Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters: Bristoler Kolloquium 1993 [Reprint 2017 ed.] 9783110918847, 9783484603080

This volume contains papers from the 13th Anglo-German colloquium assembling medieval German scholars from the English-

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German Pages 395 [396] Year 1996

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Eröffnungsvortrag: Konflikte in Politik und Publizistik
Heinrich VIII. und Martin Luther
II. Leitbilder des Adels, Ritterideologie und Krieg
Ehre und Konflikt
Ritterideologie und Gegnertötung
Schutzwaffen und Höfischheit
Aktion und Reflexion
Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar ›Liet von Troye‹
Das Bild des Krieges bei Chrestien de Troyes und bei Hartmann von Aue
III. Darstellung von Andersgläubigen und Fremden
Zur Rolle der Juden in mittelalterlichen deutschen Texten des Weihnachtsstoffkreises
Ein wild volck
IV. Sexualität, Liebe und Ehe als Spannungsfelder
Mädchen ohne Hände
Minne, Intrige und Herrschaft
Ehe statt Minne?
Causa amoris?
Ehezwist in deutschen Kurzerzählungen des Mittelalters
V. Regelsetzungen und Regelverletzungen
Von der Kunst, miteinander zu speisen
die wolte ich gerne in einen schrin (L. 8,18): Zur Bilderwelt und Dialektik Walthers von der Vogelweide
Mechthild von Magdeburg, der Dominikanerorden und der Weltklerus
Gesellschafts- und Individualkritik im ›Buch der Natur‹ Konrads von Megenberg
Meineid in mittelalterlicher deutscher Literatur
VI. Sprachmuster, literarische Strategien und mediale Bedingungen bei der Darstellung von Konflikten
Konflikte in der Gnomik – die Gnomik im Konflikt
Katz und Maus
fraw Fortun, fraw Wer, fraw Awentewr und fraw Mynne
Der Tor und der Tod
Der Doppelkonflikt in der ›Willehalm‹-Überlieferung des Codex Vindobonensis 2670
Sprache über Konflikte vs. Sprache in Konflikten
Protokolle der Diskussionen
Teilnehmer des 13. Anglo-Deutschen Colloquiums
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Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters: Bristoler Kolloquium 1993 [Reprint 2017 ed.]
 9783110918847, 9783484603080

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S p a n n u n g e n und Konflikte menschlichen Z u s a m m e n l e b e n s in der deutschen Literatur des Mittelalters

Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters Bristoler Colloquium 1993

Herausgegeben v o n K u r t Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Dieses Buch erscheint gleichzeitig als Band 63 der Reihe Publications of the Institute of Germanic Studies (University of L o n d o n School of A d v a n c e d S t u d y )

ISBN 085457 P 4 4

G e d r u c k t mit freundlicher Unterstützung des Goethe-Instituts, London

Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters C o l l o q u i u m 1993 / hrsg. v o n Kurt Gärtner . . . - T ü b i n g e n : Niemever, 1996 N E : G ä r t n e r , Kurt [Hrsg.]

: Bristoler

ISBN 3 - 4 8 4 - 6 0 3 0 8 - 9

© M a x N i e m e y e r Verlag G m b H & Co. K G , T ü b i n g e n 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der e n g e n Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für V e r v i e l f ä l t i g u n g e n , Ü b e r s e t z u n g e n , M i k r o v e r f i l m u n g e n und die Hinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n v . Satz: p a g i n a G m b H , T ü b i n g e n Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Hinband: H u g o Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort

VII

I. ERÖFFNUNGSVORTRAG: K O N F L I K T E IN POLITIK UND PUBLIZISTIK

L. FLOOD: Heinrich VIII. und Martin Luther. Ein europäischer Streit und dessen Niederschlag in Literatur und Publizistik

JOHN

3

I I . LEITBILDER DES A D E L S , RITTERIDEOLOGIE UND K R I E G

Ehre und Konflikt. Zur intersubjektiven Konstitution der adligen Persönlichkeit im früheren Mittelalter C H R I S T O P H H U B E R : Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den >ErecProsa-Lancelot< M A R T I N H. J O N E S : Schutzwaffen und Höfischheit. Zu den Kampfausgängen im >Erec< Hartmanns von Aue J U T T A E M I N G : Aktion und Reflexion. Zum Problem der Konfliktbewältigung im >Wigalois< am Beispiel der Namurs-Episode R E I N H A R D H A H N : Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar >Liet von Troye< H O R S T B R U N N E R : Das Bild des Krieges bei Chrestien de Troyes und bei Hartmann von Aue WOLFGANG H A U B R I C H S :

35

59 74 91 102 113

I I I . D A R S T E L L U N G VON ANDERSGLÄUBIGEN UND FREMDEN

Zur Rolle der Juden in mittelalterlichen deutschen Texten des Weihnachtsstoffkreises A N N E S I M O N : Ein wild volck. Die Darstellung fremder Völker in deutschen Pilgerberichten des Mittelalters

W I N F R I E D FREY:

125 142

I V . SEXUALITÄT, L I E B E UND E H E ALS SPANNUNGSFELDER

Mädchen ohne Hände. Der Vater-TochterInzest in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzählliteratur

INGRID B E N N E W I T Z :

157

VI

Inhalt

Minne, Intrige und Herrschaft. Konfliktverarbeitung in Minne- und Aventiureromanen des H . J a h r h u n d e r t s D I E T R I C H H U S C H E N B E T T : Ehe statt M i n n e ? Zur Tradition des M i n n e - R o m a n s in ^Mittelalter und Neuzeit M A T T H I A S M E Y E R : Causa amoris? Noch einmal zu Lancelot und Galahot J O H N M A R G E T T S : Ehezwist in deutschen Kurzerzählungen des Mittelalters KLAUS RIDDER:

173 189 204 215

V . REGELSETZUNGEN UND REGELVERLETZUNGEN

Von der Kunst, miteinander zu speisen. Kultur und Konflikt im Spiegel mittelalterlicher Vorstellungen v o m Verhalten bei Tisch C Y R I L E D W A R D S : die wolte ich gerne in einen schrin ( L . 8 , 1 8 ) . Zur Bilderwelt und Dialektik Walthers v o n der Vogelweide ELIZABETH A . A N D E R S E N : Mechthild v o n M a g d e b u r g , der Dominikanerorden und der Weltklerus C H R I S T A B A U F E L D : Gesellschafts- und Individualkritik im >Buch der Natur< K o n r a d s v o n M e g e n b e r g G U N H I L D R O T H : Meineid in mittelalterlicher deutscher Literatur ELKE BRÜGGEN:

235 250 264 273 285

V I . S P R A C H M U S T E R , LITERARISCHE STRATEGIEN UND MEDIALE BEDINGUNGEN BEI DER D A R S T E L L U N G VON K O N F L I K T E N

Konflikte in der Gnomik — die Gnomik im Konflikt. Zu den lateinischen S p r u c h s a m m l u n g e n des Frühmittelalters und zum >Ysengrimus< 301 M A N F R E D E I K E L M A N N : Katz und Maus. Konfliktdarstellung und -bewältigung im deutschen Sprichwort des Mittelalters 320 ERNST HELLGARDT:

HANS-JOACHIM ZIEGELER:

fraw

Fortun, fraw

Wer, fraw

Awentewr

und fraw Mynne. Darstellung und Interpretation von Konflikten und ihren Ursachen in Ulrich Füetrers >LannziletWillehalmLiet von Troye< gegenüber dem Krieg zur Diskussion und relativiert die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug durch den Hinweis auf die literarische Tradition. Seine Darlegungen werden ergänzt durch die Ausführungen von H O R S T B R U N N E R über das Bild des Kriegs bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. Der dritte Teil enthält zwei Untersuchungen, die sich mit der Darstellung des Fremden in der deutschen Literatur des Mittelalters befassen. W I N F R I E D F R E Y geht den verschiedenen Formen der Thematisierung antijüdischer Tendenzen in deutschen Bearbeitungen des Weihnachtsstoffs nach und zeigt, daß der Vorranganspruch des christlichen Glaubens zu einer Herabsetzung Andersgläubiger fuhren muß, auch wenn diese Herabsetzung sich nur in subtiler Form äußert. Den Bildern von Andersgläubigen in Pilgerberichten des 15. Jahrhunderts gilt das Interesse von A N N E S I M O N . In ihren Ausführungen wird deutlich, daß die Frage nach dem fiktionalen oder historischen Status der Texte zurücktritt gegenüber der Bedeutung, welche Vorurteile bei der Begegnung mit dem Fremden haben. Die Beiträge des vierten Teils befassen sich unter verschiedenen Aspekten mit den Spannungsfeldern Sexualität, Liebe und Ehe. Einen Schwerpunkt bildet dabei der sogenannte Liebes- und Abenteuerroman. In den Überlegungen zum literarischen Thema des Vater-Tochter-Inzests von INGRID B E N N E W I T Z spielt er eine ebenso maßgebende Rolle wie in den Beiträgen von K L A U S R I D D E R und D I E T R I C H H U S C H E N B E T T . Während B E N N E W I T Z die geschlechtsspezifischen Aspekte des durch den Inzest-Wunsch eines Vaters entstehenden Konflikts herausarbeitet, fragt R I D D E R in seinem methodisch an die Intertextualitäts-Forschung anknüpfenden Beitrag nach der Liebe als Konfliktstoff in spätmittelalterlichen Romanen, die dem Erzählschema des Liebes- und Abenteuerromans verpflichtet sind (>Wilhelm von Österreich, >Reinfried von BraunschweigFriedrich von SchwabenProsaLancelot< nach. Demnach hat Galahot die Funktion eines Katalysators von Spannungen, die zwischen Lancelot, Ginover und Artus bestehen. Im Un-

X

I

orwort

terschied zu Interpretationen, die den >Prosa-Lancelot< auf eine einsinnige religiöse Botschaft festlegen wollen, betont M E Y E R die durchgehende Ambivalenz der Darstellung. Den Abschluß dieses Teils bildet ein Beitrag von J O H N M A R G E T T S . Er befaßt sich mit mittelalterlichen Bearbeitungen des Themas >Der Widerspenstigen Zähmung< in Kurzerzählungen und arbeitet die literarischen Muster heraus, nach denen die Ehe als Machtkampf zwischen den Geschlechtern dargestellt wird. Der fünfte Teil enthält Beiträge zu Formen der Regulierung des menschlichen Zusammenlebens, zu Problemen der Norm- und Regelsetzung und zu Verstößen gegen diese Regeln. E L K E B R Ü G G E N erhellt die gemeinschaftsstiftende Funktion des gemeinsamen Mahls im Mittelalter und die Bedeutung der Tischsitten, die Spannungen vermeiden sollten. In ihren Ausführungen wird deudich, daß das gemeinsame Speisen nicht allein ein formaler, sondern ein sozialer Akt von umfassenderem Gewicht war. C Y R I L E D W A R D S stellt in seinem Beitrag den ersten Spruch im Reichston Walthers von der Vogelweide in den Mittelpunkt und fragt nach der Herkunft der in dem Text entwickelten Bild- und Wertvorstellungen, für die er vor allem auf die lateinische Tradition des Kampfs zwischen Tugenden und Lastern verweist. ELIZABETH A N D E R S E N skizziert in ihrem Beitrag die Konflikte zwischen dem Weltklerus und den Bettelorden, insbesondere den Dominikanern, im 13. Jahrhundert und versucht, vor dieser Folie kritische Aussagen Mechthilds von Magdeburg im f l i e ß e n d e n Licht der Gottheit< über die Geistlichkeit zu erhellen. C H R I S T A B A U F E L D interpretiert die Stände- und Moralkritik Konrads von Megenberg im >Buch der Natur< als Ausdruck einer besonderen Konfliktbereitschaft des Autors und hebt das Nebeneinander von Wissensvermittlung und kritischem Engagement in seinem Werk hervor. Der Beitrag von G U N H I L D R O T H , der sich als Vorstudie zu einem rechtsgeschichtlichen Problemfeld versteht, geht der Bedeutung des Meineids anhand von verschiedenen Beispielen aus dem literarischen, theologischen und juristischen Diskurs nach. Der sechste und letzte Teil des Bands gilt der Rolle von Sprachmustern, literarischen Strategien und medialen Bedingungen bei der Darstellung, Erzeugung und Bewältigung von Konflikten. Was das Sprichwort bei der Typisierung, der Präsentation und der Reaktion auf Konflikte leistet, untersucht im ersten Beitrag E R N S T H E L L G A R D T . Die Frage der Konfliktdarstellung und Konfliktbewältigung im Sprichwort steht auch in dem folgenden Beitrag von M A N F R E D EIKELMANN im Mittelpunkt, der auf Wunsch des Verfassers in unserem Band gekürzt wiedergegeben wird. Die nächsten zwei Beiträge befassen sich mit literarischen Strategien und ihrer Funktion. H A N S - J O A C H I M ZIEGELER vertritt die These, daß Füetrer die Personifikation in seiner >LannziletWillehalm< den >Rennewart< und die >Arabel< enthält. Die Bildfolge ist seinen Beobachtungen zufolge nach einem alle Texte umgreifenden K o n z e p t gestaltet, das sie zu einer Trilogie macht. Im Verhältnis von Bild- und Textebene sind dagegen Diskrepanzen festzustellen. Der letzte Beitrag des Bands stammt von NORBERT RICHARD WOLF, der nach dem Z u s a m m e n h a n g v o n Medienwandel und verschiedenen Formen von Öffentlichkeit fragt und damit Probleme aufgreift, die unter anderem Aspekt auch im ersten Beitrag dieses Bands T h e m a sind. D i e Diskussion des Bristoler Colloquiums ist in Protokollen festgehalten. D a s Herausgeber-Team hat sich entschlossen, die unterschiedlichen F o r m e n der Protokolle, die ihm zugegangen sind, nicht zu vereinheitlichen. In einig e n Fällen erschien es sinnvoll, nur die sachliche Substanz der Diskussion zusammenzufassen, in anderen aber, den genaueren Verlauf zu dokumentieren. Bei der Redaktion der Protokolle war zu berücksichtigen, daß gelegentlich erhebliche Differenzen zwischen Vortrags- und Schriftfassung bestanden. A u s diesem G r u n d wurde auf die Dokumentation der Diskussion zu d e m Vortrag von MARTIN JONES g a n z verzichtet. D u r c h ein Versehen ist leider die lebhafte Diskussion zu dem Beitrag v o n ELKE BRÜGGEN nicht protokolliert worden. D a s T h e m a der Bristoler T a g u n g erscheint, wie gesagt, unerschöpflich. D e s h a l b kann dieser Band auch alles andere als Vollständigkeit unter den behandelten Gesichtspunkten für sich in Anspruch nehmen. Wenn er Anregungen zu weiterer thematischer Vertiefung, methodischer Aufarbeitung und theoretischer Reflexion auf verschiedenen Feldern bieten sollte, hätte er seine A u f g a b e erfüllt. Die drei Organisatoren und Herausgeber sind zu vielfältigem Dank verpflichtet. Ohne die großzügige Unterstützung von verschiedenen Institutionen wäre die D u r c h f ü h r u n g des Colloquiums sowie die D r u c k l e g u n g der Beiträge nicht möglich gewesen; deshalb sei an dieser Stelle allen gedankt, die sich an der Finanzierung beteiligt haben: der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fritz-Thyssen-Stiftung, dem Goethe-Institut L o n d o n , der British Academy und der University o f Bristol, vor allem der Alumni F o u n d a t i o n und dem Department o f German. Herzlich gedankt sei ferner

XII

Vorwort

den freundlichen Gastgebern in Rodney Lodge und Wells; Neale Laker und Alison Williams in Bristol und Christa Friese in Trier für ihre Unterstützung der Organisation, Jutta Eming und Ulrike Lange in Berlin für ihre Hilfe bei der Redaktion der Beiträge und schließlich dem Max Niemeyer Verlag für die Aufnahme des Bandes in sein Programm. Kurt Gärtner

Ingrid Kasten

Frank Shaw

I. Eröffnungsvortrag: Konflikte in Politik und Publizistik

Heinrich VIII. und Martin Luther Ein europäischer Streit und dessen Niederschlag in Literatur und Publizistik von JOHN

L.

FLOOD(LONDON)

Der Streit zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und dem deutschen Reformator Martin Luther ist nicht nur Teil der großen Auseinandersetzung zwischen dem Katholizismus und dem Protestantismus, er ist auch Teil der großen Auseinandersetzung >für Rom< oder >gegen RomDe captivitate Babylonica ecclesiae< veröffentlicht. Während die beiden anderen großen 1

Die Literatur über Heinrich VIII. und die englische R e f o r m a t i o n ist u n ü b e r s c h a u b a r . Es seien hier nur e i n i g e g r u n d l e g e n d e , hauptsächlich neuere A r b e i t e n g e n a n n t : PHILIP HUGHES: T h e Reformation in E n g l a n d . 5. A u f l . L o n d o n 1963; H . MAYNARD SMITH: Henry VIII and the Reformation. L o n d o n 1948; J . J . SCARISBRICK: T h e R e f o r m a t i o n and the E n g l i s h People. O x f o r d 1984; A . G. DICKENS: T h e English R e f o r m a t i o n . 2., neubearb. A u f l . L o n d o n 1989; D. STARKEY: T h e R e i g n of H e n r y VIII: Personalities and Politics. L o n d o n 1985. S. BRIGDEN: L o n d o n and the R e f o r m a t i o n . O x f o r d 1989; CHRISTOPHER HAIGH ( H r s g . ) : T h e E n g l i s h R e f o r m a t i o n Revisited. C a m b r i d g e 1987; ders.: E n g l i s h R e f o r m a t i o n s . R e l i g i o n , Politics, and Society under the Tudors. O x f o r d 1993.

John

4

IFlood

Schriften des Jahres 1520, >An den chrisdichen Adel deutscher Nation< und >Von der Freiheit eines Christenmenschen< in deutscher Sprache erschienen, war die >Babylonica< lateinisch abgefaßt, weil Luther ein gelehrtes Publikum im Auge hatte. Innerhalb eines Jahres fand das lateinische Original, von Wittenberg ausgehend, eine weite Verbreitung mit sieben auswärtigen Ausgaben aus Straßburg, Basel, Paris, Leiden, Antwerpen und Wien. Es handelt sich um einen umfassenden Angriff auf die Sakramentenlehre der Kirche, den Luther seit Herbst 1519 in verschiedenen Sermonen vorbereitet hatte. : Schon am Ende von >An den christlichen Adel deutscher Nation< (August 1520) kündigt er die Veröffentlichung seines Angriffs auf die Sakramentenlehre an: Wolan, ich weyß noch ein lidlen von Rom vnnd vonyhnen: jucket sie das ohr, ich wilsyhn auch singen vnd die notten a u f f s höchst stymmenn, vorstehst mich wol, liebes Rom, was ich meyne? (WA 6, S. 469). Dieses >LiedleinDe captivitate Babylonica ecclesiaeVom Sakrament der Buße« (D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe [im folgenden: WA] 2, S. 713). >Von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe< (WA 2, S. 727). >Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Brüderschaften« (WA 2, S. 742). In einem Brief vom 18. Dezember 1519 an Spalatin faßt er das Ergebnis seiner Überlegungen zusammen: Andere Sakramente als diese drei: Buße, Taufe und Abendmahl gibt es nicht (WA Br 1, S. 594-95). 1 Martin Luther, Antwortt deutsch Mart. Luthers auff König Heinrichs von Hügelland buch. Wittenberg: N. Schirlentz 1522, Bl. A l v . Exemplar der British Library, London: C.37.f.35. Der lateinische Text findet sich in WA, 10,11, S. 180ff. Ich zitiere auch im folgenden nach der deutschen Fassung. 4 Einzelheiten finden sich im Bibliographischen Anhang. Die fünf Ausgaben sind allesamt nicht datiert. WA und JOSEF BENZING: Lutherbibliographie. Wiesbaden 1966, setzen sie ins Jahr 1520, aber da das lateinische Original erst am 6. Oktober und Schotts Erstausgabe von Murners Fassung erst im Dezember erschienen, müssen wir wohl zumindest einige davon ins Jahr 1521 setzen. Ob die niederländische Übersetzung (BENZING 717) auf den lateinischen Text oder auf Murners Übersetzung zurückgeht, habe ich nicht ermitteln können. Immer noch grundlegend ist: WALDEMAR KAWERAU: Thomas Murner und die deutsche Reformation. Halle 1891. Über Murner s. jetzt HEDWIG HEGER: Thomas Murner. In: STEPHAN FUSSEL (Hrsg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600). Berlin 1993, S. 296-310.

2

Heinrich

Vili,

und Martin

Luther

5

bens mit der Reformation konfrontiert sah und für oder gegen sie Stellung zu nehmen hatte. Wie immer sich die Elsässer Humanisten entschieden, sie hielten sich doch zumeist im Hintergrund. Nur Murner stürzte sich mit bissigem Temperament und ohne jede Kompromißbereitschaft in die religiösen Auseinandersetzungen und setzte auch sein gan2es satirisches Talent darein, Luther anzugreifen. Mit seiner Schrift >Germania nova< (1502), mit der er Jakob Wimphelings >Germania< von 1501 widerlegen wollte, hatte Murner die Feindschaft Wimphelings auf sich geladen, der ihn in seiner >Defensio Germaniae< mit Schimpfnamen geradezu überschüttete. Einer davon, Murr-narr, begleitete ihn sein Lebtag, ebenso die Karikatur, die ihn mit Katzenkopf darstellt. 5 Eine Folge dieser Auseinandersetzung war, daß Murner, den Johann Fischart später als des Heiligen römischen Reiches obersten Dreckrüttler bezeichnete, fortan aus der Schar der Humanisten ausgeschlossen war und trotz seines großen Könnens isoliert blieb. Murners Kampf gegen Luther und die Reformation setzt im Herbst 1520 ein und bringt in zwei Jahren sieben Streitschriften; 1521 spricht er gar noch von sechsundzwanzig weiteren noch ungedruckten. 6 Mit seiner deutschen Übersetzung der >De babylonica captivitateBabylonica< große Entrüstung aus. Erasmus sah sein Streben, zum Frieden zu wirken, nunmehr vereitelt: Vor der Veröffentlichung der Schrift hätte sich die Sache noch heilen lassen.8 Der F R A N C E S HANKEMEIER E L L I S : Hans Sachs Studien I: Das Walt got: A Meisterlied. (Indiana University Publications. Humanities series, 4). Bloomington 1941, S. 80, leitet das Murr-Narr-Motiv freilich erst auf deutsche Verse Nikolaus Gerbeis zurück, die in parodistischer Umdichtung des alten Judasliedes einer lateinischen Flugschrift vom Dezember 1520 angehängt waren: A cb du armer Murnar, was bastu getban, Das du also blind in der beylgen scbrift bist gonf Des mustu in der kutten lyden pin Aller gierten Murr-Narr must du sin, Ohe ho lieber Murnar. 6 Siehe J. M. LAPPENBERG: Dr. Murners Ulenspiegel. Leipzig 1854, S. 405. Ich verweise hier auf den interessanten Sammelband mit dem treffenden Titel >Der Murner wider den Luther< in der UB Basel (Sign. F M' XI 9), in dessen erstem Teil aufeinander bezogene Schriften Murners und Luthers miteinander abwechseln und der auch den lateinischen Text von Heinrichs >Asserticx (Straßburg: J. Grüninger, 1522) enthält; s. VOLKER HONEMANN: Deutsche Literatur in der Laien bibliothek der Basler Kartause 1480-1520. Habil.-Schr. FU Berlin 1982, Bd. 1, S. 140-43. Den Hinweis verdanke ich Volker Honemann. 7 Dazu s. WA 6, S. 488, und: Martin Luther, De captivitate babylonica ecclesiae praeludium Martini Lutheri (Wittenberg, Melchior Lotter, 1 5 2 0 ) mit einem Nachwort von E B E R H A R D W Ö L F E L (Quellen zur Geschichte des Humanismus und der Reformation in Faksimile-Ausgaben, Bd. 3). München o . J . [1964?]. 8 P. S. A L L E N , H. M. A L L E N und H. W. G A R R O D : Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami. 11 Bde. Oxford 1906-47, Bd. 4, S. 444, Nr. 1186 an Nicolaus Everaerts in Löwen, 25.2.1521. 5

6

John

L.

