es wäre nämlich irreführend von einem monolithischen Block und einem monolinearen Erfolgsprozess auszugehen.11 Der Aufstieg der Landgrafen war neben den offensichtlichen Erfolgen von tiefgreifenden innerdynastischen Zerwürfnissen, Konkurrenzen und Feindschaften, Herrschaftsteilungen und dynastischen Krisen gekennzeichnet.12 Die Landgrafen stellten im 15. Jahrhundert gleichwohl gegenüber den anderen Konkurrenten einen dynamischen und die regionalpolitische Szenerie dynamisierenden Faktor dar, der sich immer weiter nach Süden an den Mittelrhein vorschob. Dies schlug sich in den Regierungen der Landgrafen Ludwig II. (reg. 1458–1471) und Wilhelm II. (reg. 1493–1509) von Niederhessen sowie Heinrich III. (reg. 1458–1483), Ludwig III. (als Mitregent seines Vaters 1474–1478) und Wilhelm III. (reg. 1483–1500) von Oberhessen nieder: im Gewinn der Grafschaft Ziegenhain 1450/95 als Brücke zwischen den beiden Landesteilen, im Erbe der Katzenelnbogener Grafschaft 1479 und deren Behauptung gegenüber der gräflich-nassauischen Anfechtung bis 1543, in der Installierung des Landgrafen-Bruders Hermann als Kölner Kurfürst 1471/73 sowie in der Nutznießerschaft während der Mainzer Stiftsfehde 1459 bis 1463.13 Der letzte Vorgang deutete die nachfolgenden Gewichtsverlagerungen am

11 Dies im Unterschied zu den Darstellungen früherer Historikergenerationen, die noch bis heute Gültigkeit zu besitzen scheinen; vgl. Alexander Jendorff: Der Saurier und die Weltevolution. Historiographische Beobachtungen zum angeblich schwierigen Verhältnis zwischen Globalgeschichte und Landesgeschichte, in: ders./Andrea Pühringer (Hrsg.), Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder. Neustadt an der Aisch 2014, S. 53–71 (hier S. 60–70). 12 Dies erwies sich nicht zuletzt im Landshuter Krieg: Zwar waren die Kurpfalz und die Landgrafschaft noch 1492 verwandtschaftlich verbunden gewesen – Elisabeth von der Pfalz hatte Landgraf Wilhelm III. geheiratet –, doch brachte der Tod des Oberhessen dessen antipfälzischprohabsburgisch orientierten Bruder Wilhelm II. von Niederhessen an die Samtregierung. Diese zufällige Entwicklung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits das Katzenelnbogener Erbe der Landgrafen indirekt eine kurpfälzische Niederlage bedeutet hatte, insofern Pfalzgraf Philipp eine Heirat mit der Grafenenkelin Ottilie 1467 verweigert hatte, obwohl bereits die Ämter der Obergrafschaft mit einer kurpfälzischen Erbbelehnung ausgestattet worden waren; vgl. Meinrad Schaab: Geschichte der Kurpfalz, 2 Bde. Stuttgart/Berlin/Köln 1988–1992, Bd. 1, S. 189, 211–219. 13 Vgl. Karl E. Demandt: Die letzten Katzenelnbogener Grafen und der Kampf um ihr Erbe, in: NA 66 (1955), S. 93–192; ders.: Die Grafschaft Katzenelnbogen und ihre Bedeutung für die Land-

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Mittelrhein eindrücklich an: Auf verschiedenen Seiten stehend, profitierten die Landgrafenbrüder gleichermaßen, insofern beide die ihnen von den Mainzer Thronkonkurrenten verschriebenen Pfande behielten und am Ende neben der Kurpfalz als Schiedsrichter und Garantiemächte auftraten. Angereichert wurde diese regionalpolitische Dynamik innerterritorial durch die erfolgreiche Überwindung der zwischen 1508 und 1518/9 schwelenden dynastischen Krise, in der die Landgräfin Anna sich in Vormundschaft ihres Sohnes Philipp gegenüber den Ständen und insbesondere gegenüber einflussreichen Fraktionen des Lehensadels hatte behaupten können. Mit dem Beginn seiner selbstständigen Regierung hatte Landgraf Philipp (reg. 1509/18–1567) sich von der Bedrängnis durch den Niederadel befreien können. Die erfolgreiche Niederschlagung der Sickingen-Fehde 1523 – ein auch symbolischer Akt, weil mit dem Untergang seines Intimfeindes verbunden – und die Einführung der Reformation in der Landgrafschaft 1526/27 im Konsens mit dem Niederadel stellten hierfür herausragende Marksteine dar.14 Seitdem lösten sich Beziehungen zwischen landgräflichem und mittelrheinisch-reichsritterschaftlichem Niederadel. Während die erste Gruppe eindeutig landsässig-subordiniert war und sich ins landgräfliche Herrschaftssystem integrierte, wenn auch sich nicht weniger fürstenkritisch verhielt, organisierte sich letztere korporativ in Anbindung an Kaiser und Mainzer Kurfürst und musste dafür manche Drangsalierung durch den Landgrafen hinnehmen. Daran änderte auch die gemeinsame Religion nichts. Der Höhepunkt des landgräflichen Aufstiegs manifestierte sich zweifellos in der Übernahme einer Führungsrolle im Protestantismus neben dem sächsischen Kurfürsten; und er fand darin zugleich sein Ende. Mit der Gefangennahme des Landgrafen im Gefolge des Schmalkaldischen Krieges 1547/48 war die Dynamik des Landgrafenhauses gebrochen. Der Tod Philipps und die Vierteilung seiner Herrschaft 1567 zementierte dies lediglich. Andererseits änderten sich die Kräfteverhältnisse nicht grundlegend, insofern die Kurpfalz und Kurmainz von diesen Vorgängen nicht

grafschaft Hessen, in: RhVjbll 29 (1964), S. 73–105; Klaus Eiler: Politischer Umbruch an der unteren Lahn in den Grafschaften Katzenelnbogen und Diez im 16. Jahrhundert, in: NA 100 (1989), S. 97–114; Georg Schmidt: Landgraf Philipp der Großmütige und das Katzenelnbogener Erbe, in: Archiv für hessische Geschichte und neue Altertumskunde (künftig: AHG). Neue Folge (künftig: NF) 41 (1983), S. 9–54; ders.: Die Lösung des Katzenelnbogener Erbfolgestreits – Ausdruck der Wiederherstellung traditioneller Verfassungsverhältnisse im Reich, in: AHG NF 42 (1984), S. 9–72. 14 Vgl. Alexander Jendorff: Niederadel und Reformation in Hessen: eine Konflikt- oder eine Konsensgeschichte?, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, H. 64 (2013), S. 17–65.

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unmittelbar profitieren konnten. Die Kräfteverhältnisse wurden lediglich neu austariert. An die Stelle eines starken Hegemons im Hessischen rückte – ähnlich dem wittelsbachischen Verband – ein dynastisches Vierergespann, das sich alsbald auf drei, schließlich 1604 auf zwei größere Häuser konzentrierte. Damit einhergehend löste sich der bis dahin leidlich funktionierende dynastische Verbund seit dem Beginn des Streits um das Marburger Erbe Ludwigs IV. 1604/05 auf. Im Gefolge dieser innerdynastischen Auseinandersetzung, die das Haus Hessen bis zum sogenannten Hessenkrieg (1645–1647) führte, suchten die Rivalen das Reichskammergericht, aber insbesondere den Reichshofrat als juristische Entscheidungsinstanzen und Bühnen des Konfliktaustrags.15 Eine weitere Konsequenz des derart eskalierten Konflikts war die konfessionelle Aufladung der Auseinandersetzung seit den Kasseler Calvinisierungstendenzen. Infolge suchten die beiden streitenden Bruderhäuser die Nähe zu den miteinander rivalisierenden Leitmächten der Region: Hessen-Darmstadt unter Ludwig V. (reg. 1596–1626) zu den katholischen Erz- und Hochstiften des Mittelrheins, Moritz von Hessen-Kassel zur Kurpfalz, der Westerwälder Grafenfraktion um die Nassauer und ihren internationalen Kontakten.

2.1.3 Die Kurpfalzgrafen: getriebene Hegemone Die Durchschlagskraft des Konfessionsfaktors erwies sich insbesondere am qualitativen Wandel der regionalpolitischen Zielsetzungen der Kurpfalz- und Rheingrafen, konkret: an ihrer europäischen Neudimensionierung im Zuge des Calvinisierungsprozesses seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Gleichwohl gälte es hierbei auch zu fragen, ob nicht die Internationalisierung der kurpfälzischen Politik gewissermaßen auch eine Konsequenz aus ihrer vorausgegangenen regionalpolitischen Relativierung, wenn nicht gar ihres punktuellen Scheiterns war. Reichs-, territorial- und dynastiepolitisch befanden sich die rheinpfälzischen Wittelsbacher bis dahin in einer tiefen Krise, die ihre Positionierung in der Reichspolitik bis in die fünfziger Jahre hinein bestimmte. Die Pfalzgrafen hatten im 15. und bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts die politische Szenerie am Mittel- und Oberrhein maßgeblich bestimmt. Die Relativierung des Mainzer und der Aufstieg

15 Vgl. Manfred Rudersdorf: Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537–1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen. Mainz 1991 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, Bd. 144), S. 256 f.; Volker Press: Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567–1655), in: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Das Werden Hessens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, künftig: VHKH, Bd. 50), Marburg 1986, S. 267–331 (hier S. 304–317).  

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des landgräflich-hessischen Einflusses am Mittelrhein hatten dazu nicht unerheblich beigetragen, insofern die Wittelsbacher – gerade in der Regierung Friedrichs I. (reg. 1451–1476) und noch unter Philipp dem Aufrichtigen (reg. 1476– 1508) – ihre Rolle als politische Konstante, Schiedsrichter und Ordnungsfaktoren zunächst hatten wahren und ausbauen können. Diese Rolle war jedoch im sogenannten Landshuter Erbfolgekrieg 1503–05 mit dem konkurrierenden Habsburger-Kaiser und mit den bayerischen Verwandten gefährdet, wenigstens aber relativiert worden.16 Fortan waren sie reichspolitisch bestrebt, ihr mit der Kurwürde verbundenes Reichsvikariat gegenüber dem Mainzer Reichserzkanzler und den neuen Ansprüchen der bayerischen Linie zu verteidigen, die aus dem Reichsreformprozess resultierenden Effekte zu kanalisieren und ritterschaftliche Fliehkräfte zu domestizieren.17 Daraus resultierte reichs(verfassungs)politisch ein Kurs der kompromisslosen Anlehnung an den Kaiser, der jedoch seit den 1520er Jahren religionspolitisch durch eine Politik schwankender Neutralität und Vermittlung beeinträchtigt wurde.18 Der politische Spagat der Kurfürsten Ludwig V. (reg. 1508–1544) und Friedrich II. (reg. 1544–1556), die sich in der Suche nach gleichzeitiger Nähe zum Kaiser und zu den protestantischen Führungsmächten – gerade Kursachsen – niederschlug, führte am Ende ins politische Abseits.19 Die kur16 Zum Landshuter Krieg vgl. Rudolf Ebneth/Peter Schmid (Hrsg.), Der Landshuter Erbfolgekrieg: an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Regensburg 2014; Matthias Schwarzer: Der Landshuter Erbfolgekrieg und seine Auswirkungen auf Bayern, (Hochschulschrift Regensburg) 2008; Waltraut Hruschka: König Maximilian I. und die bayrisch-pfälzischen Erbfolgehändel von 1503–1507. Diss. Graz 1961. Zur politischen Konstellation um 1500 und den Auswirkungen des Landshuter Krieges auf die Stellung der rheinischen Kurpfalz vgl. Ludwig Häusser: Geschichte der Rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen. 2 Bde., 2. Aufl. o.O. 1856, ND Pirmasens 1970, hier Bd. 1, S. 463–493; Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 211–219. 17 Vgl. Gotthard: Säulen (wie Anm. 5), S. 199–230. 18 Bei dieser Wertung handelt es sich selbstverständlich um eine ex post-Aussage. Die Zeitgenossen konnten die Politik der Pfalzgrafen sehr wohl als den Versuch verstehen, in einem unübersichtlichen Politikfeld die dynastischen Interessen durch Formulierung einer selbstständigen Position zu wahren. Die Kurpfalz initiierte die interkonfessionelle Rheinische Einung von 1532, protegierte die Religionsgespräche von 1539 und 1541 und nahm an dem überkonfessionell angelegten Heidelberger Bund von 1553 teil. Zu den Konzeptionen und Erscheinungsformen dieser konfessionsneutralen und vermittelnden Politik im Reich zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts vgl. Albrecht P. Luttenberger: Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik (1539–1552) (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20). Göttingen 1982, S. 93–249, insbesondere S. 241–249. 19 Die Kurpfalz nahm nicht am Schmalkaldischen Krieg teil und wahrte auch im Fürstenaufstand von 1552 strikte Neutralität. Die damit verbundene Entfremdung vom Kaiser führte zur Demütigung des Kurfürsten Friedrich II. vor dem Kaiser, der 1546 mit dem Schmalkaldischen

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pfälzische Priorisierung des Politischen vor dem Religiösen, weil das Verhältnis zum Kaiser als konstitutiv für die Stellung der Kurpfalz im Reich angesehen wurde,20 erwies sich angesichts der zeitgenössischen Identifizierung von Religion und Politik als nicht mehr durchsetzbar und auch nicht mehr praktikabel. Die kurpfälzische Politik unterlag insofern einem zeitgenössischen Zuordnungszwang, dem sie nicht mehr ausweichen konnte, aber wohl auch nicht mehr ausweichen wollte. Dies mündete nach der Phase der wohlwollenden Duldung des Protestantismus schließlich in die offizielle Einführung der Reformation unter Pfalzgraf Ottheinrich (reg. 1556–1559)21 und in die Calvinisierung unter Kurfürst Friedrich III. (reg. 1559–1576)22. Beide Vorgänge waren nicht zuletzt das Ergebnis der bis dahin entwickelten kirchlich-religiösen Heterogenität in der Kurpfalz, die nach einer regionalpolitischen Neuorientierung verlangte. Gewichtiger aber noch dürfte der Ausgang des Landshuter Krieges gewesen sein, selbst wenn dies für die Zeitgenossen zunächst kaum merklich gewesen sein mag. Herausgefordert wurden die Wittelsbacher am Mittelrhein nämlich nicht nur durch die hessischen Landgrafen als Katzenelnbogener Erben, sondern seit 1514 dynastiepolitisch auch durch die Hohenzollern, die es mit der Wahl Albrechts von Brandenburg 1514 zur Doppelkurwürde gebracht und damit den langgehegten kurpfälzischen Traum realisiert hatten. Der Versuch des Pfalzgrafen Reichard von Simmern, 1555 den Mainzer Bischofsstuhl zu erlangen, war allen konfessionspolitischen Implikationen zum Trotz insofern nicht außergewöhnlich, sondern stellte vielmehr die Kontinuierung des bereits 1484, 1499 und 1514 erfolglos unternommenen Ansinnens dar, den Mainzer Stuhl als wittelsbachische Sekundogenitur und damit ein pfälzisches Doppelkurfürstentum zu etablieren.23 Was dort misslang, war dagegen im Falle der Hochstifte

Bund verhandelte, während er gleichzeitig gegenüber dem Kaiser betonte, er wolle das religiöse Schisma im Reich beseitigen und die bevorstehende militärische Konfrontation verhindern; vgl. Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), hier Bd. 2, S. 24–27; Luttenberger: Glaubenseinheit (wie Anm. 18), S. 347–383, 502–565. 20 Vgl. Luttenberger: Glaubenseinheit (wie Anm. 18), S. 136. 21 Zu ihm vgl. Barbara Kurze: Kurfürst Ott Heinrich. Politik und Religion in der Pfalz 1556–1559. Gütersloh 1956 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, künftig: SVRG, Bd. 174), S. 67–72. 22 Vgl. Volker Press: Die „Zweite Reformation“ in der Kurpfalz, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985. Gütersloh 1986 (SVRG, Bd. 195), S. 104–129 (hier S. 107–129). 23 Vgl. Ludwig Petry: Das politische Kräftespiel im pfälzischen Raum vom Interregnum bis zur Französischen Revolution. Anliegen und Ansätze der heutigen Forschung, in: RhVbll 20 (1955), S. 80–111 (hier S. 91).

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Worms und Speyer am Beginn des 16. Jahrhunderts erfolgreich. Sie waren am Beginn des 16. Jahrhunderts faktisch zu Hausdiözesen herabgesunken: Pfalzgraf Georg (reg. 1513–1529) regierte seit 1513 das Hochstift Speyer, Pfalzgraf Heinrich (reg. 1523–1552) das Hochstift Worms; beide erwiesen sich als willige Vollstrecker der Heidelberger Interessen.24 Doch funktionierte dies im Speyerer Fall nur bis 1529, im Wormser Fall immerhin bis 1552. Seitdem konnten sich die multidynastischen Interessen der Kraichgauer Ritterschaft durchsetzen, womit eine Distanzierung von der wittelsbachischen Politik einherging. Die Wittelsbacher büßten insofern bis zur Jahrhundertmitte an regionalpolitischen Steuerungsmöglichkeiten merklich ein und mussten danach die Entscheidung treffen, das verbliebene regionale Gewicht durch ein eindeutiges Bekenntnis zum altgläubigen System mit seinen herausragenden dynastischen Versorgungsmöglichkeiten zu wahren oder neue Wege via neuer Konfessionspolitik mit ungewissem Ausgang, dabei aber absehbaren massiven Konflikten bzw. Konfliktverschärfungen zu beschreiten. Territorialpolitisch war allerdings absehbar, dass ein altgläubiges Bekenntnis nicht mehr durchsetzbar war. Denn die Rheinpfalz war territorial zerstückelt, weshalb Formen indirekter Herrschaft – Lehensnahme, Lehensvergabe, personell-dynastische Einflussnahme auf geistliche Institute – vorrangige politische Mittel darstellten. Die Institute der alten Kirche – gerade die bedeutende pfälzische Klosterlandschaft – waren schon zuvor durch die engen Beziehungen zu Rom sowie durch umfangreiche Schutz- und Vogteirechte weitgehend vereinnahmt oder wenigstens abhängig gemacht worden.25 Daraus resultierte allerdings kein eindeutig altgläubiger Kurs. Während man bis 1551 engen Kontakt zur römischen Kurie unterhielt, gingen die Wittelsbacher gegen das Luthertum nicht oder – wie das antilutherische Mandat von 1522 bewies – nur halbherzig vor.26 1545/46 wurde den Landständen die Freigabe der Religion zugestanden, was gleichzeitig ein deutlicher Hinweis darauf war, dass der von den Kurfürsten indirekt protegierte und nur mühsam verdeckte offizielle Übergang zur Reformation nicht mehr lange hinausgezögert werden konnte.27 Innerterritorial brachte 24 Vgl. Eike Wolgast: Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648. Stuttgart 1995 (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit, Bd. 16), S. 137 f. 25 Vgl. Anton Schindling/Walter Ziegler: Kurpfalz – Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: dies. (Hrsg.), Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, Bd. 53), S. 8–49 (hier S. 13 f.). 26 Vgl. Ludwig Petry: Schwerpunktbildung am Mittelrhein im 16. Jahrhundert, in: AHG NF 25 (1955), S. 3–26 (hier S. 18 f.). 27 Vgl. Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 24 f. Zu den pfälzischen Nebenlinien vgl. Frank Konersmann: Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat. Studie  







