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German Pages 430 Year 2019
Martina Fischer Spaniens ungeliebtes Militär
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kúúklHistoria y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/Lmgüísíica Serie C: Geschichte und Gesellschaft///i'ííona y Sociedad Serie D: Bibliographien/Bibliografías Herausgegeben von/Editado por: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann
C: Geschichte und Gesellschaft/íforona y Sociedad, 1
Martina Fischer
Spaniens ungeliebtes Militär Legitimitätsdefizite: Öffentliche Meinung, Protestbewegungen und die Reaktionen des Militärapparats (1982-1992)
Vervuert Verlag
• Frankfurt am Main
1996
Gefördert von der Volkswagen-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / D] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie C, Geschichte und Gesellschaft = Historia y sociedad. Frankfurt am Main : Vervuert. Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 Reihe Editionen, Serie C zu: Iberoamericana NE: Iberoamericana / Ediciones / C; Editionen der Iberoamericana; Ediciones de Iberoamericana; HST
1. Fischer, Martina: Spaniens ungeliebtes Militär. - 1996 Fischer, Martina : Spaniens ungeliebtes Militär : Legitimitätsdefizite: öffentliche Meinung, Protestbewegungen und die Reaktionen des Militärapparats (1982-1992) / Martina Fischer.- Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Editionen der Iberoamericana : Serie C, Geschichte und Gesellschaft; 1) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1994 ISBN 3-89354-857-2
© Vervuert Verlag, Frankfurt / Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Printed in Germany: Prisma Druck, Frankfurt
Inhaltsverzeichnis VOnW)rt
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XO
1.
Einleitung: Militär und Gesellschaft in Spanien unter den Bedingungen von Bündnisintegration, Armeemodernisierung und Demokratisierung ................................................12
2.
Theoretische Überlegungen zur Legitimitätsproblematik von Militär und Sicherheitspolitik.—...—.... .... ........
2.1.
Zum Begriff der Legitimität und Legitimation in der sozialwissenschaftlichen Diskussion
2.2. 2.2.1.
Das Legitimitätskonzept in der Militärsoziologie 26 Die Feststellung des Legitimitätsbedarfs von Militär und Sicherheitspolitik als Reaktion auf den Militarismusvorwurf 26 Die These von der Legitimitätskrise des Militärischen 32 Probleme der militärsoziologischen Verwendung des Legitimitätskonzepts 48
2.2.2. 2.2.3. 2.3.
24
24
Die Bedeutung von Legitimation bei der Zueignung und Aneignung von Ressourcen für und durch das Militär: Rüstung und Rekrutierung als Herrschaftsakt
52
2.4.
Die Sicherung der symbolischen Sinnwelt des Militärischen - eine Herausforderung für Staat und Armee
.....57
2.5.
Zusammenfassung und Arbeitshypothesen
64
3.
Das Legitimitätsdefizit in Spanien und seine Erklärungen.....
3.1. 3.1.1.
Darstellung der Erscheinungsformen und Ausprägungen Einstellungen der spanischen Bevölkerung gegenüber dem Militärischen Einstellungen gegenüber dem politischen System und seinen Institutionen: Geringes Vertrauen in die politischen Akteure und das Desinteresse an Sicherheitsolitik
3.1.1.1.
E>ie Einstellungen zur Sicherheitspolitik: Der Dissens 3.1.1.3. 3.1.1.4. 3.1.1.5.
über die militärische Westintegration und den Einsatz der Armee jenseits der Landesgrenzen Der Wunsch nach Eindämmung von Rüstungs-dynamik Mißtrauen gegenüber der Institution Militär und ihren Angehörigen Die Delegitimierung der allgemeinen Wehrpflicht
69
69 73
74
78 98 101 104 5
3.1.1.6. 3.1.1.7. 3.1.2. 3.1.2.1. 3.1.2.2. 3.1.2.3. 3.1.2.4. 3.2.
Einstellungen von 15-30jährigen: Orientierung an militärfernen Werten Zusammenfassung Das Protest- und Verweigerungsverhalten gegenüber dem Militärischen Aktivitäten der Friedensbewegung: Von der AntiNATO-Kampagne zur Kritik an der Wehrpflicht Kriegsdienstverweigerung und Totalverweigererbewegung als Quelle von Rekrutierungsproblemen Kommunaler Widerstand: Gemeinden verweigern dem Militär Ressourcen Zusammenfassung
107 118 121 123 149 166 177
Spanische Besonderheiten des Legitimitätsdefizits und ihre Erklärungen Spezifika des Legitimitätsdefizits: Die begrenzte Relevanz von Atomkriegsängsten und Wertewandel Historische Determinanten "Isolierung", Neutralität und Widerstände gegen Kriegseinsätze seit dem 19. Jahrhundert Die Belastung der spanisch-amerikanischen Beziehungen Spannungen zwischen Zentralstaat und Regionen Die Belastung des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft durch rranquistische Repression und demokratiefeindliche Aktivitäten von Armeeangehörigen Die Kontinuität der Repression im Militärdienst
198 203
Zusammenfassung und Fazit: Das Legitimitätsdefizit als Quelle von Rekrutierungsproblemen und Ausgabenkürzungen
207
4.
Die Reaktionen des Militärs auf das Legitimitätsdefizit
214
4.1. 4.1.1.
Darstellung der Reaktionen Äußerungen von Militärangehörigen zum gesellschaftlichen Akzeptanzdefizit, Protest- und Verweigerungsverhalten Das Metabild vom ungeliebten Militär als Quelle von Motivationsproblemen Das negative Bild von der Gesellschaft: Schuldzuweisungen an Massenmedien, KDV- und Friedensbewegung, die Wertekrise der Moderne und die 'Transición" Vorschläge zur Steigerung der Akzeptanz des Militärischen und zur Bewältigung von Rekrutierungsproblemen Zusammenfassung
215
3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.2.4. 3.2.2.5. 3.3.
4.1.1.1. 4.1.1.2. 4.1.1.3. 4.1.1.4. 6
179 179 185 185 190 192
221 221 230 244 253
4.1.2. 4.1.2.1. 4.1.2.2. 4.1.2.3. 4.1.2.4. 4.1.2.5. 4.1.2.6. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.2.1. 4.2.2.2. 4.2.2.3. 4.3.
Militärische Selbstbilder und Missionen im Widerstreit zwischen rückwärtsgewandten Orientierungen und neuen Anforderungen Das Militär als Retter der Gesellschaft, Schule der Nation und Garant der Einheit Spaniens Die Armee als letzte Bastion von Ritterlichkeit und Mannhaftigkeit im Dienst höherer Werte "Vocación" und "profesión": Zwei widerstreitende Konzeptionen militärischen Selbstverständnisses Sinnstiftung durch Bündniskooperation und Abschreckung in der Ost-West-Konfrontation vs. Ausrichtung auf Nordafrika Legitimation durch weltweite Einsatzfelder, Risiken und Instabilitäten Zusammenfassung Spanische Besonderheiten der Reaktionen und ihre Erklärungen Ungleichzeitige Entwicklungsprozesse zwischen Militär und Gesellschaft und innerhalb der Armee Historische und politische Determinanten Ideologische und soziale Isolierung des Militärs Die unterschiedliche Entwicklung der Teilstreitkräfte und die Herausbildung verschiedener Strömungen Widersprüche des militärischen Reform- und Modernisierungsprozesses Zusammenfassung und Fazit: Die Ungleichzeitigkeit symbolischer Sinnwelten und Tendenzen zur Vergrößerung der Kluft zwischen Militär und Gesellschaft
255 255 261 276 286 296 303
305 305 308 308 314 318
321
5.
Die Bearbeitung der Legitimitätsprobleme durch das Verteidigungsministerium ................................................................327
5.1. 5.1.1.
PR-Aktivitäten des Ministeriums Etablierung zivil-militärischer Foren der Begegnung und Aufbau der Öffentlichkeitsarbeit "Revista Española de Defensa": Eine Publikation zur Imageförderung der Armee, zur Darstellung von Sicherheitspolitik und zur Erziehung des Militärs
5.1.2.
5.2. 5.2.1.
Die Professionalisierung der Armee als Mittel zur Steigerung der Attraktivität für Rekruten Militärpolitische Maßnahmen: Beseitigung von Mißständen, Anreize für Wehrpflichtige und Freiwillige und die Öffnung der Armee für Frauen
329 329 332 335 336 7
5.2.2.
5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.2.1. 5.3.2.2.
5.4.
Die Rekrutenwerbung: Präsentation der Armee als Ausbildungs- und Arbeitsplatz, Karrieremöglichkeit für Frauen und als Abenteuer
341
Neue militärische Einsatzfelder und Legitimationsmuster Aufgaben im Inneren: Die Armee als Polizeireserve, Katastrophenhelfer, Umweltschützer und Avantgarde des technologischen Fortschritts Der Einsatz auf internationalen Schauplätzen Das Militär im weltweiten Einsatz für Abrüstung, Frieden und Menschenrechte Die Unsicherheiten der neuen Weltlage und Wohlstandssicherung als Begründung für den Aufbau von Interventionskapazitäten
355
Zusammenfassung und Fazit: Professionalisierung und Konfliktszenarien der Nord-Süd-Beziehungen - ein Relegitimierungskonzept mit beschränkter Wirkung
363
345 345 351 351
6.
Zusammenfassung und Ausblick ....................................................366
6.1.
Zusammenfassende Bewertung vor dem Hintergrund der Arbeitshypothesen
366
6.2.
Erfolgsaussichten der Relegitimierungsstrategien: Die irreversible Delegitimierung der allgemeinen Wehrpflicht
374
Militarisierungsgefahren und friedenspolitische Perspektiven
376
6.3.
Abkürzungsverzeichnis........
....
..........
Anhang Anhang 1-7: Anhang 8-9: Anhang 10: Anhang 11: Anhang 12: 8
.380 382
Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung Wertprioritäten im internationalen Vergleich Chronologie der Putschversuche im nachfranquistischen Spanien Indirekten Interventionsversuche und Disziplinverstöße (Chronologie der wichtigsten Ereignisse) Die militärischen Reform- und Umstrukturierungsmaßnahmen der PSOE-Regierung
382 382 387 389 396
Quellen und Literatur.....................
..................................................399
I.
Quellenverzeichnis.......—.................................—..........................399
1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3.
Quellen zum Legitimitätsdefizit (Kapitel 3) Umfragen des "Centro de Investigaciones Sociológicas" Weitere Umfragen Zeitschriften und Rundbriefe friedenspolitisch aktiver Gruppen und Organisationen Publikationen von Friedensforschungszentren Presse Parlamentaria Friedenspolitische Positionspapiere und Debattenbeiträge
399 399 399
1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.2.5.
Quellen zu den Reaktionen des Militärs (Kapitel 4) Zeitschriften von Einrichtungen der Armee Periodika des Verteidigungsministeriums Sonstige Militärzeitschriften Meinungsumfragen unter Militärangehörigen Publizistische Äußerungen von Militärangehörigen: Dokumente A 1 - A 199
401 401 401 402 402
1.3.
Quellen zu den Bearbeitungsversuchen des Verteidigungsministeriums (Kapitel 5) Publikationen des Verteidigungsministeriums Dokumentation des sicherheitspolitischen Diskurses: Dokumente B 1 - B 29
1.1.4. 1.1.5. 1.1.6. 1.1.7.
1.3.1. 1.3.2.
400 400 401 401 401
402 409 409 409
II. Literaturverzeichnis......................................................................................410
9
Vorwort Bei der Beschäftigung mit Fragen der internationalen Beziehungen habe ich immer wieder festgestellt, daß sie sich erst durch eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren sinnvoll beurteilen ließen. Auch der Prozeß der Integration Spaniens in die NATO wurde durch eine Betrachtung der innenpolitischen Determinanten besser verständlich. Diesen widmete ich mich 1987 in einer Diplomarbeit am Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin. Zur Beschäftigung mit Legitimitätsproblemen von Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik in Spanien wurde ich durch verschiedene Forschungsaufenthalte in Madrid angeregt. Eine von Prof. Dr. Ignacio Sotelo geleitete Seminarexkursion bot mir 1986 erstmals Gelegenheit, die mit der Bündnisintegration, Armeemodernisierung und Demokratisierung verbundenen Probleme vor Ort mit Wissenschaftlerinnen, politischen Entscheidungsträgern und Offizieren zu erörtern. Es vermittelte sich der Eindruck einer starken gesellschaftlichen und politischen Polarisierung in der Frage der militärischen Westintegration. Die Kontakte, die mir diese Reise erschlossen hatte, vertieften sich im Zuge meiner Arbeit in der Forschungsgruppe "Westeuropäisierung von Sicherheitspolitik". In diesem von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprojekt, das im Berliner Berghofinstitut für Friedens- und Konfliktforschung unter Leitung von Prof. Dr. Ulrich Albrecht durchgeführt wurde, untersuchte ich die Rüstungs- und Technologiepolitik in Spanien. Meine Aufenthalte in den Madrider Partnerinstituten in den Jahren 1989, 1990 und 1991 standen alle unter dem Eindruck intensiver öffentlicher Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Sicherheitsund Militärpolitik. Im Vorfeld der Parlamentswahlen 1989 beschäftigte die Frage des Rekrutierungssystems die Öffentlichkeit. 1990/91 entbrannten um die Entsendung spanischer Marineeinheiten in den Persischen Golf und um die Unterstützung des Kriegs der Alliierten gegen den Irak unter Intellektuellen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens heftige Kontroversen, die in ihrer Intensität beeindruckten. Diese politischen Auseinandersetzungen und mein Interesse an der Erforschung der Bedingungen für eine friedliche Gestaltung innergesellschaftlicher und internationaler Beziehungen veranlaßten mich schließlich dazu, die Entwicklung der öffentlichen Meinung und des Protest- und Verweigerungsverhaltens gegenüber dem Militärischen in Spanien genauer zu untersuchen und mit den Reaktionen des Militärs und des Verteidigungsministeriums in Beziehung zu setzen.
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Mit dieser Studie möchte ich zum Verständnis des gespannten Verhältnisses zwischen Militär und Gesellschaft in Spanien beitragen. Sie liefert zudem einen Beitrag zur allgemeinen, in den vergangenen Jahrzehnten unter Sozialwissenschaftlerlnnen geführten Diskussion um die Legitimitätsprobleme von Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik und ihre friedenspolitischen Implikationen. Ich möchte allen Institutionen, Kolleginnen und Freundinnen danken, die mich bei der Realisierung unterstützt haben. Prof. Dr. Ulrich Albrecht und Prof. Dr. Ignacio Sotelo danke ich für ihre inhaltlichen Anregungen und die Vermittlung von wissenschaftlichen Kontakten. Die Stiftung Volkswagenwerk ermöglichte mir wichtige Forschungsaufenthalte in Spanien. Die Freie Universität Berlin förderte die Studie mit einem Abschlußstipendium. Weitere Förderung verdanke ich dem "Verein zur Förderung gesellschaftskritischer Sozialwissenschaft e.V.". Besonders zu Dank verpflichtet bin ich den Madrider Partnerinstituten, dem "Instituto de Estudios Sociales Avanzados" des "Consejo Superior de Investigaciones Científicas" (IESA/ CSIC) und dem "Centro de Investigación para la Paz" (CIP). Im IESA wurde ich von Prof. Dr. Salvador Giner und Dr. Luis Moreno kollegial aufgenommen. Sowohl Valentina Fernández Vargas als auch Jesús Martínez Paricio und seiner im IESA angesiedelten militärsoziologischen Forschungsgruppe verdanke ich zahlreiche Hilfestellungen. Die Mitarbeiterinnen des CIP haben mich ausdauernd bei meinen Recherchen unterstützt. Ich danke besonders Mariano Aguirre und Viceng Fisas für die anregenden Gespräche. Für aufschlußreiche Diskussionen, die mir halfen, das Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft in Spanien zu verstehen, danke ich darüber hinaus Dr. Carlos Bruquetas sowie Nane Callejo und Familie, Dr. Carlos Eymar, Dr. Fernando Rodrigo, Dr. Arcadi Oliveres, Dr. Rafael Grasa, Jesús Ma. Alemany und Dieter Koniecki. Dank gebührt auch all denen, die mir Spanien nahebrachten oder mithalfen, mir die dortige sicherheits- und friedenspolitische Szene zu erschliessen. Dazu gehören Familie Dr. Teresa Rodríguez de Lecea und Dr. Manuel Ribera, Josefa Ramírez und Familie sowie Antje Bauer. Schließlich danke ich all den hiesigen Freundinnen und Kolleginnen für ihre fachliche und moralische Unterstützung: Dr. Barbara Munske, Dr. Hanne Birckenbach, Dr. Ulrike Borchardt, Inge Kramarz, Dr. Regine Mehl, Dr. Christiane Rix, Volker Böge, Dr. Christian Wellmann, und Christian Nölke. Alle Zitate aus fremdsprachigen Quellen wurden von mir übersetzt.
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1. Einleitung: Militär und Gesellschaft in Spanien unter den Bedingungen von Bündnisintegration, Armeemodernisierung und Demokratisierung In zahlreichen westlichen Industriegesellschaften wurden Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahren mit erheblichen Akzeptanzproblemen konfrontiert. In einigen westeuropäischen NATO-Mitgliedstaaten, insbesondere in der Bundesrepublik, den Niederlanden und Großbritannien, riefen der NATO-Doppelbeschluß und die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen während der achtziger Jahre Protest- und Verweigerungsverhalten sowie gesellschaftlichen Dissens hervor. In der neutralen Schweiz stimmten 1989 35% der Bürgerinnen in einer Volksabstimmung für die Abschaffung der Armee. Die internationale Militärsoziologie, die Friedenswissenschaften, Analysen zur "politischen Kultur" und die Forschung über soziale Bewegungen haben sich in den vergangenen Jahren bezogen auf die USA und Westeuropa ausgiebig mit Akzeptanzproblemen von Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik beschäftigt (siehe Abschnitt 2.2.2.). Die einschlägigen Forschungsarbeiten konzentrieren sich aber weitgehend auf die vom NATODoppelbeschluß betroffenen NATO-Mitgliedstaaten. Den südeuropäischen "Randstaaten" wurde weitaus weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht. 1 Das NATO-Neumitglied Spanien wurde so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Spanien liefert für die Diskussion um die Legitimitätsprobleme des Militärischen - wie in dieser Studie aufgezeigt wird - in mehrfacher Hinsicht interessante Anhaltspunkte. Es lassen sich Konflikte beobachten, die für die westlichen Industriegesellschaften2 insgesamt typisch sind. Außerdem 1
Das gilt für die Arbeiten bundesdeutscher Provenienz: Vgl. etwa die in Janning u. a. (1987) und in Steinweg (1982) enthaltenen Beiträge. Vgl. auch v. Bredow/Brocke (1987). Von den südeuropäischen Ländern findet allenfalls Italien hin und wieder Erwähnung. Auch Arbeiten aus dem angelsächsischen Bereich sind von dieser Schwerpunktsetzung geprägt. Vgl. z. B. die in Dougherty/Pfaltzgraff (1985) enthaltenen Beiträge. Vgl. auch Inglehart (1984).
2
Wenn von westlichen Industriegesellschaften die Rede ist, so sind damit diejenigen der 25 OECD-Mitgliedstaaten gemeint. Spanien gehörte im Bearbeitungszeitraum weiterhin zu den Industrieländern mit einem relativ hohen Anteil (15% 1987) an Beschäftigten im Primärsektor (EG-Durchschnitt: 8%). Der Beitrag dieses Sektors zum BIP betrug 1985 6% (EG-Durchschnittswert 3,7%, z. B. BRD 2%, Frankreich 4%, Irland 10,7%, Portugal 9%, Griechenland 17%). Obgleich dieser Sektor in einigen Regionen weiterhin die dominierende Stellung einnahm, hat sein Anteil an der Beschäftigung, am BIP und an der Ausfuhr seit den sechziger Jahren einen deutlichen Bedeutungsrückgang erfahren. Der Anteil des Industriesektors am BIP betrug 1985 33% (BRD 40%), an der Beschäftigung 324% (BRD 39%). 1992 bildeten Industrieprodukte fast 80% der Ausfuhr. Der Export von Rohstoffen hatte sich im Zeitraum 1970-1992 um 20% verringert, während der Anteil von Produkten aus dem Maschinenbau sich um 20% erhöht hatte. Im Dienstleistungssektor waren 1986 gut 50% der Erwerbstätigen beschäftigt und sein Anteil am BIP war auf 60% angestiegen. Vgl. ausführlich Nohlen/Hildenbrand (1992), S. 29, 33,59, 74. Vgl. auch Weltentwicklungsbericht der Weltbank (1995), S. 229 u. S. 249.
