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German Pages 702 Year 2001
TAMAs MELEGHY
Soziologie als Sozial-, Moral- und Kulturwissenschaft
Soziologische Schriften
Band 71
Soziologie als Sozial-, Moralund Kulturwissenschaft Untersuchungen zum Gegenstandsbereich, zur Aufgabe und Methode der Soziologie auf Grundlage von Karl Poppers "Evolutionärer Erkenntnistheorie"
Von
Tamas Meleghy
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Meleghy, Tamas: Soziologie als Sozial-, Moral- und Kulturwissenschaft : Untersuchungen zum Gegenstandsbereich, zur Aufgabe und Methode der Soziologie auf Grundlage von Kar! Poppers ..Evolutionärer Erkenntnistheorie" / von Tamas Meleghy. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Soziologische Schriften; Bd. 71) Zugl.: Innsbruck, Univ., Habil.-Sehr, 1998 ISBN 3-428-09968-0
Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Palli & Palli OEG, A-6020 Innsbruek Druck: Wemer Hildebrand, Ber!in Printed in Germany
© 2001
ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-09968-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorbemerkung Einige Jahre bevor ich die Arbeit an diesem Buch begonnen habe, verfolgte ich die Diskussion zwischen Karl Popper, Thomas Kuhn, Imre Lakatos und Paul Feyerabend über Theoriedynamik. Ich gewann allmählich allerdings den Eindruck, daß es in dieser Debatte, genauso wie in Karl Poppers ,,Logik der Forschung", um Fragen und Probleme der Naturwissenschaften und nicht um die der Wissenschaften (einschließlich der Sozialwissenschaften) geht. Vielleicht mit Ausnahme der Erkenntnis, daß wissenschaftlicher Fortschritt sich nicht in einem kognitiven Vakuum, sondern innerhalb von Denktraditionen, Paradigmen oder Forschungsprogrammen vollzieht. Man gelangte also auf Umwegen zurück zur Grundthese des Holismus, nach der man ein Ding (oder eine Theorie) nicht verstehen kann, ohne eine Vorstellung darüber zu haben, wie das Ganze, dessen Teil es ist, aussieht. Die Frage, die mich beschäftigte, war: Wie sollte man sich dieses Ganze, dessen Teile die soziologisch relevanten Erscheinungen sind, vorstellen? Karl Poppers Evolutionäre Erkenntnistheorie schien mir einen geeigneten Rahmen für ein solches Projekt abzugeben. Diese Theorie ist sehr allgemein, sie umfaßt und verknüpft miteinander zugleich alle Phänomenenbereiche (biologische Organismen, subjektive Empfindungen, Normen und Theorien), indem sie diese als Formen des Wissens und der Erkenntnis interpretiert. Insbesondere schien mir die in dieser Theorie enthaltene Ontologie, Karl Poppers DreiWelten-Theorie, ein vielversprechender Ansatz zu sein. Die Auseinandersetzung mit dieser Theorie hat gezeigt, daß mit Hilfe dieses Ansatzes tatsächlich wichtige Fragen einer der bedeutendsten soziologischen Denktraditionen (Soziologie als Moralwissenschaft) geklärt werden können. Gleichzeitig wurde aber klar, daß der Rahmen immer noch nicht umfassend genug war. Die notwendige Erweiterung des Schemas wurde mittels Denkkategorien anderer Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie (Konrad Lorenz und Rupert Riedl) erzielt. Auf diese Weise konnten zwei weitere Denktraditionen (Soziologie sozialer und kultureller Erscheinungen) in das System integriert werden. Das Ziel dieses Buches ist, grundlegende Fragen der Soziologie, wie "Was ist ein soziologischer Gegenstand?", "Was ist die Aufgabe der Soziologie?" und "Gibt es eine spezifische soziologische Methode?", innerhalb eines von der Evolutionären Erkenntnistheorie vorgegebenen Rahmens zu diskutieren.
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Vorbemerkung
Besondere Aspekte dieser Arbeit habe ich ausführlich diskutiert mit Detlef Burow, Heinz-Jürgen Niedenzu und Helmut Staubmann. Die Mühe, sich das ganze Manuskript kritisch durchzulesen, haben auf sich genommen Max Haller, Henrik Kreutz, Julius Morel, Max Preglau und Michael Schmid. Ihnen allen bin ich für wichtige Anregungen und Hinweise dankbar. Mein besonderer Dank gilt Maria Anna Muigg und Doris Daberto für ihre Arbeit an dem Manuskript und Ellen Palli für die Fertigstellung der Druckvorlagen.
Innsbruck, Februar 2001
Tamas Meleghy
Inhaltsverzeichnis A. Einführung ................................................................................................................. 15 B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie ......................... 23 I. Kritik der Soziologie ............................................................................................... 23 11. Was ist zu tun? ...................................................................................................... 40 1. Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite ......................................... .40 2. George Homans Vorschlag zur Präzisierung und Formalisierung soziologischer Theorien ............................................................................... 41 3. Theorienvergleich in der deutschen Soziologie ........................................... .43 4. Erarbeitung eines globalen Bezugsrahmens ................................................. .46 111. Diskussion der Lösungsvorschläge ...................................................................... 49 C. Theorie und Theoriekontext ....................................................................................... 59
I. Zwei Arten des Lemens .......................................................................................... 59 1. Phänomen und Kontext. ................................................................................ 60 2. Hierarchische Strukturen .............................................................................. 66 3. Stufen des Lemprozesses .............................................................................. 73 11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie ...................... 79 I. Karl Poppers frühe "einstufige" Methodologie ............................................. 81 2. Die Entdeckung des Kontextes durch die Wissenschaftstheorie ................... 89 3. Folgen rur die Methodologie ....................................................................... 115 III. Der sogenannte Positivismusstreit: Die Neubewertung einer alten Kontroverse ........................................................................................................ 133 1. Die Position von Theodor Adomo .............................................................. 134 2. Die Position von Karl Popper ..................................................................... 137 3. Die anschließende Diskussion .................................................................... 139 4. Die Rolle des Kontextes beim Positivismusstreit... ..................................... 151 IV. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen für die Soziologie .......................... 153
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Inhaltsverzeichnis
D. Karl Poppers evolutionäre Erkenntnistheorie .......................................................... 158 I. Karl Poppers Drei-Welten-Theorie ....................................................................... 159 1. Karl Poppers objektivistische Kunsttheorie ................................................ 159 2. Beschreibung Karl Poppers drei Welten und zusätzliche Differenzierungen ...................................................................................... 162 3. Beziehungen zwischen den drei (fünt) Welten ........................................... 173 a) Mögliche Kausalbeziehungen ................................................................ 173 b) Hierarchische Struktur ........................................................................... 174 c) Plastische Steuerung ............................................................................... 175 11. Karl Poppers Evolutionstheorie ........................................................................... 180 I. Karl Poppers Verhältnis zur Evolutionstheorie ........................................... 180 2. Allgemeine Prinzipien ................................................................................ 181 3. Der genetische Pluralismus ......................................................................... 185 4. Status der Evolutionstheorie ....................................................................... 190 III. Erwartungen, Probleme und Werte .................................................................... 194 IV. Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt .................................................................. 213 I. Das subjektive und das objektive Wissen ................................................... 213
2. Der Mechanismus des Erkenntnisforschrittes und die drei Arten des Lemens ................................................................................................. 215 3. Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt in der biologischen Welt... ................ 218 4. Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt in der Bewußtseinsweit .................... 221 5. Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt in der normativen Welt... .................. 225 a) Normen und Tatsachen: Karl Poppers kritischer Dualismus .................. 226 b) Der Verlauf des Erkenntnisfortschrittes in der normativen Welt als objektiver Vorgang ................................................................................. 231 c) Karl Popper zu dem Vorwurf des Konstruktivismus .............................. 236 d) Zu dem Problem vorsprachlicher Normen ............................................. 240 e) Das Problem des Entdeckens: Zum objektiven Charakter nichtgeplanter Normen ........................................................................... 252 t) Zu dem Problem der Fehlerbeseitigung in der normativen Welt ............ 260 6. Erkenntnis- und Erkenntnisfortschritt in der Welt der objektiven Gedankeninhalte ........................................................................................ 261
Inhaltsverzeichnis
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a) Vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnis ........................ 261 b) Einheit der wissenschaftlichen Methode ................................................ 267 c) Das Problem des Verstehens .................................................................. 271 d) Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft ............................................ 275 e) Methodologie der Sozialwissenschaften ................................................. 278 V. Zusammenfassung ............................................................................................... 302 E. Der soziologische Gegenstandsbereich .................................................................... 306
I. Die drei möglichen Gegenstandsbereiche des soziologischen Denkens ................ 307 I. Soziale Phänomene ..................................................................................... 308 a) Soziale und normative Phänomene (Hierarchie I. und 2. Art) ............... 308 aa) Die Hierarchie I. Art ........................................................................ 313 bb) Soziale Phänomene und die Hierarchie I. Art ................................. 320 cc) Soziale Phänomene innerhalb des Bereichs zwischen Individuum und Art ............................................................................................. 323 dd) Grenzen sozialer Phänomene ........................................................... 337 ee) Funktion sozialer Phänomene .......................................................... 342 ff) Steuerung sozialer Phänomene .......................................................... 343 gg) Zusammenfassung ........................................................................... 345 2. Normative Phänomene ................................................................................ 346 a) Die Hierarchie der Steuerungen: Charakterisierung der Beziehungen zwischen den Ebenen sowie der Inhalte der einzelnen Ebenen (Eine Wiederholung) .............................................................................. 346 b) Das Verhältnis der beiden hierarchischen Ordnungen (Hierarchie I. und 2. Art) ....................................................................... 349 c) Zu der Konzeption von Normen als Vorschläge und Entscheidungen ...................................................................................... 352 aa) Die normative Steuerung sozialer Phänomene bei Protagoras und Lukacs ..................................................................... 352 bb) Normen als "philosophische Bastarde" ............................................ 354 cc) Das Dezisionismusproblem .............................................................. 355 dd) Normen als Ursachen ....................................................................... 364
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Inhaltsverzeichnis ee) Zu der Frage nach einer "realistischen Ethik" .................................. 365
CO Zu dem prognostischen Wert von Entscheidungen ........................... 366 gg) Das Entscheiden und das Sich-Entscheiden ..................................... 370 d) Zusammenfassung .................................................................................. 372 3. Kulturelle Phänomene ................................................................................. 374 a) Der biologische Kulturbegriff ................................................................ 375 b) Protokultur und Kultur im engeren Sinne .............................................. 382 aa) Protokultur ....................................................................................... 384 bb) Kultur im engeren Sinne .................................................................. 389 c) Voraussetzung kultureller Phänomene ................................................... 391 d) Entstehung und Entwicklung kultureller Phänomene ............................. 394 e) Folgen kultureller Phänomene ................................................................ 408 t) Kultur und die Hierarchie 3. Art ............................................................. 413
g) Zusammenfassung .................................................................................. 416 4. Mögliche Verknüpfungen ........................................................................... 417 11. Der soziologische Gegenstandsbereich in der Literatur ...................................... .427 I. Soziale Phänomene ..................................................................................... 427 a) Die Konstruktion der Soziologie als Wechselwirkungswissenschaft durch Gerhard Vollmer.......................................................................... 427 b) Die Konzeption der Soziologie als eine Wechselwirkungswissenschaft in der soziologischen Literatur .............................................................. .433 c) Die Einschränkung der Soziologie auf Humansoziologie ...................... 437 d) Zu der Frage nach den Elementen sozialer Systeme .............................. 442 e) Die Individualismus-Kollektivismus Kontroverse ................................. 447 t) Grenzen sozialer Phänomene .................................................................. 450
aa) Sind die externen Produkte sozialer Phänomene soziale Phänomene? .................................................................................... 450 bb) Sind die unbeabsichtigten Folgen absichtsvoller Handlungen soziale Phänomene? ........................................................................ 463 g) Steuerung sozialer Phänomene ............................................................... 466 aa) Biologische Steuerung sozialer Phänomene .................................... .466
Inhaltsverzeichnis
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bb) Psychologische Steuerung sozialer Phänomene .............................. .496 cc) Normative Steuerung sozialer Phänomene ....................................... 537 dd) Kognitive Steuerung sozialer Phänomene ........................................ 552 2. Normative Phänomene ................................................................................ 567 a) Die individualistische Variante .............................................................. 568 b) Zu Hartmut Essers Versuch, die Differenz zwischen Verhaltensund Handlungstheorie zu verwischen ..................................................... 572 c) Die kollektivistische Variante ................................................................ 593 d) Zur Theorie von Normen und Institutionen ............................................ 607 3. Kulturelle Phänome .................................................................................... 627 a) Zum Kulturbegriff in der Soziologie ...................................................... 627 b) Zum Prozeß der Kulturrevolution .......................................................... 638 c) Kritik evolutionistischer Erklärungsstrategien ....................................... 644 d) Das Problem des Verstehens kultureller Phänomene ............................. 647 4. Zusammenfassung ....................................................................................... 650 F. Zusammenfassung und Ausblick .............................................................................. 653 Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 655 Personenverzeichnis ..................................................................................................... 674 Sachverzeichnis ............................................................................................................ 680
Verzeichnis der Darstellungen Darstellung 1: Ein Modell für die Analyse der internen Kritik an der Soziologie ...................................................................................................... 36 Darstellung 2: Beziehungen zwischen den fünf Welten .............................................. 179 Darstellung 3: Der evolutionäre Grundzyklus ............................................................ 182 Darstellung 4: Beziehungen zwischen den fünf Welten ............................................. 194 Darstellung 5: Ordnung der Hierarchie 1. Art nach Norbert EIias ............................... 314 Darstellung 6: Ordnung der Hierarchie 1. Art nach Rupert Riedl... ............................. 315 Darstellung 7: Soziale Phänomene innerhalb der Hierarchie 1. Art nach Humberto Maturana und Francisco Varela .................................................... 330 Darstellung 8: Autonomie der eine soziale Einheit bildenden Elemente nach Humberto Maturana und Francisco Varela .................................................... 331 Darstellung 9: Die drei Ebenen des Bereichs der Systeme mit sozialer Organisation .............................................................................................. 333 Darstellung 10: Beziehungen zwischen den fünf Welten ............................................ 346 Darstellung 11: Inhalte der fünf Welten ...................................................................... 348 Darstellung 12: Stufen des Evolutionsprozesses und dabei beteiligte Mechanismen nach Franz M. Wuketits .................................................................. 383 Darstellung 13: Struktur der Beziehungen der drei (dichotomisierten) hierarchischen Ordnungen ...................................................................................... 418 Darstellung 14: Struktur der Beziehungen der drei hierarchischen Ordnungen (Hierarchie 1., 2. und 3. Art) ................................................................ 423 Darstellung 15: Die Hierarchie der Wissenschaften nach Gerhard Vollmer..................................................................................................... 428 Darstellung 16: Evolution realer Systeme und Evolution der Wissenschaft nach Gerhard Vollmer ...................................................................... 431 Darstellung 17: Stufenaufbau der realen Welt und der empirischen Wissenschaften nach Emile Durkheim ................................................................... 460 Darstellung 18: Kulturelle Phänomene (engere und weitere Fassung) ........................ 562 Darstellung 19: Gefangenendilemmasituation (Freiheitsstrafen in Jahren und in ordinalskalierten Bewertungen) ................................................................... 609 Darstellung 20: Gefangenendilemmasituation (allgemein) .......................................... 610 Darstellung 21: Gefangenendilemmanorm .................................................................. 612
Verzeichnis der Tabellen Tabelle I: Der prognostische Wert von Plänen und Handlungsabsichten 1.................. 367 Tabelle 2: Der prognostische Wert von Plänen und Handlungsabsichten 2 .................. 368 Tabelle 3: Der prognostische Wert von Plänen und Handlungsabsichten 3 ................. .369
A. Einführung "Nachdem die Soziologien gezwungenermaßen etwas zuviel zergliedert und abstrahiert haben, sollten sie sich nun bemühen, das Ganze wieder zusammenzusetzen. " Marcel Mauss Marcel Mauss' Auftrag an die Soziologen, ihre Ergebnisse wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen, wurde bis heute nicht erfüllt. Dabei hat es an Versuchen in dieser Richtung ja nicht gemangelt. Es wurde aber immer deutlicher, daß die Teile einfach nicht zusammenpassen wollen. Das Problem beginnt vielleicht bereits bei dem von Marcel Mauss bemühten Bild des Zusammensetzens. Dieses Bild legt die Vermutung nahe, daß es sich bei den Teilen um zusammenpassende Teile eines Ganzen handelt, welche daher zusammenpassen müssen. Wie aber, wenn es sich bei den Teilen nicht um zusammenpassende Bruchstücke eines Ganzen, sondern um Elemente verschiedener Konstruktionen handelt? Betrachten wir, um das Problem zu konkretisieren, zunächst die Situation eines Mechanikers (1. Mechaniker), der die Aufgabe hat, die Teile einer Maschine wieder zusammenzubauen. Er weiß: Alle Teile sind Teile derselben Maschine, die Teile müssen daher zusammenpassen. Ob es ihm gelingt, die verschiedenen Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen, das liegt nicht an den Teilen, sondern an seiner Geschicklichkeit. Betrachten wir jetzt die Situation eines anderen Mechanikers (2. Mechaniker), der versucht, verschiedene mechanische Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen, von denen er nur so viel weiß, daß dies Maschinenteile sind. Er weiß also nicht: Handelt es sich hier um Teile derselben Maschine oder um Teile verschiedener Maschinen? Wenn es sich überhaupt um die Teile derselben Maschine handelt, um welche Maschine handelt es sich dann? Wenn es ihm nicht gelingt, die Teile zusammenzusetzen, liegt das daran, daß die Teile nicht zusammenpassen oder an seiner Geschicklichkeit? Es stellt sich somit folgende Frage: Entspricht die Lage des Soziologen, der die soziologischen Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenfügen will, mehr der Situation des ersten oder des zweiten Mechanikers? Ich meine, daß das Problem des Soziologen mehr dem Problem des zweiten Mechanikers gleicht. Die vorliegenden Bruchstücke sind Aussagenkomplexe, deren Elemente (Aussagen) mittels Begriffe konstruiert wurden. Da Begriffe
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A. Einführung
immer auch Unterscheidungen sind (oder Unterscheidungen implizieren), sind Begriffe selbst bereits mehr oder weniger geglückt konstruierte Werkzeuge. Die Frage nach der Bedeutung ist damit zugleich eine inhaltlich-praktische Frage. Tatsächlich wurden die einzelnen soziologischen Bruchstücke in ganz verschiedenen Sprachen verfaßt und auch dieselben Ausdrücke haben in den einzelnen Theorien ganz unterschiedliche Bedeutungen. Bemerkenswert ist auch der Umstand, daß Soziologen nicht einmal darüber einig sind, was der Gegenstand ihres Faches ist. Und auch auf solche einfachen Fragen wie "Was ist ein soziales Phänomen?" und "Was ist eine kulturelle Erscheinung?" bekommt man in der Soziologie keine einhellige und klare Antwort. Ich habe die für einen Sozialwissenschaftler überraschende Erfahrung gemacht, daß Nicht-Sozialwissenschaftler, insbesondere Biologen, auf diese beiden zuletzt genannten Fragen klare und einfache Antworten wissen. Meine Vermutung ist, daß das daran liegt, daß Sozialwissenschaftler mittels dieser Begriffe das Wesen der von ihnen untersuchten Phänomene festmachen wollen, während Biologen mit Hilfe dieser Begriffe lediglich Unterscheidungen in dem von ihnen untersuchten Bereich festlegen wollen. Für Soziologen sind diese Begriffe daher überaus wichtig. Es geht hier sozusagen um ihre Existenzberechtigung. Sie sind in dieser Frage überaus engagiert, ihr Blick ist daher - entsprechend einer bekannten Theorie von Norbert Elias' recht getrübt. Für Biologen geht es hier dagegen nicht um existentielle, sondern lediglich um praktische Fragen. Ihr Zugang ist distanzierter. Sie haben in diesen Fragen daher den klareren Kopf und so wahrscheinlich auch die glücklichere Hand. Die Verwendung einiger in der Biologie gebräuchlicher Begriffe in der Soziologie hätte meines Erachtens einen ganz großen Vorteil: Sie würde die Ankoppelung der Soziologie an die Biologie und damit an die Naturgeschichte ermöglichen. Mit all dem soll keineswegs irgendeiner Art biologischer Reduktionismus das Wort geredet werden. Ist unsere Diagnose betreffend der Situation des Soziologen, der die soziologischen Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenfügen will, einigermaßen zutreffend, so läßt sich etwa folgende Vorgehensweise denken: Man entwirft zunächst versuchsweise ein Bild davon, wie das Ganze ausschauen könnte und man prüft dann nach, inwieweit die einzelnen Bruchstücke in dieses Bild hineinpassen. Elemente, die sich in das Bild einfügen, sprechen für das Bild. Elemente, die nicht hineinpassen, dagegen. Aber nicht nur, denn die Tatsache, daß einzelne Elemente nicht in das Bild hineinpassen, spricht gleichzeitig gegen diese Elemente. Denn vielleicht sind das Teile fremder Konstruktionen, die dort
1 Vgl.
Elias, Engagement und Distanzierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
A. Einführung
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nur zufällig herumliegen? Oder sind das vielleicht überhaupt mißlungene Konstruktionen, die modifiziert gehören? Aber einiges muß schon zu diesem Bild passen, sonst liegt die Vermutung nahe, daß es sich um ein ganz falsches Bild handelt. Auf diese Weise werden die Teile mittels der Ganzheit und die Ganzheit mittels der Teile kritisiert. Eine Vorgehensweise, die bei Theodor Adorno als dialektisch bezeichnet wird. 2 Die Maschinenanalogie für das Bild vom Ganzen hat allerdings ihre Tücken. Der Vergleich hinkt. Was hier mit Ganzheit gemeint ist, ähnelt weniger dem Bild einer Maschine und mehr dem Bild der Ordnung in dem Lager einer großen Automobilwerkstatt, in einem Archiv oder in einer Bibliothek. Die Ordnung der Ganzheit beruht in diesen Fällen auf ein System von mehr oder weniger geschickt gewählten Unterscheidungen. Das Bild von der Ordnung der Dinge, von welchem in diesem Band versuchsweise ausgegangen wird, wird mittels dreier hierarchischer Ordnungen oder Dimensionen konstruiert. Kennzeichnend für die erste Dimension, bezeichnen wir diese als Hierarchie 1. Art, ist, daß die Phänomene einer in der Hierarchie höher gelegenen Stufe von den Phänomenen der darunter gelegenen Stufe zusammengesetzt oder gebildet werden. So werden etwa Moleküle aus Atomen, Zellen aus Molekülen, Organe aus Zellen, Individuen aus Organen, Gruppen aus Individuen und Gesellschaften aus Gruppen von Individuen zusammengesetzt oder gebildet. Die zweite Dimension, bezeichnen wir diese als Hierarchie 2. Art, ist weit komplexerer Natur. Sie ist eine Hierarchie von Steuerungen. Auf der untersten Stufe dieser hierarchischen Ordnung haben wir Naturgesetze und Randbedingungen. Das ist die kennzeichnende Steuerungsart der Dinge, die wir zu der physikalischen Natur zählen. Eine Etage darüber läßt sich die Steuerung durch genetische Programme ansiedeln. Die Existenz dieser Steuerungsart kennzeichnet alles Lebendige, von den einfachsten Einzellern bis zu den Menschen. Wieder eine Stufe darüber treffen wir auf die Steuerung des Verhaltens durch Bewußtseinseriebnisse, wie Schmerz und Wohlbehagen. Auch diese Steuerungsart gibt es bereits bei recht primitiven Organismen. Wieder eine Stufe darüber treffen wir auf die Steuerung durch normative Entscheidungen und auf der obersten Stufe schließlich auf die Steuerung des Verhaltens durch Wissen im Sinne von beschreibenden und hypothetischen Bewußtseinsinhalten. Diese beiden zuletzt genannten Steuerungsarten sind im wesentlichen erst beim Menschen entstanden. Charakteristisch für diese hierarchische Struktur von Steuerungen ist, daß ihre Stufen aus Phänomenen gebildet werden, bei denen wir in keinem Fall sagen können, die Phänomene einer Ebene würden aus den Phänomenen der darunteriiegenden Ebene zusammengesetzt oder gebildet. Anders
2 Vgl. Adomo, Einleitung. In: Theodor W. Adomo u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied: Luchterhand 1970, S. 7-79. 2 Meleghy
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ausgedrückt, die Phänomene der einzelnen Ebenen dieser Struktur haben jeweils emergenten Charakter. Die dritte Dimension bezieht sich auf die Struktur und auf das Verhalten von lebendigen Phänomenen und ist mit der grundlegenden Idee der Darwinschen Evolutionstheorie verknüpft. Entwicklung beruht nach dieser Vorstellung auf Variation und Selektion. Es bilden sich versuchsweise neue organische Strukturen und Verhaltensweisen aus, diese müssen sich bewähren, diejenigen Strukturen und Verhaltensweisen, die sich als nützlich erweisen, werden weitergegeben und breiten sich aus. Strukturen und Verhaltensweisen, die sich als unvorteilhaft erweisen, werden dagegen eliminiert. Variation erfolgt immer ausgehend von einer Plattform bewährter Strukturen und Verhaltensweisen. Variiert werden immer nur einzelne Elemente der Struktur oder des Verhaltens. Damit sind die zwei Ebenen der dritten hierarchischen Ordnung genannt. Die erste (untere) wird durch die Summe aller bewährten Strukturen und Verhaltensweisen, die zweite (obere) Ebene durch die von der unteren Ebene ausgehenden Variationen gebildet. Durch diese dritte Dimension erhält die Ordnung ihre Dynamik. Das evolutionäre Geschehen, vorangetrieben durch Variation und Selektion, wird in Gang gesetzt. Mit Hilfe des auf diese Weise entstandenen Bildes werden dann die folgenden drei Fragen beantwortet: 1. Was ist der Gegenstand der Soziologie?, 2. Was ist die Aufgabe der Soziologie? und 3. Gibt es eine spezifische soziologische Methode? Diese drei Fragen werden dahingehend beantwortet, daß es 1. mehrere soziologische Gegenstandsbereiche, nämlich soziale, normative und kulturelle Phänomene gibt, welche sich vor dem gemeinsamen Hintergrund der drei hierarchischen Ordnungen deutlich abzeichnen, 2. daß es die Aufgabe der Soziologie ist, die von ihr untersuchten sozialen, normativen und kulturellen Phänomene als Problemlösungen oder als Mittel der Lebensbewältigung zu untersuchen und 3. daß die Soziologie in der Gestalt Karl Poppers Situationslogik über eine eigenständige Methode verfügt. Mittels dieses, mit Hilfe dieser drei hierarchischen Ordnungen entworfenen dynamischen Bildes lassen sich zudem eine Vielzahl von soziologischen Bruchstücken zu einem Ganzen zusammenfügen. Einige Teile leisten jedoch Widerstand. Das liegt aber, wie wir gesehen haben, nicht notwendigerweise daran, daß das Bild, von dem wir versuchsweise ausgegangen sind, falsch ist. Die Teile lassen sich mittels der Ganzheit kritisieren. Das Buch ist in vier Kapiteln gegliedert. Das erste Kapitel ist der Kritik der Soziologie gewidmet, sowie vier Lösungsvorschlägen, auf welche Wege die Krise in der Soziologie überwunden werden könnte. Eines dieser Vorschläge meint, daß bereits die Konzeption des soziologischen Gegenstandsbereichs falsch sei, und daß man daher zunächst einmal an dem Rahmen, in dem dann die einzelnen Elemente lokalisiert werden können, arbeiten müsse.
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Im zweiten Kapitel wird das Verhältnis der beiden Ebenen Theoriekontext und einzelne Theorie behandelt. Dabei zeigt es sich, daß es sich bei diesem Verhältnis um einen Beziehungstyp handelt, der bei allen Arten des Lernens eine wichtige Rolle spielt. Es wird gezeigt, daß es bei zahlreichen wissenschaftlichen Debatten, so auch beim sogenannten "Positivismusstreit in der Deutschen Soziologie'.3, um das Verhältnis dieser beiden Ebenen ging. Im dritten Kapitel erfolgt die Rekonstruktion Karl Poppers Evolutionärer Erkenntnistheorie. Dabei werden wesentliche Elemente des in dieser Arbeit verwendeten Bezugrahmens erarbeitet. Karl Poppers sogenannte Drei-WeltenTheorie wird in diesem Kapitel zu einer hierarchischen Struktur von Steuerungen (Hierarchie 2. Art) ausgebaut. Die erste Charakterisierung der soziologischen Methode geschieht ebenfalls in diesem Kapitel. Im vierten Kapitel wird zunächst der Bezugsrahmen vorgestellt. Die drei hierarchischen Ordnungen werden beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt. Auf dieser Grundlage werden die drei soziologischen Gegenstandsbereiche soziale, normative und kulturelle Phänomene, sowie deren mögliche Verknüpfungen bestimmt. In der zweiten Hälfte des vierten Kapitels wird dann mit Hilfe des erarbeiteten Bezugsrahmens aufgeräumt. Die soziologischen Bruchstücke werden in die Ordnung eingefügt. Was ist an dieser Darstellung neu? Warum sollte man das Buch lesen? Das erste Kapitel hat einführenden Charakter. Es geht in diesem Kapitel weniger darum, eine strenge Systematik zu entwerfen, als darum, eine Problemsituation aufzureißen. Mit Hilfe der besprochenen Werke soll das Problem illustriert werden. Nun ist Soziologen die Lage ihres Faches hinlänglich bekannt. Kennern der Szene bietet das Kapitel daher wenig Neues. Die Ausführungen dieses Kapitels haben die Funktion, den Problemhintergrund, von dem der Autor ausgeht, zu vermitteln. Eilige Leser mögen die Seiten des ersten Kapitels überschlagen Die weiteren Ausführungen sind auch ohne die Lektüre des ersten Kapitels verständlich. In dem zweiten Kapitel geht es um die zwei Ebenen des Lernens. Diese zwei Ebenen sind: 1. Lernen innerhalb eines bestimmten Kontextes, etwas richtig zu tun und 2. Lernen, worum es in einer bestimmten Situation überhaupt geht. Man kann, um den Unterschied zu verdeutlichen, um den es hier geht, lernen, wie man Witze erzählt und man kann lernen, wann es angemessen ist, Witze zu erzählen. In diesem Kapitel werden mit Hilfe des Konzeptes der zwei Ebenen des Lernens zwei bekannte methodologische Kontroversen, die Auseinandersetzung zwischen Karl Popper, Thomas Kuhn, Irnre Lakatos und Paul Feyerabend über
3 Adomo u.a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied: Luchterhand 1970.
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Theoriedynamik und der sogenannte Positivismusstreit in der deutschen Soziologie auf eine neue Art gedeutet. Man könnte hier sagen: Die Fakten sind bekannt, die Deutung und das Ergebnis sind jedoch neu. Das Ergebnis besagt, daß die Dialektiker im Positivismusstreit, auch wenn sie ihre Anliegen in einer recht dunklen Sprache vorbrachten, mit ihren ständigen Hinweisen auf den Kontext (auf den Rahmen oder auf die Totalität) im Prinzip durchaus recht hatten, und daß die Sichtweise der Dialektiker im Verlaufe der Debatte um die Theoriedynamik bestätigt wurde. Innerhalb des vorliegenden Bandes hat das 2. Kapitel die Funktion, die weitere Vorgehensweise - die Konstruktion eines adäquaten Bezugsrahmens - zu begründen. Von wissenschaftstheoretisch nicht interessierten Lesern kann auch dieses Kapitel übersprungen werden. Karl Poppers Evolutionäre Erkenntnistheorie, die im dritten Kapitel behandelt wird, ist die Grundlage, von dem aus der Bezugsrahmen entwickelt wird. Karl Poppers Evolutionäre Erkenntnistheorie wird in diesem Kapitel rekonstruiert. Mit Rekonstruktion ist keine einfache Beschreibung gemeint. Karl Popper hat diese Theorie in der Form, wie ich sie darstelle, nirgendwo beschrieben. Die Theorie wurde von mir teilweise ergänzt und mit anderen Theorieteilen von Karl Popper verknüpft. Angestrebt wurde von mir allerdings eine werkimmanente Rekonstruktion, eine Rekonstruktion, zu der Karl Popper sagen würde: Ja, so ähnlich habe ich das gemeint. Ich präsentiere die Theorie in diesem Kapitel im wesentlichen als eine Einheit, ohne jeweils zu sagen - das ist von Karl Popper - hier verknüpfe ich diese Theorie mit anderen Theorieteilen - das ist meine Ergänzung - bezüglich dieser Frage sind die Ausführungen von Karl Popper mehrdeutig - er wird in dieser Frage von manchen so, von anderen so verstanden usw. Ich möchte daher an dieser Stelle angeben, worin meine eigene Leistung in diesem Kapitel besteht, was ich daher in diesem Kapitel zu verantworten habe. Ausgangspunkt meiner Darstellung ist Karl Poppers Drei-Welten-Theorie. Ich messe dieser Theorie eine große Bedeutung bei. Von diesem Zentrum ausgehend wird von mir Karl Poppers Evolutionäre Erkenntnistheorie entwickelt. Von anderen Autoren wird dagegen Karl Poppers Drei-Welten-Theorie und sein auf diese Theorie beruhender pluralistischer Standpunkt bezüglich des Leib-Seele-Problems überhaupt nicht geschätzt. Die Theorie wird vielfach als eine metaphysische Spekulation abgetan. 4 Ich habe Karl Poppers Drei-WeltenTheorie ergänzt, und zwar insoweit, daß ich innerhalb dieser Struktur den Platz oder den Ort der normativen Ebene - die Ebene normativer Entscheidungen
4 Vgl. Vollmer, Was können wir wissen? Band 1: Die Erkenntnis der Natur. Stuttgart: Hirzel, 2. durchgesehene Auflage 1988 und Vollmer, Was können wir wissen? Band 2: Die Erkenntnis der Natur: Beitrag zur modernen Naturphilosophie. Mit einem Geleitwort von Hans Sachsse. Stuttgart: Hirzel, 2. durchgesehene Auflage 1988.
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und Institutionen - bestimmt habe. Nach Karl Popper sind Normen und Institutionen Bestandteile seiner dritten Welt. In welchem Verhältnis Normen und Institutionen zu anderen Bestandteilen der dritten Welt stehen, hat Karl Popper, soweit mir bekannt ist, nicht geklärt. Durch die Verknüpfung Karl Poppers Ausführungen zur Methodologie der Sozialwissenschaften mit seiner Drei-Welten-Theorie bin ich zu einer Interpretation seiner Situationslogik gelangt, die beunruhigend eigenständig ist. Gemeint ist damit, daß Karl Poppers sogenannte Situationslogik - das nach Karl Popper in den Sozialwissenschaften angemessene Verfahren - von Kennern seines Werkes gewöhnlich ganz anders als von mir beurteilt wird. 5 Ohne Vorbild ist die im vierten Kapitel vorgenommene Unterscheidung der drei hierarchischen Ordnungen - gewöhnlich werden diese drei Dimensionen, wie ich in diesem Kapitel zeige, heillos miteinander vermengt - sowie natürlich auch die mit Hilfe dieser drei Dimensionen entworfenen Systematik. Und da der Bezugsrahmen von mir stammt, muß ich auch die Verantwortung für die im 2. Teil des vierten Kapitels mit Hilfe dieses Bezugrahmens durchgeführten Synthese übernehmen. Vor rund 25 Jahren hat Viktor Vanberg ein Buch mit dem Titel Die zwei Soziologien veröffentlicht. 6 Behandelt werden in dem Werk der individualistische und der holistische Ansatz als Alternativen zur Erforschung der sozialen Wirklichkeit. Ich halte dieses Buch für überaus lesenswert und für sehr wichtig. Viktor Vanberg setzt sich in ihm mit ganz zentralen Fragen der Soziologie auf sehr überzeugende Weise in einern äußerst präzisen und klaren Stil auseinander. Die generelle Aussage des Buches ist, daß in den Sozialwissenschaften nur eine einzige adäquate Vorgehensweise existiert. Diese ist sowohl individualistisch als auch reduktionistisch. Ich halte dieses Ergebnis für falsch. Das vorliegende Buch soll dieses Urteil begründen. Anmerken möchte ich noch, daß Viktor Vanbergs zwei Soziologien - kollektivistische und individualistische Soziologie - nichts mit meinen drei Soziologien - Soziologie sozialer, normativer und kultureller Phänomene - zu tun haben. Eigentlich wollte ich ein Buch über die soziale Evolution schreiben. In dieser Arbeit geht es - vielleicht mit Ausnahme des ersten einführenden Kapitels "Kritik der Soziologie" - tatsächlich immer um dieses Thema: Kapitel C behandelt die Evolution des wissenschaftlichen Wissens, Kapitel D Karl Poppers Evolutionäre Erkenntnistheorie und die evolutionäre Entstehung von Normen und Kapitel E die für die Erfassung der sozialen und kulturellen Evolution relevanten Unterscheidungen (die drei hierarchischen Ordnungen) und die
5 V gl. z. B. Schmid, Rationalität und Theoriebildung. Studien zu Karl R. Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften. Amsterdam und Atlanta: Rodopi 1996. 6 Vgl. Vanberg, Die zwei Soziologien, Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie. Tübingen: Mohr 1975.
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A. Einführung
Frage nach der Logik evolutionärer Erklärungen in den Sozialwissenschaften. Dieses Buch ist trotzdem kein Buch über die soziale Evolution. Die Arbeit behandelt Fragen, die geklärt werden müssen, bevor man eine Arbeit über die soziale Evolution verfassen kann. Ein passender Titel könnte daher etwa lauten: "Vorbemerkungen zu einer Theorie der sozialen Evolution." Ein solcher Titel wäre wiederum angesichts des Umfanges der Arbeit nicht ganz angemessen.
B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie I. Kritik der Soziologie Die Unzufriedenheit von Soziologen mit dem Zustand und mit der Entwicklung ihres Faches ist beileibe nichts Neues. Beginnend mit dem Zusammenbruch der großen evolutionären Stadienentwürfe im 19. Jahrhundert, dann in den 20-er und 30-er Jahren - insbesondere in der deutschen Soziologie - ertönte der Krisenruf im Soziologenlager immer häufiger. 7 Sichtet man die soziologische Literatur der letzten Jahre nach wertenden Stellungnahmen betreffend der Lage der Soziologie, so findet man, daß die Unzufriedenheit, natürlich in einem recht breiten Spektrum aufgefachert, beginnend mit leichtem Unmut bis zur Krisenstimmung allgegenwärtig ist. Die nachfolgende Analyse hat entsprechend der Aufgabe dieses Kapitels eher illustrativen Charakter und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Reihenfolge der Besprechung der herangezogenen Schriften erfolgt nach thematischen Gesichtspunkten. Rainer Lepsius meinte in seiner Ansprache zur Eröffnung des 17. Deutschen Soziologentages 1974 in Kassel, die Soziologie befande sich weltweit in einer recht problematischen Situation. Es sei offensichtlich geworden, daß die Soziologie zu der Lösung der großen aktuellen Probleme moderner Gesellschaften zur Zeit nur wenig beitragen könne. Es sei "noch nicht gelungen, die Soziologie als eine empirische Wissenschaft zur systematischen Dauerbeobachtung gesellschaftlicher Prozesse angemessen zu institutionalisieren."s Ohne grundlegende Veränderung in der Forschungsorganisation und Forschungsfinanzierung dürfte sich nach Rainer Lepsius an diesem Faktum in der nahen Zukunft nur wenig ändern. Soweit sein globales Urteil. Die bedeutendsten Defizite sah Rainer Lepsius im Bereich der Theorieproduktion: "Die sogenannte Positivismusdebatte diente gewissermaßen als Substitut für den oft beklagten Mangel an substantiellen Theorien. ,,9 In dem Schlagabtausch der streitenden Parteien im sogenannten "Positivismusstreit" seien zwar die Standpunkte des Kritischen 7 Vgl. EisenstadtlCurelaru, The Form of Sociology - Paradigms and Crisis. New York: lohn Wiley 1976. S Lepsius, Ansprache zur Eröffnung des 17. Deutschen Soziologentages: Zwischenbilanz der Soziologie. In: M. Rainer Lepsius (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Stuttgart: Enke: 1976, S. 12. 9 Ebda. S. 6.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Rationalismus und der Kritischen Theorie der Gesellschaft klarer geworden, eine befruchtende Wirkung dieser Debatte auf die empirische Forschung stehe aber immer noch aus. Überhaupt sei dieser Streit auf einer allgemeinen Ebene, losgelöst von der empirischen Forschungspraxis, geführt worden. Positiv berichtet Rainer Lepsius in seinem Referat von der Etablierung und Verfeinerung der Techniken der Umfrageforschung nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland. Robert Merton meinte in seinem Aufsatz die Strukturelle Analyse in der Soziologie lO Alvin Gouldner hätte in seinem Buch The Coming Crisis 0/ Western Sociologyll das Problem eher unterschätzt, denn seiner eigenen Meinung nach befände sich die Soziologie nicht nur heute in einer Krise, vielmehr sei "die Soziologie während ihrer gesamten Geschichte in einer Krisensituation,,12 gewesen. Später unterscheidet Robert Merton zwei Arten von Krisen in der Soziologie. Die erste Art von Krise sei chronischer Natur, hervorgerufen vom Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit angesichts der Kluft zwischen der zur Lösung anstehenden gesellschaftlichen Probleme und dem Angebot an wissenschaftlich fundierter theoretischer und praktischer Problemlösungskapazität der Soziologie. Gesteuert sei das Ausmaß der so empfundenen Krise durch die gesellschaftliche Dynamik, die diese Kluft mal mehr, mal weniger ins Soziologenbewußtsein riefe. Begleitet wird dieser Vorgang nach Robert Merton durch wissenschaftsinterne Prozesse. In Zeiten zunehmender Distanz zwischen Nachfrage und Angebot an soziologischer Problemlösungskapazität würden die Unzulänglichkeiten der Theorien immer klarer erkannt und ihre Rettung mit Hilfe mehr oder weniger plausibler ad hoc Hypothesen immer problematischer. Auf kognitiver Ebene ruft dieses Bewußtsein nach Robert Merton eine Theoriekrise hervor, die, nebenbei ganz in Übereinstimmung mit der Analyse von S.N. Eisenstadt und M. Curelaru 13, häufig grundlegende Umorientierungen in der Soziologie einleiten. Die erste Art von Krise wird nach Robert Merton heute durch eine aktuelle Krisenursache verstärkt: Angesichts der sich ständig vergrößernden Kluft zwischen Erwartungen an die nunmehr akademisch voll etablierte Soziologie und ihrer tatsächlichen Problemlösungskapazität ließen sich Soziologen zu der Abgabe von Erklärungen und zu der Erteilung von Ratschlägen hinreißen, die sich später als in pseudowissenschaftlicher Sprache verfaßter common sense, Parteiideologie oder bestenfalls als voreilig in die Praxis transferierte unreife Früchte unserer Wissenschaft entlarven würden. Dies stärke dann das Bewußtsein von einer ~se der Soziologie sowohl bei den politisch Verantwortlichen als auch
10 Vgl. Merton, Strukturelle Analyse in der Soziologie. In: Peter M. Blau (Hg.), Theorien sozialer Strukturen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1978. 11 V gl. Gouldner 1970. 12 Merton, Strukturelle Analyse. S. 27. 13 Vgl. EisenstadtlCurelaru.