Flood

Beichtvater Karls V., der sich von Luther zunächst ein edles neues Gewächse versprochen hatte, davon der Kirche nut^barüche Früchte hätten kommen mögen, gab zu, daß, als er die Schrift gelesen hatte, er nicht weniger erschrocken gewesen wäre, als hätte ihn einer mit einer Geißel vom Haupt bis zu den Füßen gehauen. 9 Auch Johannes Bugenhagen (1485—1558) fühlte sich beim ersten Lesen wie von Peitschenhieben getroffen und warf das Buch entrüstet weg, dann aber wirkte es auf ihn wie die Befreiung von einer Blindheit und gab den letzten Anstoß zu seinem Entschluß, 1521 nach Wittenberg zu gehen. Die schockierende Wirkung der Schrift wurde noch durch den Umstand erhöht, daß sie gerade in den Wochen in die Hände der Leser gelangte, als die Bulle >Exsurge Domine< vom 15. Juni 1520 mit der Bannandrohung gegen Luther erschien. Heinrichs Einschritt brachte die Angelegenheit aber auch ins Rampenlicht der internationalen Politik. Die berühmte Demarche Heinrichs VIII. gegen Luther hängt nicht zuletzt mit dem Ehrgeiz von Kardinal Thomas Wolsey (c. 1475-1530) zusammen, die Nachfolge Petri anzutreten. Er war deshalb gegen alles Schismatische und Ketzerische, und Heinrichs Schreiben gegen Luther wurde ausdrücklich auf seinen Wunsch hin verfaßt. 10 Heinrich war entsetzt über Luthers Angriff auf die Sakramentenlehre, und er schickte Gesandte nach Deutschland, die ihn auf dem laufenden halten sollten. Cuthbert Tunstall, späterer Bischof von London, berichtete im Januar 1521 aus Worms in einem Brief an Kardinal Wolsey kurz über den Inhalt der >Babylonica< und meinte: They say ther is moch moo stränge opinions in hit nere to the opinions o f f boheme. I pray god kep that boke out o f f englond.u Boheme meint Böhmen und die Lehren des 1415 auf dem Konstanzer Konzil verurteilten Johannes Hus, der von dem Oxforder Theologen John Wyclif (1338—1384) und der englischen Lollard-Bewegung stark beeinflußt worden war. 12 Diese beiden, Wyclif und Hus, spielen eine unterZit. nach WA 6, S. 493. So wenigstens PRESERVED SMITH: Luther and Henry VIII. In: The English Historical Review 25 (1910), S. 656-669, hier S. 657 und Anm. 8. Über die »Asserticx s. M. BROWN: Henry VIII's Book Assertio Septem sacramentorum and the Royal Title of Defender of the Faith. In: Transactions of the Royal Historical Society 8 (1880), S. 242-61; SCARISBRICK [Anm. 1], S. 111-18. Über Wolsey s. P. GWYN: The King's Cardinal: The Rise and Fall of Thomas Wolsey. London 1990, und S. J. GUNN und P. G. LINDLEY (Hrsg.): Cardinal Wolsey. Church, State and Art. Cambridge 1991. Auf die alte Streitfrage, wer die >Assertio< wirklich geschrieben hat, wollen wir hier nicht eingehen. Luther selbst meinte, Heinrich habe geringen Anteil daran gehabt. Wörtlich schreibt er: fts meynten viel / König Heynrieb habe diß biuhün nicht selb gemacht / da ¡igt myr nichts an. Iis hab könig Heynt£ odder kunt£ teufjel odder die belle selbs gemacht. Wer Zeugt der ist ein lügener / darum b Jörcbt ich ihn nicht. Müh duruki voll / könig Heynrich habe cyn eile grobs tuchs oder !7üo dar^ü geben. Vnd der g i f f t i g e bube leus / der widder Eraßmum geschrieben batt / oder seins gleichen / habe die kappen geschnytten vnd mit jutter vntertxpgen. Aber ich vil sieybn ansthreychen [ ! ] vnd schellen dran schürten / ob gott will. >Antwortt deutsch Mart. Luthers auff König Heinrichs von Engelland buch< [Anm. 3[, Wittenberg: Nickel Schirlentz, 1522, BL. A2 r . " CHARLES STURGE: Cuthbert Tunstal. London 1938, S. 361 f. 12 Über die Verbreitung der Wydifschen Schriften s. ANNE HUDSON: The Premature Reformation. Wydiffite Texts and Lollard History. Oxford 1988; dies.: I.ollard Book production. In: Book 9

10

P r o d u c t i o n a n d P u b l i s h i n g in B r i t a i n PEARSALL. C a m b r i d g e 1989.

1 3 7 5 - 1 4 7 5 . H r s g . v o n JEREMY GRIFFITHS u n d DEREK

Heinrich

Vili,

und Martin

Luther

7

schwellige Rolle in Heinrichs Streit mit Luther (Johannes Eck hatte Luther schon 1520 als den sächsischen Hus bezeichnet).13 Auch in Deutschland wurden die Lehren Wyclifs für gefährlich gehalten. Um 1490 macht Johannes Lichtenberger die Gestirnskonstellationen für das Auftauchen falscher Propheten, insbesondere das der ket^ermayster Beheim / Wickleff vnnd Johannes Huß / vnd Rockenzan, verantwordich. 14 Hartmann Schedels >Weltchronik< (Nürnberg, 1493) behandelt Wyclif ausfuhrlich im Kapitel Von ket^erey der hussen vnd von irem vrsprung (Bl. 238'). Sogar im >Eulenspiegel< (um 1510) heißt es von der Stadt Prag: • • • Zu ¿er Zeit woneten daselbest noch gut Cristen, der Zeit, als Wicklieb uß Engelland die Ketzerei in Behemen thete und durch Johannes Hussen geweitert ward}'' Der Straßburger Buchdrucker Johann Grüninger brachte 1523 die >Hystoria von den alten hussen zu Behemen in Keiser Sigmunds zeiten< des Albertus Krantz in der Übersetzung des Johannes Cochläus und 1524 ein Buch von Theophilus Tectonus mit dem Titel >Compendios Boemice hereseos ortus & descriptio< heraus. In einem Holzschnitt aus dem Jahre 1528 sind Hus und Wyclif die Ketzer, an denen das Schiff der Kirche unterzugehen droht.16 In einer böhmischen Handschrift aus dem Jahre 1572 zeigt der Illuminator Wyclif, der den Funken schlägt, Hus, der eine Kerze hält, und Luther, der eine brennende Fackel emporhebt.17 So riet Tunstall dem Kardinal, den englischen Buchhändlern und Drukkern den Import und die Ubersetzung lutherischer Werke ins Englische zu verbieten, lest therby myght ensue grete troble to the realme and church o f f englond,18 Auch berichtete er über Luthers Verbrennung der päpsdichen Bulle und schickte Kardinal Wolsey ein Exemplar von Luthers Verteidigung dieser Handlung, >Adversus execrabilem Antichristi bullam< (1520)." Als Papst In der Satire >Conciliabulum Theologistarum adversus bonarum literarum studiosos< läßt Crotus Rubeanus den Kölner Professor Stentor sagen, er und seine Kollegen würden ewigen Ruhm ernten, wenn sie Luther genauso wie den Hus zum Scheiterhaufen verurteilten: &bem possemus nobis Jormare nomen immortale, si combusserimus etiam illum [Luther] sicut Huss (S. Abydenus Corallus [d. i. Crotus Rubeanus]: Dialogi Septem [Straßburg? 1521?], Bl. cl v ). ''Johannes Lichtenberger: Prognosticatio, deutsch (Heidelberg, um 1490); wiederholt in einer anonymen Practica, deutsch, o. O. 1521, Bl. A3'. Dazu s. H E I K E TALKENBERGER: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488-1528 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26). Tübingen 1990, S. 146. Den Dreistern Wyclif, Hus und Rockenzan erwähnt auch Johannes Butzbach; s.Johannes Butzbach: Odeporicon. Zweisprachige Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von A N D R E A S B E R I G E R . Weinheim 1991, S. 226. Rockenzan (Jan Rokycana, ca. 1390-1471), ein Anhänger des Hus, vertrat 1433 die Forderungen der Hussiten auf dem Baseler Konzil; 1435 wurde er Erzbischof von Prag. 15 Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Hrsg. von W O L F G A N G L I N D O W . Stuttgart 1 9 6 8 , S. 8 2 (Historie 2 8 ) . In der Ausgabe von S I E G F R I E D H. S I C H T E R M A N N : Hermann Bote, Ein kurzweiliges Buch von Till Eulenspiegel (insel taschenbuch 336) 2. Aufl. Frankfurt am Main 1981, S. 86, heißt es: Zu der Zeit wohnttn dort noch gute Christen, und das war vor der Zeit, als Wiclif aus England die Ketzerei nach Böhmen brachte... 16 Abgebildet bei A. G. D I C K E N S : Reformation and Society in Sixteenth-Century Europe. London 1966, S. 18. 17 Abgebildet bei D I C K E N S , S . 13. ,3

"STURGE (Anm.

" Siehe

WA

11].

6, 596;

BENZING

Nr.

724-727

(lateinisch), 7 2 8 - 7 3 0 (deutsch).

John L. Flood

8

L e o X . die Verbrennung von Luthers Schriften in England forderte, kam Wolsey dem Befehl geflissendich nach: Am Sonntag, 12. Mai 1521 wohnten König und Kardinal, ausländische Gesandte und andere hohe Persönlichkeiten der Bücherverbrennung vor der Paulskathedrale in London bei. In einer zweistündigen Predigt - dem ersten antilutherischen Text, der in englischer Sprache im Druck erschien 2 " - lobte John Fisher, Bischof von Rochester, Heinrich und Wolsey, verwarf Luther, verteidigte die päpstliche Autorität, verlas das Schreiben Leos und erwähnte erstmals Heinrichs noch nicht abgeschlossene Schrift gegen Luther. 21 Wolsey hatte nämlich schon ein Exemplar von Luthers >De captivitate Babylonica ecclesiae< besorgt. Der ambitionierte Wolsey legte es in die Hände des Königs und flößte ihm den Gedanken ein, es wäre ein frommes Werk und ein seiner hohen Gelehrsamkeit angemessenes Unterfangen, wenn er eine Entgegnung zu schreiben geruhen würde. Wie Wolsey, hatte auch Heinrich politische Absichten. Er war nämlich darüber enttäuscht, daß der Papst ihm noch keinen ehrenvollen Titel verliehen hatte, denn während der französische König sich als >allerchristlichen König< und der spanische Monarch als >Katholischen König< feiern ließen, hatte Heinrich keinen vergleichbaren Titel, obwohl L e o X . bereits seit 1515 Überlegungen über einen angemessenen Titel für ihn anstellte. Schon 1516 war man dabei, die Verleihung des Titels >Fidei Defensor< in Erwägung zu ziehen, aber einen entsprechenden Beschluß hatte man in der Kurie noch nicht gefaßt. So hoffte Heinrich durch einen Angriff auf Luther eine positive Entscheidung in die Wege zu leiten. 22 Seine Schrift >Assertio Septem sacramentorum< entwarf er im Frühjahr 1521 - also etwa zur gleichen Zeit, als Luther in Worms verhört wurde - ; sie erschien bereits im Juli 1521 in London im Druck. Achtundzwanzig Exemplare wurden nach Rom geschickt. Heinrich widmete die >Assertio< dem Papst und ließ Leo ein schönes handgeschriebenes Exemplar durch Wolseys Kaplan, John Clerk, überreichen. Clerk hielt eine Rede, in der er dem Papst versicherte, Heinrich sei fest entschlossen, die Kirche zu unterstützen und Ketzer zu unterdrükken. Leo bedankte sich mit einem schwülstigen Brief, mit dem er Heinrich den langersehnten Titel >Fidei Defensor< verlieh. 23 Lesern der Schrift versprach er zehn Jahre und zehnmal vierzig Tage Ablaß: Librum hunc legentibus decem annorum et totidem XL indulgentia Apostolica Authoritate concessa est (Bulle vom 11. Oktober 1521). In einer Londoner Ausgabe der >Assertio< vom Jahr 1522 ist auch Clerks Rede mit einem scharfen Angriff auf Luther und über20

STC2

|s. B i b l . A n h a n g ] 1 0 8 9 4 L o n d o n : W y n k y n de W ö r d e [1521]. Weitere Ausgaben:

STC2

10994.5, 1 0 8 9 5 , 10896, 10897. E i n e lateinische Übersetzung durch Richard Pace g e h ö r t zu den wenigen B ü c h e r n , die um diese Zeit in C a m b r i d g e gedruckt wurden ( S T C 2 10898, gedruckt v o n J , S i b e r c h , 1521). 21

Letters and Papers, F o r e i g n and D o m e s t i c , o f the R e i g n o f Henry V I I I . Hrsg. v o n j . S. BREWER. 2 2 Bde. L o n d o n 1 8 6 2 - 1 9 3 2 , Bd. 3 , i , 485.

22

Letters and Papers o f Henry V I I I , Bd. 2, 9 6 7 , 1450, 1928.

23

Dazu

s. S M I T H

[ A n m . 10], S. 6 5 8 , A n m .

16.

Heinrich Vili, und Martin Luther

9

schwenglichem Lob auf Heinrich mitsamt der Bulle über die Titelverleihung abgedruckt. 2 4 Vom lateinischen Text der >Assertio< sind aus dem 16. Jahrhundert insgesamt sechzehn Ausgaben bekannt (s. den Bibliographischen Anhang). Davon sind elf in den Jahren 1521-23 erschienen, und zwar drei beim königlichen Buchdrucker Richard Pynson in London, zwei in Antwerpen und je eine in Rom, Paris, Mainz, Straßburg, Wittenberg und Köln. In Antwerpen hat Michiel Hillen von Hoochstraten sowohl die >Assertio< als auch Luthers >Babylonica< gedruckt! 2 5 A u f die Straßburger Ausgabe geht Thomas Murners Ubersetzung zurück; beide erschienen beim altgläubigen Straßburger Drucker Johann Grüninger. Eine zweite Ubersetzung besorgte Hieronymus Emser im Auftrag Herzog Georgs von Sachsen. Im Vergleich zu den Widerlegungen Luthers durch Johann Eck und J o hann Cochläus 26 war die >Assertio< kein profundes Werk. Heinrich wollte Luthers Irrtümer klar vor A u g e n führen. Zu diesem Zweck bringt er ausgiebige Zitate aus Luthers Schrift — ein ziemlich riskantes Verfahren, das dem Leser erst recht die Möglichkeit eröffnete, sich zuverlässig über Luthers Ansichten zu informieren! Im Stil war die >Assertio< fast so vehement, wie wir es aus Luthers Schriften kennen. So schreibt Heinrich in der Vorrede, er könne sich keine giftigere Schlange vorstellen als eben den Verfasser der >Babylonischen Gefangenschaft. Ich zitiere nach der Ubersetzung Murners. wölche so g i f f t i g e schlang hat vnsj/e überkrochen / als die / so von der Babiionischen gefenckniß der kirchen geschriben / die hailigen schri/ft seins gej"allem wider die sacrament Christi gebogen / christenüche Ordnung der kirchen von den alten auf/gesetzt verspotet / die allerhailigsten alten außleger der schrift / wo sie nit mit jm stymen oder jm seiner meynung nit dienstlich sein vernichtet. Den hailigen Römischen stul / Babilon nennet / das oberste priesterthumb ein Tyrannei heist / der gant^en kirchen hailsame Satzungen für ein gefencknis achtet / vnd des allerhailigisten obersten Bischofs namen / in den Endtchrist verwechselt hat. O wie ist das ain auffblaser so ainer heßlichen hoffart / Schmach / vnd trennung des Christenlichen volckes? O wie ain grosser hellischer wolf ist das / der do suchet / wie er die schaff christi ^erströwen müg? wie ain großglid des teüfels ist / der die Christgleubigen gelider Christi / von jrem haupt vil abreyssen? wie stinckend ist sein gemüt? wie verflucht / sein fürnemen? der do nit alleyn die begraben schismata widerumb erwecket / sonder den alten / newen %uthut / vnd die ket^ereyen / so in ewige finsternuß geworffen werden sollen /gleich wie den hellischen hund Cerberum widerumb an das Hecht bringet / vnd sich selber so hoch scheltet / d\ / alle alte väter hindan gesetzt / die gant^e kirch allein nach seinen worten regirt (oder mer verfüert) werden soll. (Bl. A3V)27 2*

STC 2 13083; s. Bibl. Anhang (c) 7, Wahrscheinlich war es ein Exemplar der lateinischen Ausgabe, das der Anrwerpner Secretarius Cornelius Grapheus Ende Juni / Anfang Juli 1521 Albrecht Dürer schenkte; s. JANE CAMPBELL HUTCHISON: Albrecht Dürer. A Biography. Princeton 1990. S. 172. 26 Johannes Cochläus, De gratia sacramentorum. Straßburg: Grüninger, 1521. 1522, Exemplar der British Library, London: 853.h.2. Den lateinischen Originaltext findet man bequem im Nachdruck der Ausgabe Rom 1521, erschienen bei Gregg Press Incorporated, Ridgewood, N. J., 1966, Bll. a3"-A4'. Ausfuhrlich über Inhalt und Stil der »Asserticx berichten NEELAK SERAWLOOK TJERNAGEL: Henry VIII and the Lutherans. St. Louis 1965, S. 11-15, und WILLIAM A. CLEBSCH: England's Earliest Protestants, 1520-1535. New Haven 1964, S. 19-23. 23

10

John L. Flood

Auf Heinrichs >Assertio< hat Luther im Juni 1522, also erst nach fast einem Jahr, reagiert. Erst das Erscheinen von Emsers Ubersetzung forderte ihn zu einer Stellungnahme heraus. 28 Seine >Antwort deutsch auf König Heinrichs von England Buch< erschien bereits um den 1. August, die für theologisch gebildete Leser anspruchsvollere lateinische Fassung >Contra Henricum Regem Angliae< Ende September im Druck. 29 Es versteht sich von selbst, daß diese Schrift keine englische Auflage erlebte.30 Im lateinischen Widmungsschreiben an den böhmischen Grafen Sebastian Schlick verwahrt sich Luther gegen Heinrichs Behauptung, er wolle sich nach Böhmen absetzen - schon der Bischof von London, Tunstall, hatte auf die böhmischen Neigungen Luthers hingewiesen —, und spricht ostentativ seine Bewunderung für Johannes Hus aus. Der Ton von Luthers Schrift ist so scharf wie der seines Gegners. Bezugnehmend auf Heinrichs Titel >Defensor fidei< bittet er Gott, das er mich iah nicht laßynn der kircheti seyn / da der könig von Engelland schut^herr ist (Bl. AI"). Er bezeichnet Heinrich — oder Heynt^ wie er ihn meist nennt — als von gotis vngnaden könig von Engellandt und heißt ihn lügenkonig (Bl. B3V). Schon das Titelblatt trägt den Spruch Lügen thun myr nicht/ Warheyt schew ich nicht/, und die Vorwürfe des Lügens häufen sich nur so im Text: Der halben mich groß wunder hat / das der könig von Engellandt sich nicht ynn seyn hert%_ schemet / der frechen lügen / das er myr schuld gibt. ... seyne g y f f t i g e boßhafftige lügen ... Wer aal glewben das ehr an eym ortt war sage / der ßo öffentlich vnuerschampt an dießem ortt leugt

(Bl. A3')

und so in diesem Ton weiter. D4r heißt es: Zwar ich bynfast müde vnd vnlustigynn dem dreck des konigs t^u handelln / het auch wol nötiger t^uschaffen. Doch muß man narren mit kolben laußen / ob sie wol nichts klüger dauon werden. Jch mußyhn die schellen vollend anschürten / vnnd den t e u f f e l l noch baß ert^urnen / der hie Ceter Mordio schreyet durch könig Heynt^en / spruet vnd wütet.

Und F4r am Schluß: Wyrt myr aber ymant schuld geben / ich königlicher maiestet nicht verschonet habe / vnd alt^uhart antastet / der sol wißen / dz ichs darumb than habe / er seyn selbs nicht verschonet hat. Leugt er doch so öffentlich vnd vnuerschampt auß fürsat^ / alß die buben. So schilt er ßo bitter g i f f t i g vnd on vnterlaß / alß keyn öffentliche t^ornige Hure schelten mag / das man wol sihet / wie kein königlich oder [ = A der ?] anyhm ist. Könige pflegen nicht ßo bübisch liegen / noch so weybisch t%u toben. ... Zuo let^t hatt Henricus von gotis vngnaden König von Engellandt latinisch da widder geschrieben; das ist nun auch verdeutscht ynn Meyssen, vnd da meynen sie, dem Luther sey geraten. Vnnd t~a jr, wtnß nicht sunde were ... A her vmb der frumen Christen willen muß ick äraufj antworten, auch lateinisch vnd deutsch, das sie sich wissen t^uo schütten. (WA 10,2, S. 227-28). M Zur Datierung s. WA 10,2, S. 177-78. Der Text der beiden Fassungen findet sich in WA 10,2, S. 180-222 (lat.) bzw. 227-72 (dt.). 30 Möglicherweise ist die im März 1523 in Deventer gedruckte dritte lateinische Ausgabe ( B E N Z I N G 1227) auch im Hinblick auf den englischen Markt erschienen. Es ist wohl nur Zufall, daß sich das einzige bei B E N Z I N C verzeichnete Exemplar in der British Library befindet; WA 10,2, S. 179 C, kennt ein weiteres Exemplar in Berlin. ly

Heinrich

VIII.

und Martin

Luther

11

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Luthers Ton in dieser Schrift den Anlaß zu Thomas Murners >Ob der König aus England ein Lügner sei, oder der Luther< vom November 1522 gab. Selbst Luthers Freunde, Spalatin zum Beispiel, entsetzten sich über die Maßlosigkeit seines Angriffs. Heinrich selbst fühlte sich in seiner königlichen Ehre gekränkt. In einem Schreiben vom 20. Januar 1523 an die sächsischen Fürsten gab er seiner Meinung Ausdruck, ein solcher Häretiker müsse im Interesse der Ehre Deutschlands unterdrückt werden, auch sei es gefährlich, dessen Bibelübersetzung zu lesen. Hieronymus Emser hat Georgs von Sachsen zustimmende Antwort vom 15. Mai zusammen mit Heinrichs Brief in Leipzig drucken lassen; Thomas Murner hat sie später in deutscher Ubersetzung herausgegeben (s. Bibl. Anhang (1)). Es versteht sich von selbst, daß der standesbewußte Heinrich sich nicht mehr mit dem abtrünnigen Mönch raufen wollte. Es fanden sich jedoch viele Leute, die willens waren, ihm beizustehen. Als erster meldete sich Thomas Murner mit der bereits genannten Schrift >Ob der König aus England ein Lügner sei, oder der LutherDe libero arbitrioAllegorie zu Ehren Luthers< von Peter Vischer d. J . (1487-1528) aus dem Jahre 1524, die im Goethehaus am Frauenplan in Weimar hängt. Rechts im Bild ist der Untergang der katholischen Kirche dargestellt, versinnbildlicht durch ein zerborstenes und in Flammen stehendes Gebäude mit der Überschrift Sedes Aposloiica Romana. Ein Zusammenhang mit dem Bild der Zerstörung Babylons im Neuen Testament ist unverkennbar. 3 ' >Ruina Babylonica< ist noch hundert Jahre später ein beliebtes Thema der protestantischen Polemik. 60 Der Sturz Roms ( = Babylons) im Bild im Neuen Testament erinnert auch an Luthers >An den christlichen AdelAn den Großmechtigsten und Durchlauchtigsten adel tütscher nation das sye den chrisdichen glauben beschirmen wyder den Zerstörer des glaubens Martinum luther, einem verfierer der einfeltigen christen< (1520), nimmt Murner sich vor, die Mauern wieder aufzurichten. Interessant ist auch die Rolle der Tiersymbolik. Bereits in der Einleitung zur Bulle >Exsurge domine< ist von Füchsen und einem Kber aus dem Wald die Rede, die den Weingarten der Kirche zerstören wollen. 61 Schon das Bild, das Lord Morley Heinrich VIII. aus Köln geschickt haben könnte, zeigt Luthers Gegner als Tiere: Murner als Kater, Emser als Bock, Papst Leo naheliegenderweise — als Löwen, Eck als Sau und den Tübinger Theologen Jakob Lemp als Hund. Diese Konstellation findet sich bereits in Hans Sachs' Meisterlied >Das walt got< (wohl 1522/23), wo er von Luthers Gegnern als Tieren spricht: Swtin pock bunt kacz die thire pedewtten vns die vire Eck emser lemp murner (V. 65—67 ) 62

Auch in der >Wittenbergisch Nachtigall< (1523) heißt es: Nun hat der low viel milder thür [Tiere], Die wider die nachtigall blecken, Waldesel, schwein, höck, kat^ und Schnecken.