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der offizielle Konfessionswechsel nur geringe Änderungen, weil bis auf wenige Klöster28 die geistlichen Institute, sofern sie nicht ohnehin schon verlassen waren, unangetastet und die Hofgesellschaft weiterhin multikonfessionell blieben. Parallel zu dieser schleichenden Protestantisierung der kurpfälzischen Politik verschlechterte sich insbesondere das Verhältnis zum Mainzer Kurerzstift, dessen kirchliche Jurisdiktion immer weiter geschmälert wurde.29 Dies stand im Widerspruch zur Entwicklung seit der Jahrhundertwende, in der nach dem konfliktreichen pfälzisch-mainzischen Dualismus des 14./15. Jahrhunderts30 eine ungewöhnliche politische Ruhe und Kooperation zwischen Mainz und Heidelberg geherrscht hatte, weil beide Akteure gemeinsam den Gedanken der Vermittlung im Religionskonflikt und der Landfriedenswahrung durch das Einungsprinzip verfochten hatten. Der Bruch Heidelbergs mit Rom qualifizierte die traditionellen Konfrontationsfelder – gegenüber Kurmainz seien nur genannt die territoriale Verflechtung an Rhein, Nahe, Odenwald, Bingen-Ingelheim und Oppenheim-Gernsheim, der Streit zwischen Reichserzkanzler und Reichsvikar um die Wertigkeit der jeweiligen Dignität und schließlich die permanenten Auseinandersetzungen im Reichskreis31 – neu. Konfessionspolitisch von den Großen des Reiches isoliert, suchte und fand die Kurpfalz in den nächsten Jahrzehnten koalitionspolitische Kompensation im westeuropäischen Protestantismus.32 Gleichzeitig übernahm sie

zu den herrschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken 1410–1793 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 121). Köln 1996, hier u. a. S. 387–394. 28 Nur zwei Klöster – Lorsch und Schönau – wurden gewaltsam aufgehoben bzw. erhielten einen kurfürstlichen Verwalter. Ihre Einkünfte, insbesondere aber die Bibliotheken wurden der Universität zugeschlagen; vgl. Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 31 f.; Kurze: Kurfürst (wie Anm. 21), S. 76. 29 Vgl. Anton Ph. Brück: Die „Vorreformation“ in der Kurpfalz, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte (künftig: AmrhKG) 17 (1965), S. 27–37 (hier S. 30–36). Noch im Februar 1532 hatte man einen Vertrag über die geistlichen Abgaben geschlossen, der die geistliche Jurisdiktion des Kurerzbischofs wenigstens prinzipiell sicherte. Fünf Jahre später kam es zu massiven Eingriffen des Alzeyer Burggrafen und anderer kurpfälzischer Beamter, die in der mainzischen Diözesanrechte eingriffen, Altareinkommen beschlagnahmten oder Benefizien mit protestantischen Predigern besetzten. 30 Vgl. Ziehen: Mittelrhein (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 80–165; Petry: Schwerpunktbildung (wie Anm. 26), S. 17. 31 Vgl. Petry: Kräftespiel (wie Anm. 23), S. 82. 32 Dabei ist festzustellen, dass die Europäisierung der kurpfälzischen Politik nicht ausschließlich das Produkt ihrer Calvinisierung war. Schon unter Ottheinrich wurde eine Expansion der politisch-konfessionellen Perspektive durch Kontakte nach Frankreich und England in die Wege  



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von Hessen die Führung der protestantischen Aktionspartei im Reich und beförderte zusammen mit dem Wetterauer Grafenverein die Freistellungsbewegung auf den Reichstagen der 1560er Jahre.33 Es war jene Europäisierung und konfessionelle Radikalisierung der kurpfälzischen Politik, die diesen Nachbarn für das Kurerzstift Mainz und die anderen Hochstifte bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein unberechenbar werden und gefährlich bleiben ließ. Die als permanent empfundene kurpfälzische Bedrohung wurde nur während kurzer Phasen – etwa in der Periode der lutherischen Rekonfessionalisierung unter Ludwig VI. (reg. 1576–1583)34 – gemildert. Es blieben aber die Konflikte in den Kondominien, wegen der speyerisch-wormsischen Klostersäkularisierungen auf kurpfälzischem Territorium35 und wegen der Sperrung von Zehnten und Türkensteuerforderungen gegenüber Kurmainzer Klöstern und Stiften36 ungelöst, weil auch die von der Mainzer Zentralregierung favorisierte Verhandlungslösung 1579 scheiterte.37 Daneben wucherten entsprechende Konfliktpotentiale um die Religionsfrage im Hinteren Odenwald38 und den kurmainzischen Patronatspfarreien

geleitet; vgl. Kurze: Kurfürst (wie Anm. 21), S. 50 ff.; gegensätzlich dazu: Press: Reformation (wie Anm. 22), S. 109 f. 33 Vgl. Georg Schmidt: Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden. Marburg 1989 (VHKH, Bd. 52), S. 259–273. 34 Vgl. Schindling/Ziegler: Kurpfalz (wie Anm. 25), S. 28 f. 35 Beinahe 80 % solcher Säkularisierungen fielen in die Regierung Friedrichs III., ohne dass den Stiftsregierungen ein Gegenmittel zur Hand gewesen wäre; vgl. Heinz-Peter Mielke: Die Niederadeligen von Hattstein, ihre politische Rolle und soziale Stellung. Zur Geschichte einer Familie der Mittelrheinischen Reichsritterschaft von ihren Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges mit einem Ausblick bis auf das Jahr 1767. Wiesbaden 1977 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, Bd. 24), S. 319. 36 Die kurpfälzische Regierung hatte auch in den Kondominien Vordere Grafschaft Sponheim (mit Baden-Baden), in Ladenburg und im Amt Stein (mit Hochstift Worms), in Brühl (mit Hochstift Speyer) und insbesondere in ritterschaftlichen Orten Rheinhessens (Niederadel und Deutschorden) ohne Skrupel und Rücksicht und mit stellenweise zweifelhaften Rechtstiteln das calvinische Bekenntnis eingeführt; vgl. Anton Ph. Brück: Mainz vom Verlust der Stadtfreiheit bis zum Ende des Dreissigjährigen Krieges (1462–1648). Düsseldorf 1972 (Geschichte der Stadt Mainz, Bd. 5), S. 34 ff.; Winfried Dotzauer: Die Vordere Grafschaft Sponheim als pfälzisch=badisches Kondominium 1437–1707/08. Die Entwicklung zum kurpfälzischen Oberamt Kreuznach unter besonderer Berücksichtigung des badischen Kondominatsfaktors. Bad Kreuznach 1963. 37 Die Hälfte der auf kurpfälzischem Gebiet gelegenen Zehnten und Abgaben mainzischer Institute blieb weiterhin gesperrt; vgl. Brück: Mainz (wie Anm. 36), S. 34; Bernd Pattloch: Wirtschafts- und Fiskalpolitik im Kurfürstentum Mainz vom Beginn der Reformation bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Diss. München/Augsburg 1969, S. 116–118. 38 Schwerer noch belastete das kurpfälzische Vorgehen im Hinteren Odenwald die gegenseitigen Beziehungen. Wie in anderen Kondominien auch hatte Friedrich III. in den Dörfern Robern,  







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Rheinhessens39, begleitet von den üblichen zahllosen Irrungen in hoheitlichen Angelegenheiten.40 Dabei kam der Kurpfalz die faktische Handlungsunfähigkeit des Speyerer Reichskammergerichts zugute. Allerdings war es bezeichnend für das Politikverständnis jener Periode, regionalpolitische Angelegenheiten nicht mit der reichspolitischen Ebene zu verknüpfen.41

Balsbach und Wagenschwend, die unter der Zehnthoheit des Mainzer Kurerzstifts standen und der gemeinsamen pfälzisch-hirschhornischen Steuerhoheit unterlagen, die Einführung des Calvinismus verfügt. Die Dörfer, die Filialorte der mainzisch-katholischen Pfarrei Limbach waren, wurden der kurpfälzisch-calvinistischen Pfarrei Fahrenbach zugeschlagen. Der durch diesen Schritt brüskierte Mainzer Kurerzbischof protestierte gegen diesen eklatanten Rechtsbruch energisch, musste sich jedoch mit der konfessionellen Abspaltung der drei Dörfer langfristig abfinden; vgl. Meinrad Schaab: Die Wiederherstellung des Katholizismus in der Kurpfalz im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins (künftig: ZGO) 114 NF 75 (1966), S. 147–205 (hier S. 153); Petry: Kräftespiel (wie Anm. 23), S. 92; Christ/May: Erzstift (wie Anm. 6), S. 147–153. 39 Schon bei der infolge des Interims 1548 durchgeführten kurerzbischöflichen Visitation des kurpfälzischen Amtes Alzey war es zum Konflikt gekommen. Die Heidelberger Regierung wollte die Visitation nur unter Auflagen gestatten. Kurerzbischof Sebastian zog es schließlich vor, demonstrativ auf sein Visitationsrecht zu verzichten, statt eine weitere Einschränkung der Jurisdiktion hinnehmen zu müssen. Nach der obrigkeitlichen Einführung der Reformation 1556 gingen die rheinhessischen Pfarreien, sofern sie auf kurpfälzischem Territorium lagen, dem kurerzbischöflichen Einfluss endgültig verloren. Dies war etwa in den domkapitelischen Pfarreien Ober-Ingelheim und Gensingen, aber auch vielen anderen Pfarreien der Fall, für die Mainz lediglich Patronatsrechte besaß; vgl. Rolf Decot: Religionsfrieden und Kirchenreform. Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Sebastian von Heusenstamm 1545–1555. Wiesbaden 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 100), S. 125–127; Brück: Vorreformation (wie Anm. 29), S. 35; ders.: Der Stand der Reformation im nördlichen Rheinhessen im April 1557, in: Mitteilungsblatt für rheinhessische Landeskunde, Bd. 4 (1955), S. 100–103. 40 Vgl. Bayerisches Staatsarchiv Würzburg Repertorium, Bd. 54 IX/1–4 mit mehreren tausend Seiten, die für sich die konstante Fülle der traditionell anmutenden Konflikte verdeutlichen. 41 Dies machte sich in der Frage der Kreisverfassung 1563 ebenso in einer umfänglichen gegenseitigen Abstimmung bemerkbar wie 1567/68 bei dem Thema der Königswahl und sollte sogar als Verdacht dafür dienen, dass Daniel Brendel insgeheim für die Sache der Protestanten kämpfe. So musste denn auch das mainzisch-pfälzische Zusammengehen während der Grumbachschen Händel, in deren Verlauf die beiden Kurfürsten Position für die Ritter und gegen oder jedenfalls nicht vollkommen für das Würzburger Hochstift bezogen, zu deutlicher Verstimmung am Wiener Hof sorgen; vgl. Mathilde Krause: Die Politik des Mainzer Kurfürsten Daniel Brendel von Homburg (1555–1582). Diss. Frankfurt am Main 1931, S. 26–36; Albrecht Pius Luttenberger: Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II. Mainz 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, Bd. 149; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 12), S. 337–354. Dass zu dieser Zeit das Potential gemeinsamer Interessen und daraus resul-

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Verschärft wurden die bestehenden Auseinandersetzungen durch die wachsende gegenseitige Bedrohungswahrnehmung seit den 1570er Jahren. Für die kurmainzische Seite und die mit ihr verbundenen Adelseliten der Hochstifte Speyer und Worms stellte insbesondere der seit 1583 verfolgte internationalistische Kurs eine unmittelbare Bedrohung dar. Er verband sich nämlich mit der wenigstens latent stets vorhandenen Angst vor realen oder nur vermeintlichen kurpfälzischen Säkularisierungsabsichten, die geradezu ein Proprium der kurmainzisch-pfälzischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts darstellte und durch kolportierte Äußerungen der Pfalzgrafen geschürt wurde.42 Die Übernahme der Kuradministration durch Pfalzgraf Johann Casimir von PfalzLautern (adm. 1583–1592) für den minderjährigen Friedrich IV. (reg. 1583–1610) bedeutete nicht nur die abermalige Calvinisierung der Kurpfalz, sondern auch in deren Gefolge Rüstungen in unmittelbarer Nachbarschaft, Truppendurchmärsche und Interventionen in den Niederlanden und Frankreich. Das Engagement Johann Casimirs im Kölner Krieg und seine offenen Ambitionen auf Einverleibung Speyers und Triers 1580/8143 musste den reichsritterschaftlichen Eliten der mittelrheinischen Hoch- und Erzstifte perhorreszierend erscheinen;44 dies nicht zu

tierender regionaler Politikfähigkeit nicht völlig verbraucht war, bewies auch die Verlängerung des Münzvereins 1571/72; vgl. Pattloch: Wirtschafts- und Fiskalpolitik (wie Anm. 37), S. 125. 42 Bereits 1544 versicherte der Kurpfalzgraf dem Mainzer Domkapitel, man strebe keinesfalls nach einer Säkularisierung des Kurerzstifts, was nur zu gegenteiligen Überlegungen im Mainzer Domkapitel Anlass geben konnte. Dass solche Überlegungen nicht von der Hand zu weisen waren, zeigte sich bei der Bischofswahl von 1555, als mit dem Kandidaten Reichard von Simmern die Pfälzer offen nach dem Mainzer Bischofsstuhl strebte. Im Umkehrschluss verzichtete Kurerzbischof Daniel Brendel 1560 auf eine persönliche Anwesenheit beim Konzil in Trient; vgl. Wilhelm Steffen: Zur Politik Albrechts von Mainz in den Jahren 1532 bis 1545. Diss. Greifswald 1897, S. 94; Hans-Georg Sturm, Pfalzgraf Reichard von Simmern 1521–1598. Trier 1968, S. 21–23. 43 Vgl. Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 55 f.; Anton Ph. Brück: Das Erzstift Mainz und das Tridentinum. Diss. Mainz 1948, S. 88; Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 305, 318. Am Beispiel Triers wie auch Speyers lässt sich ablesen, wie nützlich solche Säkularisierungsabsichten waren: Sie führten in beiden Fällen zur Wahl eines strikt katholischen Kandidaten! 44 Zu den entsprechenden Integrationsversuchen Friedrichs III. und Johann Casimirs gegenüber Speyer in den 1570er Jahren vgl. oben. Bei der kurpfälzischen Intervention im Navarrischen Krieg 1586/87 gewann die Mainzer Zentralregierung den Eindruck, es gehe der Pfalz „wie seither und noch schärfer auf völlige Verdrückung der Katholischen, zuvörderst der geistlichen Erzstifte und Stifte“; vgl. den Bericht des Domscholasters Johann Schweikard von Kronberg vor dem Domkapitel über den Wormser Deputationstag vom 12. Juli 1586 zit. nach Anton Ph. Brück: Mainz im „Navarrischen Krieg“ (1586–1587) (nach den Protokollen des Mainzer Domkapitels), in: Mitteilungsblatt für rheinhessische Landeskunde, Bd. 5 (1956), S. 10–14 (hier S. 10). Zur Rolle der pfälzischen Kurfürsten in den französischen Religionskriegen vgl. Bernhard Vogler: Die Rolle der pfälzischen Kurfürsten in den französischen Religionskriegen (1559–1592), in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 37/38 (1970/71), S. 235–266.  

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Unrecht, insofern Friedrich III. noch 1575 in seinem Testament die dezidierte Nutzung des Reichsvikariats gerade während eines Interregnums zur „mer vorpflanzung angeregter wahren religion“ empfahl.45 Umgekehrt galt solcher Argwohn allerdings auch. Kurfürst Friedrich III. misstraute den reformkatholischen Initiativen der Speyerer Fürstbischöfe ebenso wie denjenigen des Mainzer Kurerzbischofs Daniel Brendel massiv, obwohl es sich weder regionalpolitisch noch jeweils innerstiftisch um eine geschlossene katholische Front handelte. Die Berufungen der Jesuiten 1563 nach Mainz, 1567 nach Speyer schienen dennoch deutliche Signale zu sein, dass die Mainzer Zentralregierung wie das Speyerer Domkapitel über genug Selbstbewusstsein für eine dezidiert gegenreformatorische Politik verfügten.46 Bestärkt wurde diese Wahrnehmung auch bei anderen Anlässen.47 Jedoch unternahm die Kurpfalz zu keinem Zeitpunkt den Versuch, die innerterritorialen Reformbemühungen aktiv zu stören.48

45 Zit. nach August Kluckhohn: Das Testament Friedrichs des Frommen, Churfürsten von der Pfalz, in: Abhandlungen der Historischen Classe der Kgl. Bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. 12/III. München 1874, S. 41–104 (hier S. 98). Wie selbstverständlich die kurpfälzischen Verwaltungseliten das Hochstift Speyer als in ihrem Zugriffshorizont befindlich wahrnahmen, erwies sich auch daran, dass der Pfälzer Kammermeister 1597/98 den Erwerb des Hochstifts als Beitrag zur Sanierung des kurfürstlichen Haushalts in die Rechnung einbezog, vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 306. 46 In diesem Zusammenhang gilt es darauf hinzuweisen, dass im Mainzer Fall der Kurerzbischof, im Speyerer Kontext das Domkapitel die treibenden Kräfte für die Jesuitenberufung waren, während die jeweils andere Seite – Bischof und Domkapitel – zögerlich-warnend bis desinteressiert agierte. Im Kurmainzer Fall wurde die Arbeit der Jesuiten auf dem kurmainzischen Eichsfeld von Friedrich III. gleichermaßen als Bedrohung wahrgenommen; vgl. August Kluckhohn (Bearb.), Briefe Friedrich des Frommen Kurfürsten von der Pfalz mit verwandten Schriftstücken, 2 Bde. Braunschweig 1868–1872, hier Bd. 2, S. 813–815, Nr. 812: Schreiben Friedrichs an Landgraf Wilhelm von Hessen–Kassel vom 17. 03. 1575. 47 So erboste sich Friedrich III. 1576 über die anlässlich des päpstlichen Jubeljahres in Mainz durchgeführten Prozessionen; vgl. Kluckhohn, Briefe (wie Anm. 46), Bd. 2, S. 970–972, Nr. 886: Schreiben Friedrichs an seine Reichstagsgesandten vom 18. 07. 1576, in dem ausführt: „Es seind auch solche processiones zwar diser orte nun vil jahr hero ganz ungewonlicher weise und mit solchem affen und gaukelwerk, welches auch die kinder bisher solcher enden verlachet, jetzt aber fur grosses und zierliches gepreng uffgemutzt, volnfurt worden, dorab sich verstendige leüt wol zuverwundern“ (S. 971). Der Ärger des Kurfürsten wurde vergrößert, weil die kurerzbischöfliche Regierung dafür gesorgt hatte, dass keine pfälzischen Untertanen in der Stadt anwesend waren, die die Prozession hätten stören können, und weil man öffentlich protestantische Schriften verbrannt hatte. 48 Die antimainzische Parteinahme zugunsten der protestantischen Dissidenten auf dem Eichsfeld blieb Episode und fungierte in der reichspolitischen Strategie der Kurpfalz nur als ein Mosaikstein; vgl. Philipp Knieb: Geschichte der Reformation und Gegenreformation auf dem

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Die „pfälzische Gefahr“ konnte auch nach dem Tod Johann Casimirs 1592 nie gänzlich gebannt werden. Periodisch trat sie immer dann auf, wenn die Kurpfalz sich anschickte, auf Reichsebene die protestantischen Stände zu gemeinsamen Aktionen zu bewegen. Trotz mancher Entspannungsperioden49 blieben die hochstiftischen Eliten stets ängstlich-misstrauisch gegenüber dem Nachbarn, dessen reichspolitischer Kurs sich unter dem Einfluss des Amberger Statthalters Christian von Anhalt (reg. 1595–1621) immer mehr radikalisierte.50 Angesichts des Einflusses der Wetterauer Grafen am Heidelberger Hof und der Calvinisierung der Landgrafschaft Hessen-Kassel seit 1605 schien sich die Bildung einer calvinistischen Front am Mittelrhein abzuzeichnen. Dies, die Zunahme und Verschärfung pfälzischer Übergriffe sowie die zunehmende Paralysierung der Reichsinstitutionen veranlassten die Mainzer Zentralregierung, zusammen mit den Kurerzstiften Köln und Trier 1609 der katholischen Liga beizutreten, um sich für den militärischen Notfall abzusichern,51 während die Beziehungen zum lutherisch-orthodoxen Hessen-Darmstadt, das ebenfalls die Heidelberger Entwicklungen mit Argwohn betrachtete, intensivierte. Damit war am Mittelrhein ein Zustand erreicht, bei dem die konfessionellen Gegensätze mit der herkömmlichen Politik eines zwischenstaatlich-nachbarschaftlichen, an pragmatischen Grundätzen orientierten Ausgleichs nicht mehr zu mildern bzw. zu überwinden waren, während gleichzeitig die Arbeit des Reichskammergerichts aussetzte.