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lassen sich Probleme von Gesellschaften nachvollziehen, die eine Phase des Übergangs von einer Diktatur zu einer Demokratie durchlaufen. Das Verhältnis von Militär, Staat und Gesellschaft in Spanien ist traditionell spannungsreich und unterscheidet sich in seiner Entwicklung in mancher Hinsicht von den zivil-militärischen Beziehungen in den übrigen NATO-Mitgliedstaaten. So weist Spaniens Vergangenheit eine außergewöhnlich ausgeprägte Putschtradition auf. Auch der spanische Bürgerkrieg und die nachfolgende, bis 1975 währende Franco-Diktatur gingen aus einem Militärputsch hervor. Zuletzt versuchte am 23. Februar 1981 eine Minderheit rückwärtsgewandter Offiziere, die Demokratisierung des Landes aufzuhalten. Noch bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein gab es Putschvorbereitungen und Versuche von militärischen Befehlshabern, unliebsame Initiativen zur politischen und gesellschaftlichen Demokratisierung durch indirekte Einflußnahme zu bremsen. In bezug auf das Verhältnis von Militär und Gesellschaft trug Spanien also noch bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein typische Züge einer Übergangsgesellschaft. Zwar wird die Transición" von den meisten Zeitgeschichtlerlnnen mit dem sozialistischen Regierungsantritt 1982 als beendet angesehen, aber die Demokratie konsolidierte sich erst in den darauffolgenden vier Jahren. In ihrer ersten Legislaturperiode konnte die PSOE-Regierung die formale Unterordnung der Armee unter demokratische Entscheidungsverfahren und die Aufhebung der weitreichenden Autonomie dieser Institution durchsetzen.3 Mit zunehmender Demokratisierung und mit der Integration des Landes in die genannten Bündnisstrukturen traten in Spanien, ähnlich wie in anderen OECD-Gesellschaften, Akzeptanzprobleme in der öffentlichen Mei3
Von der zeitgeschichtlichen Forschung wurden zur Periodisierung der "Transición" unterschiedliche Zeitspannen in die Diskussion gebracht. Verschiedentlich wird darunter der Zeitraum zwischen Francos Tod 1975 und des Inkrafttretens der Verfassung 1978 verstanden. Manche Autoren wiederum sehen den Übergang zur Demokratie mit dem Antritt der ersten demokratisch gewählten Regierung der "Unión de Centro Democrático" (UCD) vollendet. Die gebräuchlichste Einteilung bezeichnet als "Transición" den Zeitraum von 1975 bis zum Antritt der PSOE-Regierung 1982 und gründet sich auf die Einschätzung, daß erst die Regierungsübernahme durch eine Partei, die das Lager der Verlierer des Bürgerkriegs und der Verfolgten des Franco-Regimes repräsentiert, die Voraussetzung für die Errichtung einer demokratischen Gesellschaftsordnung erfüllt. Diese Einteilung trägt außerdem dem Umstand Rechnung, daß der Übergang von einer Diktatur zur Demokratie sich nicht automatisch mit dem Zeitpunkt der Etablierung demokratischer Institutionen, sondern erst allmählich vollzieht. Busquets (1989), S. 24f, beschreibt als Charakteristikum der spanischen Transición", daß sich unter den UCD-Regierungen kein "demokratischer Bruch", sondern ein "paktierter Bruch* vollzogen habe. Die Verabschiedung der Verfassung habe zwar einen Bruch im juristisch-politischen Sinne dargestellt, aber in soziologischer Hinsicht, bezogen auf die gesellschaftlichen und politischen Institutionen, sei diese Zeit von Kontinuität geprägt gewesen: Dieselben Beamten, militärischen Befehlshaber und dieselbe politische Klasse habe die Macht im Staate innegehabt. Für eine Terminierung des Endes der "Transición" auf den Antritt der PSOE-Regierung spricht nach Busquets (1990), S. 1, jedoch die Tatsache, daß danach kein Putschversuch mehr zur Ausführung gelangte.
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nung4 sowie Protest- und Verweigerungsverhalten gegenüber Militär, Rüstung und militärischer Sicherheitspolitik offen zutage. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre hatte die Integration in das Nordatlantische Bündnis zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt. Ende der achtziger Jahre setzte eine öffentliche Diskussion um das Rekrutierungssystem der Streitkräfte ein. Die Oppositionsparteien überboten sich im Vorfeld der Parlamentswahlen 1989 gegenseitig mit Vorschlägen zur Abschaffung oder extremen Verkürzung des Militärdienstes, weil sie sich davon Stimmengewinne erhofften. Repräsentanten des Militärs und des Verteidigungsministeriums äußerten in den vergangenen Jahren immer wieder Klagen über die Vorenthaltung gesellschaftlicher Unterstützung für Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik. Es wurde ein "Mangel an nationalem Verteidigungsbewußtsein" in der spanischen Gesellschaft konstatiert und mit einem "Mangel an Bedrohungen" in Verbindung gebracht. In der Wahrnehmung militär- und sicherheitspolitischer Experten trugen die Akzeptanzprobleme des Militärischen offenkundig die Züge einer "Krise". Darüber hinaus wurde in der öffentlichen Debatte und sogar von Militärangehörigen selbst wiederholt darauf hingewiesen, daß sich die Armee in einer "Krise" befände. Die Massenmedien konstatierten eine Sinn- und Motivationskrise im Militär, die sie häufig mit dem Stichwort "malestar militar" ("militärisches Unwohlsein") umschrieben. Dieser Begriff wurde gerne auch auf spektakuläre Ereignisse wie Disziplinverstöße oder Personalflucht bezogen und stark strapaziert. Derart allgemeines Krisengerede läßt sich für die unterschiedlichsten politischen Ziele instrumentalisieren. Es erzeugte viel Aufmerksamkeit, aber keine genaueren Analysen. Es bleibt offen, worin die Krise genau bestand, ob es sie überhaupt gibt oder ob sie von Militärangehörigen, sicherheitspolitischen Entscheidungsträgern und Massenmedien lediglich behauptet wird. Weder die gesellschaftlichen, noch die innermilitärischen Dimensionen der Legitimitätsprobleme sind in ihren Ausprägungen, Erscheinungsformen und Entstehungsbedingungen systematisch untersucht worden. Die Vollendung eines Jahrzehnts sozialistischer Regierungsverantwortung und Militärpolitik im Jahre 1992 bildete einen Anlaß für die vorliegende Bestandsaufnahme der Entwicklung des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft in Spanien. Es handelte sich um eine Zeitspanne, die innenpolitisch von zahlreichen militärpolitischen Maßnahmen zur Reform, UmDer Begriff wird hier im Sinne der Demoskopie gebraucht. Er bezeichnet die Gesamtheit der durch repräsentative Umfragen zu ermittelnden Einstellungen einer Gesellschaft.
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strukturierung und Modernisierung der Armee und zudem von wichtigen, die zukünftige Außenpolitik des Landes determinierenden Entscheidungen geprägt war. Dazu gehörten neben dem EG-Beitritt und der Entscheidung zum Verbleib im Nordatlantischen Bündnis auch die Einbindung in westeuropäische Sicherheitspolitik-Strukturen durch den WEU-Beitritt 1987. Erkenntnisinteresse Das Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, das allgemeine Krisengerede, mit dem in Spanien die zivil-militärischen Beziehungen nur schemenhaft umrissen werden, kritisch zu überprüfen und die Legitimitätsprobleme des Militärischen sowohl in ihren gesellschaftlichen als auch in ihren innermilitärischen Dimensionen systematisch auszudifferenzieren. Das Interesse an dieser Thematik ist allerdings nicht rein analytischer Natur, sondern auch mit einem normativen Anspruch verbunden. Die Untersuchung ist von der Einschätzung motiviert, daß Krisen und Umbruchsituationen unter bestimmten Voraussetzungen eine gesellschaftliche Dynamik erzeugen, die für die Durchsetzung alternativer Politikziele genutzt werden kann. 5 Durch eine genaue Betrachtung der gesellschaftlichen Dimensionen der Legitimitätsprobleme sollen Bruchstellen in der Militärlogik ermittelt werden, an denen friedenspolitische Handlungsstrategien ansetzen können. Außerdem sollen potentielle Träger alternativer Strategien benannt werden. Die Analyse der Reaktionen des Militärs und des militärisch-politischen Apparats wiederum ermöglicht es, potentielle Militarisierungsgefahren aufzuzeigen, die aus der Bearbeitung der Legitimitätsprobleme seitens der militärischen und politischen Akteure resultieren. Im Zuge der Auflösung der Block-Konfrontation wurde Militärlogik, die "militärische Politik-Logik der rationalisierten Unvernunft", die sich in der bipolaren Weltordnung als "scheinbar naturwüchsige politische Wahrheit" durchgesetzt hatte', zunächst massiv in Frage gestellt. Dem westlichen Mili5
Horn/Schülein (1976), S. 124, beschreiben den emanzipativen Gehalt von Legitimitätskrisen. Legitimierung impliziere Veränderung, denn: "Sich legitimieren müssen ist ja Anzeichen dafür, daß die Struktur, welche sich zu rechtfertigen hat, prinzipiell auch der Veränderung zugänglich ist, falls sie diskursiv nicht mehr gerechtfertigt werden kann und die politischen Kräfteverhältnisse das zulassen", und sofern es emanzipativen Strömungen gelinge, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gesellschaftlicher Verfassung subjektiv begreifbar zu machen.
6
Krippendorff (1985), S. 88. Militärlogik wird hier als Bestandteil von Politik begriffen, die sich an Staatsraison und nicht an den Erfordernissen einer gesellschaftlichen Fortentwicklung im Sinne von Demokratisierung, politischer Partizipation, Gleichberechtigung und gewaltfreier Konfliktaustragung orientiert. Militärlogik bezeichnet demnach also militarisierte Politiklogik und nicht etwa eine der Institution Militär inhärente Logik. Wie Berger/Luckmann (1984), S. 68f, darlegten, steckt Logik nicht in Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität, sondern in der Art, wie über sie reflektiert wird: "Das reflektierende Bewußtsein überlagert die institutionale Ordnung mit seiner eigenen Logik."
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tärbündnis kam die einigende strategische Projektion abhanden. Gleichzeitig entfiel die militärische Bedrohung, mit der in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten militärische Vorkehrungen bis dahin im wesentlichen gerechtfertigt worden waren. Die Untersuchung ist unter anderem von der Befürchtung begleitet, daß die durch Akzeptanzerosion des Militärischen entstandenen Bruchstellen durch eine von Militärlogik geprägte Außenpolitik wieder gekittet werden und neue Militarisierungsschübe im Zuge der Errichtung einer neuen "Weltmilitärordnung" nach sich ziehen könnten. Daher gilt sowohl den Rechtfertigungsargumenten zugunsten des Militärischen als auch den Aufgaben und Einsatzfeldern, die dem Militär zugewiesen werden, besondere Aufmerksamkeit. Die Besorgnis über potentielle Militarisierungstendenzen bezieht sich zum einen auf die mögliche Aneignung ziviler Bereiche durch das Militär. Zum anderen ist zu befürchten, daß die Suche nach Legitimation mit dem Aufbau neuer Bedrohungsvisionen, der Verstetigung offensivfähiger Armeen und einer zusätzlichen Militarisierung der internationalen Beziehungen verbunden wird. Die Sorge um eine stärkere Militarisierung der Nord-Süd-Beziehungen bildet einen wichtigen Anlaß für die Beschäftigung mit den zivil-militärischen Beziehungen in Spanien. Mit der traditionellen Ausrichtung auf Nordafrika und wegen der geographischen Nähe zum Maghreb kommt dem spanischen Militär unter den Armeen des NATO-Bündnisses im Hinblick auf die strategische Ausrichtung auf den Süden eine gewisse Vorreiter-Rolle zu. Spanische Offiziere und Sicherheitspolitiker hatten Szenarien jenseits des NATO-Bündnisgebiets bereits im Blick, als die Mehrzahl der übrigen NATO-Mitgliedstaaten sich noch im wesentlichen auf die Bedrohung durch den östlichen Militärblock der WVO konzentrierten. Spanische Strategieplaner haben die Rolle ihrer Armee im Mittelmeer und Atlantik bei der militärischen Sicherung der Achse "Kanarische Inseln - Meerenge von Gibraltar - Balearen" zwar einerseits als Ergänzung zur Verteidigung der NATO-Südflanke definiert, dabei aber von Anfang an auch von den Bedrohungsfestlegungen des Bündnisses unterschiedene, auf die militärische Sicherung der spanischen Gebiete in Nordafrika gerichtete Strategieplanungen verfolgt. Mit der Aufwertung der Südflanke und der verstärkten Lokalisierung von Bedrohungen auf der südlichen Seite des Mittelmeers durch die NATO-Stäbe seit Beginn der neunziger Jahre sehen militärische und politische Entscheidungsträger Spanien von der "retaguardia", der "Nachschubbasis", an die "zentrale Front" zukünftiger internationaler Konflikte
16
gerückt, die sie zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre erwarten. Beide Aspekte, die Entwicklung des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft wie auch die Gestaltung von militärischer Außensicherheitspolitik, sind in bezug auf ihre Legitimität eng miteinander verknüpft. Für den Einsatz militärischer Gewalt und die Bereitstellung von Ressourcen zum Unterhalt von Armeen wird von staatlicher Seite um gesellschaftliche Unterstützung nachgesucht. Art und Ausmaß des Einflusses dieser Unterstützung auf militär- und sicherheitspolitische Entscheidungen sind umstritten, wie an Hand der allgemeinen theoretischen Debatte im zweiten Kapitel verdeutlicht wird. Aber es ist davon auszugehen, daß die militärische Reproduktion durch die Vorenthaltung öffentlicher Unterstützung behindert werden kann. Der gesellschaftliche Konsens oder Dissens über die Gestaltung von Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik beeinflußt nicht nur Entscheidungen über Krieg und Frieden, sondern berührt auch Fragen der Demokratisierung von Außenpolitik. Es gibt gute Gründe, sich aus friedenswissenschaftlicher Perspektive mit den "externen" und "internen" Legitimationsproblemen des Militärs zu beschäftigen und dies nicht nur der institutionalisierten Militärsoziologie zu überlassen. Militärsoziologische Legitimitätsuntersuchungen sind vielfach von dem normativen Anspruch getragen, eine Integration von Militär und Gesellschaft im Sinne der Status-Quo-Erhaltung (das heißt: Harmonisierung des Verhältnisses von Militär und Gesellschaft ohne grundsätzliche Infragestellung der Androhung oder des Einsatzes militärischer Gewalt zum Erreichen politischer Ziele) zu gewährleisten. Sofern sich militärsoziologische Studien darauf richten, Störungspotentiale militärischer Reproduktion aufzudecken, so ist dieses Interesse häufig rein organisationssoziologischer Natur. Wenn man davon ausgeht, daß Legitimität wichtige Hilfsaufgaben bei der Ausübung militärischer Funktionen übernimmt7, so besteht ein friedenswissenschaftliches Interesse darin, zu untersuchen, a) in welchem Ausmaß diese Hilfe von Seiten der Gesellschaft gewährt oder entzogen wird, b) mjt welchen Strategien Militär und Staat versuchen, diese Unterstützung zu sichern oder wiederherzustellen und c) inwieweit diese Strategien erfolgversprechend sind. Eine friedenswissenschaftliche Untersuchung über die Legitimitätsproblematik von Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik im demokratischen Spanien liegt noch nicht vor. Die in den vergangenen Jahren erschienenen 7
Vgl. Albrecht (1975), S. 158.
17
Arbeiten, die Militär und Sicherheitspolitik in diesem Mittelmeerland systematisch untersuchten, beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von Politik und Militär in der spanischen Geschichte*, mit Sicherheitspolitik unter den Bedingungen der Bündnisintegration* oder mit Problemen der Streitkräfte- und Rüstungsmodernisierung.1* Die vorliegenden Untersuchungen, die das Verhältnis von Militär und Gesellschaft thematisieren, enden im wesentlichen mit der 'Transición"11. Die wenigen soziologischen Arbeiten, die sich aus militärkritischer Perspektive den zivilmilitärischen Beziehungen während der achtziger Jahre widmen, behandeln jeweils nur Ausschnitte der Legitimitätsprobleme.12 Bisher wurden weder die Legitimitätsprobleme auf der Ebene der Einstellungen und des Verhaltens gegenüber Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik systematisch und aufeinander bezogen dargestellt, noch wurden die gesellschaftlichen Dimensionen zu den streitkräfteinternen Dimensionen der Legitimitätsprobleme oder zu den Bearbeitungsversuchen des politisch-militärischen Apparats in Beziehung gesetzt. Untersuchungsgegenstand Untersucht wird das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in Spanien im Zeitraum 1982-1992. Mit dem Begriffs "Legitimitätsprobleme des Militärischen " werden die Probleme zusammengefaßt, die sich für das Militär und den übergeordneten politisch-militärischen Apparat im Hinblick darauf ergeben, gesellschaftliche Unterstützung für die Armee, ihre Reproduktion und militärische Sicherheitspolitik zu gewinnen und den inneren Zusammenhalt des Militärs zu gewährleisten. Der Begriff des "Militärischen"" wird in bewußter Abgrenzung zur institutionensoziologisch zu betrachtenden "Einrichtung" der Streitkräfte gebraucht. Er erfaßt drei Dimensionen: - die Institution Militär und ihre Angehörigen,
8
Vgl. Ballbé (1983); Borchardt (1986); Lleixá (1986a); Cardona (1983).
9
Vgl. Kophamel (1987a).
10
Vgl. Labatut (1993) und Daguzan (1986).
11
Vgl. Martínez Pando (1983b); Bañón/Barker (1988); Cardona (1990).
12
Barroso (1991) etwa recherchierte eine Fülle von Daten und Informationen über den Militärdienst und die Einstellungen der Bevölkerung zu diesem Thema; Pérez Henares u. a. (1989) zeigten an Hand von Umfragen und Interviews Unterschiede in den politischen Einstellungen von Bürgerinnen und Militärangehörigen auf.
13
Der Begriff wurde auch von Vogt (1989, 1992), allerdings ohne genaue inhaltliche Festlegung, wiederholt verwandt.
18
- die Reproduktion des Militärs, also die Aneignung und Zueignung von Ressourcen wie Geld, Menschen, Umwelt, Know-how durch und für die Armee (das heißt, Rüstungspotentiale, Militärausgaben, Rekrutierung, ideologische Einstimmung auf militärische Konfliktaustragung), - den mit "Militär"-, "Rüstungs"- und "Sicherheitspolitik" bezeichneten politischen Rahmen, in dem die zentralen Festlegungen über die Einsatzfelder des Militärs und über seine Organisationsstruktur, ressourcenmäßige Ausstattung und strategische Ausrichtung getroffen werden. Die gesellschaftliche Dimension der Legitimitätsproblematik wird auf zwei Ebenen analysiert. Zunächst werden die Einstellungen der Bevölkerung zum Militärischen untersucht. Analysiert wird weiterhin das Protest- und Verweigerungsverhalten, in dem sich die Vorenthaltung von Akzeptanz gegenüber Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik niederschlug. Um die innermilitärischen Dimensionen der Legitimitätsprobleme zu erfassen, werden die Äußerungen von Militärangehörigen über die Gesellschaft, das Militär und die eigene Rolle untersucht. Die Bearbeitungsversuche des übergeordneten militärisch-politischen Apparats werden an Hand der Begründungsmuster und Maßnahmen des Verteidigungsministeriums analysiert. Die Arbeit untersucht ausdrücklich nicht die Gestaltung des Verhältnisses zwischen militärischer und politischer Macht im Zuge des Demokratisierungsprozesses in Spanien14, und sie ist nicht bestrebt, die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit militärischer Putschversuche abzuschätzen. Untersucht wird auch nicht die Frage von Kontinuität und Wandel etwaiger Erscheinungsformen von Militarismus im demokratischen Spanien vor dem Hintergrund der Streitkräftemodernisierung und internationalen Einbindung. Auch die Militär- und Sicherheitspolitik der sozialistischen Regierung steht nicht im Mittelpunkt. All die genannten Aspekte finden jedoch insoweit Berücksichtigung, als der Untersuchungsgegenstand der Arbeit in den Prozeß der Demokratisierung, Streitkräftemodernisierung und Bündnisintegration eingebunden ist. Fragestellung
Aus dem skizzierten Erkenntnisinteresse ergeben sich für die Annäherung an den Untersuchungsgegenstand drei übergeordnete Leitfragen: 1) Welche Erscheinungsformen und Ausprägungen kennzeichnen die Legitimitätsprobleme des Militärischen im demokratischen Spanien, und wie sind sie zu erklären? 14
Vgl. dazu ausführlich Fischer (1987).