(V. 54—56)

v o n literarischer G a t t u n g und publizistischem M e d i u m (Pictura et poesis 5). K ö l n und W i e n 1993, S. 7 6 , 7 8 , 121, 1 2 3 , 1 2 5 - 2 6 . 59

Z u diesem Bild s.: A l l e g o r i e zu E h r e n L u t h e r s . F e d e r z e i c h n u n g v o n Peter V i s c h e r dem J ü n g e r e n 1524. Aus G o e t h e s K u n s t s a m m l u n g . M i t einer E i n f ü h r u n g v o n WOLFGANG HECHT. J a h r e s g a b e der N a t i o n a l e n F o r s c h u n g s - und G e d e n k s t ä t t e n der klassischen deutschen L i t e r a t u r in W e i m a r 1982. E i n weiteres Bild einer wie v o m E r d b e b e n g e t r o f f e n e n z u s a m m e n s t ü r z e n d e n Stadt e r w ä h n t TALKENBERGER

[ A n m . 14], S. 2 0 8 and S. 5 2 1 , A b b .

S8.

" S i e h e ULRIKE DOROTHEA HÄNISCH: >Confessio A u g u s t a n a triumphansPractica deutsch« des einflußreichen und angesehenen Heidelberger Astrologen Johann Virdung, 1521 erschienen, zeigt z. B. den König von England, der sich wilder Tiere erwehren muß, die ihn angreifen; sie versinnbildlichen seine Feinde." *

*

*

Wie wir schon sahen, vergleicht Johannes Faber Heinrichs Auftreten gegen Luther mit Davids Kampf gegen Goliath. In der Tat dürfte es schon selten vorkommen, daß ein kleiner Professor sich mit einem mächtigen König anlegt. Wie erklärt es sich wohl, daß dieser Streit nur geringe Resonanz fand und im zeitgenössischen deutschsprachigen Schrifttum so wenige Spuren hinterließ? Es sind, wie ich meine, verschiedene Faktoren am Werk. Erstens darf man nicht übersehen, daß der Streit größtenteils in lateinischer Sprache ausgetragen wurde. Luther schrieb denn auch die >De babylonica captivitate< ausdrücklich für theologisch gebildete Gelehrte. Auch Heinrichs >Assertio< erschien zunächst nur in lateinischer Sprache. Vermutlich ist dem sogenannten gemeinen Mann, in England wie in Deutschland, wenig davon zu Ohren gekommen. Selbst als diese Schriften endlich ins Deutsche übersetzt wurden, fanden sie — das ist ein zweiter Faktor — nur geringe Verbreitung: Thomas Murner und der Drucker Johann Grüninger hatten wiederholt Schwierigkeiten mit dem Straßburger Magistrat, und selbst Hieronymus Emser, der wie Murner Heinrichs >Assertio< übersetzte, hatte es schwer, einen katholisch gesinnten Drucker zu finden, so daß er bald gezwungen war, selber eine Druckerei einzurichten. Ein dritter Faktor schließlich war der Umstand, daß, so interessant die Auseinandersetzung zwischen Luther und dem englischen König auch sein mochte, sie dennoch bedeutend weniger brisanten Stoff hergab als der Streit zwischen Luther und dem Papst. Schließlich war England immer noch ein fernes Land am Rande Europas, Rom dagegen lag in der Mitte des chrisdichen Abendlandes. SCRIBNER hat sehr richtig auf die antithetische Gegenüberstellung von Luther und Papst als leicht verständlichen, reduzierten Symbolen als wesentlichem Verfahren der reformatorischen Propaganda hingewiesen. 65 Diese Rolle konnte Heinrich kaum erfüllen. 61

64

65

Die Auflösung der übrigen Tiersymbole erfolgt V. 484—493. Danach bedeutet das Schwein Eck, der Bock Emser, die Katze Murner Des bapstes mauser, vatbter, txrner [= Türmer, Wächter] (V. 489—90), der Waldesel den Leipziger Theologen Augustin von Aleveld und die Schnecke Cochläus. Zur Tiersymbolik s. K A M P M A N N [Anm. 58], S. 80, bes. Anm. 48. Bl. D2'. Exemplar der British Library 1478.dd.29. Siehe T A L K E N B E R G E R [Anm. 14], S. 201 und S. 551 (Abb. V28/V29 u. V30). Siehe S C R I B N E R [Anm. 3 5 ] , S. 2 2 9 - 5 0 . Auch T A L K E N B E R G E R [Anm. 1 4 ] , S. 5 3 .

22

John L. Flood

Welchen Niederschlag hat der Streit in England gefunden? Soweit ich das überblicke, einen noch geringeren als in der deutschen Literatur, was wohl damit zu erklären ist, daß das englische Buchwesen damals fest in der Hand des Königs lag. 66 Die englischen Schriften, die Teil dieser Kontroverse bildeten, wurden ausschließlich von Richard Pynson, dem königlichen Buchdrucker, verlegt. Die deutschen Stimmen, Luther vor allem, kamen in England offiziell gar nicht zu Wort. Was hier an Lutherischem gelesen wurde, kam illegal ins Land, teils durch die Kaufleute der Hanse über den Stahlhof in London, 67 teils durch die anderen Häfen im Osten Englands (z. B. King's Lynn und Hull68 ), oder es wurde durch Reisende über Sandwich und Dover hereingeschmuggelt. Auch in Bristol hat man Beziehungen zum Kontinent unterhalten. Schon seit etwa 1520 versammelten sich die jüngeren Cambridger Theologen im Gasthaus zum Schimmel, um die Ideen Luthers zu diskutieren — die Gruppe wurde als Little Germany bezeichnet. Diese interessierten sich aber viel eher für das Evangelium nach Erasmus' Ausgabe als für Luthers >BabylonicaMatthew's BibleA Pisde to the Christian reader. The Revelation of Antichrist< (1529), William Barlow >A Dyaloge Descrybyng the Orygynall Ground of These Lutheran Faceyons< (1531) und William Roy, >A Proper Dyaloge betwene a Gentillman and an Husband Man< (1530) - Barlow und Roy waren Franziskaner in Greenwich. 75 Eine geringe Zahl freilich, aber im Hinblick auf die Zensur und die beschränkten Möglichkeiten damals, überhaupt ein Buch in England drucken zu lassen, eine bezeichnende Entwicklung. Original-Luther-Schriften wurden naturgemäß sehr wenige in England gedruckt - STC 2 verzeichnet nur 36 Drucke aus der Zeit vor 1600, eine Zahl, die sicher zu klein ist.74 Viele lutherische Schriften aber kursierten in Über Tyndale s. D A V I D D A N I E L L : William Tyndale. A biography. New Häven and London 1994. STC 2 2824. Selbst von der revidierten Ausgabe 1534 (STC 2 2826) sind nur etwa ein Dutzend Exemplare erhalten. 73 Siehe H A N S J . H I L L E R B R A N D : The World of the Reformation. London 1975, S. 113; C L E B S C H (Anm. 27], S. 5—8. Am 12. Oktober 1524 ließ der Londoner Bischof Tunstall einige Buchdrucker in seinen Palast vorladen und verbot ihnen den Handel mit häretischer Literatur (s. C L E B S C H , S. 13). 74 In chronologischer Reihenfolge sind es: 1534: STC 2 16962; 1535?: STC 2 16988; 1536> STC 2 71

72

John L Flood

24

kontinentalen, teilweise extra für den englischen Markt gedruckten Ausgaben; ein Beispiel w a r die >Unio Dissidentium«, eine Zusammenstellung von Auszügen aus patristischen Schriften, die lutherische Prinzipien zu untermauern schienen; sie w u r d e erstmals 1522 in Köln und ab 1527 mehrmals in Antwerpen gedruckt und nach England eingeführt. 1528 w u r d e ein Hilfsgeisdicher im Dorf Kensington bei London endassen, als man die >Unio Dissidentium< und Tyndales Neues Testament bei ihm entdeckte. 73 Die Bücher gelangten über ein gut funktionierendes Netz von Händlern in die Hände von Anhängern. In Colchester zum Beispiel war ein Fischhändler namens T h o m a s Matthew Leiter einer Gruppe von Sympathisanten. Er veranstaltete Zusammenkünfte und ließ sich von einem gewissen Robert Necton mit Büchern beliefern, der sie v o m Londoner Priester Dr. Robert Forman heranschaffte; als die Behörden bei Forman zwei Säcke mit lutherischen Büchern entdeckten, behauptete er, er habe sie nur gesammelt, um die Häresien zu widerlegen. Prediger in der Gruppe in Colchester war der Bäcker J o h n Pyckas, dessen Mutter ihm eine Handschrift mit einer englischen Ubersetzung der paulinischen Briefen geschenkt und ihm geraten hatte, lieber danach zu handeln, als auf die Sakramente der Kirche zu achten. Später erwarb er ein Exemplar von Tyndales Neuem Testament von einem Italiener in London. In London wiederum war eine ähnliche Gruppe, die im Hause eines Schneiders namens William Russell zusammenkam. Dazu gehörte ein gewisser J o h n Stacy, der Bibelauszüge handschriftlich kopierte; die Unkosten trug der Lebensmittelhändler J o h n Sercot. Die Behörden fingen auch einen Tuchhändler auf, der mit verbotenen Büchern handelte und eine ansehnliche Sammlung lutherischer Bücher sein eigen nannte. 76 *

* *

A u f die Reaktion in anderen Ländern auf die Auseinandersetzung kann hier nicht eingegangen werden. A u f die Drucke der eingschlägigen Schriften, die in Frankreich, den Niederlanden und Italien erschienen sind, wurde schon hingewiesen. Erwähnt sei nur, daß Heinrich VIII. in den Novellen (1554) des Italieners Matteo Bandello (1485-1561) vorkommt: Er w i r d als Wüstling und Tyrann dargestellt. 7 7 Im Widmungsbrief, der 111,62 begleitet, beschreibt 16983.5; S T C 2 16963; 1537: S T C 2 16999; 1538: S T C 2 17000; 16979.7; 1543(?): S T C 2 16984; 1548: S T C 2 16982; 16992; 16964; 1548?: S T C 2 21826.6; 16983; 1554: STC 2 16980; 16981.; 1564: S T C 2 16988.5; 1570: S T C 2 16997.5; 1573: S T C 2 16979; 1575: S T C 2 16965; 1577: S T C : 16975; 16975.5; 16979.3; 16966; 1578: S T C 2 16987; S T C 2 16989; 16998; 16993; 1579: S T C 2 16990; 16995; 16996; 1580: S T C 2 16991; 16967; 1581: S T C 2 16994; 1588: S T C 2 16968; 16969; 1594?: 16985. Siehe auch CLEBSCH [ A n m . 2 7 ] , S . 2 5 8 - 7 0 . 75 76 77

HAIGH: English R e f o r m a t i o n s [ A n m . 1], S. 65. HAIGH: English R e f o r m a t i o n s [ A n m . 1], S. 6 3 - 6 4 (mit w e i t e r f ü h r e n d e r Literatur). M a t t e o Bandello: Tutte le opere. 3. A u f l . M i l a n o 1952, T l . II, Nov. 37; T l . III, N o v . 60 u. 62. A u c h andere englische K ö n i g e w e r d e n als solche dargestellt in der W i d m u n g v o n 11,37.

Heinrich Vili,

und Martin

Luther

25

Bandello verschiedene Aspekte der gegenwärtigen politischen Situation: Entwicklungen in Syrien, die Eroberung von Belgrad, Rhodos, Ungarn, die Belagerung Wiens durch die Türken, Aufruhr in Spanien und Frankreich, Uneinigkeit in Deutschland, den Abfall der englischen Kirche von Rom, den Niedergang Venedigs und die Schrecken der Plünderung Roms. Obwohl Bandello Dominikaner war, schreckt er auch vor der Kritik an seinen Vorgesetzten nicht zurück: Er kritisiert den verstorbenen Papst Leo X. dafür, daß er die Gefahren der lutherischen Irrlehre erst zu spät erkannt habe, während er Luther selbst wegen seines großen Intellekts preist (111,25). *

* *

Als Ergebnis dieses Streifzugs durch das publizistische und literarische Schrifttum Deutschlands und Englands in den Jahren nach 1520 kann festgestellt werden, daß, obwohl der Streit zwischen Heinrich und Luther zwangsläufig in den Kontroversen der Zeit untergehen mußte, er dennoch verschiedene Spuren hinterlassen hat. Sind direkte Spuren in der Literatur im engeren Sinne gering, so spielte der Streit wenigstens in der internationalen Flugschriftenpublizistik eine nicht unerhebliche Rolle und hat dazu beigetragen, die deutsche Offendichkeit auf das ferne England aufmerksam zu machen. Ein weiteres Ergebnis des Streites war, daß man in England mit dem Gedankengut Luthers vertraut wurde. Bibliographischer Anhang 78 Zitierte Nachschlagewerke BENZING

JOSEF BENZING: Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Martin Luthers bis zu dessen Tod. Baden-Baden 1966. CLAUS/PEGG

HELMUT CLAUS und MICHAEL A . PEGG: Ergänzungen zur Bibliographie der zeitgenössischen Lutherdrucke. G o t h a 1982. KÖHLER

HANS-JOACHIM KÖHLER: Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts. Teil I: Das frühe 16. J a h r h u n d e r t ( 1 5 0 1 - 1 5 3 0 ) . Tübingen 1 9 9 1 f f . NIJHOFF/KRONENBERG WOUTER N I J H O F F u n d M A R I E E . KRONENBERG: N e d e r l a n d s c h e B i b l i o g r a p h i e v a n

1500

tot 1540. 's-Gravenhage 1 9 2 3 - 7 1 . * Diese Zusammenstellung beruht weitestgehend auf der bislang ungedruckten Bibliographie von JANET W H A R T O N (S. u. »Zitierte Nachschlagewerke«), einer Diplomarbeit, die auf eine Anregung von mir zurückgeht. Sie wurde lediglich um einige Nachweise ergänzt. Vollständigkeit wurde zwar angestrebt, ist aber sicher nicht erreicht worden. Dabei ist zu beachten, daß nur die Schriften aufgenommen wurden, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Streit zwischen Heinrich und Luther entstanden; weitere Schriften zum Thema Sakramentenlehre (etwa >De gratia sacramentorum adversus sermonem Martini Lutheri< des Cochläus (1521)) wurden nicht berücksichtigt.

26

John L. Flood

NUC The National Union Catalog: Pre-1956 Imprints. London 1968-80. STC 2 A. W . POLLARD and G . R . REDGRAVE: A Short Title catalogue of Books Printed in England, Scodand, and Ireland and of English Books Printed Abroad 1475-1640. 2nd edition revised by W . A. JACKSON, F . S . FERGUSON and K A T H E R I N E F . PANZER. 3 Bde. London 1976-1991. VD16 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts. VD 16. Stuttgart 1983ff. WA D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung Werke. 61 Bde. Weimar 1883ff. WHARTON

Luther's >De captivitate Babylonica ecclesiaegermanische< Ehre, nicht mit den Kategorien >Außen< und >Innen< zureichend beschrieben werden kann, sondern eine andere Kategorisierung verlangt, läßt sich an der Erzählung Gregors von Tours über einen blutigen Konflikt in seiner Bischofsstadt, ein bellum civile — wie er den Konflikt nennt - in Tours ablesen. Gregor erzählt diesen Konflikt, die Fehde zweier vornehmer Familien, im 7. und 9. Buch seiner >Fränkischen Geschichtenc5 3

4

Diesen Wert der nahezu sakralisierten >inneren< Ehre hat w o h l am besten — aus der gesellschaftlichen Perspektive des späten 19. J a h r h u n d e r t s - beschrieben T h e o d o r Fontane in den Zeilen: » E s kann die Ehre dieser Welt / Dir keine Ehre g e b e n , / Was dich in Wahrheit hebt und halt, / M u ß in dir selber leben. / Wenn's deinem Innersten gebricht / An echten Stolzes Stütze, / Ob dann die Welt dir Beifall spricht, / Ist all dir wenig nütze. / D a s flüchtge L o b , des Tages R u h m / M a g s t du dem Eitlen g ö n n e n . / Das aber sei dein Heiligtum: / Vor dir bestehen können« ( T h e o d o r Fontane: Sämtliche Werke. Hrsg. von WALTER KEITEL. M ü n c h e n 1964, S. 316). Vgl. z u m Begriff der >Ehre< allgemein KARL BINDING: Die Ehre und ihre Verlctzbarkeit [Rektoratsrede der Universität Leipzig von 1890], Leipzig 2 1892; FRIEDRICH MAURER: T u g e n d und Ehre. In: W i r k e n d e s Wort 2 (1951/52), S. 5 5 - 6 3 ; HANS REINER: Pflicht und N e i g u n g . Meisenheim 1951, S. 32ff.; Ders.: Die Ehre. Kritische Sichtung einer abendländischen Lebens- und Sittlichkeitsform. D o r t m u n d 1956; HERMANN SCHULTES: Die Ehrauffassung im Wandel der Gesellschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 15 (1964), S. 540-552; FRIEDRICH ZUNKEL: Ehre, R e p u t a t i o n . I n : G e s c h i c h t l i c h e G r u n d b e g r i f f e . H r s g . v o n O T T O BRUNNER, WERNER CONZE, R E I N HART KOSELLECK.

B d . 2, S t u t t g a r t

1 9 7 5 , S . 1—63; H E L M U T T H I E L I C K E : E h r e .

In:

Theologische

R e a l e n z y k l o p ä d i e . B d . I X , 1 9 8 2 , S . 3 6 2 - 3 6 6 ; LUDGERA VOGT, ARNOLD VOGT ( H r s g . ) : E h r e , A r 5

chaische M o m e n t e in der M o d e r n e . Frankfurt a. M . 1994. Gregorii episcopi Turonensis Historiarum Libri Decem. 2 Bde. H r s g . von RUDOLF BUCHNER. Darmstadt 1974—77, hier S. 152ff. 256ff. Z u dieser g e r n zitierten Geschichte v g l . u. a. ERICH AUERBACH: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München 1947, 4 1967, S. 7 8 - 9 4 ; JEAN-PIERRE BODMER: Der Krieger der Merowingerzeit und seine Welt. Eine Studie über K r i e g e r t u m als Form der menschlichen Existenz im Frühmittelalter. Zürich 1957, S. 42f.; RAINER WENSKUS: A m t und Adel in der frühen Merowingerzeit. In: M i t t e i l u n g s hefte des M a r b u r g e r Universitätsbundes 1959, S. 40ff.; J . M . WALLACE-HADRILL: T h e Blood-Feud

Ehrt und Konflikt

37

VII, c. 47: Gravia tunc inter Toronicos cives bella civiltà surrexerunt. Nam Sicharius, Johannis quondam filius, dum ad natahs dominici sotemnia apud Montalomaginsim vicum cum Austrighyselo reüquosque pagenses caelebraret, presbiter loci misit put rum ad aliquorum hominum irtvitationem, ut ad domum eius bibendi gratia venire deberint. Veniente vero puero, unus ex his qui invitabantur extracto gladio, eum ferire non metmt. Qui statim cecidi! et mortuus est. Quod cum Sicharius audisset, qui amicitias cum presbitero retinebat, quod scilicet puer eiusfuerit interfectus, arrepta arma ad eclesiam petit, Austrighyselum opperiens. Ille autem haec audiens, adpraehenso armorum appara! u, contra eum diregit. Mixtisque omnibus, cum se pars utraque conliderit, Sicharius inter clericos ereptus, ad villam suam e f f u g i t , relictis in domo presbiteri cum argento et vestimentis quattuor pueris sauciatis. Quo fugiente, Austrigbyselus iter um inruens, inte f f e c tis pueris, aurum argentumque cum reliquis rebus abstulit. Dehinc cum in iudicio civium convenissent et praeceptum esset, ut Austrigbyselus, qui homicida erat et, interfectis pueris, res sine audientia diripuerat, censura legali condempnaretur, inito placito, paucis infra diebus Sicharius audiens, quod res, quas Austrigbyselus direpuerat, cum Aunont et filio adque eius f r atre Eberulfo retinerentur, postpositoplacito, coniunctus Audino, mota seditione, cum armatis viris inruit super eos node, elisumque hospicium, in quo dormiebant, pat rem cum fratre et filio interemit resque eorum cum pecoribus, interfectisque servis, abduxit. Quod nos audientes, vehimenter ex hoc molesti, adiuncto iudice, mittimus ad eos legationem, ut in nostripraesentia venientes, accepta ratione, cum pace discederent, ne iurgium in amplius pulularet. Quibus venientibus coniunctisque civibus, ego aio: >Nolite, o viri, in sceleribus proficere, ne malum longius extendatur. Perdidimus enim aeclesiae filios; metuemus nunc, ne et alios in hac intentione careamus. Estote, quaeso, pacifici; et qui malum gessit, stante caritate, conponat, ut sitis filii pacifici, qui digni sitis regno Dei, ipso Domino tribuente, percipere. Sic enim ipse ait: Beati pacifici, quoniam filii Dei vocabuntur. Ecce enim! etsi Uli, qui noxae subditur, minor est facultas, argento aeclesiae redemitur; interim anima viri non pereatMagnas mihi debas referre grates, o dulcissime frater, eo quod interfecerim parentes tuos, de quibus accepta compositione, aurum argentumque superabundat in domum tuam, et nudus nunc essis et egens, nisi haec te causa paululum roborassitNisi ulciscar interi tum parentum m eorum, amittere nomen viri debeo et mutier infirma vocareOculi metropolis mei valde doloribus artabantur, et ego spoliatus et contemptus, invitus in eo loco adductus sum. Nonpotui aliud facere, nisi quae ille, qui omnemprincipatum Galliarum se testabatur accipere, imperabat.t Cum haec rege nuntiata fuissent, valde commotus est, ita ut vix obtineri possit, ut eos ad convivium provocaret, quos antea non viderat. Introeunte itaque Berthramno, interrogat rex: >Quisest iste?< Diu enim erat, quod ab eo visus nonfuerat. Dixeruntque: >Hic est Berthchramnus Burdegalinsis urbis episcopusr. Cui ille: > Gratiasr, inquid, >agimus, quod sie custodisti fidem gentrationi tuae. Scire enim te oportuerat, dilectissimepater, quodparens eras nobis ex matre nostra, et super gentem tuam non debueras inducere pestem extraneam.< Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang. Bd. I . Heidelberg 1915, S. 494. 9 Vgl. o. Anm. 6. Bezeichnend ist, daß in der >Lex Baiuvariorum< 1, Tit. III (MG Leges I, 5,2) das erhöhte Wergeid der fünf führenden Sippen (genealogiat) an deren honor, ihre Ehre geknüpft ist. 10 Gregor von Tours [Anm. 5], VIII, c. 2, S. 162. 8