2.2 Das Hochstift Speyer: Objekt regionalpolitischer Interessen im Ringen um Eigenständigkeit Ähnlich dem Wormser Hochstift war die Situation des Speyerer Fürstbistums am Beginn des 16. Jahrhunderts von seiner Rolle als kurpfälzischer Satellit be-

Eichsfelde. 2. Aufl. Heiligenstadt (Eichsfeld) 1909, S. 151–156, 172 f. Nach dem Reichstag von 1566 erlahmte das kurpfälzische Engagement für die eichsfeldische Ritterschaft. 49 Gute Kontakte wurden bspw. zwischen dem Mainzer und dem Heidelberger Hof gepflegt, als auf Reichsebene 1607 die Sukzessionsfrage im Raum stand; vgl. Brück: Erzstift (wie Anm. 43), S. 108, 116; Andrea Litzenburger: Kurfürst Johann Schweikard von Kronberg als Erzkanzler. Mainzer Reichspolitik am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges (1604–1619). Stuttgart 1985 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 26), S. 82–87. 50 Vgl. Häusser: Geschichte (wie Anm. 16), Bd. 2, S. 276–294; Schaab: Geschichte (wie Anm. 12), Bd. 2, S. 75–78; Schindling/Ziegler: Kurpfalz (wie Anm. 25), S. 37–39; Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stuttgart 1970 (Kieler Historische Studien, Bd. 7), S. 489 f. 51 Vgl. Brück: Mainz (wie Anm. 44), S. 41; Litzenburger: Kurfürst (wie Anm. 49), S. 22–39, 219– 240.  



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stimmt.52 Beide Hochstifte waren kurpfälzische Diözesanbistümer. Zugleich waren die Kurpfalzgrafen Lehensnehmer der Speyerer Fürstbischöfe im Gebiet Neustadt. Die Pfalzgrafen hatten sich mit dem erblichen Schutz- und Schirmvertrag von 1464 nachhaltigen Einfluss auf die Speyerer Herrschaftsressourcen sichern können. Er perpetuierte bzw. dokumentierte das bereits seit 1396 bestehende faktische wittelsbachische Protektorat, das sich im Fehlen einer eigenständigen Regionalpolitik der Fürstbischöfe, dem massiven Einfluss Heidelbergs auf die Bischofswahlen, der fiskalischen Inanspruchnahme des Hochstifts oder der intensiven Vernetzung des Heidelberger Hofes mit dem Speyerer Domkapitel niederschlug.53 Seinen Höhepunkt fand diese seit dem Ende des 15. Jahrhunderts planmäßig betriebene Integration Speyers in den dynastischen Kosmos der Kurpfalz mit der Durchsetzung des Kurprinzen Georg (reg. 1513–1529) als Gegenkandidat zu dem Wormser und Speyerer Domherrn Philipp von Flersheim – was sich in Worms 1523 überdies mit dem Kurprinzen Heinrich wiederholte.54 Von außen betrachtet, mochte sich dies wie die Zementierung und Überhöhung des kurpfälzischen Hegemonialanspruchs lesen; bei näherer Betrachtung eröffnet sich jedoch ein differenzierteres Bild: Kurpfalzgraf Ludwig V. (reg. 1508–1544) war nach dem Landshuter Erbfolgekrieg gezwungen, seine unmittelbaren Verwandten mit herausragenden Pfründen zu versorgen, nicht zuletzt gegen unmittelbare habsburgische und – neu am Mittelrhein! – brandenburgische Konkurrenz. Es galt demnach, das verbliebene Umfeld nach dem Kriegsdesaster des Vaters abzusi-

52 Vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 137–139; Hans Ammerich: Das Bistum Speyer von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Speyer 2011 (Schriften des Diözesan-Archivs Speyer, Bd. 42). 53 Die Vernetzung des Speyerer Domkapitels mit dem Heidelberger Hof zeigte sich daran, dass zahlreiche Hofämter mit Domherren besetzt waren. Der Einfluss des Heidelberger Hofes auf die Bischofswahlen erwies sich in jeder Hinsicht symptomatisch 1396, als die römische Kurie den Pfälzer Minderheitskandidaten gegen das Mehrheitsvotum des Domkapitels als Bischof bestätigte; Lawrence G. Duggan: Bishop and Chapter. The Governance of the Bishopric of Speyer to 1552. New Brunswick/NJ 1978 (Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions, Bd. 62), S. 119–121; Gerhard Fouquet: Ritterschaft, Hoch- und Domstift Speyer, Kurpfalz. Zu den Formen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verflechtung in einer spätmittelalterlichen Landschaft am Mittel- und Oberrhein, in: ZGO 137 NF 98 (1989), S. 224–240; ders.: Das Speyerer Domkapitel im späten Mittelalter (ca. 1350–1540). Adlige Freundschaft, fürstliche Patronage und päpstliche Klientel, 2 Bde. Mainz 1987 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 57); Kurt Andermann: Zeremoniell und Brauchtum beim Begräbnis und beim Regierungsantritt Speyerer Bischöfe. Formen der Repräsentation von Herrschaft im späten Mittelalter und in der frühen Reformation, in: AmrhKG 42 (1990), S. 125–177. 54 Vgl. Gerhard Fouquet: Kaiser, Kurpfalz, Stift: die Speyerer Bischofswahl von 1513 und die Affäre Ziegler, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 83 (1985), S. 193–271; ders.: Domkapitel (wie Anm. 53), S. 275 f.  

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chern. Zudem scheint ein solcher Bruch mit der bis dahin geübten wittelsbachischen Praxis, das Hochstift zu vereinnahmen, ohne den Bischofsstuhl mit Familienmitgliedern, sondern allenfalls mit loyalen Parteigängern zu besetzen, selbst für die Kraichgauer Ritterschaft, die die hochstiftischen Strukturen klientelisch dominierte, akzeptabel gewesen zu sein. Sie litt 1513 unter akutem Mangel an geeigneten Kandidaten. Der aussichtsreichste Kandidat aus ihren Reihen – Philipp von Flersheim – war Favorit nur der pfälzisch-rheinhessischen Fraktion im Domkapitel. Die Kraichgauer konnten sich ihrer Position angesichts der reichsund regionalpolitischen Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte keineswegs sicher sein und wurden zudem großzügig von Ludwig V. abgefunden.55 Der offene Konflikt mit dem kurpfälzischen Protektor, der sich zudem noch neuer Unterstützung Kaiser Maximilians I. und Karls V. erfreute, schien zu diesem Zeitpunkt offenkundig nicht angeraten. Eine solche Haltung schien sich bestätigen, weil die Kraichgauer Ritter um ihren Einfluss am Heidelberger Hof und in der kurfürstlichen Territorialverwaltung kämpfen mussten, weil der Ausgang der SickingenFehde 1523 ihre ohnehin problematische Stellung im Reichsverfassungsgefüge noch angreifbarer und Rückversicherungen notwendig machte und weil die Reformation weitere Unwägbarkeiten mit sich brachte. Es war just jene Reformationsentwicklung, die den kraichgauisch-(reichs-) ritterschaftlichen Eliten und den ihr angeschlossenen adeligen Klientelverbänden in die Hände spielte, wenn auch auf dialektische Weise. Der reformatorischen Lehre wurde im Hochstift durch Fürstbischof Georg nicht oder allenfalls nachlässig begegnet. Er tolerierte 1525 die Konversion seines Weihbischofs Dr. Anton Engelbrecht (1485–1558), ebenso die Tätigkeit neugläubiger Funktionsträger in der hochstiftischen Verwaltung. Dies entsprach der Politik seines Heidelberger Bruders und den konfessionellen Ausrichtungen vieler Angehöriger der Stiftselite. Auf die Ermahnungen des – allerdings religionspolitisch ebenfalls nicht übermäßig besorgten – Domkapitels reagierte er mit einer Ermahnung seiner Lehensleute – also auch der Kurpfalz –, die lutherischen Prediger zu entlassen.56 Mit der Wahl Philipps von Flersheim (reg. 1529–1552) war denn ein doppeltes Signal verbunden: zum Ersten die Durchsetzung der klientelistischen Interessen der Kraichgauer Ritterschaft nebst ihrer Assoziierten gegen die Versuche des Kurpfalzgrafen, seinen Bruder – den Wormser Fürstbischof – auf den Speyerer Bischofsthron zu bringen. Mit dieser Abwehr wittelsbachischer Ansprüche unter habsburgischer Hilfe war zum Zweiten der Beginn einer offensichtlichen Emanzipation aus dem Satellitenstatus verbunden. Zum Dritten manifestierte sich mit

55 Vgl. Fouquet: Domkapitel (wie Anm. 53), S. 273–277. 56 Vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 99, 139; Duggan: Chapter (wie Anm. 53), S. 147–149.

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dieser neuen Selbstbehauptungspolitik der kraichgauisch dominierten Stiftseliten deren Wille zu einem stiftspolitisch eigenständigen Weg vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden konfessionellen Dichotomisierung der Reichspolitik, deren Effekte auf die Regionalpolitik zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollends abzusehen waren. Denn Philipp von Flersheim agierte fortan als altkirchlich gesinnter Doyen und Protektor einer sich konfessionell schnell, eindeutig und überwiegend neugläubigen Stiftselite, die gleichzeitig seine Politik des Erhalts des Hochstifts als altgläubiges Institut und der Eindämmung der reformatorischen Lehre mittrug. Im Verbund mit gleichgesinnt agierenden Reichsfürsten profilierte er sich als entschiedener Reformationsgegner.57 Daraus resultierte keineswegs eine aggressiv antireformatorische, eher eine bestandswahrende Religionspolitik, die ebenso den Erwerb der reichsunittelbaren Abtei Weißenburg im Elsass als Erfolg verbuchen konnte wie sie massive Konflikte mit Heidelberg heraufbeschwor, das grundsätzlichen Widerstand und Opposition aus Speyer nicht kannte und nun doch damit umgehen musste.58 Die Wahl des erst dreißigjährigen Rudolf von Frankenstein (reg. 1552–1558) zum Nachfolger Flersheims schien diese Entwicklung zu beschleunigen, wurde durch dessen frühen Tod jedoch unterbrochen.59 Im Gefolge des Flersheimer Kurses hatten sich demnach die kurpfälzischen Mediatisierungs- und damit gewissermaßen Rekuperationsversuche unter Ludwig V. und Friedrich II. intensiviert. Dieser Kurs drohte sich im Zuge der Calvinisierung der Kurpfalz bei gleichzeitiger Ausschärfung des gegenreformatorischen Profils der Speyerer Stiftspolitik zu verschärfen. Dem begegnete der fürstbischöfliche Neoelekt Marquard von Hattstein (reg. 1560–1581) mit einer elastischen Politik der nachbarschaftlichen Kommunikation mit der Kurpfalz bei gleichzeitiger religionspolitischer Uneindeutigkeit und bewusster reichsverfassungspolitischer Absicherung durch sein Engagement am Reichskammergericht. Der Freund Kaiser Maximilians II. amtierte seit 1569 als Kammerrichter und ordnete sich damit in das System der Reichsjustizverfassung mit all seinen Begleiterscheinun-

57 Vgl. Hermine Stiefenhöfer: Philipp von Flersheim – Bischof von Speyer (1529–1552) und gefürsteter Propst von Weißenburg 1546–1552. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und der deutschen Westmark. Speyer a. Rhein 1941; Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 140 f.; Duggan: Chapter (wie Anm. 53), S. 152–154. 58 Kurfürst Friedrich II. jedenfalls klagte regelmäßig über die Aggressivität und das unnachbarschaftliche Verhalten des Flersheimers; vgl. Stiefenhöfer: Philipp (wie Anm. 57), S. 99. 59 Frankenstein wurde in der Wahlkapitulation auf seine Katholizität festgelegt, ebenso auf die Einhaltung der katholischen Riten und Traditionen sowie die Anstellung ausschließlich katholischer Funktionsträger; vgl. Fouquet: Domkapitel (wie Anm. 53), S. 507–509; Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 141.  

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gen und Vorteilen für die hochstiftischen Belange ein, worin ihm seine Nachfolger auf dem Speyerer Bischofsstuhl folgten.60 Religionspolitisch betrieb Hattstein auf Reichsebene 1576 zusammen mit Kurmainz und Kurtrier einen harten Kurs gegenüber der von Hessen-Kassel und der Kurpfalz unterstützten Freistellungsbewegung. Territorialpolitisch-innerstiftisch verfolgte er eine reformerische Linie, ließ sich zum Bischof weihen und legte die professio fidei tridentina ab. Trotz dieser eindeutigen Zeichen uneingeschränkter Konfessionsloyalität und Konfessionssolidarität, wie sie selbst in Kreisen der geistlichen Kurfürsten jener Zeit nicht immer üblich war,61 tolerierte Bischof Marquard weiterhin andersgläubige Mitarbeiter in seinem nächsten Umfeld und geriet selbst in den Verdacht, ein Schwenckfelder zu sein.62 Genährt wurden die Zweifel am Bischof durch dessen sehr guten Kontakte zu Kurpfalzgraf Friedrich III. und Pfalzgrafen Johann Casimir – also zu den beiden Heidelberger Calvinisten –, die bereits in den 1560er Jahren versucht hatten, den Speyerer in ihre Sekundogeniturpläne zu integrieren, zur Heirat mit der Kurpfalzprinzessin Anna Elisabeth zu drängen und auf diesem Wege die schleichende Säkularisierung des Hochstifts zu betreiben.63 Dem Tod Hattsteins, der zudem gegenüber dem Nuntius Porta die Einsetzung eines Koadju-

60 Hierzu vgl. Anette Baumann in diesem Band. 61 Man denke bspw. nur an Kölner Kurfürst Friedrich von Wied (reg. 1562–1567), der die Ablegung der professio fidei ablehnte, weil sie seiner Fürstenwürde nicht zu entsprechen schien; vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 288. 62 Vgl. Mielke: Niederadelige (wie Anm. 35), S. 312–315 mit Anm. 77 und 83 in; zu den Schwenckfeldern vgl. Caroline Gritschke: ‚Via media‘. Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin 2006 (Colloquia Augustana, Bd. 22); Marc R. Forster: The Counterreformation in the Villages. Religion and Reform in the Bishopric of Speyer, 1560–1720. Ithaca and London 1992, S. 42–49; vgl. dagegen Andermann: Zeremoniell (wie Anm. 53), S. 133 f., 139. – Eine solche Einschätzung sollte allerdings nicht allzu sehr irritieren, weil es sich eher um Abbildungen der Irritationen, Aufgeregtheiten, intrigantistischen Kolportagen oder diplomatischen Finessen gerade jener Zeit handelte, durch die die Gegenseite verunsichert oder die eigenen Fraktionsangehörigen bei der Stange gehalten werden sollten. Manchmal erscheint es auch, dass gerade römische Gewährsmänner mit ihren Einschätzungen und Verdächtigungen schlicht ihr Unwissen über die Bedingungen (hoch-)adelig-fürstlichen Konfessionspolitisierens offenbarten. Selbst so eindeutig katholische Reichsfürsten wie der Mainzer Kurerzbischof Daniel Brendel von Homburg (reg. 1555–1582) gerieten in den Verdacht des heimlichen Protestantisierens, weil sein protestantischer Vetter Hartmut XIII. von Kronberg als – zweifellos einflussreicher – Hofmeister amtierte; vgl. Alexander Jendorff: Der Mainzer Hofmeister Hartmut (XIII.) von Kronberg (1517–1591): Kurfürstlicher Favorit oder Kreatur des erzstiftischen Politiksystems?, in: Michael Kaiser/Andreas Pečar (Hrsg.), Der Zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit. Berlin 2003 (ZHF, Beiheft 32), S. 39–57. 63 Vgl. Mielke: Niederadelige (wie Anm. 35), S. 318–320.  

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tors cum iure successionis abgelehnt hatte,64 kam in den wittelsbachischen Szenarien eine Schlüsselrolle zu.65 Die teilweise nur schwer deutbare konfessionelle bzw. religionspolitische Uneindeutigkeit des Bischofs traf auf den energischen Widerstand des altgläubig dominierten Domkapitels und der hinter ihm stehenden ritterschaftlichen Familien. Das Domkapitel kritisierte den Bischof wegen dessen nachgiebiger Haltung gegenüber Heidelberg und wegen seiner reformerischen Nachlässigkeit. Es selbst setzte kämpferische Signale, indem es 1567 die Jesuiten nach Speyer berief,66 im gleichen Jahr den Veldenzer Versorgungswünschen eine harsche Abfuhr erteilte67 und 1581 mit Eberhard von Dienheim (reg. 1581–1610) einen entschiedenen Vertreter des Reformkatholizismus zum Nachfolger Hattsteins wählte, der die Beziehungen zum Erzstift Mainz unter konfessionspolitischen Gesichtspunkten zu verstärken suchte.68 Was vordergründig wie eine unübersehbare Ausbildung und Verhärtung von Konfessionsfronten erscheinen mochte, stellte sich bei näherer Analyse allerdings vielschichtiger dar: Dienheim war zweifellos eindeutig und strikt altgläubig, aber kein Gegenreformator vom Schlage eines Würzburger Fürstbischofs Julius Echter von Mespelbrunn (reg. 1573–1617), sondern im typischen Stile mittelrheinischer Prälaten eher der Vertreter einer stringenten, aber untridentinischen Reformlinie.69 Hinter ihm stand ein mehrheitlich katholisches, jedoch keineswegs immer geschlossenes Domkapitel, von denen nicht wenige Mitglieder unter Umständen die kurpfälzischen Säkularisierungspläne hätten mittragen können.70 Mit diesem Domkapitel verbunden waren – immer noch, wenn auch nicht mehr so dominant wie in den Generationen zuvor – die lutheri64 Vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 305. 65 Angesichts des bevorstehenden Todes des Bischofs erwog Pfalzgraf Georg Johann von Veldenz, in Übernahme des kursächsisch-kurbrandenburgischen Modells das Hochstift beim Tode Hattsteins einfach zu besetzen, einen Administrator aus dem eigenen Hause einzusetzen und die Freistellung zu verkünden. Damit drang er allerdings noch nicht einmal in Heidelberg durch, das bereits 1569 durch den sächsischen Kurfürsten vor solchen Schritten gewarnt worden war und das den Widerstand des Speyerer Stiftsadels fürchtete; vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 305. 66 Vgl. Forster: Counterreformation (wie Anm. 62), S. 67–69. 67 Die Bitte des Herzogs von Veldenz bezog sich auf die Versorgung von einigen seiner Söhne mit Dompfründen unter Belassung ihres protestantischen Bekenntnisses, was vom Domkapitel rundweg abgelehnt wurde; vgl. Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 305. 68 Vgl. Forster: Counterreformation (wie Anm. 62), S. 74–93. 69 Zum Vergleich mit Kurmainz und anderen Erz- und Hochstiften vgl. Jendorff: Reformatio (wie Anm. 8), S. 138–142. 70 Jedenfalls ließ sich der kurpfälzische Kanzler Christoph Ehem vernehmen, Heidelberg hätte von Bischof Marquard eine Liste mit Domkapitularen und anderen Adeligen besessen, mit denen man auch eine Säkularisierung beredet hätte. Diese hätten sich aber allesamt wieder zurück-

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schen Adelseliten des Kraichgaus, die parallel zur Calvinisierung des Heidelberger Systems und des schleichenden Machtzuwachses der Wetterauer Grafen ihre Bedeutungsminderung realisieren mussten, ohne dass sie dafür materielle Ausgleichschancen besessen hätten.71 Aus ihrer Sicht war die Katholisierung des Hochstifts eine notwendiges Mittel der materiellen Bestandswahrung, eine konfessionspolitische Notwendigkeit ohne innere Überzeugung. Anders ausgedrückt: Hätte die Kurpfalz trotz oder gerade wegen ihrer Calvinisierungstendenzen von ihren Säkularisierungsplänen abgelassen, die die mittelrheinisch-reichsritterschaftliche Position in doppelter Weise bedrohten, hätte die Position der hochstiftischen Eliten eine andere sein können. Doch dies entsprach eben nicht den Interessen der Kurpfalz bzw. schien ihren Interessen nicht mehr zu entsprechen. Die Konfessionalisierung des politischen Denkens im Sinne der Entfaltung konfessionspolitischen Blockdenkens nebst entsprechender Verhärtung der konfessionellen Fronten schien einen flexiblen Umgang miteinander nicht mehr zuzulassen. Mehr noch verschärfte die zunehmende konfessionelle Dichotomisierung und Antagonisierung der Reichs- und im Gefolge der Regionalpolitik die traditionelle Konfliktlage, die letztlich um den Hegemonialanspruch der Wittelsbacher am Mittelrhein kreiste. Je stärker sich die wittelsbachische Dynastie dem Calvinismus als dynastischem Identitätsmerkmal verschrieben und damit konfessionell von den lutherisch situierten Reichsrittern getrennt hatte, um so stärker lud sich die traditionelle Konfliktlage auf und ideologisierte sich.