19
2) Wie reagiert das Militär auf diese Probleme? Sind die Reaktionen geeignet, gesellschaftliche Unterstützung herzustellen? Welche Besonderheiten weisen seine Reaktionen auf, und wie sind sie zu erklären? 3) Wie bearbeitet das Verteidigungsministerium als übergeordneter militärisch-politischer Apparat die Legitimitätsprobleme? Sind die Bearbeitungsversuche im Sinne einer Relegitimierung als erfolgversprechend zu bewerten? Entlang der genannten Leitfragen nähert sich die Untersuchung ihrem Gegenstand mit Hilfe weiterer untergeordneter Fragen: Ad 1: Zunächst wird nach dem Ausmaß und der Qualität der Anerkennung gefragt, welche die spanische Bevölkerung dem Militärischen entgegenbrachte. Dabei ist genau zu prüfen, welchen Aspekten des Militärischen die Akzeptanz vorenthalten wurde und mit welchen Argumenten. Besonderes Interesse gilt der Frage, welche Einstellungen die von der Wehrpflicht Betroffenen oder die als Freiwillige und Berufssoldatinnen angesprochenen jungen Männer und Frauen im Alter von 15 bis 30 Jahren dem Militärischen entgegenbrachten. Weiterhin ist zu klären, in welchem Ausmaß sich Ablehnung gegenüber dem Militärischen in Protest- und Verweigerungsverhalten niederschlug, von welchen Argumenten es geleitet wurde und welche politische Bedeutung ihm zukam. Von besonderer Wichtigkeit ist die Frage, ob und mit welchen Begründungen auch relevante gesellschaftliche Institutionen und meinungsbildende Instanzen dem Militärischen die Unterstützung vorenthielten. Außerdem ist zu prüfen, inwieweit alternative Politikkonzepte politische Bedeutung erzielten. Schließlich ist die gesellschaftliche Dimension der Legitimitätsprobleme vor dem Hintergrund der theoretischen Erklärungsmodelle auszuleuchten. Ad 2: Es wird ermittelt, wie sich die öffentliche Kritik am Militärischen und das Protest- und Verweigerungsverhalten auf das Selbst- und Gesellschaftsverständnis von Armeeangehörigen auswirken. Zunächst ist zu betrachten, wie Militärangehörige meinen, von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, und wie sich diese Wahrnehmung auf ihre Motivation auswirkt. Dann ist zu prüfen, welches Bild sie von der Gesellschaft haben und welche Maßnahmen sie zur Herstellung gesellschaftlicher Unterstützung vorschlagen. Ferner ist herauszuarbeiten, welche Bilder Militärangehörige von sich und der eigenen Institution entwerfen. Dazu gehört die Frage, welchen Standort sie ihrer Institution in der Gesellschaft zuwiesen, mit welchen Werten und Prinzipien sie sich identifizieren, und mit welchen Ordnungsvorstellungen sie sich legitimieren. Es ist zu bewerten, ob die von ihnen formulierten Legitimationsmuster im Sinne einer gesellschaftlichen 20
Relegitimierung erfolgversprechend sind. Auch die Reaktionen des Militärs sind schließlich vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen zu erklären. Ad 3: Die dritte Fragengruppe richtet sich auf die Strategien des Verteidigungsministeriums zur Bearbeitung der Legitimitätsprobleme des Militärischen. Besondere Bedeutung kommt der Frage zu, inwieweit die Relegitimierungsversuche des militärisch-politischen Apparats spanien-spezifische Besonderheiten der Legitimitätsprobleme berücksichtigen. Um die Erfolgsaussichten der Relegitimierungsbemühungen zu bewerten, müssen diese zu den gewonnenen Erkenntnissen über Art und Entstehungsgründe der Akzeptanzprobleme in Beziehung gesetzt werden. Vorgehen und empirisches Material Die Untersuchung erfolgt in fünf Abschnitten entlang der genannten Fragenkomplexe. Die Komplexität des Gegenstandes und der unterschiedlichen Untersuchungsebenen erfordert zunächst einen aus der allgemeinen Theoriediskussion zu entwickelnden, ordnenden Zugriff auf das Thema. Im 2. Kapitel an Hand von Erklärungsansätzen aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion, der Militärsoziologie, Militärkritik und Friedensforschung die Legitimitätsproblematik des Militärischen aus theoretischer Sicht erörtert. Dadurch wird zum einen das begriffliche Instrumentarium für die empirische Untersuchung geschärft. Zum anderen ermöglichen es die angebotenen Erklärungsansätze, Arbeitshypothesen abzuleiten (Abschnitt 2.5.) und später die empirischen Befunde in die allgemeine theoretische Debatte einzuordnen. Im ersten Teil der empirischen Untersuchung (Kapitel 3) werden die gesellschaftlichen Dimensionen der Legitimitätsprobleme an Hand der Einstellungen und an Hand des Protest- und Verweigerungsverhaltens gegenüber dem Militärischen ausdifferenziert und in ihren Besonderheiten erklärt. Im zweiten Teil der empirischen Analyse (Kapitel 4) werden die Reaktionen von Militärangehörigen untersucht und in ihren Besonderheiten erklärt. Im dritten und letzten Teil der empirischen Untersuchung (Kapitel 5) werden die Strategien behandelt, mit denen der militärisch-politische Apparat in Gestalt des Verteidigungsministeriums die Legitimitätsprobleme zu bearbeiten versucht. Abschließend (Kapitel 6.) werden die Ergebnisse zusammengefaßt und vor dem Hintergrund der Arbeitshypothesen bewertet. Außerdem wird ein Ausblick auf die Handlungsspielräume und Hindernisse gegeben, die sich für die Umsetzung friedenspolitischer Ziele ergeben. 21
Die verschiedenen Untersuchungsebenen erfordern unterschiedliche methodische Zugänge. Um die Einstellungen zu erfassen, wurde ein sekundäranalytisches Verfahren der Auswertung von Umfrageergebnissen staatlicher und privater Meinungsforschungsinstitute gewählt. Die Ergebnisse wurden auf die Untersuchungsfragen hin ausgewählt und interpretiert. Quellen und Vorgehen werden in den Abschnitten 3.1. und 3.1.1. eingehend erörtert. In keinem NATO-Mitgliedstaat wurden die gesellschaftlichen Einstellungen zu Fragen militärischer Sicherheitspolitik in den achtziger Jahren so gründlich abgefragt wie in Spanien, wo es ein Referendum für den Verbleib in der NATO zu gewinnen galt. Das Interesse der politischen Entscheidungsträger, Zustimmung für die bündnisorientierte Gestaltung von militärischer Außensicherheitspolitik herzustellen, führte dazu, daß eine Fülle von Befragungen zur militärischen Westintegration, das heißt, zum NATOVerbleib, zur Frage der amerikanischen Stützpunkte, zur Bedrohungswahrnehmung und zur Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung in Auftrag gegeben wurden. Befragungen über die Einstellungen zum Militär wurden auch nach dem Putschversuch vom 23. Februar 1981 durchgeführt und häuften sich im Vorfeld der Parlamentswahlen 1989, weil der Wahlkampf maßgeblich von Diskussionen über das Rekrutierungssystem und die Wehrdienstdauer bestimmt wurde. In kaum einem NATO-Mitgliedstaat wiederum dürfte sich der Zugang zu unveröffentlichten Erhebungsdaten so schwierig gestalten wie in Spanien. Das gilt vor allem für das staatliche, im Auftrag der Regierung tätige Meinungsforschungsinstitut "Centro de Investigaciones Sociológicas", das über einen umfangreichen Materialfundus verfügt. Seine Daten waren bis in die achtziger Jahre hinein der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Schließlich wurde der Zugang zwar prinzipiell ermöglicht, aber durch hohe Gebühren wiederum praktisch verhindert. Weil sie auf Unterlagen der im "Instituto de Estudios Sociales Avanzados" angesiedelten Forschungsprojekte zurückgreifen konnte, gelang es der Verfasserin jedoch, eine größere Anzahl unveröffentlichter CIS-Erhebungen einzubeziehen. Es wurden insgesamt 85 Umfragen, die spanische Meinungsforschungsinstitute im Zeitraum 1982 bis Anfang 1992 durchführten, ausgewählt und sekundäranalytisch ausgewertet. Mit der Darstellung dieses empirischen Materials wird der deutschsprachigen Leserschaft ein Fundus an Informationen über die Einstellungen der spanischen Gesellschaft gegenüber Militär und Sicherheitspolitik erstmals systematisch erschlossen. Die Umfragen er-
22
möglichen es, die öffentliche Meinung Spaniens in Bezug auf Militär, Rüstung und Sicherheitspolitik umfassend und im Detail zu erfassen. Für die Untersuchung des Protest- und Verweigerungsverhaltens werden die Aktivitäten der Friedensbewegung, die Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung und kommunale Widerstände gegen die Aneignung von Ressourcen für militärische Zwecke betrachtet. Dafür werden Fakten und Argumentationen zusammengetragen, die den Zeitschriften friedenspolitischer Organisationen, Flugschriften und Broschüren der Friedensbewegung, den Publikationen der Friedensforschung und der wissenschaftlichen Literatur sowie Presseveröffentlichungen zu entnehmen sind. Materiallage und Vorgehen werden eingehend in Abschnitt 3.1.2. erörtert. Die Untersuchung der Reaktionen des Militärs erfordert wiederum einen anderen methodischen Zugriff. Umfragen, die darüber Auskunft geben, wie Militärangehörige die Gesellschaft, die eigene Rolle und ihre Aufgaben wahrnehmen, liegen nur in geringer Anzahl vor und können daher allenfalls ergänzend herangezogen werden. Die Durchführung eigener Interviews stieß wiederum auf unüberwindliche Barrieren seitens der Verteidigungsadministration (siehe genauer Abschnitt 4.1.). Folglich wurde ein hermeneutisch interpretierendes Verfahren zur Auswertung publizistischer Äußerungen von Militärangehörigen gewählt. Dafür wurden Vollerhebungen der von den Stäben des Heeres, der Luftwaffe und der Marine herausgegebenen Zeitschriften "Ejército", "Revista de Aeronáutica y Astronáutica" und "Revista General de la Marina" von 1982 bis Anfang 1992 durchgeführt. Ergänzend wurden Magazine einzelner Militärregionen und Truppeneinheiten und weitere Militärzeitschriften herangezogen. In die Auswertung wurden weiterhin monographische Veröffentlichungen, Konferenzbeiträge oder Äußerungen von Militärangehörigen in Publikationen außerhalb des militärischen Bereichs einbezogen. Quellenbasis und Methode werden ausführlich in Abschnitt 4.1. erörtert. Die Bearbeitungsversuche des übergeordneten militärisch-politischen Apparats werden an Hand der Maßnahmen im Bereich der PR, der wichtigsten militärpolitischen Reformen und des sicherheitspolitischen Diskurses dargestellt. Die Untersuchung stützt sich auf die vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Publikationen. Dazu gehören Broschüren, Faltblätter und Anzeigen für die Rekrutenwerbung, die Rechenschaftsberichte des Verteidigungsministeriums und vor allem die seit 1988 vom Ministerium herausgegebene "Revista Española de Defensa", für die eine Vollerhebung der Jahrgänge bis einschließlich 1992 durchgeführt wurde. Quellen und Vorgehen werden ausführlich in Abschnitt 5.1. erörtert. 23
2. Theoretische Überlegungen zur Leg^itimitätsproblematik von Militär und Sicherheitspolitik
2.1. Zum Begriff der Legitimität und Legitimation in der sozialwissenschaftlichen Disfcussion Unter Legitimität wird im allgemeinen die Rechtfertigung von Ansprüchen aufgrund höherer Werte und Ordnungsvorstellungen verstanden. In der soziologischen und politologischen Diskussion besteht Einigkeit darüber, daß der Legitimität eine große Bedeutung für die Funktionsfähigkeit politischer Systeme zukommt, weil sich Herrschaft rechtfertigen muß. Vor allem Max Webers Ausführungen haben die Debatte geprägt. Weber zufolge ist Herrschaft als "Chance (...), für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden"1 davon abhängig, daß dieser Gehorsam tatsächlich geleistet wird. Der moderne Staat ist demnach "ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhä\tnis von Menschen über Menschen"2, für dessen Aufrechterhaltung sich die Beherrschten der beanspruchten Autorität der jeweils Herrschenden fügen. Wann und warum sie das tun, hängt von den "inneren Rechtfertigungsgründen" (also Sitte bzw. Tradition, Charisma oder' aber legaler, auf verregelter Sachkompetenz beruhender Satzung) und "äußeren Mitteln" ab, auf die sich eine Herrschaft stützt. Autorität gründet sich auf den Legitimitätsglauben oder die Legitimitätsüberzeugungen der Individuen. Von der Demokratietheorie wird Legitimität als unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Herrschaft beschrieben. Verschiedene internationale Theoriestränge erörterten in den vergangenen Jahrzehnten ausgiebig den Zusammenhang zwischen Legitimität und der Stabilität von Herrschaftssystemen3, darunter die "International Sociological Association"4 und vor allem die angelsächsische Diskussion. Lipset (1980) bezeichnet als Legitimität die "Fähigkeit des Systems, die Überzeugung herzustellen und aufrechtzuerhalten, daß die existierenden politischen Institutionen die für die Gesellschaft angemessensten sind".5 Easton (1979) beschreibt mit Legitimität die Überzeugung von Mitgliedern einer politischen Ordnung, daß diese auf eine Weise funktioniert, die weitgehend mit ihren "persönlichen morali-
1
Weber (1980), S. 122.
2
Weber (1980), S. 822 (Hervorhebung im Original).
3
Einen Überblick über die Debatte gibt Krippendorff (1978) in einem 1962 erschienen Beitrag, der 15 Jahre später die Diskussion neu belebte.
4
Zur Debatte in jenem Forschungszusammenhang vgl. die Beiträge in Denitch (1977).
5
Lipset (1981), S. 64.
24
sehen Prinzipien" und Überzeugungen von dem, was richtig oder falsch sei, übereinstimmt. Darauf gründe sich die stabilste Unterstützung.' Dabei unterscheidet Easton nach "diffuser" Unterstützung der politischen Ordnung und "spezifischer", kurzfristig und eher von der politischen Konjunktur abhängiger Unterstützung der politischen Akteure.7 Wright (1976) weist darauf hin, daß in den westlichen demokratisch verfaßten Gesellschaften keineswegs umfassende aktive Zustimmung der Bürgerinnen zum politischen System gegeben ist, und daß diese Systeme trotz eines großen Ausmaßes an Gleichgültigkeit und Mißtrauen ihren Bestand wahren können.® Auch in der bundesdeutschen Politikwissenschaft wurde in den siebziger Jahren verstärkt über Legitimität diskutiert.® Luhmann definiert Legitimität als "generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen".10 Sein Legitimitätsbegriff setzt ein motivloses Akzeptieren bindender Entscheidungen für das Funktionieren komplexer politischer Systeme voraus. Entscheidungen werden unabhängig von der Anerkennungswürdigkeit und Richtigkeit der Argumente, mit denen sie begründet werden, akzeptiert. Gegen diese pragmatische, empiristische Auffassung setzten die "konstruktivistischen", "rekonstruktivistischen" und "faktizistischen" Varianten der neueren Diskussion11 einen aufklärerischen Anspruch. Habermas etwa beschreibt mit Legitimität die "Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung", die also nicht automatisch durch mehrheitliche Anerkennung schon legitimiert ist. Demnach bezieht sich der Legitimitätsanspruch auf die "sozialintegrative Wahrung einer normativ bestimmten Identität der Gesellschaft". Legitimationen dienen dazu zu zeigen, wie und warum bestehende (oder empfohlene) Institutionen geeignet sind, legitime Macht so einzusetzen, daß die für die Identität der Gesellschaft konstitutiven Werte verwirklicht werden."12 Habermas entfaltet die Idee, daß die Einlösung nur in diskursiver Willensbildung Freier und Gleicher vonstatten ge'
Easton (1979), S. 278.
7
Zur empirischen Absicherung und theoretischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes siehe Westle (1989).
8
' Vgl. Wright (1976), S. 259.
'
Fach/Degen (1978), Einleitung, S. 7. Die Legitimitäts-Diskussion der siebziger Jahre wird durch diverse Beiträge in Fach/Degen (1978) und in v. Kielmannsegg (1976) dokumentiert. Siehe dazu auch Luhmann (1983); Offe (1975); Narr/Offe (1975); Habermas (1973) und Habermas (1976). Eine zusammenfassende Untersuchung der Ansätze von Luhmann, Offe, Habermas und Max Weber liefern Kopp/ Müller (1980).
10
Luhmann (1983), S. 28. Siehe dazu auch Luhmann (1975).
11
Vgl. Fach/Degen (1978), Einleitung, S. llf.
12
Habermas (1976), S. 42.
25
hen könne und verbindet Legitimität so mit dem normativen Anspruch gesellschaftlicher Demokratisierung. Als Substrat aus der Legitimitätsdiskussion ergeben sich im wesentlichen zwei Einsichten: - Legitimität stellt sich nicht nur als quantitatives Akzeptanzproblem, sondern auch als qualitatives Wertproblem dar. Sie umfaßt einerseits die anhand von Einstellungen empirisch meßbare, faktische Anerkennung einer politischen Herrschaftsordnung und ihrer Institutionen und andererseits auch deren moralisch-ethische Anerkennungswürdigkeit, die wiederum Veränderungen unterworfen ist. - Um der begrifflichen Eindeutigkeit willen macht es Sinn, Legitimation von Legitimität abzugrenzen und als Prozeß zu deren Herstellung zu bezeichnen. 2.2. Das Legitimitätskonzept in der Militärsoziologie 2.2.1. Die Feststellung des Legitimitätsbedarfs von Militär und Sicherheitspolitik als Reaktion auf den Mititarismusvorwurf Im Verlauf der siebziger Jahre begannen sich Militärsoziologinnen verstärkt mit Legitimitätsproblemen in den zivil-militärischen Beziehungen zu beschäftigen. Bis dahin hatte sich die Militärsoziologie an den Ausführungen Max Webers über das Verhältnis von Militär, Staat und "legitimer Gewaltsamkeit" orientiert, welche die Legitimität der Armee als Teil des Staatsapparats untrennbar mit den Legitimitätsüberzeugungen von der Rechtmäßigkeit des Staates und der politischen Ordnung verknüpft hatten." Nach diesem Verständnis galt die Armee in ihrer Eigenschaft als staatliches Gewaltmonopol automatisch als legitimiert.14 Diese Sichtweise wurde in den siebziger Jahren von einem neuen Verständnis abgelöst.15 Danach gilt die Legitimität von Armeen erst dann als gegeben, wenn ihre Existenz und die Art und Weise, wie sie von ihrer Macht Gebrauch machen, von der Gesellschaft insgesamt gebilligt werden.1® Der US-Amerikaner Janowitz und der Niederländer Van Doorn betonen, u
Vgl. Weber (1956), S. 28, und Weber (1980), S. 822ff. Der moderne Staat stellt sich demnach als "anstaltsmäßiger Herrschaftsverband* dar, dem es gelungen ist, "innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren* und zu diesem Zweck "die sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner Leiter" zu vereinigen. Weber (1980), S. 824.