I. Kritik der Soziologie
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bei den interessierten Laien und nicht zuletzt auch bei den Fachsoziologen und bei Studierenden der Soziologie. Unterstützung findet die Krisenstimmung Robert Merton zufolge durch die Einflüsse eines in den Sozialwissenschaften um sich greifenden Subjektivismus, der durch die oberflächliche Rezeption der neueren Diskussion innerhalb der Wissenschaftstheorie ausgelöst wird. Robert Merton denkt hier an die Arbeiten von Thomas Kuhn, Imre Lakatos, Paul Feyerabend und Stephan Toulmin. 14 Er schließt sich hier der Meinung Joseph Ben-Davids an, nach der dieser neue Subjektivismus insbesondere bei der Nachkriegsgeneration von Soziologen, die die verheerende Wirkung von totalitären Ideologien nicht mehr bewußt miterlebt haben, auf fruchtbaren Boden fällt. Für diese Generation ist nach Joseph Ben-David das Bedürfnis nach einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft und Ideologie nicht mehr so elementar wie für die unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg tonangebende Soziologengeneration, für die, trotz aller Verschiedenheit ihrer Meinungen, die Grundkonzeption der Soziologie als eine wertfreie Wissenschaft außer Streit stand. 15 Niklas Luhmann spricht im Vorwort zu seinem 1984 veröffentlichten Buch Soziale Systeme von einer "Theoriekrise" in der Soziologie. 16 Er beklagt das Fehlen einer einheitlichen soziologischen Theorie, das Fehlen eines allgemein akzeptierten Musterbeispiels oder Paradigmas im Sinne Thomas Kuhns. 17 Statt eines fachintern allgemein akzeptierten Paradigmas sieht Luhmann "Theoriesyndrome wie Handlungstheorie, Systemtheorie, Interaktionismus, Kommunikationstheorie, Strukturalismus, dialektischer Materialismus.,,18 Diese sogenannten Theorien oder ,,Formen" sind ihm zufolge "Kurzformein für Komplexe
14 Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main Suhrkamp 1973; Kuhn, Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit. In: Imre LakatoslAlan Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974; Kuhn, Bemerkungen zu neuen Kritiken. In: Imre LakatoslAlan Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974; Lakatos, Falsifikation und Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme. In: Imre LakatoslAlan Musgrave(Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974, S. 89-189; Lakatos, Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In: Imre LakatoslAlan Musgrave(Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974, S. 271-311; Feyerabend, Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen - ein Trostbüchlein flir Spezialisten? In: Lakatos/Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974 und Toulmin, Ist die Unterscheidung zwischen Normalwissenschaft und revolutionärer Wissenschaft stichhaltig? In: Lakatos/Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig. Vieweg 1974. 15 Vgl. Ben-David, Tbe State of Sociological Tbeory and the Sociological Community. In: Comparative Studies in Society and History, Vol. 15, 1973, S. 471 f. 16 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 7. 17 Vgl. Kuhn, Die Struktur. 18 Kuhn, Die Struktur. S. 7 f.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
von Namen und Gedanken,,19 aus der Geschichte der Soziologie, Gedanken von Klassikern, die von den Soziologen, anstelle einer echten Theoriearbeit, immer wieder neu rezipiert würden. Diese Theoriesyndrome würden dann miteinander kombiniert, verglichen, die eine Theorie in der Begrifflichkeit der anderen rekonstruiert. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist nach Niklas Luhmann eine unüberschaubare Vielfalt, eine "intransparente Komplexität" - gerade das Gegenteil dessen, was eine Theorie leisten soll, nämlich die Reduktion von Komplexität bzw. die Schaffung einer "transparenten Komplexität".zo Die Spaltung des Theoriebegriffs in der Soziologie steht für ihn im Zusammenhang mit dieser Theoriearbeit: "Teils versteht man unter Theorie empirisch testbare Hypothesen über Beziehungen zwischen Daten, teils begriffliche Anstrengungen in einem weitgefaßten, recht unbestimmten Sinne,'.21 Neben der Theoriekrise existiere eine ,,recht erfolgreiche empirische Forschung",22 die jedoch relativ losgelöst von der theoretischen Arbeit betrieben würde und die Theorieproduktion letztlich nicht befruchtet hätte. Zu einem ähnlich kritischen Urteil über die Lage der soziologischen Theorieproduktion kam Ralf Dahrendorf in seiner Analyse der vorliegenden Theorien der sozialen Schichtung. 23 Die vorgeschlagenen Erklärungsmodelle, Ralf Dahrendorf erwähnt hier u. a. bekannte einschlägige Arbeiten von Talcott Parsons,24 Kingsley Davis und Wilbert Moore,2s Melvin Tumin26 und Gerhard Lenski,27 sind nach ihm keine Theorien im engeren Sinne, also keine empirisch testbaren Aussagensysteme, sondern Komplexe von Sätzen eines mehr vorläutigeren oder vageren Typs, die man treffender als "allgemeine Orientierungen oder Paratheorien oder Gesellschaftsbilder" bezeichnen sollte. 28 Aus der Tatsache, daß diese Paratheorien weitgehend unabhängig von beobachtbaren Daten formuliert werden, folgt nach Ralf Dahrendorf die für eine vorgeblich empirische Wissenschaft unbefriedigende Situation, daß diese recht kontroversen Schichtungs- und Klassentheorien durch keinerlei Beobachtungen erschütterbar sind. Aus dem Nebeneinander mehrerer unentscheidbarer Schichtungstheorien 19 Kuhn, Die Struktur. S. 8. zoEbd. S. 9. 21 Ebd. S. 7. 22 Ebd. S. 7. 23 Vgl. Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Zur Theorie und Methode der Soziologie. München: Piper 1974, S. 336 ff. 24 Vgl. Parsons, Soziologische Theorie (Beiträge zur soziologischen Theorie). Neuwied und Berlin: Luchterhand 1964, S. 180 ff. 2S Vgl. Davis Kingsley/Moore, Some principles of Stratification. In: BendixlSeymourl Lipset (Hg.), Class, Status and Power. London: Routledge und Kegan 1966. 26 Vgl. Tumin, Some Principles of Stratification. In: BendixlLipset (Hg.), Class, Status and Power. London: Routledge und Kegan 1966. 27 Vgl. Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 28 Vgl. Dahrendorf, Pfade. S. 343.
I. Kritik der Soziologie
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folgt nach ihm weiter, daß die Soziologie für jedermann, je nach persönlicher Interessenlage, die passende ideologische Waffe zu liefern in der Lage ist. Das Vorhandensein konkurrierender Paratheorien ist für Ralf Dahrendorf allerdings an und für sich noch nichts Schlechtes, denn Paratheorien können bei der Konstruktion empirischer Theorien durchaus eine echte Hilfe leisten, in dem Sinne, daß sie Annahmen enthalten, in welcher Richtung bei der Lösung eines Problems überhaupt zu suchen ist. Ob diese Hinweise nützlich sind bei der Konstruktion empirischer Theorien oder nicht, ist nach Ralf Dahrendorf das entscheidende Kriterium für die Beurteilung von Paratheorien, und nicht ihre Wahrheit oder Falschheit. Wichtig ist nach ihm, daß man Paratheorien und empirische Theorien nicht verwechselt und man beim Vorliegen von Paratheorien die Suche nach empirischen Theorien nicht abbricht, und daß man nicht so tut, als hätte man bereits etwas Konkretes und Wesentliches gefunden. Die soziologische Praxis bestätigt nach Ralf Dahrendorf diese seine Befürchtung voll, in keinem anderen Gegenstandsbereich sei die unter Soziologen vielbeklagte Distanz zwischen der sogenannten Theorie und der empirischen Forschung eklatanter als hier. Daran seien nicht nur die Theoretiker schuld, die sich fern der Empirie auf einer recht abstrakten Ebene aufhielten, sondern auch die Empiriker, die teils mit erstaunlich raffinierten Forschungstechniken naiv Daten sammelten, die für die Soziologie kaum eine Relevanz hätten. In der amerikanischen Soziologie fand Heinz Hartmann für die konsequente Verfolgung einzelner Ansätze nur wenige Beispiele. 29 Solche Ausnahmen sind nach ihm auf der Ebene der empirischen Forschungspraxis Untersuchungen, die die Arbeiten von Emile Benoit-Smullyan30 und Gerhard Lenski 31 zur Statusinkonsistenz ausgelöst haben, auf der Ebene der Theorien mittlerer Reichweite das Forschungsprogramm, an dessen Anfang Robert Mertons Arbeit32 zum abweichenden Verhalten stand, und auf der allgemeinsten Ebene die strukturellfunktionale Theorie Parsonsianischer Prägung. Diese Beispiele seien aber eindeutig Ausnahmen, denn auch hier dominiere das bereits bekannte Bild mit einer Vielzahl unverbundener, nebeneinander existierender Ansätze. Eine systematische gegenseitige Befruchtung der Arbeiten auf den verschiedenen Ebenen läßt sich nach Heinz Hartmann nicht beobachten. David Silverman schreibt in der Einleitung zu dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband Neue Richtungen in der soziologischen Theorie, es gäbe
29 Vgl. Bartmann, Stand und Entwicklung der amerikanischen Soziologie. In: Heinz Hartmann (Hg.), Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart: Enke 1967, S. 44. 30 V gl. Benolt-Smullyan, Status, Status Types and Status Interrelationships. In: American Sodological Review, Jg. IX, 1949. 31 Vgl. Lenski, Status Crystallization: A Non-Vertical Dimension of Sodal Status. In: American Sociological Review, Jg. XIX, 1954. 32 Vgl. Merton, Sodal Theory and Sodal Structure. New York: The Free Press 1968, S. 185 ff.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
heute ein "allgemein gehegtes Geruhl des Unbehagens unter den Fachkollegen angesichts der Schwächen der zeitgenössischen Soziologie".33 Grund des Übels sind nach ihm folgende vier unter Soziologen weitverbreitete Grundhaltungen oder Ansichten: ,,1. Eine Auffassung von Theorie als etwas Konstruiertes und über den Schreibtisch Vermitteltes, das den Studenten als ein vom Verständnis der Alltagswelt völlig Abgetrenntes angeboten wird. 2. Eine Auffassung von Methodologie als einer Reihe von Techniken, die verwendet werden, um die unveränderlichen Eigenschaften einer ,soliden' Tatsachenwelt einzufangen. 3. Ein Vertrauen auf die unerläuterten Annahmen des gesunden Menschenverstandes, die ihren Ausdruck in der Bereitschaft finden, den Handelnden, vernünftige' Motive zuzuschreiben und Phänomene mit Begriffen wie ,was jedermann weiß' als unproblematisch erscheinen zu lassen. 4. Das Fehlen philosophischen Zweifels bei der Untersuchung von ,Dingen', die offenkundig als fraglos hingenommen werden in einer Welt, die doch unser Geist schöpferisch gestalten kann. "34 Aus den vier Kritikpunkten wird klar, daß die Autoren des Bandes die Meinung vertreten, der Großteil der Soziologen würde mit falschen Annahmen an die Arbeit gehen: Sie machten sich falsche Annahmen über das Wesen der von ihnen untersuchten (sozialen) Phänomene und über die Art und Weise, wie diese Phänomene untersucht werden sollten. Die Soziologie hänge, Emile Durkheim folgend, einem falschen wissenschaftlichen Dogma nach, wonach soziale Tatsachen als Dinge zu behandeln seien. Für David Silvermann führt gerade diese Verdinglichung sozialer Tatsachen, verbunden mit den aus den Naturwissenschaften abgeleiteten Standar9s der Wissenschaftlichkeit, zu der Unergiebigkeit soziologischer Theorieproduktion. Diese falsche Wissenschaftlichkeit verstelle den Weg für einen adäquaten wissenschaftlichen Zugang zu den sozialen Tatsachen, sie verhindere die Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Methodologie, die ihre Standards nicht anderen Wissenschaften abschaut, sondern ihre eigenen aus dem Wesen der von ihr selbst untersuchten Phänomene entwickelt. Er selbst plädiert für die konsequente (Weiter-) Entwicklung einer phänomenologischen Soziologie, die die bisherige positivistisch fehlgeleitete Soziologie ablösen soll. Auch George Homans berichtet in seinem Aufsatz ,,zeitgenössische soziologische Theorie" nur wenig Positives über die Arbeit seiner Kollegen. Nach einer ausführlichen Darstellung seines Theorieverständnisses - wobei ihm als positives Beispiel für eine empirische Theorie das deduktive System dient, das Emile Durkheim für die Erklärung der niedrigen Selbstmordrate in Spanien verwendete - stellt er fest, daß sich viele Soziologen - als prominente Beispiele werden Talcott Parsons und Robert Merton angeführt - von dieser klassischen
33 Silverman, Einleitende Bemerkungen. In: FilmerlPhillipsonlSilverman/Walsh (Hg.), Neue Richtungen in der soziologischen Theorie. Wien: Böhlhaus 1975, S. 11. 34 Ebd. S. 11 f.
I. Kritik der Soziologie
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Vorstellung recht entfernt hätten. Für diese Soziologen sei ein Satz logisch zusammenhängender bzw. kontingenter empirischer Begriffe bereits eine Theorie. Was hier nach George Homans fehlt, was solche Komplexe erst zu empirischen Theorien machen würde, sind empirische Annahmen oder ,,kontingente Hypothesen" über die Art der Beziehungen zwischen diesen Elementen?S Soweit solche falschen Vorstellungen von Theorie sich lediglich als Mißgriffe innerhalb methodologischer Reflexionen einiger Soziologen herausstellten, wäre das nicht besonders problematisch, nur widerspiegelt die zeitgenössische soziologische Praxis genau dieses falsche Theorieverständnis: ,,Ein Großteil dessen, was als soziologische Theorie ausgegeben wird, besteht tatsächlich aus Begriffen und deren Definitionen: sie liefert das Wörterbuch einer Sprache, die keine Sätze kennt.,,36 George Homans gibt zwar zu, daß es auch soziologische Theorien gibt, die nicht dem oben geschilderten Theorietyp entsprechen. Er unterscheidet strukturelle, funktionale, geschichtliche und psychologische Theorien. Strukurelle Theorien sind nach ihm in der Regel s.ehr spezifisch, von geringem Allgemeinheitsgrad und besitzen daher nur wenig empirischen Gehalt, funktionale Theorien sind, zumindest in der derzeitig vorliegenden Form, empirisch kaum haltbar oder ganz einfach falsch und geschichtliche Theorien sind im Grunde gar keine Theorien, sondern Ansammlungen von Fakten, aus denen ohne Hinzufügung elementarer psychologischer Theorien eigentlich gar nichts folgt. Was nun das Verhältnis von Theorie und Forschungspraxis betrifft, folgt aus all dem, daß an dem vielbeklagten theorielosen Faktensammeln der Forschungspraktiker eigentlich die Theoretiker, d. h. das Fehlen gehaltvoller soziologischer Theorien, schuld sind. 37 Nach John Rex ist die Soziologie vom Idealbild einer empirischen Wissenschaft, wenn man darunter etwa nach dem Modell der Physik ein System empirischer Gesetzesaussagen versteht, noch weit entfernt. 38 Er unterscheidet bei der soziologischen Forschung drei Ebenen: Auf der untersten Ebene siedelt er Forscher an, die teils mit primitiven, teils mit hochentwickelten Instrumenten nach empiristischer Manier einfach Daten sammeln, auf der mittleren Ebene Forscher, die Konzepte von relativ begrenzter Allgemeinheit oder "Theorien mittlerer Reichweite" in ständiger enger Tuchfühlung mit der empirischen Datenbasis entwickeln, und auf der obersten Ebene Wissenschaftler, die losgelöst von diesen beiden Ebenen, spekulativ globale theoretische Orientierungen entwerfen.
35 Vgl. Homans, Grundfragen soziologischer Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1972, S. 16 f. 36 Ebd. S. 17. 37 Vgl. ebd. S. 39 f. 38 V gl. Rex, Grundprobleme der soziologischen Theorie. Freiburg: Rombach 1970,
S.43.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Die Arbeit erfolge in den einzelnen Bereichen und auf den einzelnen Ebenen der Forschung nicht vertikal und horizontal verzahnt, sondern unkoordiniert und voneinander unabhängig. So wären dann auch die einzelnen Forschungsresultate von nur sehr beschränkter gegenseitiger Relevanz. An diesem Zustand sei teilweise das geringe Alter unseres Faches verantwortlich - man könne von einer jungen Wissenschaft eben nicht die Reife weit älterer Konkurrenten erwarten - verantwortlich seien aber auch einige in der Soziologie herrschende Grundrichtungen, die der Entwicklung des Faches im Wege stünden. lohn Rex meint damit den Empirismus, den Positivismus und den Funktionalismus. Den Empiristen wirft er vor, sie würden naiv, theorielos Daten sammeln, etwa Daten über soziale Ungleichheit, ohne angeben zu können, was diese Daten eigentlich mit Soziologie zu tun hätten. Die Möglichkeit, relativ große Datensätze mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitungsanlagen bequem auszuwerten, hätte diese Art Forschung - John Rex spricht in diesem Zusammenhang von der ,,Barbarisierung soziologischer Forschung,.:l9 - noch verstärkt. Sehr gefahrlich sei auch die beobachtbare Tendenz, Fragen von gesellschaftlicher Relevanz auf Grund von ad hoc Generalisierungen dieser Art von Forschungspraxis beantworten zu wollen. Den Positivisten wirft er einen grundlegenden Irrtum vor, nämlich die Unterstellung eines mechanischen, deterministischen Verhältnisses zwischen der sozialen Ordnung einerseits und den Handlungen einzelner Akteure andererseits. Funktionalisten seien wiederum in ihren Anschauungen über das Wesen gesellschaftlicher Phänomene durch ihre Organismusanalogie fehlgeleitet, was sich auch in der Verwendung einer mechanistischen Sprache ausdrücke. Durch die Übertragung des Organismusmodells auf die Analyse gesellschaft-Iicher Zusammenhänge seien auch einige recht problematische Werturteile in die funktionalistische Soziologie eingeführt worden. Diesen Richtungen will John Rex eine radikal neue, alternative phänomenologische Soziologie gegen-überstellen, die ihre aus dem Wesen des Sozialen abgeleitete eigene Methodologie entwickelt. Auch Soziologen, die primär an methodischen Fragen interessiert sind, wie etwa Hubert Blalock, sehen den tiefen Bruch zwischen empirischer Forschung und soziologischer Theorie. 4o Die Konzepte der Theoretiker seien in einer ganz anderen Sprache formuliert als die Variablen und empirischen Konzepte der Forschungspraktiker. Dies sei aber keineswegs, wie es von manchen vermutet wird, eine auf die Soziologie oder auf die Sozialwissenschaften begrenzbare Beobachtung. Und ganz eliminieren ließe sich dieser Bruch, in dem etwa der anderen Seite einfach die Lebensberechtigung abgesprochen wird, was z. B. extreme Operationalisten vorgehabt hatten, auch in den älteren und exakteren
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Rex, Grundprobleme. S. 10. Vgl. Blalock Jr., The Measurement Problem: A Gap between the Languages of Theory and Research. In: BlalockIBlalock (Hg.), Methodology in Social Research. New York: McGraw-Hill. 1968, S. 5 ff. 40
I. Kritik der Soziologie
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Naturwissenschaften nicht. Nach Hubert Blalock ist hier, bezogen auf dieses Problem, weder der Pessimismus einiger Soziologen gerechtfertigt, noch ist es ratsam, das Problem einfach zu ignorieren, wie es viele in beiden Lagern tun. Vielmehr müßten sowohl Theoretiker wie auch Empiriker, die Konzepte der anderen Seite im Auge behaltend, gemeinsam an der Überbrückung der nun einmal vorhandenen großen Distanz arbeiten. Nach Erwin Scheuch gibt es zumindest einen Bereich der Soziologie, wo die Rede über eine Krise sicherlich nicht gerechtfertigt ist. Diese vielleicht letzte gemeinsame Basis der Profession sei die Methodologie der Sozialforschung mit ihren allgemein anerkannten Erhebungs-, Datenmodifikations- und Auswertungstechniken. Diese Fertigkeiten würden an allen Universitäten als integrale Bestandteile soziologischer Ausbildungsgänge gelehrt und bildeten sozusagen die ,,handwerkliche Dimension für die Soziologie".41 Man kann zwar in diesem Bereich wesentliche neue Akzente beobachten, die Entwicklung hätte aber nichts Krisenhaftes an sich. Nach der Anwendung der traditionellen Verfahren auf die Beschreibung von sozialen Strukturen und ihrem erfolgreichen Einsatz bei der Erklärung relativ einfacher Phänomene seien die Beschränkungen dieser Verfahren allerdings immer deutlicher geworden. Es hätte sich gezeigt, daß für die adäquate Erforschung sozialer Phänomene Verfahren entwickelt werden müßten, die der Komplexität des Gegenstandsbereiches mit ihrem multifunktionalen und multikausalen Charakter Rechnung zu tragen in der Lage sind. Scheuch nennt als Beispiel für solche neuere Techniken die Pfadanalyse. Die breite Anwendung der Sozialforschung bei der Lösung konkreter gesellschaftlicher Probleme zeige insgesamt die Effizienz dieses Instrumentariums. Es zeuge auch für den hohen Standard der erreichten Standardisierung, daß diese Verfahren allgemein, auch von Fachfremden, anerkannt und verwendet würden. Wenn es also überhaupt eine Krise in der sozialwissenschaftlichen Methodologie gibt, dann nicht auf dieser mehr handwerklich-technischen Ebene, sondern in Höhen, wo über Falsifikationsprinzip, Positivismus und ähnliches diskutiert wird, über Fragen, die nach Erwin Scheuch noch nie eine praktische Relevanz für die konkrete Forschungspraxis gehabt hätten. Das eigentliche Problem beginnt nach Michael Phillipson42 bereits bei der gedanklichen Konzeptualisierung und Vorstrukturierung des soziologisch relevanten Gegenstandsbereiches, bei der positivistischen Vorstellung von der Welt, die von den Naturwissenschaften entlehnt wurde, als einer Welt der unabhängig vom Forscher existierenden und von außen erforsch baren Tatsachen. Mit Hilfe seiner objektiven empirischen Forschungsmethoden beobachte der 41 Scheueh, Forschungstechniken als Teil der Soziologie heute. In: M. Rainer Lepsius (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie, Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Stuttgart: Enke 1976, S. 83. 42 Vgl. Phillipson, Theorie, Methodologie und Konzeptualisierung. In: Filmerl PhillipsonlSilvermanlWalsh (Hg.), Neue Richtungen in der soziologischen Theorie. Wien: Böhlhaus 1975.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Soziologe diese Welt von außen, prüfe seine Annahmen über sie, bestätige oder falsifiziere seine Hypothesen. So entstehe dann auf der einen Seite eine Sprache, in der der Forscher seine Sicht der Welt ausdrückt, die Sprache seiner Theorien, und auf der anderen Seite eine Sprache der Empirie, in der er seine objektiven Beobachtungen darstellt, und damit der von allen beobachtete und beklagte Bruch zwischen soziologischer Theorie und empirischer Forschung. Dieser Wissenschaftspraxis, wozu Michael Phillipson alle soziologischen Richtungen mit Ausnahme des Symbolischen Interaktionismus zählt, will er eine Phänomenologische Soziologie gegenüberstellen, eine Soziologie, die vom tatsächlichen empirischen Charakter sozialer Phänomene ausgeht und in der soziologische Theorie und soziologische Forschung eine Einheit bilden. Als Grundlegung für die Kritik soziologischer Theorien stellt Percy Cohen43 zunächst fest, was man seiner Meinung nach unter einer wissenschaftlichen Theorie verstehen sollte. Er versteht unter Theorien empirische (d. h. widerlegbare) Aussagen über die Beziehung zweier Klassen von Phänomenen der Realität. Neben diesem wissenschaftlichen Theorietyp gibt es nach Percy Cohen drei andere Arten von Theorien: 1. analytische Theorien, als Beispiele werden Logik und Mathematik genannt, also komplexe axiomatische Aussagensysteme, die in der reinen Form nichts über die empirische Realität aussagen, 2. normative Theorien und 3. metaphysische Theorien. Kennzeichnend für diesen dritten Theorientyp ist, daß aus solchen Theorien keine die Theorie selbst widerlegbare Textimplikationen ableitbar sind. Als Beispiel nennt Percy Cohen die Theorie der natürlichen Auslese. Solche metaphysischen Theorien haben ihm zufolge, wie das genannte Beispiel es deutlich illustriert, einen hohen heuristischen Wert. Soziologische Theorien ähneln nach Percy Cohen meistens nur recht entfernt dem eingangs geschilderten Idealtyp einer wissenschaftlichen Theorie. Manche sind, wie er am Beispiel grundlegender Aussagen der Systemtheorie zeigt, mehr einem analytischen Theorietyp zuzuordnen, andere so wenig genau und unpräzise formuliert bzw. so allgemein gehalten, daß sie trotz ihres grundsätzlich empirischen Charakters letztlich doch unwiderlegbar sind. Die Lage der soziologischen Theorie wird auch von Claus Mühlfeld und Michael Schmid als recht unbefriedigend beurteilt.44 Anstatt eine Entscheidung über die Gültigkeit alternativer Theorien durch die Konfrontation mit empirischen Daten anzustreben, wäre die theoretische Diskussion in der Soziologie häufig auf eine höhere Etage, auf die methodologische Ebene, verlagert worden, der Wettbewerb konkurrierender, empirisch testbarer Theorien durch philosophischen Diskurs ersetzt worden. Unterstützt worden sei diese Praxis durch den engen Bezug soziologischer Theorien zu konkurrierenden erkenntnistheo43 44
1974.
Vgl. Cohen, Modeme soziologische Theorie. Wien: Böhlhaus 1968. Vgl. Mühljeld/Schmid, Soziologische Theorie. Hamburg: Hoffmann und Campe
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retischen Standpunkten. Teilweise sei die Theorie so ganz aus dem soziologischen Blickfeld geraten. Dies hat nach diesen Autoren insgesamt zu der recht bedenklichen Situation geführt, "daß sehr heterogene theoretische Entwürfe über ein und denselben Gegenstandsbereich nebeneinander existieren, sich zu Schulen verkrusten und sich kaum noch in einem Dialog miteinander finden. So stehen sich phänomenologische Soziologie und eine behavioristische Theorie gegenüber, die Vorbehalten häufen sich, Diskussionen, wenn sie überhaupt stattfinden, degenerieren zu einseitigen Vorwürfen, ohne daß noch eine sinnvolle Konfrontation stattfinden könnte.,,4s Die wohl härteste Kritik an der Soziologie stammt von Stanislav Andreski, einem englischen Soziologen. Er macht bei seiner recht polemisch vorgetragenen Abrechnung und Aburteilung der soziologischen Profession lediglich eine Ausnahme, nämlich die soziologische Arbeit, die sich mit der Weiterentwicklung sozialwissenschaftlicher Methoden und Techniken beschäftigt. Seine pointierte Kritik soll hier in einem längeren Zitat ausführlich wiedergegeben werden: "Nach der Quantität zu urteilen, befinden sich die Sozialwissenschaften in einer Periode beispiellosen Fortschritts: immer mehr Kongresse und Konferenzen finden statt, Drucksachen häufen sich, und die Zahl der professionellen Sozialwissenschaftler steigt derartig, daß sie, wenn kein Einhalt geboten wird, in ein paar hundert Jahren noch die der Weltbevölkerung erreichen wird. Die meisten Praktiker sind begeistert über diese Wucherung und tragen ihrerseits zu der Flut noch bei, indem sie frohlockende Untersuchungen über ihr Handwerk ,heute' schreiben, wobei sie gerne den belanglosesten Schritten nach vorne das Etikett ,Revolution' anheften, zuweilen sogar die Schwelle überschritten, die ihre Gebiete von den exakten Wissenschaften trennt. Bestürzend ist vor allem, daß die Flut an Publikationen nicht nur pompösen Bluff in Hülle und Fülle und eine erschreckende Armut an neuen Ideen enthüllt, sondern sogar die alten und wertvollen Einsichten, die wir von unseren erlauchten Vorfahren übernommen haben, werden in einem Strudel von Worten und technischen Einzelheiten ertränkt. Prätentiöse und nebulose Weitschweifigkeit, unendliche Wiederholung von Platitüden und versteckter Propaganda sind an der Tagesordnung, während mindestens 95 % der Forschung die Suche nach Dingen darstellt, die schon vor langer Zeit und seitdem viele Male gefunden wurden. Im Vergleich zu der Zeit vor einem halben Jahrhundert ist die Qualität der Veröffentlichungen (abgesehen von denjenigen, die sich mit Techniken und Methoden befassen) auf einer ganzen Reihe von Gebieten gesunken.'.06 Nach diesen kritischen Stimmen aus dem eigenen Fachbereich soll zum Abschluß ein Externer, der gelernte Naturwissenschaftler und prominente Wissenschaftsgeschichtler Thomas Kuhn zu Wort kommen. Sein Urteil über die Lage der Soziologie ist für uns von besonderem Interesse, da er die Sozialwis-
4S
Mühlfeld/Schmid, S. 13.
46 Andreski, 3 Meleghy
Die Hexenmeister der Sozialwissenschaften. München: List 1974, S. 9.
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senschaften von außen, von einem ganz anderen Gesichtspunkt, aus der geschichtlichen Perspektive, betrachtet. Man könnte seinem Urteil als Nichtbetriebsblindem auch einen höheren Grad an Objektivität zusprechen. Thomas Kuhn schreibt, die eigentliche Bedeutung oder Leistung dessen, was er später "Paradigma" nannte, sei ihm erst bei der Beobachtung der Sozialwissenschaften aufgegangen. Was Thomas Kuhn beobachtete war die Uneinigkeit der SozialwissenschaftIer darüber, welche ihre legitimen wissenschaftlichen Fragen seien und auch ihre Uneinigkeit über die Wissenschaftlichkeit bzw. Adäquanz ihrer Methoden - Kontroversen, die Fragen betreffen, mit denen sich Naturwissenschaftler nur selten beschäftigen. Da Thomas Kuhn nicht glaubte, daß Naturwissenschaftler grundsätzlich eindeutigere und bleibendere Antworten auf diese Fragen geben könnten als SozialwissenschaftIer, mußte nach ihm der Grund für das Fehlen von Kontroversen dieser Art unter Naturwissenschaftlern anderswo gesucht werden. Diesen Grund meinte Thomas Kuhn in dem Vorhandensein eines allgemein akzeptierten Paradigmas gefunden zu haben: "Der Versuch, die Ursachen jener Differenz zu enthüllen, führte mich dazu, die Rolle dessen in der wissenschaftlichen Forschung zu erkennen, was ich seitdem ,Paradigmata' nenne. Von diesen glaube ich, daß sie allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen sind, die für eine gewissen Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern .....7 Paradigmata sind nach Thomas Kuhn in einer Forschergemeinschaft allgemein akzeptierte Beispiele für wissenschaftliche Leistungen, gemeinsam mit den dazugehörigen anerkannten Methoden und Perspektiven. Die anerkannten Paradigmata werden in Büchern einzelner prominenter Wissenschaftler niedergeschrieben, weitergegeben und gelehrt. Was man heute in einem Lehrbuch z. B. der Physik findet, besteht nach Thomas Kuhn aus eben diesen Beispielen von anerkannten wissenschaftlichen Leistungen, samt den anerkannten Methoden und Perspektiven, die insgesamt definieren, was Physik sei, welches ihre akzeptierten wissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden seien. In den allgemeinbildenden Schulen, in den Universitäten würde der wissenschaftliche Nachwuchs in einem langen Sozialisationsprozeß in dieses Wissen eingeführt, und was wichtiger ist, auf diese Standards verpflichtet. Nach Abschluß seiner Ausbildung "weiß" dann der Absolvent einfach, was Wissenschaft und Physik sei. 48 Das Vorhandensein eines solchen allgemein akzeptierten Paradigmas in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft ist nach Thomas Kuhn charakteristisch für das Stadium der "normalen Wissenschaft" oder, klammert man etwa Zeiten großer wissenschaftlicher Umwälzungen, wissenschaftliche Revolution aus, für Wissenschaft überhaupt. Was vor dieser wissenschaftlichen oder normalwis-
47 48
Kuhn, Die Struktur. S. 11. Vgl. ebd. S. 28 f.
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senschaftIichen Phase liegt, ist nach Thomas Kuhn ein vorwissenschaftliches Stadium. Was in dieser Phase dominiere, sei die Konkurrenz globaler Perspektiven, konkurrierende Konzepte von Wissenschaftlichkeit, die Zersplitterung in mehrere Teilgemeinschaften, die sich, eines fruchtbaren Dialogs unfähig, gegenseitig bekämpfen, ohne in der Lage zu sein eine Entscheidung herbeizuführen. Charakteristika, die nach Thomas Kuhn sehr gut auf die heutige Situation der Sozialwissenschaften zutreffen, ausgenommen einige wenige Fächer, wie z. B. die Ökonomie. Ein Zustandsbild, das nach Thomas Kuhn im Falle einzelner Disziplinen wie ,,Mathematik, Astronomie, Statik und die geometrischen Kapitel der Optik,,49 bereits im klassischen Griechenland überwunden wurde. Ihm zufolge beginnt die eigentliche wissenschaftliche Phase, wenn man aufhört zu diskutieren, was Wissenschaft ist: "Charakteristisch für den Übergang zur Wissenschaft ist eben die Tatsache, daß man die kritische Diskussion verabschiedet"SO und - so könnte man hinzufügen - einfach an die Arbeit geht. Ich möchte nun diesen Kritiken, Lageberichten bzw. Zustandsbeschreibungen eine kurze Analyse mehr explorativen Charakters nachstellen. Die meisten Aussagen der Autoren beziehen sich auf die theoretisch kognitiven Ebenen der Wissenschaft, auf die Qualität und Quantität des soziologischen Wissens. Andere Ebenen, wie die Ebene der konkreten Forschungspraxis mit Fragen der Forschungsorganisation und Forschungsfinanzierung usw., wie die Ebene der realen sozialen Strukturen und Prozesse oder die Ebene des soziologischen Objektbereiches, spielen in diesen Vorstellungen nur eine untergeordnete Rolle. Auf der kognitiven Ebene beziehen sich die Stellungnahmen der Autoren auf zwei wechselseitig miteinander verbundene Äste des Wissens. Auf dem einem Ast finden wir ganz oben die abstrakten theoretischen Orientierungen und Konzepte und am unteren Ende einfache empirische Verallgemeinerungen. Auf dem anderen Ast oben allgemeine methodologische Konzepte und unten einzelne Methoden, Techniken der empirischen Sozialforschung (vgl. die Darstellung 1). Wie bereits gesagt wurde, beziehen sich die meisten Aussagen auf die kognitiv theoretische Ebene der Wissenschaft. Allgemein ist die Unzufriedenheit mit der Qualität soziologischer Theorien. Mehrere Autoren meinen, es handle sich bei den meisten sogenannten soziologischen Theorien gar nicht um Theorien im engeren Sinne, d. h. nicht um empirisch testbare Aussagensysteme, sondern um allgemeine Orientierungen und Konzepte oder abstrakte Kunstsprachen, die in relativ großer Ferne von der empirischen Realität formuliert seien (Hartmann, Homans, Dahrendorf sowie Mühlfeld und Schmid).
49 Ebd. S. 6. Ebd. S. 7.
50
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
theoretische Konzeote
EBENE DER OBJEKTEBENE
...
~ Methodologie
17ED~Es 1 ...
FORSCHUNGSPRAXIS
~
empirische Verallgemeinerung
MethodenTechniken
I
SOZIALE PROZESSE I PROBLEME
Darstellung 1: Ein Modell für die Analyse der internen Kritik an der Soziologie
Viele Autoren meinen auch, die einzelnen Aussagen und die darüberliegenden komplexeren Aussagensysteme hätten kaum etwas miteinander zu tun und fügten sich nicht, wie es sein sollte, wie Teile eines Puzzlespiels zusammen. Sie reden von unüberbrückbaren Differenzen zwischen operationalen Konzepten und allgemeinen Theorien (Blalock), über den mangelnden Zusammenhang der Konzepte auf den einzelnen Abstraktionsebenen (Rex), darüber, daß häufig der Unterschied zwischen allgemeinen Orientierungen und empirischen Theorien nicht gesehen werde (Dahrendorf) und über die Spaltung des Theoriebegriffes in der Soziologie (Luhmann). Die Gründe für diese insgesamt recht defizitär eingeschätzte Situation (Lepsius) werden von einigen Autoren ebenfalls auf der theoretisch kognitiven Ebene lokalisiert. So meinen John Rex, David Silverman und Michael Phillipson, schuld an der relativen Erfolglosigkeit soziologischen Bemühens sei der grundlegend falsche (positivistische) Zugang zum soziologisch relevanten Gegenstandsbereich, eben eine falsche Methodologie. Die Wichtigkeit relativ abstrakter methodologischer Fragen wird von anderen Autoren wiederum bezweifelt. Methodologische Auseinandersetzungen werden als falscher Ersatz für inhaltlich-theoretische Auseinandersetzungen angesehen (Mühlfeld und Schmid sowie Lepsius) bzw. als für die konkrete Forschungspraxis vollkommen irrelevant abgetan (Scheueh). Wir finden aber auch Gründe oder Ursachen auf den
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anderen Ebenen. So wird von einigen das theorielose Faktensammeln vieler Forschungspraktiker (Homans und Dahrendorf), von anderen die mangelhafte Koordinierung der Arbeiten auf den einzelnen Abstraktionsebenen beklagt (Rex). Wieder andere meinen, es mangle an effizienten Formen der Forschungsorganisation und Forschungsfinanzierung für die langfristige Beobachtung sozialer Prozesse (Lepsius). Auf der Ebene des Gegenstandsbereiches siedeln einige Autoren Phänomene an, die für die Krisenstimmung verantwortlich sind. Die Dynamik sozialer Prozesse lasse die Defizite der Soziologie bei der Lösung sozialer Probleme (Lepsius) mal mehr, mal weniger deutlich ins Soziologenbewußtsein rufen und rufe zu Zeiten, wo die Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot an soziologische Problemlösungskapazität besonders kraß wird, die Krisenstimmung hervor (Merton). Über positiv zu bewertende Erscheinungen innerhalb der Soziologie wurde nur selten berichtet. Diese relativ seltenen Ausnahmen betreffen die Entwicklung der Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung (Lepsius, Scheuch und Andreski) und die Etablierung und allgemeine Akzeptierung der Sozialforschung (Scheuch, Lepsius und Luhmann). Nicht erwähnt wurden in dieser zusammenfassenden Analyse die besprochenen Arbeiten von Thomas Kuhn. Ihrem Wesen nach sind diese Arbeiten etwas anderes als die bisher behandelten inhaltlichen Auseinandersetzungen mit der Soziologie. Bei Thomas Kuhns Analyse ist ja nicht so sehr die Beschreibung der Krankheitssymptome interessant, hier trifft er sich mit der Meinung der meisten internen Kritiker, sondern seine, mit Mitteln des Wissenschaftstheoretikers erstellte Diagnose, es handle sich hier um eine typische Jugendkrankheit. Auch eine relativ oberflächliche Sichtung der soziologischen Literatur zeigt bald, daß die soeben geschilderte Zustandsbeschreibung zumindest nicht ganz falsch sein kann. Nimmt man gängige Bücher, gleich ob geschlossene Abhandlungen oder Sammelbände, über soziologische Theorie zur Hand, so findet man dort nicht etwa ein in sich mehr oder weniger widerspruchsfreies System empirischer Aussagen über einen Ausschnitt der menschlichen Wirklichkeit, sondern verschiedene Konzeptionen über die Natur der sozialen Wirklichkeit, Propositionen über den ,,richtigen" Zugang zu ihr, Vorschläge über die adäquate Begrifflichkeit, durchwoben mit in der Regel recht mageren und daher kaum zu widerlegenden Aussagen über die Realität. 51 Die einzelnen theoretischen
51 Vgl. z. B. Hartmann, Modeme amerikanische Soziologie. Stuttgart: Enke 1967; Cohen; Wallace, Sociological Theory. London: Heinemann 1969; MühljeldiSchmid; Singer, Person, Kommunikation, soziales System. Wien: Böhlhaus 1976; WallnerIPohler-Funke, Soziologische Hauptströmungen der Gegenwart. Heidelberg: Quelle & Meyer 1977; ReimanniGieseniGoetzeiSchmid, Basale Soziologie: Theoretische Modelle. Opladen: Westdeutscher Verlag 1977 sowie EberleIMaindock, Einführung in die soziologische Theorie. München: Oldenbourg 1984.
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Konzepte werden von den Autoren bzw. Herausgebern unterschiedlich gereiht und systematisiert und auch die Zahl der behandelten Ansätze variiert von Fall zu Fall. Dazu zwei Beispiele: Ernst Wallner und Margret Pohler-Funke52 unterschieden in ihrer kurzen, mit Belegtexten ergänzten Darstellung folgende neun Ansätze: 1. Strukturell-funktionale Theorie, 2. Verhaltenstheoretische Soziologie, 3. Handlungstheorie, darunter a) Symbolischer Interaktionismus und b) Ethnomethodologie, 4. Konflikttheorie, 5. Neomarxismus (Marxistische Soziologie), 6. Dialektisch-kritische Theorie, 7. Neuere Systemtheorien, darunter a) Funktional-strukturelle Systemtheorie und b) Kybernetische Systemtheorie, 8. Kritischer Rationalismus und 9. Reflexive Soziologie. Bei Friedrich Eberle und Herlinde Maindock53 finden wir nur drei Hauptpunkte: 1. Funktionalismus, unter dieser Überschrift wird hier die Parsonsianische strukturell-funktionale Systemtheorie dargestellt, 2. Symbolischer Interaktionismus und 3. Historische Soziologie, worunter der Ansatz Max Webers und die Marxistische Soziologie subsumiert werden. Diese Vielfalt der theoretischen Zugänge begegnet uns häufig auch in Büchern, die nicht die soziologische Theorie zum Gegenstand haben, sondern konkreten, soziologisch relevanten Gegenstandsbereichen gewidmet sind, also auch in Büchern über Soziologie der Jugend,54 Soziologie der Kriminalität,55 Soziologie der Organisation56 oder Soziologie des Rechts. 57 Auch die relative Uneinigkeit unter Soziologen bezüglich des adäquaten methodologischen Zuganges zu ihrem Gegenstandsbereich spiegelt sich in der Darstellung dieses Gebietes in der Fachliteratur wider. Anfängern wird zwar durch Bücher wie "Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft" von Rolf Prim und Heribert Tilmann58 und durch die weiterführende Lektüre der "Klassiker,.59 zunächst das Gebiet als eine relativ geschlossene Einheit präsentiert. Rolf Prim und Heribert Tilmann geben zwar Lesern, denen trotz der Reife des Konzeptes und trotz der überzeugenden Logik Zweifel aufkommen, ob das wohl alles sei, bzw. ob sich dieses Konzept in der vorliegenden Form so ohne weiteres auch auf die Sozialwissenschaften anwenden lasse, einige Hinweise auf alternative Konzepte; durch die Plazierung dieser Hinweise - Anhang
52 Vgl. WalinerIPohler-Funke. 53 Vgl. EberleiMaindock. 54 Vgl. Kreutz. Soziologie der Jugend. München: Juventa 1974. 55 Vgl. Kerscher, Sozialwissenschaftliche Kriminalitätstheorien. Weinheim: Beltz 1977.