2.3 Die (Reichs-)Ritterschaften im Mittelrheingebiet Die regional- und territorialpolitische Szenerie des Mittelrheingebietes war neben den großen, insbesondere von den sogenannten „kleineren“ Akteuren aus dem Ritterstand geprägt. Sie stellten quasi das personelle Rückgrat der Großen dar. Ihre supraterritorialen Netzwerke schufen gewissermaßen erst diese Region; ohne sie war also weder „Territorialstaat“ noch „Regionalpolitik“ zu machen. Stark vereinfacht ausgedrückt, bildeten sich dabei zwei größere Formationen: die kraichgauische und die mittelrheinisch-wetterauische Ritterschaft, die auf je eigenen Netzwerkstrukturen nebst spezifischen Verwandtschaftsverhältnissen basierten, wobei sich diese an vielen, wenn auch nicht allen Stellen überschnitten. Diese vielfach miteinander verbundenen Familien stellten den mehr oder

gezogen; vgl. Mielke: Niederadelige (wie Anm. 35), S. 319 f.; Wolgast: Hochstift (wie Anm. 24), S. 304. 71 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 190–198.  

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minder unabhängigen Niederadel dar, der sich in einem stets prekären und ambivalenten Verhältnis zu den Fürsten befand. Seit dem 15. Jahrhundert organisierte sich dieser niedere Reichsadel zunehmend institutionell und fand unter dem Zwang zur Einordnung ins Reichsverfassungsgefüge schließlich seinen Weg in die Kaiserunmittelbarkeit. Die mittelrheinisch-wetterauische Ritterschaft befand sich parallel zur Etablierung des Reichskammergerichts in Speyer in einer institutionellen Formierungsphase.72 Vorausgegangen war diesem Vorgang, der bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts währte, einerseits der Gewinn einer personalpolitischen Dominanz oder gar Hegemonie über das Kurerzstift Mainz und dort insbesondere im Domkapitel und auf den Amtmannenpositionen. Andererseits hatte die Entwicklung der mittelrheinischen Ritterschaft eklatante Tiefpunkte – erinnert sei nur an das militärische Desaster der Sickingen-Fehde 1522/23 – gesehen. Auf dialektische Weise korrelierte beides miteinander und führte dazu, dass das Kurfürstentum Mainz zu einem politischen Gravitationszentrum des Adels im Reich und in der mittelrheinischen Region sowie zu einem reichsritterschaftlichen Hausstaat autonomer, wenngleich korporativ organisierter Reichsritter am Mittelrhein avancierte und bis zum Ende des Alten Reiches blieb. Schleichend hatten die ritterschaftlichen Familien des Mittelrheins das Mainzer Domkapitel nebst den angeschlossenen Kollegiatstiften zu dominieren verstanden. Ihre soziale Macht war dabei noch nicht vollends offenkundig geworden, insofern die Grafendynastie der Nassauer den Bischofsstuhl vereinnahmt hatte. Ihre und ebenso die Dominanz anderer Grafendynastien war allerdings mit dem Ende der zweiten Stiftsfehde (1459–1463) vorbei. Seit den Pontifikaten Jacobs von Liebenstein (reg. 1504–1508) und Uriels von Gemmingen (reg. 1508–1514) besetzten die mittelrheinisch-ritterlichen Familien ohne Unterbrechung den Bischofsthron und realisierten demnach aus ihrer sozialen Macht endgültig politische Macht. Darüber kann auch nicht die Wahl des Hohenzollern-Markgrafen Albrecht von Brandenburg 1514 hinwegtäuschen. Denn sie erfolgte angesichts

72 Zum Folgenden, sofern nicht anders angegeben, vgl. Alexander Jendorff: Verwandte, Teilhaber und Dienstleute. Herrschaftliche Funktionsträger im Erzstift Mainz 1514 bis 1647. Marburg 2003 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, Bd. 18); Rolf Decot: Das Erzbistum im Zeitalter von Reichsreform – Reformation – Konfessionalisierung (1484– 1648), in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 3/1: Neuzeit und Moderne. Würzburg 2002 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 6), S. 21–232; Volker Press: Kaiser Karl V., König Ferdinand und die Entstehung der Reichsritterschaft. Wiesbaden 1976 (Institut für Europäische Geschichte Mainz. Vorträge, Bd. 60); ders.: Kaiser und Reichsritterschaft, in: Endres, Rudolf (Hrsg.), Adel in der Frühneuzeit. Ein regionaler Vergleich. Wien 1991 (Bayreuther Historische Kolloquien, Bd. 5), S. 163–194.

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widriger reichs(verfassungs)politischer Umstände als Ergebnis der domkapitelischen Suche nach Rückversicherung und aufgrund des Mangels an geeigneten Alternativen aus den eigenen Reihen. Zudem war der dynastische Vorstoß der Hohenzollern an den Mittelrhein dazu angetan, die landgräflich-hessische Expansion in diesem Raum ebenso einzudämmen wie kurpfälzischen Vereinnahmungsversuchen – die Speyerer Bischofswahl des Jahres 1513 mochte als Fanal dienen – entgegenzuwirken. Der neue reichs- und kurfürstliche Koalitionspartner mochte auch ins Kalkül der ritterschaftlichen Familien passen, weil diese auf der reichspolitischen Ebene angesichts des fürstenfreundlichen Reichsverfassungsprozesses in Bedrängnis geraten waren. Die adelige Freiheit schien ernsthaft in Gefahr, und in der Tat erwies sich Albrecht von Brandenburg als ein Freund des mittelrheinischen Ritteradels. Denn eines war dem Hohenzollern ebenso schnell bewusst: Ohne die ritterschaftlichen Dynastien des Mittelrheins und der Wetterau war kurfürstliche Politik im Erzstift und in der Region nicht erfolgreich zu gestalten. So beließ er ihnen die politisch-administrativen Reservate, die sich in ihren Händen sozial verfestigten. Das Domkapitel wurde ebenso sozial immer hermetischer gegenüber Nicht-Ritterbürtigen wie gegenüber Nicht-Mittelrheinern abgeschlossen, während die Amtmannenstellen zum ausschließlichen Pfründenreservat der Angehörigen derselben Adelsformation wurden. Fortan entwickelte sich ein innerstiftisches Politiksystem, in dem die Kurerzbischöfe als domkapitelische Wahlkreaturen und in ihrer Erzkanzlerfunktion als Protektoren ihrer mittelrheinisch-reichsritterschaftlichen Herkunftsfamilien eine Politik des Ausgleichs und der Vermittlung, jedenfalls als selbsternannte Hüter des Rechtsweges verantworteten, die sich unter Kontrolle von und daher im Einvernehmen mit den dynastischen Eliten deren Standesinteressen auf das Amt des Reichserzkanzlers und unter Zugriff auf die damit verbundenen Ressourcen stützte. Die reichsritterschaftlichen Familien partizipierten am Erzstift, ohne ihm unterworfen zu sein. Es gehörte ihnen gleich einer Ganerbschaft gemeinsam, wenn auch in Konkurrenz und daher unter dem Zwang der steten Interessensabgleichung. Zugleich war ihnen der Wert der reichsverfassungspolitischen Stellung des Kurerzbischofs bewusst: Ohne diese wäre die Sicherung des Erzstifts so mühsam und gefährdet gewesen, wie es sich an den Hochstiften Worms und Speyer erwies. Dieser doppelten Einsicht – in den politischen Wert des Erzkanzleramts, in die Reichsinstitutionen und in die Organisation der Reichsritterschaft – war ein Lernprozess unter ihnen vorausgegangen. Als in Konsequenz der Sickingen-Katastrophe dieselben Ritterdynastien nach 1523 gezwungen waren, sich in das Reichsgefüge einzuordnen oder mediatisiert zu werden, obsiegten die Politiker unter ihnen. Erst die Einordnung in das Reichsverfassungsgefüge als kaiserunmittelbare Korporation gewährte und sicherte ihnen die jeweilige Eigenmacht und den Schutz vor Mediatisierung. Beide Vorgänge waren aufeinander bezogen, wenn auch

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nicht miteinander gekoppelt und erwiesen sich am Ende als zwei Seiten derselben (reichs-)ritterschaftlichen Erfolgsmedaille. Die Reformation und die konfessionelle Dichotomisierung stellten diese Einsichten sogleich auf harte Bewährungsproben, an deren Ende die adelige ratio des Erhalts der Eigenmacht obsiegte. Konkret meinte dies, dass die Mittelrheiner intrakorporativ einander als christliche Brüder und damit ihre Konfessionsverschiedenheit akzeptierten. Dem entsprach die konfessionelle Realität: Die reichsritterschaftlichen Dynastien waren inter- und auch intrafamiliär gespalten. Dennoch formierten sich innerhalb der Korporation bis weit ins 17. Jahrhundert keine Konfessionsfronten.73 Dieser Ratio entsprach auch der konfessionspolitische Umgang mit der erzstiftischen Ganerbenburg Mainz. Schleichend katholisierten sich sie Strukturen des Erzstifts, betrieben die Kurerzbischöfe Sebastian von Heusenstamm, Daniel Brendel von Homburg (reg. 1555–1582), Wolfgang von Dalberg (reg. 1582–1604), Johann Adam von Bicken (1601–1604) und Johann Schweikard von Kronberg (reg. 1604–1626) eine untridentinische, manchmal auch zögerliche, aber insgesamt stringente Reform- und bisweilen Gegenreformationspolitik. Sie traf noch in den 1570/80er Jahre auf den Widerstand der um ihre standesangemessenen Privilegien und ihren politischen Einfluss fürchtenden Domkapitulare. Doch wirkten die reichsritterschaftlichen Familien gleich welcher Konfession dem nicht entgegen. Schließlich profitierten sie von der mit der Katholisierung verbundenen Stabilisierung des Erzstifts. Dass mit Hartmut XIII. von Kronberg (1517– 1591) – dem Sohn des Bekenners und Vater des nachmaligen, als großer Gegenreformator gerühmten Kurerzbischofs – seit 1571 ein Protestant als Hofmeister amtierte, war kein Betriebsunfall oder verwandtschaftliches Zugeständnis, sondern Ausdruck des Mainzer Systems: Konfessionsdivergenz war akzeptiert, sofern die zentralen Systemstrukturen nicht tangiert wurden. Ein Systempartizipient mochte protestantisch sein, er musste allerdings die Katholizität des Kurerzstifts – d. h. des Kurerzbischofs und der Domkapitulare, die die professio fidei tridentina ablegen mussten – akzeptieren. Aus dieser Konstellation heraus gewann das Mainzer System seine Stärke.74  

73 Dagegen lässt sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert genau das Gegenteil im Zentrum der Mittelrheinischen Reichsritterschaft – auf der Burg Friedberg – nachweisen; vgl. Klaus-Dieter Rack: Die Burg Friedberg im alten Reich. Studien zu ihrer Verfassungs- und Sozialgeschichte zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert. Darmstadt 1988 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 72), S. 175–233. 74 Dass es daneben selbstverständlich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert zu (Re-)Katholisierungseffekten kam, weist nicht nur die familiäre Entwicklung im Hause Kronberg aus, sondern die konfessionelle Entwicklung der Reichsritterfamilien am Mittelrhein insgesamt.

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Damit verbunden war auch, dass die mittelrheinischen Reichsritter die Reichsinstitutionen – nicht zuletzt das Reichskammergericht – relativ vorbehaltslos akzeptierten. Der Anspruch auf eigene Austrägalgerichtsbarkeit bezog sich allenfalls auf intrakorporative Aspekte, nicht auf die Zuständigkeit des Reichskammergerichts in Angelegenheiten zwischen den Rittern, ihrer Korporation und anderen Reichsständen. Schließlich war ihr kurfürstlicher Protektor neben dem Kaiser der zweite Garant dieser Reichsinstitutionen. Für den Kraichgauer Ritteradel dürfen ähnliche Rahmenbedingungen angenommen werden.75 Im Unterschied zu den Mainzer Ritterdynastien konnte er jedoch nicht auf ein derart erträgliches und reichs- wie auch regionalpolitisches einflussreiches Pfründensystem zurückgreifen. Schon zum Mainzer Domkapitel hatte er nur begrenzten Zugang. Zudem hatten die Kraichgauer am Ende des 15. Jahrhunderts die Erfahrung gemacht, dass die Kurpfalzgrafen zielgerichtet die territorialen und regionalen Herrschafts- und Machbeziehungen nicht bloß durch personelle, immerhin strukturell auf Gegenseitigkeit beruhende Instrumente prägten, sondern sie zunehmend und immer öfter vorwiegend über juristische, d. h. über juridische, einseitig konzipierte, hierarchisierend wirkende Bindungen umgestalteten. Dies bildete sich sowohl in der Gestaltung der Jurisdiktionsverhältnisse als auch in der Konzeption der Adelsgenese ab. Noch während des 15. Jahrhunderts hatte sich der Kraichgauer Adel als Mitherrschaftsstand der wittelsbachischen Herrschaft am Mittelrhein empfinden können, der sich durch verschiedene Formen – neben der Belehnung auch die Übernahme von Verwaltungsämtern, Solddienste, Pfandschaften, Bürgschaften etc. – den Kurfürsten verpflichtet und von ihnen profitiert hatte. Mit der Regierung Philipps des Aufrichtigen (reg. 1476–1508) schien dieses Arrangement zu enden, insofern der Kurfürst versuchte, die Kraichgauer in die Landsässigkeit zu bringen. Bereits Friedrich I. hatte die Kraichgauer enger an sich zu binden gesucht, indem er mit ihnen individuelle Erbschirmverträge abgeschlossen und ihnen damit die Verpflichtung auferlegt hatte, den Rechtsaustrag exklusiv vor kurfürstlichen Gerichten – gerade vor seinem 1462/79 gegründeten Hofgericht – zu suchen.76 Für seinen Neffen und Nachfolger Philipp stellte das kaiserliche  

75 Vgl. A. Gustav Kolb: Die Kraichgauer Ritterschaft unter der Regierung des Kurfürsten Philipp von der Pfalz, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte NF XIX 1910, S. 1– 154; Volker Press: Die Ritterschaft im Kraichgau zwischen Reich und Territorium 1500–1623, in: ZGO 122 NF 83 (1974), S. 3–98; Stefan Rhein (Hrsg.), Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit. Sigmaringen 1993 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 3); Kurt Andermann/ Christian Wieland (Hrsg.), Der Kraichgau: Facetten einer Landschaft. Epfendorf 2008 (Kraichtaler Kolloquien, Bd. 6). 76 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 78–96; ders.: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 38 f.  

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Mandat Friedrichs III. an die Ritterschaft, dem Schwäbische Bund beizutreten, den willkommenen Anlass dar, 1488 darauf hinzuweisen, die Kraichgauer seien keine Schwaben, sondern seine Ritterschaft.77 Da eine Einigung der Ritter insgesamt nicht möglich war – auf mehreren Versammlungen in Heidelberg akzeptierte nur ein Teil von ihnen die Forderungen Philipps –, beschlossen die in Speyer im Dezember 1488 zusammengekommenen Ritter eine Einung, die unter anderem einen eigenständigen rechtlichen Austrag vorsah, um das Hofgericht zu umgehen. Dennoch betonten sie bei den weiteren Verhandlungen mit dem Kurfürsten ihre Verbundenheit mit diesem als Lehens- und Dienstherrn und ihre Zugehörigkeit zum Fürstentum Pfalz. Die Speyerer Einung von 1488 blieb so gesehen zwar in Ansätzen stecken, und es gelang dem Kurfürsten sogar, die Ritter aus dem Schwäbischen Bund herauszuhalten und sich damit gegenüber dem Kaiser durchzusetzen. Doch förderte dieser Vorgang die selbstständigere Organisation und den Konsolidierungsprozess der Gruppe als Korporation, der sich allerdings noch mehrere Jahrzehnte hinzog. Die Kraichgauer suchten um die Jahrhundertwende den Anschluss an den Schwäbischen Reichsritterkreis, orientierten sich also institutionell-korporativ in eine ganz andere Region und zu einer Ritterschaft hin, deren deutliche Mehrheit im Konfessionszeitalter im Gegensatz zu den Kraichgauern strikt altgläubig blieb. Nach der offiziellen Protestantisierung der Kurpfalz in der Mitte des 16. Jahrhunderts sahen sich die Kraichgauer Ritter insofern vor das Problem gestellt, einem dezidiert katholisch dominierten Ritterkreis anzugehören, um den Subordinationsversuchen der protestantischen Regionalmacht zu entgehen, was zu einer doppelten Singulärposition, sogar zu einer doppelten Entfremdung führte.78 Parallel zu solchen ritterschaftlichen Distanzierungsversuchen und kurfürstlichen Subordinationsstrategien des Kurpfalzgrafen entwickelte sich am Heidelberger Hof eine Auffassung von der Herkunft des Adels, die für die Kraichgauer Ritterschaft ebenso gefährlich wirken konnte. In einem 1505 vom Kurfürsten in Auftrag gegebenen Gutachten wurde die Auffassung fixiert, die Adeligkeit einer Person resultiere aus ihrer sozialen Akzeptanz beim Fürsten und bei anderen Adeligen, aus dem Konnubium und der Turnierteilnahme, aus Adelslehen sowie aus dem Fürstendienst bei Hofe, in der Territorialverwaltung oder im Krieg.79 Kritisch wurden die eigentlich selbstverständlichen und akzeptablen Kriterien

77 Vgl. Kolb: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 45–77. Zum Schwäbischen Bund vgl. Horst Carl: Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation. Leinfelden-Echterdingen 2000 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 24). 78 Vgl. Press: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 47, 50–52. 79 Vgl. Kolb: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 23 f.  