14
So hatte etwa Finer (1962), S. 33, Armeen als höchsten Ausdruck und Mittel der Selbstbehauptung des Nationalstaates bezeichnet und die Legitimität des Militärs mit der Existenz einer legitimen Regierung per se als gegeben angesehen.
15
Einen Überblick über die Diskussion geben Harries-Jenkins/Moskos (1984b), S. 108.
M
Vgl. Harries-Jenkins (1976), S. 43.
26
daß das Militär die "aktive Zustimmung", nicht nur eine tolerierende Hinnahme seitens der Gesellschaft benötige und sich diese Legitimität selbst verschaffen müsse.17 Auch der Brite Harries-Jenkins erklärt den gesellschaftlichen Konsens im Hinblick auf die Aufgaben und den Einsatz der Armee zur Voraussetzung für deren Legitimität.18 Van Doorn (1976) bezeichnet mit Legitimität eine Fähigkeit, die ein System unter Beweis stellen müsse. Legitimität stellt sich demnach erst durch das "Handeln" des nachfragenden Systems und seiner Institutionen her und ist Resultat eines Prozesses der Legitimation.19 Das Recht des Staates auf Zwangsgewalt leitet sich dieser Sichtweise zufolge nicht aus seiner faktischen Existenz ab, sondern wird ihm von den Mitgliedern zugeschrieben und kann dementsprechend auch von ihnen wieder entzogen werden. Legitimität des Militärischen setzt Van Doorn zufolge nicht nur oberflächliche Akzeptanz, sondern eine "überzeugte Zustimmung" der Gesellschaft voraus: Diejenigen, die Legitimität gewährten, müßten durch ihr Verhalten zeigen, daß ihre Anerkennung mehr sei, als ein "Lippenbekenntnis" zur Grundidee. 20 Die Anwendung des Legitimitätskonzepts in der Militärsoziologie erfolgte unter anderem auch als Reaktion auf die Kritik, mit der Teile der Sozialwissenschaften Militär und Rüstungsdynamik vor allem im Zuge der OstWest-Konfrontation verstärkt begegneten. Das Wettrüsten, das diese begleitete, wie auch die beteiligten Militärapparate waren schließlich ins Kreuzfeuer einer internationalen Diskussion geraten, die sich um die Begriffe "Militarismus" und "Militarisierung" rankte. 21 Diese Debatte gründete sich, wie die Militärsoziologen Harries-Jenkins und Moskos rückblickend kommentieren, auf die Einschätzung, daß "das Militär (...) der Gesellschaft den eigenen Willen aufzwingen könne, einen unverhältnismäßig großen Anteil an knappen Ressourcen erhalte und die ökonomischen Verteilungsmuster des Staates prägen könne".22 Van Doorn (1976), S. 20, definiert in Anlehnung an Lipset Legitimität als Fälligkeit sozialer oder politischer Systeme, "die allgemeine Auffassung zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, daß die existierende Gesellschaftsordnung und ihre wichtigsten Problemlösungen weithin angemessen sind". M
Vgl. Harries-Jenkins (1976), S. 43. Vgl. auch S. 47: Legitimität sei nicht als "conditio sine qua non" anzunehmen, wenn die Funktion der Streitkräfte nicht mit dem übereinstimme, was die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft als legitim für ihre Verteidigung ansähen.
w
Vgl. Van Doorn (1976), S. 19f.
20
Van Doorn (1976), S. 19f.
21
Siehe dazu die Beiträge in Berghahn (1975) und Eide/Thee (1980). Systematisierende Darstellungen der verschiedenen Ansätze lieferten v. Bredow (1983), Berghahn (1986). Siehe dazu auch Conze (1978), Geyer (1978), Skjelsbaek (1980) und Karl/Nielebock (1991).
22
Harries-Jenkins/Moskos (1984b), S. 86.
27
Anknüpfend an ältere marxistische (Luxemburg, Liebknecht) oder liberale (Lasswell, Vagts) Debattenstränge hatten sich nach dem zweiten Weltkrieg zahlreiche Autorinnen der Militarismus-Kritik gewidmet.23 Sie untersuchten das Beharrungsvermögen militärischer Institutionen und verwiesen auf die Rolle von "Machtkartellen". Anhand von bürokratietheoretischen Überlegungen wurde aufgezeigt, daß Organisationen und Bürokratien, sobald sie sich konstituiert haben, eine Eigendynamik entfalten. Manche Konzepte enthalten den Vorwurf an den militärischen und sicherheitspolitischen Apparat, sich jeglicher Kontrolle zu entziehen und damit Prinzipien der demokratischen Gesellschaft zuwiderzulaufen. Ausgehend von einer Charakterisierung von Verflechtungen des "Militärestablishments" und der Rüstungsindustrie, wie sie der amerikanische Präsident Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede vornahm, entwickelte sich das Schlagwort vom "militärisch-industriellen Komplex"24 zum zentralen Begriff in der Kritik liberaler und radikal-demokratischer US-Politiker an der Rüstung der Vereinigten Staaten. Die in den sechziger Jahren einsetzende intensive sozialwissenschaftliche und politische Debatte brachte schließlich Negativ-Begriffe wie "pentagon capitalism", "garrison society" oder "warfare State"25 hervor, die von unterschiedlichsten pölitischen Strömungen als Vorwurf an das Militär und die sicherheitspolitisch Verantwortlichen gerichtet wurden. Senghaas machte, insbesondere in den USA und der Sowjetunion, aber auch in Westeuropa sogar einen "politischen-ideologischen-militärischen-wissenschaftlichen-technologischen-industriellen Komplex" aus und ermittelte Militarismus schließlich in allen liberal-kapitalistischen Industriegesellschaften.2* Neuere Ansätze berücksichtigten anknüpfend an ältere Debattenstränge sowohl die innergesellschaftlichen als auch die internationalen Dimensionen von Militarismus.27 Sie beschäftigten sich mit den ökonomischen Funktionen24 und technologischen Bestimmungsfaktoren2* von Rüstung, beleuch23
Einen Überblick geben die Beiträge in Berghahn (1975) sowie Berghahn (1986), S. 61ff. Zur Debatte um den US-amerikanischen Militarismus siehe Mills (1962a), Melman (1970), Galbraith (1970). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den linksliberalen Positionen der Radikaldemokraten leistet Medick (1975), S. 350ff.
24
Zur Entstehung des MIK-Theorems vgl. Pilisuk/Hayden (1965). Einen Überblick über die verschiedenen Theoreme geben Albrecht (1978); Albrecht (1990); v. Bredow (1983), S. 64ff; v. Bredow (1986); Senghaas (1972), S. 307ff.
25
Eine Auflistung zahlreicher Charakterisierungen dieser Art fmdet sich bei v. Bredow (1983), S. 67.
24
Vgl. Senghaas (1972), S. 14. Siehe auch Senghaas (1975).
27
Siehe dazu die Beiträge in Eide/Thee (1980). Thee (1980) selbst nimmt in der theoretischen Festlegung den Unterschied zwischen innerem und äußerem Militarismus wieder auf und weist auf die aussenpolitischen Dimensionen der Rüstungsdynamik hin.
24
Siehe dazu Vilmar (1973) und Hennig (1970).
29
Siehe dazu Kaldor (1981) und (1977) sowie Albrecht (1987b), S. 410.
28
teten den Zusammenhang zwischen Militarismus und Unterentwicklung theoretisch* und empirisch31 in Arbeiten, welche Militarisierungsprozesse in der Dritten Welt offenlegten. Die Theoriedebatte, die sich nach dem zweiten Weltkrieg mit Militarismus und Militarisierung beschäftigte, hat letztlich empirisch und theoretisch verdeutlicht, a) daß Politik und Militär in modernen Industriestaaten untrennbar miteinander verflochten sind32, b)daß mit dem Übergang von Staaten zum parlamentarischen demokratischen System Militarismus und Militarisierung keineswegs als überwunden und Kriegsgefahren als gebannt anzusehen sind und c) daß die sogenannten "Nachkriegs"-Gesellschaften ab 1945 in einer Phase des "totalen Krieges"33 verblieben bzw. in der Vorbereitung auf einen solchen begriffen waren. Sowohl die politische als auch die wissenschaftliche Diskussion waren kritisch und normativ geprägt in dem Sinne, daß Militarismus und Militarisierung als politisch nicht wünschenswerte Phänomene anzusehen, zu vermeiden und zu überwinden seien. Mit der Feststellung vom Legitimitätsbedarf der Armee nahmen Militärsoziologen die Sorge um Verselbständigungstendenzen von Militärapparaten auf.34 Van Doorn und Harries-Jenkins stellen fest, daß die Vergegenwärtigung von deren latenter wie auch manifester Macht, das Bewußtsein über die Existenz eines "militärisch-industriellen Komplexes", die Infragestellung der Aneignung knapper Ressourcen durch Armeen bei gleichzeitiger Verstetigung sozialer Ungerechtigkeit sowie die zunehmende gesell-
*
Siehe dazu die Beiträge von Albrecht, Senghaas, Kaldor, Falk, Landgren-Bäckström, Wolpin und Kende in Eide/Thee (1980); vgl. auch Sotelo (1975); Magdoff (1970); Wallensteen/Galtung/Portales (1985).
31
Darunter befinden sich auch eine Reihe von Fallstudien, die im Rahmen der UN und der Bemühungen des Weltkirchenrats um ein Programm gegen Militarismus entstanden. Vgl. Albrecht (1980a), S. llOf. Vgl. auch Albrecht u. a. (1976).
32
> Vgl. etwa Mills (1962b), S. 224ff; Senghaas (1972), S. 16f; Klare (1980); S. 36; E. P. Thompson (1981), S. 342; Geyer (1980), S. 114ff; Krippendorff (1985), S. 363ff. Die Einsicht in die Verflechtung von ziviler und militärischer Sphäre in den westlichen Industriegesellschaften prägt auch zahlreiche Arbeiten aus feministischer Perspektive. Siehe etwa Albrecht-Heide u. a. (1982); Albrecht-Heide (1988a), (1988b), (1990) und (1991); Enloe 1983; Militärkritische Beiträge europäischer und amerikanischer Wissenschaftlerinnen finden sich ferner in Isaksson (1988), insbesondere S. 321-415.
33
VgL Shaw (1989), S. 284ff.
34
Harries-Jenkins/Moskos (1984b), S. 110, sprechen von "einer kritischen Sichtweise, welche die Gefahr als ständig gegeben anerkennt, daß eine Zwangsgewalt, die dazu da sei, das Gemeinwohl zu schützen, (...) auch angewandt werden könne, um es zu unterlaufen".
29
schaftliche Kritik an der Dysfunktionalität der Armeen für eine neue Sichtweise der Legitimität Anlaß gäbe.35 Der Hinweis, daß sich das Militär legitimieren müsse, markierte einen politischen und wissenschaftlichen Neubeginn und hatte selbst einen militarismuskritischen Gehalt, denn damit wurde das Militär aufgefordert, sich den Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Van Doorn sieht die Legitimität des Militärs nur dann gewährleistet, wenn die Funktion von Militär mit den von der politischen Gemeinschaft als legitim erachteten Zielen übereinstimmt, das heißt, wenn die militärische "sub-culture" mit der "politischen Kultur" der größeren Einheit kongruent verläuft und die soziale Zusammensetzung der Armee weitgehend die Zusammensetzung der politischen Gemeinschaft widerspiegele.3* Bei Nichterfüllung der gesellschaftlichen Erwartungen droht demnach der Entzug von Legitimität: Delegitimierung. Am neuen Legitimitätsverständnis orientierten sich zahlreiche empirische Untersuchungen über das Verhältnis von Militär und Gesellschaft, die in den siebziger Jahren entstanden.37 Insbesondere auch die deutschsprachige Militärsoziologie widmete sich seither verstärkt der Diskussion um den Legitimitätsbedarf von Militär und Sicherheitspolitik.38 Zoll bezeichnet mit Legitimität die Integration des Militärs in die Gesellschaft im Sinne des Konzepts der "Inneren Führung".3® Die Abwesenheit von offenem Widerstand oder von Verweigerungsverhalten größeren Umfangs gegenüber der Wehrpflicht könne nicht als Beleg für ausreichende Legitimation von Sicherheitspolitik und Streitkräften gelten. Nur dann seien Militär und Sicherheitspolitik ausreichend legitimiert, wenn die Öffentlichkeit über solche Themen informiert werde und sich über Massenmedien aktiv und argumentativ an den Auseinandersetzungen über die Gestaltung dieser Politik beteiligen könne.44 Ähnlich wie in den Kontrollmodellen liberaler Kritiker des militärisch-industriellen Komplexes, wird hier die Öffentlichkeit zu einer übergeordneten Instanz erhoben, der gegenüber sich das Militär zu verantworten habe. Wiesendahl plädiert für eine Untersuchung von Legitimität als "reales soziales Beziehungssystem" zwischen denen, die Legitimität durch Rechtferti35 36
Harries-Jenkins/Van Doorn (1976), Introduction, S. 3f. Vgl. Van Doorn (1976), S. 25f. Darunter sind Länderstudien, die sich auf Diktaturen und Übergangsgesellschaften wie Chile oder Griechenland bezogen. Eine Reihe von Titeln stellen Harries-Jenkins/ Moskos (1984b), S. 108, vor.
38
Vgl. Zoll (1978); v. Bredow (1980); Vogt (1980). Siehe dazu auch diverse Beiträge in Vogt (1983c).
39
Vgl. Zoll (1978), S. 26.
40
Vgl. Zoll (1978), S. 26.
30
gung ihres Handelns nachfragen und beanspruchen, und jenen, die eben diese Legitimitätsansprüche anerkennen oder zurückweisen.41 Unter Legitimität versteht er den "in den Meinungen und Vorstellungen der Bevölkerung verankerten Aspekt der faktischen Resonanz (...), auf den Legitimationsanstrengungen politischer Instanzen in der Öffentlichkeit stoßen", und mit Legitimation bezeichnet er die "Artikulation von Rechtfertigungsgründen politischen Handelns seitens politischer Akteure".42 Gerade Streitkräfte entwickelten aufgrund ihres Potentials an physischer Gewalt und als kostspieliges staatliches Instrument einen "hohen Konsensbedarf'. Sie benötigten Legitimationsargumente, die geeignet seien, "ihren Auftrag, ihre Organisation, ihre Führung und ihr Handeln - kurzum: ihre Existenz und Funktionsweise und den dafür erforderlichen personellen, finanziellen und rüstungstechnischen Aufwand zu rechtfertigen".43 Für Vogt umfaßt Legitimität nicht nur die empirisch meßbare "Anerkennungsbereitschaft eines überwiegenden Teils der Bevölkerung" gegenüber staatlichen Instanzen, politischen Akteuren oder Programmen, sondern auch die normativ festzustellende Anerkennungswürdigkeit. Legitimation hingegen definiert er als "Rechtfertigungsbemühungen staatlicher Instanzen zur Begründung politischer Institutionen oder politischen Handelns", die sich darauf richten, Legitimitätsüberzeugungen in der Öffentlichkeit aufzubauen oder zu verstärken.44 Die Feststellung des Legitimitätsbedarfs von Militärorganisationen und die Anwendung des Legitimitätskonzepts bei der Untersuchung der zivilmilitärischen Beziehungen greift die Forderung der Militärkritiker nach Kontrolle, nach Eindämmung von Auswüchsen und Verselbständigung des Militärapparates auf. Dem Vorwurf, vom Militär gehe eine Militarisierung der Politik aus und es entziehe sich demokratischer Kontrolle, wird die Vorstellung von einem mit demokratischen Prinzipien zu vereinbarenden, politisch und gesellschaftlich kontrollierten und durch öffentliche Zustimmung "legitimierten" Militär gegenübergestellt. Mit dem Legitimitätskonzept konnte also das Militär gleichzeitig auch vom diskreditierenden Rubrum des Militarismus befreit werden. Galt der Negativbegriff Militarismus als "Ausdruck für die nicht gelungene Integration der Streitkräfte", als "Umschreibung des militaristischen Extrems von Fehlentwicklungen" in den zivil-militärischen Beziehungen und als Ausdruck von "Befürchtungen über 41
Wiesendahl (1983), S. 147.
42
Wiesendahl (1983), S. 148.
43
Wiesendahl (1983), S. 149.
44
Vogt (1983b), S. 107.
31
die Gefahren, die für Frieden und Demokratie vom Militär ausgehen können",45 so verlegten sich Militärsoziologen nun auf die Vorstellung, diese Gefahren durch eine Minimierung der Distanz in der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Militär und Gesellschaft bannen zu können. Das Konzept diente fortan auch der Untersuchung der Möglichkeiten und Bedingungen dafür, wie das Militär gestaltet und in die Gesellschaft integriert werden könne, damit diese ihm ein Höchstmaß an Zustimmung gewähre, ohne ihrerseits wiederum "militaristisch" zu werden.'14 Mit der Feststellung des Legitimitätsbedarfs reagierten Militärsoziologen aber gleichzeitig auch auf gesellschaftliche Akzeptanzverluste und Protest- und Verweigerungsverhalten gegenüber Militär und Sicherheitspolitik. 2.2.2. Die These von der Legitimitätskrise des Militärischen In den siebziger und achtziger Jahren machten Militärsoziologen vor allem in den westlichen Industriegesellschaften eine Legitimitätskrise des Militärischen aus.47 Der Bedeutungsrückgang nationaler Werte und Symbole, größerer Wohlstand in den westlichen Industriegesellschaften und ein Wertewandel in der jungen Generation hätten dazu geführt, daß der Militärdienst an Attraktivität einbüße, so konstatiert Van Doorn. Antimilitaristische und pazifistische Gefühle der Bevölkerungen vergrößerten die Kluft zwischen Militär und Gesellschaft, und es regten sich Zweifel und Kritik an der Monopolisierung der Gewalt durch die Streitkräfte sowie an militärischer Gewalt überhaupt.4® Van Doorn macht eine externe, die gesellschaftliche Unterstützung von Armeen betreffende, und eine interne, die Streitkräfte selbst betreffende, Legitimitätskrise aus.49 Als deren wichtigste Merkmale beschreibt er - eine abnehmende Akzeptanz der Streitkräfte, - wachsende öffentliche Kritik am Militär, - eine abnehmende Popularität des obligatorischen Wehrdienstes, - "decivilianization", etwa: die Ablösung der Volksarmee durch Professionalisierung 50 und damit die zunehmende Distanz zwischen Militär und 45
Vogt (1980), S. 56.
44
Vgl. Van Doorn/Harries-Jenkins (1976), Introduction, S. 3f.
47
Vgl. Van Doorn (1976); Harries-Jenkins (1976); Segal (1976), Brown (1976); Janowitz (1976).
48
Vgl. Van Doorn (1976), S. 29ff. Ähnlich auch die Charakterisierung von Janowitz (1976), S. 90.
49
Vgl. Van Doorn (1976), S. 18.
50
Der zunehmenden Bedeutung von "Professionalisierung" im Sinne einer Zunahme des Anteils von freiwilligen Zeit- oder Berufssoldaten in modernen Armeen widmet sich Van Doorn ausführlich in seiner Studie T h e Soldier and Social Change" (1975).