56 Vgl. KieserlKubicek, Organisationstheorien, 2 Bde. Stuttgart: Kohlhammer 1978. 57 Vgl. Kissler. Recht und Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich 1984. 58 Vgl. Prim/I'ilmann, Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft. Heidelberg: Quelle & Meyer 1979. 59 Vgl. etwa Popper, Logik der Forschung. Tübingen: Mohr, 4. verbesserte Auflage 1971 und Albert, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr 1969.
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2, Punkt 3 - in ihrem Buch zeigen sie aber gleichzeitig, wie diese Alternativen ihrer Meinung zu bewerten sind. Eine weitere Beschäftigung mit diesen Fragen etwa anhand der Bücher von Hans Albert,60 Stanislaw Ossowski,61 Dirk Hülst ,62 Kurt Kreppner63 und Karl Acham,64 zeigt aber bald, daß im Bereich der Methodologie der Sozialwissenschaften mehr ungelöste Probleme als gesicherte Antworten vorhanden sind. Die Lektüre der Schriften von Theodor Adorn0 65 und Paul Lorenzen66 oder das Studium der Aufsätze in den einschlägigen Sammelwerken67 zeigt, daß der erste Eindruck eine Täuschung war, und daß der Kritische Rationalismus durchaus ernst zu nehmende Konkurrenten hat. Verglichen mit dem so gebotenen Bild von soziologischer Theorie und Methodologie strahlt die Präsentation der Methoden und Techniken der empirischen Sozial forschung in der Literatur Ruhe, Geschlossenheit aber auch kontinuierlichen Fortschritt aus. In einführenden Werken, darunter einige mit hoher Auflagenzahl, wird das Gebiet mit großer Übereinstimmung abgehandelt. 68 Und auch in mehrbändigen ausführlichen Darstellungen findet der Leser zunächst kaum Kontroversen. 69 Erst eine gründlichere Beschäftigung mit der gesamten Materie zeigt, daß diese relative Ruhe daher rührt, daß kritischen Argumenten 70 oder Ansichten von erklärten Gegnern dieser Art sozial wissenschaftlicher Methodik71 in der Darstellung des Gebietes kein Platz eingeräumt wird. 60 Vgl. Albert, Konstruktion und Kritik. Hamburg: Hoffmann und Campe 1972. 61 Vgl. Ossowski, Die Besonderheiten der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. 62 Vgl. Hülst, Erfahrung - Gültigkeit - Erkenntnis. New York: Campus 1975. 63 Vgl. Kreppner, Zur Problematik des Messens in den Sozialwissenschaften. Stuttgart: Klett 1975. 64 Vgl. Acham, Philosophie der Sozialwissenschaften. Freiburg: Karl Alber 1983. 65 Vgl. Adomo, Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. 66 Vgl. Lorenzen, Methodisches Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968 und Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 67 Vgl. Adomo u.a., Positivismusstreit; Topitsch, Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970 sowie GieseniSchmid, Theorie, Handeln und Geschichte. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975. 68 Vgl. etwa Mayntz/HolmlHübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1969; Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973 und KarmasiniKarmasin, Einführung in Methoden und Probleme der Umfragenforschung. Wien, Köln und Graz: Böhlhaus 1977. 69 Vgl. Holm (Hg.), Die Befragung, 5 Bde. München: Franke 1975, 1976 und 1977 und van KoolwijklWieken-Mayser (Hg.), Techniker der empirischen Sozialforschung. München: Oldenbourg 1974, 1975, 1976 und 1977. 70 Vgl. Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. 71 Vgl. z. B. Blumer, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
11. Was ist zu tun? Angesichts der beschriebenen, von vielen als recht problematisch empfundenen Situation der soziologischen Theorie und Methodologie fehlt es auch nicht an Anregungen und Vorschlägen, wie, d. h. mit welchen Mitteln und mittels welcher Strategien, die Soziologie aus diesem, als unbefriedigend empfundenen, Zustand herausgeführt werden könnte. Ich werde hier, ohne Anspruch auf eine besondere Systematik, vier in der Literatur häufig erwähnte Lösungswege skizzieren: 1. Robert Mertons Vorschlag zur konsequenten Entwicklung sogenannter Theorien mittlerer Reichweite, 2. George Homans Vorschlag zur Präzisierung und Formalisierung soziologischer Theorien, 3. den sogenannten Theorienvergleich in der deutschen Soziologie und 4. Vorschläge zur Erarbeitung eines globalen oder holistischen Bezugsrahmens als Grundlage für die Systematisierung einzelner soziologischer Ansätze. 1. Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite Der wohl bekannteste Vorschlag in dieser Richtung stammt von Robert Merton. 72 Statt an der Entwicklung großer globaler Entwürfe zu arbeiten und statt theorieloses Datensammeln zu betreiben, sollten die Soziologen ihr Augenmerk auf die Entwicklung sogenannter Theorien mittlerer Reichweite richten. Robert Merton betrachtet die Bemühungen seiner Kollegen, große umfassende Theoriesysteme zu entwerfen, mit Skepsis. Solche Versuche, ähnlich wie die bekannten großen philosophischen Systeme im 19. Jahrhundert in Deutschland, würden heute ohne Nutzen sein. Der Ehrgeiz vieler Soziologen, ein eigenes globales theoretisches System zu entwerfen, hätte vielmehr zu einer Art ,,Balkanisation der Soziologie" geführt. 73 Für ihn ist die Zeit einfach noch nicht reif für solche Versuche. Unsere Disziplin sei noch zu jung, es fehle noch an vielen Detailkenntnissen, an vielen Mosaiksteinchen, an jahrhundertelanger Arbeit vieler Soziologengenerationen, wollte man die Soziologie mit entwickelteren naturwissenschaftlichen Disziplinen wie etwa die Physik vergleichen. Solche Vergleiche, angestellt von in der Regel in den Naturwissenschaften nicht bewanderten Sozialwissenschaftlern, seien noch aus einem anderen Grunde irreführend. Soziologen, die die Reife der entwickelten Naturwissenschaften bewundernd einen Ehrgeiz entwickeln, es diesen ähnlich zu tun, indem sie heute ein in sich geschlossenes und umfassendes theoretisches System entwerfen wollen, sind nach Robert Merton
gesellschaftliche Wirklichkeit. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973. 72 V gl. Merton, Social Theory. 73 Vgl. ebd. S. 51.
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einer Fata Morgana aufgesessen, denn selbst die Physik, als eine der wohl am weitesten fortgeschrittenen Naturwissenschaften besitzt nach Meinung der Fachwelt (Merton zitiert hier mehrere, prominente Physiker) heute noch keine umfassende, in sich geschlossene Theorie, sondern nur einzelne Theoriekomplexe und die auf die bisherigen Erfolge gegründete Hoffnung, daß später einmal diese Theoriekomplexe in einem umfassenden theoretischen System aufgehen könnten. 74 Nach Robert Merton müßte die Soziologie sich aus den genannten Gründen, dem Vorbild der Naturwissenschaften folgend, zunächst einmal auf die Lösung begrenzter Probleme konzentrieren und so, durch die Erarbeitung sogenannter Theorien mittlerer Reichweite, Schritt für Schritt die Grundsteine für eine in der fernen Zukunft zu erarbeitende soziologische Globaltheorie legen. Welche sind nun die Charakteristika dieser Theorien mittlerer Reichweite? Auf der Dimension konkret-abstrakt werden sie von Robert Merton etwa in der Mitte zwischen globalen Orientierungen und einzelnen empirischen Verallgemeinerungen bzw. sehr spezifischen Arbeitshypothesen angesiedelt. Sie gehen damit, was ihre Allgemeinheit oder ihren Abstraktionsgrad betrifft, eindeutig über empirische Verallgemeinerungen hinaus, liegen jedoch von diesen noch nicht zu weit entfernt, so daß sie in enger Tuchfühlung mit der empirischen Datenbasis entwickelt werden können. Wegen des höheren Abstraktionsgrades sind sie in der Lage, die empirische Forschung zu leiten, indem neue Anwendungsgebiete für die Theorie vorgeschlagen und getestet werden können. Weit entfernt seien sie aber von globalen theoretischen Konzepten und in der Regel nicht aus solchen ableitbar. Vielmehr ist es eine häufige Beobachtung, daß solche Theorien mittlerer Reichweite gleichzeitig durchaus mit mehreren theoretischen Konzepten vereinbar sind. Beispiele für solche Theorien gibt es in allen Wissenschaften. Für die Soziologie nennt Robert Merton die Bezugsgruppen-Theorie, die Theorie der sozialen Mobilität, die Theorie des Rollenkonflikts usw. Am Beginn der Entwicklung solcher Theorien stehen gewöhnlich ganz einfache Ideen darüber, wie bzw. auf welche Weise das Phänomen zu betrachten ist, manchmal ganz einfache Analogien, aus denen, und das ist nach Robert Merton wichtig, konkrete empirisch testbare Implikationen ableitbar sein müssen. Soweit eine kurze Skizze des Mertonschen Lösungsvorschlages, der uns über das Theoriedefizit der Soziologie hinweghelfen sollte. 2. George Romans Vorschlag zur Präzisierung und Formalisierung soziologischer Theorien Der Vorschlag George Homans' zielt in eine ganz andere Richtung. Nicht etwa gute, konstruktive Ideen und daran anschließende empirische Forschungsarbeit sind nach ihm von hoher Dringlichkeit, sondern eine präzise analytische 74
Vgl. ebd. S. 48.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Durchdringung und Neufassung der vorliegenden Befunde und eine hierarchische Strukturierung hypothetischer oder gesetzesartiger Aussagen. Wie bereits berichtet, sieht George Homans die Hauptproblematik der Soziologie in der Unverbindlichkeit, Weitschweifigkeit und Vagheit der gewöhnlichen soziologischen Erklärungs- und Argumentationsweise: Erklärungen würden kaum ausformuliert, alle für die Erklärung notwendigen Randbedingungen und Gesetzesaussagen nie vollständig aufgezählt. Auf diese Weise lieferten Soziologen vage Erklärungsskizzen, ähnlicher der alltagssprachlichen als der sonst allgemein üblichen wissenschaftlichen Praxis. Entsprechend schlägt nun George Homans die Präzisierung, Formalisierung und Mathematisierung soziologischer Theorien und Erklärungen vor: ,,Ein Ausweg aus dieser Lage bestünde darin, die Theorien in mathematischer Form vorzustellen. Aber sogar abgesehen von Mathematisierung würde ein gewisses Maß an Forrnalisierung schon einen großen Vorteil bieten. An entscheidenden Punkten seiner Beweisführung sollte der Theoretiker so genau wie möglich herausstellen, was er für die allgemeinen Hypothesen seiner Theorie hält, und durch Zahlen oder Anführungsstriche darauf aufmerksam machen. Dann sollte er die logischen Schritte, in denen er die empirischen Konklusionen aus den allgemeinen Hypothesen ableitet, ausformulieren. Kein Verfahren könnte mehr zur Beseitigung oder Klärung unserer endlosen Diskussionen und Mißverständnisse über soziologische Theorie beitragen. Wir würden wenigstens zu einer Entscheidung darüber kommen können, worüber wir diskutiert haben, insbesondere, ob wir es überhaupt mit deduktiven Systemen zu tun hatten. ,,75 Das soziologische Theoriedickicht soll also nach diesem Vorschlag zunächst einmal gründlich durchforstet werden. Nach dieser ersten grundsätzlichen Abklärung und Bestandsaufnahme soll mittels eines Verfahrens, von George Homans als Kodifikation bezeichnet, die Hierarchisierung des soziologischen Hypothesenbestandes durch ständige Reduktion, Zurückführung und Verallgemeinerung durchgeführt werden. "Kodifikation geht von der Annahme aus, daß die ,rein empirischen Verallgemeinerungen' der Soziologie unser kostbarster Besitz und, wie Edelsteine, sehr beständig sind. Aber sie liegen in großer Anzahl und großer Vielfalt vor und sind in einer Reihe von verschiedenen Terminologien formuliert. Man sammle, soweit wie möglich, die Hypothesen innerhalb eines bestimmten Gebietes, beispielsweise der Kleingruppenforschung. Man reduziere ihre Zahl soweit wie möglich, indem man sic~ fragt, ob einige von ihnen nicht dieselbe Hypothese mit verschiedenen Worten ausdrücken. Zu diesem Zweck wird man untersuchen, wie die erwähnten Variablen tatsächlich gemessen wurden und inwieweit die Meßmethoden gleich waren. Man verringere die Zahl der Hypothesen auf einer bestimmten Allgemeinheitsstufe weiterhin, indem man sich fragt, ob sich nicht einige von ihnen von den übrigen unter bestimmten
75
Homans, Grundfragen. S. 16.
11. Was ist zu tun?
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Randbedingungen als Folgerungen ableiten lassen. Wenn man seine Sammlung von Hypothesen soweit wie möglich reduziert hat, stellt man sich die Frage, von welchen noch allgemeineren Hypothesen die Sammlung selbst wiederum ableitbar sein könnte. Wenn es nötig ist, erfinde man die allgemeineren Hypothesen - sei man ein Newton. Aber ich nehme nicht an, daß man in der Soziologie zu solch außergewöhnlichen Maßnahmen wird greifen müssen. Man wird feststellen, daß die Hypothesen im Rahmen der verhaltenstheoretischen Psychologie bereits für einen entdeckt worden sind.,,76 Ansonsten ist George Homans ein erklärter Verfechter der induktiven Methode. Seiner Meinung nach ist dieses in den Naturwissenschaften mit Erfolg praktizierte Verfahren auch in der Soziologie das zielführende. "Diese Strategie geht von den empirischen Befunden aus und sucht die allgemeineren Hypothesen zu entdecken, aus denen eben diese Befunde und, unter anderen Bedingungen, andere Befunde abgeleitet werden können. Dies ist die Strategie, mit der man auf induktivem Wege zu deduktiven Systemen kommt.,,77 Diese induktive Strategie ist nach George Homans auch in der Soziologie mit Erfolg angewendet worden. Die wertvollsten Erträge soziologischer Forschung, sehr konkrete gegenständliche soziologische Theorien, die Theorien mittlerer Reichweite, sind nach ihm greifbare Früchte dieser Vorgangsweise.
3. Theorienvergleich in der deutschen Soziologie In Deutschland wurde 1974 anläßlich des 17. Deutschen Soziologentages in Kassei ein Versuch begonnen, den soziologischen Theorienknoten in organisierter Form zu entwirren. Das Unternehmen wurde als Theorienvergleich bezeichnet. Der Vergleich soziologischer Theorien sollte diesmal, anders als bei ähnlichen früheren Veranstaltungen, systematisch, an Hand konkreter Kriterien, sachlich, ohne die übliche Polemik der streitenden Parteien durchgeführt werden. Ich werde mich hier bei der Darstellung dieses Programmes auf den Vorschlag Karl Hondrichs 78 beschränken, der allen Referenten des genannten Soziologentages als Richtschnur mitgegeben wurde. Karl Hondrich begründete das Thema des 1974er Soziologentages, die Notwendigkeit bzw. die mögliche Fruchtbarkeit des Theorienvergleiches recht pragmatisch aus dem Blickwinkel eines soziologischen Praktikers oder Theorieanwenders:
76 Ebd. S. 41. 77 Homans, Grundfragen. S. 41. 78 Vgl. Hondrich, Entwicklungslinien und Möglichkeiten des Theorievergleichs. In: M. Rainer Lepsius (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages. Stuttgart: Enke 1976.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie ..Geht man davon aus, daß Theorien Problemeinsichten ebenso wie Problemlösungen anbieten, und daß wir in den Sozialwissenschaften mit einer Fülle von - wie auch immer unvollkommenen - theoretischen Angeboten zu tun haben, dann stellt diese Fülle den soziologischen Praktiker ständig vor Entscheidungsprobleme: er muß sich entscheiden, in welcher Theorie-Sprache er sein Problem formulieren und dessen lösungen suchen will, ob er die zunächst gewählte Theorie zweckmäßigerweise durch eine andere ersetzt, die mehr leistet, ob er mit einer Theorie auskommt oder für sein Problem mehrere Theorien kombinieren muß ...79
Viele Forschungspraktiker - soviel könnte man diesen Ausführungen hinzufügen - sind auf Grund dieses Problems offensichtlich resigniert und sammeln einfach Daten ohne Bezug zu irgendwelchen soziologischen Theorien, was freilich nur ein scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma ist, denn der Verzicht auf die explizite Verwendung eines bestimmten theoretischen Konzeptes bedeutet meistens nur, daß man implizit irgendwelche naive Alltagstheorien seinen Arbeiten zugrunde legt. Nach Karl Hondrich soll nun der systematische Vergleich von soziologischen Theorien den verunsicherten Forschungspraktikern effizientere Werkzeuge in die Hände geben. Ziel des Vergleiches sei die Abklärung der Beziehungen zwischen den theoretischen Ansätzen, Feststellung ihrer Verhältnisse untereinander und die Entwicklung eines allgemeinen soziologischen Bezugsrahmens von hoher Komplexität, in dem alle heute scheinbar konkurrierenden Theorien aufgehen würden. Karl Hondrich unterscheidet nun für die weitere Konkretisierung seines Vorschlages drei Arten von Theorien, bzw. Theorien, die auf drei verschiedenen Ebenen zu lokalisieren seien: an unterster Stelle Theorien, die konkrete soziologisch relevante Gegenstandsbereiche zum Thema haben (etwa Soziologie der Familie, Soziologie der Mobilität usw.), an mittlerer Stelle Theorien, die das Soziale an sich zum Gegenstand haben, und schließlich soziologische MetaTheorien, die soziologische Theorien zum Gegenstand haben, und die daher noch eine Ebene höher anzusiedeln sind. 80 Nach dem Vorschlag Karl Hondrichs sollten beim Theorienvergleich Theorien der mittleren Ebene behandelt werden. Auf dieser Ebene der allgemeinen soziologischen Konzepte erwarteten die Organisatoren des 1974er Soziologentages mehr an tatsächlicher Diskussion und Kompromißbereitschaft als bei früheren Kontroversen, die die metasoziologische Theorieebene zum Gegenstand hatten. Vorgeschlagen wurde von den Veranstaltern die Behandlung bzw. der Vergleich folgender Ansätze: I. Kritische Theorie der Gesellschaft (vertreten durch Jürgen Habermas), 2. funktionalistische Systemtheorie (vertreten durch Niklas Luhmann), 3. interaktionistisch-phänomenologische Handlungs-
79 80
Hondrich. S. 19. Vgl. ebd. S. 20.
11. Was ist zu tun?
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theorie (vertreten durch Joachim Matthes), 4. Verhaltenstheorie (vertreten durch Karl-Dieter Opp) und 5. historisch-materialistische Soziologie (vertreten durch Karl Hermann Tjaden). Diese Liste ist nach den Organisatoren als ein pragmatischer Vorschlag für den gegebenen Anlaß zu verstehen. Es wird zugestanden, daß mit dem gleichen Recht, je nach dem verwendeten Unterscheidungskriterium, jemand genauso gut zehn oder mehr, aber auch etwa nur zwei Ansätze unterscheiden könnte. Für den Vergleich dieser fünf Ansätze wurden insgesamt zehn Gesichtspunkte vorgeschlagen: 1. Gegenstandsbereich (Art und Umfang der Theorieobjekte), 2. Problemsicht (was, welche Gegebenheiten, Zustände, Prozesse betrachtet die Theorie als erklärungsbedürftig?), 3. Problemlösungen (welche Begriffe und Thesen werden für die beanspruchte Erkenntnisleistung angeboten?), 4. Erkenntnisleistung (Beschreibung, Klassifikation, Interpretation, Erklärung, Bewertung), 5. logische Struktur der Erklärungen (werden kausale, funktionale, dialektische, evolutionäre usw. Erklärungen bevorzugt), 6. Strukturmerkmale der Theorie (z. B. Einfachheitsgrad, empirischer Bewährungsgrad und Informationsgehalt), 7. Verfahren der Datengewinnung (wie sollen Daten gewonnen werden, durch große repräsentative Erhebungen, durch detaillierte Analyse einzelner Erscheinungen?), 8. Prioritäten bzw. Strategien (in welchen Schritten, in welcher Reihenfolge soll die angestrebte Erkenntnisleistung erbracht werden?), 9. Relevanz der Theorie für Problemlösungen in anderen (nichtwissenschaftlichen) Sozialsystemen (Erklärung, Prognose, Technologie, Ideologieproduktion, Ideologiekritik) und 10. soziale und sonstige Voraussetzungen (weIche Thesen werden aus anderen Wissenschaften übernommen? Welche soziale, politische usw. Voraussetzungen hat die Theorie?). Neben der Frage nach den zu behandelnden Theorien, neben der Frage nach den Vergleichsgesichtspunkten, sollte nach Karl Hondrich noch geklärt werden, welche Manifestationen dieser Theorien miteinander konfrontiert werden sollten: Sollten diese Theorien hinsichtlich ihrer beanspruchten Leistung, hinsichtlich der bereits erbrachten Leistung oder hinsichtlich ihrer möglichen, potentiellen Leistung (wie immer dies auch festgestellt werden sollte) verglichen werden? Nach Karl Hondrich ist, hat man die zukünftige Entwicklung der soziologischen Theorie vor Augen, ein Vergleich der von den Vertretern beanspruchten sowie der bereits erbrachten Leistungen von geringerem Interesse; wichtiger sei zu untersuchen, was in diesen Theorien steckt, welche Entwicklungsmöglichkeiten die einzelnen Ansätze auf längere Sicht besitzen. Da die Matrix der Aussagen (bei 5 Ansätzen, 10 Vergleichsgesichtspunkten und 3 Manifestationen der Theorien) zu unübersichtlich wäre, schlug Karl Hondrich für die konkrete Diskussion eine wesentlich restriktivere Vorgangsweise vor:
46
B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Die Diskussion sollte nur auf eine "Problemsicht" (z. B. Evolution) und nur auf einen Gesichtspunkt beschränkt werden, wobei folgende drei Schritte durchlaufen werden sollten: ,,1. Die Theoretiker demonstrieren die beanspruchte Leistung ihrer Theorie anband des ausgewählten Problems. 2. Sie vergleichen - sofern sie möchten - die Leistung der eigenen Theorie mit denen der übrigen Theorien. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die eigene Theorie sich als konkurrierend oder komplementär zu anderen versteht. Das beinhaltet auch die Frage der möglichen Erweiterung von Theorien, also ihres vielleicht noch nicht erkannten Potentials. 3. Zu dieser Frage wird die Diskussion für alle interessierten Teilnehmer auch außerhalb des Podiums geöffnet, bevor die nächsten Gesichtspunkte, wiederum in diesen drei Schritten, behandelt werden."sl Abschließend wurde dieser Strukturierungsvorschlag von Karl Hondrich am Beispiel der ,,Problemhinsicht" Evolution exemplarisch vorgestellt.
4. Erarbeitung eines globalen Bezugsrahmens Im Gegensatz zu den drei bisher behandelten Vorschlägen handelt es sich hier nicht um einen konkreten Einzelvorschlag, sondern um einen Ruf, der aus mehreren Ecken des Soziologenlagers ertönt. Es wird von mehreren Autoren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Meinung vertreten, die defizitäre Situation der soziologischen Theorie sei weder durch die Erarbeitung konkreter gegenständlicher Theorien, noch durch Präzisierung und logische Durchstrukturierung der vorliegenden Theorien und genauso wenig durch irgendwelche konzentrierte Aktionen der Soziologenschaft zu überwinden, denn die Situation hätte ihren eigentlichen Grund im Fehlen eines umfassenden globalen und adäquaten Konzeptes vom soziologischen Gegenstandsbereich. Die Entwicklung dieses allgemeinen und dem soziologischen Gegenstandsbereich auch adäquaten Bezugsrahmens sei daher von primärer Wichtigkeit. lohn Rex, einer der Vertreter dieser Meinung drückt sich so aus: "Im Gegensatz zur populären Ansicht, daß die Soziologie mehr Beobachtung und mehr empirische Verallgemeinerungen braucht, hat der Verfasser immer mehr den Eindruck, daß die Soziologie vor allem die Anwendung soziologischer Phantasie braucht. "S2 Eine ganze Reihe von Theoretikern sieht den eigentlichen Fehler, der die Entwicklung der soziologischen Theorie behindert oder sogar verhindert, in der naiven kritiklosen Übernahme von Konzeptionen und Prinzipien der wissenschaftlichen Methode oder der Wissenschaftlichkeit überhaupt aus den Naturwissenschaften. Diese Prinzipien, entwickelt durch die systematische Auseinan-
SI
Hondrich, S. 25.
82
Rex, S. 13.
11. Was ist zu tun?
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dersetzung mit ganz bestimmten Schichten der menschlichen ErfahrungsweIt, seien eben, das zeige ja gerade die relative Erfolglosigkeit der Bemühungen in den Sozialwissenschaften, für die Erforschung anderer Bereiche der Wirklichkeit nicht geeignet. Diesen Konzeptionen lägen falsche Bilder, die den soziologischen Gegenstandsbereich nicht adäquat abbildeten, zugrunde. Das hier vorgebrachte Argument hat eigentlich zwei Bestandteile. Erstens geht es darum, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Phänomenen der WeIt immer notwendigerweise auf Grundlage eines bereits vorher feststehenden Bildes oder Rasters vom Gegenstand oder Phänomen stattfindet. Der hier gemeinte Sachverhalt wird von Herbert Blumer folgendermaßen ausgedrückt: "Man kann die empirische Welt nur durch ein Schema oder eine Vorstellung von ihr wahrnehmen. Die gesamte wissenschaftliche Untersuchung ist nach dem ihr zugrundeliegenden Bild der empirischen Welt ausgerichtet und von ihm gestaltet. Dieses Bild legt die Auswahl und Formulierung von Problemen fest, die Bestimmung der Dinge, die als Daten betrachtet werden, die für die Sammlung der Daten benutzten Mittel, die zwischen den Daten gesuchten Arten der Beziehungen und die Formen, in denen Vorschläge gemacht werden. Berücksichtigt man diese grundlegende und durchdringende Auswirkung, die von dem am Beginn der Studie stehenden Bild der empirischen Welt auf den gesamten Verlauf der wissenschaftlichen Untersuchung ausgeübt wird, so ist es lächerlich, dieses Bild zu ignorieren. Dieses zugrundeliegende Bild der empirischen Welt kann immer in der Form eines Sets von Prämissen bestimmt werden. Die den ,Schlüsselobjekten', aus denen das Bild zusammengesetzt ist, entweder explizit oder implizit zugeschriebene Beschaffenheit setzt diese Prämissen fest. Die unumgängliche Aufgabe echten methodologischen Vorgehens ist es, diese Prämissen zu bestimmen und einzuschätzen...83
Zweitens ist gemeint, daß der Erfolg einer Wissenschaft davon abhängt, inwieweit die methodologischen Standards dem Wesen des betreffenden Phänomens fremd, oder im Gegenteil, aus ihm abgeleitet werden. David Silverman drückt den zweiten Teil dieses Argumentes folgendermaßen aus: "Wir müssen feststellen, daß eine Wissenschaft ihren Status dadurch erreicht, daß sie sich Methoden der Analyse aneignet, die unter Beachtung von Standards der Genauigkeit und der Skepsis ihrer Rationalität vom Wesen der Phänomene ableiten, welche es zu erforschen gilt. ..84
Ähnlich denkt auch Norbert Elias, wenn er für die Schwierigkeiten, in denen sich seiner Meinung nach die Sozialwissenschaften befinden, die kritiklose Übernahme eines ganz bestimmten Denkstils verantwortlich macht. Verantwortlich für diese Probleme ist nach Norbert Elias "nämlich die in Jahrhunderten etablierte Vorherrschaft eines spezifischen Denkstils, der sich zum guten
83
84
Blumer, S. 105 f. Silverman, S. 14.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Teil im Umgang der Menschen mit physikalischen Geschehenszusammenhängen herausgebildet und sich in diesem Bereich als recht angemessen erwiesen hat. Er hat in erheblichem Maße die Umgangssprache und das Alltagsgeschehen mitgeformt, und es erscheint daher als selbstverständlich, daß er zur Lösung von Problemen auf anderen Ebenen der beobachtbaren Geschehenszusammenhänge, also auch der sozialen, nicht weniger geeignet ist. Einer der Hauptgründe für die Schwierigkeiten, mit denen Menschen in ihrem Bemühen um verläßlicheres Wissen über sich selbst zu ringen haben, ist die unkritische und oft dogmatische Übertragung von Denkformen und Begriffsbildungen, die sich auf der Ebene von Materie und Energie als relativ adäquat bewährt haben, auf andere Erfahrungsebenen, darunter die Menschen selbst. ..85 Die im ersten Argument formulierte Ansicht, allgemein das Primat der theoretischen Forschung, wird, zumindest für die heutige Situation, von vielen Soziologen aus den unterschiedlichsten Lagern geteilt. 86 Recht unterschiedlich sind jedoch die Meinungen darüber, wie der gesuchte, von allen akzeptierte allgemeine Bezugsrahmen aussehen sollte. Einige, wie z. B. Niklas Luhmann87 erblicken ihn in einer allgemeinen Systemtheorie, andere wie Gerhard Lenski88 und Robert Bierstedt89 in einer allgemeinen Evolutionstheorie, wieder andere wie z. B. Norbert Elias90 und Walter Wallace91 wollen ihre eigenen Systeme entwerfen. Autoren, die auch die im zweiten Argument vertretene Ansicht der naturwissenschaftlich-positivistischen Fehlinterpretation sozialer Phänomene teilen, sind meist Anhänger von Deutungsmustern, die gewöhnlich als phänomenologisch, interaktionistisch oder handlungstheoretisch bezeichnet werden.
Elias, Engagement. S. 31 f. Vgl. z. B. Blumer, S. 8 ff.; Elias, Engagement S. 31 ff.; Lenski, Macht, S. 9 ff.; Lenski, Die evolutionäre Analyse sozialer Strukturen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1978, S. 132; Luhmann, S. 7 ff.; Rex, S. 13 und Wallace, Principles of Scientific SocioIO~7 New York: Aldine 1983, S. 3. Vgl. Luhmann. 88 Vgl. Lenski, Evolutionäre Analyse. 89 Vgl. Bierstedt, Diskussionsbemerkungen zu Lenskis evolutionärer Betrachtungsweise. In: Blau (Hg.), Theorien sozialer Strukturen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1978. 90 Vgl. Elias, Engagement. 91 Vgl. Wallace, Principles. 85
86
III. Diskussion der Lösungsvorschläge
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111. Diskussion der Lösungsvorschläge Betrachten wir nun zusammenfassend die vier skizzierten Lösungsvorschläge, so können wir feststellen, daß sie trotz ihrer bedeutenden Unterschiede eines gemeinsam haben, nämlich eine vergleichbare Vorstellung über das Ziel der theoretischen und empirischen Forschung: Das Ziel ist die Erarbeitung einer umfassenden Theorie, in der alle relevanten Phänomene lokalisiert werden können. Nach Robert Merton ist, wie wir gesehen haben, diese umfassende, alles erklärende soziologische Theorie, wenn überhaupt, dann erst in der fernen Zukunft zu erwarten. Der Weg dorthin führt, wie er am Beispiel der Physik zeigt, über die Entwicklung empirischer Aussagensysteme über begrenzte Bereiche der sozialen Wirklichkeit. Trotz der vielen Argumente, die Robert Merton gegen globale soziologische Theorien anführt, wäre es meiner Meinung nach falsch zu glauben, er hätte dieses Ziel aufgegeben. Er betrachtet lediglich die Realisierbarkeit dieses Zieles heute als illusorisch. Auch George Homans sieht die Aufgabe der Soziologie in der Erarbeitung einer umfassenden Theorie, in der alle sozial relevanten Phänomene lokalisiert werden könnten. Er glaubt jedoch, ganz im Gegensatz zu Robert Merton, daß die allgemeinen Gesetze des sozialen Lebens - und damit der von vielen gesuchte globale Rahmen - im Prinzip bereits bekannt seien und es daher bis zum Erreichen des langfristigen Zieles lediglich noch viel an sorgfältiger Detailarbeit benötige. Karl Hondrich meinte wiederum, das Ziel sei in zwei Schritten zu verfolgen. Zunächst sei im Rahmen des Theorienvergleichs die Vereinheitlichung der soziologischen Theorie anzustreben, ein Vorgang der sich nach Karl Hondrich als Trend der laufenden Theorieproduktion ohnehin abzeichne: ,,Für diesen Trend sprechen folgende Beobachtungen: Implizit enthalten die heute am meisten diskutierten Theorien bereits eine Reihe von Begriffen und Aussagen derjenigen Theorien, von denen sie sich einmal abheben wollten: So sind etwa in der Habermasschen Fortentwicklung der kritischen Theorie neben Historischem Materialismus und hermeneutischer Phänomenologie unter anderem auch Elemente der interaktionistischen und funktionalistischen Rollentheorie und makrosoziologisch orientierte Systemkonzepte versammelt. Und die Luhmannsche Systemtheorie enthält nicht nur die phänomenologische Institutionen- und Handlungstheorie, sondern auch kybernetische und entscheidungstheoretische Grundgedanken, die auf anderer Seite, etwa in den Arbeiten von Georg Klaus, bereits mit dem Marxismus verbunden sind. Explizit beginnen jüngere Soziologen Ansätze verschiedener Theorien nicht mit dem Ziel der Ideologiekritik, sondern mit dem der Erhellung und Lösung bestimmter theoretischer Probleme zu vergleichen und zu kombinieren."92 Karl Hondrich glaubt allerdings nicht, daß das Aufgehen der verschiedenen Ansätze in einer allgemeinen Theorie in nächster Zukunft tatsächlich erfolgen würde. Nicht, weil dies aus theoretischen Gründen unmöglich wäre, sondern
92
Hondrich, S. 19.
4 Meleghy
B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
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aus Gründen, die eher sozialen Ursprungs sind: ,.zu viele Interessen sind mit der Aufrechterhaltung von echten und scheinbaren theoretischen Fronten verbunden ...93 Nach lohn Rex haben alle Soziologen, obwohl die einzelnen Soziologen tatsächlich unterschiedlich vorgehen - einige versuchen es mit Beobachtung, Beschreibung und vorsichtiger Verallgemeinerung, andere mit theoretischen Konzepten begrenzter Reichweite, wiederum andere mit großen allgemeinen Theorien -, ein gemeinsames Ziel: die Erarbeitung einer umfassenden Theorie der sozialen Wirklichkeit. Und dieses gemeinsame Ziel, das sie alle verfolgten, entscheidet lohn Rex zufolge über die Wissenschaftlichkeit der Soziologie und nicht die, verglichen mit einigen naturwissenschaftlichen Disziplinen, sicherlich erst spärlich vorliegenden positiven Erfolge. 94 Man kann diese Aussage auch auf die von uns diskutierten Lösungsvorschläge anwenden. Wie wir gesehen haben, ist das langfristig zu verfolgende Ziel, die Erarbeitung einer globalen Theorie der sozialen Wirklichkeit, ihnen allen gemeinsam, was sie unterscheidet ist die Meinung darüber, auf weIchem Wege dieses Ziel leichter, schneller oder überhaupt zu erreichen sei. Diese Diskussion über den effizienten Weg in der Wissenschaft ist sicherlich nichts Neues. Eine Unterscheidung, die uns bei der Ortung der Lösungsvorschläge helfen könnte, findet sich bereits bei Francis Bacon: ,,Zwei Wege gibt es zur Untersuchung und Auffindung der Wahrheit - es kann nicht mehrere geben. Der eine ist ein Sprung von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen zu höchst allgemeinen Grundsätzen; aus diesen höchsten Wahrheiten werden sodann die Mittelsätze aufgefunden; dieser Weg ist der jetzt gewöhnliche. Der andere leitet von der sinnlichen Wahrnehmung und vom Einzelnen ebenfalls Grundsätze her; aber er steigt dann allmählich und stufenweise höher, bis er ganz zuletzt zu den allgemeinsten, höchsten gelangt - das ist der wahre Weg, aber noch unbetreten."Y5 Hier werden zwei mögliche Wege des Erkenntnisgewinns angesprochen, die deduktive und die induktive Methode, wobei Francis Bacon die seinerzeit neue und als fortschrittlich geltende induktiv-naturwissenschaftliche Methode favorisierte. Eine andere, hier vielleicht hilfreiche Unterscheidung findet sich bei Norbert Elias. Norbert Elias unterscheidet zwei in der wissenschaftlichen Arbeit geübte Verfahren, die Analyse und die Synthese. Die Analyse, das Zerlegen der Dinge in ihre Bestandteile, die Untersuchung der Eigenschaften der Bestandteile, das weitere Zerlegen usw. sei lange Zeit in den Naturwissenschaften die eigentlich anerkannte und praktizierte Methode gewesen und sei dort mit viel Erfolg an-
94
Hondrich, S. 19. Vgl. Rex, S. 43 f.
9S
Zit. ebd. S. 22.
93
III. Diskussion der Lösungsvorschläge
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gewendet worden. Häufig sei aber diese recht nützliche Methode mit dem reduktionistischen Irrglauben verbunden, daß es genüge, die Eigenschaften der Einheiten zu kennen, aus denen die zu untersuchenden Phänomene zusammengesetzt sind, um Relevantes über die Eigenschaften dieser zusammengesetzten Phänomene aussagen zu können: "Unausgesprochen ist wohl auch hier noch häufig die Vorstellung am Werke, daß die Bestimmung der Eigenschaften der letzten Teileinheit einer zusammengesetzten Einheit genüge, um die Eigenschaften der zusammengesetzten Einheit zu erklären. Tatsächlich aber ist diese Vorstellung eines der größten Hindernisse, das am Verständnis für die VieIniItigkeiten der Wissenschaften, also insbesondere auch für die Unterschiede zwischen den physikalischen, biologischen und Menschenwissenschaften, und somit auch einer Theorie der Wissenschaften im Wege steht. Sieht es nicht manchmal so aus, als ob der Anspruch die Physik könne als Modell der Wissenschaft schlechthin dienen, unter anderem auch auf der Vorstellung beruhe, daß Physiker diejenigen Teilchen untersuchen, aus denen alles, was in der Welt existiert, besteht?"96 Die Grenzen der induktiven Methode hätten sich aber auch in den Naturwissenschaften gezeigt, als es galt, die Eigenschaften von komplexeren Strukturen zu untersuchen, wie in der Biologie oder in der Kosmologie. Die angemessene Methode sei hier, und nach Norbert Elias auch in den Sozialwissenschaften, die Synthese, das Gegenteil der Analyse, eine zusammenführende globale, holistische Methode. Im Prinzip die gleiche Unterscheidung mit ähnlichen Argumenten findet sich auch bei Gerhard Lenski. Auch er will der heute herrschenden analytischen Methode eine holistische ganzheitliche Methode zur Seite stellen. Er meint, daß die Übernahme der analytischen Methode, verbunden mit reduktionistischen Grundvorstellungen aus den Naturwissenschaften dazu geführt hätte, daß die Soziologen zwar einiges über die Elemente der Gesellschaft wie Individuen, Rollen, Institutionen usw. gelernt hätten, daß sie dabei aber ihr ursprüngliches Anliegen, die Erklärung der Entwicklung ganzer Gesellschaften großteils ganz vergessen hätten. 97 Wir können nun versuchen, die vier Lösungsvorschläge mit Hilfe der zwei Achsen induktiv-deduktiv und analytisch-synthetisch zu erfassen. Robert Merton tendiert mit seinem Vorschlag empirisch testbare Theorien über begrenzte Bereiche der sozialen Wirklichkeit zu entwickeln, zu der von Francis Bacon als neu charakterisierten induktiven Methode. Der Sprung von den einzelnen Wahrnehmungen, oder nach Robert Merton, von einfachen Ideen oder Analogien führt bei ihm nicht zu irgend welchen abstrakten allgemeinen Prämissen, sondern zu relativ bescheidenen Systemen von empirisch testbaren 96 97
Elias, Engagement. S. 189. Vgl. Lenski, Evolutionäre Analyse. S. 132 ff.
52
B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Aussagen. Auf Grund seiner Ablehnung globaler Theorien und auf Grund seiner Meinung, daß nur ausgewählte begrenzte Bereiche der empirisch faßbaren sozialen Wirklichkeit sinnvoll zu untersuchen seien, ist er auf der Dimension analytisch-synthetisch in der analytischen Ecke anzusiedeln. Auch George Homans ist ein Verfechter der induktiven Methode. Die Vorstellung von einer deduktiven Forschungsmethode beruht nach ihm auf einem Irrtum. Vertreter der deduktiven Forschungsmethode verwechseln nach ihm die fertige Gestalt einer Theorie, die im Falle einer richtigen Theorie ein deduktives System und von oben nach unten aufgebaut ist, mit dem Weg, wie man zu so einer Theorie kommt. Er meint zwar, daß man gelegentlich auch mit schlechten Methoden Erfolge erzielen könne, so vielleicht auch auf deduktivem Wege, aber die richtige, in allen Wissenschaften erfolgreich praktizierte Vorgangswei-se sei eben induktiv: "Da eine vollständige Theorie sozusagen von oben nach unten aufgebaut ist, von allgemeinen Hypothesen zu weniger allgemeinen empirischen, meinen sie, der Prozeß der Theorieentwicklung müsse ebenfalls von oben nach unten gehen, man müsse von sehr allgemeinen Überlegungen wie dem ,Bezugsrahmen des Handeins' ausgehen und hoffen, irgendwann einmal die Wirklichkeit zu erreichen. Es ist meine grundSätzliche Überzeugung, daß gute Wissenschaft zum Teil durch höchst miserable Methoden zustande gebracht worden ist, und daß die Methoden, von denen die Wissenschaftler sagen, sie hätten sie benutzt, nicht immer diejenigen waren, die sie tatsächlich benutzt haben. Folglich kann ich auch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die, Von oben nach unten' -Strategie der Theoriekonstruktion zu guten soziologischen Theorien führen wird. Aber es gibt eine andere Strategie, und zwar eine, von der die Geschichte der Wissenschaft vermuten läßt, daß sie in einer neuen Wissenschaft wie der unseren mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt. (... ) Diese Strategie geht von den empirischen Befunden aus und sucht die allgemeineren Hypothesen zu entdecken, aus denen eben diese Befunde und, unter anderen Bedingungen, andere Befunde abgeleitet werden können. Dies ist die Strategie, mit der man auf induktivem Wege zu deduktiven Systemen kommt. Diese Strategie hat sich auch schon in der Soziologie bewährt, insofern unsere besten Theorien, diejenigen nämlich, die meinen Anforderungen an ein deduktives System am nächsten kommen, sich eng an die empirischen Befunde gehalten haben. In Mertons Begriffen sind dies unsere Theorien ,mittlerer Reichweite'."98 Es ist leicht, George Homans auf der Dimension analytisch-synthetisch zu lokalisieren. George Homans glaubt, daß der richtige Weg, die Gesellschaft oder die gesellschaftlichen Prozesse zu erklären, Ober die Zerlegung der Gesellschaft in ihre elementaren Bestandteile, auf die sie konstituierenden Individuen, und Ober die Bestimmung der relevanten Eigenschaften dieser Individuen fUhrt. Diese relevanten Eigenschaften glaubt er in den Sätzen der verhaltenstheoretischen Psychologie gefunden zu haben. Mit Hilfe dieser Gesetze lassen sich ihm
98
Homans, Grundfragen. S. 40 f.