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durch die Annahme ihrer Evaluations- und Konfirmationsabhängigkeit in den Händen der Fürsten bzw. ihrer Räte. Der Gutachter gestand demnach letztlich ihnen die Nobilitierungshoheit zu. Ein solches Adelsverständnis musste für die Kraichgauer wie auch für andere Adelsformationen gefährlich, ja in dieser Phase des Reichsverfassungsprozesses existenzbedrohlich erscheinen, barg es doch unabsehbare Risiken für die adelige Freiheit im Sinne des Erhalts adeliger Handlungsautonomie und Eigenmacht. Verschärft wurde die Position der Kraichgauer infolge des Übergangs der Kurpfalz zum Calvinismus. Die bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts dominante Präsenz des Ritteradels im pfälzischen Hofrat und sein Einfluss auf die kurfürstliche Politik schwanden seitdem unübersehbar, gerade auch in Religionsfragen. Die bis dahin allen – eher auch gewaltlos ausgetragenen – Konflikten zum Trotz selbstverständliche Verbindung zwischen Kurpfalzgrafen und Ritterschaft litt darunter, riss beinahe gänzlich ab und wurde nur noch ansatz- bzw. zeitweise gepflegt.80 Die mit Friedrich III. einsetzende Calvinisierung der Kurpfalz stellte sich den lutherischen Kraichgauern deshalb als so bedrohlich dar, weil sie eine fundamentale Loyalitätsfrage aufwarf: Hält man es mit dem kaiserlichen Garanten der Reichsverfassung oder mit dessen besten, aber reichsrechtlich gefährdeten, weil calvinistischen Konfessionsgegner? Entweder band man sich ganz an ihn und ging auf unüberbrückbare Distanz zur Kurpfalz oder man näherte sich ihr konfessionspolitisch an und entfremdete sich damit vom kaiserlichen Oberherrn. Die Ritter standen also vor einem Entscheidungszwang, der ihnen die üblichen Handlungsspielräume zu rauben drohte. Sie zahlten nun den politischen Preis für ihre verfassungsrechtliche und institutionelle Einordnung ins Reich, die die alten (Ver-)Bindungsinstrumente – die Lehenspolitik, die Dienstnahme und die Klientele – auszuhebeln drohten.81 Der Frühneuzeithistoriker mag diese Entwicklung als Charakteristikum des Konfessionszeitalters begreifen. Sie stellte gleichwohl kein Novum dar, vielmehr gehörte sie zum stets ambivalenten Verhältnis der Ritter zu den Kurpfalzgrafen. Bereits am Ende des 15. Jahrhunderts hatte es ähnliche Krisenmomente gegeben. So hatte bspw. der langjährige Hofmeister des Kurfürsten Philipp – Blicker XIV.

80 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 190–198; ders.: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 49, 55–60. Der personalpolitische Umschwung machte sich mit dem offiziellen Übergang der Kurpfalz zum Protestantismus bemerkbar, nur störte er die Verhältnisse damals noch nicht, weil sich der Protestantismus der nicht-adeligen Räte und Funktionsträger mit dem dezidierten Luthertum der adeligen Funktionäre nicht stieß, sondern noch ergänzte. Entscheidend war allerdings später, dass der Übergang zum Calvinismus mit den nicht-adeligen Räten besser zu vollziehen war als mit den Rittern. 81 Vgl. Press: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 52 f., 56 f.  



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Landschad von Steinach (ca. 1435–ca. 1499) – im Konflikt mit dem aus Sachsen stammenden Aufsteiger und einflussreichen Hofmarschall Hans von Dratt 1484 seine Position aufgegeben, nachdem der Kurfürst sich 1484 für diesen und gegen den Kraichgauer positioniert hatte. Hierbei hatte es sich um einen Konflikt innerhalb des Adels gehandelt, in dessen Hintergrund die Frage nach der Adeligkeit und damit verbunden die Frage nach der Abhängigkeit des Adels vom Fürsten stand; und immerhin erfolgte 1494 die Aussöhnung des Landschaden mit Kurfürst Philipp.82 Im Gegensatz dazu stand die Qualität der Beziehungen und insbesondere der Konflikte zwischen dem Heidelberger Hof und den Kraichgauer Rittern seit der Mitte des 16. Jahrhunderts: Nicht nur zielten die Kurpfalzgrafen gerade in der Regierungszeit Johann Casimirs auf die Degradierung und Landsässigmachung der Ritter, sie bezogen sie auch kaum mehr in ihre Politik ein. Unter aktiver, ja antreibender Mithilfe nicht-adeliger Regierungsbeamter – wie Justus Reuber, der auch am Speyerer Reichskammergericht tätig gewesen war – betrieb die kurpfälzische Regierung gegenüber den Rittern eine aggressiven Politik, die neben physischer Gewalt insbesondere auf juridifiziertem Konfliktaustrag – also auf juristischen Gutachten und Prozessen – beruhte.83 Religionskonflikte wurden auf diesem Wege schnell zu territorialpolitischen bzw. reichsrechtlichen Konflikten. Personalpolitisch machte sich dies einerseits in der Verdrängung der Ritter durch reformierte nicht-adelige Beamte und Wetterauer Grafen kenntlich, andererseits in der zielgerichteten Kreation eines neuen landsässigen Lehensadels sowie in dem Zwang für neue Dienstleute, einen Bestallungsrevers zu unterschreiben, die ihnen die Mitgliedschaft in reichsritterschaftlichen Korporationen untersagten.84 Beides – der Einsatz des Rechts als Subordinationswaffe und Ansätze zur Umgestaltung des Adels – waren bekannte Instrumente, die allerdings konfessionell aufgeladen wurden. Erst nach dem Tode des Kuradministrators 1592 entspannte sich das Verhältnis zwischen Heidelberg und den Kraichgauern, um sich nach 1599 jedoch wieder zu verkrampfen.85 Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis zwischen (reichs-)ritterschaftlichem Adel und Recht bzw. Justiz zu beleuchten. Das Reichskammergericht stellte für den Kraichgauer Ritteradel mit der Zeit einen Anker des Selbstanspruchs und der Selbstbehauptung dar; und dies nicht zuletzt weil die Kraichgauer – wie ihre benachbarten Niederadelsformationen am Mittelrhein auch – zügig die Macht des

82 Vgl. Steffen Krieb: Anfang, Ursprung und Herkommen. Studien zur Erinnerungskultur des Niederadels im späten Mittelalter. Habilitationsschrift der Universität Freiburg 2016 mit entsprechenden Literaturhinweisen. Die Drucklegung erfolgt demnächst. 83 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 279 f. 84 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 193 ff.; Press: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 55–66. 85 Vgl. Press: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 67–74.  



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Rechts, der Jurisdiktion und des Rechtswissens als politische Instrumente in Fragen des Statuserhalts, der Standeswahrung und der Sicherung adeliger Einzelinteressen begriffen hatten. Mochten nicht wenige Standesangehörige noch bis weit ins erste Drittel des 16. Jahrhunderts den gewaltsamen Konfliktaustrag als selbstverständliches Instrument der Realisierung adeliger Eigenmacht verstehen, hatte sich bei ebenso vielen und gleichzeitig die Einsicht in die Unaufhaltbarkeit der Juridifizierung von politischen Beziehungen und in die Notwendigkeit ihrer Nutzung durchgesetzt. Die Kraichgauer Ritter lehnten die kurpfälzische Justizhoheit – also die Zuständigkeit des Hofgerichts – ihnen gegenüber selbstverständlich ab, und ebenso selbstverständlich partzipierten sie an ihr einflussreich, indem sie umfänglich die Richter- und Ratsstellen besetzten.86 Daraus lässt sich gleichermaßen erschließen, dass es sich bei adeligen Hofgerichtsräten wie auch bei anderen höheren kurpfälzischen Funktionsträgern um juristisch gebildete Personen handelte, die ihre Kenntnisse durch ein juristisches Studium und/oder Verwaltungs-, d. h. eben auch Rechtspraxis erworben hatten. Beim Kraichgauer und mittelrheinischen Niederadel handelte es sich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert demnach keineswegs um strukturell ungebildete – gerade nicht juristisch ungebildete – Fehderitter, sondern um das genaue Gegenteil: um geschultes Fachpersonal, das seine Fähigkeiten in den Fürstendienst stellte und zugleich mit beidem die eigenen und Standesinteressen zu verteidigen suchte. Das im 16. Jahrhundert vermehrt beobachtbare Rechtsstudium Adeliger – selbst wenn es nicht immer akademische Titelfrüchte trug – setzte diese Entwicklung im gesamten Reich fort und belegte den Willen des Adels, sich intensivierten Anforderungen anzupassen und neue Chancen zu ergreifen.87 Von diesem Punkt aus ist die Bedeutung des Reichskammergerichts für das Verhältnis zwischen den Kurpfalzgrafen und den (Reichs-)Rittern zu gewichten. Es ließe sich nämlich auch sagen, dass die seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts intensivierten kurpfälzischen Mediatisierungsversuche eine Reaktion auf die Gründung des Reichskammergerichts und dessen Etablierung in Worms bzw. Speyer darstellten. Denn das Gericht war auch als Appellationsinstanz konzipiert, die gerade dem Adel, aber auch dem Klerus willkommen sein konnte, zumal es in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft lag.88 Obwohl die reichsritterschaftlichen Korporationen die rechtlichen Austräge in den eigenen Reihen und Institu 

86 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 79 f., 82 ff. 87 Allgemein zu diesem Komplex vgl. Christian Wieland: Nach der Fehde. Studien zur Interaktion von Adel und Rechtssystem am Beginn der Neuzeit: Bayern 1500 bis 1600. Epfendorf/ Neckar 2014 (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 20), S. 114–117, 191; Press: Ritterschaft (wie Anm. 75), S. 49; ders.: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 38 f. 88 Vgl. Press: Calvinismus (wie Anm. 50), S. 91.  





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tionen zu halten versuchten und sogar die Appellation am Reichskammergericht wie am Reichshofrat bei intrakorporativen Konflikten zu unterbinden suchten, kam es doch zu erheblichen Austauschmomenten.89 So sehr die Gründung des Reichskammergerichts den Interessen des Niederadels entgegenkam und so sehr er an der Juridifizierung der Politik partizipierte, so wenig eindeutig blieb sein Verhältnis zum Recht und zur Rechtspraxis. Diese Ambivalenz erscheint widersprüchlich, sie war aber dialektischer Natur, weil sie die Adeligkeitsfrage tangierte und weil sie die Meinungsvielfalt im Niederadel auswies. So erschien 1619 unter dem Titel „Treuhertzige und wohlmeinende Erinnerung / an den uhralten Teutschen / Ritterlichen Adel der löblichen befreyten Reichsritterschafften in Schwaben / Francken und am Rhein“ eine anonyme Druckschrift, in der zwecks Konsolidierung des konfessionellen Konsenses unter den Reichsrittern die Rolle des Reichskammergerichts positiv bewertet wurde. Ausgehend von der Klage über die fortwährende Statusminderung durch andere Reichsstände und deren Gerichte, die die Reichsritter dem landsässigen Adel gleichzusetzen bestrebt seien, lobte der Autor zwar die Existenz des Reichskammergerichts, doch bemängelte er seine Langsamkeit und den daraus resultierenden defizitären Schutz der reichsritterschaftlichen Interessen. Daher beurteilte er den juridischen Konfliktaustrag auch nur eingeschränkt positiv. Vielmehr stilisierte er unter heftigen Anwürfen gegen die Juristen die Tradition der gütlichen Einigung unter Standesgleichen und forderte die Adressaten auf, dieses Mittel zur Wahrung der Standesinteressen zu verwenden und in adeliger Weise zu leben.90 Solche Auffassungen waren keine Ausnahme, auch nicht im Kraichgauer Adel. In seiner zwischen 1631 und 1635 verfassten, ungedruckt gebliebenen Abhandlung „Gemmingischer Stammbaum“ warf Reinhard von Gemmingen-Hornberg (1576– 1635) ebenfalls einen kritischen Blick auf die Justiz. Vor dem Hintergrund der mit dem Calvinismus einhergehenden verstärkten Subordinationsbemühungen Heidelbergs, auf die er explizit einging, stellte er die Rolle des Speyerer Reichskammergerichts heraus. Für Gemmingen stellte es die gewissermaßen die gute Justiz dar, weil es sich als Symbol und Bollwerk der ausschließlichen Kaiserunmittelbarkeit der Reichsritter und zugleich als Symbol der Reichsordnung und kaiserlichen Autorität. Im Gegenzug erschienen ihm als schlechte Justiz all jene

89 Dagegen mit einer anderen Auffassung hinsichtlich der Rezeption des Reichskammergerichts durch die Reichsritterschaften und deren Partizipation an ihm: Heinz Duchhardt: Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: ZHF 5 (1978), S. 315–337 (hier S. 318–320). Siehe hierzu auch die Anmerkungen von Anette Baumann: Die Gesellschaft der frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 36), S. 69 f. 90 Vgl. Wieland: Fehde (wie Anm. 87), S. 162–164.  

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Rechtsinstanzen fürstlicher Provenienz, die den Reichsadel und mit ihm das Reich angriffen. Allerdings blieb auch bei Gemmingen die Rolle des Reichskammergerichts aus ständischer Sicht nicht undiskutiert. So sehr es die standespolitischen Interessen schützte, so sehr trug es nach Gemmingens Ansicht innerhalb der Reichsritterschaft eben nicht zur Solidarität, zu Konsens und Friedenswahrung bei, sondern zum Gegenteil. Der juridische Konfliktaustrag fördere die libido litigandi und das studium lites protrahendi, anstatt – wie die tradierten Formen adeligen Austrags – zur Konfliktvermeidung oder -beilegung beizutragen.91 Die Kraichgauer Reichsritter wie auch die Mittelrheiner wussten demnach gegenüber dem zeitgenössischen Justizsystem im Allgemeinen wie gegenüber dem Reichskammergericht im Besonderen gleichermaßen und im selben Atemzug Distanz und Nähe, Ablehnung und Vereinnahmung, Lob und Kritik zu realisieren, je nachdem wie die niederadeligen Interessen tangiert waren bzw. je nachdem welches Ausprägungsfeld von Adeligkeit tangiert wurde.

3 Fazit In dem von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure, Formationen und Interessen geprägten Umfeld des Mittelrheingebietes wuchs das Speyerer Reichskammergericht in ein Umfeld hinein, dessen Komplexität mit der Reformation nochmals um einen weiteren Einflussfaktor angereichert wurde. Dabei wälzte die Reformation die bestehenden regionalpolitischen Strukturen nicht um, sie reicherte sie allerdings mit der Stringenz der neuen Eigenlogik der konfessionellen Dichotomisierung an. Daraus resultierte nicht zwangsweise eine Totalkonfrontation unter den konfessionsverschiedenen, nicht selten konfessionsambivalenten Akteuren und eine Dauerparalysierung der regionalen Beziehungen, sehr wohl aber punktuelle Neuqualifizierungen traditioneller Konfliktthemen und -felder, die durchaus mit Frontbildungen einhergehen konnten. Es war für das Mittelrheingebiet einerseits symptomatisch, dass solche Entwicklungen nicht eindeutig entlang von Konfessionsfronten, sondern quer zu den konfessionellen Lagern verliefen und dass die Akteure den Konfessionskonflikt lange Zeit zu mildern oder zu verhindern versuchten. Andererseits bot die konfessionelle Dichotomisierung die Chance, neue Koalitionspartner zu finden und die regionalen Verhältnisse im eigenen Interesse neu zu gestalten. Das Reichskammergericht erfuhr vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklung und in dem Maße, in dem es in die Region hineinwuchs, von allen

91 Vgl. Wieland: Fehde (wie Anm. 87), S. 158–162.

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Akteuren einen lebhaften Zuspruch. Die bestehenden oder neu generierten Konflikte in der Region lösen konnte es nicht. Das sollte es letztlich jedoch nicht zwingend. Denn das Reichskammergericht stellte viel weniger ein Problemlösungsinstrument als vielmehr eine neue Bühne des Konfliktaustrags dar, um gemeinsam zu irgendwie akzeptablen Lösungen zu gelangen. Der Zuspruch der zeitgenössischen Akteure – und zwar faktisch aller, nicht bloß der sogenannten Großen – resultierte aus ihrem Interesse an der Rechtsinstitution als Forum der Interessenerhalts bzw. Interessendurchsetzung, weil Recht als politische Waffe verstanden und entsprechend eingesetzt wurde.

IV Zugang zu neuen Quellen

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Reichskammergerichtspersonal in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689 Die freie Reichsstadt Speyer wurde 1527 zum Sitz des Reichskammergerichts und sollte dies auch bis zur Stadtzerstörung im Jahre 1689, also über 160 Jahre lang, bleiben. Speyer wurde dadurch im Alten Reich zu einer Drehscheibe des Rechtsgeschehens einerseits, wie auch zu einer Drehscheibe der persönlichen Beziehungen der agierenden Personen. Die Wahl Speyers zum festen Sitz des Reichskammergerichts fällt in die Frühphase der Reformation, die nur zwei Jahre später auf dem Reichstag zu Speyer mit der Protestation ein Zeichen setzte und mit der Bestellung des ersten evangelischen Predigers Michael Diller im Jahr 1540 in der Stadt selbst Einzug hielt. Nach und nach konnte die Reformation lutherischer Prägung dauerhaft Fuß fassen. Es verging freilich ein halbes Jahrhundert, bis eine sehr praktische Überlegung den (lutherischen) Rat der Stadt Speyer bewog, die Anlegung von Taufbüchern in der Augustiner-, der Dominikaner- (Prediger-) und der Hospitalkirche St. Georgen anzuordnen: wollten Speyerer Bürger an auswärtigen Orten heiraten oder das Bürgerrecht erlangen, so mussten sie jeweils einen Nachweis ihrer ehrlichen, d. h. ehelichen, Geburt vorlegen. Dies angesichts fehlender Aufzeichnungen durch die Benennung geeigneter Zeugen zu bewerkstelligen, hatte sich offenbar in vielen Fällen als schwierig bis unmöglich erwiesen. Am 25. Juni 1593 gab also – wie es Ratsschreiber Hermann Scheffer gleichlautend auf der ersten Seite der neuen Kirchenbücher vermerkte – der Rat die Anweisung an alle evangelischen Kirchen, ein besunder Buch zu halten, darein der Kirchendiener nit allein die jenigen Kinder, so er in derselben Kirchen, sunder auch außerhalb in Notfellen in den Heusern taufft, mit iren Namen, und wer derselben Eltern und Gevattern seien, mit Fleiß einschreiben unnd verzeichnen soll, damit, ob sich in künffter Zeit, wie bißher vielmals beschehen, zutrüge, das Burgers Kinder oder andere, alhie geboren, umb iren Geburtsbrieff zu holen, alher khomen und niemants von Burgern oder andern fünden, so umb derselben Ankunfft oder denen Eltern Wissens haben wollten, denselben aus solchen Büchern beglaubten Schein mitgetheilt werden möcht.

Anmerkung: Der vorliegende Beitrag basiert weitgehend auf der Neuerscheinung des Verfassers: Hans-Helmut Görtz: Reichskammergerichtspersonal und andere Personen in der Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689. Speyer 2015. Die Quellen werden im folgenden Text daher nur angegeben, insofern sie über die im Buch vorliegenden umfangreichen Quellenangaben hinausgehen.

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Bei den neuen Kirchenbüchern handelte es sich folgerichtig um reine Taufbücher, denn einer Aufzeichnung von Eheschließungen oder Sterbefällen bedurfte es nicht, um dem Anliegen des Rates gerecht zu werden. Die Taufbücher von Predigerkirche und St. Georgen haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten1, vom entsprechenden Taufbuch der Augustinerkirche fehlt jedoch leider jede Spur.