32
Gesellschaft, sowie - einen Verlust der institutionellen "Identität" der Streitkräfte. Die externe Dimension der Legitimitätskrise Bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Dimension der Legitimitätskrise weisen Militärsoziologen zunächst auf eine enge Wechselwirkung zwischen der Legitimität des Staates und der Armee hin. Van Doorn (1976) unterscheidet unterschiedliche Legitimitätsebenen, wobei er die gesellschaftlich-politische Ordnung am höchsten ansiedelt. Legitimität gesellschaftlicher Institutionen und Rollenzuweisungen stellen sich demnach als abgeleitete Legitimität dar. Legitimitätseinbußen auf den niedrigeren Ebenen haben Auswirkungen auf die Legitimität der höheren Ebene, und umgekehrt beeinflußt ein Akzeptanzdefizit der politischen Ordnung die Anerkennung ihrer Institutionen. Einzelne Arbeiten näherten sich mit diesem Erklärungsansatz Legitimitätsproblemen in der europäischen Peripherie. So machte z.B. Brown (1976) u. a. auch in Spanien und Portugal unter den Bedingungen der Diktatur eine Legitimitätskrise der Armeen aus, die er in diesen Ländern mit einer Krise des Staates verknüpft sah.51 In der Regel aber wurde damit das Verhältnis von Militär und Gesellschaft in den demokratisch verfaßten westlichen Industriegesellschaften untersucht. Im Sinne Van Doorns betont etwa auch Schneider (1990), daß die Akzeptanz des Militärs als "pointierteste Erscheinungsform der Staatsmacht" wesentlich von der Akzeptanz des Staates überhaupt abhänge. Wenn dieser ein Akzeptanzdefizit aufweise, so treffe das auch die Armee. Akzeptanzverweigerung gegenüber dem Militär sei ein "Frühwarnindikator" für eine Legitimitätsschwäche des Staates.52 Er weist darauf hin, daß Akzeptanzprobleme des Militärs von unterschiedlichen Faktoren beeinflußt sein können: von abnehmenden Bedrohungen, von negativen Erfahrungen junger Menschen mit der Wehrpflicht, von Legitimitätsüberzeugungen, die das Prinzip militärischer Gewaltanwendung per se verneinen und von der Ablehnung gegenüber der politischen Herrschaftsordnung, welche die Mitglieder einer Gesellschaft im staatlichen Gewaltapparat verkörpert finden.53 K. Boulding (1967) hatte aus der Sicht der Friedensforschung der Militärsoziologie im Zuge der innenpolitischen Auseinandersetzungen um das Rekrutierungssystem in den USA die umgekehrte These entgegengehalten, 51
Vgl. Brown (1976), S. 68ff.
52
H. Schneider (1990), S. 167.
55
Vgl. H. Schneider (1990), S. 165.
33
daß es gerade die allgemeine Wehrpflicht sei, welche den Legitimitätsverlust des Nationalstaats vergrößere und seinen Niedergang beschleunige. Die hohen persönlichen und finanziellen Opfer, die der Staat den Bürgern abverlange, würden nicht durch Sicherheit kompensiert, sondern seien von Gefährdungen begleitet, die vom "warfare-state" ausgingen. Mit dem Prinzip der zwangsweisen Rekrutierung über die Wehrpflicht habe sich das Drohsystem des Nationalstaates nach innen auch gegen die eigenen Bürger gerichtet, die sich zunehmend fragten, was sie für ihre Opfer erhielten. Boulding zufolge erweist sich die Wehrpflicht, insofern sie sich nicht auf wirkliche Vaterlandsliebe, sondern auf Haß gründe, als Feind der staatlichen Selbsterhaltungsinteressen, die zu sichern sie etabliert worden ist.54 In ähnliche Richtung weisen auch die Ausführungen von Flacks (1967), der die Legitimität der Wehrpflicht vor allem durch den Einsatz in Kriegen ausserhalb der eigenen Landesgrenzen und angesichts mangelnder Gewährleistung demokratischer Kontrolle von Entscheidungen über Kriegseinsätze in Frage gestellt sieht.55 Ähnlich erklärt Fleckenstein (1993) erklärt den Glaubwürdigkeitsverfall staatlicher Politik angesichts von Truppenentsendungen zu Einsätzen jenseits der Landesgrenzen zu einer wesentlichen Ursache für die Akzeptanzprobleme der Armee und der Wehrpflicht zu Beginn der neunziger Jahre. Weiterhin wurde festgestellt, daß sich das Leitbild politischer Ordnung und die gesellschaftlichen Überzeugungen über die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols im Laufe des 20. Jahrhunderts gewandelt hätten: Der machtvolle, zentralisierte und absolutistische Großstaat, den die Armee verkörpere, sei durch Gemeinwesen abgelöst worden, von denen die Gewährleistung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erwartet wird.56 Menschenwürde und Menschenrechte gälten zunehmend als Legitimitätskriterien, Wohlstandssicherung, Interessensausgleich und Verständigung als Zielwerte politischen Handelns. Gewaltanwendung werde allenfalls als letztes Mittel zur Sicherung von Rechtsgütern akzeptiert.57 Harries-Jenkins (1976) beschreibt einen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Vorstellungen über die Legitimität von Gewaltanwendung: Zunächst hätten im neuzeitlichen Europa die Fürstenarmeen an Legitimität verloren und der Vorstellung vom Bürger in Uniform, also der Massenarmee Platz gemacht. Weiterhin sei der Einsatz der Armee zur Aufrechter54
Vgl. K. Boulding (1967), S. 193ff.
55
Vgl. Flacks (1967), S. 197f.
56
Vgl. H. Schneider (1990), S. 166f.
57
Vgl. H. Schneider (1990), S. 166f.
34
haltung der Ordnung im Innern in Mißkredit geraten und es werde immer offensichtlicher, "daß zahlreiche Kritiker des Militärs der Ansicht sind, daß Gewaltanwendung (...) weiter vermindert werden sollte".58 Harries-Jenkins deutet außerdem ein grundsätzliches Problem der Ungleichzeitigkeit im Verhältnis von Militär und Gesellschaft an. Das normative Konzept dessen, was legitimes Handeln von Militär sei, wandele sich in der Gesellschaft wesentlich schneller als innerhalb der Streitkräfte: "Die unvermeidliche Differenz zwischen ziviler und militärischer Sichtweise bringt dann Kritik am Militär hervor, wenn letzteres eine offensichtlich altmodische Interpretation des Gemeinwohls aufrechterhält." 59 Bezogen auf die Entstehungsgründe für die abnehmende Unterstützung des Militärischen in den westlichen Industriegesellschaften besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß einzelne rüstungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen wie z. B. die Auseinandersetzungen um den NATODoppelbeschluß und die Mittelstreckenraketen-Stationierung 40 oder abnehmende Bedrohungsgefühle im Zuge der Auflösung der Block-Konfrontation" einen latent voranschreitenden Delegitimierungsprozeß lediglich beschleunigt haben. Den Prozeß an sich hält man für strukturell bedingt und führt ihn im wesentlichen auf drei Annahmen zurück, nämlich - daß Armeen im Atomzeitalter prinzipiellen Legitimationsschwierigkeiten ausgesetzt seien, - daß in den westlichen Industriegesellschaften ein Wandel in den Wertorientierungen die Einstellungen gegenüber dem Militärischen verändert habe und - daß das Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft in Demokratien von einem latenten Spannungspotential geprägt sei. Der moralisch-ethischen Infragestellung von Kernwaffen wird entscheidende Bedeutung beigemessen. Es wird darauf hingewiesen, daß angesichts der Potenzierung von Zerstörungskapazitäten, ihrer zunehmenden Ausrichtung auf die Zivilbevölkerung und spätestens mit der nuklearen Vernichtungsdrohung das Führen von Krieg als nicht mehr im nationalen Interesse liegend angesehen werde.' 2 Vogt spricht von einer "prinzipiellen Legitimitäts51 5
'
Harries-Jenkins (1976), S. 51. Harries-Jenkins (1976), S. 56.
60
Vogt (1983b), S. 135, sieht die in der Bundesrepublik seit Beginn der achtziger Jahre einsetzende Infragestellung der sicherheitspolitischen Grundlinien zwar durch aktuelle Anlässe und Entwicklungen wie den NATO-Doppelbeschluß angestoßen, "ursächlich aber strukturell bedingt".
61
Die Abnahme von Bedrohungsgefiihlen im Zuge der Auflösung der Blockkonfrontation thematisieren ausführlich Vogt (1992) und H. Schneider (1990), S. 165.
42
Vgl. Janowitz (1976), S. 83.
35
krise der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte im Kernwaffenzeitalter" als einer "praktisch fortwährend gegebenen" strukturellen Krise, deren "Aktualisierung bzw. Wahrnehmung" je nach "situationsspezifischen Konstellationen oder sozialisationsbedingten Interpretationen" variiere.63 Er macht in Westeuropa und den USA einen moralischen Verfall der Anerkennungswürdigkeit einer auf atomare Abschreckung gestützten Sicherheitspolitik aus. Wichtige sinnstiftende Institutionen und legitimitätsproduzierende Moralbildungsinstanzen, darunter Kirchen, Schulen und Intellektuelle, zögen "Sicherheitspolitik und Streitkräfte, insbesondere soweit es die nuklearen Potentiale und Konzepte betrifft"64, ethisch und moralisch zunehmend in Zweifel. Militärische Vorkehrungen, die bis dahin fraglos hingenommen worden seien, würden als nicht mehr zumutbar begriffen, und alternative Konzepte fänden zunehmend Gehör. V. Bredow (1987) geht davon aus, daß sich durch die Richtung technologischer Entwicklung und durch strategische Modifikationen das Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs im Falle internationaler Krisen erhöht habe. Dies bedrohe in den westlichen Demokratien "die Legitimitätsgrundlagen für den Gebrauch von Atomwaffenpotentialen", "weil der defensive Charakter dieser Potentiale ifrimer schwieriger zu vermitteln" sei.65 Die Debatten in den Kirchen wertet er als Symptom dafür. Anhand von Umfrageergebnissen belegt er eine beträchtliche Zunahme von Ängsten vor einem Weltkrieg in sämtlichen EG-Mitgliedstaaten zu Beginn der achtziger Jahre.66 V. Bredow/Brocke erachten außerdem die Verquickung von Ängsten vor einem Atomkrieg mit Zukunftsängsten angesichts ökonomischer Krisenerscheinungen als maßgeblich für die Herausbildung von Friedensbewegungen und die Sympathien, die jene bei der Mehrheit der Bevölkerungen fanden. 67 Yost (1990) belegt, daß schon in den fünfziger Jahren deutliche Anzeichen eines Rückgangs gesellschaftlicher Unterstützung für die atomare Abschreckungspolitik in den westeuropäischen Gesellschaften und den Vereinigten Staaten erkennbar waren. Seit Mitte der siebziger Jahre
65
Vogt (1983b), S. 135.
64
Vogt (1983b), S. 114.
65
V. Bredow/Brocke (1987), S. 81. Zur Bandbreite der Diskussion in den Kirchen vgl. Spieker (1985). Waas (1985) gibt einen Überblick über die Diskussion um die moralisch-ethische Legitimität von Atomwaffen beginnend mit den vierziger Jahren und liefert eine umfangreiche kommentierte Bibliographie dazu.
66
Vgl. v. Bredow/Brocke (1987), S. 175. Kriegsängste führt auch Wasmuht (1987), S. 172 und S. 206, als wichtigste Schubfaktoren für die Entstehung der Friedensbewegungen in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten an.
67
V. Bredow/Brocke (1987), S. 174ff.
36
habe sich dies zu massenhaftem Legitimitätsentzug gesteigert und auch Teile der Eliten und Meinungsführer erfaßt.** Eine weitere strukturelle Bedingung für einen Legitimitätsverfall des Militärischen machen Militärsoziologinnen in einem Wandel der Wertorientierungen in den westlichen Industriegesellschaften aus. Sie beziehen sich dabei auf Ergebnisse der Einstellungsforschung zur "politischen Kultur" (also der Gesamtheit der Einstellungen und Überzeugungen zur politisch-gesellschaftlichen Realität in einer Gesellschaft) und auf die Diskussion um Krisenerscheinungen der "postindustriellen Gesellschaft"." Einen wichtigen Bezugspunkt bildet dabei die These Ingleharts (1977) von der "Stillen Revolution" in Europa, einem Wertewandel, den er in unterschiedlicher Stärke in allen "postindustriellen Gesellschaften" ausmacht, und von dem er am deutlichsten die am zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten geprägt sieht. Inglehart führt diesen Wandel auf die rapide und historisch beispiellose Entwicklung wirtschaftlichen Wohlstands zurück und brachte ihn in Verbindung mit dem Übergang von der unmittelbaren, von ökonomischer und physischer Unsicherheit betroffenen Kriegsgeneration zur nachfolgenden, von Kriegserlebnissen und Mangelsituation unbeeinflußten Generation, die unter Bedingungen des relativen Überflusses aufwuchs.7* Das Inglehart'sche Theorem unterscheidet zwei verschiedene Komplexe von Wertprioritäten in der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse: zum einen solche, die sich auf das physische Überleben bzw. die persönliche Sicherheit richten (stabile Wirtschaft, Wirtschaftswachstum, Kampf gegen Preissteigerung, Aufrechterhaltung der Ordnung, Verbrechensbekämpfung und starke Verteidigungskräfte) sowie zum anderen nicht-materielle Bedürfnisse (Ideen zählen mehr, weniger unpersönliche Gesellschaft, Redefreiheit, **
Yost (1990), S. 487ff. Die Bedeutung der Delegitimierung von Atomwaffen in Westeuropa beschreibt auch Pfaltzgraff (1985). Siehe auch verschiedene Länderstudien in Dougherty/Pfaltzgraff (1985). Darin wurde auch immer wieder auf die mit der Raketenstationierung verbundenen Kriegsängste verwiesen. Diese Bezeichnung benutzen eine Reihe von Analytikern zur Charakterisierung moderner Industriegesellschaften Nordamerikas und Westeuropas angesichts des enormen Wachstums des tertiären Sektors für die Beschäftigung und angesichts der damit einhergehenden ökonomischen Verlagerung von der Produktion auf den Konsum. Vgl. Inglehart (1977), (1979) und (1989); Raschke (1980a), (1980b) und (1985). Siehe auch die in Klages/Kmieciak (1979) sowie die in Klages u. a. (1992) dokumentierte Diskussion. Zum aktuellen Stand der Debatte und ihren Perspektiven siehe Klages (1992). V. Bredow/Brocke (1987), S. 30-55, überprüfen verschiedene Theoreme zur postindustriellen Gesellschaft, welche die gesellschaftlichen Produktivkräfte als Basis des soziokulturellen Wandels und Wissenschaft und Technik als hauptsächliche Produktivitätsfaktoren seit dem zweitem Weltkrieg begriffen (u. a. Galbraith, Touraine, Habermas) auf ihren Erklärungswert für die Entstehung der Friedensbewegungen in Westeuropa hin.
7
®
Vgl. Inglehart (1979), S. 279f. Die Annahme von einem Wandel der Wertvorstellungen stützt sich im wesentlichen auf eine Mangelhypothese, nach der Menschen jene Dinge subjektiv am höchsten schätzen, die in ihrer sozioökonomischen Umwelt verhältnismäßig knapp sind.
37
mehr Mitsprache in der Regierung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz).71 Dieser Einteilung zufolge geht die Unterstützung des Militärischen .mit einem Interesse an innerer Sicherheit und an ökonomischem Wohlstand einher und prägt vor allem "Materialisten", während militärferne Orientierungen mit einem stärkeren Interesse an ideellen Werten und politisch-gesellschaftlicher Partizipation einhergehen und die "Postmaterialisten" auszeichnen.72 Postmaterialisten und ihre Anhänger sieht Inglehart am stärksten in der Generation der 16-29jährigen, aber auch noch deutlich erhöht in der Generation der 30-39jährigen, und am stärksten unter den höher Gebildeten vertreten.7* Die Postmaterialisten charakterisiert er als gesellschaftlicher Veränderung gegenüber relativ aufgeschlossen, offen für ausgefallene politische Aktionsformen und eher links orientiert; insbesondere bei den Mittelklassen habe die Bereitschaft zur Unterstützung der Linken zugenommen. Auch die Entstehung der an Selbstverwirklichung und immaterieller Lebensqualität orientierten gesellschaftlichen Protestbewegungen mit ihren Forderungen nach einseitiger Abrüstung, Umweltschutz, weiblicher Emanzipation und alternativen Lebensweisen bringt Inglehart mit diesem Wertwandel in Zusammenhang.74 Zwar repräsentierten Materialisten in den westlichen Industriegesellschaften die deutliche Mehrheit, Postmaterialisten aber eine Minderheit mit ansteigender Tendenz, die sich vor allem während der achtziger Jahre verstärkte.75 Auch die abnehmende Akzeptanz des Militärischen in zahlreichen Gesellschaften der NATO-Mitgliedsländer erklärt Inglehart mit einer stärker an der Achtung der Menschenrechte und an ökologischen Gesichtspunkten orientierten, hedonistischen Weltsicht, die sich in unterschiedlicher Stärke ausgeprägt habe. Sie werde von Ablehnung gegenüber militärischer Gewaltanwendung, Militärdienst, Nuklearenergie und atomarer Bewaffnung sowie von der Abnahme traditioneller Feindbilder begleitet.76 71
Vgl. Inglehart (1989), S. 184.
72
Bereits in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, so verdeutlicht Inglehart (1979) anhand einer von der EG-Kommission 1973 in Auftrag gegebenen Befragung, hätten sich in den Einstellungen der Bevölkerungen der EG-Mitgliedstaaten die Prioritäten auf "postmaterielle" Werte verlagert. In seinen 1989 veröffentlichten Ausfuhrungen über den "Kulturellen Umbruch", S. 184, bekräftigt Inglehart erneut ausdrücklich die Zulässigkeit der Einteilung in materielle und postmaterielle Werte als Triebkräfte menschlicher Motivation.
73
Vgl. Inglehart (1979), S. 296f, und (1989), S. 103. Unter den 15-24jährigen hatte er 1970 in Großbritannien, Frankreich, der BRD, Italien, Belgien und den Niederlanden bereits mehr Postmaterialisten als Materialisten ausgemacht.
74
Vgl. dazu Inglehart (1989), S. 461ff.
75
Vgl. Inglehart (1979), S. 295.
74
Vgl. Inglehart (1984).
38
Ähnlich konstatiert Raschke zunächst bezogen auf die Bundesrepublik einen "politischen Paradigmenwechsel"77: einen Wandel in der allgemein vorherrschenden Meinung darüber, was als primäre Aufgabe von Politik zu gelten habe. Raschke faßte darunter die Ablösung eines in erster Linie an unbegrenztem Wirtschaftswachstum und staatlich gewährleisteter Interessen-Ausbalancierung orientierten "Verteilungsparadigmas" durch ein "Lebensweise-Paradigma", das sich an Lebensqualität, ökonomischer Wachstumsbegrenzung, ökologischer Sicherheit und Verantwortung für zukünftige Lebensbedingungen orientiere.7* Die Krise gehe mit einer strukturell bedingten "Staats-" und "Parteienverdrossenheit" und mit der Herausbildung eines neuen Typs sozialer Bewegungen in den westlichen Industriegesellschaften einher.7* Die Erklärungen für diese Bewegungen knüpfen an Postindustrialismus-Theorien (Touraine, Block/Hirschhorn, Melucci, Gorz) an und lassen Bezüge zu den Ausführungen von Habermas*® erkennen. Eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur "politischen Kultur"*1 werteten die Entstehung von Protestpotentialen in den siebziger und achtziger Jahren als Ausdruck umfassender Kapitalismus-, Wachstumsund Konsumkritik*2 wie auch als Reaktion auf sich zuspitzende ökologische Gefährdungen.*3 Manche deuten auf eine allgemeine Kulturkrise*4 und das "Unbehagen in der Modernität".85 In der Debatte um die Entstehung des Protests gegen die NATO-Nachrüstung wurde Ablehnung gegenüber dem Militärischen auch als Charakteristikum von Ländern mit starker protestantischer Tradition beschrieben, wohingegen katholisch geprägte Gesellschaften als unempfänglich für solche Wertorientierungen betrachtet wurden.** 77
Vgl. dazu ausführlich Raschke (1980a) und (1980b).
7
Vgl. Raschke (1980a), S. 37ff.
*
n
Vgl. dazu Raschke (1988), S. 76.
*® Habermas (1988b), S. 576ff, beschreibt die Protestbewegungen als Ausdruck neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien, die sich nicht mehr an Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Lebensformen (Lebensqualität, Gleichberechtigung, individuelle Selbstverwirklichung, Partizipation und Menschenrechte) festmachten: Konfliktlinien, zwischen dem Zentrum der in den Produktionsprozeß eingebundenen Schichten auf der einen Seite und einer Peripherie jenseits davon angesiedelter Schichten, die stärker für die selbstzerstörerischen Tendenzen des Systems sensibilisiert seien und Wachstumskritik übten. u
Eine ausführliche Diskussion dieser Ansätze zur Analyse sozialer Bewegungen, darunter ein umfassender schematischer Vorschlag zur Systematisierung, findet sich bei Wasmuht (1987), S. 33ff.