FRANZ BEYERLE:

Wolf gang Haubrichs

40

Im gleichen J a h r 5 8 5 also, in dem die turonische Fehde begann, macht der Frankenkönig Guntram anläßlich eines Hoftags dem Erzbischof Berthchram von Bordeaux, der mit ihm verwandt war, Vorhaltungen wegen der zusammen mit Bischof Palladius v o n Saintes unternommenen Unterstützung des gegen ihn aufgetretenen, inzwischen aber beseitigten Kronprätendenten Gundowald, die in einer ironischen Adresse gipfeln: »Wir danken Dir, daß Du so die Treue (fides) gegen Deine Sippe (generatio) bewahrt hast. Du hättest wohl berücksichtigen müssen, daß Du uns von unserer Mutter her verwandt bist, und hättest nicht v o n außen kommende Pest, Verderben über Dein Geschlecht bringen dürfen« — super gentem tuam inducere pestem extraneam\ Der merowingische König argumentiert also gegenüber seinem Verwandten nicht politisch, sondern mit dem für einen Personenverband konstitutiven Treueverhältnis. Die Sippe kennt wie jeder Personenverband ein Innen und ein Außen. Das Innenverhältnis wird dabei idealiter durch die so oft mißverstandene sog. germanische >Treue< charakterisiert, die keine Affekte beschreibt. So ist es für merowingische Könige durchaus möglich, aus übergeordneten Gründen - z. B. Steigerung bzw. Bewahrung der Position des Geschlechts - Verwandte, ja sogar minderjährige Neffen zu töten; sie haben dies nicht als M o r d empfunden, »er dachte sich nicht viel dabei« sagte G r e g o r einmal über einen solchen königlichen Gewalttäter." Andererseits war das (oft listig-kunstvolle) Brechen v o n Vereinbarungen, die eine Gemeinschaft mit Außenstehenden begründen sollten, häufig. 12 Treue war kein innerer Wert, die Täuschung ausgeschlossen hätte, sondern eine formale Beziehung. Gerade der T ö t e r des oben erwähnten Thronprätendenten Gundowald kann unter einem trügenden Vorwand die Insignien und Un-

11

G r e g o r v o n T o u r s [ A n m . 5], I I I , c. 18, S . 174. B e m e r k e n s w e r t ist auch die im Verwandtenverband sich abspielende K e t t e von V e r w a n d t e n m o r d e n , v o n der G r e g o r ( I I , c. 28ff., S. 112ff.; III, c. 6ff.; S . 150ff.) anläßlich der Familie der B u r g u n d e r k ö n i g e

erzählt: G u n d o b a d ,

Sohn

des

G u n d o w e c h , tötet seine G e m a h l i n und seinen Bruder Chilperich; die T ö c h t e r , darunter Chrodechild, werden verbannt; letztere heiratet später den F r a n k e n k ö n i g Chlodwig. Mit dessen Hilfe vernichtet der Bruder G u n d o b a d s , G o d e g i s i l , dessen Heer. D e r Sieger wird v o n G u n d o b a d in einer K i r c h e ermordet. N a c h G u n d o b a d s T o d ( 5 1 6 ) erdrosselt sein S o h n S i g i m u n d , aufgereizt v o n seiner zweiten G e m a h l i n , seinen eigenen S o h n Sigirich auf heimtückische Weise im Schlaf. Chrodechild, die Schwester, reizt ihre S ö h n e zur R a c h e - eigenartigerweise für die ertränkte Mutter und ihren Vater, den M ö r d e r , zugleich — g e g e n S i g i m u n d und seinen Bruder G o d o m a r . Chrodechilds S o h n C h l o d o m e r schlägt S i g i m u n d und e r m o r d e t ihn zusammen mit seiner ganzen Familie; er wiederum wird v o n G o d o m a r durch eine Kriegslist getäuscht und erschlagen. Die Brüder Chlothachar und Childebert, S ö h n e Chrodechilds, verjagen 532/34 G o d o m a r endgültig aus B u r g u n d und nehmen das L a n d in Besitz. 12

Vgl. dazu FRANZ BEYERLE: D a s E n t w i c k l u n g s p r o b l e m im germanischen R e c h t s g a n g , T l . I. In: Deutsch-rechtliche Beiträge X , 2 , 1915, S. 314f.; FRANTISEK GRAUS: Ü b e r die sogenannte germanische Treue. In: Histórica 1 ( 1 9 5 9 ) , S . 7 1 - 1 2 1 ; WALTER SCHLESINGER: R a n d b e m e r k u n g e n zu drei Aufsätzen über Sippe, G e f o l g s c h a f t und Treue. In: Alteuropa und die m o d e r n e Gesellschaft. Festschrift O t t o Brunner. G ö t t i n g e n 1963, S. 296ff.; GERD ALTHOFF: >Gloria et nomen perpetuumEyrbyggja< (c. 39 und 41) erzählte und dem 10. Jahrhundert zugewiesene Fehde zwischen den Freunden Thorleif und Ambjörn: 15 die waren auf einer Norwegenfahrt auch während eines Mahls in Streit geraten. Ambjörn schlägt Thorleif — man höre — mit dem Grützlöffel und schleudert ihm dabei heiße Grütze in den Nacken. Thorleif verbeißt die Kränkung, weil er den Norwegern nicht das Schauspiel bieten will, wie eine isländische Schwurbrüderschaft zu Bruch geht. Als aber Thorleif später auf Island bei einem Verwandten seines Freundes um dessen Schwester anhält, bekommt er die Antwort: »Davon ist zu sagen, Thorleif, daß erst die Grütznarben an Deinem Hals verheilt sein müssen, die Du Dir zuzogst, als Du vor drei Wintern in Norwegen geschlagen wurdest, bevor ich Dir meine Schwester zur Frau geben würde.« Die Ehrverletzung ist öffentlich geworden, Thorleif muß reagieren. Eine blutige und langandauernde Rachefehde entspringt daraus. Ähnlich ist auch eine langobardische Sage zu bewerten, die Paulus Diaconus in seiner Langobardengeschichte erzählt: 16 Der Langobardenkönig " Gregor von Tours |Anm. 5], VII, c. 38, S. 1 4 4 . Vgl. WALTER G E H L : Ruhm und Ehre bei den Nordgermanen. Studien zum Lebensgefuhl der isländischen Saga. Berlin 1937, S. 75, der auch für den Norden konstatiert: »In der Saga gibt es keinen »moralischen ÜberbauEhre< des Einzelnen kann intakt bleiben, wenn die formalen Regeln eingehalten werden, bzw. auch wenn sich trotz eines Bruchs ein Erfolg einstellt, der zur Erhöhung des Ansehens und der gesellschaftlichen Stellung fuhrt. 14 Vgl. dazu H A U B R I C H S (Anm. 5], S. 521ff. 15

V g l . GEHL [ A n m . 13], S. 42f.

SS rer. Lang., S. 70ff. Vgl. dazu O T T O G S C H W A N T L E R : Die Heldensage von Alboin und Rosimund. In: Festgabe Otto Höfler. Wien/Stuttgart 1976, S. 214—254; WOLFGANG HAUBRICHS:

" M G

42

Wolfgang Haubnchs

Alboin (gest. 572) hat den Gepidenkönig Kunimund im Kampf geschlagen und getötet; dessen Tochter Rosamund nimmt er zur Frau. Aus der Hirnschale des erschlagenen Vaters läßt er sich ein Trinkgefäß fertigen. Bei einem Gastmahl verhöhnt der trunkene Alboin die Königin, indem er ihr den beinernen Pokal zum Trunk anbietet, mit den Worten: »So könntest Du einmal, wie Du's gewohnt warst, mit dem Vater scherzen und trinken!« Die Ehrverletzung ist, weil sie öffendich geworden ist, tödlich. Nun muß Rosamund der Rachepflicht genügen, die eigendich durch die eine Verwandlung des >Außen< ins >Innen< bewirkende Ehebindung unterbunden war. Sie gewinnt einen Diener, Alboin zu töten. Jedesmal ist es die Publikation der suspendierten Rachepflicht, welche die Tat auslöst. 17 Sie ist die eigentliche Ehrverletzung. Was aber im Öffendichmachen verletzt wurde, die Ehre, ist durchaus unterschiedlich definiert. Stellen wir die Frage, worin die Ehrverletzung bei Rosamund besteht, zunächst einmal zurück. Bei Thorleif und Chramnisind ist es die virilitas, die Geltung als Mann, als Krieger, der Schmähungen nicht hinnehmen darf. Chramnisind furchtet, das nomen viri zu verlieren und als mulier infirma zu gelten. Das ist kein Einzelfall. Als König Guntram (wiederum im Jahr 585) Bischof Theodor von Marseille vor der Synode der Bischöfe zu Nevers des Mordes an seinem Bruder Chilperich beschuldigt, ruft er nach Gregor aus: »Man dürfte mich nicht für einen Mann halten, wenn ich meines Bruders Tod nicht noch in diesem Jahr rächen würde.« 18 Es droht also selbst dem König bei unterlassener Rächung der Verlust der Geltung, des Ansehens, ja der Zugehörigkeit zur Gesellschaft der Krieger. Der Personenverband konstituiert die Persönlichkeit. Der ordo, dem die Person mit dem Verband angehört, sei es die Sippe, der comitatus (>die Gefolgschaft), Ämter verleihende Institutionen oder die Kriegergesellschaft, formuliert Forderungen an den Einzelnen. 19 Diese Forderungen bilden das inDic Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Frankfurt a. M. 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. v o n JOACHIM HEINZLE, B d . 1,1), S . 1 2 4 ; WALTER HAUG: D i e G r a u s a m k e i t d e r H e l d e n s a g e . N e u e

gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung. In: Studien zum Altgermanischen. Festschrift Heinrich Beck. Berlin 1994, S. 316ff. 17 Auch die Etymologie des Wortes >EhreEhren< besitzen, die ihr mehr Spielraum im Handeln, aber auch aus Pflichtenkollisionen entstehende Konflikte einbringen können. 20 Jedoch resultiert die Mehrzahl der Ehrkonflikte, der >Ehrenhändel< aus einfachen Verletzungen der Ehre, welche die Bindungen der Person und damit — wie das unübertrefflich Norfolk formulierte — die Person selbst in Frage stellen. Wir sehen also: Die Ehre ist kein innerer, kein moralischer, kein affektiver, kein absoluter Wert, sondern ein relationaler, sich aus den Bindungen des Menschen ergebender Wert, dem eine strukturelle Betrachtungsweise angemessen ist, die sich auf den Konflikt richten muß. Denn nur im Konflikt, nicht in der Latenz, treten - wie wir gesehen haben - die Elemente, die Kategorien der Ehre deutlich zutage:21 1. Die Bindungen der Person an Verbände, Amter, Funktionen und den von diesen gesetzten ordo\ 2. die urteilende Instanz der Offendichkeit, die Ehre erst manifest macht; 3. die Regeln des Erwerbs, Verlustes und der Wiederherstellung von Ehre (z. B. compositio oder Rache); 4. die Forderungen und Normen des jeweiligen ordo, welche die inhaltliche Substanz der Ehre ausmachen und im Konfliktfalle rechdiche Tatbestände begründen. Ehre war ein so konstitutives Merkmal der Persönlichkeit, daß sie auch im Strafrecht ihren Platz fand (was ja in Restbeständen durchaus bis heute erhalten ist).22 So definieren die germanischen Volksrechte die compositiones, die in einzelnen Fällen von Ehrverlet2ung zu leisten waren, oder definieren auch Ehrenstrafen bzw. den Zustand der infamia, der Ehrlosigkeit, der in bestimmten Fällen eintreten konnte. So waren ehrlos von Geburt an Kinder aus inzestuöser Ehe, Sklaven und Knechte, in Ansätzen bestimmte Berufsgruppen, Verbrecher und Straftäter aller Art. Doch läßt sich aus den Volksrechten keine Systematik der inhaltlichen Substanz von Ehranforderungen erkennen, was nach dem Charakter germanischen Rechts auch gar nicht zu erwarten war. Alle Regelungen sind über die verschiedensten Volksrechte gestreut. An inhaltlicher Substanz treten auf Seiten des Mannes allgemein dessen amici zwei Brüder einer verfeindeten Adelsgruppe töten, worauf deren proprius consanguiruus das Haupt, den Ersten aus dem gegnerischen Verband, eben den Bischof, umbringen. 211 Vgl. nordische Parallelen bei G E H L [Anm. 1 3 ] , S . 7 5 ; allgemeiner: J A N DE V R I E S : Die geistige Welt der Germanen. Halle a. d. Saale 1943, S. 24. 21 Vgl. allgemein zum Ehrbegriff des Mittelalters R. S C H E Y H I N G : Ehre. Ins Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1,1971, Sp. 846f.; ZUNKEL [Anm. 4 ] , S. 6ff.; H. B E C K / G . K Ö B L E R : Ehre. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 2. Aufl., Bd. VI, 1986, S. 500-504. Zu den antiken Grundlagen vgl. F R I T Z STIPPKL: Ehre und Ehrerziehung in der Antike. Würzburg 1939; H A N S D R E X L E R : Die moralische Geschichtsauffassung der Römer. In: Das Staatsdenken der Römer. Hrsg. von R I C H A R D K L E I N . Darmstadt 1966, S. 258ff.; Ders.: Dignitas. Ebd., S. 231-254. 22 Vgl. B I N D I N G [Anm. 4 ] , passim; ZUNKEL [Anm. 4 ] , S . 28ff.

Wolfgang Hanbricht

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Feigheit, das scutum reliquisse (»Schild verlassen«) als Kehrseite von virilitas und virtus, sowie in der >Lex Alamannorum< Meineid und Verrat als Kehrseite der Treue hervor, auf Seiten der Frau gewisse Regeln des Heiratsverkehrs, des conubium (z. B. Inzestverbot in der >Lex SalicaLex BurgundionumNos duo singulare certamen, si me expectare deliberas, reliqua multetudine procul suspinsa, iungamus ad prilium: a Domino iudecemurDum facere non audes, proximum temporis domini nostripro ea que facetis iungent adprilio. Induamur uterque, ego et tu, vestibus vermiclis, precedamus chetheris; ubi congressus erit certamenis ibique tua et mea utilitas adparebit; promittentes ante Deum ab invicem, promissionis huius veritatem subsistereNuntiatum est Domino meo, te tantum virum habere, qui se iactet, quod te recedente solus cum suis hoc in loco audeat remanere. Si ergo tantus est, quantus sibi videtur, incunctanter remaneat, quia dominus meus vult eum videre audacisque viri desiderai notitiam haberer. Interrogatus autem Vurfandus a rege, utrum tale aliquid professus esset, respondit se talia dixisse et haec aedem factis velie probare; protinusque licentiam ibi remanendi petit. Cum a principe obiurgaretur, cur tam fatua obstinatione detentus 26

27

Vgl. zum Zusammenhang von >Ehre< und >RuhmBeowulfHeliand< beim Entschluß Christi, in das Land seiner Feinde, der Juden, zu ziehen,29 in der angelsächsischen >Battle of Maldon< aus dem 10. Jahrhundert, 30 im Bericht über Ottos des Großen Lechfeldschlacht 31 in nordischen Sagas32 und noch öfter zitiert.33 Hier geben wir die Heliandszene (V. 3996ff.), in der Thomas — ein githungan mann, diurlic drohtines thegan (»trefflicher Mann, ruhmvoller Krieger des Herrn«) — spricht: thuoloian mid üsson thiodne: that ist thegnes cust that hie mid is frähon samad fasto gistande, döie mid im thar an duome. Duan üs alia so, folgon im te thero ferdi: ni lätan üse fern uuiö thiu uuihtes uutrdig, neba um an them Utterode mid im, doian mid üson drohtine. Than lebot üs thoh duom after, guod uuord for gumon, »Dulden mit unserem König, das ist Pflicht des Kriegers, daß er mit seinem Herrn zusammen tapfer standhalte, sterbe mit ihm dort um der Ehre willen. So laßt uns alle handeln, ihm auf dieser Fahrt folgen, laßt unser Leben nicht etwa würdelos werden, sondern laßt uns unter dem Kriegsvolk mit ihm sein, sterben mit unserem Herrn. S o wird doch unsere Ehre leben nach uns, gute Rede unter den Männern.«

Wo Tapferkeit das Herzstück der Ehre darstellt, muß umgekehrt der Vorwurf der ignominia, der ignavia, der Feigheit, der argheit unerträglich sein. Bekannt ist der implizite Vorwurf der argheit, den im >Hildebrandslied< der Sohn dem Vater macht und der damit den Kampf unausweichlich werden läßt.34 Bekannt ist auch die oft zitierte Geschichte, die Paulus Diaconus in seiner >Historia Langobardorum< von einem langobardischen Heerführer namens Argaid, der wegen seines berechtigten Zögerns beim Erstürmen einer stark befestigten Burg von seinem Kollegen unter Anspielung auf das Element arga in seinem Namen geschmäht wird, beschreibt:35 Sehenden Auges fuhrt er alsbald sich und sein ganzes Heer in den sicheren Tod. Auch der Norden kennt keinen schlimmeren Vorwurf als den, argr, d. h. feige, schwach, weibisch zu sein.36 Beowulf and the Fight at Finnsburg. Ed. by FREDERICK K L A E B E R . New York '1950, V. 2891f. Heliand und Genesis. Hrsg. von O T T O B E H A G H E L , bearbeitet von W A L T H E R M I T Z K A . Tübingen '1958, V. 3996—4002, S. 139. Vgl. auch die Gestaltung von des Petrus kuanheiti, die sich ebenfalls in der Bereitschaft, für Christus zu sterben äußert, bei Otfrid, Liber evangeliorum, IV,13, V. 40ff.; O S K A R E R D M A N N (Hrsg.): Otfrids Evangelienbuch. Halle a. S . 1882, S . 218f. 30 The Batde of Maldon. Ed. by E.V GORDON. New York 1966, V. 312ff., S. 61. " Widukindi Res Gestae Saxonicae, III, c. 46. In: Quellen zur Geschichte der Sächsischen Kaiserzeit. Hrsg. von A L B E R T B A U E R U. R E I N H O L D R A U . Darmstadt 1 9 7 1 , S . 1 5 6 .

28

29

32

V g l . G E H L [ A n m . 1 3 ] , S . 4 0 . 1 3 0 ; DE V R I E S [ A n m . 2 0 ] , S . 1 7 f . 2 4 .

"Vgl.

BECK/KÖBLER [ A n m . 2 1 ] , S . 5 0 3 ; HAUBRICHS [ A n m . 1 6 ] , S .

" V g l . HAUBRICHS, [ A n m . 16], S .

165.

158f.

35

Paulus Diaconus, Historia Langobardorum VI, c. 24, MG SS rer. Lang. 172f. Vgl. zuletzt dazu mit älterer Lit. M A R I A G. A R C A M O N E : Paolo Diacono H. L. VI,24: >Argait ab arga nomen deductumHic a regne alterius veniens, diripuit equos meos, et ego auferam villam eiusNisi moriar, non ingreditur Waddo in dorn um domini meiNe accesseris illuc, care coniux; morieris enim, si abieris, et ego cum filiis misera eroSi abieris, pariter moriemur, et relinques genetricem meam viduam orfanusque germanusr. Sed cum eum haec verba paenitus retenire non possint, furore accensus contra filium et timidum eum mollemque exclamans, proiecta secure paene cerebro eius inlisit. Sed ille in parte excussus, ictum ferientis evasit. Ascensis denique equitibus, abierunt, mandans Herum actori, ut, domum scupis mundatam, stragulis scamna operiret. Sed ille parvi pendens mandatum eius, cum turbis, ut dixemus, virorum ac mulier um ante fores domini sui stetit, opperiens adventum huius. Qui veniens, statim ingressus domum, ait: >Cur non sunt scamna haec operta stragulis aut domus scupis mundata?< Et elevans manum cum sica, caput hominis libravit, caeciditque et mortuus est. Quod cernens filius hominis mortui, emissa ex adverso lanceam, contra Waddonem dirigit; cuius mediam alvum ictu penetrans, a tergo egressa falarica, ruens ad terram, advenientem multitudinem, qui collecta fuerat, ¡apidibus obrui coepit. Tum quidam de his qui venerant cum eo inter imbres saxeos accedentes, coopertum sago ac populo mitigato, heiulante filio eius, eumque super equum elevans, adhuc viventem domui reduxit. Sedprotinus sub lacrimis uxoris ac filiorum spiritum exalavit. Explicita igitur tarn infilicem vitam, filius eius ad regem abiit resque eius obtenuit. Während also Waddo sich zum Fehdezug rüstet, machen ihm Gattin und ältester Sohn Vorhaltungen, daß er umkommen, die Gattin zur W i t w e ( m i sera) und die Brüder zu Waisen machen werde. Dies alles rührt Waddo nicht; er interpretiert die Worte so, als ob der Sohn die Teilnahme an der Fehdefahrt verweigern wolle. »Er geriet in Zorn gegen den Sohn und schalt ihn feige und weichlich, holte mit der Streitaxt nach ihm aus und hätte sie ihm beinahe in den Schädel geschlagen.« Dann reiten sie, Waddo kommt um; mit dem Speer in der Brust, übers Pferd gelegt, bringt ihn der Sohn zurück . . . Auch die Reizung und Schmähung der Feinde kann unvorsichtiges Verhalten auslösen. So kommt der ostfränkische dux Heinrich nach dem Bericht Reginos zu Tode, als er 887 mit dem fränkischen Heerbann zum Entsatz des v o n Normannen belagerten Paris heranzieht: 39 Vgl. für den Norden G E H L [Anm. 13], S. 116. Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 290ff. " Regino von Prüm, Chronica [Anm. 27], S. 272f.