Netzwerke Bereits der erste Eintrag im Taufbuch der Predigerkirche – es handelt sich um einen Nachtrag für eine am 25. Januar 1593 stattgehabte Taufe – betrifft Personal des Reichskammergerichts: dem RKG-Assessor Dr. Sigismund Buchner und seiner Ehefrau Clara Weyermann wurde ein Söhnlein Sigismund aus der Taufe gehoben, dem zu Gevatter standen der RKG-Assessor Dr. Ulrich Stieber und der RKGAdvokat und -Prokurator Dr. Leonhard Wolff sowie die Ehefrau des RKG-Assessors Dr. Johann Adam Mörder. Ist es zwar ungewöhnlich, dass in diesem Fall der Täufling keinen der Namen der Paten trägt, so entspricht es doch einem später noch vielfach anzutreffenden Muster, dass die Paten dem Kreis der Standesgenossen zuzurechnen sind. Die Patenschaften sind somit eines der wichtigen Elemente, die einen Blick auf die sich formierenden Netzwerke gestatten. So übernimmt der genannte Dr. Sigismund Buchner selbst zwischen 1594 und 1604 sieben Patenschaften, davon vier bei Kindern von RKG-Angehörigen, nämlich des RKGAssessors Dr. Johann Jakob Meyfisch von Kranchsburg, der RKG-Advokaten und -Prokuratoren Dr. Werner Bontz und Dr. Christoph Stauber sowie des RKG-Kanzleikopisten Laurentius Gerlach. Damit nicht genug: Dr. Sigismund Buchners Ehefrau Clara geb. Weyermann erscheint zwischen 1593 und 1604 ebenfalls siebenmal als Taufpatin, auch sie zweimal als Patin von Juristen-Kindern, nämlich des RKG-Assessors Dr. Johann Ludwig Binder und des RKG-Advokaten Dr. Peter Paul Steurnagel. Nicht zu vergessen Dr. Sigismund Buchners Tochter Clara, zu deren zwischen 1611 und 1614 getauften vier Patenkindern die beiden Zwillingssöhne des RKG-Advokaten und -Prokurators Dr. Johann Philipp Hirter zählen. Dass sich das Bild auch in der 2. Hälfe des 17. Jahrhunderts in dieser Hinsicht kaum verändert, mag das Beispiel des RKG-Advokaten und -Prokurators Dr. Johann Georg von Gülchen zeigen. Er selbst tritt zwischen 1645 und 1673 15mal als Taufpate auf: Unter seinen Patenkindern finden sich 2 Täuflinge von RKGAssessoren (Dr. Samuel Brunner und Dr. Georg Friedrich Mohr), 7 Täuflinge von

1 Stadtarchiv Speyer, Best. 141 (Kirchenbücher), 1 u. 2.

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RKG-Advokaten und -Prokuratoren (Dr. Johannes Deckherr, Dr. Abraham Ludwig von Gülchen (Bruder), Dr. Moritz von Gülchen (Bruder), Dr. Friedrich Jakob Küehorn, Dr. Gotthard Johann Marquard, Dr. Carl Mieg und Lic. Henrich Zinck) sowie 2 Täuflinge der Speyerer Ratskonsulenten Dr. Johann Bösch und Dr. Wolfgang Jakob Piccart. Sibylla Catharina geb. Küehorn, die Ehefrau (1683 Witwe) von Dr. Johann Georg von Gülchen, übernahm zwischen 1648 und 1682 achtmal das Patenamt, davon siebenmal bei Kindern von RKG-Advokaten und -Prokuratoren, nämlich Dr. Paul Gambs, Dr. Henrich Wilhelm Erhard, Dr. Johann Georg Erhard, Dr. Vinzenz König, Dr. Johann Hermann Schaffart, Dr. Johann Ulrich Weidenkopf und Dr. Bernhard Dietrich Zythopäus gen. Brauer, sowie eine Patenschaft beim Speyer Stadtschreiber Johann Christmann Augsburger. Die Netzwerkbildung manifestiert sich freilich nicht nur in den Patenschaften, sondern noch weit augenfälliger in den Eheschließungen. Handelt es sich bei den Matrikeln von Predigerkirche und St. Georgen zwar um reine Taufbücher, so lassen sie doch in vielen Fällen direkt oder indirekt Rückschlüsse auf die Herkunft der Ehefrauen zu. So war RKG-Assessor Dr. Marcus Hubini von Gülchen mit Susanna, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johann Jacob Kremer, RKG-Assessor Dr. Thomas Merckelbach mit Barbara, Tochter des RKG-Advokaten Lic. Jacob Erhard, RKG-Assessor Dr. Thomas Michaelis mit Anna Elisabeth, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Bernhard Küehorn und RKG-Assessor Dr. Georg Friedrich Mohr mit Anna Euphrosina, Tochter des RKG-Assessors Marcus Hubini von Gülchen verheiratet. Aus den noch zahlreicheren ehelichen Verbindungen zwischen RKG-Advokaten bzw. RKG-Prokuratoren und Juristen-Töchtern seien nur beispielhaft genannt: vor 1594 Dr. Marsilius Bergner mit Sophia, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Malachias von Rammingen, 1616 Oktober 28 Dr. Georg Goll mit Catharina, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Melchior Kürwang, 1629 November 17 Dr. Johann Ulrich Stieber mit Justina Margaretha, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Cornelius Ameys, 1641 Mai 10 Dr. Conrad Blaufelder mit Rosina Barbara, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johann Reinhard Küehorn und Witwe des RKGAdvokaten Dr. Johann Vergenius, vor 1646 Dr. Paulus Gambs mit Johanna Rosina, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johannes Hesler, vor 1648 Dr. Johann Marx Giesenbier mit Clara Elisabeth, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johann Ulrich Stieber, 1660 Januar 24 Dr. Johann Reinhard Capp mit Catharina Cäcilia, Tochter des RKG-Advokaten Lic. Vinzenz Möller, 1665 RKG-Advokat Dr. Friedrich Ploennies mit Johanna, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johann Isaac Andler, und 1667 April 23 mit Euphrosina Maria, Tochter des RKG-Assessors Dr. Samuel Brunner. Diese Eheschließungen sind gewissermaßen als horizontale Achsen der Netzwerkbildung aufzufassen, und dies auch durchaus im geographischen Sinne, wenn man die Herkunft der Personen in den Blick nimmt: Dr. Cornelis Ameys stammte aus Frankfurt, Dr. Johann Isaac Andler aus Tübingen, Dr. Marsilius

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Bergner aus Stauf in der Diözese Worms, Dr. Conrad Blaufelder aus Crailsheim, Dr. Samuel Brunner aus Kitzingen, Dr. Johann Reinhard Capp aus Speyer, Dr. Paulus Gambs und Dr. Georg Goll aus Straßburg, Dr. Marcus Hubini von Gülchen aus Limburg, Dr. Johannes Hesler aus Frankfurt, Dr. Johann Jacob Kremer aus Worms, Dr. Bernhard Küehorn aus Frankfurt, Dr. Johann Reinhard Küehorn aus Speyer, Dr. Thomas Merckelbach aus Soest, Dr. Thomas Michaelis aus Soest, Dr. Georg Friedrich Mohr aus Ansbach, Lic. Vinzenz Möller aus Hamburg, Dr. Friedrich Ploennies aus Lübeck und Dr. Malachias von Rammingen aus Biberach. Bei den in Speyer geborenen Dr. Johann Marx Giesenbier, Dr. Melchior Kürwang und Dr. Ulrich Stieber handelte es sich bereits um die zweite Generation, denn schon ihre Väter waren RKG-Advokaten bzw. -Prokuratoren in Speyer gewesen: Dr. Barthold Giesenbier stammte aus Herford, Dr. Georg Kürwang aus Germersheim und Dr. Henrich Stieber aus Annweiler. Dieser Umstand verweist auf die sozusagen vertikale Dimension des Beziehungsnetzwerkes am Reichskammergericht zu Speyer: man wurde in eine Juristenfamilie geboren und wurde dann selbst Jurist, ein Muster, das sich teils über viele Generationen hinweg wiederholte. Besonders eindrucksvoll wird dies deutlich am Beispiel der Familien Stieber (6 Generationen), Küehorn (4 Generationen), von Gülchen (3 Generationen) und Weidenkopf (5 Generationen).

Juristenfamilie Stieber Von Jurisconsultus Jakob Stieber, dem frühesten Ahnen der Familie Stieber aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts ist nur bekannt, dass er Rat verschiedener Stände des Alten Reiches war. Sein Sohn Johann Stieber wurde unter Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken Notar und Sekretär2 und später dann Kanzler. In dieser Funktion begleitete er beispielsweise Herzog Wolfgang zur Wahl des späteren Kaisers Maximilian II. zum römischen König am 24. Nov. 1562 nach Frankfurt.3 Nach dem Tod von Herzog Wolfgang im Jahr 1569 war er unmittelbar in dessen Testamentseröffnung eingebunden4. Als Johann Stieber 1585 starb,

2 So in einer Urkunde vom 22. Sept. 1554, siehe Andreas Neubauer: Regesten des ehemaligen Benediktiner-Klosters Hornbach, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 26 (1903), S. 899. 3 Achilles August von Lersner: Der weit-berühmten freyen Reichs-, Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am May Chronica, Frankfurt 1706, S. 166 u. 191: Mit und bey Hertzogen Wolffgang, Pfaltzgraffen, [. . .] so den 30. Octob. ankommen […] Johann Stieber, Cantzler, Cantzley-Verwalter. 4 Gantz kurtz-gefaste Haupt-Gründe, worauf die Sr. Hochfürstlichen Durchlaucht zu Pfaltz-Birckenfeldt offenbahr zustehende Zweybrückische Successions-Befugnüße […] beruhen. o.O. 1725,

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hinterließ er die aus der Ehe mit Sophia Brechtel hervorgegangenen Söhne Ulrich, Henrich und Ludwig. Während Ludwig als Kanzleisekretär in Diensten des pfälzischen Kurfürsten stand, wirkten Ulrich (* um 1560, † nach 1619, verheiratet mit Christina Reichart) und sein Bruder Henrich, beide „Juris Utriusque Doctor“ (künftig: J.U.D.), als RKG-Advokaten und -Prokuratoren zu Speyer. Henrich (1569–1612), in Annweiler geboren und 1595 in Basel zum Doktor beider Rechte promoviert, war ab dem 10. Dez. 1602 Advokat am Reichskammergericht zu Speyer. Wohl im Jahr 1601 hatte er dort Anna Maria Streitter, Witwe des RKGAdvokaten Lic. Jacob Erhard (um 1545–1600), geheiratet. Der Sohn Johann Ulrich Stieber (1602–1673) setzte nach dem frühen Tod des Vaters Henrich die juristische Tradition der Familie fort, indem er 1628 den Doktorgrad beider Rechte – wie der Vater in Basel – erwarb und danach am 3. April 1633 zunächst Advokat und 21. Juni des gleichen Jahres Prokurator am Reichskammergericht zu Speyer wurde. Johann Ulrich Stieber war nicht weniger als viermal verheiratet: in erster Ehe heiratete er 1629 Justina Margaretha Ameis († 1639), Tochter des RKG-Advokaten Dr. Cornelius Ameis, in zweiter Ehe 1640 Anna Catharina Hütteroth († 1644), Witwe von Johann Georg Notter, Pfarrer zu den Predigern zu Speyer, in dritter Ehe 1646 Agatha Barbara Merckelbach († 1659), Tochter des RKG-Assessors Dr. Thomas Merckelbach, und schließlich in vierter Ehe 1661 Maria Catharina Glandorf verw. Staud, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Justus Glandorf. Aus den ersten drei Ehen gingen zahlreiche Kinder hervor. Die Töchter heirateten ausnahmslos wiederum Juristen: Sophia Magdalena (1633–?) den RKG-Advokaten Dr. Abraham Ludwig von Gülchen, Justina Margaretha (1635–1683) den RKG-Advokaten Dr. Ulrich Zeller, Anna Rosina (1637–1703) in erster Ehe den RKG-Advokaten Dr. Wilhelm Henrich Goll, in zweiter Ehe den Württembergischen Rat Dr. Ulrich Zeller, in dritter Ehe den Tübinger Professor Dr. Wolfgang Lauterbach, Clara Elisabeth (* nach 1645, † nach 1681) den RKG-Advokaten Dr. Marx Giesenbier. Der Sohn Ulrich Henrich Stieber (1631–1710) wurde 1659 in Tübingen promoviert, war 1664 Stadtsyndikus zu Goslar und starb als braunschweig-lüneburgischer Rat in Braunschweig. Aus seiner 1661 in Brauschweig geschlossenen Ehe mit Eva Sophia Baumgart verw. Breuning († 1675), Tochter des Braunschweiger Stadtsyndikus Dr. Hermann Baumgart, gingen die Söhne Johann Ulrich und Rudolph August hervor. Johann Ulrich Stieber (1662–1717), in Braunschweig geboren, wurde 1688 in Rinteln zum Doktor beider Rechte promoviert und starb als braunschweiglüneburgischer Hofgerichtsassessor, sein Bruder Rudolph August Stieber (1671–

Num. V: [Neuburg den 23ten Novembr. 1569] […] und darauff […] das fürstl. vätterlich Testament gezweifacht in Originali […] durch den Zweybrückischen Cantzler Johann Stieber vorbracht […].

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1726), in Speyer zur Welt gekommen, wurde 1700 in Rinteln zum Doktor der Theologie promoviert und starb als Pfarrer zu St. Martin in Hildesheim.

Juristenfamilie Küehorn Dr. Bernhard Küehorn5 (vor 1540–1601)6 wurde 1565 Advokat am Reichskammergericht. Aus seiner Ehe mit Catharina Drechsel von Deufstetten, Tochter des aus Dinkelsbühl stammenden RKG-Assessors Johann Melchior Drechsel von Deufstetten, gingen neben der Tochter Anna Elisabeth (später Ehefrau des RKG-Assessors Dr. Thomas Michaelis) die Söhne Johann Reinhard, Georg Hartmann und Bernhard Oswald hervor, die sämtlich als Juristen in die Fußstapfen des Vaters traten. Der älteste Sohn Johann Reinhard Küehorn (um 1575–1609) studierte in Heidelberg und erwarb 1600 in Basel den Doktorgrad. Ab 1602 war er dann RKGAdvokat in Speyer und heiratete kurz darauf Anna Rosina, Tochter des RKGAdvokaten Lic. Martin Haugk. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor, die alle wiederum Juristen heirateten: Sophia Margaretha den RKG-Assessor Dr. Friedrich Brandis, Clara Catharina 1628 den RKG-Assessor Dr. Georg Friedrich Mohr und Rosina Barbara 1634 den RKG-Advokaten Dr. Johann Vergenius und nach dessen Tod 1641 den RKG-Advokaten Dr. Johann Conrad Blaufelder. Dr. Johann Reinhard Küehorn selbst war bereits 1609 an der Pest gestorben. Der zweite Sohn Bernhard Oswald Küehorn (um 1583–vor 1635) wurde 1608 in Jena zum Doktor beider Rechte promoviert und heiratete 1611 Catharina,

5 Nach Groh war Dr. Bernhard Küehorn Sohn von Karl Kühorn in Mainz (später Frankfurt/Main) und damit Urenkel des RKG-Assessors und späteren Professors an der Universität Mainz Dr. Bernhard Kühorn (Günther Groh: Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer [Besitzverhältnisse]. Ludwigshafen a.Rh. 1971, S. 35). Dieser Zuordnung steht freilich die Angabe von Lersner entgegen: … Bernhard Kühorn J.U.D. … sein Sohn gleiches Namens Bernhart, stirbt 1586 23. May, nachdeme Carl Kühorn als Enckel allbereit 1580 17. Dec. ohne Erben verschieden war (Achilles August von Lersner, Chronica der weltberühmten freyen Reichs-, Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn. Frankfurt 1734, S. 223). 6 Der handschriftlichen genealogischen Skizze über dessen Sohn Bernhard Oswald (Landesarchiv Speyer, Reichskammergerichtsprozess E6, 1942, Q66) ist eine ebenfalls handschriftliche Anmerkung beigefügt, die erkennen lässt, dass Küehorn aus einer alten und wohlhabenden Familie stammt: Daß nun vorstehende zwey Piecen und Abschriften, deren erstere ein Außzug aus einem Kühornischen de Ao 1484 sich anfahenden Stammbaum und die ander ein Extractus aus einem in 286 foliis bestehenden und mit vielen Wappen ausgezirten Kühornischen Familien-Buch ist, mit ihren wahren unverdächtigen Originalien durchgängig concordiren, wird auf beschehenes Ansuchen des Herrn Wolfgang Friderich Lederers, des inneren raths allhier, sub fide publica hirmit attestirt und vermittelst vorgedachter gemeiner Stadt Secret Insigels bestättiget. Sign. den 30 Jan. 1739. T. Schloßberg, Canzley Eßlingen [Wachssiegel].

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Tochter des alten Bürgermeisters und Zinsmeisters zu Landau Nicolaus Wieger. Die aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Justina wurde 1636 Ehefrau des RKG-Advokaten Dr. Henrich von Gülchen. Der Sohn Jacob Friedrich (vor 1620– nach 1668) erwarb 1644 in Basel den Doktorgrad und wurde danach RKG-Advokat. Aus dessen Ehe mit Martha Barbara Haffner, wohl Tochter des RKG-Advokaten Dr. Sigismund Haffner, gingen zahlreiche Töchter und der Sohn Paul Friedrich (1655–1699) hervor, der ebenfalls Doktor beider Rechte war und 1691 in Stuttgart Maria Catharina Wölfflin verw. Breuning heiratete. Der dritte Sohn Georg Hartmann (um 1585–1627) studierte in Heidelberg und wurde 1611 in Jena zum Doktor beider Rechte promoviert. Er heiratete eine Tochter des Dr. David Schmalkalder, Syndikus der Reichsstadt Schwäbisch Hall7. Von den beiden Töchtern aus dieser Ehe heiratete Sibylla Catharina 1646 den RKG-Advokaten Dr. Johann Georg von Gülchen und Justina Margaretha 1657 den RKGAssessor Dr. Georg Friedrich Mohr. Der Sohn Ulrich Daniel Küehorn (um 1620– 1683/84) wurde in Straßburg 1642 zum Lizentiat beider Rechte promoviert. Er war RKG-Advokat und 1672 auch Kanzlist der freien Reichsstadt Speyer.

Juristenfamilie von Gülchen Der aus Limburg stammende Marcus Hubini von Gülchen (1582–1641) erwarb 1610 in Basel den Doktortitel beider Rechte und wurde 1613 RKG-Advokat in Speyer. 1622 wurde er vom Fränkischen Kreis auf eine Assessorenstelle präsentiert. Bereits 1610 hatte von Gülchen Susanna Kremer (1591–1657), eine Tochter des RKGAdvokaten Dr. Johann Jacob Kremer, geheiratet. Aus der Ehe gingen fünf Söhne8 und zwei Töchter hervor. Von den Töchtern heiratete die ältere, Anna Euphrosina (um 1620–1654), den RKG-Assessor Dr. Georg Friedrich Mohr, die jüngere, Susanna Elisabeth (1630–1655), starb unverheiratet. Der Sohn Johann Reinhard (assessoris filius), findet nur ein einziges Mal 1635 als Taufpate Erwähnung und dürfte

7 Landesarchiv Speyer, Reichskammergerichtsprozess E6, 1941: Streit um 200 Reichstaler, die der verstorbene Dr. Kühorn im Auftrag der Stadt Schwäbisch Hall an die Oberrheinische Ritterschaft auszahlen sollte. In Wahrheit wussten die Kläger, Dres. Johann Wilhelm Augspurger, RKGAdvokat und Prokurator, und Georg Friedrich Mohr, RKG-Advokat zu Speyer, von dem Geld nichts, das Dr. Kühorn wegen seines plötzlichen Todes am 6. Dezember 1627 nicht mehr selbst zahlen konnte. Kläger erfuhren von der Sache erst durch den Schwiegervater des Verstorbenen, Syndikus Dr. David Schmalkalder von Hall. 8 In: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal: Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln/Weimar/Wien 2003 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 46), S. 187 werden nur zwei Söhne und eine Tochter erwähnt.