M
Vgl. etwa F. Hirsch (1977).
M
Vgl. etwa Guggenberger (1980), S. 275. Siehe dazu auch Gorz (1980).
84
Vgl. etwa Löwenthal (1979).
15
Vgl. etwa Berger u. a. (1987). Sie sehen die Protestbewegungen als gegen Modernisierung gerichtet und als eine den modernen Gesellschaften latent innewohnende Erscheinung, die sich zyklisch manifestiere.
**
Eine Darstellung dieser Debatte und eine kritische Auseinandersetzung damit liefert Reuband (1987).
39
Forschungsdefizite bestehen weiterhin vor allem hinsichtlich der Frage der gesellschaftlichen Bedeutung von Friedensbewegungen und allgemein im Hinblick auf den Zusammenhang von sozialen Bewegungen und gesellschaftlichem Wandel.87 Über die Brauchbarkeit der von der Forschung über "politische Kultur" angebotenen Ansätze wurde unter Militärsoziologinnen kontrovers diskutiert. Insbesondere dem Ansatz von Inglehart wurden in theoretischer und methodologischer Hinsicht wie auch im Hinblick auf die Interpretation der Ergebnisse Schwächen vorgeworfen88, aber auch Stärken bescheinigt. 8 ' Über den Erklärungswert bezogen auf Akzeptanzverluste gegenüber dem Militärischen besteht unter Militärsoziologinnen Dissens. Vogt (1983) benutzt die Typisierung Ingleharts ohne Einschränkung.90 Ruth Meyer Schweizer und Hans Jörg Schweizer-Meyer hingegen plädieren dafür, den Ansatz als "unwissenschaftlich" fallen zu lassen, boten allerdings keine alternativen Erklärungsansätze. 91 Kohr (1990) stellt fest, in Ingleharts Arbeiten werde die Stärke der Beschreibung durch theoretische Erklärungsansätze eingeschränkt, welche die komplizierte Interaktion zwischen "objektiv" existierenden gesellschaftlichen und politischen Problemen (z. B. Mangel an materiellen Ressourcen, Existenz von Atomwaffen, ökologische Katastrophen), die Reaktionen von Politik, Medien und Öffentlichkeit auf diese Probleme sowie den Einfluß auf das individuelle Bewußtsein zu wenig konzeptualisierten.92 Kohr (1990) verknüpft Ansätze aus der Forschung zur "politischen Kultur" und Sozialpsychologie. Er nimmt mit den Stichworten "profitism" und "social ecologism" wiederum eine Zweiteilung gegensätzlicher paradigmatischer Wertesysteme vor und ordnet die vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Werte entlang der bereits von Inglehart und Raschke gebildeten Gegensatzpaare. 93 Mit dem eher status-quo orientierten "profitism-paradigm" faßt er Bedürfnisse, die eine relativ hohe Akzeptanz des Militärischen mit sich bringen. Die an diesem Paradigma orientierte Gruppe befür87
Vgl. dazu Raschke (1988), S. 409.
88
Zur Kritik an Inglehart vgl. etwa Lehner (1979) und v. Bredow/Brocke (1987), S. 43f.
89
Vgl. Raschke (1988), S. 155.
90
Vgl. etwa Vogt (1983b), S. 130.
91
Vgl. Meyer Schweizer/Schweizer-Meyer (1990).
92
Vgl. Kohr (1990), S. 12. Nach diesen ordnet Kohr theoretische Konzeptionen, allgemeine politisch-gesellschaftliche und sicherheitspolitische "Issues". Unter dem "social ecologisnT-Paradigma faßt er sowohl Ingleharts "Post-Materialismus", Raschkes "Lebensweiseparadigma", Kohlbergs "Post-conventional Sociomoral Reasoning" als auch Ulrich Becks Theorem von der "Risikogesellschaft".
40
wortete starke Streitkräfte mit hoher Angriffskapazität, militärische Überlegenheit, moderne Rüstung sowie atomare Bewaffnung und kultiviere Feindbilder. Auch der Militärdienst werde von ihr grundsätzlich akzeptiert und, wenngleich ohne übermäßige Begeisterung, erfüllt. Die Einstellungen gegenüber der Friedensbewegung schwankten zwischen Indifferenz und Akzeptanz. Die unter "social ecologism" subsumierte gesellschaftliche Strömung dagegen möchte Kohr zufolge die Aufgabe der Streitkräfte eher auf die unmittelbare Landesverteidigung und defensive Funktionen beschränken, sei am Prinzip der "Gemeinsamen Sicherheit" orientiert, befürworte einseitige Abrüstungsschritte und die radikale Abschaffung von Atomwaffen. Feindbilder spielten bei dieser Gruppe eine weitaus geringere Rolle. Sie tendiere zur Ablehnung von Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung und zur Akzeptanz oder sogar Identifikation mit der Friedensbewegung.94 Das Wertesystem der "social ecologists" ist Kohr zufolge von gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen aus der Tradition der Aufklärung geprägt.'5 Diese Wertegemeinschaft lege großen Wert auf Konfliktlösung durch Verständigung, auf freie gesellschaftliche Übereinkünfte, demokratische Partizipation und Formen direkter Demokratie. Sie unterstütze die Aktionen sozialer Bewegungen, insbesondere der Friedensbewegungen, und engagiere sich für die Rechte gesellschaftlicher Minderheiten. Die Ansätze Ingleharts, Raschkes und auch die Synthese Kohrs liefern zwar alle keine zuverlässige Bestimmung der neuen Wertprioritäten, politischen Paradigmen oder status-quo-kritischen Einstellungen und Bewegungen in den westeuropäischen Gesellschaften. Die Ansätze beschreiben aber übereinstimmend und zutreffend, daß die Wertorientierungen einer Veränderung unterworfen waren. Man ist sich einig darüber, daß militäraffine Werte wie Ordnung, Disziplin, Patriotismus ebenso wie traditionelle religiöse Orientierungen während der siebziger und achtziger Jahre abgenommen haben, daß ein Teil der Bevölkerungen sich in Einstellungen und Verhalten stärker an militärfernen Werten wie Chancengleichheit, Individualität, Selbstbestimmung, Humanität, Toleranz und Freiheit orientiert.94 Weiterhin ist unter Militärsoziologinnen unstrittig, daß diese Entwicklung die 94
Vgl. Kohr (1990), S. 17f.
95
Dazu zählt Kohr die Orientierung am Prinzip der Gleichheit aller Menschen und ihres Rechts auf gerechte Verteilung von Ressourcen, der Achtung vor dem menschlichen Leben und der Freiheit als eines der höchsten Güter. "Social ecologists" neigten der Überzeugung zu, daß die Menschheit einen Ausgleich mit der Natur suchen müsse und daß die Entwicklungsländer von den wohlhabenden Nationen unterstützt werden müßten.
94
H. Schneider (1990), S. 165, spricht sogar von einem "tendenziell pazifistischen Kulturwandel".
41
zivil-militärischen Beziehungen determiniert.*7 Das Problem wurde unter anderem auch auf Konferenzen der "European Research Group on Military and Society" (ERGOMAS) ausgiebig erörtert. So betonten etwa Meyer Schweizer und Schweizer-Meyer, ein "grundlegender Wertewandel" wirke sich zunehmend auf die Wahrnehmung von Sicherheits- und Militärpolitik aus und führe zu "schweren Legitimitätsproblemen".*8 Der stärkste Schub habe sich in den siebziger Jahren ereignet, und in den achtziger Jahren habe dieser Wandel verstärkt Überzeugungen, Haltungen, innere Normen, Handlungsabsichten und konkretes Verhalten geprägt. Weiterhin erklären Militärsoziologinnen die Legitimitätskrise des Militärischen mit dem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zwischen Militär und Gesellschaft, das in demokratisch verfaßten Industriegesellschaften strukturell gegeben sei. So stellt Van Doorn beispielsweise fest, demokratische Gesellschaften seien im Falle militärisch ausgetragener Konflikte besonders schwer davon zu überzeugen, daß die häufig gegen den Widerstand von Zivilbevölkerungen angewandten "harten Methoden" des Militärs gerechtfertigt seien." Aber das Verhältnis von Militär und demokratischer Gesellschaft sei auch in Zeiten des Nicht-Kriegs als gespannt zu betrachten: Paradoxerweise, so Van Doorn, operierten die Streitkräfte in einem "Grenzbereich, in dem das demokratische System um seiner Selbsterhaltung willen undemokratisch wird".100 Weil die für Armeen typischen autoritären Verfahren und Werthaltungen mit dem Anspruch der Demokratie unvereinbar seien, werde seitens der Gesellschaft die Erwartung an die Armee gerichtet, daß sie sich in ihren Verfahren an den Prinzipien von Demokratisierung ("civilianization, democratization, unionis[!]ation and even politicization"101) ausrichte. Auch Teile der bundesdeutschen Militärsoziologie nahmen das Inkompatibilitäts-Theorem102 auf. Vogt sieht die zivil-militärischen Beziehungen von Vgl. etwa die Diskussion am sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, darunter die Arbeiten von Kohr (1991); Kohr (1992); Kohr/Lippert (1990); Kohr u. a. (1991); Seifert (1992); Räder (1992); Vogt (1983b). 98
Meyer Schweizer/Schweizer-Meyer (1990), S. 1.
"
Van Doorn (1976), S. 33. Er formuliert dies unter dem Eindruck der Legitimationsschwierigkeiten der US-Streitkräfte im Vietnam-Krieg. Zur Delegitimierung in der Folge des Korea- und Vietnamkriegs siehe auch Smith (1971).
100
Van Doorn (1976), S. 30.
101
Van Doorn (1976), S. 29.
102
Die Debatte um die Vereinbarkeit von Militär und Krieg mit moderner industrieller und demokratischer Gesellschaft knüpfte an den Überlegungen an, die Theoretiker im Zeitalter der Aufklärung (Saint-Simon, Comte, Smith) entwickelten und die im 19. und frühen 20. Jahrhundert (Spencer, Schumpeter) fortgeführt wurden. Einen Einblick in die Diskussion gibt Wachtier (1983). Vgl. v. a. die Einleitung des Herausgebers. Eine Systematisierung findet sich bei Bickenbach (1985), S. 16ff. Einen Über-
42
"struktureller Inkompatibilität" gekennzeichnet. Er bezeichnet damit die "Widersprüche, die sich aus den gegensätzlichen Strukturen und Organisationselementen von Militär und demokratisch organisierter Industriegesellschaft ergeben"103, also die Unvereinbarkeit von Prinzipien wie Machtzentralisierung, Befehlsgehorsam, Ranghierarchie und Rollenidentifikationen mit demokratischen Prinzipien der Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Machtdezentralisierung und Kontrolle.104 Vogt konstatiert außerdem einen Gegensatz zwischen dem Werte- und Normengefüge der zivilen demokratischen Gesellschaft und demjenigen der Militärorganisation, den er als "normative Inkompatibilität" bezeichnet. Der Soldat gerate mit der Ausrichtung auf den Ernstfall, das Töten und Getötetwerden, in Widerspruch zu einem der zentralen Werte zivilisierter Gesellschaften. In der Übertretung des zivilen Tötungstabus105 durch das Militär manifestiert sich demnach der brisanteste Zwiespalt zwischen zivilen und militärischen Verhaltensmustern. Vogt geht davon aus, daß sich die Distanz zwischen Militär und Gesellschaft zu einer Dauerkrise ausgestalten werde.10® Militärsoziologen benannten zwar prinzipielle Unvereinbarkeiten von Militär und ziviler industrieller und demokratischer Gesellschaft, suchten aber dennoch nach Möglichkeiten der Harmonisierung. So wurde festgestellt, daß der technisch-industrielle Fortschritt mit der Etablierung von Massenvernichtungswaffen die Führung von Krieg zwischen Industriestaaten zwar "ad absurdum" geführt habe, daß Militär und Gesellschaft aber "allen Widersprüchen zum Trotz unter gegebenen Umständen aufeinander angewiesen" seien und damit die Schwierigkeit bestehe, das "Unvereinbare zu vereinbaren".107 Van Doorn (1976) stützt sich auf ein Theorem von Eckstein, demzufolge sich Demokratien nur dann als stabil erweisen, wenn gesellschaftliche Subsysteme in ihren Autoritätsbegriffen und Funktionsbedingungen mit dem übergeordenten Regierungsmodell kongruent verlaufen. In diesem Sinne, blick über die Diskussion seit den sechziger Jahren gibt Shaw (1989). Eine ausführliche Entfaltung des Unvereinbarkeitstheorems in seiner Vereinnahmung durch verschiedene Strömungen unternimmt Vogt (1980). Vgl. als wichtigste Argumentationen der neueren Diskussion vgl. v. Friedeburg (1966); Aron (1966); Vogt (1978), (1980), (1983a) und (1986b). Vgl. auch Albrecht (1975), S. 166; Albrecht (1987a), S. 35; Kaldor (1983), S. 422; Krippendorff (1993), Einleitung, S. 19. 103
Vogt (1980), S. 51.
104
Vgl. Vogt (1980), S. 52f.
105
Vgl. dazu die Ausführungen von Elias (1976) über den Zivilisationsprozeß. Die zivilisatorische Pazifizierung gerät in Konflikt mit der physischen Gewalt, die im Verlaufe des Zivilisationsprozesses durch den Staat monopolisiert wurde und damit gleichzeitig die Steigerung von Gewaltpotentialen ermöglichte, und das macht die "Gespaltenheit" der Zivilisation aus.
104
Vogt (1980), S. 68.
197
Vogt (1980), S. 47.
43
so Van Doorn, seien in verschiedenen westeuropäischen Ländern Tendenzen zu beobachten, die Legitimitätskrise des Militärs dadurch zu bewältigen, daß man es in seinen internen Strukturen so weit wie möglich der zivilen Gesellschaft anzupassen versuche.108 Entsprechend beschreibt Zoll das Konzept der "Inneren Führung" der Bundeswehr als "Legitimationskonzept".1*9
Die streitkräfteinterne Dimension der Legitimitätskrise
Das Konzept der atomaren Abschreckung, so stellt Van Doorn fest, führe auch zu innermilitärischen Legitimationsproblemen: Je unwahrscheinlicher größere kriegerische Konflikte würden, desto schwerer falle es den Soldaten und der militärischen Kultur, den Glauben an ihre Fähigkeiten und Effizienz aufrechtzuerhalten, so daß ihnen die "Beteiligung an gefährlichen und unpopulären Konflikten attraktiv erscheinen kann".11'1 Zusätzlich wirkt sich der Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung auf das Selbstverständnis von Militärangehörigen aus. Van Doorn zufolge können sich gerade Wehrpflichtarmeen nicht gegenüber Akzeptanzverlusten in der sie umgebenden Gesellschaft abschotten, sondern bekommen diese unweigerlich zu spüren: Die Wehrpflicht sei ein Einfallstor für externe Einflüsse.111 Auch bundesdeutsche Militärsoziologinnen beschreiben, daß unzureichende gesellschaftlicher Anerkennung, Protest- und Verweigerungsverhalten sowie Unlust von wehrdienstleistenden Rekruten Motivationsprobleme unter Längerdienenden und Berufsoffizieren hervorrufen.112 Einige Autoren weisen darauf hin, daß Militärangehörige auf abnehmendes Sozialprestige und Akzeptanzverlust mit Abkapselung reagieren und um der kollektiven Sinnstiftung willen verstärkt auf vergangene, in der Gesellschaft in Rückbildung begriffenen Werte und Vorbilder zurückgreifen.1" Diese Reaktionen des Militärs können militärsoziologischen Erkenntnissen zufolge 108
Van Doorn (1976), S. 29, bezieht sich dabei auf ein Theorem von Eckstein (1966), S. 225ff.
109
Vgl. ZoU (1978), S. 27.
110
Van Doorn (1976), S. 34.
111
Vgl. Van Doorn (1976), S. 29.
i a
Klein (1983) machte unter Berufs- und Zeitsoldaten der deutschen Bundeswehr eine "Identifikationsund Motivationskrise" aus. Rückwirkungen veränderter Legitimitätsüberzeugungen auf militärisches Selbstverständnis veranschaulicht auch die von Seifert (1993b) vorgelegte Studie über soldatische Subjektiviät unter Bedingungen des Wertewandels. Vgl. dort insbesondere S. 57ff und S. 238ff. Wiesendahl (1980), S. 113, beschreibt die innermilitärische Dimension der Legitimitätskrise als ein "komplexes Phänomen" des "wachsenden Rechtfertigungsunvermögens militärischer Ordnung" infolge mangelnder gesellschaftlicher Einbettung der "ideologisch-sinnhaften Motivationsgründe".
1U
Vgl. Wiesendahl (1980), S. 104ff; Vogt (1983b), S. 132f. Siehe dazu auch Vogt (1986) und Vogt (1990).
44
dazu beitragen, daß sich die zivil-militärischen Beziehungen regelrecht konfrontativ gestalten. Wiesendahl (1980) zufolge verursachen den Streitkräften innewohnende restaurative Abschottungstendenzen einen Teufelskreis der militärischen Legitimationskrise".114 Der doktrinäre Geist militärischer "Subkultur" weigere sich, den umfassenden Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Glaubenssysteme anzuerkennen, und neige dazu, die von der Gesellschaft als inkompatibel empfundenen militärischen Werthaltungen und Tugenden um so stärker zu betonen. Speziell Angehörige des Offizierskorps pflegten ein Selbstverständnis "im Sinne traditioneller und vorindustrieller professioneller Identitätsgewinnung", beharrten auf überkommenen, elitären Tugendvorstellungen und erwarteten von der Gesellschaft, daß sie sich ebenfalls nach diesen Werthaltungen und Ordnungsvorstellungen ausrichte. Vom eigenen Weltbild abweichende Tendenzen würden jenseits wie innerhalb der militärischen Lebenswelt abzuwehren versucht. Mit diesem Denken und Verhalten, so wird befürchtet, erscheine die militärische "Subkultur" der Gesellschaft erst recht als unvereinbar mit den eigenen Werten und Verhaltenserwartungen, so daß sich die Legitimitätskrise zuspitze. Außerdem, so die These Wiesendahls, gerieten Bemühungen zur rückwärtsgewandten Ideologisierung auch innerhalb der eigenen Institution mit anderen Strömungen in Konflikt und verschärften so wiederum die interne Legitimitätskrise.115 Rückwärtsgewandte militärische "Subkulturen" tragen demnach in mehrfacher Hinsicht dazu bei, die Funktionsfähigkeit der Armee zu beeinträchtigen. Vogt stellt fest, militärische Eliten reagierten beleidigt, artikulierten einen "hohen, uneinlösbaren Legitimitätsanspruch und ein überhöhtes Geltungsbedürfnis" und zögen sich in die "Nestwärme" des militärischen Ghettos zurück. Daraus entwickele sich eine "Lagermentalität", die Militärorganisationen und ihre Angehörigen noch weiter in die - teilweise sogar bewußt von ihnen geschaffene - gesellschaftliche Isolation hineintreibe. Die beharrliche Pflege "militärisch-subkultureller Wertorientierungen und Normenüberzeugungen" führe zu einer immer selektiveren Realitätswahrnehmung und einseitigeren Wirklichkeitskonstruktion. Dies werde durch die Strukturen und Funktionsbedingungen der technokratischen Militärbürokratie, die eine Anpassung der Streitkräfte an gesellschaftliche Veränderungen verhinderten, begünstigt. In "elitär-konservativ-introvertierter Sichtund Denkweise" tendierten militärische Eliten zur Glorifizierung des Über114
Wiesendahl (1980), S. 117.
115
Vgl. Wiesendahl (1980), S. 96.