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Anno dominicae incarnatomi DCCCLXXXVIl. Nort mannt a Lovon recedentis Sequanam ingrediuntur et Parisius applicantes castra ponunt et civitatem obsidione claudunt; contra quos imperator Heinricum ducem cum exercitu vernali tempore dirigit, sed minime prevaluit. Erant enim, ut ferunt, XXX et eo amplius adversariorum milia, omnes pene robusti bellatores. Denuo aestivo tempore, antequam segetes in manipulis redigerentur, idem Heinricus cum exercitibus utriusque regni Parisius veni! et circumstantibus legionibus ipse cum per paucis propius accedens munitionem circuii, situm loci contemplatur aditumque perquirit, quo exercitui cum hostibus minus periculosus pateret congressus. Porro Nortmanni audientes adpropinquare exercitum fodtrant foveas latitudinis unius pedis et projunditatis trium in circuttu castrorum easque quisquiliis et stipula operuerant, semitas tantum discursui necessarias intactas reservantes; pauci igitur latrunculi, qui latitabant in concavis viarum itineribus, videntes Heinricum adpropinquare cito surgunt a locis, in quibus delituerant, provocantque vi rum teIis et voce lacessunt. llle animi magnitudine indignitatem rei non ferens super eos irruit, et mox in caecis foveis equus, cui insidebat, inpegit et cum ipso in terram corruit; hostes summa cum festinatione advolantes, antequam a loco elevaretur, eum terrae confodiunt et aspiciente universo exercitu absque mora trucidant, arma auferunt et spolia ex parte diripiunt. Agminibus autem impetum facientibus vix cadaver exanime eruitur et a suis usque Suessionis deportatum in basilica sancii Medardi sepelitur. Exercitus am isso duce ad propria revertitur. Die Nordleute bedienen sich also einer Kriegslist, 4 0 errichten verdeckte G r u ben um ihr Lager. A l s Heinrich näher heranreitet, um die Lage zu inspizieren, beschießen sie ihn nicht nur, sondern schmähen ihn auch. »Jener, der in seinem hohen Mute ( a n i m i magnitudine) die u n w ü r d i g e Behandlung nicht ertragen wollte, griff sie an und alsbald geriet das R o ß , auf welchem er saß, in die verdeckten G r u b e n und stürzte mit ihm nieder«. V o r den A u g e n des Heeres w u r d e er umgebracht. Regino umschreibt hier das außerordendiche Ehrgefühl des dux durch den Begriff magnitudo animi, den er auch dem Bretonen W u r f a n d zuerkannte und den er zum J a h r e 8 8 0 — im Nekrolog auf K ö n i g K a r l m a n n — als das Streben nach K a m p f , Sieg und Erweiterung der Herrschaft, also als das königsgemäße, amts- und ordo-gemäße Streben nach Ehre und R u h m in der K r i e g e r gesellschaft exemplifiziert. 41 Ähnlich motiviert die im >Liber Historiae Francorum< (c. 4 1 ) überlieferte Sage v o n Chlothars II. Sachsensieg ein unvorsichtiges Heldenstück des schon alten Frankenkönigs: 4 2 Eratque Chlothario rege tunc filius nomine Dagobertus, puer efficax atque strenuus, ad omnia solers, versutissimus. Quem rex adultum uno cum Pippino duce in Auster regnaturum direxit. A ustrasii vero Franci superiores congregati in unum, Dagobertum super se regem statuunt. In Ulis quoque diebus Saxones rebelles nimis commoverunt exercitum gencium plurimarum contra Dagobertum regem vel Chlotharium. Dagobertus vero, collecto hoste plurimo, Renum transiit, contra Saxones ad pugnam exire non dubitavit. Illisque valide pugnantibus, Dagobertus super galea capitis suipercussus, abscisaparticola de capillis eius ad terram, a retro stans armiger eius collegit eam. At ille lesum cernens populum suum, dixit ad ipsum puerum: >Perge velociter jestinus cum Zur durchaus Renommee verschaffenden Rolle der List vgl. A L T H O F F [Anm. 12], S . 302ff. Regino von Prüm, Chronica [Anm. 27], S. 258. 42 Liber Historiae Francorum. In: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Hrsg. von A N D R E A S K U S T E R N I G U. a. Darmstadt 1982, S . 360ff.

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crine capitis mei nunc adpatrem meum, succurratqut nobis, antequam cunctus exercitus corruatDomnm Chlotbarius rex venit, et obhoc letantur FranciMentitos vos! delerare, formidatis, cum Chlothario vobiscum habere dictis, cum nos eum mortuum auditum esse habemusTu hic eras, bale iumente?< Rex vero haec audiens, valde indignatus hoc convicium, Wisra fluvium ingressus cum equo velocissimo, transnatavit. Fero ut erat corde, Bertoaldum persequebatur, Francorumque exercitus sequenter regem natantes, vix fluvium cum Dagoberto transiebant per gurgites inmensos. Rex itaque Chlotbarius persequutus Bertoaldo, certabatur valde cum eo. Dixitque Bertoaldus: >Recede a me, o rex, ne interficiam te; quia se prevalueris adversus me, sie omnes homines dicent, quod servum tuum Bertoaldum gentilem peremisti; si autem ego interficero te, tunc rumor magnus in cunctis gentibus audietur, quodfortissimus rex Francorum a servo sit interfectusc. Rex autem nequaquam adquievit dictis eius, sed magis consurgebat super eum. Equester itaque regis a longe sequutus rege, clamabat: > Confortare contra adversarium tuum, domine mi rex!< Erantque manus regis valde graves; erat enim rex loricatus. Consurgensque rex super eum et interficit ipso Bertoaldo sustullitque caput eius in conto reversusque est ad Francos. Illisque lugentibus, - nesciebant, quid regi contigisset, - viso eo, gavisi sunt gaudio magno. Rex vero, tota terra Saxonorum vastata, populo ille interfecto, non ibi maiorem hominem viventem reliquit, nisi ut gladius suus, quod spata vocant, per longum habebat. Hoc Signum in regione ¡IIa statuit, reversusque est rex victor in terra sua. Chlothar kommt seinem Sohn Dagobert in kritischer Lage des Heeres zu Hilfe. Als der Sachsenherzog den am anderen Ufer der Weser mit entblößtem grauen Haar stehenden König sieht, ruft er aus: »Was willst Du hier, du graues Maultier?« A u f äußerste erzürnt über diese Schmähung ( c o n v i c i u m ) springt der König auf sein Pferd, durchschwimmt den Fluß, tötet fero corde — »mit wildem Herzen« — den Sachsen und spießt sein Haupt auf den Speer, um die Rächung der Ehrverletzung dem ganzen Heer zu offenbaren. Diese Sage, zu der es im Norden, in der >Njäls SagaNjäls Saga< (c. 44) schilt man mit Worten und Spottversen den Vater einen bartlosen, alten Kerl, die Söhne aber »Mistbärte«. Aus diesem wie eine Körperverletzung wirkenden >beißenden< Spott entsteht ein blutiger Rachefeldzug. Vgl. DE VRIES [Anm. 20], S. 27. Vgl. zur Institution der munt >Schutz< G. KÖBLER, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. VI, 1992, Sp. 918f. (mit Lit.)

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D e r triviale, aber o f t tödliche >Normalfall< ist der, daß die Frau selbst die N o r m d u r c h Ehebruch verletzt. G r e g o r (VIII, c. 1 9 ) erzählt die Geschichte v o m ehebrecherischen A b t D a g u l f , der 5 8 5 in flagranti ertappt w i r d und samt der E h e f r a u v o m E h e m a n n erschlagen w i r d : 4 5 Cum autem saepius Dagulfus abba pro sceleribus suis argueritur, quia furta et homicidia plerumque faciebat, sed et in adulteriis nimium dissolutus erat, quodam tempore uxorem vicini sui concupiscens, miscebatur cum ea. Requirens occasiones diversas, qualiter virum adulterat, qui in terra huius monasterii conmarubat, deberet oppremere, ad extremum ¡intestatus est ei, dicens, quod, si ad uxorem suam accederet, pumretur. Illo quoque discedente ab hospitiolo suo, bic nocte cum uno clerico veniens, domum meretricis ingreditur. Post quam autem diutissime bibentts inebriali sunt, in uno Strato locantur. Quibus dormientibus, adveniens vir ille, accenso Stramine, elevata bipenne utrumque peremit. Ideoqut documentum sit haec causa dericis, ne contra canonum statuta extranearum mulierum consortium potiantur, cum haec et ipsa lex canonica et omnes scripturae sanctae prohibeant, praeter his feminis, de quibus crimen non potest aestimari. G r e g o r , der Bischof, scheint das V e r f a h r e n zu billigen. Hier scheint die Pflicht zur Wiederherstellung der E h r e durch Rache beim E h e m a n n zu liegen. G r e g o r erzählt aber eine andere Geschichte ( V , c. 32), in der der E h e b r u c h nach seinen W o r t e n das Geschlecht des M a n n e s in Schande ( s t u p r u m ) bringt und der Vater der Frau v o n den parentes des E h e m a n n e s a u f g e f o r d e r t w i r d , diese zu töten. 4 6 Es k o m m t zu einer in der K i r c h e v o n St. Denis g e f ü h r t e n blutigen Fehde zwischen den Familien. D e r K ö n i g zieht das V e r f a h r e n an das K ö n i g s g e r i c h t , d o c h endet die Geschichte traurig. D i e Beschuldigte macht ihrem Leben n o c h v o r d e m G e r i c h t s t e r m i n ein Ende. D i e E h r e g e h t ans Leben. Dies auch in den Fällen, in denen der Familie d e r noch unverheirateten Frau die Pflicht zur E h r e n w a h r u n g obliegt. G r e g o r (VI, c. 3 6 ) erzählt z. B. die m e r k w ü r d i g e Geschichte eines namenlosen Geisdichen aus Le Mans: 4 7 Aetherius vero Lixoensis episcopus [Bischof von Lisieux], cui supra meminimus, hoc ordine a civitate sua vel expulsus est vel receptus. Clericus quidam extitit ex Cinomannica urbe, luxuriosus nimis amatorque mulierum et gulae ac fornicationis omnique immunditiae valde deditus. Hic mulieri cuidam saepius scorto commixtus, comam capitis totondit, mutatoque virili habitu, secum in alia civitate deduxit, ut suspicio auferetur adulterii, cum inter incognitos devenisset. Erat enim mulier ingenua genere et de bonis orta parentibus. Conperto autem post dies multospropinqui eius quae acta fuerant, ad ulciscendam humilitatem generis sui velociusproperant, repertumque clericum vinctum custodia/ mancipant, mulierem vero ignem consumunt. Et, sicut cogit auri sacra famis, clericum sub prelio venundari procurant, ea videlicet ratione, ut aut esset qui redimeret, aut certe morti addiceretur obnoxius. Cumque haec Aetherio episcopo delata fuissent, misericordia motus, datis XX aureis, eum ab imminenti exemit interitu. W i r h ö r e n also hier v o n einem clericus, der ein M ä d c h e n v e r f ü h r t e , ihr »das Haar schor, sie in Männerkleider steckte und mit sich in eine andere S t a d t n a h m , damit sie nicht mehr im Verdacht der U n z u c h t stünden, w e n n man 45 46 47

Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 186. Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 1, S. 338ff. Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 62.

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unter Fremden lebe.« Die botiiparentes des Mädchens jedoch ergreifen beide, töten »um die ihrer Sippe angetane Schmach zu rächen« - ad ulciscendam humilitatem generts sui — das Mädchen auf unehrenhafte Weise (Verbrennung). Den Geisdichen stellen sie jedoch für eine compositio zur Verfügung, er wird vom Bischof der Stadt losgekauft; Gregor scheint zu bedauern, daß nicht auch er getötet wurde. Im selben Sinne berichtet Gregor (III, c. 31) auch von dem Konflikt zwischen der Tochter König Chlodwigs, der Gemahlin des Gotenkönigs Theoderich, und ihrer Tochter, weil diese einen von ihr ausgesuchten Königssohn abgewiesen und dafür einen Knecht genommen habe:48 Et quia TheuAoncus Italiae Chlodovechi regis sororem in matrimonio habuit, mortuus parvolam filtam cum uxore reliquid. Hic autim cum adulta facta esset, per levitatem animi sui, relicto matris consilio, quae ei regis filium providebat, servum suum Traguilanem nomen accepit et cum eum ad civitatem, qua defensare possit, aufugit. Cumqut mater eius contra eam valde frenderet petiretque ab ea, ne humiliaret diutius nobile genus, sed, demisso servo, similem sibi de genere regio, quem materproviderat, deberet accipere, nullatinus voluit adquiescere. Tunc mater eius contra eam frendens, exercitum commovit. A t Uli venientes super eos, Traguilanem interfecerunt gladio, ipsam quoque caedentes, in domo matris reduxerunt.

Die Mutter bietet wegen dieser Schmähung des nobile genus Truppen gegen die Tochter auf, welche den Liebhaber töten. Die Geschichte ist sagenhaft, doch bezeichnend für die Ehrauffassung einer Adelssippe. Die Ehre des genus, dem die Frau angehört, ist aber auch verletzt, wenn diese in der Ehe nicht mit der ihr nach ihrem ordo zukommenden Achtung behandelt wird. So empfängt König Gunthram, als der Westgotenkönig Rekkared 587 die Versöhnung mit ihm sucht, dessen Gesandten nicht, weil er und seine Genossen seine Nichte Ingunde der Gefangenschaft überantwortet und ihren Gemahl haben töten lassen, und zwar solange — wie er sagt »als bis mich Gott hat Rache an diesen meinen Feinden nehmen lassen« (Gregor, IX, c. 16):49 Post haec Richaredus legationem ad Cunthchramnum atque Childeberthum regem direxit pacis gratia, ut scilicet, sicut in fide se adserebat unum, ita et caritate se praest aret um tum. Sed ad Gunthchramno rege repulsi sunt, dicente: >Qualem mihi fidem promittere possunt aut quemadmodum a me credi debent, qui neptem meam Ingundem in captivitate tradiderunt, et per eorum insidias et vir eius interfectus est, et ipsa in peregrinatione defuncta? Non recipio ergo legationem Richaridi, donec me Deus ulcisci iubeat de his inimicist.

In einem Fall, der sich nach Gregor (X, c. 27) 591 in Tournai zutrug, schilt der Schwager den Ehemann, daß er sein Eheweib vernachlässige und Dirnen aufsuche:50

Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 1, S. 182ff. Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 252ff. 50 Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 388ff.

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Inter Tornacensis quoque Frantoi non mediocris disceptatio est orta, pro eo quod unius filius alteri»s filium, qui sororem eius in matrimonium acceperat, cum ira saepius obiurgabat, cur, coniuge relieta, scortum adiret. Quae iracundia, cum emendatio criminali non succedere!, usque adeo elata est, ut inruens puer super cognatum suum, eum cum suis interficeret atque ipse ab bis, cum quibus venerai ille, prosternerete nec rimaner et quispiam ex utrisque nisi unus tantum, cui percussor defuit. Ex hoc parentes utriusque inter se saevientes a Frtdegunde regina plerumque arguebantur, ut, relieta inimicitia, concordis fierent, ne pertinatia litis in maiore subveheretur scandalum. Sed cum eosdem verbis lenibus placare nequiret, utrumque bipenne conpescuit. Invitatis etenim ad epulum multis, hos in unum tres fecit sedere subsellium; cumque in eo prandi um elongatum fuisset spatio, ut nox mundum obrueret, ablata mensa, sicut mos Francorum est, Uli in subsellia sua, sicut locati fuerant, resedebant. Potatoque vino multo, in tanto crapulati sunt, ut pueri eorum madefacti per angulos domus, ubi quisque conruerat, obdormierit. Tunc ordinati a muliere viri cum tribus securibus a tergo horum trium adsteterunt, illisque conloquentibus, in unum, ut ita dicam, adsultupuerorum manus libratae, hominibusperculsis, ab epulo est discessum. Nomina quoque virorum Charivaldus, Leodovaldus atque Valdenus. Quod cum parentibus perlatum fuisset, custodire arctius Fredegunde coeperunt, dirigentes nuntios ad Childeberthum regem, ut conprehensa interficeretur. Conmotus autem pro hac causa Campanensis populus, dum moras innecteret, haec, suorum erepta auxilium, ad locum alium properavit. Der Streit eskaliert also bis zur Tötung des ungetreuen Ehemanns, worauf der Schwager seinerseits von der Gegenseite erschlagen wird. Die blutige Fehde geht weiter, bis nur noch ein einziger aus der jüngeren Generation übrig blieb, dem - wie Gregor schreibt — »ein Töter fehlte«. Daraufhin übernehmen die Väter die Rachepflicht, bis Königin Fredegunde Frieden schafft, indem sie alle drei Uberlebenden erschlagen läßt. Aus romanischem Gebiet, der Auvergne, berichtet Gregor (X, c. 8) gar einen Fall, in dem sich eine durch Ehebruch und Schläge des Mannes, durch Entzug des Besitzes und ihres Schmucks verunehrte Frau, als sie sich - wie Gregor wörtlich schreibt — in solchem »Elend« sah und honorem omnem, quem in domo viri habuerat, perdidissit, sich berechtigt fühlt, den Ehemann, einen gewissen Eulalius, aus eigener Verantwortung zu verlassen und sich einem andern zuzuwenden: 51 Habebat enim uxorem Tetradiam nobilem ex matre, patre inferiore. Sed cum in domo sua vir ancillarum concubitu misceretur, coniugem neglegere coepit, et cum ab scorto reverteretur, gravissimis eam plagis saepius adficiebat. Sed et pro multis sceleribus debita nonnulla contraxerat, in qua ornamenta et aurum uxoris saepissime evertebat. Denique inter has angustias mulier collacata, cum honorem omnem, quem in domo viri habuerat, perdidissit et ille abisset ad regem, haec a Viro, — sic enim erat nomen hominis — mariti sui nepote, concupisciti, scilicet ut, quia ille perdiderat coniugem, huius matrimonio iungeretur. Virus autem timens inimicitias avuneuli, mulierem Desiderio duci transmisit, videlicet ut succedente tempore copularetur ei. Quae omnem substantiam viri sui tarn in auro quam in argento vel vestimentis, et qua movere poterant, cum seniore filio secum sustulit, relictum in domo alium iuniorem. Redlens vero Eulalius ex itenere, conperit quae accesserant. Sed cum, mitigato dolore, paulolum quievisset, super Virum nepotem suum inruit eumque inter arta vallium A rvernorum interimit. A udiens autem Desiderius, qui et ipse uxorem nuper perdederat, quod scilicet Virus interfectus fuisset, coniugio suo Tetradiam sodavit.

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Gregor von Tours [Anm. 5], Bd. 2, S. 338f.

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Es existierte also ein honor ... in domo viri, der beachtet w e r d e n mußte, und

nun erklärt sich uns das Verhalten der gepidischen Königstochter Rosamund, der Gemahlin des Langobardenkönigs Alboin, von dem oben zu berichten war. Durch die Schmähung des Ehemanns war sie in ihrer Ehre als Königin öffentlich am Hofe verletzt worden. Damit war sie der Bindung an Alboin, welche die Ausübung der Rachepflicht gegenüber ihrem von ihrem Gemahl getöteten Vater unterbunden hatte, ledig und konnte die Rache vollziehen. 52 An einem sagenmäßig aufbereiteten Konflikt zwischen Theoderichs Gattin und ihrer Tochter Amalaswintha, die einen Knecht als Partner erwählte, ließ sich erkennen, daß bereits in der Merowingerzeit eine Standesehre existiert haben muß, welche etwa das conubium mit Rangniederen problematisch machte. Gleiches ist jener aparten Geschichte zu entnehmen, in der Gregor von Tours (IV, c. 3) erzählt, wie Ingunde, die der Chlodwigsohn Chlothar aus dem Sklavenstande zu seiner Gemahlin erhoben hatte, ihren Gatten bittet, ihrer Schwester Aregunde einen »angesehenen und wohlhabenden Mann zu erwählen«, damit sie »in ihrer Ehre nicht erniedrigt, sondern erhoben werde«. Chlothar entspricht diesem Wunsch, kann aber keinen Besseren finden als — sich selbst: 53 Quae autem causa fuerit, ut uxoris suae sororem acciperet, dicam. Cum iam Ingundem in coniugio accipisset et eam unico amore diligeret, suggestionem ab ea accepit, dicentes: >Fecit dominus meus de ancilla sua quod libuit et suo me stratui adscivit. Nunc ad conplendam mercide, quidfamula tua suggerat, audiat dominus meus rex. Praecor, ut sorore meae, servae vestrae, utilem atque habentem virum ordinäre dignimini, unde non humilier, sed potius exaltata servire fidelius possemt. Quod ille audiens, cum esset nimium luxoriosus, in amore Aregundis incedit et ad villam in qua ipsa resedebat, dirigit eamque sibi in matrimonio sociavit. Quae accepta, ad Ingundem rediens, ait: > Tractavi mercidem illam inplere, quam me tua dulcitudo expetiit. Et requirens virum divitem atque sapientem, quem tuae sorori deberem adiungere, nihil melius quam me ipsum inveni. Itaque noveris, quia eam coniugem accepi, quod tibi displicere non credoQuod bonumvidetur in oculis dorn im mei, faciat; tantum ancilla tua cum gratia regis vivatLiet von Troye< und den prekären Ort dieses Votums im zeitgenössischen geistlichen Bildungshorizont hat kürzlich H A N S F R O M M hingewiesen. 12 Es kann hier nicht der Ort sein, dieses Projekt in der gebotenen Breite anzugehen. Ich greife statt dessen exemplarisch zwei Passagen aus der höfischen Erzählliteratur heraus, aus den >ErecProsa-LancelotErec< lassen an Härte nichts zu wünschen übrig. Bereits im Yderskampf malt Chrétien in Einzelheiten und geradezu genüßlich, wie die Gegner nach Kampf lechzen, wie sie sich an 9

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Einzelnes in den Standardwerken v g l . A n m . 8, ferner: FREDERICK H. ROUSSELL: T h e Just War in the M i d d l e A g e s . Cambridge 1975. - ERNST-DIETER HEHL: Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit. Stuttgart 1980 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 19). DENNIS HOWARD GREEN: Homicide and >ParzivalErec et EnideErec< und >Iwein< Hartmanns von Aue. Diss. Freiburg/Br. 1967, S. 84. Erecs Worte »beweisen, daß er den Sinn der ritterlichen Kampfethik nicht erfaßt hat. Er versteht nicht, daß ihn jemand freundlich anredet, um dann mit ihm zu kämpfen. Erec ist noch so weit vom Sinn ritterlichen Daseins entfernt, daß er einfache Höflichkeit mißdeutet und freundliches Entgegenkommen gleich als Freundschaft versteht [hier?]. Er kennt in seiner Unreife v o m äußeren Auftreten her nur Freunde und Feinde (hier?]« (ebd.). Dies ist allzu distanzlos affirmativ gesehen in Hinblick auf die präsupponierte Ethik, Reife und Daseinserfüllung eines zeidosen Rittertums. 13