III. Diskussion der Lösungsvorschläge
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zufolge alle sozialen Phänomene erklären. Man sieht hier, wie im Denken George Homans' die zuvor referierte Verbindung zwischen dem analytischen Verfahren und der reduktionistischen Vorstellung, wonach die Eigenschaften komplexer Phänomene aus den Eigenschaften der Elemente, aus denen das Phänomen zusammengesetzt ist, ableitbar seien, beispielhaft wiederzufinden ist. Bei der Behauptung der Reduzierbarkeit sozialer Phänomene auf die Psychologie bleibt er trotz seiner Überzeugung vorsichtig. Solange dieses reduktionistische Programm nicht abgeschlossen ist, hätte die Reduzierbarkeitsthese lediglich den Status einer persönlichen Überzeugung, eines persönlichen Glaubens: "Die psychologischen Erklärungen scheinen mir in diesen, ebenso wie in anderen Fällen, die allgemeinsten zu sein, da die in ihnen erscheinenden Hypothesen höherer Ordnung, neben der Erklärung beispielsweise der strukturellen Hypothesen selbst, auch bei der Erklärung einer großen Vielzahl anderer empirischer Hypothesen über soziales Verhalten verwandt werden können, einschließlich deIjenigen der elementaren Ökonomie und der experimentellen Psychologie. Es ist leicht, so wie ich es mache, kurzerhand die Schlußfolgerung zu ziehen, daß alle für die Soziologie charakteristischen empirischen Hypothesen im Prinzip auf die Psychologie rückführbar sind. Aber was heißt im Prinzip? Tatsache ist, daß die Reduktion selten tatsächlich durchgeführt worden ist, und in vielen Fällen wird sie wahrscheinlich nie gelingen, und sei es nur deswegen, weil die notwendigen Informationen fehlen. Was auch immer sie im Prinzip zu leisten imstande ist, zum jetzigen Zeitpunkt ist die Psychologie nicht in der Lage, jedes soziale Phänomen tatsächlich zu erklären. Unter diesen Umständen ist das im Prinzip eine Glaubensfrage."99 Nach Ortung der Vorschläge von Robert Merton und George Homans in dem von den beiden Dimensionen der wissenschaftlichen Forschung konstituierten Koordinatenraum möchte ich mich den beiden letzten Vorschlägen zuwenden. Das hier referierte Programm des Theorienvergleiches ist der Anlage nach eindeutig ein deduktives Programm. Es geht darum, daß zunächst oberhalb der Ebene der empirisch greifbaren Phänomene und der Behauptungen über sie eine Einigung über die Theorie des Sozialen erzielt wird, mit dem langfristigen Ziel, eine globale Hintergrundtheorie für die empirische Forschung bereitzustellen. Dieses langfristige Ziel, der Entwurf eines globalen holistischen Rahmens für die Forschung, entspricht genau dem, was wir mit Norbert Elias unter synthetischer Wissenschaft verstanden haben. Das Programm selbst, das von Karl Hondrich für die konkrete Arbeit vorgeschlagen wurde, mit der Unterscheidung von verschiedenen Manifestationen von Theorien, mit der Unterscheidung von zehn verschiedenen Vergleichsgesichtspunkten, entspricht wiederum der analytischen Vorgehensweise. Die Vertreter des vierten Vorschlages sind Vertreter einer deduktiven und synthetischen V organgsweise. Wenn hier häufig betont wird, daß man bei der 99
Homans, Grundfragen. S. 339.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Entwicklung des Vorstellungsrahmens und bei der Auswahl der Untersuchungsmethode von den zu untersuchenden Phänomenen auszugehen habe, da das Programm dem Wesen dieser Phänomene entsprechen müsse, so ist dies kein Widerspruch. Auch nach Francis Bacon fängt der Wissenschaftler bei der deduktiven Methode zunächst bei den Dingen selbst an, entwirft auf Grund seiner Betrachtungen dann die allgemeinen Prinzipien, aus denen er anschließend die bereits konkreteren Mittelsätze ableitet. Soweit die Beschreibung der vier Programme und ihre Ortung im Rahmen allgemeiner wissenschaftstheoretischer Orientierungen. Was ist nun - diese Frage könnte man abschließend stellen - aus den vier Vorschlägen geworden? Robert Mertons Vorschlag über die Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite wurde allgemein recht positiv aufgenommen. Nach George Homans sind "unsere besten Theorien", Theorien, die seinen Vorstellungen von einer Theorie am nächsten kommen, Theorien mittlerer Reichweite. 1OO Von den wenigen Beispielen, die Heinz Hartmann lO1 für kumulative Entwicklungen in der amerikanischen Soziologie gefunden hat, gehören zwei Arbeiten (Arbeiten zur Statusinkonsistenz und zur Theorie des abweichenden Verhaltens) zu diesem von Robert Merton favorisierten Theorietyp. Handelt es sich hier um einzelne Zufallstreffer oder um die Früchte der systematischen Verfolgung des Mertonschen Programmes? Nach Hubert Blalock Jr. 102 müßte wohl die erste Alternative zutreffen. Seiner Meinung nach ist der Vorschlag überhaupt nicht zu verwirklichen. Der systematischen Verfolgung des Mertonschen Vorschlages stünden mehrere grundlegende methodologische Schwierigkeiten entgegen. Ich will hier die Argumente Hubert Blalocks nicht im Einzelnen wiedergeben. Es geht im wesentlichen darum, daß seiner Meinung nach das von Robert Merton vorgeschlagene Programm aus der Beobachtung der Entwicklung in den Naturwissenschaften abgeleitet wurde, und daß dieses Programm ihm zufolge auf Grund der prinzipiellen Andersartigkeit sozialer Phänomene in den Sozialwissenschaften nicht gangbar ist. George Homans fand mit seinem reduktionistischen Vorschlag zur Formalisierung und zur logischen Durchstrukturierung soziologischer Theorien und mit seinen richtungsweisenden Arbeiten l03 neben zeitweiligen Weggefährten wie Peter Blau lO4 einige treue Anhänger. In Deutschland wurde das Homans'sche
Vgl. Homans, Grundfragen. S. 41. Vgl. Hartmann, Stand und Entwicklung. 102 V gl. Blalock Jr., The Presidental Address: Measurement and Conceptualisation Problems: The Major Obstacle to Integrating Theory and Research. In: American Sociological Review, Vol. 44,1979. 103 Vgl. Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag 1968 und Homans, Grundfragen. 104 Vgl. Blau, Social Exchange ... Unspecified Obligations and Trust. In: Katz (Hg.), Contemporary Sociological Theory. New York: Random House 1971 und Blau, Konsul100
101
111. Diskussion der Lösungsvorschläge
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Programm vor allem durch Hans Hummel und Karl-Dieter Opp vertreten. Neben einigen grundlegenden Arbeiten, in denen die wissenschafts theoretische Rechtfertigung, eine Auseinandersetzung mit anderen soziologischen Schulen, sowie eine Vertiefung des Programmes stattfindetlOS verfaßte Karl-Dieter Opp mehrere Werke, in denen versucht wurde, die Fruchtbarkeit der verhaltenstheoretischen Soziologie auf einzelnen Gebieten, wie Rechtssoziologie, Soziologie des abweichenden Verhaltens, Soziologie der Kriminalität, zu demonstrieren. 106 Man kann ganz allgemein sagen, daß die von George Homans gegründete verhaltenstheoretische Schule, neben anderen anerkannten Richtungen in der Soziologie ihren festen Platz gefunden hat. Natürlich ist auch der Homans'sche Vorschlag nicht ohne Kritik geblieben. Julius Morel, der dem eigentlichen Anliegen der Reduktionisten, der Wiederherstellung der durch die zunehmende Spezialisierung verlorenen Einheit der Sozialwissenschaften, Verständnis entgegenbringt, meint etwa, die Nachteile der Spezialisierung in den Wissenschaften ließen sich nicht durch irgend welche reduktionistischen Programme, sondern nur durch ausdauernde mühsame interdisziplinäre Arbeit wettmachen. 101 Zum reduktionistischen Programm Homans'scher Prägung meint er, daß es nicht zu verstehen sei, warum gerade die Psychologie die Grundlage aller Sozialwissenschaften sein sollte, warum man bei der Psychologie stehenbleibt und nicht alles auf eine noch grundlegendere Wissenschaft, auf die Biologie, zurückzuführen versuche: "Homans behauptet, daß die Psychologie ,die Grundlage aller Wissenschaften bildet, die sich mit dem sozialen Verhalten des Menschen beschäftigen. Zu diesen gehören außer der Soziologie die Anthropologie, die politische Wissenschaft, die Ökonomie und insbesondere die Geschichtswissenschaft'. Man könnte sich fragen, ob nicht mit der gleichen Überzeugung etwa die Biologie als eine noch ursprünglichere Grundlage aller Wissenschaften bezeichnet werden könnte."IOK
tation unter Kollegen. In: ConradlStreeck (Hg.), Elementare Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976. lOS Vgl. Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970; Opp, Soziales Handeln, Rollen und soziale Systeme. Stuttgart: Enke 1970 und Opp, Verhaltenstheoretische Soziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972; HummeVOpp, Die Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. Braunschweig: Vieweg 1971; OpplHummel, Kritik der Soziologie. Frankfurt am Main: Athenäum 1973 und OpplHummel, Soziales Verhalten und soziale Systeme. Frankfurt am Main: Athenäum 1973. 106 Vgl. OPP. Kriminalität und Gesellschaftsstruktur. Neuwied und Berlin: Luchterhand 1968; Opp, Soziologie im Recht. Reinbek bei Hamburg: RowohIt 1973; Opp, Abweichendes Verhalten und Gesellschaftstruktur. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1974; Opp, Soziologie der Wirtschaftskriminalität. München: Beck 1975 und OpplPeuckert. Ideologie und Fakten in der Rechtsprechung. München: Goldmann 1971. 101 Vgl. Morel, Enthüllung der Ordnung. Grundbegriffe und Funktionen der Soziologie. Innsbruck, Wien und München: Tyrolia 1977, S. 147. lOS Ebd. S. 147.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
Er meint weiter, daß man mit Hilfe der Sätze der verhaltenstheoretischen Psychologie vielleicht erklären könne, warum sich Menschen an Normen anpassen, warum die Mehrheit sich in der Regel gemäß den Erwartungen verhält, nicht aber, warum in unterschiedlichen Gesellschaften verschiedene Normen existieren. Hans Westmeyer, der sich mit dem noch weit radikaleren reduktionistischen Programm von Hans Hummell und Karl-Dieter Opp auseinandersetzt, kommt am Ende seiner Analyse zu folgendem Gesamturteil: "Die Analyse des reduktionistischen Ansatzes von Hummell und Opp hat gezeigt, daß das reduktionistische Programm schon an gravierenden formalen Mängeln, das verhaltenstheoretische dagegen eher an unüberwindlichen methodischen Problemen scheitert...109
Nach Joachim MatthesIlO hatte die theorienvergleichende Diskussion an Ertrag nicht das gebracht, was zumindest von einigen erhofft wurde. Die von Karl Hondrich vorgeschlagene Vorgangsweise beim 17. Deutschen Soziologentag in Kassel hätte sich im nachhinein als nicht zielführend herausgestellt. Eine der Schwierigkeiten, mit der man bei einem Vergleich über Objektbereiche konfrontiert wird, sei, daß die Gründe, warum ein Ansatz mehr oder weniger als seine Konkurrenten zu einem Thema anzubieten hat, recht unterschiedlich sein können: Der Grund kann theorieimmanent sein, weil die Anlage des theoretischen Ansatzes die adäquate Auseinandersetzung mit einem Gegenstandsbereich entweder im besonderen Maße fördert oder eben behindert. Der Grund kann aber auch außerhalb der Theorie liegen, es wurde viel oder wenig Mühe und Zeit auf die Auseinandersetzung mit dem betreffenden Gegenstandsbereich verwendet. Der Verlauf der Diskussion in Kassel und bei einigen späteren informellen Arbeitstagungen hätte darüber hinaus noch gezeigt, daß die Hoffnung, man könnte unter Umgehung der wissenschaftstheoretischen Ebene die dort vorhandenen Differenzen auf der objekttheoretischen Ebene lösen, eine Irrige war. 111 Nach Joachim Matthes,hätte man bei Versuchen, Theorienvergleich anders, also nicht über Objektbereiche zu betreiben, nicht geringere Schwierigkeiten. So stünde man beim direkten Vergleich theoretischer Ansätze . vor der Notwendigkeit zu klären, was zu einem Ansatz gehört, was Bestandteil 109 Westmeyer, Zur Reduzierbarkeit von Soziologie auf Psychologie. In: EberleinIKondratowitz (Hg.), Psychologie statt Soziologie? Zur Reduzierbarkeit sozialer Strukturen auf Verhalten. Frankfurt: Campus 1977, S. 67. 110 Vgl. Matthes, Die Diskussion um den Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften seit dem Kasseler Soziologentag 1974. In: Otto HondrichlJoachim Matthes (Hg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt: Luchterhand 1978; und Matthes, Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Ein Bericht über die Diskussion seit dem Kasseler Soziologentag. In Karl Martin Bolte (Hg.), Materialien aus der soziologischen Forschung: Verhandlungen des 18. Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1976 in Bielefeld. München: Deutsche Gesellschaft für Soziologie 1978. 111 Vgl. Matthes, Diskussion. S. 8 und Matthes, Theorienvergleich. S. 1050.
III. Diskussion der Lösungsvorschläge
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des Ansatzes ist, und daher beim Vergleich unbedingt berücksichtigt werden muß, und was als Theoriehintergrund zu vernachlässigen sei. Wie schwierig diese Abgrenzungsfrage zu lösen sei, hätte die von Reinhard Wippler angeregte Diskussion beim Bielefelder Soziologentag 1975 zu der Bedeutung und Rolle von Orientierungshypothesen l12 gezeigt. Es hätte sich herausgestellt, daß die Vorstellungen darüber, wo die Grenze zwischen Grundannahmen oder Orientierungshypothesen einerseits und als empirisch zu wertenden Aussagensystemen andererseits zu ziehen sei, je nach theoretischem Standort, recht unterschiedlich waren. Aber nicht nur die Frage der Grenzziehung, sondern auch der Stellenwert von Orientierungshypothesen allgemein sei recht kontrovers gewesen. Für die einen gehörten Orientierungshypothesen genauso wie auch methodologische Prinzipien zu dem Bereich des unproblematischen Hintergrundwissens, für die anderen waren sie wesentliche, ja konstituierende Bestandteile von Forschungsprogrammen. An dieser Stelle der Diskussion wäre man gefährlich nahe daran gewesen, bei einer unfruchtbaren wissenschaftstheoretischen Debatte wie beim ,,Positivismusstreit" zu enden. t13 Bei einem Versuch, begrenzte theoretische Konzepte zu vergleichen, wird man nach Joachim Matthes auch bald wieder bei einem Vergleich von ganzen Ansätzen landen, da der Sinn von theoretischen Begriffen nach ihm nur über die Theorien, in denen diese Begriffe vorkommen, zu erschließen ist. 114 Als letztes ließe sich ein Theorienvergleich über empirisch überprütbare Hypothesen vorstellen. Aber auch diese Alternative führt nach Joachim Matthes nicht allzuweit, da die Bedeutung von "empirisch" und "empirisch überprütbar" ihm zufolge je nach theoretischem Ansatz eine andere ist. Bei dem Versuch hier weiterzukommen würde man notgedrungen bei einer wissenschaftstheoretischen Grundsatzdiskussion landen. 115 Ähnlich steht es nach J oachim Matthes mit der Prüfung und Bewertung von Theorien ganz allgemein. Auch hier verhindert nach ihm die Pluralität der Meinungen über die Adäquanz der Bewertungskriterien ein Vorwärtskommen. Es ist nur verständlich, daß sich zumindest einige Betrachter des Unternehmens Theorienvergleich auf Grund all dieser Schwierigkeiten recht skeptisch äußern. So schreibt etwa N. Klinkmann in einem unveröffentlichten Arbeitspapier: ,,Mir scheint, daß in der gegenwärtigen Situation der Sozialwissenschaften ein interparadigmatischer Theorienvergleich als systematisch betriebenes Unternehmen unmöglich und zudem auch überflüssig iSt.,,116 Nach Joachim Matt-
112 Vgl. Wippler, Die Ausarbeitung theoretischer Ansätze zu erklärungskräftigen Theorien. In: HondrichlMatthes (Hg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt: Luchterhand 1978. 113 Vgl. Matthes, Diskussion. S. 10 f. und Matthes, Theorienvergleich. S. 1016. 114 Vgl. Matthes, Diskussion. S. 13 und Matthes, Theorienvergleich. S. 1014. 115 Vgl. Matthes, Theorienvergleich. S. 1016. 116 Zit. nach Matthes, Diskussion. S. 20.
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B. Gegenwärtige Lage von Soziologischer Theorie und Methodologie
hes hatte die theorien vergleichende Diskussion eine, wenn auch recht bescheidene positive Funktion "nämlich jenseits aller Darstellungs- und Abgrenzungsstrategien, wie sie im tagtäglichen Geschäft der Konkurrenz von ,Theorienansätzen' geläufig werden, nach Lösungsmöglichkeiten für gemeinsam definierbare Probleme Ausschau zu halten. Diese Funktion, so scheint es, ist im Fortgang der Diskussion zunehmend entdeckt und erfüll bar geworden. ,,117 Zum vierten Lösungsvorschlag läßt sich sagen, daß viele die Notwendigkeit der Erarbeitung eines allgemein akzeptierten globalen Bezugsrahmens sehen. Friedrich Eberle und Herlinde Maindok meinen z. B. in ihrer Stellungnahme zum Theorienvergleich, daß das Anliegen nur innerhalb eines allgemeinen Rahmens erfolgen könnte, sei es, daß eine der vorliegenden theoretischen Orientierungen sich als die grundlegende erweist, sei es, daß eine neue umfassende Theorie erarbeitet wird. 118 Es steht jedenfalls fest, daß zwar viele den selbst vertretenen Ansatz für umfassend und allgemein genug halten, um alle anderen Ansätze integrieren zu können, daß aber bis heute ein von allen, oder zumindest von den meisten, akzeptiertes umfassendes soziologisches Paradigma noch nicht existiert.
117 118
Matthes, Diskussion. S. 9. Vgl. Eberle/Maindok, S. 1439.
c. Theorie und Theoriekontext Ich werde in diesem Kapitel folgendermaßen vorgehen: Im Abschnitt c.1. wird zunächst die Unterscheidung auf die es meiner Meinung nach ankommt, vorläufig charakterisiert. Es geht dabei um zwei unterschiedliche Arten des Lernens: Einmal um das Lernen innerhalb eines ganz bestimmten Kontextes und ein anderes Mal um ein Lernen im Sinne von Wechseln zwischen verschiedenen Kontexten. Die Relevanz dieser Unterscheidung für die Wissenschaftstheorie - so die These von Abschnitt C.l1. - war die Grundidee vieler bedeutender Abhandlungen der letzten Jahre: Gemeint sind hier die späteren einschlägigen Arbeiten von Karl Popper, sowie die bekannten und viel diskutierten Veröffentlichungen von Thomas Kuhn, Imre Lakatos und Paul Feyerabend. Die Bedeutung und Aktualität dieser Unterscheidung für die Soziologie wird in den Abschnitten C.III. und C.lV. dargestellt. Zunächst wird gezeigt, daß die Auseinandersetzung beim sogenannten ,,Positivismusstreit" in der deutschen Soziologie zwischen Vertretern analytischer und dialektischer Auffassungen in den 60er Jahren, von dieser Unterscheidung lebte. Den ,,Dialektikern" ging es immer um den soziologisch relevanten Kontext, während die "Positivisten" ihren Kontext als selbstverständlich voraussetzten und sich innerhalb der so gezogenen Grenzen bewegten. So wurde dann systematisch aneinander vorbeigeredet. Im Abschnitt C.IV. werde ich dann der Frage nachgehen, was aus diesen Ergebnissen für die Soziologie als Wissenschaft folgt. Zusammen mit der Zustandsbeschreibung der Soziologie im ersten Kapitel ergibt die Antwort die Begründung der weiteren Vorgangsweise.
I. Zwei Arten des Lernens Zwei Beispiele sollen zunächst einmal in die Thematik einführen. Sie sollen illustrieren, warum man zwischen Phänomenen und ihren Kontexten unterscheiden soll und auch was ich damit meine, es käme auf den (richtigen) Kontext an. Im weiteren geht es um die spezifische Art der Beziehung zwischen Phänomen und Kontext. Im Abschnitt 1.2. werden als Grundlage für die weitere Analyse Beziehungsstrukturen dargestellt, die gewisse Ähnlichkeit mit der hier behandelten Beziehung aufweisen. Es handelt sich um Beispiele für hierarchische Strukturen, die man auf vielen Gebieten der Wissenschaft findet. Im Abschnitt C.III. werden die bisher gewonnenen Erkenntnisse, die Notwendigkeit der Unterscheidung
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c. Theorie und Theoriekontext
zwischen Phänomen und Kontext, die spezifischen Charakteristika hierarchischer Strukturen, auf das Lernen oder Erkenntnisgewinn angewendet. Es werden hier sowohl das individuelle Lernen als auch das kollektive, gesellschaftliche Lernen angesprochen. 1. Phänomen und Kontext
Zwei Beispiele, eines aus der experimentellen Sozialpsychologie, das andere aus der Geschichte der Medizin, sollen in die Problematik einführen. Das erste Beispiel wurde bereits von Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson 119 für die Veranschaulichung des hier gemeinten Sachverhaltes verwendet. Die im ersten Beispiel behandelten experimentellen Ergebnisse von Solomon Asch l20 über Wahrnehmungs verzerrung auf Grund von Gruppendruck, sind unter Soziologen allgemein bekannt. Diese Experimente sind in allen gängigen Lehrbüchern der Psychologie und Sozialpsychologie wiedergegeben. 121 Im Gegensatz zu der üblichen Darstellung des Phänomens werde ich nicht mit der Beschreibung der Anlage des Experimentes, sondern mit dem Ergebnis selbst beginnen. Solomon Asch berichtet, daß ein Großteil der von ihm herangezogenen Versuchspersonen (rund 75 %) während eines bestimmten Experiments regelmäßig falsche Wahrnehmungsurteile abgegeben hätten. Dabei sei die gestellte Aufgabe recht einfach gewesen: Die Versuchspersonen hätten die Aufgabe gehabt, zu bestimmen, welche von drei parallelen Linien mit der Länge einer vierten, von den drei anderen Linien getrennt gezeigten Linien, übereinstimmte. Die Längen der drei Linien waren von Asch so unterschiedlich gewählt worden, daß die richtige Lösung "normalerweise" kaum von jemandem verfehlt wurde (rund 1 %).Warum haben diese Leute immer wieder falsche Angaben gemacht? Warum beurteilten sie die Längen der ihnen gezeigten Linien wiederholt offensichtlich falsch? Sahen diese Leute einfach schlecht? Unterlagen sie einer optischen Täuschung? Oder waren sie vielmehr alle notorische Lügner? Kennt man nur das Ergebnis, so stehen alle diese Möglichkeiten offen: Der Grund für die falschen Urteile könnte eine spezifische Irregularität der visuellen Wahrnehmungsorgane der betreffenden Person sein. Der Grund der falschen Urteile köonte aber auch eine geschickte, von der überwiegenden Mehrheit unentdeck119 Vgl. Watzlawick/BeaviniJackson, Menschliche Kommunikation. Bem: Hans Huber 1969, S. 20 f. 120 Vgl. Asch, Sozialpsychologie. New York: Prentice Hall 1952, S. 450 ff. und Asch, Änderung von Verzerrung von Urteilen durch Gruppendruck. In: Martin Irle (Hg.): Texte aus der experimentellen Sozialpsychologie. Neuwied und Berlin: Luchterhand 1969. 121 Vgl. /rle, Lehrbuch der Sozialpsychologie. Göuingen, Toronto und Zürich: Hogrefe 1975, S. 68 ff. sowie Ruch/Zimbardo, Lehrbuch der Psychologie. Berlin, Heidelberg und New York: Springer, 2. korrigierte Auflage 1975. S. 342 f.
I. Zwei Arten des Lernens
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te optische Täuschung sein. Die Ursache für die falschen Angaben könnte aber genauso gut eine krankhafte psychische Deformation der Versuchspersonen sein. Diese Aufzählung ist natürlich nicht erschöpfend. Die Ursache des Phänomens ließe sich natürlich auch in anderen als in den genannten Bereichen vermuten. Betrachten wir nun die drei genannten möglichen Ursachen: krankhafte organische Irregularität des visuellen Wahrnehmungsapparates, experimentell erzeugte optische Täuschung und krankhafte psychische Deformation. Es handelt sich hier nicht um einzelne konkrete Phänomene, sondern um Bereiche oder um ganze Klassen von Phänomenen, die als Ursachen in Frage kommen könnten. Durch die Vermutung, die Ursache des zu erklärenden Phänomens sei in einem dieser Bereiche zu lokalisieren, wird das Phänomen gedanklich in einen bestimmten Kontext gestellt. Eine der unzähligen Bereiche der Realität wird als relevant ausgezeichnet und das Phänomen damit in Verbindung gebracht. Der gesamte Komplex wird so innerhalb eines ganz bestimmten Kontextes gedanklich vorstrukturiert. Woher weiß man aber, innerhalb welchen Bezugsrahmens oder Kontextes die richtige Lösung des Rätsels zu suchen ist? In dem vorliegenden Fall ist die Anwort relativ einfach: Die Frage, die Solomon Asch ursprünglich bewegte, die ihn zu der Durchführung des Experimentes veranlaßte, die Anlage des Experimentes, die experimentelle Anordnung selbst müßten über den relevanten Kontext Aufschluß geben. Ich werde nun, obwohl es für den eigentlichen Gedankengang nicht unbedingt notwendig wäre, vollständigkeitshalber auf diese Frage eingehen und damit den relevanten Kontext skizzieren. Die Experimente von Solomon Asch stehen im engen Zusammenhang mit früheren Untersuchungen von Muzafer Sherif. 122 Durch einen geschickt gewählten experimentellen Stimulus konnte Muzafer Sherif die Entstehung, Veränderung und Weitergabe von Normen unter experimentellen Laboratoriumsbedingungen abbilden und beobachten. Als experimenteller Stimulus wurde von Sherif eine punktförmige Lichtquelle in einem sonst vollständig abgedunkelten Raum benützt. Der Lichtpunkt erscheint unter diesen Umständen auf Grund des sogenannten autokinetischen Effektes als bewegt. Da wegen der völligen Dunkelheit weder die genaue Stelle der Lichtquelle, noch irgendweIche andere Objekte als Bezugspunkte erkennbar sind, ist die subjektiv wahrgenommene Bewegung, sowohl was die Richtung der Bewegung, als auch was die Länge der durchlaufenen Strecke betrifft, unbestimmbar. Ist der Raum nicht völlig abgedunkelt, sind irgendweJche Umrisse von Gegenständen sichtbar, stellt sich der Effekt auch nicht ein. Die Lichtquelle wird, wie sie auch ist, als unbewegt wahrgenommen.
122
Vgl. Sherif, The Psychology of Social Norms. New York: Harper 1966.
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c. Theorie und Theoriekontext
Die Art und Weise, wie der Stimulus angeboten wurde und auch die Aufgabe, die die Versuchspersonen zu lösen hatten, blieben im Prinzip während aller Phasen des Experimentes gleich: Der Lichtpunkt wurde gezeigt, die Versuchspersonen hatten mittels Knopfdruck anzuzeigen, wann der Punkt sich zu bewegen begann, woraufhin zwei Sekunden später die Lichtquelle gelöscht wurde. Die Versuchspersonen wurden anschließend gefragt, wie lang die Strecke war, die vom Punkt während dieser Zeit zurückgelegt wurde. In der ersten Phase der Untersuchung wurde die Reaktion der Versuchspersonen in Einzelsitzungen während mehrerer Tagen insgesamt hundertmal festgehalten. Es zeigte sich, daß alle Versuchspersonen jeweils ganz spezifische Standards entwickelten. Ihre Urteile streuten jeweils um für sie spezifische Mittelwerte. Die einmal gefundenen Standards wurden auch über Tage festgehalten, wobei die Streuung der Urteile im Verlauf des Experimentes immer geringer wurde. In der zweiten Phase der Untersuchung hatten die Versuchspersonen dieselbe Aufgabe, nur diesmal in Gruppen, untereinander kommunizierend, zu lösen. Es zeigte sich, wie es von Muzafer Sherif erwartet wurde, daß die Urteile der Versuchspersonen in dieser Situation schnell konvergierten. Die Versuchspersonen "einigten" sich bald auf die ,,richtige" Länge der vom Lichtpunkt durchlaufenen Strecke. Diesen in der Gruppe gefundenen Standards blieben die Versuchspersonen auch während anschließender Einzelsitzungen treu. In einer dritten Versuchsreihe wurden von Muzafer Sherif die an der Findung der Gruppenstandards ursprünglich beteiligten Personen sukzessiv durch andere Versuchspersonen ersetzt. Es zeigte sich hier, daß das ursprünglich gefundene Urteil auch dann beibehalten wurde, wenn in der Gruppe niemand mehr aus der ersten Generation vorhanden war. Muzafer Sherifs Intention war es, die Entwicklung VOn Individuell- und Gruppennormen sowie die Weitergabe solcher Normen über Generationen hinweg unter Laboratoriumsbedingungen zu untersuchen. Seine Experimente sah er als paradigmatische Leistungen auf diesem Gebiet an. Sie werden als solche auch allgemein anerkannt. Durch die Qualität der von Muzafer Sherif verwendeten experimentellen Stimulus - keinerlei Anhaltspunkte für irgendweIche realen Maßstäbe - können seine Experimente als gelungene Modelle für eine Vielzahl von realen Situationen angesehen werden, in denen wie etwa im Bereich von Wertungen oder Werturteilen empirische Fakten zumindest eine recht untergeordnete Rolle spielen, wo aber das Finden eines Standards gerade von besonderer Wichtigkeit zu sein scheint. Die Ansicht, die Geltung der Sherifschen Befunde würde sich auf solche mit Hilfe von empirischen Fakten nicht entscheidbare Situationen beschränken, war der Ausgangspunkt für die Experimente von Solomon Asch - wodurch wir wieder beim eigentlichen Thema angelangt wären, warum die Versuchspersonen von Solomon Asch immer wieder offensichtlich falsche Wahrnehmungsurteile abgegeben haben.
I. Zwei Arten des Lemens
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Solomon Asch entwarf eine Versuchsanordnung, um die Wirkung des Drukkes quantitativ zu erfassen, der auf Personen ausgeübt wird, die sich in einer eindeutigen Minderheitensituation befinden. Im Gegensatz zu den Sherifschen Experimenten war die Aufgabe hier von eindeutig empirischem Charakter: Vergleich der Länge von drei unterschiedlich langen Linien mit einer Vergleichslinie, wobei einer der Linien genau der Vergleichslinie entsprach. In der Versuchsreihe, auf die sich die eingangs gemachte Angabe bezieht (75 % der Versuchspersonen machten regelmäßig falsche Wahrnehmungsurteile) wurde der Wahrnehmungstest in Gruppen von 8 Versuchspersonen durchgeführt. Von den 8 Versuchspersonen wurden 7 vor Beginn der Untersuchung angewiesen, in bestimmten Fällen einhellig falsch zu urteilen. Da die Urteile von den Versuchspersonen einzeln und laut abgegeben werden mußten, befand sich die eigentliche Versuchsperson, die als letzter an die Reihe kam, in den Fällen, wo die anderen alle falsch urteilten, in der Situation entweder sich gemäß der eigenen Wahrnehmung zu äußern und damit den 7 anderen Versuchspersonen zu widersprechen, oder sich der Mehrheitsmeinung zu beugen und ein konformes, aber falsches Urteil abzugeben. In dieser Situation blieben nur rund 25 % der Versuchspersonen während des gesamten experimentellen Zyklus in ihren Urteilen unabhängig. Der Großteil der Versuchspersonen (rund 75 %) beugte sich entweder in einigen wenigen Fällen oder wie manche, in fast allen Fällen dem Gruppendruck und äußerten wiederholt falsche Wahrnehmungsurteile. Durch die Beschreibung der Fragestellung von Solomon Asch, durch die Schilderung der experimentellen Anordnung, haben wir die eingangs dargestellten Fakten innerhalb eines Rahmens oder Kontextes lokalisiert. Durch die Beschreibung des relevanten Kontextes wurde deutlich, daß es sich hier gar nicht um Wahrnehmungsverzerrung handelt, sondern um die Äußerung von falschen Wahrnehmungsurteilen. Wie es aus den anschließenden Interviews mit den Versuchspersonen eindeutig hervorging, sahen diese die Längen der Linien auch dann richtig, als sie die falschen Angaben gemacht haben. Wahrgenommen haben sie also ganz richtig, nur wurden sie auf Grund der wiederholten und gleichlautenden Angaben der anderen Versuchspersonen unsicher. Sie haben sich nicht getraut, das was sie gesehen haben, vor der Gruppe auch zu vertreten. Unser zweites Beispiel stammt aus der Geschichte der Medizin. Eine etwas ausführlichere Beschreibung des Falles, sowie Quellenhinweise finden sich bei Carl Hempel,123 dem die Geschichte als Beispiel für die Arbeit eines Naturwissenschaftlers dient. Zeit und Ort des Geschehens: das Wiener Allgemeine Krankenhaus Mitte des letzten Jahrhunderts, genauer in den Jahren 1844 bis 1848. Held der Geschichte ist Ignaz Semmel weis, ein ungarischer Arzt, der an der Ersten Geburtshiltlichen Abteilung des Krankenhauses arbeitete. Es gab zu dieser Zeit in dieser Abteilung einige unerklärliche Fakten, die das Ärztekolle-
123 Vgl. Hempel, Philosophie der Naturwissenschaften. München: DTV 1974.
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C. Theorie und Theoriekontext
gium beschäftigten. Grund der Unruhe war eine damals aUgemein bekannte und weit verbreitete Krankheit, die als Kindbettfieber bezeichnet wurde. Von dieser Krankheit wurden viele Frauen nach der Entbindung befaUen. Es handelte sich um eine schwere Krankheit mit häufig tödlichem Ausgang. In einigen FäUen erkrankte nicht nur die Mutter, sondern zusammen mit ihr auch das neugeborene Kind. Das besorgniserregende Faktum war nun, daß von dieser Krankheit die Erste Geburtshilfliche Abteilung des Wiener AUgemeinen Krankenhauses in einem erschreckend hohen Ausmaß heimgesucht wurde. In den Jahren 1844, 1845 und 1846 starben nicht weniger als 8.2 %, 6.8 % bzw. 11.4 % der Patientinnen der Abteilung an dieser Krankheit. Im Vergleich dazu starben in den selben Jahren in der benachbarten Zweiten Geburtshilflichen Abteilung des Wiener AUgemeinen Krankenhauses an Kindbettfieber nur 2.3 %, 2.0 % bzw. 2.7 % der entbundenen Frauen. Die beiden Abteilungen hatten dabei etwa die gleiche Struktur und auch etwa die gleichen Belegungszahlen. Über die Ursache dieses Phänomens wurde viel nachgegrübelt. Einige redeten von einer Art Epidemie ganz unbestimmter Art, kosmischen Ursprungs, die einzelne Gebiete negativ beeinflusse und die Krankheit und damit den Tod der Patientinnen verursache. Andere meinten, die Überbelegung der Abteilung, die Ansammlung von zu vielen Menschen auf engem Raum sei schuld. Auch die Art der Verpflegung, die Speisen die verabreicht wurden, wurden verdächtigt und natürlich wurde auch die Behandlungsart der Frauen durch Ärzte und Pflegepersonal in Betracht gezogen. Die zuerst genannte mögliche Ursache, die Epidemie, wurde von Ignaz Semmelweis gleich verworfen, obwohl diese Deutung von mehreren seiner KoUegen vertreten wurde. Warum soUte, so fragte er sich, eine Epidemie unbestimmten kosmischen Ursprungs nur diese eine Abteilung treffen und nicht auch die gleich daneben liegende zweite Abteilung. Diese Konzentration der Krankheit auf eine der beiden Stationen ließ sich nicht mit seinen Kenntnissen über Epidemien vereinbaren. Aber auch die sonstigen Vermutungen mußten nach ihm falsch sein, denn die Überbelegung in der Zweiten Geburtshilflichen Abteilung war noch schlimmer. Die Frauen versuchten, da die hohe Sterblichkeitsrate an der ersten Abteilung bekannt wurde, aUe dort unterzukommen. Und die Verpflegung und Behandlung der Patientinnen waren im großen und ganzen gleich - zumindest konnte Semmelweis keinen relevanten Unterschied feststellen. Die Angelegenheit wurde jetzt einer unabhängigen ärztlichen Kommission überantwortet. Die Kommission kam zu dem Schluß, daß die Krankheit von den Medizinstudenten, die in Geburtshilfe an dieser Abteilung ausgebildet wurden und die den Frauen während der Untersuchung aus Ungeschicklichkeit Verletzungen zuführten, verursacht werde. Um diese Hypothese zu überprüfen, wurde die Anzahl der Medizinstudenten an der Abteilung für eine Zeit um die Hälfte reduziert. Die Maßnahme wurde aber nicht von Erfolg begleitet. Nach einer kurzen Erholungsperiode stieg die
I. Zwei Arten des Lernens
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Anzahl der Erkrankungen sogar an. Auch aus einem anderen Grunde schien für Ignaz Semmel weis das Kommissionsergebnis unbefriedigend zu sein: In der zweiten Abteilung wurden zwar nicht Medizinstudenten, dafür aber Hebammen ausgebildet, die nach Ignaz Semmelweis am Anfang ihrer Ausbildung kaum mehr Geschicklichkeit in der Untersuchung der Schwangeren besaßen als die Medizinstudenten. Also wurde auch diese Hypothese der unabhängigen Ärztekommission von Ignaz Semmelweis verworfen. Eine andere Hypothese besagte, die Krankheit sei psychischen Ursprungs: das Erscheinen des Priesters, der zu den sterbenden Frauen gerufen wurde, und der begleitet von einem Klingel läutenden Meßdiener in der Abteilung alle Krankensäle durchqueren mußte, bevor er ins Sterbezimmer gelangte, hätte auf die Frauen eine dermaßen entkräftigende Wirkung, daß sie erkrankten und schließlich starben. Diese Hypothese erschien insofern plausibel, da in der zweiten Abteilung der Priester nicht durch die Krankenzimmer gehen mußte, sondern direkten Zugang zu den Sterbezimmern hatte. Auf Ignaz Semmelweis' Wunsch benützte der Pfarrer daraufhin in der ersten Abteilung einen Umweg und ging in das Sterbezimmer ohne die Krankensäle zu durchqueren und auch auf das Klingeln des Meßdieners wurde verzichtet. Diese Maßnahme blieb jedoch ohne Erfolg und auch diese Hypothese mußte verworfen werden. Schließlich ist es Ignaz Semmelweis noch aufgefallen, daß während in seiner Abteilung die Frauen auf dem Rücken liegend entbunden wurden, in der zweiten Abteilung die Entbindung in der Seitenlage durchgeführt wurde. Um zu prüfen, ob nicht vielleicht dieser Umstand für die größere Sterblichkeit in seiner Abteilung verantwortlich sei, führte Ignaz Semmelweis auch hier diese Behandlungsart ein, ohne allerdings etwas zu erreichen. Die Sterblichkeitsrate blieb gleich. Die Lösung des Rätsels wurde Ignaz Semmel weis durch einen Zufall nahegebracht. Während einer Autopsie verletzte sich einer seiner Kollegen am Skalpell eines Studenten leicht an der Hand. Er erkrankte schwer und starb schließlich. Während der Krankheit zeigten sich bei ihm die gleichen Symptome wie bei den im Kindbettfieber erkrankten Frauen. Ignaz Semmel weis nahm an, daß es sich hier um die gleiche Krankheitsursache handeln müsse. Im Fall seines Kollegen könnte, so meinte er, durch die Verletzung an der Hand irgendwelche giftige Leichensubstanz in den Blutkreislauf des Arztes geraten sein, die eine Art Blutvergiftung verursachte. Dieselbe Substanz, so meinte er weiter, könnte unbemerkt von ihm, von seinen Kollegen und von den Medizinstudenten auf die Frauen übertragen worden sein. Sie alle kamen bei der Autopsie mit Leichen in Berührung und kamen nach kurzem Händewaschen in die Abteilung und untersuchten die Schwangeren. Obwohl diese Annahme, eine unsichtbare Substanz als Krankheitsursache, ein wenig merkwürdig war - man wußte damals noch nichts von Mikroorganismen und über ihre Rolle als Krankheitserreger - sprachen einige Tatsachen sofort für diese Hypothese. So konnte man mit dieser Annahme erklären, warum die Krankheit in der ersten Abteilung in einem so höheren Ausmaß auftrat als in der zweiten Abteilung, wo 5 Meleghy
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C. Theorie und Theoriekontext
Hebammen ausgebildet wurden, die keine Autopsien durchführten und daher normalerweise keinerlei Kontakt zu Leichen hatten. Die Hypothese erklärte auch, warum die Krankheit außerhalb des Krankenhauses bei Hausgeburten oder in Fällen, wo die Geburt unterwegs zum Krankenhaus geschah, nur relativ selten auftrat. Sehr gut mit dieser Infektionshypothese zu vereinbaren war es auch, daß die Kinder nur dann erkrankten, wenn die Mutter bereits während der Schwangerschaft von Kindbettfieber befallen wurde. Erkrankten die Frauen erst nach der Geburt des Kindes, so blieben die Neugeborenen von der Krankheit normalerweise verschont. Stimmte die Hypothese, so müßte versucht werden, so meinte Ignaz Semmelweis, die Übertragung der giftigen Substanz zu verhindern. Der giftige Stoff an den Händen der Ärzte und Medizinstudenten müßte vernichtet werden. Ignaz Semmelweis ordnete zu diesem Zweck die Verwendung einer Chlorkalk-Lösung an, eine Chemikalie, von der man annahm, daß sie die Verbreitung von giftigen Stoffen aus verwesenden Kadavern und menschlichen Leichen verhindere. Genauso wie das erste Beispiel sollte auch diese Geschichte verdeutlichen, daß vor der Formulierung einer spezifischen Hypothese, die dann auf ihre Richtigkeit geprüft werden kann, das Phänomen zumindest einmal innerhalb eines Rahmens vorstrukturiert bzw. in einen Kontext gestellt werden muß. Häufig ist es auch so, wie etwa das zweite Beispiel zeigt, daß verschiedene mehr oder weniger konkrete Hypothesen aus unterschiedlichen Kontexten miteinander konkurrieren. Eines zeigen jedoch alle zwei Beispiele deutlich: es kommt zunächst einmal auf den richtigen Kontext an. Es werden auch noch so originelle Hypothesen ihr Ziel verfehlen, wenn sie innerhalb des falschen Kontextes oder Bezugsrahmens formuliert werden.