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wohl jung gestorben sein. Seine vier Brüder Johann Georg, Abraham Ludwig, Tobias Ulrich und Moritz Wilhelm hingegen traten allesamt in die Fußstapfen des Vaters und wurden Juristen. Johann Georg von Gülchen (1617–1674) wurde 1643 in Straßburg promoviert und wurde kurz darauf RKG-Advokat in Speyer, wo er 1646 Sibylla Küehorn, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Georg Hartmann Küehorn, heiratete. Von den drei Kindern (ein Sohn, zwei Töchter) überlebte nur die Tochter Susanna Margaretha, die 1665 den RKG-Advokaten Dr. Johann Vergenius ehelichte. Tobias Ulrich von Gülchen (1619–1675) studierte in Altdorf und wurde 1650 in Straßburg promoviert. Zunächst RKG-Advokat, wurde er 1643 Präzeptor und Hofmeister der Herrschaft Limburg zu Obersontheim und später (vor 1656) hohenlohischer Rat und Kanzleidirektor zu Langenburg, wo er auch verstarb. Abraham Ludwig von Gülchen (um 1625–1671) gelangte 1652 in Orléans zur Doktorwürde. Er wurde bald darauf RKG-Advokat in Speyer, wo er 1655 Sophia, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Ulrich Stieber, heiratete. Die Tochter Susanna heiratete den RKG-Advokaten Dr. Georg Friedrich Mieg, die Tochter Rosina Elisabeth den RKG-Assessor Dr. Ulrich Thomas Lauterbach. Der Sohn Johann Ulrich (1656–1730), 1686 in Tübingen promoviert und 1690 zum nassauischen RKGAdvokaten bestallt, war bis zuletzt am Reichskammergericht in Wetzlar tätig, wo er auch verstarb. Der jüngere Sohn Ludwig Ernst von Gülchen (1666–1704), wie sein Bruder 1886 in Tübingen promoviert, war ab eben diesem Jahr württembergischer Hofgerichtsrat, wurde 1691 württembergischer Oberrat und 1701 dann zum Syndikus der freien Reichsstadt Frankfurt berufen, wo er auch verstarb. Moritz Wilhelm von Gülchen (1628–1685) wurde 1657 in Straßburg zum Doktor beider Rechte promoviert, wurde noch im gleichen Jahr RKG-Advokat und 1661 RKG-Prokurator zu Speyer. In erster Ehe heiratete er um 1660 Catharina Barbara, eine Tochter des RKG-Advokaten Dr. Henrich von Gülchen (nicht verwandt), und in zweiter Ehe 1670 Maria Justina, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Barthold Giesenbier.

Juristenfamilie Weidenkopf Die Reihe beginnt mit Job Weidenkopf (um 1500–1571) aus Ockenheim bei Mainz, der nach Studium in Wittenberg in die Dienste des Herzogs Wolfgang von Pfalz-

Anmerkung: Angaben, soweit nicht anders angegeben, weitestgehend aus Norddeutsche Genealogien, Ahnenreihe Johanna Juliane Steuernagel http://www.nd-gen.de/steuernagel/ (abgerufen am 07. Juni 2016) mit besonderem Dank an Dr. Michael Kohlhaas, Wietzendorf.

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Zweibrücken trat und zwar zunächst ab etwa 1530 als Landschreiber des Amtes Lichtenberg, dann ab 1543 als Kanzler. Ab 1563 war Job Weidenkopf als Direktor der Kirchengüter- und Gefällverwaltung der unteren Pfalz in Diensten des pfälzischen Kurfürsten Friedrich III., ein Amt, in dem ihn 1571 sein Schwiegersohn Georg Stuichs (Ehemann seiner Tochter Anna Weidenkopf) beerbte. Aus der Ehe mit Margaretha Schloer sind die sechs Söhne Jonas, Ruprecht, Ludwig, Heinrich Wilhelm, Hans und Balthasar sowie die Tochter Anna bekannt. Job Weidenkopf starb in Oppenheim. Jonas Weidenkopf (vor 1534–1597) studierte in Tübingen, Heidelberg und Orléans und erwarb den Doktorgrad beider Rechte 1562 in Bourges. 1565 wurde er RKG-Advokat in Speyer und 1573 vom fränkischen Kreis auf eine AssessorenStelle präsentiert. Um 1566 hatte er sich mit Anna Christina Portth, Tochter des RKG-Advokaten Dr. Johannes Portius, vermählt. Aus dieser Ehe gingen die vier Söhne Alexander, Carl Eberhard, Jonas d.J. und Johann Paul sowie die beiden Töchter Christina (vor 1594 Ehefrau des RKG-Advokaten Dr. Peter Paul Steurnagel) und Anna Rosina (um 1595 Ehefrau des RKG-Advokaten Dr. Hieronymus Schabbel aus Wismar) hervor. Alexander Weidenkopf (vor 1565–vor 1613) besuchte das Gymnasium Hornbach und studierte an den Universitäten Heidelberg, Tübingen und Basel, wo er 1588 promoviert wurde. 1595 wurde er RKG-Advokat und 1600 vom fränkischen Kreis als Assessor präsentiert. Aus seiner ersten, um 1594 geschlossenen Ehe mit Florentina, Tochter des RKG-Advokaten und -Prokurators Lic. Martin Reichard, gingen die Söhne Johann Wilhelm und Johann Adam hervor, aus der nach 1601 geschlossenen Ehe mit Anna (Rosina) Steuernagel mehrere früh verstorbene Kinder. Johann Adam Weidenkopf (1595–1639), Bruder des Johann Wilhelm, hatte nach dem Besuch des Gymnasiums zu Saarbrücken in Altdorf, Heidelberg und Gießen studiert und 1622 in Basel die Doktorwürde erlangt. Ab 1624 RKG-Advokat und ab 1635 geheimer Rat des Pfalzgrafen Georg Wilhelm von Pfalz-ZweibrückenBirkenfeld, verstarb er in Birkenfeld 1639 unverheiratet. Johann Wilhelm Weidenkopf (um 1594–1657/59) studierte in Heidelberg und Altdorf und erhielt die juristische Doktorwürde 1624 in Basel, worauf er RKGAdvokat in Speyer wurde. 1637 heiratete er in Neustadt die von dort gebürtige Barbara Attmann, Witwe des Neustadter Stadtmedicus Dr. Conrad Hofmann. Aus dieser Ehe ging der Sohn Johann Ulrich (um 1638–nach 1673) hervor, der in Heidelberg studierte und nach der dort 1659 erfolgten Promotion Reichskammergerichtsadvokat und 1665 Syndikus der Reichsstadt Worms wurde. Johann Ulrich heiratete um 1661 Marie Elisabeth, Tochter des Speyerer Syndikus Dr. Johann Wilhelm Stamm. Die Söhne aus dieser Ehe starben jung, teils als Studenten, und die Tochter Anna Elisabeth heiratete 1698 in Wiesbaden den Pfarrer Conrad

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Heinrich Wenck. Somit fand die juristische Tradition in der Linie des Dr. Alexander Weidenkopf ihr Ende. Carl Eberhard Weidenkopf (1581–1624) war nach dem Studium in Mömpelgard 14 Jahre lang Kammerschreiber des Eberhard Schenck zu Limpurg. Die 1614 geschlossene Ehe mit Anna Maria Gerlach blieb kinderlos. Jonas Weidenkopf d.J. (um 1580–1622) war nach dem Studium in Heidelberg limpurgischer Rat und Geheimsekretär zu Obersontheim. Um 1615 heiratete er Martha Agnes Fröschel, Tochter des limpurgischen Rates und Geheimsekretärs Christoph Fröschel und Enkelin des Syndikus der Stadt Augsburg Dr. Hieronymus Fröschel. Aus der Ehe gingen die Söhne Georg Heinrich (1619–1692), 1651 bis 1677 Ratsapotheker zu Rostock, und Eberhard hervor. Eberhard Weidenkopf (1607–1656), in Obersontheim geboren, besuchte die Schule in Speyer (wo er bei seiner Tante Rosina Weidenkopf und deren Ehemann Dr. Hieronymus Schabbel wohnte) und studierte in Rostock, wo er 1641 promoviert wurde. 1642 findet man ihn als Advokaten am fürstlich-schleswigschen Land- und Hofgericht, 1644 im Ratsdienst zu Gottorf und ab 1645 als holsteinischen Hofrat und Geheimsekretär. 1641 hatte er sich mit Anna Brockes, Tochter des Lübecker Bürgermeisters Otto Brockes, verheiratet. Der Sohn Otto Weidenkopf (1642–1664), der als Student der Rechte 1662 in Rostock disputierte, führte seine Studien in Altdorf fort, wo er jedoch verstarb. Der Sohn Friedrich Weidenkopf (um 1650–?) studierte in Rostock und wurde 1674 in Kiel zum Doktor beider Rechte promoviert. Danach verliert sich seine Spur. Die Familien Stieber, Küehorn, von Gülchen und Weidenkopf stehen exemplarisch für das netzwerkartige Beziehungsgeflecht, das sich in Speyer, dem personellen und inhaltlichen Schnittpunkt des Rechtsgeschehens im Alten Reich, herausbildete. Die Speyerer Taufbücher eignen sich in besonderer Weise dazu, dieses Geflecht im 17. Jahrhundert zu beleuchten und damit wertvollen Hintergrund zur Personalgeschichte des Reichskammergerichts zu liefern.

Sylvia Kabelitz

Die Wetzlarer Visitationen und ihre Folgen: Ein Archivbericht Seit 2012 wird in den Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leipzig die Sammlung Kestner im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes Die Erschließung der Autografen- und Briefüberlieferung der Universitätsbibliothek Leipzig im Verbundkatalog Kalliope1 verzeichnet. Die Sammlung Kestner umfasst zirka 40 000 Autografen und Kupferstiche. Diese vermachte der Archivar und Autografensammler Georg Kestner jun. (1805–1892) im Jahr 1892 der Universitätsbibliothek Leipzig. Das Verzeichnen der Autografen in Kalliope wird voraussichtlich im März 2017 beendet. Die Porträtstiche wurden aus der Sammlung entnommen und in einem bereits 2014 abgeschlossenen Projekt erfasst. Diese sind im Digitalen Portraitindex2 recherchierbar. Im Folgenden sollen der Autor und seine Sammlung detailliert vorgestellt werden.

1 Johann Christian Kestner und die Wetzlarer Visitation Die Familie Kestner gehörte zu den sogenannten Hübschen Familien, diese bildeten im 18. und frühen 19. Jahrhundert den zweiten Stand in der Ständegesellschaft in Kurhannover und im frühen Königreich Hannover. Begründer war der spätere Jurist und Archivar Johann Christian Kestner (1741–1800), der als junger hannoverscher Legationssekretär von 1767 bis 1773 am Reichskammergericht in Wetzlar tätig war.3 Johann Christian Kestner, geboren am 28. August 1741 als Sohn eines Kanzleibeamten in Hannover, studierte ab 1762 in Göttingen Jura. Aus gesundheitlichen Gründen brach er das Studium 1765 ab und kehrte nach Hannover zurück. Hier

1 Verbundkatalog für Autografen und Nachlässe von Bibliotheken. Online abrufbar unter: http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de. 2 Online abrufbar unter: http://www.portraitindex.de. 3 Johanna R. Rech: Zwei Kunstkenner unter sich: Gustavo Frizzoni an Hermann Kestner. Ein Briefwechsel aus der Kestner-Sammlung der Universitätsbibliothek Leipzig, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, Bd. 22 (2014), S. 15–21 (hier: S. 15/16).

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Sylvia Kabelitz

ließ er sich in die juristische Praxis einführen, um als Rechtsanwalt tätig zu werden. 1767 bekam er das Angebot als Sekretär des hannoverschen Hofrats Johann Philipp Conrad Falcke (1724–1805)4 nach Wetzlar zu gehen. Nach anfänglichen Zweifeln, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, fügte er sich seinem Schicksal5 und blieb bis 1773 Legationssekretär in der Subdelegation für das Herzogtum Bremen bei der Reichskammergerichtsvisitation. Seine Zeit in Wetzlar endete am 4. April 1773 mit der Heirat mit Charlotte Buff (1753–1828). Zusammen gingen sie nach Hannover, da Kestner drei Wochen zuvor, am 19. März 1773 ans Calenberger Archiv berufen wurde. Mit der einfachen Arbeit und dem Gehalt eines Registrators war Kestner unzufrieden.6 Erst zwei Jahre später konnte er die Stelle eines Archiv-Sekretärs einnehmen. Zudem wurde er zum Lehensfiskal ernannt. 1784 erfolgte die Beförderung zum Rat, 1795 zum Hof- und Kanzleirat sowie Vizearchivar. Zweimal, 1790 und 1792, wurde Kestner als Legationssekretär zur Kaiserwahl nach Frankfurt entsandt. Er starb am 24. Mai 1800, im Alter von 58 Jahren, auf einer Dienstreise in Lüneburg.7 Johann Christian Kestner war weder eine bedeutende Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts, noch wurde er durch politische, wissenschaftliche oder literarische Tätigkeit bekannt. Er war literarisch gebildet und hatte während des Studiums Kontakt zu Mitgliedern des Göttinger Hainbundes. In seinem Haus verkehr-

4 Johann Philipp Conrad Falcke war seit 1763 Hof- und Kanzleirat in Hannover und rechtlicher Vertreter der Landesregierung; von 1767 bis 1776 wirkte er als hannoverscher Subdelegierter bei der Kammergerichtsvisitation in Wetzlar; 1787 wurde er Justizkanzleidirektor. Siehe Klaus Mlynek: Art. Falcke, Johann Philipp Conrad, in: ders. u. Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.), Stadtlexikon Hannover von den Anfängen bis in die Gegenwart. Hannover 2009, S. 174. 5 Oskar Ulrich: Charlotte Kestner. Ein Lebensbild. Bielefeld u. Leipzig 1921, ND Goslar 1987, S. 74 f. 6 Ulrich: Charlotte Kestner (wie Anm. 5), S. 27: „Die Stelle entsprach keineswegs seinen Wünschen. Das Gehalt war so gering, daß es auch bei bescheidenen Ansprüchen zum Unterhalt seiner Familie nicht ausreichte; und Kestner glaubte sich durch seine sechsjährigen ‚sauern und beschwerdevollen‘ Dienste in Wetzlar Anspruch auf eine bessere Versorgung in der Heimat erworben zu haben. Vor allem aber sagte ihm die nüchterne Tätigkeit als Registrator durchaus nicht zu, da er in Wetzlar an selbständiges Arbeiten gewöhnt war und gehofft hatte, er würde in der Heimat seine Erfahrung im Reichsprozeß verwerten können.“ 7 Hugo Thielen: Art. Kestner, Johann Christian, in: Mlynek (Hrsg.), Stadtlexikon Hannover (wie Anm. 4), S. 345; Art. Kestner, Johann Christian, in: Hessische Biografie, online: http://www.lagishessen.de/pnd/116150874 (Stand: 10. Februar 2011; abgerufen am 1. Oktober 2015); Doris Maurer: Nur ein einziger Kuss, in: Die Zeit 03/2003, 9. Januar 2003, 7.00 Uhr, editiert am 29. November 2013, 16:06 Uhr, online: http://www.zeit.de/2003/03/A-Buff (abgerufen am 23. September 2015); Alexander Denzler: Adelige und bürgerliche Leistungseliten, in: Markus Raasch (Hrsg.), Adeligkeit, Katholizismus, Mythos: Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne, München 2014 (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 15), S. 35–57 (hier S. 52).

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ten Schriftsteller und Juristen wie Heinrich Christian Boie (1744–1806), Ernst Brandes (1758–1810), Basilius von Ramdohr (1757–1822), August Wilhelm Rehberg (1757–1836) und Johann Georg Zimmermann (1728–1795). Kestner wurde als gewissenhaft und bedächtig, dankbar und grundehrlich beschrieben. Biographische Ausführungen liegen in Kurzform von Wilhelm Herbst (1881) sowie Oskar Ulrich (1921) und ausführlich von Alfred Schröcker (2011) vor.8 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) lernte Kestner und Charlotte Buff während seines Aufenthaltes in Wetzlar für das Praktikum am Reichskammergericht kennen. Diese Bekanntschaft verarbeite Goethe 1774 in seinem Werk Die Leiden des jungen Werther. Kestner diente im Roman als Vorlage für die Figur des Albert. Goethe erinnerte sich später an Kestners ruhiges gleiches Betragen, die Klarheit seiner Ansichten, seine Bestimmtheit im Handeln und Reden, seine heitere Tätigkeit und seinen anhaltenden Fleiß bei seiner Arbeit.9 Diese Eigenschaften wurden auch bei Kestners Aufenthalt in Wetzlar deutlich. Zwischen 1767 und 1776 fand in Wetzlar die letzte große Visitation am Reichskammergericht statt.10 Kaiser Joseph II. (1741–1790) strebte bei seiner allgemeinen Reichsreform auch eine Reform des Justizwesens und des Reichskammergerichts an. Er berief eine Visitation ein, die unter anderem Korruptionsvorwürfe untersuchen sollte. Die Anhörungen und Meinungsäußerungen dazu waren sehr zeitintensiv. Insgesamt gab es 1 056 Sitzungen. Da es immer wieder zu Streitigkeiten über die Verfahrensweisen kam, zog sich die Visitation über neun Jahre. Ergebnis war unter anderem die Verurteilung der drei Assessoren Philipp Heinrich Reuß (1705–1785), Johann Hermann Franz Papius (1717–1793) und Christian Nettelbladt (1696–1775). Es gab nun Festlegungen zur regelmäßigen Besoldung der Assessoren sowie Änderungen im Verfahrensablauf, welche Korruption von da an erschwerten.11 Über die Suspendierung der Reichskammergerichtsassessoren Reuß, Papius und Nettelbladt berichtete Johann Christian Kestner in einem Brief an seine Eltern Johann Hermann und Dorothea Gertrud Kestner am 11. Juni

8 Thielen: Art. Kestner (wie Anm. 7), S. 345; Alfred Schröcker: Johann Christian Kestner, der Eigendenker. Eine Jugend in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hannover 2011, S. 22. Schröcker rezipierte nicht das Kapitel zu Johann Christian Kestner, in: Friedrich Ludwig Wilhelm Herbst: Goethe in Wetzlar, 1772. Vier Monate aus des Dichters Jugendleben. Gotha 1881, S. 87–96. 9 Ulrich: Charlotte Kestner (wie Anm. 5), S. 25. 10 Alexander Denzler: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Ein mediales Großereignis und seine Bedeutung für die Kommunikations- und Rechtsgemeinschaft des Alten Reiches. Saarbrücken 2008. 11 Hanna Fischer-Lamberg (Hrsg.), Der junge Goethe, Band 1. Unveränderte Neuausgabe, Berlin 1999, S. 408.