45
kommenen und seien unfähig, neue Entwicklungen zu verarbeiten. Mit veralteten Funktionsannahmen und Denkschemata werde die Armee gegen Kritik immunisiert und als ein "überzeitliches Sanktuarium'' abgebildet.11' Weil sie keine Angebote machten, wie die von der Gesellschaft als relevant empfundenen Probleme bewältigt werden sollen, beschleunigten die militärischen Eliten ungewollt den Legitimitätsverfall. Die militärische "Werte-" bzw. "Subkultur", der als Instrument zur "Integration und ideologischen Formierung funktional auseinanderstrebender Berufsorientierungen" und zur "kollektiven Sinngebung (...) des Offizierskorps auch in Beziehung zur gesellschaftlichen Umwelt" Bedeutung zukomme, bildet Wiesendahl zufolge ein "Beharrungselement".117 Die Wert- und Orientierungssysteme militärischer "Subkultur" erwiesen sich als "durchweg illiberal und mit demokratischen Wertvorstellungen unverträglich".11* Die zunehmende "Kluft zwischen im Zivilleben expandierenden liberal-demokratischen und herrschafts- wie elitenkritischen Orientierungsmustern einerseits und gleichsam wandlungsunfähigen militärisch kollektiven Fremdbestimmungs- und Unterordnungswerten andererseits" könne in einer "diffusen zivil-militärischen Entfremdungskrise kulminieren".11' In der spanischen Militärsoziologie wurden Legitimitätsprobleme des Militärischen nicht so breit diskutiert wie in der angelsächsischen und deutschen Debatte, jedoch lassen sich einige Ansätze hervorheben. So wurde die These von den Anpassungsschwierigkeiten des Militärs an sozialen Wandel und Veränderungen im gesellschaftlichen Wertesystem von dem spanischen Militärsoziologen Martinez Paricio aus institutionensoziologischer Perspektive zugespitzt. Er kommt zu der Einschätzung, daß sich das Wertesystem der Institution Militär, verglichen mit anderen sozialen Systemen, aus sich selbst heraus kaum zu wandeln vermag. In Anlehnung an Janowitz macht er unter Militärangehörigen verschiedene Mentalitäten124 aus, die verschiedenen Typen von Soldaten (Heldensoldaten, Technokraten und Managern) entsprechen. Er weist einschränkend darauf hin, daß sich Überzeugungen von Militärangehörigen viel stärker in emotionalen Verar114
Vogt (1990), S. 146.
117
Wiesendahl (1980), S. 108. Die militärische "Subkultur" integriere militärisches Sozialleben angesichts der fortgeschrittenen technisch-organisatorischen Spezialisierung und Ausdifferenzierung; sie bilde eine "alle speziellen Funktionsrollen übergreifende und umfassende Klammer einheitlicher und geschlossener professioneller Wertorientierung und Sinnvermittlung" und sichere die innermilitärische Herrschaftsordnung und Befehlshierarchie.
118
Wiesendahl (1980), S. 112.
119
Wiesendahl (1980), S. 113.
120
Vgl. Martinez Paricio (1983b), S. 124ff, und (1983a), anknüpfend an Typisierungen von Janowitz (1964), S. 67ff.
46
beitungen als in rationalen Denkweisen konstituieren, was nicht nur unberechenbare Reaktionsweisen mit sich bringt, sondern auch eine eindeutige Bestimmung ihrer Weltsicht erschwere. Martinez Paricio zufolge existiert eine übergeordnete, die militärische Organisation insgesamt verbindende und überwölbende "militärische Mentalität", die eine gewisse Homogenität hervorbringt. Ein Bündel von Merkmalen präge ungeachtet biographischer Unterschiede die Mehrheit von Militärangehörigen: Sie benähmen sich rigide gegenüber kulturell Ungleichem, Fremdem und wiesen alles zurück, was Heterogenität bedeute. Ihre spezifische Sozialisation - der nahtlose Übergang von der (häufig bereits militärisch vorgeprägten) väterlichen Autorität in die sichere Autorität der "totalen Institution"121 - führe zur Ausbildung einer "ethnozentristischen Persönlichkeit".122 Kasernierung und Ausbildung in Militärakademien ermöglichten eine Geborgenheit der Gleichgesinnten, in der sich Zweifel und Verunsicherungen bewältigen lassen. Im militärischen Herrschaftsgefüge werde "Wahrheit" verabreicht oder zumindest der Weg aufgezeigt, wie man zu ihr gelangt. Die militärische Laufbahn werde zu einer Art klösterlichem Rückzug, mit dem sich Militärangehörige vor den Werten und Verhaltensweisen einer Gesellschaft in Sicherheit bringen, die sie ablehnen.123 Während sich Mentalitäten und Ideologien im allgemeinen in konfliktiven Auseinandersetzungen von Interessengruppen herausbilden und analog zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen wandeln, so gilt dasselbe Martinez Paricio zufolge in weitaus geringerem Maße für die Mentalität von Militärangehörigen. Ihre Wertorientierungen und Einstellungen verbleiben abseits der grundlegenden, von der Gesellschaft vollzogenen Transformationen: "Die Zeit ist eine Variable, die in der Institution Militär nicht existiert."124 Der spanische Militärsoziologe Busquets weist darauf hin, daß in Armeen der Konservatismus grundsätzlich stärker ausgebildet sei, als in der sie umgebenden zivilen Gesellschaft. Der militärische Alltag begünstige eine Potenzierung autoritärer Verhaltensmuster und die Kultivierung von m
Vgl. dazu ausführlich Martinez Paricio (1983b), S. 133.
122
Martinez Paricio (1983b), S. 126, entwickelt sein Konzept in Modifizierung des von Adorno beschriebenen "autoritären Charakters".
123
Vgl. Martinez Paricio (1983b), S.128f.
124
Martinez Paricio (1983b), S. 124f. Diese These ist nicht im strikten Sinne, sondern in Relation zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen zu verstehen. Sie besagt nicht, daß sich ausnahmslos alle Militärangehörigen jeglichem Einstellungswandel verschließen. Es gibt Martinez Paricio zufolge auch für gesellschaftlichen Weltewandel offenere Soldaten. Veränderungen in der Mentalität der ethnozentristisch Ausgerichteten seien jedoch allenfalls über Anordnungen der Vorgesetzten bzw. über Vorbilder starker Autoritäten innerhalb der Institution zu erwarten.
47
"Werten, die im allgemeinen mit konservativen Ideologien zusammenfallen". Die Abrichtung auf den Krieg, zum Töten und Sterben sei "nur möglich mit Hilfe von Schwarz-Weiß-Entwürfen ohne Schattierungen", welche die Menschen in Gute und Böse, in Freunde und Feinde einteilen. Auch in Friedenszeiten bestimmten Konzepte wie Hierarchie, Härte, Autorität, Ordnung, Ehre, Mut, Vaterlandsliebe, Disziplin das militärische Leben. Da diese Werte insbesondere von der politischen Rechten gepflegt werden und da Werte wie Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der militärischen Organisation nicht entfaltet werden können, tendiere die Ideologie des Militärs zur Übereinstimmung mit derjenigen der Rechten.125 Den militärsoziologischen Überlegungen über die Reaktionen von Militärangehörigen auf gesellschaftliche Wirklichkeit zufolge läßt sich vermuten, daß Militärorganisationen nicht in der Lage sind, aus sich selbst heraus Legitimitätsprobleme "erfolgreich" im Sinne der Herstellung gesellschaftlicher Anerkennung und ihres eigenen effizienten Funktionierens zu bearbeiten. 2.2.3. Probleme der militärsoziologischen Verwendung des Legitimitätskonzepts i
Die Diskussion um den Legitimitätsbedarf des Militärs weist verschiedene Probleme und Schwachstellen auf: Die Operationalisierung des Legitimitätsbegriffs für eine empirische Untersuchung wurde von der Militärsoziologie nur unzureichend geleistet. Es wurden keine klaren Kriterien für das Vorhandensein einer Legitimitäts/crise von Militär und Sicherheitspolitik festgelegt, und es blieb unklar, ob diese als dialektischer Prozeß oder im Sinne der Bestandsgefährdung von Militärapparaten zu begreifen sei.124 Die frühen Ansätze hatten die Kriterien, an denen eine Krise festzumachen wäre, erst gar nicht klar benannt.127 Aber auch die neuere bundesdeutsche Debatte der achtziger Jahre konnte den Begriff nicht in einer für die empirische Forschung brauchbaren Weise operationalisieren. Zoll kommt zu dem Schluß, daß kein das Militär als gesellschaftliches Subsystem insgesamt betreffendes Urteil abgegeben werden könne12®, und macht als Merkmale für eine Legitimitätskrise zunehmende 125
Busquets (1989), S. 18.
124
Habermas (1973), S. 11, etwa weist darauf hin, daß ein schlicht systemtheoretisch gefaßter Begriff der Krise mit der Schwierigkeit behaftet sei, "die Grenzen und den Bestand sozialer Systeme (...) eindeutig zu bestimmen".
127
Das gilt für sämtliche in Harries-Jenkins/Van Doorn (1976) enthaltene Beiträge, die sich dieses Konzepts bedienen.
128
Zoll (1978), S. 44, vertritt die Einschätzung, daß "Aussagen über Legitimationskrisen, soweit nicht absolute Indikatoren zur Verfügung stehen, stets den Vergleich mit anderen Bereichen erfordern". Er
48
Rekrutierungsprobleme, also Störungen der Reproduktion aus. Vogt nannte als Kriterium für die Krise einen "dramatischen, d. h., weit über das übliche und als normal angesehene Maß hinaus innerhalb eines kurzen Zeitabschnitts" eintretenden Verfall von Anerkennungswürdigkeit bzw. Anerkennungsbereitschaft durch die Öffentlichkeit.1* Aber auch er konnte den Stellenwert der speziellen, das Militärische betreffenden Aspekte in der Systemkrise nicht überzeugend verdeutlichen.13* Der Hinweis, daß "die These von der Legitimitätskrise staatlicher Instanzen zwar schnell (...) behauptet, aber im Detail schwer überprüfbar und nachweisbar" sei, und daß man mit Rücksicht auf wissenschaftliche Präzision vermeiden sollte, "jede Abweichung vom Normalen zur Systemkrise" hochzustilisierenm, kann also weiterhin Gültigkeit beanspruchen. Auch wurde die Frage, wie man von der Feststellung von Akzeptanzdefiziten zur Untersuchung der Legitimitätsproblematik gelangt, von der Militärsoziologie nicht verbindlich geklärt. Ferner sind Zweifel an der von militärsoziologischen Legitimitätsuntersuchungen implizierten Funktion von Öffentlichkeit angebracht. Deren aktive Beteiligung an der Gestaltung von Militär und Sicherheitspolitik wurde zur Voraussetzung von deren Legitimität erklärt. Öffentlichkeit erscheint dabei nicht nur als eine unterstützende Kraft, sondern gleichzeitig auch als eine Art Kontrollinstanz, vor der sich Militärapparate gewissermaßen zu verantworten haben und die ihnen ihre Schranken aufzeigt. Es wird unterstellt, öffentliche Unterstützung garantiere, daß sich der Militärapparat im Sinne eines wie auch immer definierten Gemeinwohls ausrichte. Dabei wird, ähnlich wie in den Kontrollmodellen der liberalen Kritik am "militärisch-industriellen Komplex", die zunehmende Verflechtung von ziviler und militärischer Sphäre unberücksichtigt gelassen und ein Öffentlichkeitskonzept zugrundegelegt, das der Theorie und Realität des klassischen Begriffs von Öffentlichkeit entspricht.132 Davon jedoch unterscheidet sich betont, daß bei Aussagen über die Existenz einer Legitimitätskrise verschiedene Betrachtungsebenen berücksichtigt werden müßten und zählt dazu die verfassungs- und gesetzesmäßige Einbindung der Armee, die öffentliche Diskussion und die Reaktion des Militärs, Einstellungen und Verhalten von Soldaten, die soziale Herkunft von Soldaten und ihre soziale Einbindung. Vogt (1983b), S. 125. 134
Versuche, Kriterien für die Existenz der Krise zu benennen, bleiben in sich widersprüchlich. Vgl. dazu Vogt (1983b), S. 125 und S. 135; Vogt (1983), Einleitung, S. 13f.
131
Vogt (1983), Einleitung, S. 10 und S. 15.
132
Die Kritiker des MIK hatten mit ihren Untersuchungen selbst belegt, daß sich die Differenz zwischen dem "zivilen" und "militärischen" Bereich zunehmend aufgelöst hatte, diese Erkenntnis jedoch kaum in ihre Vorschläge zur Kontrolle des Militärs einbezogen. Auf diesen Widerspruch weist Medick (1975), S. 354f, hin. Das Kontrollmodell blieb "in seinen Grundzügen mit dem in der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts beheimateten Modell einer räsonierenden Öffentlichkeit identisch, das seinerseits wesentlicher Bestandteil des klassischen, bürgerlich-liberalen Demokratiemodells ist". Medick (1975), S. 355.
49
Öffentlichkeit in der Gegenwartsgesellschaft erheblich. So ist die Möglichkeit, daß Öffentlichkeit zugleich auch Manipulationsobjekt sein kann133, in Rechnung zu stellen und zu bedenken, daß wirklich effektive Kontrollfunktionen höchstens von einer demokratisch umstrukturierten Öffentlichkeit ausgefüllt werden könnten." 4 Die Funktion von Öffentlichkeit als Medium gesellschaftlicher Konsensbildung und demokratischer Kontrolle der Exekutive kann gerade im Fall der Militär-, Rüstungs- und Sicherheitspolitik nicht ohne weiteres unterstellt werden.135 Eine effektive Kontrolle jener Politik wird nämlich dadurch erschwert, daß ihre Konsequenzen für die einzelnen Bürgerinnen nicht oder nur in begrenztem Maße unmittelbar erfahrbar sind. Gerade deshalb kommen der Presse und Bürgervereinigungen Bedeutung für eine demokratische Kontrolle zu, wie Medick feststellt: "Sie decken Mißstände auf, versorgen Parlamentarier mit Informationen und kreieren überhaupt erst Gegenstände von öffentlichem Interesse, indem sie die Verbindung von den Fragen der Großen Politik zu den Interessen des Durchschnittsbürgers schlagen."13* Die Feststellung vom Legitimitätsbedarf des Militärs bleibt ein theoretisches Konstrukt. Es wurde zwar in militarismuskritischer Intention entwikkelt, bleibt aber gleichzeitig mit seiner normativen Prämisse, nämlich der Unterstellung, daß Militärapparate unter bestimmten Bedingungen anerkennungswürdig seien und daß ihnen Unterstützung gebühre, militärimmanent. Die Einsicht in strukturell vorgegebene Inkompatibilitäten zwischen Militär und demokratischer Gesellschaft und die Einsicht, daß die Funktionsbedingungen von Militärorganisationen Wertorientierungen und Verhaltensmuster begünstigen, welche die Distanz zur Gesellschaft zwangsläufig verschärfen, brachte Militärsoziologinnen keineswegs davon ab, "demo133
Liihmann (1971), S. 16f, schreibt der Öffentlichkeit Steuerungsfunktionen für das politische System zu. Dieses werde durch "Aufmerksamkeitsregeln" ("attention rules") integriert, die von Themenkonjunkturen abhängig sind und durch Manipulationsbedingungen beeinflußt werden. Zu den Aufmerksamkeitsregeln, die sich aus der Struktur des politischen Systems ergeben, gehören a) die Priorität bestimmter Werte, deren Verletzung gleichsam von selbst ein politisches Thema entstehen läßt, b) wirtschaftliche oder politische Krisen als unerwartete Bedrohungen des Systembestands, c) der Status des Absenders einer Kommunikation, d) Symptome politischen Erfolgs, e) die Neuheit von Ereignissen und f) Schmerzen oder zivilisatorische Schmerzsurrogate.
134
Vgl. dazu Medick (1975), S. 356.
u i
Das verdeutlicht Habermas (1978) ausführlich in seiner Analyse "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Öffentlichkeit wird von ihm gleichermaßen auf Prozesse der Vermachtung und auf Möglichkeiten der Emanzipation hin untersucht. Vgl. auch die Ausführungen Uber die ambivalente Rolle von Medienöffentlichkeit von Habermas (1988b), S. 573ff.
134
Medick (1976), S. 104.
50
kratische Gesinnung mit militärischem Geist versöhnen"137 zu wollen. Sie gingen davon aus, daß Militär und Gesellschaft allen konstatierten Unvereinbarkeiten zum Trotz irgendwie miteinander in Einklang zu bringen seien. So bildet das theoretische Konstrukt bereits selbst einen Ausdruck des Strebens nach Relegitimierung des Militärs. Mit ihrer Suche nach Möglichkeiten, Militär und Sicherheitspolitik so zu gestalten, daß sie anerkennungswürdiger erscheinen und auf Akzeptanz stoßen, stellen sich die militärsoziologischen Forschungsarbeiten gleichzeitig in den Dienst der Sicherung der Funktionsfähigkeit von Militärorganisationen. Eine solche normative Ausrichtung kann für eine friedenswissenschaftliche Untersuchung kaum leitend sein. Die militärsoziologischen Ansätze mußten hinsichtlich der Definition der "Krise" der Legitimität versagen, weil sich die von ihnen implizierte oder explizierte Annahme, daß Militärapparate sich ähnlich wie andere gesellschaftliche Subsysteme legitimieren müßten, um ihren Bestand zu sichern, faktisch nicht erhärten läßt. Der von Militärsoziologinnen unterstellte "soziale Beziehungs- und Austauschprozeß zwischen den Streitkräften, die einen hohen Bedarf an öffentlicher Zustimmung haben und deshalb Legitimität nachfragen", und der Öffentlichkeit, die diese Nachfrage befriedige, "indem sie Legitimität anbieten, vorenthalten und entziehen kann"13*, ist zweifelhaft. Albrecht weist darauf hin, daß eine Verwendung des Konzepts der Legitimitätsuntersuchung bezogen auf das Verhältnis von Militär und Gesellschaft grundsätzlich problematisch bleibt: "Die einfache Vorstellung, der Öffentlichkeit als Spender stünden die Streitkräfte als Nachfrager und Empfänger von Loyalität und Legitimität gegenüber, ist unzutreffend. Einerseits profiliert sich die Öffentlichkeit kaum gegenüber den Streitkräften in einem relevanten Sinne als Öffentlichkeit mit legitimitätsspendenden Funktionen; andererseits ist die Armeeführung im Kern nicht von der Legitimierung ihres Tuns abhängig; es ist geradezu eine der Funktionsgrundlagen des Militärapparates, daß er ohne dieses Mittel arbeiten Rann. Die Natur der gleichwohl von der Militärführung erheischten Legitimierung ist anderer Art als die Legitimität politischer Mandatsträger; ihr Kern läßt sich bündig mit der Funktion umschreiben, daß sie Hilfsaufgaben bei der Ausübung militärischer Funktionen auszufüllen hat."139 Überdies sei davon auszugehen, daß "besondere Sorgen um die Legitimierung ihres Handelns die Militärs kaum umtreiben werden". Albrecht verweist auf die potentielle Putschbereitschaft von Armeen, die auch in demo137
Wiesendahl (1980), S. 118.
138
Vogt (1983c), Einleitung, S. 11.
13
' Albrecht (1975), S. 158.