2. Hierarchische Strukturen Nach dieser ersten und globalen Einführung dürfte es bereits deutlich geworden sein, daß es sich hier um einen ganz spezifischen Beziehungstypus handelt. Die Beziehung zwischen Phänomen und Kontext bzw. genauer, zwischen der richtigen Deutung eines Phänomens und dem richtigen Bezugsrahmen, ähnelt bekannten hierarchischen Strukturen. Solche Strukturen trifft man in verschiedenen Wissenschaftsgebieten an. In der Mathematik wurde von Bertrand Russell die sogenannte Typentheorie vorgeschlagen, um damit bestimmten Widersprüchen oder Antinomien der Mengenlehre zu entkommen. 124 Ausgangspunkt des Problems waren bestimmte Antinomien der Mengenlehre, die das gesamte Contorsche System zu erschüttern drohten. Eine dieser 124 Vgl. z. B. Fraenkel, Mengenlehre und Logik, Bd. 2. Berlin: Duncker und Humblot 1968; Lay, Grundzüge einer komplexen Wissenschaftstheorie. Band 1: Grundlagen und Wissenschaftslogik. Frankfurt am Main: Knecht: 1971 sowie WatzlawickIBeavin/Jackson 1969.
I. Zwei Arten des Lernens
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Antinomien, Bertrand Russells bekannte Paradoxie, läßt sich folgendermaßen beschreiben. Wir betrachten zunächst die Objekte des Universums und ihre Merkmale. Wir teilen diese Objekte auf Grund des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von bestimmten Merkmalen in einander ausschließende Klassen ein. Wir bilden so z. B. A, die Klasse aller Soziologen, zu der wir gedanklich alle Soziologen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfassen. Fassen wir nun alle verbleibenden möglichen Objekte unseres Denkens zu einer Klasse B zusammen, so haben wir die Klasse der Nicht-Soziologen gebildet. Da die Klasse B genau die Elemente enthält, die nicht zu A gehören, kann kein Phänomen gleichzeitig bei den Klassen angehören. Das logische Universum läßt sich auf diese Weise in zwei sich ausschließende Klassen einteilen. Anschließend gehen wir einen Schritt weiter, und betrachten nicht mehr Objekte und ihre Merkmale, sondern Klassen, die Merkmale und Eigenschaften von Klassen. Ein Merkmal, oder eine Eigenschaft von solchen Klassen wäre z. B., ob eine Klasse sich selbst als Element enthält oder nicht. So ist z. B. die Klasse aller Begriffe selbst ein Begriff, oder anders ausgedrückt, die Klasse aller Begriffe ist eines der Elemente der Klasse aller Begriffe. Dasselbe läßt sich z. B. von der Klasse aller Soziologen nicht aussagen. Wir können nicht behaupten, die Klasse aller Soziologen wäre selbst ein Soziologe, das wäre ja unsinnig. Die Aufteilung des logischen Universums ist wiederum vollständig. Eine Klasse enthält entweder sich selbst als Element oder sie enthält sich selbst als Element nicht. Bis hierher scheint noch alles in Ordnung zu sein. Wieder auf einer Stufe höher, wir betrachten hier weder Objekte noch Klassen, sondern Klassen von Klassen, oder Klassen, deren Elemente selbst Klassen sind, und die Merkmale und Eigenschaften von solchen Klassen von Klassen. C und D sind solche Klassen von Klassen. Zu C gehören alle Klassen, die sich selbst als Element enthalten, zu D alle Klassen, die sich als Element nicht enthalten. Wir beschäftigen uns hier mit den Eigenschaften von solchen Klassen von Klassen. Betrachten wir z. B. die Klasse D, und fragen wir uns, enthält D, die Klasse aller Klassen, die sich selbst nicht als Element enthalten, sich selbst als Element? Nun scheint es klar zu sein, daß D sich selbst nicht enthalten kann, denn zu D gehören ja nur Klassen, die sich selbst nicht enthalten. Wenn aber die Klasse von Klassen D, sich selbst nicht enthält, besitzt sie gerade die Eigenschaft, worauf es bei der Bildung der Klasse D ankommt. Sie enthält sich selber nicht, wodurch sie zu ihren Elementen gehört und daher sich selbst enthalten muß. Der gleiche Gedankengang wird von Abraham Fraenkel folgendermaßen formuliert: "Zu einer gegebenen Menge M besteht nach dem Aristotelischen Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (tertium non datur) die Alternative, daß M unter ihren Elementen M selbst enthält, oder M nicht enthält. Der Kürze halber wollen wir Mengen M der zweiten Art als ,normale Mengen' bezeichnen. Wir betrachten nun die Menge Q, deren Element genau alle normalen Mengen sind. Q ist entweder von der ersten oder
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von der zweiten Art. Im ersten Fall ist Q ein Element von Q; das besagt aber, daß Qeine Menge von Mengen - ein Element enthält, das nicht normal ist, im Widerspruch zu Definition von Q. Hiermit scheint bewiesen zu sein, daß Q eine normale Menge ist, sich also nicht selbst enthält. Doch führt dies gleichfalls zu einem Widerspruch. Denn nach der Definition von Q als Menge aller normalen Mengen muß Q hiernach Q als Element enthalten, im Widerspruch zu dem soeben Bewiesenen."12S
Die Russellsche Lösung dieses Widerspruches war nun, daß er solche Aussagen, wie die Klasse, die sich selbst als Element enthält, als sinnlos erklärt. Nach seiner (einfachen) Typentheorie werden Begriffe in eine hierarchische Ordnung gebracht (logische Typen). Auf der Ebene 0 werden die Namen der Gegenstände angesiedelt, auf der Ebene 1 die Eigenschaften dieser Gegenstände, auf der Ebene 2 die Eigenschaften dieser Eigenschaften usw. Nach der Typentheorie gehört jede Aussage zu einem bestimmten logischen Typ (Ebene) und kann sinnvoll nur auf Begriffe oder Aussagen des direkt darunter liegenden Typs (Ebene) bezogen werden. Die Eigenschaften nach denen wir Objektklassen bilden, müssen der Ebene 1 angehören und dürfen nicht der Ebene 2 entlehnt sein: "Keine Gesamtheit kann Elemente enthalten, die nur unter Bezugnahme auf jene Gesamtheit definierbar sind,,126 - lautet das Russellsche Prinzip. Ähnlich wie in der Mathematik führte in der Logik die Entdeckung der Notwendigkeit der Unterscheidung von verschiedenen Sprachebenen zu der Entwirrung von einer ganzen Reihe klassischer Paradoxien. So läßt sich etwa die paradoxe Aussage des Mannes, der von sich sagt, daß er jetzt lüge und dadurch seine Zuhörer in Verwirrung stürzt (denn lügt er tatsächlich, dann ist das, was er sagt wahr, sagt er aber die Unwahrheit, so ist das, was er sagt unwahr), durch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Sprachstufen als eine zwar spitzfindige, aber unerlaubte sprachliche Fehlkonstruktion zu entlarven. Die Verwirrung entsteht in diesem Bereich dadurch, daß wir nicht nur über reale oder gedachte Dinge oder Gegenstände etwas aussagen können, sondern auch über die sprachlichen Gebilde selbst durch die diese Aussagen formuliert wurden. Die Sprache, in der wir über Gegenstände oder Objekte etwas aussagen, wird Objektsprache, die Sprache, in der wir etwas über diese sprachlichen Gebilde reflektieren, Metasprache genannt. Sagen wir etwas über metasprachliche Aussagen selbst aus, so befinden wir uns auf einer meta-metasprachlichen Ebene. Die Zahl der auf diese Weise konstruierbaren Ebenen ist prinzipiell beliebig. Der Satz, Innsbruck ist die Hauptstadt Österreichs, ist z. B. eine objektsprachliche Aussage. Der Satz dagegen: "Die Aussage, Innsbruck sei die Hauptstadt Österreichs, ist falsch" eine metasprachliche Behauptung. Dieses Problem der Sprachstufen begegnet uns bereits bei der Verwendung von einzelnen Begriffen. In dem objektsprachlichen Satz, Innsbruck ist die 125
Fraenkel, S. 55.
126 Ebd. S. 57.
I. Zwei Arten des Lernens
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Hauptstadt Österreichs, wird der Begriff Innsbruck als ein Name für eine konkrete Stadt verwendet. Man sagt auch, der Begriff Innsbruck werde hier als Hinweis auf etwas Konkretes gebraucht. In der metasprachlichen Aussage, ,,Innsbruck" besteht aus neun Buchstaben, wird ,,Innsbruck" dagegen nicht als Name für etwas Konkretes gebraucht, gemeint ist nur das Wort ..Innsbruck" selbst. Man sagt hier, ,,Innsbruck" werde hier erwähnt. Es ist klar, daß es zweckmäßig ist, die unterschiedlichen Verwendungsarten des Begriffes kenntlich zu machen. Normalerweise wird durch den sprachlichen Kontext deutlich was gemeint wird, ob der Begriff Innsbruck gebraucht oder erwähnt wird. In der Fachliteratur wird, um die Verwendungsart der Begriffe genau zu kennzeichnen, das Wort unter Anführungszeichen gesetzt, wenn das Wort selbst gemeint wird, wenn das Wort also nur erwähnt wird. Eine präzise Unterscheidung der verschiedenen Sprachstufen ist insbesondere innerhalb logischer Untersuchungen besonders wichtig. Wolfgang Stegmüller schreibt in diesem Zusammenhang. "Innerhalb von Untersuchungen über die Grundlagen der Lo~ik und Mathematik ist eine sehr scharfe und pedantisch eingehaltene Unterscheidung dieser beiden Sprachstufen von größter Wichtigkeit, da sonst die Gefahr des Auftretens logischer Paradoxien entsteht. "127 Helmut Seiffert bezeichnet die eigenartig späte Entdeckung der Sprachstufen am Anfang dieses Jahrhunderts als eine "philosophische Großtat": "Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache war übrigens eine philosophische Großtat ersten Ranges. Hierdurch wurden nämlich einige jahrhundertealte Kopfzerbrecher aufgelöst, mit denen sich die Philosophen vieler Generationen vergeblich herumschlugen."I28 Wie wurde nun die paradoxe Aussage des Mannes, der von sich sagt, daß er jetzt lüge, aufgelöst? Nun, in dieser Aussage sind zwei Aussagen aus unterschiedlichen Sprachstufen miteinander verquickt. Dadurch sagt dieser Satz etwas über sich selbst aus. In einem Satz soll aber entweder über Dinge oder Phänomene etwas ausgesagt werden (objektsprachliche Aussage) oder über Sätze der Objektsprache selbst (metasprachliche Aussage). Hält man die bei den ineinander verschachtelten Aussagen auseinander, so könnte man den Sachverhalt etwa so ausdrücken. Der Mann könnte etwa sagen: ..Der Satz, den ich jetzt sagen werde, ist wahr": ..Ich lüge jetzt." Die Lösung des Paradoxons besteht also darin, daß man erkennt, daß es hier um zwei unterschiedliche Sprachstufen und damit um unterschiedliche Behauptungen geht, die getrennt betrachtet
127 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band I: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1969, S. 32. 128 Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie. Band I: Sprachanalyse. Deduktion, Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. München: Beck 1980, S. 74.
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C. Theorie und Theoriekontext
werden müssen, und daß daher die Wahrheit oder Falschheit des einen Satzes die Wahrheit oder Falschheit des zweiten Satzes nicht berührt. Das Paradoxon ist damit aufgehoben, obwohl, was emotional wenig befriedigend ist, wir immer noch nicht wissen, wann der Mann die Wahrheit sagt. Wie Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson 129 zeigen, wird durch die Theorie der logischen Typen von Bertrand Russell und durch die Lehre der hierarchisch geordneten semantischen Ebenen ein grundlegendes Problem jeglicher Kommunikation angesprochen. Im Falle der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine (elektronische Rechenanlage) gehören z. B. die eingegebenen Daten einem niedrigeren (logischen) Typs an als die Befehle, die angeben, was mit diesen Daten geschehen soll. Nicht so offensichtlich und im Ablauf des Kommunikationsprozesses den Beteiligten meist kaum bewußt ist dieses Moment in Mensch - Mensch Systemen. Betrachtet man zwei Menschen, die miteinander kommunizieren, so fällt einem dieser Sachverhalt normalerweise nicht auf. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beobachteten dem eigenen soziokulturellen Umfeld entstammen. Geht man aber bereits auch nur ein wenig aus dem Bereich des Gewohnten hinaus, verläßt man den eigenen Ort im sozialen Raum, kommt einem bald vieles eigenartig, komisch oder unverständlich vor: So kann es einem Erwachsenen vorkommen, wenn er der Unterhaltung einer Gruppe Jugendlicher beiwohnt, daß er, obwohl er akustisch alles gut mitbekommt, die gleiche Sprache spricht, d. h. die Bedeutung aller gebrauchten Wörter kennt, doch irgend etwas Wesentliches versäumen muß. Das sieht er an den für ihn zum Teil unverständlichen Reaktionen der Jugendlichen. Es muß offensichtlich neben dem objektiven kognitiven Inhalt der Kommunikation etwas geben, das das richtige Verständnis des Kommunikationsprozesses ermöglicht. Die komplexe Struktur alltäglicher und uns als unproblematisch erscheinender Kommunikationen wird erst durch eine genaue Analyse offengelegt. Genauso wie bei der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, wo wir für einen vollständigen kommunikativen Akt Informationen auf mindestens zwei unterschiedlichen Ebenen benötigen, benötigen wir auch für eine gelungene Kommunikation zwischen Menschen Informationen auf mindestens zwei unterschiedlichen Ebenen. Der kognitive Inhalt einer Mitteilung ist vergleichbar mit den Daten in der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Um diese Mitteilung verorten zu können benötigt man auch hier Mitteilungen auf einer höheren Ebene, nämlich Mitteilungen darüber, wie das Gesagte zu verstehen sei oder was der Empfanger der Nachricht mit dem kognitiven Inhalt der Mitteilung anfangen soll. Dieselbe Information kann, je nachdem wie sie aufzufassen war, eine ernstgemeinte Mitteilung, ein Scherz, eine Drohung, eine scherzhafte Drohung, eine Unterweisung und vieles andere mehr sein. Neben der Mitteilung der Information muß der Sprecher, will er nicht mißverstanden wer-
129
Vgl. Watzlawick/BeaviniJackson.
I. Zwei Arten des Lernens
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den, durch Gesten, Tonfall usw. auch auf den gemeinten Kontext hinweisen. Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson zeigen in ihrem Buch ,,Menschliche Kommunikation", daß die Definition der Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern, als wesentliches Element des Kommunikationskontextes auf dieser Metaebene erfolgt. Die Autoren unterscheiden, je nachdem ob die kognitive Information selbst oder die Definition der Beziehung zwischen den Kommunizierenden gemeint ist, zwischen einem Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation: "Wenn man untersucht, was jede Mitteilung enthält, so erweist sich ihr Inhalt vor allem als Information. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Information wahr oder falsch, gültig oder ungültig oder unentscheidbar ist. Gleichzeitig aber enthält jede Mitteilung einen weiteren Aspekt, der viel weniger augenfällig, doch ebenso wichtig ist - nämlich einen Hinweis darauf, wie ihr Sender sie vom Empfänger verstanden haben möchte. Sie definiert also, wie der Sender die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger sieht, und ist in diesem Sinn seine persönliche Stellungnahme zum anderen. Wir finden somit in jeder Kommunikation einen Inhalts- und Beziehungsaspekt."I30 Mit Hilfe dieser Konzeption werden von den Autoren psychopathologische Erscheinungen, die traditionell individualpsychologisch gedeutet wurden, als symptomatische Erscheinungen eines gestörten Kommunikationssystems erfaßt. Neben Mathematik, Semantik und Kommunikation gibt es noch viele Bereiche, in denen hierarchische Strukturen anzutreffen sind. 131 Ein in unserem Zusammenhang besonders einschlägiger Bereich, nämlich Systeme normativer Regelungen, soll hier noch erwähnt werden. Hier finden wir hierarchische Strukturen, die starke Ähnlichkeit mit den Strukturen in den bereits behandelten Gebieten aufweisen. Unter Systemen normativer Regelungen sind komplexe Muster von Vorschriften des richtigen Handeins gemeint. Insoweit handelt es sich um kognitive Systeme, die aber dadurch, daß sie in einer Gruppe oder Gesellschaft Geltung beanspruchen, eine zusätzliche spezifische Qualität erhalten. Man denke hier an die komplexe Struktur von normativen Regelungen einer ganzen Gesellschaft, oder an die Normen, die das Wirtschaftsleben eines Landes regeln, oder an das System von Normen, die regeln, wie in einer Gesellschaft politische Entscheidungen gefallt werden sollen, oder an die Normen, die das Geschehen in einem Unternehmen regeln, oder einfach an die Regeln oder Ordnung, die sich eine freiwillige Organisation oder Verein gegeben hat. Wir können in allen diesen Bereichen zumindest zwei Typen von Regelungen unterscheiden. Zu Typus 1 gehören alle Normen, die das Verhalten der Mitglieder der betreffenden Einheit im normalen Ablauf des Geschehens regeln und zu Typus 2 die Regeln, die angeben, wann, unter welchen Voraussetzun130 131
Fraenkel, S. 53.
Vgl. ebd. S. 242.
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C. Theorie und Theoriekontext
gen, wie und von wem die alten Normen verändert und/oder abgeschafft oder neue Regeln gesetzt werden können. Zu diesem zweiten Typ von Normen gehört natürlich auch die Regel, daß bestimmte Normen unveränderlich seien. Die Regeln des zweiten Typs sagen etwas aus über die Vorschriften des ersten Typs, sie sind Regelungen von Regelungen oder Metaregelungen. Sie gehören damit einem höheren logischen Typ an als die Regelungen des ersten Typs. Regelung und Metaregelung, Ordnung und Neuordnung, was im wesentlichen auf den gleichen Sachverhalt hinweisen soll, ist allgegenwärtig in lebendigen Systemen, wie z. B. in biologischen Organismen, wo im Ablauf der natürlichen Wachstums- und Alterungsprozesse die Systeme Phase für Phase jeweils neue Ordnungen erhalten. Dasselbe gilt auch für Handlungssysteme wie z. B. Familien. Die Ordnung solcher Handlungssysteme muß, bedingt durch natürliche Entwicklungsprozesse, z. B. durch das Heranwachsen der Kinder, Phase für Phase neu gestaltet werden. Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson weisen darauf hin, daß pathologische Erscheinungen in Familien häufig durch Verzögerung oder Versäumnis einer notwendig gewordenen Neuordnung des Handlungssystems verursacht werden. 132 Der gleichen hierarchisch gegliederten Struktur begegnen wir in der betriebswirtschaftlichen Literatur bei der Behandlung des Phänomens Organisation. Hier ist die Organisation, das gestaltete geordnete System von Handlungsabläufen und technischen Prozessen die Elementarebene und die auf die Gestaltung dieser Organisation gerichtete Tätigkeit des Organisierens die Metaebene. Gegenstand der Tätigkeit Organisation ist die Gestaltung der Organisation: "Der Ausdruck Organisation wird in Literatur und Praxis sowohl als Bezeichnung für eine spezifische Tätigkeit, die des Organisierens, als auch für das Ergebnis dieser Bemühungen, das in Gebilden und Prozessen sichtbar wird, gebraucht. Knüpft man an den Tätigkeitsvorgang des Organisierens an, so handelt es sich stets um die Gestaltung von Beziehungskomplexen auf bestimmte Ziele hin. Die Erfüllung der unternehmerischen Gesamtaufgabe kann nur gelingen, wenn die als Handlungsträger eingesetzten Menschen und die zur Zweckerreichung erforderlichen Sachrnittel in einem sinnvoll abgestimmten Ordnungszusammenhang stehen, der einen reibungslosen Ablauf des gesamten Produktionsprozesses geWährleistet. Organisieren bezeichnet daher eine koordinierende Tätigkeit, die auf die Regelung des Zusammenwirkens von Menschen und Menschen, Menschen und Sachen sowie Sachen und Sachen im Hinblick auf gesetzte Zwecke gerichtet ist. "133
Fraenkel, S. 72 ff. Kosiol, Das Phänomen der Organisation und seine wissenschaftliche Behandlung. In: Erwin Grochla (Hg.), Organisationstheorie, 1. Teilband. Stuttgart: Poeschel 1975, 132
133
S.41.
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3. Stufen des Lernprozesses Nach der Behandlung einer ganzen Reihe von hierarchischen Strukturen in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen soll nun das entsprechende Phänomen auf dem Gebiet des Lernens dargestellt werden. Es geht hier, wie bereits erwähnt, einerseits um das Lernen innerhalb eines ganz bestimmten Kontextes und andererseits um das Erkennen des relevanten oder richtigen Kontextes. Diese beiden unterschiedlichen Arten des Lernens sind nicht einfach nebeneinander anzuordnende, verschiedene Typen des Lernvorganges, sondern den bisherigen Beispielen analog zu deutende hierarchische Ebenen. Ich werde diese zwei Typen des Lernens Gregory Bateson folgend\34 zunächst einmal an Hand zweier Experimentalberichte darstellen. Anschließend werde ich die von Gregory Bateson vorgeschlagene Deutung der geschilderten experimentellen Befunde referieren. Schließlich werde ich in diesem Abschnitt die Tragweite dieser Neuinterpretation aufzeigen. Der erste Experimentalbericht stammt von Ivan Pawlow. 135 Dieses von N.R. Schenger-Krestownikowa durchgeführte Experiment fand als Paradigma für die sogenannte Experimentalneurose Eingang in die Literatur. 136 Der zweite Experimentalbericht stammt von Gregory Bateson selbst. 137 Er berichtet hier über die Untersuchungen mit Delphinen, an denen er beteiligt war. In dem von Ivan Pawlow geschilderten Experiment wurde zunächst bei einem Hund eine bedingte Nahrungsreaktion auf einen Lichtkreis, der auf eine vor dem Hund stehende Leinwand projiziert wurde, herausgebildet. Die Herausbildung der bedingten Reaktion wurde dadurch bewirkt, daß dem Hund regelmäßig kurz vor der Fütterung der Lichtkreis gezeigt wurde. Nach einer bestimmten Anzahl von Wiederholungen konnte die (bedingte) Nahrungsreaktion (Speichelfluß) alleine durch die Projektion des Lichtkreises ausgelöst werden. Danach wurde eine Differenzierung im Bereich des bedingten Reizes vorgenommen, in dem auf die Projektion des Lichtkreises die Fütterung folgte, auf die Projizierung einer Ellipse von gleicher Größe und Helligkeit jedoch die Fütterung unterblieb. Der Hund war so bald imstande, zwischen Kreis und
134 Vgl. Bateson, Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 143 ff. 135 Vgl. Pawlow, Sämtliche Werke. Band I1I12. Berlin: Akademie-Verlag 1953, S.314. 136 Vgl. Eyferth, Lernen als Anpassung des Organismus durch bedingte Reaktionen. In: Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Band I, 2. Halbband. Göttingen: Hogrefe 1964, S. 106; Eyferth, Das Lernen von Haltungen, Bedürfnissen und sozialen Verhaltensweisen. In: Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Band I, 2. Halbband. Göttingen: Hogrefe 1964, S. 353 f.; Neel, Handbuch der psychologischen Theorien. München: Kindler 1974, S. 132 f. sowie RuchfZimbardo, S. 137. 137 Vgl. Bateson, S. 153 ff.
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Ellipse zu unterscheiden. Die bedingte Nahrungsreaktion wurde nur durch den Lichtkreis nicht mehr aber von der Ellipse ausgelöst. Ursprünglich wurde die bedingte Reaktion wegen der starken Ähnlichkeit der beiden Reize auch von der Ellipse ausgelöst. Am Anfang der Differenzierung waren die beiden Reize, Kreis und Ellipse, leicht unterscheidbar. Die Ellipse hatte eine recht ausgeprägte Form. Das Verhältnis der beiden Halbachsen betrug 2: 1. Im weiteren Verlauf des Experimentes wurde die Form der Ellipse Schritt für Schritt der Form eines Kreises angenähert. Dem Hund wurde dadurch eine immer feinere Unterscheidung abverlangt. Die einmal gelernte Differenzierung blieb auch so weiterhin erhalten. Die bedingte Reaktion folgte weiterhin auf dem Kreis und nicht auf die, einem Kreis immer ähnlicher werdende Ellipse. Der Hund unterschied diese beiden Formen genau bis dann eine fast kreisrunde Ellipse mit dem Verhältnis der Halbachsen von 9:8, gezeigt wurde. Eine Differenzierung konnte bei diesem feinen Unterschied selbst durch eine noch so lange Übung nicht mehr erreicht werden. Bemerkenswert war aber nicht der Umstand, daß der Hund diese feine Unterscheidung nicht mehr treffen konnte, sondern die Folgen dieses Ereignisses: Die gesamte bis dahin erlernte Differenzierung brach zusammen und selbst die ursprünglich herausgebildete bedingte Nahrungsreaktion war gestört. Der Hund schien sehr verwirrt zu sein, zeigte Zeichen von starker Erregbarkeit, brummte und winselte. Es wird von Ivan Pawlow berichtet, daß manche Hunde bei ähnlichen Experimenten bewegungslos erstarrten und die Nahrungsaufnahme verweigerten, andere wurden aggressiv und griffen ihre Betreuer an. Nach solchen experimentellen Zyklen benötigen die Hunde recht viel Zeit um sich zu beruhigen. Wie von Ivan Pawlow berichtet wird, reagieren sie selbst nach Monaten ängstlich oder aggressiv auf das Erscheinen des Experimentators. Wiederholt man nach einer längeren Erholungspause den gesamten Vorgang von vorne, mit Herausbildung der bedingten Reaktion und Erlernen der Differenzierung, so geht es diesmal langsamer voran als beim ersten Mal. Und die Differenzierung bricht auch jetzt bei der geforderten Unterscheidung zwischen Kreis und Ellipse mit dem Verhältnis der Halbachsen von 9:8 wieder zusammen. Hier angelangt zeigt der Hund wieder die bereits beschriebenen "neurotischen" Symptome. Das zweite Experiment wurde auf Anregung Gregory Batesons am Oceanic Institute in Hawaii durchgeführt. Das Experiment sollte dazu dienen, einen Vorgang, der sich im natürlichen Ablauf des Geschehens zwischen einem Delphin und einem Dresseur ereignete, unter kontrollierten Bedingungen systematisch zu erfassen. Der Vorgang spielte sich etwa folgendermaßen ab: Um den interessierten Besuchern des Institutes zu zeigen, wie Delphine dressiert werden, wurden täglich mehrmals Vorführungen veranstaltet. Es wurde dabei das folgende kurze Programm gezeigt: Ein Delphin, dem beigebracht wurde, auf das Pfeifen
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seines Dresseurs Futter, d. h. einen Fisch, zu erwarten, wurde in das Vorführungsbecken geleitet. Das Tier führte dort spielerisch einige Bewegungsabläufe vor. Wenn es vom Standpunkt des Dresseurs etwas Geeignetes zeigte, pfiff der Dresseur und gab dem Delphin, wie gewohnt, einen Fisch. Der Delphin wiederholte daraufhin die zuletzt gezeigte Verhaltenssequenz, woraufhin er von seinem Dresseur mit einem Fisch belohnt wurde. Daraufhin zeigte der Delphin wieder sein Kunststück und wurde erneut belohnt. Nachdem das Tier die vom Dresseur ausgewählte Verhaltenssequenz auf diese Weise etwa vier bis fünf mal wiederholte, wurde die Vorführung beendet und das Tier aus dem Vorführungsbecken genommen. Nach einer Pause von etwa zwei Stunden wurde die Vorführung wiederholt. Der Delphin wurde wieder in das Vorführungsbecken geleitet. Er wiederholte hier, in der Erwartung gleich mit einem Fisch belohnt zu werden, seine zwei Stunden früher immer wieder belohnte Darbietung. Da der Dresseur den Zuschauern etwas Neues zeigen wollte, blieb aber sowohl der Pfiff, als auch die erwartete Belohnung aus. Nach einigen weiteren vergeblichen Wiederholungen gab der Delphin sichtlich verärgert auf und zeigte eine neue Verhaltenssequenz, worauf der Pfiff des Dresseurs sofort ertönte und der Delphin wie gewohnt seinen Fisch erhielt. Der Delphin wiederholte daraufhin sofort das, was er gerade getan hatte und wurde daraufhin wieder mit einem Fisch belohnt. Nach insgesamt fünfmaligem Wiederholen der Darbietung wurde die Vorführung wieder beendet. Nach einer Reihe von solchen Vorführungen begriff schließlich der Delphin, was der Dresseur von ihm wollte und zeigte, ohne das zuletzt verstärkte Verhalten zunächst zu wiederholen, jedesmal sofort neue Kunststücke. Der geschilderte Vorgang wurde nun auf Anregung Gregory Batesons mit einem neuen Delphin als kontrolliertes Experiment wiederholt und genau aufgezeichnet. Wie im geschilderten natürlichen Fall wurden mehrere Lernsequenzen vorgesehen. Dazwischen lagen jeweils Ruhepausen. Das Tier sollte eine Verstärkung in jeder Sequenz nur für ein neues Muster erhalten. Das Experiment war insgesamt erfolgreich. Das Tier hatte seine Aufgabe nach 15 Lektionen gelernt und anschließend immer gleich neue Darbietungen gezeigt. In den davorliegenden Lernsequenzen wiederholte der Delphin immer wieder seine in den vorhergehenden Phasen belohnten Verhaltensweisen. Neue Verhaltenssequenzen hatten reinen Zufallscharakter. Über den Ablauf des Experimentes wird berichtet, daß der Delphin während der ganzen Zeit unruhig war, häufig die Symptome von Ärger und Frustration zeigte. Aus diesem Grunde, um die Beziehung nicht ganz zu verderben, hielt sich der Dresseur nicht ganz an die ausgemachten Regeln und gab dem Delphin immer wieder außertourlich Verstärkungen. Die entscheidende Veränderung trat dann zwischen der vierzehnten und der fünfzehnten Lernsequenz ein. Gregory Bateson berichtet: ..In der Pause zwischen dem vierzehnten und dem fünfzehnten Abschnitt schien der Delphin sehr erregt zu sein; und als er zur fünfzehnten Vorführung ins Becken kam,
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C. Theorie und Theoriekontext legte er eine hochentwickelte Vorstellung hin, zu der acht auffällige Verhaltensweisen gehörten, von denen vier neu und bei dieser Tiergattung noch nie zuvor beobachtet waren ... ll8
Die beiden geschilderten Experimente haben, so scheint es zumindest, etwas miteinander zu tun, obwohl sie ganz unterschiedliche Vorgänge beschreiben, und obwohl es einem gar nicht so leicht fällt, genau anzugeben, worin diese Gemeinsamkeit besteht. Ich werde mich nun dieser Frage zuwenden und das Gemeinsame an diesen beiden Vorgängen aufzeigen. Beim ersten Experimentalbericht hat der Hund, so würde man sagen, etwas gelernt. Er hat zunächst gelernt, die zwei Vorgänge, Zeigen des Lichtkreises und das Reichen des Futters, die zuvor ganz und gar voneinander unabhängig waren, miteinander zu verbinden. Das Zeigen des Lichkreises erhielt für ihn so eine ganz bestimmte Bedeutung. Er hat dann gelernt, daß nicht alle ähnlichen Formen die gleiche Bedeutung haben, er hat gelernt, daß er zwischen Reizen, wie Kreis und Ellipse, genau unterscheiden muß. Als er dann zwischen den gezeigten Reizen nicht mehr unterscheiden konnte, als die beiden Wahrnehmungsobjekte für ihn einfach gleich wurden, erlangten für ihn auch beide Formen die gleiche Bedeutung, nämlich die Ankündigung, daß ihm das Futter gereicht werde. Es wurde ihm aber gezeigt, daß er sich dabei im Irrtum befindet. Einmal hatte der Reiz seine von ihm gelernte Bedeutung beibehalten, es wurde ihm Futter gereicht, ein anderes Mal dagegen nicht, er bekam kein Futter. Der Hund wurde durch diese Erfahrung neurotisiert, die mühsam erlernte Unterscheidung brach zusammen. Warum eigentlich, warum brach die gelernte Reizdifferenzierung zusammen, und warum ist der Hund neurotisch geworden? Diese Frage, die Gregory Bateson\39 aufwirft, wurde wahrscheinlich deshalb nicht mit Nachdruck gestellt, weil man die Geschichte einfach plausibel findet, irgend wie verständlich, sympathisch, ja "menschlich". Gregory Batesons Antwort auf die so gestellte Frage ist, daß der Hund in der geschilderten Situation deswegen die geschilderten neurotischen Symptome zeigt, oder neurotisch wird, weil er es nicht schafft, zwischen zwei Kontexten zu unterscheiden. Diese beiden Kontexte sind der Kontext der Unterscheidung und der Kontext des Ratens. Der gesamte experimentelle Zyklus stand im Kontext der Unterscheidung. Wenn wir sagen, der Hund hätte gelernt, zwischen zwei Typen von Wahrnehmungsobjekten zu differenzieren, dann ist das zwar richtig, aber noch nicht ganz. Was der Hund eigentlich gelernt hat, ist, sich innerhalb eines ganz bestimmten Kontextes richtig zu verhalten. Einige wichtige charakteristische Merkmale der geschilderten Situation waren: Es handelte sich um eine künstliche Situation. Die Situation wurde einsei-
138 139
Bateson, S. 155 f. Vgl. ebd. S. 151.
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tig vom Experimentator beherrscht. Der Experimentator verfügte über die für den Hund wichtigen Belohnungen und Bestrafungen. Die vom Experimentator gestellten Aufgaben hatten eindeutig richtige Lösungen, und das Herausfinden der richtigen Lösungen war für den Hund objektiv möglich. Innerhalb dieser Situation lernte der Hund sich richtig zu verhalten, die an ihn gestellten Aufgaben zu lösen und damit zwischen den beiden Typen von Objekten zu differenzieren. Als für den Hund nicht mehr möglich war, Kreis und Ellipse voneinander zu unterscheiden, änderte sich die Situation grundsätzlich. Die gestellte Aufgabe hatte zwar noch immer eine eindeutig richtige Lösung, der Hund besaß aber keine Mittel, diese herauszufinden. Er hätte einfach raten müssen. Er hatte aber während des Experimentes, indem er gelernt hat, die beiden Reize zu unterscheiden, Schritt für Schritt gelernt, daß es hier nicht um Raten ging, sondern um eindeutige Unterscheidung. Er hatte gelernt, daß die an ihn gestellten Aufgaben eine richtige Lösung hatten, und daß er diese richtige Lösung zu finden in der Lage ist. Als er dazu dann offensichtlich nicht mehr in der Lage war, brach sein Schritt für Schritt mühsam aufgebautes Wissen über diesen Kontext der Unterscheidung zusammen. Mit dem Kontext verschwand dann auch das innerhalb dieses Kontextes Gelernte. Das Zusammenbrechen der Differenzierung ist damit nicht der primäre Vorgang, sondern lediglich ein recht folgerichtiger Ausdruck eines grundlegenderen tieferliegenderen Geschehens. Es sei noch angemerkt, daß Hunde mit Situationen, wo sie raten müssen, an und für sich recht gut fertig werden. Sie passen sich mit ihrem Verhalten an die relativen Häufigkeiten an, mit der einzelne Verhaltensalternativen belohnt werden. Sie zeigen in solchen Situationen keinerlei neurotischen Symptome. 140 Im zweiten Experimentalbericht wurde dagegen ein Fall dargestellt, wo ein Versuchstier den Wechsel oder Übergang zwischen zwei Kontexten geschafft hat. Wie der Bericht zeigt, hatte es auch der Delphin schwer, aus dem einmal gelernten Kontext auszubrechen und hielt relativ lange an der ursprünglichen Situationsdefinition fest, indem er die früher belohnte Verhaltensweise immer wieder vorführte und beim Ausbleiben der innerhalb dieses Kontextes mit Recht erwartete Belohnung, Zeichen von Ärger und Verwirrung zeigte. Nach einer ganzen Reihe von enttäuschenden Erfahrungen gelang es ihm jedoch, seine Erfahrungen neu zu deuten und den vom Experimentator neu definierten Kontext zu erkennen. Es sollte durch die beiden Berichte deutlich gemacht werden, daß Lernen ein Phänomen ist, wo zumindest zwei Ebenen zu berücksichtigen sind. Elemente die den Kontext beschreiben, sind Aussagen darüber, wie Verhaltensweisen oder Handlungen, die in dem Rahmen des Kontextes fallen, zu klassifizieren oder zu interpretieren sind. Sie gehören damit einem höheren logischen Typ an,
140
Vgl. Bateson. S. 152.
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C. Theorie und Theoriekontext
sie sind als eine Metaebene zu betrachten im Verhältnis zu Aussagen, die das Verhalten oder die Handlungen selbst beschreiben. Beim eigentlichen Lernvorgang selbst sind implizit beide Ebenen angesprochen, die Ebene des Kontextes und die Ebene des Verhaltens. Das Verhalten selbst wird im Sinne des Kontextes zunächst als wenig angepaßt oder wenig erfolgreich, später als erfolgreich oder angepaßt klassifiziert. Das gilt natürlich auch für das menschliche Lernen. Nach Gregory Bateson lernt der Mensch während der Sozialisation, in unterschiedlichen Kontexten seine Handlungen angemessen, richtig oder angepaßt zu organisieren. Spiel, Ritual und Wettbewerb, um nur einige Beispiele zu nennen, sind Namen von Kontexten. Genauso ist aber auch jegliches Rollenhandeln als ein Handeln innerhalb vorgegebener Kontexte zu interpretieren. Damit Handlungen richtig organisiert werden können, bedarf es deutlicher, klar erkennbarer Markierungen. Zu diesem Zweck werden die räumlichen, zeitlichen und personellen Grenzen von Kontexten durch Symbole angedeutet. Hoheitszeichen, Initiationsrituale und Uniformen sind die bekanntesten Mittel, die Grenzen eines Kontextes symbolisch zu kennzeichnen. Es ist anzunehmen, daß im geschilderten Pawlowschen Experiment die eindeutige Kennzeichnung des Kontextes durch eine Vielzahl symbolischer Markierungen, wie Art des Käfigs, weißer Kittel des Experimentators usw. den Hund hinderte, den einmal gelernten oder erkannten Kontext der eindeutigen Unterscheidung zu verlassen. Die Kehrseite dieses Zusammenhanges zwischen Kontexten und einzelnen Handlungen, wobei Kontexte Interpretationsmuster oder Klassifikationsschemen für Handlungen sind, ist, daß einzelne Handlungen, je nachdem, aus welchem Kontext heraus sie betrachtet werden, recht unterschiedlich interpretiert und bewertet werden können. Diese Problematik wird in der Soziologie u. a. unter dem Kapitel Rollenkonflikte abgehandelt. Wir haben bisher die zwei Ebenen des Lernens aus einem sehr spezifischen Blickwinkel behandelt. Es ging um die Anpassung einzelner Individuen an vorgegebene Kontexte. Lernen ist jedoch ein viel grundlegenderes Phänomen. Nach Donald Campbell 141 sind, sieht man das allgemeine und nicht das spezifische Gesicht dieser Vorgänge, alle evolutionären Prozesse als Lernen zu interpretieren. Vorgänge, die von Variation und Selektion vorangetrieben werden, sieht Donald Campbell aber nicht nur im Bereich der Biologie, sondern auch auf dem Gebiet des menschlichen Denkens, der Kultur und auch der modernen Wissenschaft. Es wird nun in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels gezeigt, daß sich mit Hilfe des referierten Konzeptes der zwei Ebenen des Lernens ein neuer Zugang zu den aktuellen Fragen der zeitgenössischen Methodologie und Soziologie gewinnen läßt.
141 Vgl. Campbell, Evolutionary Epistemology. In: Paul A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Popper. La Salle, IIIinois: Open Court 1974.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie Wissenschaftstheorie oder analytische Philosophie - wie dieses Gebiet auch häufig bezeichnet wird - umspannt, betrachtet man z. B. die beiden einschlägigen grundlegenden Bände von Wolfgang Stegmüller,I42 ein weites Feld. Eine Eingrenzung der Thematik verbunden mit einer kurzen Charakterisierung des gemeinten Wissenschafts gebietes scheint daher notwendig zu sein. Die folgende Wissenschaftstaxonomie l43 hilft, die Wissenschaftstheorie mittels gängiger Unterscheidungsmerkmale als Typus festzumachen. Die bei der Kategorisierung auftretenden Schwierigkeiten oder Unsicherheiten liegen in der Sache selbst, d. h. durch sie werden die tatsächlichen Abgrenzungsprobleme offengelegt. Die erste Unterscheidung, die wir treffen und die wohl am wenigsten strittig ist, ist die Einteilung der Wissenschaften in Objekt- und Metawissenschaften. Zu den Metawissenschaften zählen wir dabei diejenigen Disziplinen, die die Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand haben. Darunter fallen z. B. die Wissenschaftsphilosophie, die Wissenschaftsmethodologie, die Wissenschaftslogik (also die Disziplinen, die gewöhnlich auch mit Wissenschaftstheorie bezeichnet werden), aber genauso gut auch die Wissenschaftsgeschichte, die Wissenschaftssoziologie und die Wissenschaftspsychologie. Wissenschaften dagegen, die nicht die Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand haben, wie z. B. die Philosophie, die Mathematik, die Logik, die Physik, die Chemie, die Geschichte, die Soziologie und die Psychologie, sind Objektwissenschaften. Wir unterscheiden zweitens zwischen (aposteriorischen) empirischen und (apriorischen) analytischen Wissenschaften. Empirische Wissenschaften beziehen ihre Evidenzen aus der Welt der Tatsachen. Ihre Sätze gelten insoweit sie mit den Fakten übereinstimmen. Analytische Wissenschaften, wie z. B. die Logik, begründen ihre Sätze ohne sich um empirische Tatsachen zu kümmern. Wissenschafts geschichte, Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftspsychologie sind ohne Zweifel empirische Wissenschaften. Ihre Aussagen sind nur dann wahr, wenn sie mit den Fakten übereinstimmen. Der Nachweis dagegen, daß die Sätze der Wissenschaftsmethodologie nicht das tatsächliche Vorgehen der einzelnen Wissenschaften beschreiben, würde einen Wissenschaftsmethodologen wenig erschüttern. Genauso wenig wie auch der Nachweis einen Logiker wenig kümmern würde, daß viele Menschen in ihrem Denken nicht nach den Sätzen der Logik vorgehen. Er würde sagen, daß das tatsächliche Denken
142 Vgl. Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band 11: Theorie und Erfahrung. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1970. 143 Vgl. Esser/Klenovits/Zehnpjennig, Wissenschaftstheorie. I: Grundlagen und Analytische Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Teubner 1977, S. 14.