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1771.12 Dass Kestner Zeit für private Briefe fand, in denen er über seine Arbeit als Sekretär in Wetzlar schreibt, ist erstaunlich. Er notierte in seinen Tagebüchern13, dass er der Wissenschaft, der Pflege von Freundschaften und den Gängen in die Natur entsagen müsse und die atemlose und meist mechanische Arbeit ihn wenig befriedige. Der hannoversche Subdelegierte Falcke gehörte zu den tätigsten und pünktlichsten unter den Gesandten. Neben regulären Arbeiten, wie dem Ausfertigen von Berichten in doppelter Form für Hannover und London, wartete Falcke mit außerordentlichen Tätigkeiten auf: „Kestner hatte täglich die ‚Diktatur‘ zu besuchen und sich im Publikum so weit zu bewegen, um dem Gesandten über wichtige Vorkommnisse berichten zu können.“14 Trotz des Zeitmangels besuchte Kestner Vorlesung und Praktikum zur Einführung in den Reichsprozess. Sein Pflichteifer und seine geschäftliche Umsicht brachten ihm das Vertrauen von Falcke ein. Als dieser Differenzen innerhalb der Visitationskommission verursachte, die beinahe die Auflösung des gesamten Untersuchungsgeschäftes herbeiführten, war der Höhepunkt von Kestners Wetzlarer Tätigkeit gekommen. Falcke trug ihm auf, eine versöhnliche Erklärung am 31. Januar 1773 abzugeben, welche zur Wiederaufnahme der Visitationsgeschäfte führte.15

2 Sammlung Kestner 2.1 Entstehungsgeschichte Johann Christian Kestner begründete mit Charlotte Buff den weiteren Aufstieg der hannoverschen Beamtenfamilie. In 27 Ehejahren wurden zwölf Kinder geboren, wovon zehn das Erwachsenenalter erreichten.16 Einer davon war – in Nachfolge seines Vaters – der spätere Archivrat Georg Kestner sen. (1774–1867), der als ältester Sohn die Korrespondenzen der Eltern erhielt.17 Georg sen. gründete während der Franzosenzeit in Hannover ein Bankgeschäft, das er, zeitweilig gemeinsam mit seinem Sohn Hermann (1810–1890),

12 Johann Christian Kestner an Johann Hermann Kestner und Dorothea Gertrud Kestner, Wetzlar, 11. Juni 1771, Sign.: Universitätsbibliothek Leipzig (künftig: UBL), Slg. Kestner/II/A/III/32/ Nr. 3. 13 Kestners Tagbücher befinden sich im Stadtarchiv Hannover. 14 Herbst: Goethe in Wetzlar (wie Anm. 8), S. 92. 15 Ebd., S. 91 f. 16 Schröcker: Johann Christian Kestner (wie Anm. 8), S. 23. 17 Rüdiger R.E. Fock: Die Kestner. Eine deutsch-französisch-schweizerische Familie macht Geschichte(n). Warendorf 2009, S. 67.  

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zu einem erfolgreichen Unternehmen ausbauen konnte. Durch den so erworbenen Reichtum gelang es Georg sen. eine rund 500 Objekte umfassende Gemäldeund Grafiksammlung aufzubauen, die mehrheitlich Porträts historischer Persönlichkeiten umfasste.18 Nach dem Tod Georgs sen. wurde die Sammlung auf seine vier Kinder aufgeteilt. Die Autografensammlung ging an den Sohn Georg jun. (1805–1892). Dieser erweiterte die Sammlung und bereitete in seiner Pensionszeit mit seiner Frau Sophie (1816–1892, geb. Heydorn) alle Autografen und Dokumente auf. Dazu recherchierte er die Personen und Adelsfamilien in zeitgenössischen Nachschlagewerken und vermerkte diese Informationen auf Mappen, in die er dann die jeweiligen Papiere legte. Auf einer ebenfalls in der Sammlung befindlichen Fotografie sieht man Kestner in seiner Dresdner Wohnung mit den heute noch erhaltenen Archivkästen.

Abbildung 1: Georg Kestner (1805–1892), Archivar und Autografensammler, in seinem Arbeitszimmer in Dresden, im Hintergrund die Archivkästen der Autografensammlung, 1887, Sign.: UBL, Slg. Kestner/Fotosammlung/1/Nr. 1.

18 Hugo Thielen: Art. Kestner (2), Georg, in: Klaus Mlynek u. a. (Hrsg.), Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Hannover 2002, S. 196.  

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2.2 Ordnung und Inhalt Die Sammlung findet Platz in 224 Kästen, die nach Sachgebieten, Ländern, Adelsgeschlechtern und Personen sortiert sind. Zu den Stücken zählen Briefe und Korrespondenzen, Urkunden, Zeitungsartikel, Sonderdrucke, Notizen, Zeichnungen und auch Aktenstücke. Verzeichnet wurden bisher zirka 20 000 Briefe und Dokumente aus den Sachgruppen Generalia (I/A), Religionssachen (I/B), Künste/Künstler/Maler, Bildhauer, Baumeister, . . . (I/C/I), Künste/Künstler/Musiker (I/C/II), Künste/Künstler/Schauspieler, Opernsänger, Tänzer, dram. Dichter, . . . (I/C/III), Deutschland, Generalia (II/A), Deutscher Bund (II/A/I), Deutscher Bund, Preußische Staatsbeamte (II/A/ Ia), Rheinbund (II/A/II), Deutsches Reich (II/A/III), Merkwürdige Deutsche (II/A/ IV), Italien (II/B), Dänemark (II/C/I), England, Schottland, Großbritannien (II/C/II), Frankreich (II/C/III), Griechenland, Kurland, Lothringen (II/C/IV), Rußland (II/C/ VII), Schweden (II/C/VIII), Schweiz (II/C/IX), Spanien, Ungarn, Siebenbürgen, Türkei (II/C/X) und Nordamerika (II/D/I). In der Sachgruppe Deutsches Reich, hier gemeint Heiliges Römisches Reich, sind bei der Erschließung Aktenstücke aus dem Reichskammergericht aufgefallen, die ohne Zusammenhang, aber doch von Bedeutung erscheinen. Zirka 3 000 Dokumente und Schreiben betreffen das Reichskammergericht, darunter Appellationen, Monitoriales, Promotoriales, Supplikationen sowie Vollmachten, unter anderem für Juristen zur Vertretung am Reichskammergericht. Eine große Zahl Briefe liegen vor, die die Zahlung des Kammerzielers betreffen. Zu nennen wäre hier ein Schreiben von Christian Ludwig II., Herzog von Mecklenburg-Schwerin (1683–1756) an Johann von Ulmenstein (1695–1751) vom 9. Februar 1735. Hierin erklärt der Herzog, dass er keine Veranlassung sähe, die Unterstützung für das Reichskammergericht zu bezahlen.19 Auch Schreiben der Interessenvertretung ehemaliger Mitarbeiter,20 nach Auflösung des Reichskammergerichts im Jahr 1806, sind vorhanden. Aus Kriegszeiten häufen sich Schutz- und Schirmbriefe, zum Beispiel der Schutzbrief für das Stift Freckenhorst, der 1647 gegen Ende des 30jährigen Krieges verfasst wurde.21 In Erbschaftsangelegenheiten waren Bestätigungen über Vormundschaften wichtig. Darüber hinaus sind Notifikationsschreiben über Ge-

19 Christian Ludwig II. an Ulmenstein, Bützow, 9. Februar 1735, Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/ 762/Nr. 1. 20 Bezeichnet als Vormaliges Reichskammergericht / Ausschuss Advokaten und Prokuratoren. 21 Otto Christoph von Sparr: Schutzbrief für das Stift Freckenhorst, Warendorff, 11. April 1647, Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/929/Nr. 1.

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burten, Eheschließungen, Todesfälle sowie Gratulationen zum Regierungsantritt oder Jahreswechsel vorhanden. Erfreulich sind Fundstücke, wie die vernichtet geglaubte Originalkorrespondenz, z. B. der Bürgermeisterstochter Anna Büschler aus Schwäbisch Hall mit ihren beiden Liebhabern22 oder gesammelte Drucksachen, aus der Mappe Visitation des Cammergerichts in Wetzlar.23 Hier findet sich unter anderem ein Trauergedicht anlässlich des Todes von Johann Hartwig Reuter (1723/5–1773) aus Wetzlar vom 10. Februar 1773 mit dem Titel Denkmahl Amtsbrüderlicher Liebe, Treue und Hochachtung bey dem Grabe des um das Teutsche Reichs Justiz Weesen hochverdienten Königlich Preußischen, zur Kayserlichen und Reichs Cammergerichts Visitation von wegen der Chur-Brandenburg abgesandten Herrn Geheimten Raths Johann Hartwig Reuter.24 Die Sammlung Kestner kann auch einen Beitrag zu bereits abgeschlossenen Forschungsprojekten leisten. So beschreibt Sigrid Jahns in ihrem Werk Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich auch sehr detailliert die Präsentationen zum Reichskammergerichtsassessor. Darin vermerkte sie, ob Präsentationsschreiben im Original vorhanden waren oder gänzlich fehlten. Folgende 17 von 28 Präsentationsschreiben von Assessoren wurden bisher25 in der Sammlung Kestner im Original nachgewiesen: 1. Präsentation von Ludwig Vollrath Frohn (1735–1796) zum kurtrierischen RKG-Assessor, Carlich, 28. Juli 178026 2. Präsentation von Christian Franz Weidenfeld (1757–1818) zum kurkölnischen RKG-Assessor, Münster, 18. Februar 179327 3. Präsentation von Franz Georg Leykam (1724–1793) zum kurböhmischen RKGAssessor, Wien, 5. Oktober 175228  

22 Briefwechsel von Anna Büschler mit Erasmus Schenk von Limpurg und Daniel Treutwein, 1521–1523, Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/III/763/Nr. 1–39. Ein gerichtlicher Prozess zwischen Anna und ihrem Vater zog sich über 25 Jahre. 23 Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/III/30–34. 24 Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/III/30/Nr. 1. 25 Stand: 10. Juni 2016. 26 Laut Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil 2: Biographien, Bd. 1. Köln/Weimar/Wien 2003 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 26/II,1), S. 112, Fußnote 1, lag keine Kopie des Präsentationsschreibens vor. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/III/113/Nr. 1. 27 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 148, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/III/ 122/Nr. 1. 28 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 187, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/885/ Nr. 4.

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4. Präsentation von Franz Joseph Ignaz Linden (1760–1836) zum kurböhmischen RKG-Assessor, Wien, 23. Mai 179629 5. Präsentation von Hans Christoph von Leipziger (1717–1791) zum kursächsischen RKG-Assessor, Dresden, 30. Dezember 175230 6. Präsentation von Karl Ludwig Schröter (1710–1758) zum kurbrandenburgischen RKG-Präsentatus, Berlin, 18. April 178931 7. Präsentation von Franz Friedrich Anton von Beulwitz (1760–1791) zum kurbrandenburgischen RKG-Assessor, Wien, 23. Mai 179632 8. Präsentation von Friedrich Alexander von Wenckstern (1755–1790) zum kurbraunschweigischen RKG-Assessor, St. James/London, 29. Oktober 177933 9. Präsentation von Hans Detlef von Hammerstein (1768–1826) zum kurbraunschweigischen RKG-Assessor, St. James/London, 27. Dezember 179634 10. Präsentation von Karl August von Seckendorf (1774–1828) zum kurbrandenburgischen RKG-Assessor (alternierende evangelische Kurpräsentation), Berlin, 24. Februar 180035 11. Präsentation von Johann Peter Ortmann (1708–1775) zum österreichischen RKG-Assessor, Frankfurt, 6. Oktober 174536 12. Präsentation von Heinrich Ludwig Karl von Gebler (1724–1782) zum österreichischen RKG-Assessor, Wien, 26. Juni 177537 13. Präsentation von Maximilian von Martini (1758–1829) zum österreichischen RKG-Assessor, Wien, 18. April 178338

29 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 204, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/892/ Nr. 3. 30 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 280, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/ 1117/Nr. 2. 31 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 320, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/193/ Nr. 15. 32 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 349, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/195/ Nr. 4. 33 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 440, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/248/ Nr. 2. 34 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 457, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/C/II/23/ Nr. 6. 35 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 481, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/203/ Nr. 5. 36 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 532, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/885/ Nr. 1. 37 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 541, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/885/ Nr. 6. 38 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 549, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/886/ Nr. 9.

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14. Präsentation von Philipp Karl Deel (1733–1811) zum burgundischen RKGPräsentatus, Brüssel, 3. Februar 177439 15. Präsentation von Gottfried von Andrian-Werburg (1766–1827) zum burgundischen RKG-Präsentatus, Wien, 29. März 179640 16. Präsentation von Franz Bernhard Joseph von Stein zu Lausnitz (1770–1834) zum burgundischen RKG-Assessor, Wien, 7. Juli 179941 17. Präsentation von Johann von Ulmenstein (1695–1751) zum niedersächsischen (I) RKG-Assessor, Kopenhagen, 14. Februar 172842. Die von Jahns vermisste Präsentation von Adolf Friedrich von Reinhard (1726– 1783) zum Reichskammergerichts-Assessor des niedersächsischen Kreises (II) aus Schwerin vom 22. Juli 1776 wurde noch nicht im Original gefunden. Allerdings liegt ein Präsentationsschreiben Friedrichs II. (1712–1786) vom 1. Dezember 1776 vor, welches Reinhard für die Stelle des Praesentandis nach dem Tod von Johann Wilhelm Summermann (1707–1776) vorschlägt.43 Auch die Präsentation von Franz Valerius Hauer (1709–1771) zum burgundischen Reichskammergerichts-Assessor aus Brüssel vom 10. Februar 1741 fehlt, Dafür liegt ein Schreiben der Erzherzogin Maria Theresia von Österreich (1717– 1780) vor, in welchem sie ihre Empörung über eine Ablehnung des vorgeschlagenen Hauer äußert.44 Die Präsentationsschreiben der Assessoren und Präsentandi Ignaz Friedrich Gruben, Peter Melchior Hommer, Johann Daniel Clemens Hueber, Karl Gottlob von Burgsdorff, Karl von Kamptz, Levin Georg Karl Hohnhorst, Hans Ernst von Globig, Aegidius Fahnenberg und Johann Friedrich von Heynitz könnten im Laufe des Projektes noch gefunden werden. In der Sammlung Kestner sind ebenfalls Präsentationsschreiben für weitere Ämter, wie Richter, Präsidenten, Generalprokuratoren und Fiskalen und Pfennigmeister vorhanden. Stellvertretend für das Richteramt, wäre die Präsentation des

39 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 599, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/C/IV/29/ Nr. 2. 40 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 625, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/892/ Nr. 4. 41 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 633, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/892/ Nr. 5. 42 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 1 361, Fußnote 1. Sign.: UBL Slg. Kestner/II/C/I/36/ Nr. 1. 43 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 1 431, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/ 193/Nr. 16. Siehe Abbildung 2. 44 Jahns: Das RKG (wie Anm. 26), Bd. II,1, S. 570, Fußnote 1. Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/885/ Nr. 3.

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Abbildung 2: Präsentationsschreiben Friedrichs II. an RKG, o.O., 1. Dezember 1776, Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/193/Nr. 16.

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Johann Hugo von Trier (1634–1711) durch Kaiser Leopold I. (1640–1705) vom 16. Juni 1677 zu nennen, der nach dem Tod des Markgrafen Wilhelm von Baden (1593–1677) die Stelle am Reichskammergericht einnehmen sollte.45

3 Schluss Die Verzeichnung der Briefe und Dokumente zum Reichskammergericht aus der Sammlung Kestner gestaltet sich schwierig, da die Vorlagen aus ihrem Zusammenhang gerissen sind und sich oft durch deren Inhalt keine Zusammenhänge erschließen lassen. Am Hilfreichsten sind die Vermerke auf den Briefumschlägen, so dass Einzelnes zu Streitfällen zugeordnet werden könnte. Eine Ausführlichkeit der Inhaltserschließung wie es in anderen Archiven der Fall ist, die geschlossene Vorgänge und Akten des Reichskammergerichts bergen, kann das Projekt nicht leisten. Wie es bei Autografensammlern üblich war, wurde auf Vollständigkeit wert gelegt. So finden sich in der Sammlung Faksimiles von Unterschriften, als auch Zeitungsartikel oder Abschriften aus Nachschlagewerken, die als Platzhalter dienten bis das fehlende Autograf erworben wurde. Vereinzelt finden sich Briefe an die Kestners, die sich mit dem Tausch oder Kauf von Autografen, Siegeln und ähnlichem befassen. Wie die Dokumente des Reichskammergerichts in den Besitz der Kestners gekommen sind, ist noch nicht untersucht. Eine Vermutung, dass Johann Christian Kestner einige Schriften bei der Reichskammergerichtsvisitation entwendet oder durch eine Abschrift ersetzt hat, schließe ich, durch die Beschreibungen seiner Person und auch den Abgleich von Jahreszahlen, zum Beispiel aus den Präsentationsschreiben, aus. Eine genaue Untersuchung zur Entstehung der Sammlung und der Beantwortung entsprechender Fragen kann erst mit Abschluss des Projektes und der Verzeichnung aller Briefe und Dokumente der Sammlung in Angriff genommen werden. Aus diesen wenigen Bemerkungen wird jedoch klar: die Sammlung Kestner bietet nicht nur eine Vielzahl an Dokumenten, die Teile von Forschungen vervollständigen können, sondern auch eine Unmenge an Themen, die der wissenschaftlichen Erforschung harren.

45 Kaiser Leopold I., Johann Ambros Högel und Leopold Wilhelm von Königsegg und Rothenfels (Reichshofkanzlei Wien) an Philipp Ludwig Arbogast, Laxenburg, 16. Juni 1677, Sign.: UBL, Slg. Kestner/II/A/I/875/Nr. 17.

bibliothek altes Reich – baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele:



Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten Reichs

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Bündelung der Forschungsdiskussion Popularisierung von Fachwissen Institutionelle Unabhängigkeit

Inhaltliche und methodische Neuausrichtung An erster Stelle ist die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt.

Bündelung der Forschung Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Subund Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften.

Popularisierung von Fachwissen Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden.

Institutionelle Unabhängigkeit Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird. Band 1: Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal 2006. VIII, 283 S. 19 Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN 978-3-486-57909-3

Band 6: Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit 2011. 276 S. ISBN 978-3-486-57912-3

Band 2: Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 2. Aufl. 2008. VIII, 390 S. ISBN 978-3-486-58747-0

Band 7: Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst 2013. 321 S. ISBN 978-3-486-70251-4

Band 3: Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2007. 303 S. ISBN 978-3-486-57910-9

Band 8: Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke 2010. 392 S. 2 Abb., ISBN 978-3-486-59820-9

Band 4: Ralf-Peter Fuchs Ein ‚Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 2010. X. 427 S. ISBN 978-3-486-58789-0

Band 9: Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode 2012. VIII. 287 S. ISBN 978-3-486-70709-0

Band 5: Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst 2015. 492 S. ISBN 978-3-486-57911-6

Band 10: Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648–1806) 2012. 156 S. ISBN 978-3-486-70757-1

Band 11: Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2012. 231 S. ISBN 978-3-486-71025-0

Band 17: Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hrsg.) Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert 2015. ISBN 978-3-11-035981-7

Band 12: Hendrikje Carius Recht durch Eigentum Frauen vor dem Jenaer Hofgericht (1648–1806) 2012. 353 S. 2 Abb., ISBN 978-3-486-71618-4

Band 18: Inken Schmidt-Voges Mikropolitiken des Friedens Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert 2015. 365 S. ISBN 978-3-11-040216-2

Band 13: Stefanie Freyer Der Weimarer Hof um 1800 Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos 2013. 575 S., 10 Abb., ISBN 978-3-486-72502-5

Band 19: Frank Kleinehagenbrock Das Reich der Konfessionsparteien Konfession als Argument in politischen und gesellschaftlichen Konflikten nach dem Westfälischen Frieden 2017. ISBN 978-3-11-045043-9

Band 14: Dagmar Freist Glaube – Liebe – Zwietracht Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland in der Frühen Neuzeit 2015. ISBN 978-3-486-74969-4 Band 15: Anette Baumann, Alexander Jendorff (Hrsg.) Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa 2014. 432 S. ISBN 978-3-486-77840-3 Band 16: André Griemert Jüdische Klagen gegen Reichsadelige Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan 2014. 517 S. ISBN 978-3-11-035267-2

Band 20: Anette Baumann, Joachim Kemper (Hrsg.) Speyer als Hauptstadt des Reiches Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert 2016. ISBN 978-3-11-049981-0 Band 21: Marina Stalljohann-Schemme Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs 2016. ISBN 978-3-11-050145-2