Ritterideologie und Cegnertötung

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vom Autor gar als feige gezeichnet, wie dies der Gegner möchte? Oder übt Hartmann leise Kritik an einem eigentlich nicht nötigen Kampf? M A R T I N H. J O N E S bedenkt den historisch belegten Übungscharakter des Turnier- und (analog) aventiure-Reitens und den damit verbundenen Ehrgewinn. So wertet er im Kontext des Versagens in Carnant das (in der Forschung nicht unumstrittene) wutschnaubende Eingreifen Guivrets als fraglos positives Merkmal aktiven Rittertums, als vorbildliches Handeln eines pflichtgemäß wachsamen Herrschers; entsprechend kann er Erecs Zögern bei Hartmann eindeutig als Verfall des Kampfgeistes und psychische Folge des verligen deuten.19 Gerade andersherum sieht W I L L I A M H E N R Y J A C K S O N Guivreiz' Kampfeifer als Verstoß gegen das zeitgenössische Fehderecht, der von Hartmann nicht undiskutiert hingenommen werde. So wäre die fragwürdige Herausforderung ohne Widersagefrist mit Guivreiz' Unterliegen in Zusammenhang zu bringen. 20 Beide Sichten haben Gründe für sich. Dabei scheint es mir den Texten nicht zwingend zu entnehmen, ob sie ein (so oder so gerichtetes) massiv didaktisches oder ein eher problematisierend distanziertes Verständnis der Situation anstreben. Jedenfalls stößt gerade in den Guivret/GuivreizSzenen das kämpferische Draufgängertum an die Grenzen grotesker Uberzeichnung. Die Entscheidung des ersten Kampfes erfolgt bei Chrétien durch Zufall Guivret hält plötzlich den Knauf seines Schwertes in der Hand und muß um sein Leben rennen. »Erec verfolgt ihn, und der Ritter bittet ihn bei Gottes Barmherzigkeit, ihn nicht zu töten«,21 was ihm nur bei peinlicher Einhaltung des Unterwerfungsrituals zugestanden wird. Hartmann, dessen Kampfschilderung in der Uberlieferung empfindlich differiert,22 hält Guivreiz' Schonung bis zum letzten in der Schwebe. Erec hätte nach seinem Sieg nach missetân, / wan er rvolde in ersiagen hân (V. 4440f.). Guivreiz muß ihm gerade noch rechtzeitig zuvorkommen; er unterwirft sich in untadeliger, absolut ehrenvoller Form: Er bittet den ritter guot um seiner Tugend und seiner schönen Frau willen, Gott an ihm zu ehren und bietet Sicherheit an; er tut es wegen Erecs manheit, die auf seiner Leistung und nicht dem Geburtsstand beruhe, den er ja noch nicht kennen kann. Andernfalls wäre er bereit zu sterben. Nun macht es ihm, dem bisher Unbesiegten, die allergrößte Freude, gerade ihn als Herrn zu haben. Erec lehnt diese Ehre seinerseits dankend ab und bittet nur um die Namensnennung. Als beide Kämpfer sich vorgestellt haben, ist es heraus: Guivreiz ist ein alter Freund der Familie, es offenbart sich die oben berufene notifia contuberniiP So wie die beiden Männer zuerst "JONES [ A n m . 15], S. 1 0 2 - 1 0 8 . 20

WILLIAM HENRY JACKSON: Friedensgesetzgebung und höfischer Roman. Zu Hartmanns >Erec< und >Iweinethischer< Motivationen. Gottesfurcht und die Abscheu vor blutrünstigen Schlächtereien oder alte Bekanntschaften, die der Zisterziensermönch Orderich als Motive der Schonung nennt, kennt der aventiure-Ritter Chrétiens und Hartmanns in der Auseinandersetzung mit dem ranggleichen Gegner nicht. Als Motor dieser Kämpfe wirken unverhüllt Kampfgier, Aggression um ihrer selbst willen und sonstige Affekte (voran %orn), die als manheit ausgelegt und von den schönen Begleiterinnen psychagogisch aufgeputscht werden. Genau diese Art Antriebe werden in der chrisdichen Kriegstheorie und in der kirchlichen Turnierkritik immer wieder angeprangert, gewiß zu Recht.30 Schonung kommt auch nur innerhalb der Standesgemeinschaft in Frage. Nichtständische Gegner, im >Erec< die Riesen und Raubritter wie die moralisch heruntergekommenen adligen Kontrahenten, verdienen keine Schonung, sie werden ohne Hemmungen getötet. 31 Als Funktionen des aventiurf-Reitens wie des Turniers bleiben neben dem Trainingswert für den Ernstfall (ein unfallträchtiges und wenig ökonomisches Verfahren!) die rituell kanalisierte Lizenz zur Aggression und die Fesdegung der innerständischen Hackordnung. Der Ertrag des Risikosports heißt Ehre, Ruhm, für den Sieger etwas reichlicher. Das Schonungsgebot schiebt der Dezimierung und Selbstauslöschung dieser Gesellschaft einen schwachen Riegel vor. Vom idealisierenden Charakter des Sicherheit-Gebens und -Nehmens, von dem man immer wieder liest, kann ich in den erzählten Kontexten wenig erkennen.32 Wie sehr das Schonungsritual von eigentlich ethischen Werten abgekoppelt erscheint, sei noch an einem weiteren Text bedacht. In einen merkwürdigen und rätselhaften Konflikt versetzt Chrétien im >Lancelot< die Begnadigung des Gegners. 33 Auf dem Weg zur Schwertbrücke wird Lancelot von einem besonders wilden und dreisten Ritter herausgefordert, der ihm das Bestehen dieses gewaltigen Unternehmens abspricht, nachdem er auf dem Schandkarren seine Ehre verloren habe. Wutschnaubend besiegt ihn Lancelot in einem schnellen Kampf und will gerade seiner nicht eben helden30

Vgl. H E H L [Anm. 9], kirchliche Kritik an Krieg ex humana cupiditate (Gratian, S. 65 ); getadelt wird der irrationabilis iracurtdiae motus aut inanis gloriae appetitus aut terrenae qualiscumqtu possessionis cupiditas (Bernhard von Clairvaux, S. 116, Zit. PL 182, 923). - Zur kirchlichen Turnierkritik GREEN [Anm. 10], S. 13f.; Materialien bei MAURICE KEEN: Das Rittertum. München, Zürich 1987 (engl. Originalausgabe 1984), S. 146ff.

11

GREEN [ A n m . 10], S . 19ff.

52

Vgl. Lit. bei MARGRIT DÉSILLES-BUSCH: >Doner un don< - Sicherheit nemenSicherheitIweinLät erbärmde bt der vrävel sin / (sus tuot mir rätes volge schin)/ an srvem ir strites Sicherheit / behalt, ern habe iu solhiu leit / getan die herben kumber wesen< — »es sei denn, er hat Euch ein wirklich herzliches Leid angetan«, dann, ist zu ergänzen, hat zumindest nach Gurnemanz der Sieger ein Recht auf Rache und ist nicht zur Milde verpflichtet. Dies wird in der Handlung bestätigt, im Hintergrund steht hier der Gedanke der Sippenrache, der freilich um 1200 rechdich überholt ist und in Wolframs menschenfreundlichem Entwurf widerlegt erscheint.36 Gerade vor der Folie von Chretien und Hartmann konnte G R E E N die Radikalität von Wolframs ritterlichem Schonungsgedanken profilieren. Das heißt aber nicht, daß die Früheren das Problem der Menschentötung in ihren narrativen Arrangements ignoriert oder literarisch halbherzig gelöst hätten,37 sie gehen von einem anderen Modell aus, in dem der Ehrbegriff schließlich über dem Menschenleben, dem eigenen und dem des Gegners, eingestuft ist. Es ist anzunehmen, daß hier im säkularen Rahmen archaische Ehrvorstellungen weiterwirken. 38 Anderseits ist daran zu erinnern, daß auch in Wolframs Kosmos ausgerechnet die Gralritter nach Trevrizents Lehre keine Sicherheit leisten oder annehmen, sondern stets auf Leben oder Tod kämpfen. Das hat zu tun mit ihrer Stilisierung nach den geistlichen Ritterorden. 39 Daß hier eine andere Regelung herrscht, können wir im >Prosa-Lancelot< an zwei korrespondierenden Episoden der >Gral-Queste< studieren.40 Dieses Mittelstück der Trilogie beschreibt die Ablösung der weltlichen durch eine geistliche Ritterschaft. Die Artusritter sind zur Gralsuche aufgebrochen, je16

S o schickt Parzival den überwundenen Clamide nicht zu G u r n e m a n z , dessen S o h n Schenteflurs er erschlagen hat, sondern zu Artus (vgl. 213, 28ff.). Ohne diesen Zusatz Chrétien, >PercevalParzivalParzivalParzival< Wolframs und im »Jüngeren TiturelQuesteGral-Queste< zum >Tod des Königs Artus*. Z u m Einheitsproblem des >Prosa-LancelotUnbußfertigkeit< könnte man vielleicht folgende Symbolik konstruieren: Es geht um die Artusritter selbst. Sie erkennen ihre eigene Sündhaftigkeit nicht und radieren die Todsünden sozusagen aus ihrem Bewußtsein aus. So nehmen sie sich selbst die Möglichkeit ihrer Bekehrung. In ihrem sündhaften Zustand handeln sie falsch, wie sie auch handeln. Die Deutung für Galaad und diejenige für die Artusritter tendieren jedenfalls auseinander. Geistliches und weldiches Rittertum stehen in völlig verschiedenen Sinnperspektiven, die nur an der Oberfläche der Literalhandlung gekoppelt sind.44 Rechtfertigung oder Sündhaftigkeit messen sich nicht an der einzelnen Handlung, sondern sind mit der Partei des Handelnden vorentschieden. Eine Spiegelung dieser paradoxen Szene findet sich an einer späteren Stelle des Romans auf seifen der drei erwählten Gralhelden Galaad, Parzival und Bohort. Die Handlung strebt der Erfüllung der Gralaventiuren zu. Nachdem Galaad auf dem Salomonschiff von Parzivals Schwester mit dem ritterlichen Gürtel, dem »fremden Gehenk«, bekleidet wurde und das Davidschwert ergriffen hat, fuhrt ihn sein Schiff stracks zur Burg Kartaloch (französisch Carcelois) in Schottland, wo man gegen alle Artusritter Todfeindschaft hegt.45 Hundert Ritter tauchen auf, es kommt zu einem blutigen Gemetzel in ganz unfrommem Stil. Die Feinde müssen weichen, wart Galaat macht wunder und erschlug ir als viel das sie nit enwonten, das er kejn mensch were. Wann sie wonten, es weren die fynde von der hellen, die dar weren kamen sie vertrihen (S. 316,5ff.). Nun erhebt sich die Frage, ob die Tat rechtens war. Als die drei Gesellen die vielen Toten sehen, Da hielten sie sich vor sundere von dießen wercken und sprachen, sie heften übel getan das sie als viel lute betten erschlagen (12f.). Bohort weiß dagegen einen Einwand; Gott hat es so gewollt: >ich gleub nit das sie got lieb hette, wann hett sie got lieb gehabt, sie weren also nit nyder gelegen als sie sint. Wann sie sint licht böß lute gewesen und ungleubig und haben villicht als viel mißetan gein unserm herren das er nit wolt das sie men lebten. Darumb hatt er uns herre gesant das wir sie vertrihen sollen< (13ff.). So sorgt also Gott dafür, daß böse, d. h. ungläubige und entsprechend verbrecherische Menschen getötet werden; bedenklich ist dabei vor allem, daß die menschlichen Exekutanten das nicht wissen und gar nicht wissen können; »vielleicht«, meint Bohort, aber die Vorsehung arbeitet ja zuverlässig. Dem wird entgegengehalten: >Ir sagent niht gnughant sie gethan wiedder unsern herren, die räche was nit unser nemen, sunder des der da beydet als lang das sich der sunder bekeret und sich bedencke. Und darumb so sagen ich uch das ich nummer fro werde, ee dann ich wiß die warheit von dißen wercken die wir hant gethan< (317,lff.). Galaad formuliert also den Aspekt, daß die Rache Gottes sei und dieser dem Sünder Zeit zur Bekehrung lassen wolle. 46 Das entspricht genau dem Vorwurf, der oben Gawan traf. 44 45 44

So auch das Ergebnis bei HUBER [Anm. 4 1 ] , S. 30f.; 36£ Ausgaben Anm. 40: K L U G E , S. 314ff.; PAUPHILET, S. 229ff. Dt 32,35: Mea est ultio et ego retribuam in tempore, ut labaturpes torum; juxta est diesperditionis,

et adesse

70

Christoph

Huber

Aber wieder stellt die Aufklärung das Gegenteil heraus. Aus dem Hinterzimmer tritt ein alter Priester mit dem Allerheiligsten in der Hand. Er fürchtet sich zuerst, als er die vielen Leichen sieht, ist dann aber hocherfreut, als er hört, daß die Ritter vom Artushof kommen. (Es erstaunt, daß auf diesem Stand geistlicher Progression dem Artushof ein so positiver Wert zuerkannt wird — auch das eine Erwartungsdurchbrechung!) Der Priester beurteilt das Gemetzel so: >1 r herren, wißent das ir bant gethan die besten werck die ye ritter getaden! Und soltent ir ¡eben als lang als die weit gestet, so gleube ich nit das ir größer almusen [franz. aumosne wie lat. beneficium\ mocht gethun als diße ist. Darumb weiß ich wol das uch gott herre hat gesant diße werck \u machew (317,19ff.). Die drei Brüder waren nämlich die schlimmsten Gotteshasser der Welt. Sie waren schlimmer als die Heiden und taten alles gegen Gott und die heilige Kirche. Galaad hat noch Skrupel: Er bereue trotzdem, daß er Christenmenschen getötet habe. Da kann ihn der Priester beruhigen: Es waren keine Christen, sondern Abtrünnige. Das heißt konkret: Die drei Brüder vergewaltigten ihre Schwester und brachten sie um, als sie das dem Vater meldete. Dann warfen sie den Vater in den Kerker und verstümmelten ihn. Sie erschlugen Priester und gelehrte Kleriker, Mönche und Abte. Ihre Schandtaten waren schlimmer, als Heiden sie hätten begehen können. Es ist klar, die Feinde Gottes und der Kirche, die hier niedergemacht wurden, waren Ketzer. 4, Die Rechtfertigung eines militärische Kampfes der Kirche mit Gegnern des Glaubens wurde rund um den ersten Kreuzzug diskutiert. Wichtige Namen sind Anselm von Lucca, Freund Gregors VII. (Canones-Sammlung 1080-83), Bonizo von Sutri (Schriften 1089-95), und Yvo von Chartres, 1092 von Urban II. zum Bischof ernannt.48 Die Lehre vom bellum iustum geht dann als Aktualisierung Augustins in das >Decretum< Gratians (um 1142) ein.49 Dabei handelt es sich immer um Gegner von außen oder von innen, Heiden oder Ketzer. Eine höchst aggressive Formulierung zur bedenkenlosen Vernichtung der Kirchenfeinde stammt bekanntlich von Bernhard von Clairvaux. In seiner Schrift >De laude novae militia« an die Templer (wohl kurz vor 1130, jedenfalls vor 1136) sagt dieser: »Den Tod für Christus zu leiden oder zuzufügen, ist nicht sündhaft . . . Der Soldat Christi tötet unbedenklich (securus interimit) und stirbt noch unbedenklicher . . . « Wenn er tötet, handelt festinant tempora. Vgl. Ps 93 (94),1; Is 34,8; [er 51,6; RM 12,19; Hbr 10,30. - Biblische Argumente, die Rache Gott zu überlassen, werden in der Canones-Systematik Gratians (um 1142) versammelt; Gratian reduziert sie auf eine innere Hinstellung und plädiert für ein faktisches Bestrafungs- und Tötungsrecht im Rahmen des gerechten Krieges*. Belege bei H E H L |Anm. 9 ] , S. 64—67. Vielleicht läßt sich über den Namen des Vaters, franz. ernols, Herttolx, hernous, dt. lirnons, bernons, Arnoldt (nach K L U G E S Apparat zu 318,14) eine ketzergeschichtliche Anspielung festmachen, die für den historischen Ort der >Queste< von Interesse sein könnte. - Zur Beurteilung der Episode vgl. das Standardwerk von A L B E R T P A U P H I L E T : litudes Sur la >Queste del Saint Graal«. Paris 1921, Nachdr. 1980; Stellen zur Behandlung der Ungläubigen, S. 33-36, hier S. 34f.; zum Homizid, S. 41—43; zur Politik der Kirche gegen die Ungläubigen, S. 58—61; zu den Ritterorden, S. 67—71. 48 FLORI [Anm. 2], S. 182-189. 49 H E H L [Anm. 9], S. 57ff.; vgl. Anm. 45.

Ritterideologie

und

Gegnertötung

71

er nicht als homicida, sed, ut ita dixerim, maltet da.9' In der Templer-Regel, die Details der äußeren Lebensführung bis ins Kleinste festlegt, heißt es zu diesem wichtigen Punkt nebenbei lakonisch: Ceste mattiere de rtovele religion créons que par la divine escripture et par la devine providence prist comencement en la sainte terre d'Orient. Ce est assavoir que la chevalerie armée puisse sanx colpe tuer les e nemis de la croisé Heiden- wie Ketzerkampf haben zur Zeit der Entstehung der >Queste< ihre eigene Aktualität, die in dem literarischen Gebilde in die Geschichtszeit des Romans, das 5. Jahrhundert, rückprojiziert ist (Galaads Einnahme des >sorglichen Sitzes< wird auf das Jahr 487 datiert). Die drei Questeritter, die das Askeseideal der Ritterorden gegen eine verweltlichte Artusritterschaft hochhalten, diskutieren dabei in den Bahnen der geistlichen Auseinandersetzung um die Tötung des ungläubigen Gegners, wobei gerade Galaad die weichere Position vertritt. Der alte Priester kann sie beruhigen: Mit ihrem Lebenswandel als milites spirituales und ihrer Erwähltheit sind sie allen Zweifeln enthoben. Sie können gar nicht sündigen, da Gott die Regie über ihre Taten fest in der Hand hat. Auch hier ergibt sich im konkreten Fall eine fast amoralische Situation: Kämpfe als geistlicher Ritter und tue dann, was du willst. Tod oder Leben der Glaubensfeinde sind im Plan der Providenz festgeschrieben. Diese Perspektive wird im Kontext weiter bestätigt. Die Aventiure von Kartaloch ist in die fast rasant zu nennende Dynamik des >QuesteZeit der Bilden abgeschlossen wird. 52 Es folgt das Blutopfer von Parzivals Schwester für ein aussätziges Fräulein. Den bedingungslosen Kämpfern steht in der Frauenrolle die vollkommene Hingabe bis zur Selbstaufgabe gegenüber. Aber Parzivals Schwester opfert sich umsonst, sie stirbt für eine böse Person, es bleibt ihr nur die gute Absicht, die Richtigstellung kommt von oben. Ein Gewitter Gottes vernichtet Burg und Menschen, eine Stimme vom Himmel erläutert: »Das ist die Rache für das Blut der heiligen Jungfrau, das hier vergossen wurde, damit eine böse Sünderin genese«." 50

51

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Kap. 3, PL 182, 923. Zitate: mors pro Christo vel ferenda, vel injerenda, et nihil habet criminis ... Miles imfuam Christi securus mterwiit, interit securior ... Sane cum occidit malefactorem, non est homicida, sed, ut ita dixerim, malicida, et plane Christi l'index in his que male agunt, et defensor Christianorum reputatur. (zit.). — Zweisprachige Ausgabe, Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lat./dt. Hrsg. von G E R H A R D B. W I N K L E R . Bd. 1. Innsbruck 1 9 9 0 , hier S. 2 1 7 . »Diese Art neuer Religion ist nach unserem Glauben durch die Hl. Schrift und die göttliche Vorsehung im Orient im Hl. Land entstanden. Dabei ist zu wissen, daß die Ritterschaft in Waffen ohne Schuld die Feinde des Kreuzes töten kann.« L A U R E N T D A I L L I E Z : La règle des templiers. Alpes Méditerranée Editions. Nice 1977, S. 138. 321,9ff.: Wann wißent vor wäre das es furhas nymand in der glichniß sehen so! keyn çitt me [Io 16,25], S. 324,13f. 335,14f.: >Dise räche ist von dem blute der heiligen jungfrauwen, das hieinn ist verstört [Lesart vergosßen, franz. espandus\, umb des willen das ein böse sunderin geneseGral-Queste< mit ihrer Kritik am weltlichen aventiure-Rittertum ist nachzulesen, wie die unbußfertigen prominenten Artushelden, ohne es zu wissen, aufeinander losgehen und sich gegenseitig niedermetzeln. In Kürze ist die Landschaft von potentiellen Kampfgegnern leergefegt. Nach außen ist Schonung nicht angesagt. Das klassischen Modell des >Erec< erzählt die selbstverständliche Vernichtung der Unhöfischen, die zugleich die Bösen sind. G R E E N hat hier Strukturanalogien des aventiure-Ritters zum Glaubenskämpfer richtig festgehalten, 14 doch liefert dabei die kirchliche Doktrin sicher nicht die Argumente. Unbedenklich darf und soll der geistliche Ritter über Leichen gehen, wo er sich als Arm der Providenz versteht. Das Arrangement des >Prosa-Lancelot< vereitelt und vernichtet geradezu das Wissen und die Absicht des einzelnen vor dem Hintergrund des göttlichen Weltplans. Beide Modelle zeigen Einstellungen, die das Menschenleben als hohes Gut nicht einschätzen. Der weltliche Ritter folgt seiner Ehre und schont aus Taktik; der geistliche folgt seinem Glauben und kann den Rest Gott überlassen. In diesem Umfeld läßt sich Wolframs Achtung vor dem ritterlichen und gar dem andersgläubigen Gegner nicht hoch genug einschätzen. Gyburcs großer Schonungsappell im >WillehalmParzivalneinritter guot, / durch dinen tugenthaften muot / unde durch dm schcene wip / so lä mir den Up< (4442—4445), und im zweiten Guivreizkampf: si sprach: >nein, ritter guot, / gewünne dü ie ritters muot, / niht erslach mir minen man!< (6946-6948); und Mabonagrin verdankt sein Leben wohl vor allem dem Verständnis, das Erec einem ritterlichen Kollegen entgegenbringt (siehe unten). Selbst auf Gefangennahme und auf Freilassung gegen Lösegeld wird angespielt, als Iders Erec jede Hoffnung auf Schonung in ihrem Kampf nehmen will: ir erbarmet mir niht: / als ich tu nügesige an, / des ich nie %wivelgewan, / also stät hin iu min muot / da% ich danne dehein guot / name vür iurvern Up (715—720). Aus Handlungsmotiven wie diesen besteht das Ethos, das die Entscheidung zwischen der Schonung und der Tötung eines Gegners in der Schlußphase eines Kampfes bestimmt, und in der Verwirklichung solcher Handlungsmotive in Situationen wie der des Kampfausgangs besteht ritterliches Verhalten, Ritterlichkeit. Die Voraussetzung für ritterliches Verhalten in dieser Situation ist ein überwundener, aber noch lebender Gegner, und gerade darin liegt die Bedeutung der Schutzwaffen, daß sie einen solchen Ausgang überhaupt ermöglichen. Auf dieser Grundlage bauen sich Ritterlichkeit im Sinne der Gurnemanzlehre und eine humanere Gestaltung des Kriegs auf, und diesem Sachverhalt wird Hartmann in seinen Kampfszenen völlig gerecht. Wir haben uns bisher mit einer Grundbedingung der Ritterlichkeit beschäftigt, auf die Hartmanns Darstellung der Kampfszenen uns aufmerksam macht. Das ist ein Blick auf ritterliches Verhalten gleichsam von unten her. Jetzt soll die Blickrichtung geändert und der Frage nachgegangen werden, wie sich der Ausgang der nicht-tödlichen Kämpfe von dem Zeitpunkt an gestaltet, in dem einer der Kämpfer überwunden ist. Abgesehen von dem zweiten Guivreizkampf, einem Freundeskampf, in dem quasirechtliche Verpflichtungen keinen Platz haben, spielt in den nichttödlichen Kämpfen die Sicherheit eine zentrale Rolle. In der Bedeutung »Untertänigkeitsgelübde des Besiegten« kommt Sicherheit im Rahmen eines Zweikampfs zum ersten Mal in der deutschen Literatur in Hartmanns >Erec< vor.1" In allen drei Kämpfen mit der Bitte um Schonung verbunden, erscheint die Leistung der Sicherheit als ein schon fest eingebürgertes Element des Kampfabschlusses, das den Kontrahenten geläufig ist und auch im Hinblick auf das 18

Siehe MARGIT DESILLES-BUSCH: » D o n e r u n d o n « - »Sicherheit n e m e n « . Z w e i t y p i s c h e K i e m e n t e der E r z ä h l s t r u k t u r des h ö f i s c h e n R o m a n s . Phil. Diss. FU Berlin 1969. Pau 1970, S. 6 9 - 7 3 .