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C. Theorie und Theoriekontext
der Menschen ja gar nicht sein Geschäft sei. Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsmethodologie und Wissenschaftslogik sind keine empirischen, sondern analytische Wissenschaften. l44 Die Grenzen zwischen den oben genannten analytischen und empirischen Metawissenschaften sind jedoch recht durchlässig. So hat z. B. die Wissenschaftstheorie in letzter Zeit wichtige Impulse von der Wissenschaftsgeschichte empfangen. Häufig werden auch Fallbeispiele als Argumente in wissenschaftstheoretischen Erörterungen angeführt. Man unterscheidet drittens zwischen normativen und nicht normativen Wissenschaften. Die eindeutige Zuweisung der Wissenschaftstheorie zu einer dieser beiden Kategorien ist besonders strittig. 145 Das hängt u. a. mit der komplexen Problematik der Werturteilsfrage zusammen. Andere Autoren, wie z. B. Wilhelm Essler,146 betrachten die Wissenschaftstheorie eindeutig als eine normative Wissenschaft. Normativ in dem Sinne, daß sie sagt, wie die richtige wissenschaftliche Vorgangsweise ist. Wie man richtig definiert, eine Theorie axiomatisiert, wie man Theorien begründet, oder wie die richtige Struktur einer wissenschaftlichen Erklärung beschaffen ist. Normativ daher in dem Sinne, daß sie in diesen Fragen die wissenschaftliche Arbeit normiert. Wir haben am Ende des letzten Abschnittes mit Donald Camp bell auf die grundlegende Verwandtschaft aller Denkvorgänge hingewiesen. Danach wären das individuelle Lernen und die kollektive wissenschaftliche Erkenntnis nur zwei Formen eines allgemeinen evolutionären Lernvorganges. Ist dies richtig, dann können wir erwarten, daß das Phänomen der zwei Ebenen des Lernens, das wir bisher an Hand des individuellen Lernens expliziert haben, auch in der Wissenschaftstheorie, die ja Regeln für das kollektive evolutionäre Lernen, d. h. Wissenschaft bereitstellen will, aufzuspüren ist. Meine Darstellung beschränkt sich auf eine wissenschaftstheoretische Schule, auf die Analyse der Entwicklung im Rahmen des Kritischen Rationalismus. Auch will ich der Diskussion keine neuen Argumente hinzufügen, sondern die Sache lediglich anders als üblich darstellen. Im Abschnitt C.Il.l. will ich mich zunächst mit der ersten Version des Kritischen Rationalismus, wie sie von Karl Popper 1934 in seinem Werk "Logik der Forschung,,147 angelegt wurde, beschäftigen. In dieser Fassung wird der Umstand, daß Lernen in zwei Stufen erfolgt, noch nicht berücksichtigt. Ich nenne daher diese frühe Poppersche Methodologie eine einstufige Methodologie. Im Abschnitt C.n.2. berichte ich über die Entdeckung der Bedeutung des Kontextes für die Entwicklung der Wissenschaft und über die darauffolgende Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie. Abschnitt c.n.3. wird der Kontroverse ge144 Vgl. Essler, Wissenschaftstheorie. I: Definition und Reduktion. Freiburg und München: Karl Alber 1970, S. 14 ff. 145 Vgl. Esser/KlenovitslZehnpjennig. 146 Vgl. Essler, S. 14 f. 147 Vgl. Popper, Logik der Forschung.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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widmet, die anschließend bezüglich der Frage entbrannte, was nun eigentlich diese neuen Erkenntnisse für die Wissenschaftsmethodologie bedeuteten. 1. Karl Poppers frühe "einstufige" Methodologie Aufgabe der Wissenschaft ist nach Karl Popper die Formulierung von Sätzen und Satzsystemen und ihre Überprüfung. Sofern es sich um empirische Wissenschaften handelt, sind diese Sätze Hypothesen, die an der Erfahrung überprüft werden. Aufgabe des Wissenschaftstheoretikers (Forschungslogikers) ist es dagegen, diese empirisch-wissenschaftliche Forschungsmethode einer logischen Analyse zu unterziehen. Nach diesen Feststellungen fragt Karl Popper nach den allgemeinen Charakteristika bzw. Kennzeichen dieser empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmethode. Diskutiert wird die Ansicht, die empirischen Wissenschaften seien durch die induktive Methode charakterisiert. Man schließt bei dieser Methode von besonderen Sätzen, die einzelne Beobachtungen beschreiben. auf allgemeine Sätze. auf Hypothesen oder Theorien. Forschungslogik müßte danach Induktionslogik sein. Induktive Schlüsse sind aber logisch nicht begründbar. Es reichen auch noch so viele einzelne Beobachtungen nicht aus, um daraus allgemeine Sätze oder Hypothesen logisch ableiten zu können. Vorschläge, das Induktionsproblem zu lösen. oder eine mit Wahrscheinlichkeitsaussagen arbeitende Induktionslogik zu begründen 148 werden von Karl Popper insgesamt als gescheitert angesehen. Die Vorstellung von der induktiven Vorgangsweise der empirischen Wissenschaften beruht nach Karl Popper auf der Vermengung forschungspsychologischer und forschungslogischer Fragestellungen. Die eine Seite der wissenschaftlichen Tätigkeit. das Aufstellen von Sätzen und Satzsystemen über die Realität. ist nicht Gegenstand der Wissenschaftstheorie. Warum einem bestimmten Forscher in einer bestimmten Zeit an einem besonderen Ort gerade diese oder jene Theorie eingefallen ist. ist eine empirisch-metatheoretische Fragestellung. Die Frage fällt in den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaftspsychologie. Wissenschaftssoziologie oder Wissenschaftsgeschichte. je nachdem, weIcher Aspekt der Frage eigentlich im Vordergrund steht. Die andere Seite der wissenschaftlichen Tätigkeit. die Überprüfung vorgeschlagener Satzsysteme ist dagegen Gegenstand wissenschaftslogischer (wissenschaftstheoretischer) Untersuchungen. Beim ersten Aspekt geht es um Tatsachenfragen. wofür die empirischen Metawissenschaften (Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftspsychologie) zuständig sind. beim zweiten Aspekt um 148 Vgl. Carnap. Statistische und induktive Wahrscheinlichkeit. In: L. Krüger (Hg.). Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch. 1970 und Carnap. Induktive Logik und Wissenschaft. In: L. Krüger (Hg.). Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch. 1970. 6 Meleghy
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C. Theorie und Theoriekontext
Geltungsfragen, für die die Wissenschaftslogik zuständig ist. Beim ersten Aspekt spielt nach Karl Popper die Induktion möglicherweise eine Rolle, beim zweiten Aspekt, bei der Überprüfung eines vorgeschlagenen Satzsystems sicherlich nicht. Die Vorgangsweise ist hier logisch deduktiv. Karl Popper unterscheidet vier unterschiedliche Arten (Richtungen) dieser logisch deduktiven Überprüfung: 1. Überprüfung des vorgeschlagenen Satzsystems bzw. der aus dem Satzsystem ableitbaren Folgerungen auf logische Verträglichkeit, um die logische Konsistenz des Systems zu testen. 2. Überprüfung des empirisch-wissenschaftlichen Charakters des Satzsystems, um sicherzustellen, daß es sich nicht um ein System logisch wahrer Aussagen (Tautologien) oder um ein System metaphysischer (nicht-empirischer) Sätze handelt. 3. Überprüfung des Satzsystems durch den Vergleich mit früher vorgeschlagenen Aussagensystemen um sicherzustellen, daß die neu vorgeschlagene Theorie (soweit sie sich auch empirisch bewährt) einen wissenschaftlichen Fortschritt darstellt. 4. Überprüfung des Satzsystems durch die empirische Anwendung logisch ableitbarer Implikationen, um festzustellen, ob das System sich auch empirisch bewährt. Diese vier Überprüfungsarten sollen nun der Reihe nach erörtert werden. Die erste Überprüfungsart, die Prüfung der logischen Konsistenz des Satzsystems, bedarf keiner weiteren Erläuterungen. Widerspruchslos müssen alle theoretischen Systeme sein, seien sie nun empirischer oder nicht-empirischer Art. Hierbei handelt es sich nach Karl Popper um eine Grundvoraussetzung der Wissenschaftlichkeit überhaupt. Durch die zweite Überprüfungsart, Feststellung des empirisch-wissenschaftlichen Charakters des Satzsystems, ist der Angelpunkt der Poppersehen Methodologie, das sogenannte ,,Abgrenzungskriterium" angesprochen. Abgegrenzt werden sollen durch dieses Kriterium Sätze und Satzsysteme, die von Karl Popper als empirisch-wissenschaftlich bezeichnet werden, von logisch wahren (tautologischen) und von metaphysischen (nicht-empirischen) Sätzen. Karl Popper lehnt, wie wir gesehen haben, für die Kennzeichnung empirisch-wissenschaftlicher Theorien sowohl die induktive Methode als auch die Nachweisbarkeit der Richtigkeit der Aussagen - im Sinne einer endgültigen Verifikation - ab. Die erste Alternative, die induktive Methode, wird von Karl Popper abgelehnt, weil sie seiner Meinung nach faktisch falsch ist, die zweite Alternative, die Nachweisbarkeit der Richtigkeit der Aussagen, weil sie logisch unmöglich ist. Karl Popper schlägt als Abgrenzungskriterium die Falsifizierbarkeit der Aussagen vor: Es sollen nur solche Sätze als empirisch-wissenschaftlich ausgezeichnet werden, die wir durch die Nachprüfung an der Erfahrung erschüttern können. Neben singulären Sätzen, die einma-
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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Jige, ort-zeitlich genau umrissene Vorgänge beschreiben, können nach diesem Kriterium hypothetische Sätze als empirisch-wissenschaftlich qualifiziert werden. Alle sogenannten ,,Naturgesetze" sind nach Karl Popper hypothetische Sätze. Sie lassen sich als universelle (d. h. ohne raum-zeitliche Begrenzung) All-Sätze, wie z. B. "alle Raben sind schwarz", formulieren. Solche All-Sätze sind nach Karl Popper, da sie dem Kriterium der Falsifizierbarkeit genügen, empirisch wissenschaftlich. Sie sind durch empirische Nachprüfung widerlegbar. Wird eindeutig festgestellt, daß es einen nichtschwarzen Raben gibt, ist der Satz falsifiziert. Wichtig ist die Unterscheidung dieser universellen All-Sätze von universellen Existenzbehauptungen oder universellen Es-gibt-Sätzen. Karl Popper schreibt in diesem Zusammenhang: "Universelle Es-gibt-Sätze hingegen sind nicht falsifizierbar. Kein besonderer Satz (... ) kann mit dem universellen Satz: ,Es gibt weiße Raben' in logischem Widerspruch stehen (... ). Wir werden deshalb auf Grund unseres Abgrenzungskriteriums die universellen Es-gibt-Sätze als nicht empirisch (,metaphysisch') bezeichnen müssen."149 Warum diese Sätze nicht falsifiziert werden können, wird dann so begründet: "Die universellen Sätze sind raum-zeitlich nicht beschränkt, auf kein durch Individualien ausgezeichnetes Koordinatensystem bezogen. Damit hängt die Nichtfalsifizierbarkeit der universellen Es-gibt-Sätze zusammen - wir können nicht die ganze Welt absuchen, um zu beweisen, daß es etwas nicht gibt."lso Andererseits sind diese Sätze eindeutig verifizierbar. Der Satz: ,,Es gibt einen weißen Raben" wird verifiziert, wenn wir einen weißen Raben finden. Wendet man die obigen Überlegungen auf die All-Sätze (die ja auch universelle Sätze sind) an, folgt daraus, daß All-Sätze eindeutig falsifizierbar, aber nicht verifizierbar sind. Um den Satz ,,Alle Raben sind schwarz" verifizieren zu können, müßten wir alle Raben, die jemals gelebt haben und jemals leben werden, daraufhin untersuchen, ob es unter ihnen nicht doch einen nichtschwarzen gibt. Wir können also festhalten: Empirische Gesetzesaussagen haben die logische Form von All-Sätzen (oder sie können zu solchen Sätzen umgeformt werden). Sie sind falsifizierbar, aber nicht verifizierbar. Universelle Es-gibt-Sätze oder Existenzbehauptungen sind dagegen verifizierbar, aber nicht falsifizierbar, daher nicht-empirisch, somit metaphysisch. Eine Kombination der beiden Satzarten, ein kombinierter All- und Existenzsatz, kann nun weder falsifiziert noch verifiziert werden. Damit ist so ein Satz ebenfalls als nicht-empirisch oder als metaphysisch zu bezeichnen.
149 150
Popper. Logik der Forschung. S. 40. Ebd. S 40.
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Durch das Kriterium der Falsifizierbarkeit werden schließlich auch tautologische (logisch wahre) Satzsysteme als nicht-empirisch qualifiziert. "Eine Theorie heißt ,empirisch' bzw. ,falsifizierbar', wenn sie die Klasse aller überhaupt möglichen Basissätze eindeutig in zwei nichtleere Teilklassen zerlegt: in die Klasse jener, mit denen sie in Widerspruch steht, die sie, verbietet' - wir nennen sie die Klasse der Falsifikationsmöglichkeiten der Theorie -, und die Klasse jener, mit denen sie nicht in Widerspruch steht, die sie ,erlaubt'. Oder kürzer: Eine Theorie ist falsifizierbar, wenn die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten nicht leer iSt."151 Tautologische Systeme sind aber gerade dadurch charakterisierbar, daß sie kein Ereignis verbieten, daß sie mit allen möglichen Basissätzen vereinbar sind, oder daß die Klasse ihrer Falsifikationsmöglichkeiten leer ist. Obwohl wir widersprüchliche (kontradiktorische) Sätze bereits bei der ersten Überprüfungsart ausgeschlossen haben, d. h. sie als nicht empirisch-wissenschaftlich qualifiziert haben, soll doch im Zusammenhang mit dem Kriterium der Falsifizierbarkeit folgendes angemerkt werden. Widersprüchliche Aussagen können durch keine besonderen Basissätze eine Bestätigung erfahren. Sie verbieten genau genommen alle möglichen Ereignisse. Sie sind daher falsifizierbar. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Falsifizierbarkeit tautologischer Aussagen wurde gefordert, daß die möglichen Basissätze in zwei nichtleere Teilklassen zerlegbar sein sollen, wobei zur ersten Teilklasse diejenigen Basissätze zählen sollen, die von der Theorie erlaubt, zu der zweiten Teilklasse diejenigen Basissätze, die von der Theorie verboten sind. Für ein kontradiktorisches Satzsystem gibt es diese beiden nichtIeeren Teilklassen nicht. Die Teilklasse der Basissätze, die das Satzsystem erlaubt, ist leer. IS2 Die theoretischen Satzsysteme der empirischen Wissenschaften, wie Physik, Chemie, Psychologie oder Soziologie dürfen also weder reine tautologische Systeme sein, noch Existenzbehauptungen (universelle Es-gibt-Sätze) oder kombinierte AII- und Existenzsätze enthalten. Die wichtigsten Bausteine empirisch-wissenschaftlicher Theorien sind falsifizierbare universelle All-Sätze (wenn auch häufig anders formuliert, so doch in solche logisch überführbar) oder, was nur ein anderer Ausdruck ist, empirisch-wissenschaftliche Hypothesen. Durch die dritte Überprüfungsart, Vergleich eines neu vorgeschlagenen Satzsystems mit früheren oder alternativen Satzsystemen, sollte festgestellt werden, ob ein neu vorgelegter Entwurf einen wissenschaftlichen Fortschritt bedeuten könnte. Das Kriterium, das von Karl Popper für einen Vergleich unterschiedlicher Satzsysteme vorgeschlagen wurde, hängt eng mit der Eigenschaft der Falsifizierbarkeit empirisch-wissenschaftlicher Aussagen zusammen.
Logik der Forschung. S. 59. Vgl. ebd. S. 58.
151 Popper, 152
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Denkt man sich alle möglichen Basissätze, die ein Satzsystem verbietet oder erlaubt, an der Linie eines Kreises angeordnet, so ist, soweit es sich um ein tautologisches System handelt, der gesamte Verlauf der Kreislinie nur VOn erlaubten Sätzen ausgefüllt. Man findet an der Kreislinie keinen noch so winzigen Bereich oder Sektor, der von verbotenen Sätzen bevölkert wäre. Wir können solchen Satzsystemen einen Falsifizierbarkeitsgrad von 0 zuordnen. Handelt es sich dagegen um ein kontradiktorisches Satzsystem, so ist die gesamte Kreislinie von Sätzen besetzt, die VOn dem Satzsystem verboten sind. Wir finden hier keinen noch so schmalen Bereich, wo wir erlaubte Sätze vorfinden würden. Kontradiktorischen Satzsystemen wird daher ein Falsifizierbarkeitsgrad von 1 zugeordnet. Empirisch-wissenschaftliche Satzsysteme besitzen einen Falsifizierbarkeitsgrad, der zwischen diesen bei den Extremen von 0 und 1 liegt. Der Falsifizierbarkeitsgrad muß größer als 0 sein, denn sonst handelt es sich um eine Tautologie, und kleiner als 1 sein, denn sonst haben wir es mit einer kontradiktorischen Aussage zu tun. Je kleiner der Ausschnitt auf der Kreisebene ist, der mit vom Satzsystem erlaubten Basissätzen besetzt ist, desto leichter läßt sich das System auch überprüfen. Mit steigendem Falsifizierbarkeitsgrad steigt die Überprüfbarkeit des Systems. Hoher Falsifizierbarkeitsgrad bedeutet auch, daß die Behauptungen des Aussagensystems verglichen mit allen logisch möglichen Ereignissen eher unwahrscheinlich sind; desto informativer ist aber gleichzeitig die Aussage, da von dem gesamten Bereich des logisch Möglichen nur noch ein kleiner Teil als erlaubt bestimmt wird. Der Falsifizierbarkeitsgrad eines Satzsystems wird VOn Karl Popper daher auch als empirischer Gehalt und als Informationsgehalt bezeichnet. Durch die dritte Überprüfungsart werden Satzsysteme hinsichtlich ihres Falsifizierbarkeitsgrades bzw. ihres empirischen Gehaltes verglichen. Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutet (genauer: setzt voraus), daß neue, informationshaItigere Hypothesen, die UnS über unsere Welt genauer informieren, vorgeschlagen werden. 153 So einleuchtend der Vorschlag ist, Hypothesen durch den Vergleich der Klassen ihrer potentiellen Falsifikatoren zu beurteilen, so schwierig bzw. unmöglich erweist sich häufig die tatsächliche Durchführung des Vorschlages. Das Bild, das vorhin für die Verdeutlichung eines kleineren oder größeren Falsifizierbarkeitsgrades verwendet wurde, die Klassen der erlaubten und verbotenen Basissätze, dargestellt als durch zwei Radien getrennte Sektoren einer Kreisfläche, täuscht; es handelt sich nicht um endliche Klassen mit abzähl baren Elementen, sondern um unendliche Klassen, die nur begrenzt vergleichbar sind. Ein echter Vergleich der Klassen der Falsifikationsmöglichkeiten zweier Hypothesen ist nur dann möglich, wenn beide Klassen umfangsgleich sind, bzw. die eine Klasse die andere als Teilklasse enthält. Handelt es sich um Klassen, die weder umfangsgleich noch in einem Teilklassenverhältnis zueinander stehen,
153
Vgl. Popper, Logik der Forschung. S. 77 ff.
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C. Theorie und Theoriekontext
also um sich überlappende oder um Klassen, die sich nicht berühren, so sind die heiden Klassen inkommensurabel. 154 Bei der 4. Überprüfungsart geht es um die Frage, ob sich das vorgeschlagene Satzsystem auch empirisch bewährt. Der Forscher soll nun die Theorie strengen empirischen Tests unterziehen. Er soll sich fragen: Welche beobachtbaren Ereignisse impliziert die Theorie? Welche Implikationen in welchen Bereichen unter welchen Randbedingungen wurden noch nicht getestet? Er soll diese Tests durchführen und seine Beobachtungen festhalten. Die Theorie wird nun mit diesen Beobachtungssätzen oder Basissätzen konfrontiert. Es ist wichtig, zwischen Beobachtungen und Beobachtungssätzen zu unterscheiden, da die Falsifikation ein logischer Vorgang ist, in dem Sätze mit Sätzen konfrontiert werden und keineswegs Sätze mit der Realität. Auch die sogenannten Basissätze oder Beobachtungssätze sind hypothetisch und können jederzeit problematisiert werden. Wissenschaftliche Beobachtungen, die über die Falschheit einer Theorie entscheiden sollen, werden mit Hilfe verschiedener Instrumente gemacht. Es werden in der Physik und Astronomie optische Instrumente wie Teleskope usw. verwendet, in den Sozialwissenschaften Skalen und Testinstrumente. Diese Instrumente werden auf Grundlage verschiedener Theorien konstruiert, die viel komplexer sein können als die Theorien, die mit Hilfe dieser Instrumente getestet werden. In unseren Beobachtungen fließen diese Beobachtungstheorien ein. Wenn wir jetzt mit Hilfe dieser Instrumente einen verbotenen Vorgang beobachten - verboten durch die zu testende Theorie -, dann können wir nicht mit Sicherheit sagen, daß gerade die Theorie, die wir testen wollten, falsch ist, da alle Theorien, auch die Beobachtungstheorien, hypothetischen Charakter haben. Es gibt daher keine harten Tatsachen, mit denen die Hypothesen konfrontiert und eindeutig falsifiziert werden könnten. Diese Feststellung gilt auch für die sogenannten unmittelbaren Beobachtungen. ,,Es gibt keine reinen Beobachtungen: Sie sind von Theorien durchsetzt und werden von Problemen und von Theorien geleitet. ..155 Für Karl Popper gibt es daher keine sichere empirische Basis. "So ist die empirische Basis der objektiven Wissenschaft nichts ,Absolutes'; die Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund. Es ist eher ein Sumpfland, über dem sich die kühne Konstruktion ihrer Theorien erhebt. ..156 Die Antwort auf die Frage, wie die Falsifikation einer Hypothese möglich ist, wenn auch die Basissätze hypothetisch sind, ist eine konventionalistische. ,,Die Basissätze werden durch Beschluß, durch Konvention arrerkannt, sie sind Festsetzungen ...157 Die Entscheidung trifft die wissenschaftliche Gemeinschaft.
154
Popper, Logik der Forschung. S. 20.
Ebd. S. 76. Ebd. S. 75 f. 157 Ebd. S. 71.
155
156
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Analog zum Gerichtsverfahren wird hier der "Wahrspruch der Geschworenen,,158 von der wissenschaftlichen Jury gefällt. Da nach dieser Methodologie der Urteilsspruch über die Falsifikation ein weitreichender Vorgang ist und immer ein Risiko darstellt, reicht nach Karl Popper die Anerkennung eines von der Theorie verbotenen Basissatzes für die Falsifikation noch nicht aus: "Wir nennen eine Theorie nur dann falsifiziert, wenn wir Basissätze anerkannt haben, die ihr widersprechen. Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend, denn nicht reproduzierbare Einzelereignisse sind, wie wir schon mehrfach erwähnt haben, für die Wissenschaft bedeutungslos; widersprechen also der Theorie nur einzelne Basissätze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert betrachten. Das tun wir vielmehr erst dann, wenn ein die Theorie widerlegender Effekt aufgefunden wird; anders ausgedrückt: wenn eine (diesen Effekt beschreibende) empirische Hypothese von niedriger Allgemeinheitsstufe, die der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich bewährt. Eine solche Hypothese nennen wir falsifizierende Hypothese."1S9 Karl Popper erkannte aber, daß sich die Falsifikation eines Satzsystems durch die Anwendung bestimmter Strategien immer umgehen läßt. Vier solche Strategien werden von ihm genannt: "Einführung von Ad-hoc-Hypothesen; Abänderung der sogenannten, Zuordnungsdefinitionen' (bzw. der expliziten Definition - ... ); Vorbehalte gegen die Verläßlichkeit des Experimentators, dessen bedrohliche Beobachtungen man aus der Wissenschaft ausschaltet, indem man sie als nicht gesichert, als unwissenschaftlich, nicht objektiv, erlogen oder dgl., erklärt ( ... ), und schließlich Vorbehalte gegen den Scharfsinn des Theoretikers (... )."160 Sollten empirische Tests ihre kritische Funktion nicht einbüßen, müßte die Anwendung solcher Strategien durch geeignete methodologische Regeln eingeschränkt werden. Als Beispiel für die erste Strategie - Rettungsversuch durch die Einführung einer geeigneten Ad-hoc-Hypothese - soll hier eine Geschichte von earl Hempel dienen: "Gemäß einer anfänglich sehr nützlichen Theorie, die im frühen 18. Jahrhundert entwickelt wurde, verflüchtigt sich bei der Verbrennung eines Metalls eine Substanz, die man ,Phlogiston' nannte. Diese Auffassung wurde dann aber auf Grund der experimentellen Arbeiten von Lavoisier aufgegeben, der zeigte, daß das Endprodukt des Verbrennungsprozesses ein größeres Gewicht besitzt als das ursprüngliche Metall. Aber einige hartnäckige Anhänger der Phlogiston-Theorie versuchten, ihre Auffassung mit Lavoisiers Befunden in Einklang zu bringen, indem sie die Ad-hoc-
158 Popper, Logik der Forschung. S. 74. 159 Ebd. S. 54. 160 Ebd. S. 49.
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C. Theorie und Theoriekontext Hypothese vorschlugen, Phlogiston habe ein negatives Gewicht, so daß sein Entweichen das Gewicht des Rückstandes vergrößert. ,,\6\
Karl Popper schlägt als wirksamen Riegel gegen diese Strategie vor, daß die Einführung einer neuen Hilfshypothese nur dann zulässig sein soll, wenn dadurch der Falsifizierbarkeitsgrad der Theorie insgesamt vergrößert wird, wenn diese Manipulation also als wissenschaftlicher Fortschritt interpretiert werden kann. Die Einführung einer neuen Hilfshypothese bedeutet also, daß das System als eine Neukonstruktion betrachtet wird und auch dementsprechend überprüft wird. Die zweite Strategie liegt dann vor, wenn man die Theorie mit den ihr widersprechenden Untersuchungsergebnissen in Übereinstimmung bringt, indem eine oder mehrere Begriffe der Theorie uminterpretiert werden. Wenn die Uminterpretation nur erfolgt, damit die Theorie gegenüber ihr widersprechenden Untersuchungsergebnissen immuniziert wird, und keine zusätzlichen Testimplikationen liefert, ist diese Vorgangsweise genauso ad-hoc zu werten, wie die Immunisierung durch die Einführung von Ad-hoc-Hypothesen. Auch hier schlägt Karl Popper vor, daß nach erfolgter Manipulation das Satzsystem als eine Neukonstruktion gewertet werden soll und auch entsprechend überprüft wird. Gegen die dritte Strategie, wenn Vorbehalte gegenüber dem Experimentator angemeldet werden, schlägt Karl Popper die intersubjektive Überprüfung der Fakten, wenn notwendig die Durchführung von Entscheidungsexperimenten, durch die wissenschaftliche Jury vor. Argumente im Sinne der vierten Strategie, Hinweise auf zukünftig zu erwartende theoretische Fortschritte, sollen nach Popper keine Berücksichtigung finden. 162 Die Berücksichtigung dieser Regeln ermöglicht der wissenschaftlichen Jury nach Karl Popper nun eine eindeutige Falsifikation und verhindert damit, daß die Zurückweisung der Theorie trotz eines empirischen Versagens durch die angeführten str~tegischen Wendungen unnötig lange hinausgezögert oder gar verhindert wird. Soweit eine kurze Skizze der ursprünglichen Fassung der Popperschen methodologischen Regeln zur Rechtfertigung oder Begründung vorgeschlagener Satzsysteme.
161 162
Hempel, S. 46. Vgl. Popper, Logik der Forschung. S. 51 f.
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2. Die Entdeckung des Kontextes durch die Wissenschaftstheorie Die Hinweise, die zur Entdeckung des Kontextes durch die Wissenschaftstheorie führten, kamen nicht aus der Wissenschaftslogik oder Wissenschaftsmethodologie selbst, sondern von der Wissenschaftsgeschichte. Eine besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang erlangte die bekannte Arbeit von Thomas Kuhn "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen",163 in der er den Prozeß des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes auf eine unübliche neue Art deutete: Das Bild, das durch Lehrbücher und Geschichtsbücher von diesem Prozeß vermittelt wird, ist nach Thomas Kuhn grundlegend falsch. Die Entwicklung der Wissenschaften verläuft nach ihm nicht kontinuierlich, Rätsel um Rätsel lösend, wobei das Bild immer vollständiger wird, und die jeweils neuen Erkenntnisse sich mehr oder weniger nahtlos in das bereits vorhandene Bild einfügen, sondern in diskontinuierlichen Phasen, die durch tiefe Brüche getrennt sind. Die Entwicklung verläuft ihm zu folge nach einer langen "vorwissenschaftlichen" Periode, während der die philosophische Spekulation die vorherrschende Methode ist und während der sich charakteristischerweise mehrere konkurrierende Schulen gegenseitig bekämpfen, diskontinuierlich, indem Phasen der normalen problemlösenden wissenschaftlichen Arbeit und Phasen von tiefgreifenden revolutionären Umwälzungen sich ablösen. Ich werde zunächst diesen Prozeß etwas genauer darstellen und darin den Stellenwert des Kontextes aufzeigen. Anschließend werde ich beschreiben, auf welche Weise diese neuen Erkenntnisse in der Methodologie von Irnre Lakatos berücksichtigt wurden. Die Methodologie der Forschungsprogramme von Imre Lakatos läßt sich als die Antwort des kritischen Rationalismus auf die Kuhnsche Herausforderung interpretieren. Thomas Kuhn unterscheidet zunächst zwei unterschiedliche Stufen der wissenschaftlichen Entwicklung. Die erste Phase oder Frühphase einer Wissenschaft wird von ihm dadurch gekennzeichnet, daß hier mehrere wissenschaftliche Schulen miteinander wetteifern. Diese Schulen sind Glaubensgemeinschaften. Was ihre Mitglieder zusammenhält sind gemeinsame Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt bzw. der für sie relevanten Gegenstandsbereiche, Überzeugungen darüber, wie die grundlegenden Prozesse beschaffen und welche die geeigneten methodischen Zugänge zu ihrer Erforschung sind. Diese Überzeugungen sind willkürlich und metaphysisch. Das soll aber nicht heißen, daß in dieser Phase keine ernst zu nehmende empirisch-wissenschaftliche Arbeit geleistet werden würde. Es werden im Rahmen der einzelnen Schulen Theorien entwickelt, getestet, bestätigt oder verworfen. Was jedoch typisch für dieses Stadium ist, ist, daß die positiven Erfolge eher spärlich anfallen. Keine der konkurrierenden Schulen kann auf wirklich überzeugende Erfolge hinweisen. Das Ausbleiben von Erfolg motiviert die Mitglieder der einzelnen Schulen 163 Vgl. Kuhn, Die Struktur.
90
C. Theorie und Theoriekontext
aber keineswegs zur Aufgabe ihrer grundlegenden Überzeugungen. Warum sollten sie ihre Überzeugungen auch abschwören? Ihre Erfahrung zeigt ja, daß auch ihre Kollegen mit anderen Weltsichten nichts wirklich Bedeutendes erreichen. Bezüglich der empirischen Fehlschläge meint Thomas Kuhn, daß selbst noch so deutliche, hartnäckige Tatsachen die Anhänger einer Schule höchstens zu der Modifikation ihrer Theorien herausfordern könnten. Die Aufgabe einer letztlich willkürlichen metaphysischen Weltanschauung könnten sie aber keineswegs erzwingen. Zu dem Verhältnis von WeItsicht, die die Mitglieder einer wissenschaftlichen Schule zusammenhält, und wissenschaftlichen Beobachtungen meint Thomas Kuhn, daß Beobachtungen zwar eine einschränkende Wirkung auf die Annahmen oder Theorien von Wissenschaftlern ausübten, aber daß Beobachtungen dem Wissenschaftler nicht sagen könnten, wie sie die Welt sehen sollten. Thomas Kuhn schreibt an einer Stelle, die ich hier als Beleg anführen möchte, "daß die frühen Entwicklungsstadien der meisten Wissenschaften durch einen dauernden Wettstreit zwischen einer Anzahl von deutlich unterschiedenen Ansichten über die Natur charakterisiert sind, von denen jede teilweise von den Forderungen wissenschaftlicher Beobachtungen und Methode abgeleitet ist und alle in etwa mit ihnen vereinbar sind. Was diese einzelnen Schulen unterschied, war nicht diese oder jene Schwäche der Methode - sie waren alle , wissenschaftlich' -, sondern das, das wir später ihre nicht vergleichbare Art und Weise, die Welt zu sehen und die Wissenschaft in ihr auszuüben, nennen werden. Beobachtung und Erfahrung können und müssen den Bereich der zulässigen wissenschaftlichen Überzeugungen drastisch einschränken, andernfalls gäbe es keine Wissenschaft. Sie allein können jedoch nicht einen bestimmten Grundstock solcher Überzeugungen festlegen. Ein offenbar willkürliches Element, das sich aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen zusammensetzt, ist immer ein formgebender Bestandteil der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit angenommen werden. ,,164 Nach Thomas Kuhn sind einzelne analytische Disziplinen und auch die Naturwissenschaften schon längst aus dieser Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung hinausgewachsen, ganz im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften, die vielleicht mit Ausnahme von der Ökonomie, sich immer noch auf dieser Stufe befinden. 165 Wie bzw. wann wird diese erste Phase überwunden? Nach Thomas Kuhn in der Regel dann, wenn sich innerhalb einer der traditionellen Schulen oder innerhalb einer neu entstandenen "Glaubensgemeinschaft" erste ernst zu neh-
164 165
Kuhn, Die Struktur. S. 21. Vgl. ebd. S. 215.
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mende Erfolge einstellen. Erfolg bedeutet hier eine wirklich bedeutende Entdeckung, wobei eine wirkliche Entdeckung immer etwas Revolutionäres an sich hat und von den Zeitgenossen ein Umdenken erfordert. Erfolg wirkt nach Thomas Kuhn beispielgebend und anziehend. Um solche Entdeckungen bilden sich Paradigmen, worunter Thomas Kuhn die Entdeckung selbst, das bei der Entdeckung verwendete experimentell-technische Instrumentarium, sowie bestimmte Regeln und Standards der Wissenschaftlichkeit oder des wissenschaftlichen Arbeitens versteht. Die Entstehung eines Musterbeispiels oder Paradigmas bedeutet nicht, daß alle Probleme gelöst wären - ganz im Gegenteil - wie Thomas Kuhn an Hand zahlreicher Beispiele zeigt, werfen neue Paradigmen gewöhnlich mehr offene Fragen auf, als daß sie vorhandene Probleme lösen würden. Die anziehende Wirkung eines Paradigmas beruht gerade darauf, daß es viele ungelöste Probleme gibt, die auf eine Lösung harren, die aber auf Grund des vorhandenen Musterbeispiels nun als lösbar erscheinen. Trotz aller Anziehungskraft setzt sich ein Paradigma gewöhnlich nur langsam durch. Die meisten Vertreter alternativer Schulen sterben eher allmählich aus, als daß sie sich überzeugen oder bekehren lassen würden. Das erste vorparadigmatische Stadium einer Wissenschaft ist abgeschlossen, wenn sich das Paradigma durchgesetzt hat, wenn die meisten Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft das Musterbeispiel, die experimentell technischen Verfahren sowie die damit verbundenen wissenschaftlichen Standards als gegeben akzeptiert haben. Sie haben damit gleichzeitig auch eine spezifische Art und Weise, die Welt zu sehen, akzeptiert. Nach Thomas Kuhn beginnt die normale wissenschaftliche Arbeit dann, wenn die wesentlichen philosophischen Fragen als gelöst betrachtet werden: "Eine wirksame Forschungsarbeit beginnt selten, bevor eine wissenschaftliche Gemeinschaft überzeugt ist, auf Fragen wie die folgenden. gesicherte Antworten zu haben: Welches sind die fundamentalen Entitäten, aus denen sich das Universum zusammensetzt? Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein? Welche Frage können rechtens über solche Entitäten gestellt werden?"l66 Die Einigung über diese Fragen kann jedoch erst dann erzielt werden, wenn ein Paradigma sich durchgesetzt hat. Es ist also nicht so, daß man zunächst diese grundlegenden metaphysisch-philosophischen Fragen in Angriff nimmt, darüber eine Einigung erzielt, daraufhin aus diesen Annahmen entsprechende Prinzipien der Wissenschaftlichkeit sowie Möglichkeiten des empirisch-technischen Zuganges ableitet, um so schließlich an die Früchte der Wissenschaft, an die empirisch-wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten heranzukommen. Diese Schrittfolge ist vielleicht charakteristisch für die individuelle Vorgangsweise, vielleicht auch für die Vorgangsweise für Wissenschaften, die während des vor-
166
Kuhn, Die Struktur. S. 21 f.
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paradigmatischen Stadiums eine Schule konstituieren, aber nicht für den Übergang von der vorparadigmatischen zur paradigmatischen Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung. Hier setzt sich eine spezifische WeItsicht erst dann durch, wenn sie bereits Früchte trägt. Mit der Anerkennung des Erfolges werden dann auch die dahintersteckenden Annahmen, die damit verbundenen Standards und auch das verwendete empirisch technische Instrumentarium akzeptiert. Aber auch so gewendet ist der Vorgang nicht ganz treffend dargestellt, denn wie Thomas Kuhn es ja zeigt, kann eine neue Entdeckung als solche nur dann erkannt werden, wenn das dahinterstehende Deutungsmuster bereits akzeptiert wurde. Erkennt man also die neue Entdeckung an, dann hat man bereits das dahinterstehende Weltbild, das technische Instrumentarium und auch die spezifische Regeln der Wissenschaftlichkeit akzeptiert. Es handelt sich hier nach Thomas Kuhn um einen spezifischen Vorgang, der sich noch am ehesten mit einem aus der Wahrnehmungspsychologie bekannten Gestaltsprung vergleichbar ist. Mit dem Siegeszug eines Paradigmas ist das vorparadigmatische Stadium nun überwunden. Mit dem Erwerb des Paradigmas beginnt für die betreffende Fachwissenschaft eine neue reifere Entwicklungsphase: ,,Die Erwerbung eines Paradigmas und der damit möglichen esoterischen Art der Forschung ist ein Zeichen der Reife in der Entwicklung jedes besonderen wissenschaftlichen Fachgebietes. ,,167 Dieser neue Entwicklungsabschnitt beginnt mit einer sogenannten "normalwissenschaftlichen" Phase. Kennzeichen dieser normalwissenschaftlichen Phase ist eben der Besitz eines Paradigmas. Während dieser Phase meint die wissenschaftliche Gemeinschaft, auf alle erwähnten grundlegenden philosophischen Fragen eine Antwort gefunden zu haben. Sie verfügt über ein Programm, über Theorien mit einer Anzahl von allgemein bekannten und anerkannten Anwendungen und über eine Reihe von anerkannten Techniken und Verfahren. Diese Elemente sind fest in die Ausbildungsgänge für den wissenschaftlichen Nachwuchs integriert. In den gebräuchlichen Lehrbüchern werden diese verschiedenen Komponenten zu einem kaum entwirrbaren Konglomerat verknüpft. 168 Durch die Aneignung des Stoffes lernt der Student, die Welt auf eine ganz bestimmte Weise zu sehen: Er weiß, wie die Welt beschaffen ist, er weiß, was sinnvolle wissenschaftliche Fragen sind, er weiß, was wissenschaftliche Leistungen sind und er weiß auch, was anerkannte wissenschaftliche Methoden und Verfahren sind. Das Wissen, das er auf diese Weise erlangt, ist jedoch, und das ist wichtig, nicht abgeschlossen oder vollständig, sondern offen in vielen Richtungen. Kern dieses Wissens sind die erfolgreichen Beispiele, denen zumindest prinzipiell unendlich viele neue Anwendungen hinzugefügt werden können. 169
Kuhn, Die Struktur. S. 21. Vgl. ebd. S. 147. 169 V gl. ebd. S. 28 f.