51
kratischen Gesellschaften prinzipiell nie auszuschließen sei. Im Hinblick auf die genannten Hilfsaufgaben ordnet er der Legitimität für das Militär dennoch eine "enorme Bedeutung" zu: Sowohl intern, auf die innere Organisation der Streitkräfte bezogen, als auch extern, in den Beziehungen des Militärs zu eben dieser Gesellschaft, bestehe hoher Legitimationsbedarf. Auch müsse gerade angesichts der sicheren Aussicht darauf, daß ein Krieg in Mitteleuropa nicht zu überleben sei, verstärkt die Unerläßlichkeit militärischer Planung begründet werden; es müsse ausgewiesen werden, "daß nichtmilitärische Konfliktstrategien oder eine andere Verwendung der Militärausgaben für Sicherheitsgewinnung nicht zum Ziele führen werden".140 Das von der Militärsoziologie verwandte Legitimitätskonzept ist also zu modifizieren. Es ist davon auszugehen, daß Militärappate nicht existentiell von der Anerkennung der Öffentlichkeit abhängig sind. Die Vorenthaltung gesellschaftlicher Unterstützung gefährdet nicht zwangsläufig und unmittelbar ihren Bestand, erleichtert jedoch ihr reibungsloses Funktionieren. Je mehr die Gesellschaft von der Anerkennungswürdigkeit des Militärischen überzeugt ist, desto ungebremster wird es dem Militärapparat gelingen, sich Menschen, Material und Infrastruktur anzueignen. Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit der Legitimation aus dem Prozeß der Aneignung und Zueignung von Ressourcen durch und für das Militär, das heißt, aus dem Herrschaftscharakter von Militärapparaten. 2.3. Die Bedeutung von Legitimation jur die Zueignung und Aneignung von Ressourcen für una durch das Militar: Rüstung und Rekrutierung als Herrschaftsakt Militärsoziologen geben an, die Funktion von Militär sei die "Ausübung kollektiver Gewalt"141, bzw. "im öffentlichen Auftrag als staatliches Exekutivorgan durch die Bereitstellung, Androhung oder durch den Einsatz von Gewalt" äußere "Sicherheit" zu produzieren und damit ein "kollektives Bedürfnis abzudecken".142 Demgegenüber charakterisieren Autoren, die sich aus gesellschaftskritischer Perspektive dem Verhältnis von Militär, Staat und Gesellschaft widmen, Militär als Organisation, die durch Anwendung oder Androhung von Gewalt Herrschaft im Inneren wie im Äußeren durchzusetzen hat. Krippendorff bemerkt zu Recht, daß der Aufbau von Militärapparaten in der Geschichte nie auf eine Forderung "von unten" aus dem Volk zurück140
Albrecht (1975), S. 158.
141
Van Doorn (1976), S. 17.
142
Vogt (1980), S. 57.
52
ging, sondern der Absicherung von Herrschaftsinteressen gedient habe. Die Militärgeschichte sei von dem Bemühen geprägt, das Militär "akzeptiert zu machen" und es "nach innen zu legitimieren".143 Er charakterisiert den Militärapparat als Mittel und uniformierten Zwangsverband zur Durchsetzung politischer Interessen144, als Herrschaftsinstrument in den Händen politischer Klassen, die Militär benötigen, um ihren Wunsch, außenpolitisch "mitzuspielen" und "dazuzugehören", zu verwirklichen und sich zu Komplizen militärischer Großmachtpolitik zu machen. Militärapparate werden demnach als "Herrschaftsinstrumente" in den "Händen politischer Klassen für die großen Aufgaben der staatlichen Politik eingesetzt". Über Militärapparate "vermittelt sich ihre Macht, ihr Prestige, ihre Weltgeltung, ihr internationales Gewicht im Politikspiel. Das war für die Militärunternehmungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Prinzip nicht sehr viel anders als für die absolutistischen Herrscher des 18. und für die die Staatsraison unter den Bedingungen enorm gesteigerter Zerstörungskapazitäten kalkulierenden Staatsmänner des 19. und 20. Jahrhunderts."145 Auch Poulantzas (1977) betont die Herrschaftsfunktion von Militär, wenngleich er die Einheit von herrschender Klasse, Staat und Armee bezweifelt.14* In den einzelnen Teilen des Staatsapparates und auch in der Armee spiegeln sich Poulantzas zufolge gesellschaftliche Antagonismen wider. Darüber hinaus sieht er Armeen von inneren Widersprüchen durchzogen, die nicht nur zwischen verschiedenen Rängen, sondern vertikal wie horizontal durch die ganze Institution und zwischen einzelnen Waffengattungen verlaufen.147 Auch können diese inneren Widersprüche dazu führen, daß verschiedene Teilsegmente der militärischen Institution mit unterschiedlichen politischen Führungscliquen sympathisieren. In Armeen kollidieren darüber hinaus korporative Interessen um diverse Privilegien und um Verteilung von Einfluß im Staatsapparat. So verbindet sich die Reproduktion der Klassenwidersprüche innerhalb der Militärorganisation mit Friktionen und Kämpfen, die aus korporativen Interessengegensätzen erwachsen. Die Armee agiert Poulantzas zufolge also weder ausschließlich 143
Krippendorff (1990), S. 179.
144
Vgl. Krippendorff (1990), S. 180.
145
Krippendorff (1985), S. 75.
144
Poulantzas verdeutlicht am Beispiel der Auflösung der Diktaturen in Südeuropa, daß sich das Verhältnis von Militär, Staat und Gesellschaft komplizierter gestaltet. Klassenwidersprüche, Spannungen zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb der herrschenden Klassen sowie die Konflikte zwischen diesen und den übrigen Klassen konzentrierten sich im Staat selbst, der daher als "Kristallisationspunkt des Kräfteverhältnisses" zwischen allen Klassen zu charakterisieren sei.
147
Vgl. Poulantzas (1977), S. 97.
53
nach eigenen Interessen, noch unterwirft sie sich gesellschaftlichen Klassen oder politischen Führungscliquen, noch läßt sie sich einfach von diesen instrumentalisieren.14* Auch Geyer (1984) unterstellt dem Militär eine Herrschaftsfunktion. Er weist aber gleichzeitig darauf hin, daß historische Veränderungen in der Staatsform Veränderungen in der Reproduktion von Militärapparaten nach sich ziehen und Auswirkungen auf den Legitimationsbedarf von Militär haben können. Die Bereitstellung von Gewaltmitteln wird von Geyer als "Zueignung" und "Aneignung" gesellschaftlicher Ressourcen beschrieben14', die in der Neuzeit im Rahmen der Staatstätigkeit durchgeführt wird. Rüstung und Rekrutierung beschreibt er als "Herrschaftsakt, der die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in sich aufnimmt und diese wiederum durch die Produktion von Kriegsmitteln und schließlich auch durch ihre Verwendung prägt und gestaltet."150 Dieser Prozeß sei inzwischen von der Gesellschaft so verinnerlicht und so arbeitsteilig organisiert, daß der Herrschaftscharakter jeder einzelnen Rüstungsmaßnahme kaum mehr offen zum Vorschein komme, aber es bedürfe jeweils eines Herrschaftsaktes, "um auch nur einen einzigen Rekruten aus der Gesellschaft herauszuholen und ihn dann im Militär zum Soldaten zu machen oder auch nur eine einzige Patrone zu produzieren".151 Als Herrschaftsakt ist Rüstung Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen um den Anteil an ungleich verteilten Ressourcen und wandelt sich mit den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Im Prozeß der Aneignung gesellschaftlicher Mittel entwickelt sich Widerstand gegen die Vereinnahmung für den Rüstungsapparat, und der Zueignungsprozeß verändert sich mit der Verschiebung von Herrschaftsallianzen, die um einen Anteil am Verteilungsprozeß ringen. Rüstung verändert sich ständig mit den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen.152 Geyers Analyse berücksichtigt, daß Rüstung von Menschen für die Herrschaftssicherung über Menschen gemacht und damit auch von Menschen 148
Vgl. Poulantzas (1977), S. lOlff.
149
Geyer (1984), S. 15. Geyer unterscheidet analytisch zwischen der "Aneignung" von Ressourcen "durch das Militär" und dem davon getrennten Vorgang der "Zueignung" gesellschaftlicher Mittel "für das Militär". Es sei "eine Sache, dem Militär durch Gesetz und Verordnung, das heißt durch politische Akte, Menschen, Sachen und Kapital zuzuordnen", aber eine ganz andere Frage, wie sich das Militär diese Ressourcen aneigne: " (...) es bleibt dann immer noch Aufgabe des Militärs, den einzelnen Menschen zu konskribieren und in einen brauchbaren Soldaten umzuformen".
150
Geyer (1984), S. 14f.
151
Geyer (1984), S. 15.
152
Vgl. Geyer (1984), S. 20f.
54
veränderbar ist, daß die konkrete Gestaltung von Militärapparaten auch das Resultat politischer Auseinandersetzungen ist. Die Überlegungen verweisen sowohl auf die Gefahren von Aufrüstungsschüben als auch auf Spielräume für Initiativen zur De- und Entmilitarisierung. Ähnlich wie bei Poulantzas birgt nach Geyer der Militärapparat selbst Widersprüche in sich, die bei der Organisation von Gegenkraft und im Kampf um Herrschaftsanteile ausgenutzt werden können. Die Aneignung gesellschaftlicher Ressourcen durch das Militär und die Zueignung von Mitteln für das Militär haben in der gesamten Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Gegenkräfte hervorgebracht; insbesondere nach der Hinwendung zur kapital-intensiven Rüstung haben in den westlichen Industriegesellschaften Preissteigerungen und wachsende Staatsverschuldung zunehmenden Widerstand gegen einzelne Rüstungsmaßnahmen provoziert.153 Der Wandel von einem Obrigkeitsstaat zu einem pluralen Interessenstaat hat Geyer zufolge Auswirkungen auf den Legitimationsbedarf von Armeen, weil sich die Form militärischer Ressourcen-Aneignung bzw. -Zueignung verändert: Im demokratisch verfaßten Staat werde der Kampf um Herrschaftsanteile und die Auseinandersetzung um die Zueignung gesellschaftlicher Mittel auch mit Argumenten über das gesellschaftlich Nützliche geführt. Diese Argumente müssen überzeugen und "bilden die Autorität, mit der allein Macht ausgeübt werden kann".154 Auf den verstärkten Begründungszwang für Rüstungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen und auf die zunehmenden Schwierigkeiten für Militärapparate, in gewohntem Maße Ressourcen zu sichern, haben verschiedene militärsoziologische Arbeiten jüngeren Datums hingewiesen.155 Sie verdeutlichen, daß Zwänge zur Einsparung staatlicher Ausgaben und die Alternative, diese entweder bei den Sozial- oder den Verteidigungsausgaben vornehmen zu müssen, den Legitimationsdruck für Militär und Sicherheitspolitik noch beträchtlich erhöhen. Auf der Grundlage der dargelegten Denkansätze kann man davon ausgehen, daß sich der Legitimationsbedarf von Militärapparaten in erster Linie aus dem Interesse an der Sicherung ihrer Reproduktion ergibt: Eine breite öffentliche Unterstützung garantiert am ehesten die Deckung des bean153
Vgl. Geyer (1984), S. 16ff.
154
Geyer (1984), S. 21.
155
Vogt (1983b), S. 118, zeigt diese Entwicklung anhand der Entwicklung in der Bundesrepublik auf. Auch Dandeker/Watts (1990), S. 7, beschreiben, daß das Militär angesichts zunehmender öffentlicher Forderungen nach Finanzierung von Bereichen wie Umweltschutz oder ziviler Infrastruktur immer größere Schwierigkeiten habe, seine Forderung nach altgewohntem Anteil an den Staatsausgaben gegen andere Interessengruppen durchzusetzen.
55
spruchten Ressourcenbedarfs auf möglichst hohem Niveau. Überzeugende Argumente minimieren den Widerstand gegen den Herrschaftsakt der Rüstung und Rekrutierung und erhöhen die Bereitschaft zum freiwilligen Eintritt in die Armee. Ein Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung und ein hohes Maß an Widerständen hingegen können die Reproduktion stören. Derartige Störungen müssen noch nicht zwangsläufig den Apparat in seiner Existenz gefährden und seinen Untergang vorprogrammieren. Sie können aber trotzdem Teilschritte auf dem Weg zu einer Entmilitarisierung innergesellschaftlicher und internationaler Beziehungen bilden. Ob die gesellschaftliche Realität diesem Fernziel angenähert werden kann, hängt aber nicht allein von den Widerständen gegen den Herrschaftsakt der Rüstung und der Rekrutierung ab, sondern auch davon, ob breite Unterstützung für politische Entwürfe gewonnen werden kann, die Alternativen zur etablierten Militärlogik staatlicher Politik anbieten. Legitimation dient der Überzeugung der Gesellschaft von der Anerkennungswürdigkeit des Militärs und seines Verbrauchs an Ressourcen (Menschen, Geld, Landschaft und Knowhow). Aber nicht nur die Sicherung materieller Ressourcen, sondern auch die Aneignung von Menschen durch das Militär erfordert Legitimätionsbemühungen des militärisch-politischen Apparats. Es bedarf zum Beispiel eines Angebots an überzeugenden Argumenten, die es wehrdienstleistenden Rekruten ermöglichen, den Konflikt zu überwinden, der aus dem im zivilen Leben angeeigneten Tötungsverbot einerseits und dem staatlichen Tötungsgebot andererseits entspringt.154 Ansonsten ist mit Verweigerungshaltungen zu rechnen. Der Legitimation kommt für die Sicherung von Militärlogik im gesellschaftlichen Normensystem und für die Sicherung des inneren Zusammenhalts in militärischen Institutionen gleichermaßen Bedeutung zu. Da sich der Konflikt zwischen Militär und Gesellschaft an der "Nahtstelle zwischen System und Lebenswelt"157 abspielt, sind die zivil-militärischen Beziehungen auch unter dem Aspekt symbolisch strukturierter Lebenswelt zu betrachten.
156
Die sozialpsychologischen Ambivalenzen dieses Sozialisationsprozesses und den Konflikt, der sich in psychosozialer Hinsicht aus dem Verbot individueller Gewaltanwendung einerseits und dem Gebot zur Gewaltbereitschaft im Rahmen des staatlichen Gewaltapparats andererseits gerade für heranwachsende Menschen ergibt, analysiert ausführlich Bickenbach (1985), S. 73ff.
I5
Vgl. dazu ausführlich Habermas (1988b), S. 581, und Habermas (1973), S. 14. Er plädiert bei seiner Legitimitätskrisenuntersuchung dafür, nicht nur in systemtheoretischer Hinsicht die Steuerungsfunktion sozialer Systeme zu erfassen, sondern sie mit einem lebensweltlichen Verständnis von Gesellschaft, die symbolisch strukturiert ist, zu verknüpfen.
'
56
2.4. Die Sicherung der symbolischen Sinnwelt des Militärischen - eine Herausforderung für Staat und Armee Mit dem theoretischen Verständnis einer Lebenswelt, die symbolisch strukturiert ist, haben Berger/Luckmann (1984) die Bedeutung von Legitimation für die Herstellung von Loyalität und Identität unter den Angehörigen von institutionalen Ordnungen ausgeleuchtet. Dabei wird mit "Legitimation" die "'sekundäre' Objektivation von Sinn" bezeichnet. Sie produziert "eine neue Sinnhaftigkeit, die dazu dient, Bedeutungen, die ungleichzeitigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren. Die Funktion dieses Vorgangs ist, 'primäre' Objektivationen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen.""» Die Integrationsfunktion von Legitimation erstreckt sich auf verschiedene Ebenen: Sie gewährleistet, daß eine institutionale Ordnung (ein Normensystem) den an verschiedenen institutionellen Prozessen beteiligten Rollenträgern als Ganzes sinnhaft erscheint. Legitimation bietet außerdem dem Individuum sein Leben, die Abfolge seines Wegs durch verschiedene Teilordnungen und die Phasen seines individuellen Lebenslaufs in einer institutionalen Ordnung subjektiv sinnhaft dar.15* Legitimation impliziert Wissen, indem sie diese Ordnung erklärt. Sie impliziert außerdem "Wertorientierung", indem sie diese Ordnung "rechtfertigt" und den "pragmatischen Imperativen die Würde des Normativen verleiht."1" Legitimation sagt dem Einzelnen, "warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf, und sie sagt ihm auch, "warum die Dinge sind, was sie sind".1" Die höchste Ebene der Legitimation bilden symbolische Sinnwelten, die als "synoptische Traditionsgemeinschaften" verschiedene zusammenhanglose Sinnprovinzen des Alltagsbewußtseins integrieren und "die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen".142 Mittels "symbolischer Ge158
Berger/Luckmann (1984), S. 98f. Objektivation meint Vergegenständlichung und ist ebenso wie Externalisierung (Entäußerung) Bestandteil eines dialektischen Prozesses. Durch Internalisierung (Einverleibung) wiederum wird die vergegenständlichte gesellschaftliche Welt im Verlauf der Sozialisation ins Bewußtsein zurückgeholt. Vgl. auch ebenda, S. 65f.
15
® Vgl. Berger/Luckmann (1984), S. 99. Der Prozeß des Erklärens und Rechtfertigens, werde vor allem dort erforderlich, wo eine Institution ihren Gewißheitscharakter nicht mehr mittels Erinnerung und Habitualisierung des einzelnen aufrechterhalten kann, wenn die Vergegenständlichung einer bereits historisch gewachsenen institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß. 1( * Berger/Luckmann (1984), S. 100. W1
Berger/Luckmann (1984), S. 100 (Hervorhebung im Original).
142
Berger/Luckmann (1984), S. 102. Legitimation vollziehe sich zum ersten auf einer vortheoretischen Ebene, zum zweiten auf einer weiteren Ebene, auf der Schemata verschiedener Lebensweisheiten zu objektiven Sinngefügen verknüpft werden, zum dritten auf der Ebene geschlossener Bezugssysteme für Ausschnitte institutionalisierten Handelns und zum vierten auf der Ebene symbolischer Sinnwelten.
57
samtheiten" werden hier alle Ausschnitte der institutionalen Ordnung in ein allumfassendes Bezugssystem integriert. Die symbolische Sinnwelt ist "die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit"1*®, in der die Geschichte der Gesellschaft und das Leben des Individuums zu Ereignissen innerhalb einer Sinnwelt verschmolzen werden. Symbolische Sinnwelten ermöglichen die Ordnung subjektiver Einstellungen zur persönlichen Erfahrung, weil sie Erlebnisse aus verschiedenen Wirklichkeitssphären in ein und demselben überwölbenden Sinnzusammenhang integrieren. Symbolische Sinnwelten rücken im individuellen Bewußtsein "jedes Ding an seinen rechten Platz". So erhält die institutionale Ordnung ihre endgültige Legitimation, den absoluten Vorrang in der Hierarchie menschlicher Erfahrungen. Legitimation erstreckt sich also auf das Selbstverständnis1*4 des einzelnen. Die Einstellung des Individuums zu sich selbst ist durch das Wesen der Sozialisation oder durch menschliche Grenzerfahrungen, durch "surrealistische Metamorphosen in Träumen und Phantasien" permanent bedroht. In den Zusammenhang einer symbolischen Sinnwelt gestellt, wird diese Einstellung stabilisiert: "Der Mensch kann 'wissen, wer er ist', wenn er seine Identität in einer kosmischen Wirklichkeit verankert, die vor den Zufällen der Sozialisation und vor den bösen Selbsttransformationen durch Grenzsituationen geschützt ist. Noch wenn sein Nachbar nicht weiß, wer er ist, ja, sogar wenn er selbst 'sich' in den Qualen der Alpträume vergessen haben sollte, kann er sich vergewissern, daß sein 'wahres Selbst' ein absolut wirkliches Wesen in einer absolut wirklichen Sinnwelt ist. Die Götter wissen für ihn - oder die Psychiatrie - oder die Partei"1*5 oder aber das Militär, so ließe sich ergänzen. Die Integration einer institutionalen Ordnung erfolgt Berger/Luckmann zufolge auf der Grundlage des Wissens, das ihre Mitglieder über sie haben. Das umfaßt nicht nur die theoretischen Systeme, deren sich eine institutionale Ordnung zu ihrer Legitimation bedient, sondern auch vortheoretisches Primärwissen, "ein Sammelsurium von Maximen, Moral, Sprichwortweisheit, Werten, Glauben, Mythen", das integriert werden muß.1** Dieses Wissen wird darüber hinaus durch symbolische Objekte von Fetischen bis zu 143
Berger/Luckmann (1984), S. 103 (Hervorhebung im Original).
*** Berger/Luckmann sprechen in diesem Zusammenhang von 'Identität* als Produkt des Zusammenwirkens von Organismus, individuellem Bewußtsein und Gesellschaftsstruktur. Identität reagiere "auf die vorhandene Struktur, bewahrt sie, verändert sie oder formt sie sogar neu. Gesellschaft hat Geschichte, in deren Verlauf eine spezifische Identität entsteht. Diese Geschichte jedoch machen Menschen mit spezifischer Identität." Ebenda, S. 185. 1