Schut^waffen

und

81

Höfischheit

Publikum keiner Erklärung bedarf." Das bedeutet aber nicht, daß die Schlußphase des Kampfes in jedem Fall identisch abläuft, ganz im Gegenteil! Es zeigt sich vielmehr eine beträchtliche Variabilität in der Gestaltung des Ausgangs, die weniger darauf zurückzufuhren ist, daß Hartmann sich bemüht, mit einem neuen Erzählmotiv zurechtzukommen, als darauf, daß er den Einstellungen der Kämpfenden und den Umständen der jeweiligen Begegnung Rechnung trägt und sein Augenmerk besonders auf die Interaktion zwischen den Kontrahenten richtet. Das soll durch eine Untersuchung der nicht-tödlichen Zweikämpfe einschließlich des anders verlaufenden zweiten Guivreizkampfs in textchronologischer Reihenfolge demonstriert werden. In Tulmein hat es Erec mit einem Gegner zu tun, der keine Herausforderung zum Kampf um den Sperberpreis erwartet und der mit der Möglichkeit der Niederlage in dem sich trotzdem ergebenden Kampf überhaupt nicht rechnet. Iders ist sich des Sieges so sicher, daß er Erec ein gnadenloses Ende voraussagt (715—720, oben zitiert). Erec steht hier also Hochmut und Brutalität gegenüber und darf im Falle der Niederlage keine Hoffnung auf Schonung hegen. Als Erec den Sieg dennoch erringt, und Iders sigelos (949) vor ihm liegt, will er es nicht dabei bewenden lassen: als erm den heim abe brach, / do löste erm ouch da% hüetelin / als er solde erslagen sin, / wan da% er des geruochte / da^ er genäde suochte (951—955). Die Interpretation dieser Zeilen ist nicht ganz unproblematisch, aber man faßt sie wohl am besten so auf: Erec hat keine Absicht, Iders zu töten - er gibt sich nur den Anschein, als wolle er ihn erschlagen, indem er ihm Helm und Kapuze abnimmt (951-953) — und er gibt Iders die Möglichkeit, um Gnade zu bitten (954—955).20 Mit anderen Worten, Erec droht Iders ganz bewußt mit der gleichen Schonungslosigkeit, die dieser ihm angedroht hatte, will ihm aber die Chance geben, sich zu retten. Über den Realitätsbezug solcher Szenen zu Hartmanns Zeit läßt sich wenig Genaues sagen. Interessant vor altem für den Gebrauch von sicherheil in diesem Zusammenhang ist eine weitere Stelle bei Ordericus Vitalis, auf die GILLINGHAM [Anm. 4], S. 77f. aufmerksam macht, w o Wilhelm II. von F.ngland einige Gefangene für kurze Zeit auf Ehrenwort freiläßt; Bedenken gegen solche Großzügigkeit begegnet Wilhelm mit den Worten: Absit a me ut credam, quodprobus miles uiolet jidem suam. Quod si fecerit, omni tempore uelet exlex despicabilis erit (»Far be it from me to believe that a true knight w o u l d break his sworn word. If he did so he would be despised for ever as an outlaw.« Übersetzung von MARJORIE CHIBNALL); T h e Ecclesiastical History of Orderic Vitalis. Volume V, Books IX and X. Edited and translated by MARJORIE CHIBNALL. Oxford 1975, S. 2 4 4 . 2(1 Das Abnehmen des Helms wird als »eine täuschende Gebärde« gesehen von DIETMAR PEIL: Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. Erec - Iwein - Parzival. München 1975 (Medium A e v u m 28), S. 155 und Anm. 36. Vgl. auch zu dieser Stelle die Übersetzungen: Hartmann von Aue. Erec. Übersetzt und erläutert von WOLFGANG MOHR. Göppingen 1980 (GAG 291), S. 25; T h e Narrative Works of Hartmann von Aue. Translated by R. W . FISHER. Göppingen 1983 19

(GAG

370),

S . 12, u n d d i e E r l ä u t e r u n g e n

b e i OKKEN [ A n m . 1 4 ] , S . 3 7 ( z u V . 9 5 2 ) .

Die

bei

Hartmann nur vorgetäuschte Absicht, Iders zu töten, kontrastiert mit der ernsten Tötungsabsicht von Chrétiens Erec (981—988). Kurz danach tut Erec bei Hartmann so, als ob er dem Zwerg die Hand abschlagen will, aber auch das ist nicht ernst gemeint (1052-1063); diese Szene fehlt bei Chrétien.

82

M artin H. Jones

Diese Chance nimmt Iders auch wahr, indem er Erec anfleht, sich seiner zu erbarmen (956f.), um Schonung bittet (959) und zuletzt behauptet, daß er Erec kein her^enleit angetan habe, das seine Tötung rechtfertigte, daher: du maht mich wol bi libe län (963). Das klingt eher nach Beanspruchung eines Rechts als nach Unterwerfung und Eingeständnis einer verdienten Niederlage, und von einer Bereitschaft, Sicherheit zu leisten, gibt es keine Spur. Mit diesem Standpunkt will sich Erec nicht zufriedengeben. Er betont die Widersprüchlichkeit von Iders' Haltung: Er bittet um Erbarmen, obwohl er sich erbarmungslos verhalten hätte, wenn er den Sieg über Erec errungen hätte; implizit darin enthalten ist die Feststellung, daß Iders kein Recht auf Schonung hat. Mit dem Hinweis darauf, daß Gott ihn vor der Gnadenlosigkeit Iders' bewahrt hat, während Iders' Hochmut (iuwer hochvart [980], iuwer übermuot [983]) seinen Fall verursacht hat, deutet Erec die Rechtmäßigkeit von Iders' Tod an. Auf Iders' Beteuerung, seine Feindseligkeit nie verdient zu haben, spricht Erec von der Schande, die er am vorigen Tag dulden mußte und die ihn ins Herz getroffen hat (990-994), von dem her^enleit also, das Iders ihm angetan hat und seinen Tod rechtfertigen würde. Der Druck, den Erec auf diese Weise auf Iders ausübt, erzielt die gewünschte Wirkung. Iders bereut es, wenn er Erec je Leid angetan habe; er sieht auch in seiner Niederlage die Strafe für ein solches Vergehen. Er wiederholt die Bitte um Schonung und verspricht Wiedergutmachung jedes Erec zugefügten Unrechts (1000-1009). Mit diesen Zeichen der Zerknirschtheit und der Untertänigkeit geschieht Erec Genüge. Er erbarmt sich und schenkt Iders das Leben, erinnert aber ein letztes Mal daran, daß dieser anders gehandelt hätte. Darauf leistet Iders endlich Sicherheit, er verspricht, Erecs Befehle auszuführen, wenn er ihn begnadigt (1014—1017). Jetzt ist der Kampf wirklich zu Ende. Erec geht auf die Ereignisse des vorigen Tages ein, die erklären, warum er den besiegten Iders so hart bedrängte, und er verlangt, daß Iders an den Artushof geht und sich in die Gewalt der beleidigten Königin ergibt. In den fast 70 Versen zwischen der physischen Niederlage Iders' und der Leistung seiner Sicherheit spielt sich Wichtiges ab. Dadurch, daß Erec ihn scheinbar mit dem Tode bedroht, zwingt er Iders, den Hochmut und die Brutalität abzulegen, die ihn schon in der ersten Szene des Werkes zum Außenseiter der höfischen Gesellschaft stempelten. Erec nutzt seine Überlegenheit im Kampf dazu, die Beilegung des Konflikts so lange hinauszuzögern, bis Iders, der trotz seiner Arroganz und Aggressivität nicht rettungslos verloren ist, zu einer moralischen Haltung findet, die ihn hoffähig macht. Die Wandlung, die er infolge seiner Niederlage durchmacht, ist an dem Kontrast zwischen seinem ersten Kontakt mit dem Artushof und seinem Auftreten auf der Burg zu Karadigan abzulesen, wo er sich demütig und reuevoll der Königin zu Füßen wirft und sich der schärfsten Selbstkritik unterzieht (1208-1252).

Schut^waffen

und

Höfischheit

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Im Gegensatz zu der fast juristischen Förmlichkeit, die der Abschlußphase des Iderkampfs anhaftet, lösen sich die Feindseligkeiten des ersten Kampfes zwischen Erec und Guivreiz in die fröhliche Stimmung einer neugefundenen Freundschaft auf. Daß diese Begegnung so glücklich enden wird, ist auf dem Höhepunkt des Kampfes, als Erec seinen Gegner niederschlägt, gar nicht vorauszusehen, denn es fehlt nicht viel, und Erec hätte Guivreiz getötet: Erec f i l de roi Lac / bäte nach misset an, / wan er wolde in erslagen hän (4439 41). Guivreiz wehrt den Todesstreich ab, indem er um Schonung bittet und sich sofort bereit erklärt, Erec seine Sicherheit zu geben und sein Vasall zu werden (4442-4450). Guivreiz ergibt sich, ohne über Erecs Abstammung Bescheid wissen zu wollen — darauf legt er besonderes Gewicht; Erecs kämpferische Überlegenheit ist für ihn Grund genug, ihm Sicherheit und Untertänigkeit anzubieten (4451—4459). Von Sicherheit und Unterwerfung will Erec aber in diesem Falle nichts wissen, er läßt Guivreiz ohne weiteres leben; nur den Namen seines Gegners will er erfahren. Das Motiv der Namensnennung und die damit verbundene Frage der möglichen Standesunterschiede zwischen den Kontrahenten spielten im Iderskampf keine Rolle, aber hier und vor allem später im Mabonagrinkampf sind sie von Bedeutung. Die Konvention verlangt, daß der Unterlegene sich zuerst nennt, womit er zugleich seine Niederlage eingesteht. Erecs Aufforderung, sich zu identifizieren, kommt Guivreiz bereitwillig nach (4474—4477), denn er bringt Erecs hervorragender kämpferischer Leistung uneingeschränkte Anerkennung entgegen. Erec war sich aber bewußt, daß er seinen Gegner damit vielleicht an einer empfindlichen Stelle treffen könnte, und er versucht, seine Aufforderung zu entschärfen, indem er Guivreiz dazu ermuntert, sich äne schämen (4470) zu nennen. 21 Damit unterstreicht er zugleich, daß es ihm nicht um den Nachweis seiner Überlegenheit geht. Guivreiz besteht darauf, daß ihm Erecs Abstammung und Stand gleichgültig sind - Erec wird in seinen Augen durch seine kämpferische Tüchtigkeit geadelt: so edelt dich din tugent so / da£ ich din bin herren vro (4458f.). Guivreiz handelt auch dementsprechend, aber ein kleiner Rest von Adelsbewußtsein regt sich noch in ihm: Als Erec sich und seinen Vater nennt, freut sich Guivreiz immerhin außerordentlich darüber, von einem Standesgenossen überwunden worden zu sein (4514—4556). Die Möglichkeit, daß es Schwierigkeiten mit der Namensnennung des Unterlegenen und mit dem womöglich unterschiedlichen Stand der Kontrahenten geben könnte, wird also im Ausgang dieses Kampfes angedeutet, aber es ergeben sich in der Tat keine Probleme in dieser Hinsicht. Daß dem so ist, ist vor allem darauf zurückzuführen, daß es ein Kampf im Zeichen der äventiure ist. Als Guivreiz Erec herausfordert, stellt er dem, der als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht, eine Steigerung des Ruhms in Aussicht: ir muget 21

Ähnlich auch V. 4753, wo Erec den Namen Keiis zu wissen verlangt.

Mariin H. Jones

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hie den pris bejagen / des ir wo!gelobet sit (4345f.); an einen K a m p f , in dem das Leben eines der Kontrahenten auf dem Spiel stehen könnte, ist gar nicht gedacht. 2 2 D a ß es trotzdem beinahe dazu kommt, liegt an Erecs fehlendem Verständnis für den Charakter der von Guivreiz beabsichtigten Begegnung, die eher einem spordichen Wettkampf gleicht als einem K a m p f auf Leben und Tod. Dieses Unverständnis ist als ein Symptom seines verligens zu betrachten, als ein Zeichen dafür, daß E r e c der Sinn für ritterliche Tätigkeit und das Verhältnis zu ritterlichen Werten verloren gegangen sind. 21 In Karnant, dem O r t , an dem er sich [...] verlac (2971), ging Erec nicht mit seinen Rittern turnieren, wollte sich nicht im K a m p f erproben und ertüchtigen; jetzt, als Guivreiz ihn zu einem K a m p f im Namen der äventiure herausfordert (4326—4342), will er gar nicht darauf eingehen, sucht vielmehr Ausreden, um ihn zu vermeiden, und macht dabei den Eindruck eines Feiglings (4348— 4367). E s ist Guivreiz als Verdienst anzurechnen, daß er sich durch Erecs Unwillen nicht beirren läßt, daß er nicht von seinem Vorhaben abzubringen ist, mit Erec einen K a m p f aufzunehmen, für den dieser offensichtlich geeignet ist (4326—4342). D e n n dadurch, daß er Erec zwingt, mit ihm zu kämpfen, hilft er ihm, den Sinn für ritterliche Tätigkeit und ritterliches Verhalten wiederzugewinnen. Aber bevor dieses Stadium erreicht wird, steht sein Leben auf dem Spiel. Erec hat sich so weit von den Prinzipien des ritterlichen Handelns entfernt, daß er sich, als er die Notwendigkeit des Kämpfens endlich einsieht, in Kampfeswut hineinsteigert und sich beinahe zur T ö t u n g seines Gegners hinreißen läßt (4439—4441). Von diesem Extrem des unritterlichen Verhaltens — die absichtliche T ö t u n g eines ritterlichen Gegners, der nur seine Kräfte mit ihm messen wollte 2 4 - wird Erec gerade noch zurückgeholt durch Guivreiz' sofortige Bereitschaft, allein deswegen Sicherheit zu leisten und sein Vasall zu werden, weil er Erecs überlegene Tapferkeit aner-

kennt: man da% dir diu ere / geschiht von dtner manheit, / ich wäre des todes e bereit / e es immer ergienge: / dehein edel dich vervienge ( 4 4 5 1 - 4 4 5 5 ) . Diese Anerkennung seiner kämpferischen Leistung ist Musik in den Ohren von Erec, der des verligens bezichtigt worden ist, und er handelt sofort im Geiste des äventiurt-suchenden Guivreiz, indem er ihn begnadigt und auf seine Sicherheit, seine Vasallendienste, kurzum auf jeden materiellen Gewinn aus seinem Sieg verzichtet. E r reicht Guivreiz die Hand zum Aufstehen und nimmt ihm den Helm ab, sie verbinden sich gegenseitig die Wunden, nehmen einander an

22

23

Es stellt sich etwas später heraus, daß es Guivreiz' Gewohnheit ist, besiegte Gegner als Gefangene heimzuführen (4595—4598). Wir erfahren nicht, was er mit diesen Gefangenen macht, wesentlich ist aber, daß er sie nicht tötet. Näheres zur Begründung dieser Interpretation des ersten Guivreizkampfs findet sich bei MARTIN H. JONES: Chrétien, Hartmann, and the Knight as Fighting Man: On Hartmann's Chivalric Adaptation of >Erec et Enide«. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Hrsg. von M A R T I N H . JONES u n d ROY W I S B E Y . C a m b r i d g e / L o n d o n

24

1 9 9 3 , S. 8 5 - 1 0 9 , bes. S.

101-109.

Die Tötung von Guivreiz unter diesen Umständen wäre der Tötung eines Gegners im Turnier vergleichbar.

Schut^wafftn

und

Höfischheit

85

was die Hand und setzen sich zum Gespräch auf das Gras nieder — vriuntltch genuoc (4491, vgl. 4484, 4509). Das sind alles Formen der Interaktion, in denen es nicht mehr um Sieg und Niederlage geht, sondern um gegenseitige Anerkennung und Ehrung, deren höchster Ausdruck die Freundschaft ist. In diesem Sinne geht es auch weiter. Umständlich und mit ausgesuchter Höflichkeit — er will seine Achtung vor Erecs manheit nicht im geringsten schmälern - bittet Guivreiz darum, Erecs Namen und Herkunft erfahren zu dürfen. Äußerst erfreut über die Auskunft, die Erec erteilt, ersucht Guivreiz ihn dann unter Berufung auf die triuwe, die sie jetzt bindet, ihm die Ehre zu erweisen, auf seine Burg mitzugehen und sich dort auszuruhen (4557—4569). Trotz seiner Abneigung gegen jede Unterbrechung seiner Fahrt geht Erec auf Guivreiz' Einladung ein, womit er ihn ehrt, während er gleichzeitig durch die Einladung von seinem Freund geehrt wird. 25 In der Darstellung des ersten Guivreizkampfs weicht Hartmann in vielem von seiner Vorlage ab.26 Nicht zuletzt ist seine neue Konzeption dieser Episode durch die besondere Qualität der menschlichen Beziehungen gekennzeichnet, die in der Abschlußphase der Begegnung zum Vorschein kommt. Die Freundschaft zwischen Erec und Guivreiz wird von Hartmann vertieft, und die Zeichen ihrer gegenseitigen Zuneigung sind bei ihm sehr viel ausführlicher und plastischer geschildert als bei Chrétien. Mit einem Feingefühl, das man bei Chrétien vermißt, weiß Erec sich in die Lage seines einstigen Gegners hineinzuversetzen und dessen Selbstachtung zu unterstützen. Das ist vor allem der Fall, als er seine Aufforderung zur Namensnennung mit der Versicherung verbindet, daß Guivreiz sich dabei nicht zu schämen braucht, und als er Guivreiz' Bitte, sein Gast zu sein, trotz seiner Rasdosigkeit nachkommt, wohingegen Chrétiens Erec die Einladung ablehnt und sofort weiterzieht (3883-3890). Identifizierung mit dem anderen ist bei Hartmann insofern ein zentrales Thema dieser Episode, als Erec sich auf die ritterliche Einstellung seines Gegners einstimmen und die Begegnung in seinem Sinne verstehen muß, aber Identifizierung vollzieht sich hier auch als Einfühlung in die Situation des Unterlegenen und als Berücksichtigung seiner Gefühle. Solche Fähigkeiten, die dem zwischenmenschlichen Bereich zugute kommen, sind auch in der zweiten Begegnung von Erec und Guivreiz zu beobachten. Der Kampf zwischen Freunden kommt zustande, weil sie sich bei ihrer nächtlichen Begegnung im Wald nicht rechtzeitig erkennen, und er endet beinahe mit dem Tod Erecs. Guivreiz sticht ihn im Lanzenkampf zu Boden und nimmt ihm den Helm ab, um ihn ohne weiteres zu erschlagen, aber Enite greift ein, und die Namen der Kampfgegner werden enthüllt: des beletp im dav^ leben (6987). Im weiteren Verlauf der Szene geht es nicht etwa 25

26

Vgl. die Interpretation dieser Szene bei H A R A L D H A F E R L A N D : Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 129-131. Dazu siehe J O N E S [Anm. 23], S. 101-109.

86

Martin H. Jones

darum, im Kampf bestimmten Rangunterschieden zwischen den Kontrahenten durch Sicherheit-Nehmen Ausdruck zu geben, sondern alleine darum, eventuelle Störungen im Verhältnis der Freunde ins Reine zu bringen und ihre Freundschaft zu bestätigen. Das fangt mit Guivreiz' Frage an, ob Erec verletzt sei. Erec versichert ihm, er habe keine neue Verletzung erlitten, und die Freunde zeigen ihre gemeinsame Freude, indem sie aufeinander zulaufen und sich küssen (69907002). Unvermeidbar stellt sich aber dann die Frage, wer die Verantwortung für das Unglück trägt. Guivreiz fühlt sich verantwortlich: Der Schaden, den er Erec in der Tjost zufügte, erfüllt ihn mit Kummer, und er beginnt darüber zu klagen: Guivrei% stuont mit rtuwen / umbe Breetzes ungemach, / der im von siner tjost gtschach (7003—7005). Selbstanklagen will Erec jedoch von seinem Freund nicht hören: Erec sprach: >des sult ir gedagen / und iuwer ahte län. / ir enhabet an mir niht missetäm (7007—7009). In den folgenden Versen bezichtigt sich Erec der tumpheit und der unmä^e, weil er allein auf fremder Straße den Kampf mit vielen Rittern aufgenommen habe und ihrer aller Ehre habe erstreiten wollen, und er behauptet, er sei durch seine Niederlage nicht hart genug dafür bestraft worden (7010-7023). Mit diesen Worten der Selbstkritik ist die Sache erledigt. Die Freunde sprechen nicht mehr darüber, Guivreiz wendet sich Enite zu, heißt sie willkommen und kümmert sich dann um ein Nachdager im Wald für sie alle. Erecs Selbstkritik, in der er Guivreiz von jeder Missetat freispricht und die Verantwortung für den Vorfall ganz auf sich nimmt, wird meistens als eine entscheidende Wendung auf seinem persönlichen Weg ausgelegt. Hier, so heißt es, kommt Erec zur Einsicht in seine bislang falsche Einstellung zum Rittertum, er macht einen radikalen inneren Wandel durch und verhält sich fortan völlig anders, indem er nicht mehr ehrgeizig um Ruhm kämpft, sondern sich bemüht, anderen zu dienen. Wie ich anderenorts zu zeigen versucht habe, lassen sich Erecs Worte der Selbstkritik anders auffassen.27 Anstatt sie einseitig als eine Reaktion auf Guivreiz' Kummer zu betrachten, in der Erec alleine für sich die Bilanz aus dieser Erfahrung zieht, kann man sie als Form der Interaktion mit Guivreiz verstehen, in der Erec die Verstörtheit seines Freundes zu beheben versucht, indem er die Verantwortung für den Zwischenfall auf sich überträgt und seiner angeblichen Torheit und Überheblichkeit zuschreibt. Daß Guivreiz in der Tat eher Grund hat, sich an dem Unglück schuldig zu fühlen, als Erec, weiter, daß Erecs Worte der Selbstkritik seine Motivation im Kampf mit Guivreiz nicht getreu wiedergeben, ja nicht einmal getreu wiedergeben wollen, läßt sich nur durch eine 2

' MARTIN H. JONES: Changing Tack or Showing Tact? - E r e c ' s Self-Criticism in the Second E n counter with Guivreiz in Hartmann von Aue's >Erecaufgesetzt< oder angehängt; auch ihr Erzählduktus hebt sich auffallig ab, da die ausgesprochen realistisch geschilderte Stadtbelagerung auf eine besonders phantastisch ausgemalte Aventiurewelt folgt. Der letzte Aspekt, der Bruch innerhalb der Erzählweise, ist vor allem von Werner Schröder kritisiert und mit dem Hinweis begründet worden, daß die ' Wirnt von Gravenberc Wigalois der Ritter mit dem Rade. Hrsg. von J . M. N. KAPTEYN. Erster Band: Text. Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde Bd. 9), V. 9799-11284.