167
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Wie bereits angedeutet, besteht ein Paradigma aus beispielhaften wissenschaftlichen Leistungen, aus technischen Verfahrensweisen sowie aus bestimmten Regeln. Alle diese drei Elemente ruhen wiederum auf einem weltanschaulich-willkürlichen Hintergrund. Das ist der am weitesten gespannte Vorstellungsinhalt von Paradigma, die bei Thomas Kuhn zu finden ist. Häufig bezeichnet er auch die beispielhaften Leistungen selbst für sich genommen als Paradigmen. Für unseren Argumentationszusammenhang sind diese Mehrdeutigkeiten der Kuhnschen Darstellung jedoch ohne Belang. Von allen diesen Elementen sind für Thomas Kuhn die konkreten wissenschaftlichen Leistungen, allerdings unentwirrbar verknüpft mit dem dabei verwendeten technischen Instrumentarium, am bedeutendsten. Diese Leistungen vermögen als Beispiele die Forschung zu leiten. Ihre Existenz schafft positive Erwartungen. Die Regeln, die angeben, was Wissenschaft eigentlich ist, sind dagegen nur sekundär. Sie sind gewöhnlich auch nicht genau ausformuliert. Sie grenzen die Tätigkeit der Wissenschaftler mehr negativ ab, als daß sie sie positiv mit einem Programm versorgen würden. Über die Regeln der Wissenschaftlichkeit oder darüber, wie bzw. durch weIche Merkmale wissenschaftliche von nichtwissenschaftlichen Verfahren abgrenzbar seien, wird nach Thomas Kuhn häufiger in der frühen vorparadigmatischen Phase gestritten. Wird solchen Fragen eine besondere Wichtigkeit beigemessen, so ist das im reifen Stadium einer Wissenschaft immer ein Alarmzeichen, ein Zeichen dafür, daß die Herrschaft des Paradigmas zu wanken beginnt. Diese drei Elemente eines Paradigmas sieht Kuhn verankert oder verwurzelt in einer metaphysischen Weltanschauung, deren Bedeutung von ihm häufig betont wird. Die Leistung eines metaphysischen Weltbildes sowohl in programmatischer als auch in methoQologischer Hinsicht zeigt Thomas Kuhn u. a. an Hand der Descartesschen Metaphysik auf: "Weniger örtlich und zeitlich begrenzt, wenn auch noch immer nicht unveränderliche Charakteristika der Wissenschaft, sind die quasi metaphysischen Bindungen auf höherer Ebene, die das Studium der Geschichte so regelmäßig aufzeigt. Etwa seit 1630 und besonders nach dem Erscheinen von Descartes' höchst einflußreichen wissenschaftlichen Schriften nahmen die meisten Physiker an, daß das Universum sich aus mikroskopischen Teilchen zusammensetzte, und daß alle Naturphänomene durch Teil-Begriffe wie Korpuskularform, -größe, -bewegung und -wechselwirkung erklärt werden könnten. Dieser Komplex von Bindungen erwies sich als ein metaphysischer und zugleich methodologischer. Als metaphysischer sagte er den Wissenschaftlern, welche Entitäten das Universum enthielt und welche nicht: es gab nur geformte Materie in Bewegung. Als methodologischer sagte er ihnen, welcher Art endgültige Gesetze und grundlegende Erklärungen sein müssen: Gesetze müssen die Korpuskularbewegung und -wechselwirkung spezifizieren, und die Erklärung muß jedes gegebene Naturphänomen reduzieren. Was noch wichtiger war: die Korpuskulartheorie des Universums sagte den Wissenschaftlern, wie viele ihrer Forschungsprobleme aussehen mußten. Ein Chemiker beispielsweise, der wie Boyle die neue Philosophie an-
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C. Theorie und Theoriekontext nahm, lenkte seine besondere Aufmerksamkeit auf Reaktionen, die als Transmutationen angesehen werden konnten. Deutlicher als alle anderen zeigten diese den Prozeß der korpuskularen Neuordnung, der allen chemischen Veränderungen zugrunde liegen mußte. Ähnliche Wirkungen der Korpuskulartheorie können beim Studium der Mechanik, Optik und Wärmelehre beobachtet werden.'.no
Wie läßt sich nun nach Thomas Kuhn die Leistung eines Paradigmas charakterisieren und was sind damit zusammenhängend die charakteristischen Merkmale der normalen Wissenschaft? Als die wohl wichtigste Leistung des Paradigmas kann ihre Reduktionsleistung angesehen werden. Die Welt erscheint durch die Augen des metaphysischen Weltbildes betrachtet auf nur relativ wenige Dimensionen reduziert und auf Grund der positiven Erfolge - verbunden mit den anerkannten Methoden und Regeln - als erkennbar, begreifbar und irgendwie beherrschbar. Der Besitz des Paradigmas vermittelt den Wissenschaftlern das Gefühl, daß sie die Sache im Griff haben. Im Besitz dieses Gefühls können sie sich Jahre und Jahrzehnte mit mehr oder weniger konkreten Detailfragen abgeben. Dieses Gefühl, daß man auf dem rechten Weg sei, verleiht der normalwissenschaftlichen Forschung ihre charakteristischen Merkmale, wie Kontinuität, Ausdauer und eine gewisse Esoterik. Ziel dieser Forschung ist nach Thomas Kuhn entsprechend auch nicht die Entdeckung wirklich neuer überraschender Tatbestände, ganz im Gegenteil, in der normalwissenschaftlichen Periode werden nur Probleme gelöst, deren Lösungen von der Theorie bereits ziemlich klar vordefiniert wurden. Die Lösungen selbst liefern insofern, außer etwa einigen interessanten Überlegungen, nichts Überraschendes. Thomas Kuhn vergleicht diese normal wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Lösen von Rätseln (puzzles) und den Wissenschaftler, der sich damit beschäftigt, mit einem Rätsellöser (puzzlesolver). Wie der Löser von Bildrätseln, weiß auch der Wissenschaftler im Besitz eines Paradigmas, daß seine Rätseln eindeutige Lösungen haben. Seine Aufgabe ist es, diese Lösungen zu finden. Wie das Lösen von relativ schwierigen Puzzles erfordert auch die normalwissenschaftliche Forschung viel Geschicklichkeit, Einfallsreichtum und Ausdauer. Und wie auch die -Lösung eines schwierigen Puzzles eine Befriedigung vermitteln kann, obwohl die Lösung des Puzzles eigentlich nichts Überraschendes ist, kann auch die normalwissenschaftliche Arbeit als befriedigend empfunden werden, obwohl sie eigentlich keine überraschenden Ergebnisse liefert. 171 Thomas Kuhn unterscheidet drei typische Probleme dieses Rätsellösens, nämlich die "Bestimmung signifikanter Fakten, gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie, sowie Präzisierung der Theorie". I72 Mit der Behandlung dieser Themen sei die normal wissenschaftliche Literatur erschöpfend gekennzeichnet. Kuhn, Die Struktur. S. 165 f. Vgl. ebd. S. 59 f. 172 Ebd. S. 57. 110
111
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Als signifikant können allerdings nur Fakten bestimmt werden, wenn sie in das von dem Paradigma vordefinierte Bild einigermaßen hineinpassen. Tun sie das nicht, so werden sie, da man mit ihnen nichts anfangen kann, ignoriert. Werden sie zumindest als Störungen erkannt, so ist ihre Existenz eine Herausforderung für einzelne Wissenschaftler, aber keine Bedrohung für das Paradigma. Genauso wie etwa das Nicht-Aufgehen eines "puzzles" uns normalerweise zunächst einmal an der Geschicklichkeit des Spielers zweifeln läßt und nicht an der Existenz einer eindeutigen Lösung. Dieser Umstand, daß, solange ein Paradigma nicht wirklich angezweifelt wird, Fakten, die nicht in das Konzept hineinpassen, ignoriert oder höchstens als lästige Störung betrachtet werden, für die man mit der Zeit ja doch eine Lösung finden würde, hat nach Thomas Kuhn die positive Funktion, daß ein Paradigma nicht vorschnell aufgegeben wird, d. h. nicht bevor die Möglichkeiten, die in ihm stecken, voll ausgelotet werden können. Gerade diese systematische konsequente Arbeit an der Entfaltung des Paradigmas bringt aber mit der Zeit auch die Schwächen der Theorie zu Tage. Je präziser und schärfer die Theorie ausgearbeitet ist, desto deutlicher heben sich von diesem Hintergrund die nicht mit ihr vereinbaren Tatsachen ab. Solche Tatsachen werden, soweit sie sich trotz aller Versuche nicht auflösen oder integrieren lassen, zu allgemein anerkannten Anomalien, deren Existenz schließlich eine ernsthafte wissenschaftliche Krise auslösen wird. Thomas Kuhn schreibt über die Rolle der normalwissenschaftIichen Forschung bei der Heraufbeschwörung wissenschaftlicher Revolutionen: "Eine Anomalie stellt sich nur vor dem durch das Paradigma gelieferten Hintergrund ein. Je exakter und umfassender dieses Paradigma ist, desto empfindlicher ist es als Indikator für Anomalien und damit für die Gelegenheit zu einem Paradigmenwechsel. Bei dem normalen Entdeckungsmodus hat sogar der Widerstand gegen den Wechsel eine Funktion. (... ) Indem er sicherstellt, daß das Paradigma nicht ohne weiteres überwunden wird, garantiert der Widerstand, daß die Wissenschaftler nicht zu leicht abgelenkt werden, so daß die zum Paradigmenwechsel führende Anomalie die existierende Erkenntnis bis auf ihren Kern durchdringen kann. Gerade die Tatsache, daß eine bedeutende wissenschaftliche Neuheit so oft gleichzeitig in mehreren Laboratorien auftaucht, ist ein Hinweis sowohl auf die stark traditionsbewußte Natur der normalen Wissenschaft wie auch auf die Vollständigkeit, mit der jene traditionelle Einstellung den Weg für ihren eigenen Wechsel bahnt."173 Kennzeichen einer wissenschaftlichen Krise ist, daß immer mehr Wissenschaftler erkennen, daß das Bild, welches sie von ihrem Gegenstandsbereich hatten, falsch sein muß. Um die Verunsicherung, die die Wissenschaftler in dieser Situation ergreift, zu illustrieren, zitiert Thomas Kuhn u. a. Albert Einstein: ,,Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wor-
173
Kuhn, Die Struktur. S. 95.
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c. Theorie und Theoriekontext
den wäre. ohne daß sich irgendwo fester Grund zeigte. auf dem man hätte bauen können.,,174 In dieser Phase ist nach Thomas Kuhn eine Lockerung der Verpflichtungen auch gegenüber der traditionellen experimentellen Verfahren und auch gegenüber der traditionellen Regeln der Wissenschaftlichkeit bemerkbar. Insoweit hat diese Situation eine gewisse Ähnlichkeit mit der frühen vorparadigmatischen Phase der betreffenden Wissenschaft. nur werden jetzt die Grenzen des Erlaubten doch etwas enger gezogen als damals. 17S Wir können zusammenfassend bei diesem Prozeß die folgenden Schritte unterscheiden: Die Krise bahnt sich an mit der Identifizierung von Anomalien. Die Konzentration der Forschung auf diese Anomalien verbunden mit der Tatsache. daß die Anomalien trotz der Anstrengungen der Wissenschaftler nicht aufgelöst werden können. löst ein Krisenbewußtsein aus. Im Bewußtsein der Krise lockern sich die alten Paradigmabindungen. das wiederum ein wesentliches Charakteristikum der nach Thomas Kuhn jetzt folgenden Phase der ..außerordentlichen Forschung" ist. Losgelöst aus der Enge der alten Bindungen experimentieren nun Wissenschaftler mit der Umgestaltung und Neuordnung aller relevanten Elemente: Weltbild. technische Verfahren. bekannte Fakten mit dem Ziel eine neue Ordnung unter systematischer Einbeziehung der bisher als Anomalien betrachteten Tatbestände zu entwerfen. Diese Forschung führt schließlich zu der Herausbildung eines neuen Paradigmas. Das neue Paradigma bietet gewöhnlich eine Lösung für die bisherigen Anomalien und liefert zudem noch eine ganze Reihe erfolgversprechender Implikationen. Die Anziehungskraft des Paradigmas beruht auch hier wieder auf der Hoffnung der Wissenschaftler. daß der vom Paradigma vorgezeichnete Weg gangbar und erfolgreich sein könnte. Die Stimmung der Wissenschaftler während und kurz vor Beendigung der Krise bei Auftauchen des neuen Paradigmas illustriert Thomas Kuhn durch zwei Aussagen des Physikers Wolfgang Pauli. Die erste Aussage. verfaßt während der Krise in der Quantenmechanik kurz vor 1925. lautet: •.zur Zeit ist die Physik wieder einmal furchtbar durcheinander. Auf jeden Fall ist sie für mich zu schwierig und ich wünschte ich wäre Filmschauspieler oder etwas Ähnliches und hätte von der Physik nie etwas gehört." Die zweite Aussage wurde von Pauli etwa 5 Monate später geschrieben: ..Heisenbergs Modell der Mechanik hat mir wieder Hoffnung und Freude am Leben gegeben. Es gibt sicherlich noch nicht des Rätsels Lösung. aber ich glaube. es ist jetzt wieder möglich. voranzukommen. ,,176
174 Zit. Kuhn. Die Struktur. S. 118. 175 Vgl. ebd. S. 119. 176 Zit. ebd. S. 118.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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Natürlich setzt sich ein neues Paradigma nach einer Krise nur langsam durch. Viele Wissenschaftler, die im Rahmen des alten Paradigmas sozialisiert wurden, können den Wandel nicht mehr mitmachen und sterben, ohne die neuen Vorstellungen akzeptiert zu haben. So setzt sich ein neues Paradigma häufig nur bei der zweiten Generation von Wissenschaftlern vollständig durch. Wissenschaftliche Krisen sind allerdings von recht unterschiedlicher Dauer. In manchen Fällen sind die wesentlichsten Elemente eines neuen Paradigmas bereits entwickelt worden, bevor ein Krisenbewußtsein auf breiterer Grundlage überhaupt entstanden ist, in anderen Fällen entstehen die Umrisse des neuen Paradigmas erst während einer lang andauernden Krise. Thomas Kuhn bringt aus der Geschichte der Physik mehrere Beispiele für beide Varianten. 177 Die Verwendung der Bezeichnung "wissenschaftlicher Revolution" für Paradigmenwechsel ist von Thomas Kuhn durchaus ernst gemeint. Er will mit dieser Bezeichnung auf grundlegende Ähnlichkeiten zwischen tiefgreifenden politischen Umbrüchen und wissenschaftlichen Paradigmaänderungen hinweisen: In beiden Bereichen beginnt eine Krise dann, wenn bestimmte Unzulänglichkeiten sich abzeichnen, wenn also die von einem Paradigma geleitete wissenschaftliche Forschung bzw. die grundlegenden staatlichen Institutionen, bei der Auseinandersetzung mit ihren spezifischen - teils von ihnen selbst gestalteten - Umwelten versagen. In beiden Bereichen entsteht die Krise, wenn diese Unzulänglichkeiten thematisiert und scharf herausgearbeitet werden - wenn man sich dieser Unzulänglichkeiten bewußt wird. Es entstehen in beiden Fällen früher oder später konkurrierende Entwürfe. In beiden Fällen spalten sich die Gemeinschaften in Gruppen, die die alten Anschauungen verteidigen und in Gruppen, die eine neue Sicht der Dinge vertreten. In beiden Bereichen ist die Krise schließlich mit der endgültigen Durchsetzung eines neuen Konzeptes beendet. In beiden Bereichen bedeutet der Siegeszug eines neuen Entwurfes nicht, daß die Vertreter einer Richtung die anderen rational überzeugt hätten, oder daß alle Vertreter der früheren Vorstellungen sich überzeugt hätten - in beiden Fällen sterben die letzten Verfechter der alten Schule, ehe sie ihre Ansichten geändert hätten. 178 Soweit die von Thomas Kuhn angeführten Parallelen. Bei wissenschaftlichen Revolutionen läßt sich nach Thomas Kuhn jedenfalls ein Paradigmenwechsel durch logische Argumente nicht erzwingen. Alternative Paradigmen sind nach Thomas Kuhn letztlich unvergleichbar. Und ein Vergleich ihrer, wie auch immer zu bestimmenden, Problemlösungskapazitäten würde gewöhnlich eindeutig für die alte Theorie sprechen. Was letztlich in einem Paradigma an Problemlösungspotential wirklich steckt, sieht man am Anfang ja nicht genau, das stellt sich erst im Verlaufe der normalwissenschaftlichen Forschung her-
177 178
Vgl. Kuhn, Die Struktur. S. 121 f. Vgl. ebd. S. 120 f.
7 Meleghy
C. Theorie und Theoriekontext
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aus. 119 Der Erfolg des früheren Paradigmas gründete darauf, daß bisher die Probleme gelöst werden konnten. Man kann an dem Glauben, daß das Paradigma bei der Lösung der anstehenden Probleme auch diesmal siegreich sein würde, immer festhalten. Daran gibt es nichts Unlogisches. 18o Das Argumentieren über Paradigmen hinweg ist auch deshalb schwierig, weil Paradigmen ganz spezifische Welten mit eigenen Regeln konstituieren. Die Argumentationen bleiben zirkulär, da jeder die konkurrierenden Konzepte aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet und zu ihrer Beurteilung die eigenen paradigmaspezifischen Regeln an sie anlegt. So bleibt die Diskussion notwendigerweise parteiisch. 181 Daß diese Schwierigkeiten von den Betroffenen durchaus realistisch beurteilt wurden, zeigt Thomas Kuhn an Hand von Aussagen bedeutender Wissenschaftler. So schrieb Charles Darwin am Ende seines berühmten Werkes ,,Die Entstehung der Arten": "Obgleich ich von der Richtigkeit der ... in diesem Werke mitgeteilten Ansichten durchaus überzeugt bin, erwarte ich keineswegs auch die Zustimmung solcher Naturforscher, deren Geist von Tatsachen erfüllt ist, die sie jahrzehntelang von einem entgegengesetzten Standpunkt aus ansahen ... (Aber) ich sehe mit großem Vertrauen in die Zukunft. Junge, aufstrebende Naturforscher werden unparteiisch die bei den Seiten der Frage prüfen."'82 Und Max Plank schrieb auf Grund der Erfahrungen mit seinen Kollegen: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben, und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird."'8l Kennzeichnend für das Wesen wissenschaftlicher Revolutionen ist nach Thomas Kuhn auch der Umstand, daß bedeutende, paradigmabegründende wissenschaftliche Entdeckungen sich nicht genau datieren lassen. Er zeigt an Hand mehrerer Beispiele, wo die Schwierigkeiten für den Historiker liegen: Gewöhnlich werden zunächst von einzelnen Wissenschaftlern Beobachtungen gemacht, ohne jedoch ihre wirkliche Bedeutung zu erkennen. Soll man nun diese Beobachtungen bereits als Entdeckungen werten, oder soll man mit der Datierung warten, bis nicht nur das Phänomen selbst, sondern auch die neue revolutionäre Sichtweise zur richtigen Deutung des Phänomens gefunden wurde? Um den richtigen Stellenwert eines neuen Faktums zu erkennen, müssen die Wissenschaftler lernen, die Welt auf eine ganz neue Art zu sehen. 184
Vgl. Kuhn, Die Struktur. S. 207. Vgl. ebd. S. 208. 18\ Vgl. ebd. S. 198. 182 Zit. ebd. S. 199. 183 Zit. ebd. S. 200. \84 Vgl. ebd. S. 24 f. und S. 79 ff. 179
ISO
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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Was bedeutet nun die Aussage, die Wissenschaftler hätten gelernt, die Welt auf eine neue Art zu sehen, genauer? Was geht in ihnen vor? Läßt sich dieser Vorgang durch den Vergleich mit etwas Bekanntem verdeutlichen, oder durch die Zurückführung auf etwas Bekanntes genauer umreißen? Wie bereits erwähnt wurde, wird der Vorgang, den Forscher bei einer wissenschaftlichen Revolution durchmachen, von Thomas Kuhn mit einem GestaItsprung verglichen. Bei diesem aus der Wahrnehmungs psychologie heute allgemein bekannten Vorgang werden von den Versuchspersonen objektiv identische visuelle Reize (Zeichnungen) mal als diese mal als jene Gestalt wahrgenommen (Ente Kaninchen, alte Frau - junge Frau usw.). Die Versuchspersonen sehen am Anfang, bei der Vorlage der Zeichnung, entweder diese oder jene Gestalt. Sie lernen aber dann, wobei dies recht unterschiedlich lange dauert, auch die zweite Gestalt zu erkennen. Schließlich, nach einer gewissen Übung, sind sie in der Lage, sowohl die genauen Linien der Zeichnung als auch beide Gestalten ohne Schwierigkeiten zu erkennen. Das Wechseln des Bildes geschieht dabei ganz plötzlich. Das Bild kippt um und man sieht jetzt nach erfolgtem Gestaltsprung ein vollkommen neues Bild. Ein verwandter Vorgang läßt sich bei Experimenten mit sogenannten Umkehrlinsen beobachten. Solche Linsen zeigen alles gleichzeitig auf den Kopf gestellt und seitenverkehrt. Setzt man Versuchspersonen Bri\len mit solchen Umkehrlinsen auf, so ist ihr visuelles Orientierungsvermögen verständlicherweise zunächst beeinträchtigt. Sie sind sehr unbeholfen und kommen selbst mit den einfachsten Routinehandlungen kaum zurecht. Nach einer gewissen Zeit der Gewöhnung geschieht jedoch etwas recht Unerwartetes: Das durch die Linse verkehrte Bild kippt plötzlich um und die Versuchspersonen sehen trotz Umkehrbrille alles genauso wie vorher. Sie können jetzt mit der Umkehrbrille ohne jegliche Beeinträchtigung ihren gewohnten Geschäften nachgehen. Ohne Umkehrbrille sind sie jetzt in ihrem Orientierungsvermögen allerdings sehr beeinträchtigt. Sie sehen ohne Umkehrbrille alles verkehrt. Das ursprüngliche Bild des Gesichtsfeldes stellt sich erst nach einer gewissen Zeit der Entwöhnung wieder ein. 185 Die sich umkippenden Gestaltbilder der Wahrnehmungspsychologie und die Experimente mit Umkehrlinsen zeigen zusammen, daß es so etwas wie "reine Beobachtungen" nicht gibt: Wir können einerseits auf Grund derselben visuellen Reize (Netzhautbilder) ganz verschiedene Bilder sehen und andererseits auf Grund unterschiedlicher Reize (Netzhautbilder) - im Falle der Umkehrlinsen - dieselben Wahrnehmungen haben. 186 So ähnlich wie den Versuchspersonen bei diesen Experimenten soll es nach Thomas Kuhn Wissenschaftlern bei wissenschaftlichen Revolutionen ergehen. Sie sehen nach der Revolution, soweit sie diese mitmachen, die WeIt auf eine ganz neue Art. Die einzelnen Elemente fügen sich zu einem vollkommen neuen
185 186
Vgl. Kuhn, Die Struktur. S. 152 f. Vgl. ebd. S. 170.
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C. Theorie und Theoriekontext
Bild zusammen. So können einzelne Beobachtungen, die zuvor im Rahmen des alten Paradigmas sich einfach nicht einfügen wollten und daher Anomalien darstellten, im Bezugssystem des neuen Paradigmas eine wesentliche tragende Rolle spielen. Ein weiteres Experiment der Wahrnehmungspsychologie wird von Thomas Kuhn herangezogen, um den ProzeBverlauf dieses spezifischen Vorganges zu verdeutlichen. "In einem psychologischen Experiment, das es eigentlich verdiente, außerhalb der Zunft weit mehr bekannt zu sein, hatten Bruner und Postmann [1949] Versuchspersonen aufgefordert, eine Reihe von Spielkarten nach kurzer und kontrollierter Belichtung zu identifizieren. Viele der Karten waren normal, aber einige waren verändert worden, zum Beispiel eine rote Pik Sechs oder eine schwarze Herz Vier. Jeder Versuchsablauf bestand darin, daß einer Person in einer Serie allmählich immer länger werdender Belichtungszeiten jeweils eine Karte gezeigt wurde. Nach jedem Bild wurde die Versuchsperson gefragt, was sie gesehen hatte, und die Testfolge wurde mit zwei aufeinanderfolgenden richtigen Identifizierungen abgeschlossen. Sogar bei kürzesten Belichtungen identifizierten viele Versuchspersonen die Mehrzahl der Karten, und nach einer geringen Verlängerung identifizierten alle Personen alle Karten. Bei den normalen Karten waren die Identifizierungen gewöhnlich richtig, aber die abgeänderten Karten wurden fast immer, ohne sichtbares Zögern oder Überraschung, als normale Karten bezeichnet. Die schwarze Herz Vier konnte beispielsweise als Pik Vier oder Herz identifiziert werden. Ohne das Bewußtsein von Schwierigkeiten wurden sie sofort in eine der von vorangegangenen Erfahrungen bereitgestellten Begriffskategorien eingeordnet. Man kann nicht einmal sagen, die Versuchspersonen hätten etwas anderes gesehen, als sie angaben. Bei einer weiteren Verlängerung der Belichtungsdauer für die nicht normalen Karten begannen die Versuchspersonen zu zögern und zeigten, daß sie sich der Anomalie bewußt wurden. Als ihnen beispielsweise die rote Pik Sechs vorgelegt wurde, sagten einige: Das ist die Pik Sechs, aber etwas stimmt damit nicht - das Schwarz hatte einen roten Rand. Eine weitere Verlängerung der Belichtungsdauer ergab noch mehr Zögern und Verwirrung, bis schließlich, und manchmal recht plötzlich, die meisten Versuchspersonen die richtige Identifizierung ohne Zögern hervorbrachten. Außerdem hatten sie, nachdem sie das bei zwei oder drei anomalen Karten getan hatten, weniger Schwierigkeiten bei den anderen. Einige Versuchspersonen waren allerdings überhaupt nicht in der Lage, die erforderlichen Korrekturen an ihren Kategorien vorzunehmen. Auch bei einer Verlängerung der für das richtige Identifizieren von normalen Karten erforderlichen durchschnittlichen Belichtungsdauer auf das Vierzigfache wurden noch immer zehn Prozent der anomalen Karten nicht richtig bezeichnet. Und die Versuchspersonen, die dann noch versagten, zeigten oft persönlichen Unmut. "181
187
Kuhn, Die Struktur. S. 92 f.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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Die Analogie zum Ablauf wissenschaftlicher Revolutionen ist ganz deutlich. Die Wissenschaftler sehen am Anfang, solange das Paradigma nicht angezweifelt wird, Fakten, die nicht in ihr Schema passen, genauso wenig, wie die Versuchspersonen bei kurzen Belichtungszeiten die "falschen" Karten. In beiden Fällen wird das, was nicht in das Bild paßt, insoweit es wahrgenommen wird, als beunruhigend oder verwirrend empfunden. In beiden Fällen versucht man, die Wahrnehmungen, solange es nur geht, mit dem gewohnten Bild in Übereinstimmung zu bringen. In beiden Fällen folgt dann eine Phase, während der man sich auf diese Anomalien konzentriert, bis dann plötzlich diese Anomalien ,,richtig" gesehen und gedeutet werden. Durch diese zuletzt gemachte Aussage über die ,,richtige" Wahrnehmung und Deutung der Anomalie, hat man die Analogie jedoch bereits etwas überspannt. Es gibt, darauf weist Thomas Kuhn ausdrücklich hin, zwischen diesen Wahrnehmungsexperimenten und wissenschaftlichen Revolutionen einen bedeutenden Unterschied: 188 Bei den geschilderten Wahrnehmungsexperimenten gibt es in der Gestalt des Experimentators eine glaubwürdige objektive Instanz, die den Versuchspersonen nachher sagen kann, was wahr und was Täuschung war. Er kann den Versuchspersonen die Anlage des Experimentes erläutern, ihnen glaubhaft machen, daß die Zeichnung immer dieselbe war, ob sie als Ente oder als Kaninchen gedeutet wurde, und daß der Kartensatz die "falschen" Karten von vornherein (als sie von den Versuchspersonen noch nicht als solche identifiziert wurden) und während des gesamten Ablaufs des Experimentes enthielt und nicht etwa erst in der letzten Phase des Experimentes hineingeschmuggelt wurden. So eine quasi objektive Instanz gibt es bei wissenschaftlichen Revolutionen nicht. Es gibt keine Instanz, die den Wissenschaftlern sagen kann, die Welt sei "objektiv" gesehen so und so, nur hätten sie diese Fakten mal auf diese, mal auf jene Weise gedeutet. Da diese objektive Instanz nicht existiert, ist nach Thomas Kuhn der Ausdruck, die Wissenschaftler hätten vor der Revolution die ,,Fakten" anders gesehen als nachher, falsch, denn diese Aussage suggeriere ja, daß es so etwas wie "objektive Fakten" geben würde. Da es diese "objektiven" Wahrnehmungen oder Fakten nicht gibt, meint Thomas Kuhn, es sei treffender zu sagen. die Wissenschaftler lebten nach der Revolution in einer anderen Welt bzw. übten ihren Beruf in unterschiedlichen Welten aus: "In einem Sinn, den ich hier nicht weiter entwickeln kann, üben die Befürworter konkurrierender Paradigmata ihren Beruf in verschiedenen Welten aus. Die eine enthält gefesselte Körper, die langsam fallen, die andere Pendel, die ihre Bewegungen fortgesetzt wiederholen. In der einen sind Lösungen Verbindungen, in der anderen Mischungen. Die eine liegt in einer Fläche, die andere in einer gekrümmten Raummatrix. Da sie in verschiedenen Welten arbeiten, sehen die beiden Gruppen von Wissenschaftlern verschiedene Dinge, wenn sie vom gleichen Punkt aus in die gleiche
188
Vgl. ebd. S. 154 f.
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C. Theorie und Theoriekontext
Richtung schauen. Das heißt aber wiederum nicht, daß sie alles sehen können, was sie wollen. Beide betrachten sie die Welt, und was sie anschauen, hat sich nicht verändert. Aber in manchen Bereichen sehen sie verschiedene Dinge, und sie sehen sie in unterschiedlichen Beziehungen zueinander. Darum kann ein Gesetz, das der einen Gruppe von Wissenschaftlern nicht einmal demonstriert werden kann, der anderen gelegentlich intuitiv als evident erscheinen. Gleichermaßen muß darum die eine oder andere Gruppe, ehe beide hoffen können, sich zu verständigen, die Umwandlung erleben, die wir Paradigmawechsel genannt haben. Gerade weil es ein Übergang zwischen unvereinbaren Dingen ist, kann er nicht Schritt um Schritt vor sich gehen, von Logik und neutraler Erfahrung erwirkt. Er muß, wie der Gestaltwandel, auf einmal (wenn auch nicht notwendigerweise in einem Augenblick) geschehen oder überhaupt nicht. "189
Abschließend zu der Darstellung des Kuhnschen Prozeßverlaufs der wissenschaftlichen Entwicklung sei noch angemerkt, daß nach dieser Phase der revolutionären Wissenschaft, wissenschaftlicher Revolution bzw. Paradigmawechsel, wieder eine normalwissenschaftliche Phase folgt. Diese neue normalwissenschaftliche Phase führt wiederum zu einer wissenschaftlichen Revolution, und so geht es, wenn eine Extrapolation des bisherigen Verlaufs der Geschichte gerechtfertigt ist, auch in der Zukunft weiter. Ich mächte nun, bevor ich mich der Berücksichtigung der Kuhnschen Argumente durch die Wissenschaftstheorie zuwende, zwei Fragen aufwerfen: I. Was hat das alles mit Wissenschaftstheorie zu tun? und 2. Was hat diese Konzeption von der Wissenschaftsgeschichte mit der Problematik des Kontextes zu tun? Wenden wir uns der ersten Fragestellung zu, die ich aber zunächst etwas genauer erläutern werde. Wir haben am Anfang dieses Kapitels die Wissenschaftstheorie als eine normative (in dem Sinne, daß sie sagt, wie die richtige Vorgangsweise etwa bei der Begründung empirisch-wissenschaftlicher Theorien ist), analytische Metawissenschaft charakterisiert. Auf Grund des analytischen Charakters dieser Disziplin sind empirisch-metawissenschaftliche Fakten, wie z. B. der eventuelle Nachweis, daß Wissenschaftler bei ihrer Arbeit die Regeln der Wissenschaftstheorie nicht befolgen, ja ohne Belang. Um die Relevanz der Kuhnschen Arbeit für die Wissenschaftstheorie aufzuzeigen, muß man daher nachweisen, daß Thomas Kuhn neben empirischen Fakten auch analytisch relevante Argumente liefert. Hat man die im letzten Abschnitt dargestellte ursprüngliche Version der Popperschen Methodologie im Sinn, so stellt sich diese Frage folgendermaßen: Nach Karl Popper sind Fragen der Entdeckung oder Entstehung von Theorien und Fragen der Begründbarkeit oder Begründung zu unterscheiden. Die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich nur mit dieser zweiten Fragestellung. Will man die Relevanz der Kuhnschen Erkenntnisse für
189
Kuhn, Die Struktur. S. 198 f.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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die Wissenschaftstheorie aufzeigen, dann muß man nachweisen, daß Thomas Kuhn nicht nur zu der ersten, letztlich empirischen Fragestellung, sondern auch zu dieser zweiten Fragestellung etwas Bedeutungsvolles sagen kann. Die Begründung von bereits vorgeschlagenen Satzsystemen erfolgt nach Karl Popper, wie wir bereits gesehen haben, durch Prüfungen in vier Richtungen, die aufeinander aufbauen. Man prüft ob das Satzsystem logisch konsistent ist, ob es sich um ein empirisch-wissenschaftliches Satzsystem handelt, ob das Satzsystem mehr empirischen Gehalt als sein Vorgänger besitzt, und schließlich, ob die empirischen Implikationen des Satzsystems mit den Fakten übereinstimmen. (Diese zugegebenermaßen naturalistische Ausdrucksweise sei mir, da ich im letzten Abschnitt ausdrücklich gesagt habe, worum es letztlich geht, verziehen). Besteht ein Satzsystem alle diese Prüfungen, so gilt es zumindest vorläufig, als begründet. Was haben nun die dargestellten Kuhnschen Erkenntnisse mit dieser Art der Begründung bzw. mit diesen vier Überprüfungsarten zu tun? Beginnen wir mit der ersten Überprüfungsart, mit der Prüfung der logischen Konsistenz eines vorgeschlagenen Satzsystems. Selbstverständlich wird die Sinnhaftigkeit dieser Überprüfungsart durch die Kuhnschen Argumente nicht in Frage gestellt. Die Anwendbarkeit dieses Instrumentes ist jedoch letztlich auf normalwissenschaftliche Fragestellungen beschränkt. Wenn es darum geht, Theorien unterschiedlicher Paradigmenzugehörigkeit zu überprüfen, so kann die logische Konsistenz jeweils vorliegen oder nicht. Liegt sie für beide Theorien vor, so sind sie hinsichtlich dieses Kriteriums gleichwertig. Dasselbe Ergebnis liegt vor, wenn beide Theorien für sich inkonsistent sind. Lediglich dann, wenn nur eine der bei den Theorien dieses Kriterium erfüllt, d. h. wenn also die eine Theorie logisch konsistent, die andere jedoch logisch inkonsistent ist, läßt sich mit Hilfe dieser Überprüfungsart eine Bevorzugung einer der beiden Theorien begründen. Genauso verhält es sich, wenn es um die Überprüfung von ganzen Paradigmen geht. Auch hier läßt sich nur feststellen, ob die zur Frage stehenden Paradigmen für sich genommen logisch konsistent sind oder nicht. Eine Bevorzugung läßt sich auch nur dann ableiten, wenn nur eines der beiden Paradigmen die Prüfung besteht. Aber selbst so ein Ergebnis hätte nur begrenzte Wirkung, da Theorien über Paradigmagrenzen hinweg, genauso auch ganze Paradigmen, prinzipiell inkommensurabel sind. Der Nachweis der logischen Inkonsistenz würde die Vertreter der betreffenden Theorie (des betreffenden Paradigmas) dazu herausfordern, die Theorie (das Paradigma) zu verbessern, nicht jedoch veranlassen können, die andere, prinzipiell unvergleichbare Theorie (das andere, prinzipiell unvergleichbare Paradigma) zu akzeptieren. Zu einem ähnlichen Urteil kommen wir auch bei der Betrachtung der zweiten Überprüfungsart. Es geht hier um den empirisch-wissenschaftlichen Charakter von Satzsystemen im Sinne einer prinzipiellen empirischen Falsifizierbarkeit. Auch die Sinnhaftigkeit und Anwendbarkeit dieses Instrumentes bleibt im Lichte der Kuhnschen Ausführungen unbezweifelt, soweit es sich um nor-
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C. Theorie und Theoriekontext
malwissenschaftliche Fragestellungen handelt. Aber auch dieses Instrument kann nur wenig leisten, wenn es darum geht, Theorien über Paradigmengrenzen hinweg miteinander zu vergleichen. Denn bestehen beide Theorien die Prüfung, oder fallen bei dieser Prüfung beide Theorien durch, so kann diese Prüfung bei unserer Entscheidung für die eine oder andere Theorie nicht helfen. Läßt sich die hier geforderte Qualität nur für die eine Theorie feststellen, so wird das vielleicht die Vertreter der anderen Theorie dazu veranlassen, ihre Theorie zu modifizieren, nicht aber dazu, die andere Theorie zu akzeptieren. Etwas komplizierter wird das Bild, wenn wir die Anwendbarkeit dieses Instrumentes beim Vergleich von ganzen Paradigmen untersuchen. Es wurde bereits erwähnt, daß man bei Thomas Kuhn unterschiedlichste Verwendungen dieses Begriffes findet. Wir haben uns hier für eine recht weite Fassung entschieden. Danach besteht ein Paradigma aus erfolgreichen wissenschaftlichen Leistungen, aus einem experimentell-technischen Instrumentarium, aus bestimmten Regeln der Wissenschaftlichkeit und nicht zuletzt aus einem weltanschaulich-metaphysischen Weltbild. Alle diese Bestandteile eines Paradigmas hängen auf eine ganz spezifische Weise zusammen. Die erwähnten Regeln sind aus der metaphysischen Weltanschauung deduzierbar. Die Leistungen und auch das technische Instrumentarium stellen Antworten auf Fragen dar, die im Lichte der metaphysischen Weltanschauung sowie im Lichte der daraus ableitbaren Regeln als sinnvoll erachtet werden können. Durch diese zweite Überprüfungsart werden diese Bestandteile eines Paradigmas voneinander geschieden. Metaphysische Weltbilder, aber auch die aus ihnen ableitbaren Regeln, werden auf Grund des Popperschen Abgrenzungskriteriums als nicht-empirischwissenschaftlich qualifiziert. Die durch diese Überprüfungsart feststell bare empirisch-wissenschaftliche Qualität kann nur Theorien zukommen, die sich, beginnend mit den beispielhaften Erfolgen im Rahmen eines metaphysischen Weltbildes, entwickeln, sowie Beobachtungstheorien, auf denen das experimentell technische Instrumentarium ja beruht. Diese bei den Theoriearten sind, wie Thomas Kuhn es ja zeigt, meist eng miteinander verflochten. Die von Karl Popper- vorgeschlagene zweite Überprüfungsart ist also sinnvoll nur auf ganz bestimmte Aspekte oder Bestandteile von Paradigmen anwendbar, auf Theorien, die sich innerhalb eines Rahmens, der von einem metaphysischen Weltbild abgesteckt wird, entwickeln. Betrachten wir nun die dritte Überprüfungsart. Es soll, wenn eine neue Theorie vorgeschlagen wird, zunächst geprüft werden, ob dieses neue empirischwissenschaftliche Satzsystem überhaupt einen Fortschritt gegenüber früher vorgeschlagenen Systemen bringt, bzw. etwas genauer, einen Fortschritt bringen könnte. Das ist nach Karl Popper genau dann der Fall, wenn die neue Theorie alles das, was ihre Vorgängerin leisten konnte, auch leistet und darüber hinaus noch zusätzliche empirisch prinzipiell testbare Implikationen liefert. Um das zu prüfen, sollen, wie wir es im letzten Abschnitt gesehen haben, die Klassen der potentiellen Falsifikatoren der bei den Satzsysteme miteinander vergli-
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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chen werden. Das ist aber, worauf Karl Popper ja selbst hingewiesen hat, nur dann möglich, wenn beide Klassen umfangsgleich sind, oder wenn zwischen beiden Klassen ein Teilklassenverhältnis besteht, indem die eine Klasse die andere als Teilklasse enthält. Handelt es sich um Klassen, die sich überlappen oder um Klassen, die sich nicht berühren, so kann diese Prüfung nicht durchgeführt werden. Es ist nicht möglich zu sagen, welche der beiden Satzsysteme mehr, welche weniger Informationsgehalt bzw. empirischen Gehalt besitzt. Die beiden Theorien sind in diesem Fall nicht vergleichbar oder inkommensurabel. Die Anwendbarkeit dieser Überprüfungsart ist also auf Fälle beschränkt, wo es darum geht, was eingangs auch gesagt wurde, daß man eine Theorie mit ihrer Vorgängerin bzw. eine Theorie mit einer Weiterentwicklung oder neueren Version dieser Theorie vergleicht. Diese Überprüfungsart ist demnach dann relevant, wenn es darum geht, Theorie und Fakten immer mehr gegenseitig anzunähern, Fakten und Theorie aufeinander immer präziser abzustimmen. Das ist aber genau eine der drei Tätigkeiten, mit denen Forscher sich nach Thomas Kuhn in der normalwissenschaftlichen Phase der wissenschaftlichen Entwicklung beschäftigen. Diese drei Aufgaben des rätsellösenden Wissenschaftlers in der normalwissenschaftlichen Phase waren: "Bestimmung signifikanter Fakten, gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie, sowie die Präzisierung der Theorie".I90 Die von Karl Popper vorgeschlagene dritte Überprüfungsart (Gehaltsvergleich) ist also ein logisches Werkzeug der normalwissenschaftlichen Forschung. Die Anwendbarkeit dieses Instrumentes ist gleichzeitig auf diese Art Forschung begrenzt. Ein Vergleich von Theorien über Paradigmengrenzen hinweg ist mit rein logischen Mitteln nicht durchführbar. Das hat Thomas Kuhn recht überzeugend gezeigt. Bleibt man beim Gehaltsvergleich so ist es einleuchtend, daß die dafür geforderte Bedingung, Teilklassenverhältnis bei den Klassen der potentiellen Falsifikatoren, über Paradigmengrenzen hinweg einfach nicht erfüllt werden kann, da es sich bei verschiedenen Paradigmen um qualitativ unterschiedliche Abstraktionen handelt, die zwar im Falle von empirisch-wissenschaftlichen Systemen immer etwas mit der Realität zu tun haben, aber mit jeweils ganz unterschiedlichen Momenten dieser Realität. Theorien über Paradigmengrenzen hinweg sind immer inkommensurabel. Keineswegs geeignet ist dieses Instrument für den Vergleich von ganzen Paradigmen, da Paradigmen, wie wir gesehen haben, mehr sind als nur empirischwissenschaftliche Theorien. Der von Karl Popper vorgeschlagene Gehaltsvergleich ist aber nur auf empirisch-wissenschaftliche Satzsysteme anwendbar. Als eine eventuelle Möglichkeit für einen Paradigmenvergleich hat Thomas Kuhn, wie es bereits erwähnt wurde, einen Vergleich der bereits dokumentierten, also nachgewiesenen Problemlösungskapazitäten verschiedener Paradig-
190 Kuhn. Die Struktur. S. 57.
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men erwähnt, zugleich aber diese Möglichkeit auch gleich wieder abgelehnt, da abgesehen davon, daß niemand genau weiß, wie so ein Vergleich tatsächlich bewerkstelligt werden könnte, neue Paradigmen bei so einem Vergleich immer benachteiligt wären. Alte Paradigmen hätten während der langen normalwissenschaftlichen Phase der Forschung die Möglichkeit gehabt zu zeigen, was in ihnen wirklich steckte, während junge Paradigmen diese Chance noch nicht gehabt hätten. Man müßte daher eigentlich die potentieIIen Problemlösungskapazitäten von Paradigmen miteinander vergleichen, was aber grundsätzlich unmöglich ist. Was in einem Paradigma wirklich steckt, weiß man erst auf Grund der Erfahrung, und die macht man während der normalwissenschaftlichen Phase der Forschung. Bei der vierten von Karl Popper vorgeschlagenen Überprüfungsart ging es um die Frage, ob die Implikation des Satzsystems durch empirische Tests bestätigt werden könne. Der Überschuß am empirischen Gehalt soII auch empirisch nachgewiesen werden. Es geht also auch darum, inwieweit die Fakten mit der Theorie übereinstimmen. Da es so etwas wie reine Fakten nicht gibt, muß über diese Frage eine Entscheidung gefäIIt werden, wobei die wissenschaftliche Jury bei der Entscheidung aIIes Für und Wider sorgfaltig abwägen muß. Entscheidet sich die Jury dafür, daß die Theorie mit den Fakten nicht übereinstimmt, so ist die Theorie widerlegt, was auch Folgen haben muß. Die Theorie muß verworfen oder zumindest modifiziert werden. Damit verhindert wird, daß die Theorie im Nachhinein durch bestimmte Manipulationen trotz der empirischen Widerlegung gerettet wird, indem ihr etwa neue Hypothesen eingefügt werden, oder indem einzelne ihrer Begriffe umgedeutet werden, mit dem alleinigen Zweck sie mit den bereits bekannten Fakten in Übereinstimmung zu bringen, ohne daß dadurch neue empirische Implikationen entstehen würden, soII nach Karl Popper nach solchen Manipulationen die Theorie immer als eine Neukonstruktion gewertet und auch entsprechend überprüft werden. Welche Folgen hat nun eine Falsifikation tatsächlich? Soweit die Theorie die dritte Prüfungsart erfolgreich bestanden hat, es sich also um eine verbesserte Version einer bereits bekannten Theorie handelt, bedeutet eine empirische Widerlegung für die Theorie nichts Entscheidendes. Nach dem Urteilsspruch der wissenschaftlichen Jury konnte der überschüssige Gehalt nicht bestätigt werden. Die Verbesserung der Theorie ist nicht gelungen. Es bleibt damit bei der alten Theorie. Man versucht eine Verbesserung - z. B. Anwendung der Theorie auf neue Gebiete - eben in anderen Richtungen zu erzielen. Was geschieht nun dann, wenn eine bisher bewährte Theorie mit neuen Fakten - falsifizierenden Hypothesen von niedrigem AIIgemeinheitsgrad -, die ihr widersprechen, konfrontiert wird? Nach Karl Popper muß die Theorie als falsifiziert betrachtet werden. Nach der Falsifikation muß die Theorie entweder aufgegeben oder zumindest modifiziert werden. Bringt die Modifikation keine neuen Testimplikationen, also Überschuß an empirischem Gehalt, so liegt eine nach Karl Popper unerlaubte ad-hoc-Lösung vor.