Jutta

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Eming

Namurs-Episode sich in großen Passagen an Wolframs >Willehalm< anlehne, der auf den Chanson-de-Geste-Typus zurückgeht, während die vorausgehende Handlung sich an den Artusromanen Hartmanns und am >Parzival< orientiere.2 Der Artusroman klassischer Prägung, auf den SCHRÖDER Bezug nimmt, bildet auch in den Arbeiten den Vergleichsmaßstab, die den inhaldich-strukturellen Stellenwert der Episode untersuchen. So wird die Auffassung vertreten, daß im >Wigalois< ein defizient gewordenes Artuskönigtum mit der Namurs-Episode um eine mehr >realistische< Komponente ergänzt werde. Ihre Bedeutung für den Roman wurde dabei unterschiedlich gewichtet: Für J O A C H I M H E I N Z L E etwa wird in der Schlußpartie des Romans nur »jenseits des märchenhaft idealen Artushofes . . . ein anderer Daseinsbereich sichtbar«; 3 in der sozialgeschichdichen Perspektive G E R T K A I S E R S hingegen steht die Übernahme der Stadt Namurs schon im Zeichen einer neuen, landesherrlich geprägten Herrschaftsauffassung, deren »Etablierung und schließlich Ausübung . . . das offenbare Ziel der Handlung« ist.4 Wenn die Namurs-Episode nicht in Konkurrenz zum Modell des Artusromans gesehen wurde, hat man sie umgekehrt mit ihm harmonisiert: So rechnet CHRISTOPH CORMEAU, der die Besonderheit der Episode konzediert, sie dennoch zu den >typgerechten Strukturmerkmalen des ArtusromansWigalois< zu bestätigen, den zuletzt SCHRÖDER mit seinem Diktum vom >synkretistischen Roman* wiederholt hat: den der strukturellen und erzähltechnischen Heterogenität. Die Montage-Technik des >WigaloisWigaloisWigalois< zuletzt S C H I E W E R [Anm. 7 ] , 1 0 VOLKER M E R T E N S : gewisse lere. Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman. In: Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.—19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M . Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL. Gießen 1990, S. 85-106, hier S. 87. " HEINZLE [Anm. 3] prägte den in der >Wigalois«-Forschung ebenfalls verbreiteten Begriff der »statischen Idealität«. 12 Vgl. vor allem HEINZLE (Anm. 3 ] ; CORMEAU [Anm. 5 ) und INGEBORG HENDERSON: Selbstentfremdung im >Wigalois< Wirnts von Grafenberg. In: Colloquia Germanica 1 3 ( 1 9 8 0 ) , S. 3 5 — 4 6 . 13 Vgl. dazu neben den unter Anm. 11 genannten Arbeiten vor allem WOLFGANG M I T G A U : Nachahmung und Selbständigkeit Wirnts von Gravenberc in seinem >WigaloisWigalois< des Wirnt von Gravenberg. In: PBB 107 (1985), S. 218-239; N E I L T H O M A S : A German View of Camelot. Wirnt von Grafenberg's >Wigalois< and Arthurian Tradition. Bern u. a. 1987. — Eine gewisse Ausnahme bildet HENDERSON [Anm. 12], die von einem »Defizit im Charakter des Helden« ausgeht, das eine Korrektur erfahre, vgl. ebd. S. 43. 8

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Jutta Eming

Vor diesem Hintergrund stellen die Thesen H A U G S zum nachklassischen Artusroman einen wichtigen Neuansatz dar. H A U G versteht die Idealität des Helden nicht mehr als Ergebnis einer konzeptionellen Schwäche des Autors, sondern als notwendige Konsequenz aus einer Gattungsevolution im Artusroman, die durch den Wegfall der Krise und damit die Auflösung des Strukturmodells gekennzeichnet sei. Wenn die Krise eliminiert ist, was in H A U G S Sicht letzdich aus einer Krise des Strukturmodells selbst resultiert, dann bleibt ein vollkommener Held zurück. Dessen Eindimensionalität muß nun jedoch durch eine neue Spannung in der zunehmend phantastischer werdenden Aventiurewelt kompensiert werden. H A U G hat diesen Mechanismus in bezug auf den >Wigalois< zunächst so beschrieben, daß sich der »makellosen Vollkommenheit des Helden gegenüber . . . die aventiuren-^Nz\x. (verändert)«, und dies dann präzisiert als »merkwürdige Ambivalenz der Erscheinungen« in der die »Gegensätze von Gut und Böse . . . eigentümlich zu schillern« beginnen. 14 Mit H A U G S Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen des Strukturmodells ist ein komplexer Begründungszusammenhang für den Wegfall der Krise erstellt und eine differenzierte Sicht auf das Erzählen im >Wigalois< gewonnen. 15 Der Maßstab des klassischen Artusromans ist mit H A U G S Ansatz jedoch einmal mehr ins Recht gesetzt, und darin liegt deshalb ein besonderes Problem für die Interpretation des >WigaloisIdealität< des Helden festgehalten wird. Gerade diese These verstellt den Blick auf Probleme, die der Text aufwirft, und auf Bewältigungsstrategien, die er zu ihrer Lösung anbietet. An verschiedenen Stellen des Romans läßt sich das Verhalten des Helden nicht ohne weiteres als vorbildlich bezeichnen — zumindest ist zu fragen, vor dem Horizont welcher Normen und Wertvorstellungen es >ideal< genannt werden könnte. Ein auffallendes strukturelles Merkmal des Erzählens bildet in diesem Zusammenhang der Widerspruch von Aktion und Reflexion, der in der Handlungsweise des Protagonisten zur Geltung kommt. An der Namurs-Episode läßt sich dies besonders gut beobachten, doch auch an anderen Stellen des Romans wird dieser Widerspruch thematisch. Im folgenden soll versucht werden, ihn ausgehend von der Namurs-Episode an einigen Beispielen nachzuvollziehen und damit zu zeigen, daß hier ein Konfliktpotential des Textes auf struktureller Ebene greifbar wird. Die Figur des Widerspruchs von Aktion und Reflexion bildet eine kohärente Linie der Konfliktbewältigung im >WigaloisIdealität< des Helden erzählerisch kompensiert werden müsse, findet sich bereits bei H E I N Z L E [Anm. 3 ] und C O R M E A U [ A n m . 5 ] . Erst in H A U G S >Literaturtheorie< w i r d der Ausfall der Krise jedoch in einer umfassenden gattungsgeschichtlichen und -theoretischen Perspektive begründet. Vgl. dazu auch die Kritik an C O R M E A U in H A U G : Paradigmatische Poesie [Anm. 13], S. 211, A n m . 18. Keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Ansätzen von C O R M E A U und H A U G sieht G R U B M Ü L L E R [Anm. 1 3 ] , S . 2 2 7 .

Aktion und Reflexion

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Die Reaktion des Aggressors Lion auf seine Tat ist bei den bisherigen Untersuchungen der Episode nur selten in den Blick geraten. Gerade sie zeigt jedoch einige Auffälligkeiten: Lions Vergehen, den Ehemann einer Frau zu töten, die er begehrt, wirkt brutal und unrechtmäßig, auch wenn es mit einer jostiure (V. 9822) geschah. 16 Gerade weil er so brutal vorgeht, ist es dann jedoch um so auffälliger, daß er keine Bereitschaft zeigt, sich dafür einem Kampf zu stellen. Lion will nicht gegen Gwigalois kämpfen, und es fragt sich, was der Grund dafür ist. In der langen Replik, mit der er gegenüber dem Boten die Fehdeankündigung von Gwigalois zurückweist, wird deutlich, daß Feigheit als mögliches Motiv keine Rolle spielt. Lion betont die Entschlossenheit, mit der er sein Land verteidigen würde, und der spätere Kampf um Namurs zeichnet ihn als heldenhaften Gegner. Auch ein fehlendes Unrechtsbewußtsein scheidet als Ursache aus. Denn noch vor dem Eintreffen des Boten, noch bevor er also weiß, welche Konsequenzen sie für ihn hat, bereut Lion seine Tat und klagt sich wegen seiner Grausamkeit an: owe, hän ich getan! ich hän erslagen ir lieben man äne schulde mit miner hant. owe dir, untriuwen bant, wie mich din gir verleitet hat!

(V. 10040-10044)

Das Heiratsangebot, das er der trauernden Liamere macht, mag unangemessen sein, es stellt aber immerhin einen Versuch der Wiedergutmachung dar. In bezug auf Gwigalois jedoch scheint Lion zu keinem Eingeständnis von Schuld bereit, mehr noch, er münzt die Anklage gegen ihn selbst in einen Vorwurf an Gwigalois um. So begründet er gegenüber dem Boten seine Weigerung zu kämpfen mit dem merkwürdigen Argument, daß Gwigalois ihn nicht wie Roaz behandeln solle: da^ wei% ich wol und ist mir kunt / er den helt mit %ouber sluoc (V. 10168f.) und sich offensichdich nur auf seine Kosten ein weiteres Abenteuer verschaffen wolle: hie enist niht äventiure! die sol er suochen anderswä. sol ich ¡eben, ich tuon im schin da£ er min lant und mich verbirt. ich wil hie selbe wesen wirt. (V. 10182-10188)

Da dieser Vorwurf im Kontext isoliert dasteht, muß gefragt werden, welche Funktion er haben könnte, und entsprechend hat diese Stelle bereits zu Interpretationen Anlaß gegeben: So vertritt K A I S E R die Auffassung, daß hier »für einen Moment der landesherrliche Anspruch der Friedewahrung und 16

Der F i n d r u c k der Unrechtmäßigkeit entsteht allerdings aus einer Figurenperspektive, nämlich dem Botenbericht, V . 9816—9882, und w i r d unterstützt durch die dramatische Inszenierung des Botenauftritts. >Erzählt< w i r d der Vorfall selber nicht.

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Rechtserhaltung als Alibi für herrschaftliche Expansion entlarvt« werde, 1 sieht CORMEAU einen Versuch, »an Wigalois' Status zu rütteln«, 18 und SCHRÖDER meint zum Anlaß des Namurs-Konflikts, daß die »Verwandtschaft Liameres und Laries . . . eine ziemlich fadenscheinige Begründung für die . . . Kriegserklärung an Lion (ist).« 19 Aus Lions Einwand spricht tatsächlich Protest gegen einen Kampf, in dem er sich wohl nicht den Anflug einer Chance ausrechnen darf. Das Zentrale in seinem Vorwurf — wie schon in seiner früheren Selbstanklage - liegt jedoch in dem Moment der Reflexion, das kurz Eingang in den Text findet, um dann, durch den weiteren Verlauf der Handlung, gleich wieder eskamotiert zu werden. Denn wie der Bote auf Lions Replik treffend entgegnet: hie enwirt mit rede niht getan (V. 10193) Lions Protest wird nichts ausrichten. 20 Er muß schließlich in den Kampf einwilligen, und dieser nimmt dann den von ihm gefürchteten Verlauf. Für einen Augenblick allerdings werden Gwigalois' Motive in Frage gestellt, und auch die Tatsache, daß eine Unrechtsfigur den Einwand äußert, nimmt ihm nichts von seiner Berechtigung. 21 In Lions Sicht wird Gwigalois das Vergehen nicht einfach nur rächen, sondern als Vorwand für einen Beutezug großen Ausmaßes nutzen. Dadurch entsteht ein Mißverhältnis zwischen Schuld und Rache, zwischen der Ordnungsfunktion des Herrschers und einer skrupellosen Machtpolitik, auf das bisher, in der ständigen Betonung von Gwigalois' Vorbildlichkeit, zu wenig geachtet worden ist. In dem von Lion artikulierten Moment der Reflexion liegt ein Uberschuß im Text, der mit Gwigalois' vermeintlicher >Idealität< nicht mehr verrechnet werden kann. Ein Mißverhältnis entsteht, das sowohl ein Konfliktpotential des Textes sichtbar macht wie auch eine Bewältigungsstrategie des Protagonisten, denn der Reflexion wird von der Seite Gwigalois' nur Aktion entgegengesetzt. Dieses vermeintliche >LösungsmusterSire, fait il, este's, caele; / Dites a cele damoissele /Qu'ele mott bracet n'enport pas.< / Et eil Iiprie en es ¡espas: / >Doce amie, c'or Ii rendes.< »Der Jäger wurde ärgerlich und rief dem Ritter zu: >HerrI.iebe Freundin, gebt ihn doch zurück!Amoralität< des Vorgangs ein weiteres Mal mit der Stellung des Textes zum Artusroman, genauer mit einem Autoritätsverlust des Artushofes und seiner Werte. 27 Die Notwendigkeit, diesen Bezug herzustellen, besteht jedoch nicht, weil auch in diesem Punkt eine eigene Struktur des Textes erkennbar wird. Auch wenn nicht mit Sicherheit von einer direkten Bearbeitung des >Bel Inconnu< durch Wirnt von Grafenberg ausgegangen werden kann, 28 zeigt gerade der Vergleich mit dem französischen Roman, wie sehr im >Wigalois< das zeitweilig fragwürdige Verhalten des Helden noch unterstrichen ist, ohne daß dieses Verhalten jedoch irgendwo korrigiert würde. Im Gegenteil, der Erfolg seiner Kämpfe scheint Gwigalois zu bestätigen. Im Streit mit dem Hundebesitzer nimmt er sich heraus, einen Anspruch auch gegen berechtigte Einwände mit den Mitteln des Kampfes durchzusetzen und damit wie in anderen Konfliktsituationen auch Aktion an die Stelle von Reflexion treten zu lassen. Was mit den bisherigen Beispielen als Struktur der Handlung dargestellt wurde, läßt sich auf anderer Ebene auch als ambivalente Qualität der Figuren beschreiben. Dazu soll noch einmal auf H A U G rekurriert werden, der von der »Ambivalenz der Erscheinungen« im >Wigalois< gesprochen hat, vom »Schillern der Gegensätze von Gut und Böse«. 29 Es ist aufschlußreich, daß er diese Mehrdeutigkeit ausschließlich der Aventiurewelt zuschreibt, die er als Gegengewicht zum Konzept des >idealen< Protagonisten begreift. Sei26

KAISER [ A n m . 4 ] , S . 4 1 3 .

Vgl. ebd., S. 413f. 28 Vielen Interpreten scheinen immer noch die Quellenangaben V. 595-598 und V. 11686-11692, nach denen ein Knappe dem Verfasser die Geschichte von Gwigalois mündlich mitgeteilt hat, durchaus plausibel. Auch der Umstand, daß sich nur für die >Bewährungsaventiuren< eine Parallele finden läßt, wird als Argument gegen den >Bel lnconnu< oder eine andere schriftliche französische Vorlage angeführt. Vgl. dazu CORMEAU [Anm. 5], S. 68—105. Dagegen wurde schon früh auf die Ähnlichkeit der Texte z. T. bis in den Wortlaut hinein verwiesen, die eine mündliche Übermitdung unwahrscheinlich macht, vgl. ALBERT MENNUNG: Der Bel Inconnu des Renaut de Beaujeu in seinem Verhältnis zum Lybeaus Disconus, Carduino und Wigalois. Eine litterar-historische Studie. Halle 1890, S. 58—60, sowie die Angaben bei CORMEAU. — Die französische Forschung zum >Bel Inconnu< teilt die Bedenken gegen die Quellenzuweisung nicht: Dort gilt der >Wigalois< im allgemeinen als deutsche Bearbeitung des >Bel Inconnu< neben der englischen und italienischen. Vgl. dazu MADELEINE TYSSENS: Les sources de Renaut de Beaujeu. In: Mélanges de langue et de littérature du Moyen Age et de la Renaissance offerts à Jean Frappier. Bd. II. Genève 1970 (Publications romanes et françaises CXII), S. 1043-1055. M Vgl. oben S. 94. 27

100

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ner Auffassung nach kann mit der Eindimensionalität des Helden keine erzählerische Spannung erzeugt werden, diese m u ß nun von der Aventiurewelt ausgehen. Als Beispiele für das in neuer Weise Vielgestaltige, Mehrdeutige und Geheimnisvolle dieser Sphäre nennt H A U G die Figuren des Teufeisbündlers Roaz, dessen dämonische Ausstrahlung auch positiv besetzt ist, und seiner Frau Japhite, die nach Roaz' Tode vor Kummer stirbt. 30 Dabei spricht nicht schon g e g e n H A U G S Befund der Ambivalenz an sich, wohl aber gegen ihre einseitige Verweisung in die Aventiurewelt, daß sie auch an den >positivenWigalois< das Bild Gaweins wirkt. 3 1 Gawein ist einerseits Vorbild für den Sohn, andererseits eines Vergehens an einer Frau schuldig, offenbar einer Vergewaltigung, auf die in der Tugendsteinprobe angespielt wird. 3 2 Vollends jedoch durch die Reaktion auf die Nachricht v o m Tod seiner Frau Florie wird er als defizitäre Figur präsentiert; sein Entschluß, in Zukunft der Ritterschaft und der Ehe abzusagen, wirkt so, als ob er Schuld trage am Tod seiner Frau. 33 Der Unterschied zwischen Gawein und Gwigalois liegt aber dennoch nicht, wie man häufig gesagt hat, in einer größeren Tüchtigkeit, Ritterlichkeit oder Vorbildlichkeit des Sohnes. 34 Denn Gwigalois ist nicht weniger durch Ambivalenz gekennzeichnet als Gawein, sondern eher mehr. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Konsequenz, mit der Gwigalois sich über Probleme und Einwände, mit denen er konfrontiert wird, hinwegsetzt. Als »der perfekte arthurische Ritter« 35 kann er nur so lange erscheinen, w i e der Kontrast seines Verhaltens zu den im Text aufgeworfenen Konflikten übersehen wird. W i r d dieser Gegensatz hingegen näher betrachtet, stellt er sich dar als eine fast paradoxe Konstellation: Obwohl gerade an der Figur des Gwigalois Konflikte greifbar werden, bleiben sie andererseits gerade an ihr letztlich unbewältigt. Die Namurs-Episode ist in dem Sinne exemplarisch für diese Konstellation, als sie mit dem Herzog Lion nicht einfach einen primitiven Aggressor, sondern eine Figur präsentiert, die sowohl ihr eigenes Fehlverhalten als auch die Motive des Protagonisten reflektiert und sich g e g e n sein Verhalten zu Wehr setzt. Stärker als etwa Schaffilun, der seine Gedanken für sich behält, stellt Lion Gwigalois' rigoroses Vorgehen in einem Moment von Reflexion in Frage, der dann im Handlungsverlauf wieder untergeht. Die Singularität der Namurs-Episode z. B. unter dem Aspekt der Erzählweise bleibt damit 50

Vgl. HAUG: Literaturtheorie [Anm. 6], S. 255.

31

V g l . MITGAU [ A n m . 13], S . 3 3 5 f . ; KAISER [ A n m . 4], S . 4 1 4 . A n d e r s d a g e g e n THOMAS [ A n m .

Vgl. V . 1506-1517. 33 Vgl. V . 11379-11391. 32

34

V g l . e t w a GRUBMÜLLER [ A n m . 1 3 ] , S . 2 3 3 .

15

HAUG: Literaturtheorie [Anm. 6], S. 254.

13].

Aktion und

Reflexion

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zwar bestehen. Mit der Form ihrer Konfliktbewältigung steht sie jedoch im Zusammenhang mit einer kohärenten Struktur im gesamten Roman, der gemäß Gwigalois Aktion an die Stelle von Reflexion setzt. Wie läßt sich dieser Befund nun mit Gwigalois' vermeindicher >Idealität< vermitteln? In H A U G S Sicht bedeutet die Idealität des Helden eine erzählerische Vorgabe, die mit der Ambivalenz der Aventiurewelt kompensiert werden muß; nach dem hier Gesagten erscheint die >Idealität< nicht mehr als Voraussetzung für Ambivalenz, sondern, im Gegenteil, als ihr Resultat, d. h. die >Idealität< ist als Versuch anzusehen, die Ambivalenz zu bewältigen. Doch ist dieser Begriff in bezug auf den Protagonisten des >Wigalois< mißverständlich. Gwigalois' Verhalten muß im Kontext der im Roman auftretenden Konflikte und der in ihm vertretenen Wertvorstellungen beurteilt werden, und dann läßt es sich nicht >ideal< nennen und vorbildlich nur dann, wenn Vorbildlichkeit eine bestimmte Strategie im Umgang mit Konflikten meint. Es sollte gezeigt werden, daß die Erzählwelt des >Wigalois< komplexer-ist, als es zunächst den Anschein hat, und Aktion, also ein Kampf, in den Episoden mit Lion, Schaffilun oder der Botin nicht von vornherein als einzig mögliche Form der Auseinandersetzung erscheint; gerade die Unmittelbarkeit des Kampfes wird je anders problematisiert und Reflexion als Alternative vorgestellt. Im Ergebnis führt die Reflexion jedoch ins Leere, was heißen könnte, daß sie sich in diesem Text letztlich als Desorientierung darstellt und doch nicht als wirklich neue Möglichkeit der Konfliktlösung gedacht werden kann. Exemplarisch an Gwigalois wäre dann seine Fähigkeit, komplizierte Situationen - wie die mit Lion — nicht zu überdenken, sondern zu klaren >Lösungen< zu bringen, einmal gefaßte Pläne nicht zu revidieren und ein einmal gestecktes Ziel nicht aufzugeben, und vor allem: jedem Konflikt mit dem einen Mittel - dem Kampf — zu begegnen.

Zur Kriegsdarstellung in Herborts von Fritzlar >Liet von Troye< von REINHARD HAHN

(JENA)

O b w o h l der H o f der L a n d g r a f e n v o n T h ü r i n g e n sich unter L u d w i g III. und Hermann I. » z u m bedeutendsten Mittelpunkt der Rezeption französischer Dichtung«, 1 wenn nicht zum wichtigsten Zentrum der höfischen Literatur überhaupt entwickelte, 2 vermochte Herbort v o n Fritzlar, der daran einen wie immer zu bemessenden Anteil hatte, die Literarhistoriker nicht sonderlich zu interessieren. 3 A u s der naheliegenden Annahme, er habe mit dem >Liet v o n Troye< 4 ex post die Vorgeschichte zum Eneasroman liefern sollen, ergab sich allzuleicht das Verdikt der Epigonalität; seine Selbstcharakteristik als jüngere (30) und gelarter schalere (18451) beförderte zudem den Eindruck, daß es dem Veldeke-Nachfolger 5 nicht nur an der K u n s t seines Vorbilds, sondern auch an Kenntnis ritterlich-höfischen Lebens und nicht zuletzt an persönlicher Reife gemangelt habe. Für E H R I S M A N N war er »ein Nachschaffer«, 6 für D E B O O R ein »im G r u n d e hausbackener Gelehrter« ohne »innere Beziehung zum Rittertum und seiner Wertwelt«; 7 ein Dichter, zu dessen »künstlerischer Unzulänglichkeit« 8 sich überdies, so VOGT, ein »jugendlicher 'JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986 (dtv 442). Bd. 1, S. 122. 2 Vgl. JOACHIM BUMKE: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300. München 1979, S. 159. ' V g l . HANS-HUGO STEINHOFF: Herbort von Fritzlar. 2 V L 3, 1981, Sp. 1027-1031. Biographischen Aufschluß gewähren neben dem Prolog v. a. die Epilogverse 18450f. Fraglich ist, ob Herbort dem Chorherrenstift St. Peter in Fritzlar angehörte oder dem Thüringer Hofklerus, vgl. auch Anm. 19; zur Zuschreibung des mitteldeutschen >Pilatus< vgl. JOACHIM KNAPE: >PilatusVers-Pilatus