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Hat man aber keine bessere Theorie über den betreffenden Gegenstandsbereich als diese, so wird man die ad-hoc-Lösung akzeptieren und mit der Theorie weiterarbeiten. In manchen Fällen ist es auch möglich, die Theorie vorübergehend nach einer Falsifikation dadurch zu retten, daß man den Gegenstandsbereich der Theorie etwas eingrenzt. In allen diesen Fällen ist also eine Falsifikation nichts Entscheidendes. Was geschieht aber dann, wenn eine bisher bewährte Theorie mit neuen Fakten konfrontiert wird, die sie an zentraler Stelle treffen? Die Theorie muß nach Karl Popper natürlich verworfen werden. Thomas Kuhn zeigt an Hand zahlreicher Beispiele, daß das in der wissenschaftlichen Praxis nicht geschieht. 191 Solche Anomalien werden in der Praxis vielfach einfach ignoriert in der Hoffnung, daß sie sich mit der Zeit einfach auflösen würden. Man schenkt solchen störenden Fakten wenig Aufmerksamkeit, solange nur auch positive neue Erfolge erzielt werden. Diese neuen Erfolge sind es, die die Wissenschaftler motivieren, weiter an der Theorie zu arbeiten, und sie sind es auch, die die Wissenschaftler veranlassen, zu glauben, daß man mit der Zeit auch für die Fakten, die nicht in das Bild passen, eine zufriedenstellende Erklärung finden würde. Es ist natürlich klar, daß diese Vorkommnisse, auch wenn sie noch so häufig beobachtet werden können, nicht geeignet sind, die Regeln der Methodologie zu erschüttern. Wissenschaftstheorie ist ja eine analytische und keine empirische Wissenschaft. Aber das ist ja nicht alles, was Thomas Kuhn zeigt. Er zeigt auch, daß diese Beharrlichkeit der Wissenschaftler, bis dahin bewährte Theorien, trotz des Auftauchens offenkundiger Anomalien, weiter zu akzeptieren und weiter zu verteidigen, durchaus positiv sein kann, denn in vielen Fällen hat man später, wie es von den Wissenschaftlern gehofft wurde, die Erklärung für die störenden Fakten tatsächlich gefunden. Hätte man den Anomalien die Wichtigkeit beigemessen, die ihnen nach Karl Popper zukommt, so hätte man diese Theorien vorschnell verabschiedet, vorschnell, bevor sie sich voll entfalten hätten können. Noch wichtiger ist aber das Kuhnsche Argument, daß empirische Widerlegungen nichts Entscheidendes für eine Theorie sein können, denn sonst müßten eigentlich alle Theorien eliminiert werden, da keine Theorie alle ihre Probleme lösen kann. Thomas Kuhn meint ja, es gäbe zu allen Zeiten zu allen Theorien empirische Fakten, die unvereinbar mit der Theorie seien, man würde nur diesen Fakten mal mehr, mal weniger Wichtigkeit beimessen. Natürlich meint Thomas Kuhn nicht, daß die Konfrontation von Theorien und Fakten, und damit die empirische Bestätigung oder Falsifikation von Theorien, etwas Unvernünftiges oder Überflüssiges sei, er meint lediglich, daß man die Bedeutung einer Falsifikation nicht überbewerten sollte. Die von Karl Popper vorgeschlagene vierte Überprüfungsart gehört nach Thomas Kuhn zum alltäglichen Geschäft des Rätsellösens in der normalwissenschaftlichen Phase der wissenschaftlichen Entwicklung. Sie gehört zu den Tätigkeiten, mit denen
191
Vgl. Kuhn, Die Struktur. S. 115.
108
C. Theorie und Theoriekontext
nach Thomas Kuhn Wissenschaftler in der normal wissenschaftlichen Phase sich beschäftigen. Über Paradigmengrenzen hinweg ist jedoch diese Überprüfungsart genauso wenig anwendbar wie die zuvor besprochenen Überprüfungsarten. Theorien, die im Rahmen unterschiedlicher Paradigmen entstanden sind, sind, wie wir gesehen haben, prinzipiell inkommensurabel. Es gibt keine Möglichkeit hier, etwa mittels eines Experimentes eine Entscheidung zu fallen. Die Untersuchung der vier Popperschen Überprüfungsarten hat gezeigt, daß ihre Anwendbarkeit auf die normalwissenschaftliche rätsellösende Tätigkeit beschränkt ist. Sie sind nicht als Entscheidungsinstrumente verwendbar, wenn es um den Vergleich von Theorien geht, die zu unterschiedlichen Paradigmen gehören, und auch dann nicht, wenn man vor der Aufgabe steht, zwei Paradigmen miteinander zu vergleichen. Wir kommen nun zu der zweiten Frage in diesem Zusammenhang, zu der Frage, was die Kuhnsche Konzeption von der Wissenschaftsgeschichte eigentlich mit der Problematik des Kontextes zu tun haben soll? Wir müssen uns dazu noch einmal die charakteristischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Paradigmenelementen vergegenwärtigen. Die allgemeinsten und grundlegendsten Bestandteile von Paradigmen sind metaphysische Weltbilder. Aus diesen Weltbildern werden Regeln der wissenschaftlichen Vorgangsweise sowie wissenschaftlich sinnvolle Fragestellungen abgeleitet, bzw. mit Hilfe der metaphysischen Weltbilder lassen sich bestimmte Vorgangsweisen und Fragestellungen als wissenschaftlich sinnvoll bestimmen. Es werden aber durch diese Weltbilder nicht nur Vorgangsweisen und Fragen, sondern auch die von den Wissenschaftlern gemachten Erfahrungen als Erfolge oder eben als Mißerfolge qualifiziert. Thomas Kuhn hat diese Zusammenhänge, wie bereits dargestellt wurde, an Hand des Descartesschen Weltbildes verdeutlicht. Warum werden solche Weltbilder, wie etwa das Descartessche, als metaphysisch bezeichnet? Mit der Bezeichnung metaphysisch soll lediglich angedeutet werden, daß diese Weltbilder Annahmen enthalten, die im Popperschen Sinne als nicht-empirisch bezeichnet werden müssen. Warum nun das Descartessche mechanistische Weltbild als metaphysisch bezeichnet werden soll, wird von lohn Watkins folgendermaßen begründet: "An example of a regulative principle is mechanism, a metaphysical theory which governed thinking in the physical sciences from the seventeenth century until it was largely superseded by a wave or field world-view. According to mechanism, the ulti mate constituents of the physieal world are impenetrable particles whieh obey simple mechanieal laws. The existenee of these particles eannot be explained - at any rate by science. On the other hand, every complex physical thing or event is the result of a particular configuration of particles and can be explained in terms of the laws governing their behaviour in conjunction with a description of their relative positions, masses, momenta, ete. There may be what might be described as unfinished or half-
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
109
way explanations of large-scale phenomena (say, the pressure inside agas-container) in terms of other large-scale factors (the volume and temperature of the gas); but we shall not have arrived at rock-bottom explanations of such large-scale phenomena until we have deduced their behaviour from statements about the properties and relations of particles. This is a typically metaphysical idea (by which I intend nothing derogatory). True, it is confirmed even massively confirmed, by the huge success of mechanical theories which conform to this requirements. On the other hand, it is untestable. No experiment could overthrow iso If certain phenomena - say, electromagnetic phenomena - seem refractory to this mechanisitc sort of explanation, this refractoriness can always (and perhaps rightly) be attributed to our inability to find a successful mechanical model rather than to an error in our metaphysical intuition about the ultimate constitution of the physical world ... 192
Kehren wir nun nach diesem Exkurs über die metaphysische Qualität von bestimmten Weltbilder zurück zu unserer ursprünglichen Fragestellung: Was hat die Kuhnsche Konzeption von der Wissenschafts geschichte mit der Thematik des Kontextes, wie sie im letzten Abschnitt entwickelt wurde, zu tun? Wir haben im letzten Abschnitt im Bereich des individuellen Lernens zwei Ebenen unterschieden. Die Ebene des Lernens im Sinne des Erkennens von Kontexten und die Ebene des Lernens im Sinne des Erkennens des adäquaten Verhaltens innerhalb eines bestimmten Kontextes. Die Ergebnisse der Kuhnsehen Untersuchungen haben gezeigt, daß diese beiden Ebenen des Lernens auch im Bereich des kollektiven, wissenschaftlichen Lernens anzutreffen sind. Der Identifizierung des Kontextes beim individuellen Lernen entspricht auf der Ebene des kollektiven wissenschaftliche Lernens die Identifizierung eines metaphysischen Weltbildes etwa im Sinne der Descartesschen mechanistischatomistischen Metaphysik. Dem Lernen innerhalb eines Kontextes beim individuellen Lernen entspricht das Lernen im Sinne des Lösens von Rätseln während der normalwissenschaftlichen Phase der wissenschaftlichen Entwicklung. Der Kontext dient beim individuellen Lernen zur Klassifikation der Verhaltensweisen oder Handlungen als richtig oder falsch, als angemessen oder unangemessen, als erlaubt oder nicht erlaubt usw. Beim kollektiven wissenschaftlichen Lernen klassifiziert man mit Hilfe von metaphysischen Weltbildern Fragen, Vorgangsweisen und Ergebnisse als wissenschaftlich, angemessen oder als erfolgreich oder als erfolglos. In beiden Fällen gehört die zur Klassifikation verwendete Ebene (Kontext und Weltbild) einem höheren logischen Typ an als die durch diese Ebene klassifizierten Elemente. In beiden Fällen, sowohl im Falle des individuellen Lernens als auch im Falle des kollektiven wissenschaftlichen Lernens, geht das Erkennen des Kontextes bzw. Weltbildes nicht langsam allmählich vor sich, 192 Watkins, Methodological Individualism and Social Tendencies. In: May Brodbeck (Hg.), Readings in the philosophy of the Social Sciences. New York: Macmillan 1968, S.270.
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C. Theorie und Theoriekontext
sondern plötzlich, sozusagen in einem einzigen Augenblick. In beiden Fällen sind Erfolge und Mißerfolge nur indirekte Hinweise über die Adäquatheit unserer Vorstellungen über die darüberliegende Ebene des Kontextes oder Weltbildes. Ein länger anhaltendes Ausbleiben von Erfolgen beim individuellen Versuch-und-Irrtum-Spielen, wie auch beim wissenschaftlichen Rätsellösen, wird, was psychologisch durchaus verständlich ist, in uns die Vermutung begründen, daß mit unseren Vorstellungen über den relevanten Kontext etwas nicht in Ordnung ist, daß wir vielleicht gar nicht das richtige Spiel spielen, und daß das Spiel daher gar nicht aufgehen kann. Eine Sicherheit über diese Vermutung können wir jedoch nicht erlangen, da das Ausbleiben von Erfolg auch durch unsere Ungeschicklichkeit verursacht sein könnte. Positive Erfolge bei individuellen Versuch-und-Irrtum-Spielen und beim wissenschaftlichen Rätsellösen sind aber auch nur Hinweise dafür, daß unsere Vorstellungen vom relevanten Kontext nicht ganz und gar inadäquat sein können. Sie sind aber lediglich einzelne Hinweise und können nicht als Beweise für die Richtigkeit des von uns vermuteten Kontextes gedeutet werden. Die eindeutige Identifikation des relevanten Kontextes ist nur in Ausnahmefällen, wie etwa bei den von Thomas Kuhn zu Vergleichszwecken herangezogenen Wahrnehmungsexperimenten möglich, bei denen in der Gestalt des Experimentators eine objektive Instanz existiert, die uns über die wirklichen Bedingungen des Experimentes im Nachhinein aufklären kann. Nachdem die Rolle des Kontextes im Rahmen der Kuhnschen Deutung der Wissenschaftsgeschichte aufgezeigt wurde, kehren wir nun zurück zu der Wissenschaftstheorie, bzw. etwas genauer, zu der Methodologie der Forschungsprogramme von Irnre Lakatos. Wie es bereits am Anfang dieses Abschnittes gesagt wurde, läßt sich diese methodologische Konzeption als die Antwort des Kritischen Rationalismus auf die Kuhnsche Herausforderung interpretieren. Die Abgrenzung vom Popperschen methodologischen Falsifikationismus erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird von Imre Lakatos eine neue Fassung des Falsifikationismus, der sogenannte raffinierte methodologische Falsifikationismus, vorgelegt. Ausgehend von dieser Version des Falsifikationismus wird dann die Methodologie der Forschungsprogramme entwickelt. Die grundlegenden Gedanken des raffinierten methodologischen Falsifikationismus von Imre Lakatos 193 gehen auf Karl Popper zurück, wobei Imre Lakatos aber einen entscheidenden Schritt weiter geht. Angesichts der Willkürlichkeit der Entscheidungen, die der methodologische Falsifikationismus treffen muß, und angesichts der Unmöglichkeit der Falsifikation auf Grund von Immunisierungsstrategien bricht er endgültig mit der Vorstellung, daß eine Theorie durch die Konfrontation mit einem bewährten Basissatz oder mit einer bewährten falsifizierenden Hypothese niedrigster Stufe falsifiziert werden kann. Er kennt nur die Falsifikation einer Theorie durch ein ..bessere" Theorie innerhalb
193
Vgl. Laktltos, Falsifikation.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
111
einer Theorienreihe und die Falsifikation einer Theorienreihe durch eine "bessere" rivalisierende Theorienreihe. Da eine Falsifikation im Sinne des methodologisehen Falsifikationismus weder hinreichend noch notwendig für die Falsifikation im Sinne des raffinierten methodologischen Falsifikationismus ist, wird die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium nach Imre Lakatos auch hinfällig. Das Abgrenzungskriterium des raffinierten methodologischen Falsifikationismus wird daher von Imre Lakatos neu formuliert: "Für den naiven Falsifikationisten ist jede Theorie, die sich als experimentell falsifizierbar interpretieren läßt, ,akzeptabel' oder, wissenschaftlich '. Für den raffinierten Falsifikationisten ist eine Theorie ,akzeptabel' oder ,wissenschaftlich' nur dann, wenn sie einen bewährten empirischen Gehaltsüberschuß über ihren Vorgänger (oder Rivalen) besitzt, d. h. wenn sie zur Entdeckung von neuen Tatsachen führt. Diese Bedingung läßt sich in zwei Klauseln aufspalten: die neue Theorie hat einen Überschuß an empirischem Gehalt (,Akzeptabilität' 1), und ein Teil dieses Überschusses ist verifiziert (,Akzeptabilität' 2). Die erste Klausel kann sofort durch eine apriori logische Analyse nachgeprüft werden; die zweite läßt sich nur empirisch prüfen, und dies kann eine unbestimmt lange Zeit in Anspruch nehmen."''''' Im Gegensatz zu dem statischen Abgrenzungskriterium des methodologisehen Falsifikationismus, wo für die Wissenschaftlichkeit einer Theorie oder Hypothese nur die prinzipielle Widerlegbarkeit durch Konfrontation mit einem singulären Basissatz gefordert wird, wird nach dem Abgrenzungskriterium des raffinierten Falsifikationismus eine progressive Dynamik verlangt. Dieses Abgrenzungskriterium und damit die geforderte Dynamik wird ausdrücklich auf eine Theorienreihe bezogen: "Wir beginnen mit einer Reihe von Theorien T .. Tz, Tl, ... Jedes neue Glied entsteht dadurch, daß man der vorangehenden Theorie Hilfsklauseln hinzufügt (oder sie semantisch uminterpretiert), um sie an eine Anomalie anzupassen, wobei jede Theorie einen Gehalt besitzt, der dem nichtwiderlegten Gehalt des Vorgängers entweder gleicht oder ihn übertrifft. Wir nennen eine solche Reihe von Theorien theoretisch progressiv (die Reihe ,bildet eine theoretisch progressive Problemverschiebung'), wenn jede neue Theorie einen empirischen Gehaltsüberschuß ihrer Vorläuferin gegenüber besitzt, d. h. wenn sie eine neue, bis dahin unerwartete Tatsache voraussagt. Wir nennen eine theoretisch progressive Reihe von Theorien auch empirisch progressiv (die Reihe ,bildet eine empirisch progressive Problemverschiebung'), wenn sich ein Teil dieses empirischen Gehaltsüberschusses auch bewährt, d. h. wenn jede neue Theorie uns wirklich zur Entdeckung einer neuen Tatsache führt. Und schließlich heiße eine Problemverschiebung progressiv, wenn sie sowohl theoretisch als auch empirisch progressiv ist, und degenerativ, wenn das nicht der Fall ist. Wir ,akzeptieren' Problemverschiebungen als ,wissenschaftlich' nur dann, wenn sie zumindest theoretisch progressiv sind; sind sie das nicht, dann, verwerfen' wir sie als ,pseudowissenschaftlich'. Fortschritt wird gemessen an dem Grad, in dem eine Problemver-
194
Lakatos, Falsifikation. S. 113.
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C. Theorie und Theoriekontext
schiebung progressiv ist, an dem Grad, in dem die Reihe von Theorien uns zu Entdeckung neuer Tatsachen führt. Wir betrachten eine Theorie in der Reihe als ,falsifiziert', wenn sie durch eine Theorie mit höherem bewährten Gehalt überholt wird.,,195 Da die Falsifikation im Sinne einer Widerlegung durch Konfrontation mit einer erhärteten falsifizierenden Hypothese nichts Entscheidendes im Leben einer Theorie ist, wird der Begriff neu definiert: "Für den raffinierten Falsifikationisten ist eine wissenschaftliche Theorie T falsifiziert dann, und nur dann, wenn eine andere Theorie T mit den folgenden Merkmalen vorgeschlagen wurde: 1/ T besitzt einen Gehaltsüberschuß im Vergleich zu T, d. h. T sagt neuartige Tatsachen voraus, Tatsachen, die im Lichte von T nicht wahrscheinlich, ja verboten waren; 21 T erklärt den früheren Erfolg von T, d. h. der ganze nichtwiderlegte Gehalt von T ist (innerhalb der Grenze des Beobachtungsirrtums) im Gehalt von T' enthalten; und 3/ ein Teil des Gehaltsüberschusses von T ist bewährt."'96 Damit wurde auch mit der von früheren Falsifikationisten überbetonten Bedeutung VOn Widerlegungen für den wissenschaftlichen Fortschritt aufgeräumt. Empirische Widerlegungen stellen lediglich Herausforderungen dar. Entscheidend sind positive Bestätigungen theoretisch progressiver Problemverschiebungen. Es ist anzunehmen, daß für diese Überbetonung "Der Glaube der Deduktionisten, mit dem Falsifikationsprinzip etwas Sichereres in der Hand zu haben als die Induktionisten mit ihrem Verifikationsprinzip",J97 verantwortlich war. Das ist, wie Gerhard Frey zeigt, ein "Trugschluß, denn da auch die Widerlegungen nicht ohne Bestätigungen möglich sind, kann die Gewißheit der Widerlegungen nicht größer sein, als die der Bestätigungen".198 Dadurch, daß im Rahmen dieser Methodologie der Konfrontation der Theorie mit einem erhärteten Basissatz weniger Bedeutung beigemessen wird, erhält die Kritik mehr positive Züge. Empirisch bestätigte Basissätze, die von der Theorie verbotene Ereignisse beschreiben, können nur partielle Wirkung haben, stellen nur Herausforderungen für die Weiterentwicklung der Theorie dar. Sie können aber weder die Probleme lösen, noch sind sie für die Weiterentwicklung der Theorie notwendig. Kritik bedeutet die Produktion theoretisch progressiver Problemverschiebungen und das ist primär eine theoretische Arbeit, sowie die darauf aufbauende empirische Arbeit: die Produktion empirisch progressiver Problemverschiebungen. Die Falsifikation als entscheidender Vorgang bedeutet, daß bei des, theoretisch progressive Problemverschiebung und empirisch progressive Problemverschie-
195 Lakatos, Falsifikation. S. 115 f. 196 Ebd. S. 114. 197 Frey, Wissenschaftliche Begründung bei Carnap und Popper. In: Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart, Bd. 1., Sonderband. Conceptus, Jg. 11, 1977, S. 247. 198 Ebd. S. 242.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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bung, gelungen ist, und damit die alte Theorie einer neuen ..besseren" Theorie weichen mußte. Diese Gedanken werden von Imre Lakatos dann zu einer Methodologie der Forschungsprogramme ausgebaut. l99 Wie wir bereits bei der Darstellung der raffinierten methodologischen Falsifikation gesehen haben, werden sowohl das Abgrenzungskriterium als auch die Falsifikation ausdrücklich auf Theorienreihen bezogen. Die Wissenschaften entwickeln sich nach Irnre Lakatos in Theorienreihen oder Forschungsprogrammen. Ein Forschungsprogramm entsteht, wenn man an einem grundlegenden Gedanken - von Irnre Lakatos als harter Kern des Programms bezeichnet - festhält. Der Kern des Programms kann eine empirische Hypothese sein, aber auch ein im Popperschen Sinne metaphysischer Satz. Ob der harte Kern des Programms aus einem im Popperschen Sinne metaphysischen Satz oder aus einer falsifizierbaren Hypothese besteht, macht für Irnre Lakatos prinzipiell keinen Unterschied, da der harte Kern des Programms auf jeden Fall verteidigt wird. Die Verteidigung des Kerns ist die Aufgabe der negativen Heuristik. Mit negativer Heuristik werden alle Versuche bezeichnet, Gegenevidenzen nachträglich in Bestätigungen zu verwandeln. Sie führen zu Modifikationen der Hilfshypothesen, Beobachtungstheorien oder zur Hinzufügung neuer Anfangsbedingungen, aber am Kern des Programms wird festgehalten. Man kann daher den Kern des Programms daran erkennen, daß an diesem unter allen Umständen festgehaIten wird. Die Aufgabe der negativen Heuristik besteht in der Produktion von einem Schutzgürtel um den Kern des Programms. Charakteristisch für die negative Heuristik des Programms ist ein ,,Nachhinken" der theoretischen Entwicklung auf Grund von Herausforderungen, partiellen Widerlegungen oder Anomalien. Für die Beurteilung dieser Modifikationen ist das bereits vorgestellte Abgrenzungskriterium des raffinierten methodologischen Falsifikationismus anzuwenden: Es wird verlangt, ..daß jeder Schritt des Forschungsprogramms konsequent gehaltsvermehrend sei: Jeder Schritt muß eine konsequent progressive theoretische Problemverschiebung darstellen. Die einzige weitere Forderung ist, daß der Zuwachs an Gehalt sich zumindest gelegentlich im nachhinein bewähre: Das Programm als Ganzes soll auch eine gelegentlich progressive empirische Verschiebung aufweisen.'.200 Dieser mehr passiven, auf Anomalien reagierenden Tätigkeit steht eine andere, positive Heuristik gegenüber. Die positive Heuristik ist mehr eine aktive, auf die Entwicklung des Forschungsprogramms gerichtete Tätigkeit, wobei man unabhängig von vorhandenen oder nicht vorhandenen Anomalien, im voraus planend, positive Problemverschiebungen produziert und sogar zeitweise offensichtliche Anomalien ignoriert in der Hoffnung, mit der Zeit durch die
199
200
Vgl. Lakatos, Falsifikation. S. 129 ff. Ebd. S. 131.
8 Meleghy
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C. Theorie und Theoriekontext
fortwährend erzeugten positiven Problemverschiebungen diese Anomalien eliminieren zu können. "So erklärt die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme die relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft: eine historische Tatsache, deren Rationalität die früheren Falsifikationisten nicht zu erklären vermochten. Die Probleme, die Wissenschaftler auswählen, werden bestimmt durch die positive Heuristik des Programms und nicht durch psychologisch beunruhigende (oder technologisch dringende) Anomalien."20' Wir haben bereits im Rahmen des raffinierten methodologischen Falsifikationismus gesehen, daß innerhalb eines Forschungsprogramms oder einer Theorienreihe eine Theorie durch eine "bessere" Theorie eliminiert wird. Wie werden aber ganze Forschungsprogramme eliminiert? "Ein Forschungsprogramm schreitet fort, solange sein theoretisches Wachstum sein empirisches Wachstum antizipiert, d. h. solange es neue Tatsachen mit einigem Erfolg vorhergesagt (.progressive Problem verschiebung '); es stagniert, wenn es nur Post-hoc-Erklärungen entweder von Zufallserscheinungen oder von Tatsachen gibt, die von einem konkurrierenden Programm antizipiert und entdeckt worden sind (.degenerierende Problemverschiebung '). Ein Forschungsprogramm, das mehr als sein Rivale auf progressive Weise erklärt, ,hebt' diesen Rivalen ,auf' und der Rivale kann eliminiert (oder wenn man will ,zur Seite gestellt') werden."202 Freilich kann der Vorgang, der zur Eliminierung eines degenerierenden Forschungsprogramms führt, langwierig sein und es kann sogar vorkommen, daß nach einer langen Phase der Degeneration plötzlich - durch die Berücksichtigung neuer Ideen - wieder progressive theoretische und empirische Problemverschiebungen produziert werden. Kennzeichnend für die Methodologie der Forschungsprogramme von Imre Lakatos ist, daß hier Fragen und Probleme der normalwissenschaftIichen Forschung und Fragen und Probleme im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Revolutionen behandelt, aber gleichzeitig konsequent auseinandergehalten werden. Ausgehend von der bereits von Kar! Popper konstatierten begrenzten Anwendbarkeit der dritten Popperschen Überprüfungsart (Gehaltsvergleich) beziehen sich die von ihm vorgeschlagenen Regeln zunächst auf die Bewertung der Entwicklung von Theorienreihen, also auf normalwissenschaftliche Fragestellungen. Mit Hilfe einer spezifischen Kombination der dritten und vierten Popperschen Überprüfungsarten (Gehaltsvergleich und empirischer Test des überschüssigen Informationsgehaltes) konstatiert man bei der Entwicklung von Theorien positive Fortschritte oder Degenerationserscheinungen. Diese dynamische Betrachtungsweise ist auch der Schlüssel für die Beurteilung wissenschaftlicher Revolutionen, bzw. der Ergebnisse wissenschaftlicher Revolutio-
201
202
Lakntos, Falsifikation. S. 134. Lakntos, Geschichte. S. 281 f.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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nen. Wenn die Theorienreihe im Rahmen des alten Paradigmas sich nicht mehr positiv entwickelt, also keine neuen positiven progressiven theoretischen und empirischen Problemverschiebungen konstatieren lassen, sondern auf Grund des Auftauchens von Anomalien immer mehr zurückgedrängt wird, während im Rahmen eines neuen Paradigmas immer mehr Fortschritte erzielt werden, so wird das alte Paradigma mit der Zeit einfach überholt und damit aufgehoben. Die Bewertung der Kontextebene, der Ebene des metaphysischen Weltbildes oder der Ebene der metaphysischen Kerne von Forschungsprogrammen erfolgt hier indirekt über die Bewertung der Theorienreihen, die sich innerhalb des betreffenden Kontextes entwickeln. Man vergleicht hier letztlich die Fruchtbarkeit oder Problemlösungskapazität von verschiedenen Kontexten. Womit wir bei der bereits bekannten Frage wären, ob bei diesem Vergleich die tatsächlich demonstrierten, oder die voraussichtlichen oder potentiellen Problemlösungskapazitäten miteinander verglichen werden sollten, eine Frage, bei der die Kritik von Paul Feyerabend, wie wir noch sehen werden, tatsächlich auch einsetzt.
3. Folgen für die Methodologie Karl Popper hat später darauf hingewiesen,203 daß die hier behandelten methodologischen Probleme ihm ja durchaus bekannt waren. So hätte er doch bereits in der ,,Logik der Forschung,,204 im Zusammenhang mit der vierten Überprüfungsart geschrieben, eine Theorie gelte nur solange als bewährt, bis sie empirischen Nachprüfungen standhält "und durch die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft nicht überholt wird".205 Was er mit dem Terminus "überholt" meinte, wurde von ihm in dem später zur ,,Logik der Forschung" hinzugefügten ,,Postscript" expliziert: "Bewährte Theorien können nur von allgemeineren, d. h. von solchen besser prütbaren Theorien überholt werden, die die bereits früher bewährten zumindest in Annäherung enthalten.,,206 Er hätte später auch darauf hingewiesen, daß eine Theorie nach einer Falsifikation ja nicht unbedingt aufgegeben werden muß. Nach der Falsifikation soll allerdings zunächst eine "bessere" Theorie gesucht werden: "Eine solche muß nicht nur da erfolgreich sein, wo es ihr Vorgänger war, sondern auch da, wo er versagt, d. h. wo er widerlegt wurde. Ist die neue Theorie auf beiden Gebieten erfolgreich, so ist sie auf jeden Fall erfolgreicher und damit ,besser' als die
203 Vgl. Popper, Replies to my critics. In: Paul A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Karl Popper. Bd. 11 La SaUe, Illinois: Open Court 1974. 204 Vgl. Popper, Logik der Forschung. 205 Ebd. S. 8. 206 Ebd. S. 221.
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C. Theorie und Theoriekontext
alte."21Y7 "Nichts kann natürlich garantieren, daß wir zu jeder falsifizierten Theorie einen ,besseren' Nachfolger oder eine bessere Näherung finden.,,208 Findet man nun keine "bessere" neue Theorie, wird man die Falsifikation akzeptieren, den Geltungsbereich der Theorie entsprechend einengen und mit der Theorie weiterarbeiten. 209 Er hätte auch darauf hingewiesen, daß es durchaus zweckmäßig sein kann, an einer falsifizierten Theorie, zumindest eine Zeit lang, festzuhalten: "Gleichzeitig erkannte ich auch den Wert einer dogmatischen Haltung: es muß auch Verteidiger einer Theorie geben, sonst fällt sie zu früh, ohne zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen zu können. ,,210 Er hätte auch ausdrücklich und wiederholt auf die bedeutende Rolle von metaphysischen Weltbildern für die wissenschaftliche Entwicklung hingewiesen. Tatsächlich hat Karl Popper in der ,,Logik der Forschung,,211 auf die metaphysische Qualität des "Kausalgesetzes" hingewiesen, aber auch auf die bedeutende Rolle des Kausalgesetzes für die Wissenschaft als fruchtbare Heuristik. Verbirgt sich hinter dem "Kausalsatz" oder "Kausalgesetz" die Auffassung, "die Welt sei von strengen Gesetzen beherrscht, sie sei so gebaut, daß jeder Vorgang Sonderfall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit ist (oder dgl.), so ist der Satz synthetisch, aber, wie wir noch später sehen werden, nicht falsifizierbar; wir werden ihn also weder vertreten noch bestreiten, sondern uns damit begnügen, ihn als ,metaphysisch' aus der Wissenschaft auszuschalten".212 Dieses Ausschalten bedeutet aber nicht, daß der Kausalsatz für die Wissenschaft belanglos wäre. Karl Popper sieht genau, daß die Tätigkeit der Wissenschaftler, die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, nur dann sinnvoll ist, wenn man glaubt, daß die Phänomene der Welt erklärbar sind bzw. begreitbare Ursachen haben. Daher wird von ihm der zuvor als metaphysisch qualifizierte und daher aus dem Korpus der Wissenschaft ausgeschiedene Kausalsatz als eine heuristische Regel, als eine Norm eingeführt: "Wir werden jedoch eine einfache methodologische Regel aufstellen, die dem ,Kausalsatz' weitgehend analog ist (dieser kann als ihr metaphysisches Korrelat aufgefaßt werden), nämlich die Regel, das Suchen nach Gesetzen, nach einem einheitlichen Theoriensystem nicht einzustellen und gegenüber keinem Vorgang, den wir beschreiben können, zu resignieren.,,213
2IY7 Popper, Objektive Erkenntnis. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 26. 208 Ebd. S. 29. 209 Vgl. auch Popper, Replies. S. 1009. 210 Popper, Objektive Erkenntnis. S. 42. 211 Vgl. Popper, Logik der Forschung. 212 Ebd. S. 33. 213 Popper. Logik der Forschung. S. 33.
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Trotz dieser Zugeständnisse oder Parallelen zu Thomas Kuhn und Imre Lakatos, was etwa die begrenzte Wirkung einzelner Falsifikationen, die Notwendigkeit einer dynamischen Betrachtung des Falsifikationsvorganges im Sinne des "Überholens", die Zweckmäßigkeit des ,,Abwartens" und ,,Ausharrens" und was die Bedeutung von metaphysischen Weltbildern oder Heuristiken betrifft, beharrt Karl Popper auf eine strikte Trennung zwischen heuristischen Regeln bzw. metaphysischen Weltbildern einerseits und empirisch wissenschaftlichen Theorien andererseits, d. h. auf eine strikte Trennung zwischen Kontext und Theorie, mit der Konsequenz, daß der metaphysische Weltbildhintergrund aus der methodologischen Betrachtung weiterhin systematisch ausgeblendet wird. Gegenstand der Methodologie soll weiterhin nur die Begründbarkeit bereits vorgeschlagener Satzsysteme sein. 214 Karl Popper besteht damit weiterhin auf die Trennung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang oder auf eine Trennung zwischen Kontext der Entdeckung und Kontext der Begründung, eine analytische Trennlinie, die von Thomas Kuhn untergraben und von Imre Lakatos neu gezogen wurde. Auch Imre Lakatos ist für eine klare Trennung zwischen methodologischen Regeln und heuristischen Ratschlägen. Bewertet werden aber nicht Satzsysteme wie bei Kar! Popper, sondern ganze Forschungsprogramme. Wer nun die besseren methodologischen Regeln habe, das sei nach Imre Lakatos durch eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte entscheidbar. Was versteht Imre Lakatos unter rationaler Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte? Eine rationale Rekonstruktion setzt voraus, daß wir uns bei der Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte an methodologischen Regeln orientieren. Wir werden dann finden, daß einige Ereignisse sich unserer Methodologie fügen; d. h. wir können Ereignisse mit Hilfe dieser Methodologie deuten (interne Geschichte). Andere Ereignisse sind auf Grundlage dieser Regeln nicht deutbar, bzw. nur extern durch psychologische oder soziologische Theorien oder eben überhaupt nicht; d. h. die Wissenschaftler verhalten sich im Lichte der Regeln dieser Methodologie irrational (externe Geschichte). Für die Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte wählen wir verschiedene Methodologien. Die beste Methodologie ist die, der sich die Geschichte fügt; d. h. die Ereignisse, positive Erfolge wie unfruchtbar Wege, können intern im Rahmen der Regeln dieser Methodologie rekonstruiert werden. Nach Imre Lakatos kommt man allerdings nie ohne externe Geschichte aus. Die bessere Methodologie ist daher die, die in geringstem Umfang auf externe Faktoren zurückgreifen muß. So kann das Wirken metaphysischer Grundannahmen innerhalb der Popperschen Methodologie nur extern als irrationaler Glaube, als einflußreiche Metaphysik gedeutet werden. Im Rahmen der Metho-
214
Vgl. Popper, Replies. S. 984.
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c. Theorie und Theoriekontext
dologie der Forschungsprogramme gehören diese Grundannahmen zum harten Kern des Programms. 215 Das bedeutet aber nicht, daß die Geschichte gleich ihrer rationalen Rekonstruktion ist, auch dann nicht, wenn wir alle Ereignisse intern erklären könnten, sondern nur, daß wir die Geschichte als regelhaft interpretieren können. Je mehr es uns gelingt, die Wissenschaftsgeschichte als regelhaft zu interpretieren, desto mehr können wir aus der Geschichte lernen. Daher soll nach Imre Lakatos der Prüfstein einer Methodologie die rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte sein. 216 Darüber, wie die Wissenschaften sich entwickeln, sind die Meinungen der drei Autoren, Paul Feyerabend, Thomas Kuhn und Imre Lakatos, sehr ähnlich. So schreibt Thomas Kuhn in einer Besprechung der Artikel von Imre LakatoS: 211
"lch darf zum Abschluß feststeHen, daß ich keinen einzigen Aufsatz zur wissenschaftlichen Methode gelesen haben, der in seinem Ansichten so eng paraHelläuft zu meinen eigenen, und ich bin entsprechend ermutigt durch diese Entdeckung, d~nn das kann bedeuten, daß ich in Zukunft nicht so aHein sein werde in der methodologisehen Arena wie in der Vergangenheit."m Diese Ähnlichkeit der Ansichten der beiden Autoren wird besonders deutlich, wenn man die Rekonstruktion des Kuhnschen Werkes durch Wolfgang Stegmüller219 mit den Artikeln von Lakatos220 vergleicht. Auch Paul Feyerabend stimmt mit dem Großteil der Ausführungen von Imre Lakatos überein. 221 Paul Feyerabend und Thomas Kuhn meinen einerseits, daß die wissenschaftliche Entwicklung so oder zumindest ähnlich verläuft, wie Imre Lakatos sie darstellt, andererseits meinen die Autoren, Imre Lakatos hätte jedoch nicht halten können, was er versprochen habe, nämlich die Formulierung von ,,Regeln für die ,Elimination' ganzer Forschungsprogramme".222 Denn wann soll nach Imre Lakatos ein Forschungsprograrnm endgültig elimi-
Vgl. Lakatos, Geschichte. S. 280. Vgl. ebd. 211 Vgl. Lakatos, Falsifikation und Lakatos, Geschichte. 218 Kuhn, Bemerkungen zu Lakatos. In: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig: Vieweg 1974, S. 312 f. 219 Vgl. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Band 11. Stuttgart: Kröner 1975, S. 484 ff. 220 Vgl. Lakatos, Falsifikation und Lakatos, Geschichte. 221 .. . • Vgl. Feyerabend, Kuhns Struktur; Feyerabend, Uber elOen neueren Versuch, die Vernunft zu retten. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderband 18: Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1975 und Feyerabend, Wider den Methodenzwang - Skizze einer anarchistischen Erkenntistheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 252 ff. 222 Lakatos, Geschichte. S. 281. 215
216
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niert werden? Oder wann ist das eingetreten, worüber Imre Lakatos schreibt: ,,Ein Forschungsprogramm, das mehr als sein Rivale auf positive Weise erklärt, ,hebt' diesen Rivalen ,auf' und der Rivale kann eliminiert (oder wenn man will, ,zur Seite gestellt') werden,,?223 Statt nun Regeln anzugeben, wann ein Forschungsprogramrn zu eliminieren sei, schreibt Imre Lakatos: ,,Man muß einsehen, daß auch ein weit zurückgebliebener Gegner noch immer ein Comeback erleben kann. Kein Vorteil für eine Seite darf jemals als absolut gültig angesehen werden.'.224 An einer anderen Stelle schreibt er: ,,Man kann rational an einem degenerierenden Programm festhalten, bis es von einem Rivalen überholt ist, und sogar noch nachher. ,,225 Das ist folgerichtig, da wir nach Imre Lakatos nie wissen können, wann ein Forschungsprogramm sich erholt und wieder progressive Problemverschiebungen produziert. Paul Feyerabend meint dazu, "daß Maßstäbe dieser Art nur dann praktisch wirksam sind, wenn man sie mit einer Zeitgrenze verbindet (was zunächst wie eine degenerative Problemverschiebung aussieht, kann der Beginn einer viel längeren Periode des Fortschritts sein)"; und: "Ist es einmal erlaubt zu warten, warum sollte man dann nicht auch etwas länger warten?,.226 Wenn auch Imre Lakatos keine Zeitgrenze angibt: "Ich gebe keine solche Zeitgrenze an",227 möchte er dieses Warten und Festhalten an einem degenerierenden Forschungsprogramm doch eingrenzen. Sein Vorschlag dazu ist: "Herausgeber wissenschaftlicher Journale sollten sich weigern, ihre Aufsätze zu publizieren, die im allgemeinen nicht mehr enthalten werden als feierliche Wiederholungen ihrer Position oder Absorption der Gegenevidenz (und selbst der konkurrierenden Programme) mit Hilfe von ad-hoc-linguistischen Adjustierungen. Auch Forschungsstiftungen sollten sich weigern, Geld zu diesen Zwecken zu gewähren.,,228 Zu diesem hier offerierten Vorschlag von Imre Lakatos, wie man degenerierende Forschungsprogramme doch eliminieren kann, meint Paul Feyerabend: "Selbst eine völlige und vorbehaltlose Akzeptierung dieser Methodologie schafft keine Probleme für den Anarchisten, der ja nicht leugnet, daß methodologische Regeln mit Hilfe von Drohungen, Einschüchterungen und Täuschung durchgesetzt werden können und es gewöhnlich auch werden ...229 Da Imre Lakatos keine Regeln angibt, wie ein Wissenschaftler in einer bestimmten Situation handeln soll, kann er die Regeln der Methodologie der Forschungsprogramme einhalten und trotzdem tun, was ihm beliebt. Und ob er ein degenerierendes Forschungsprogramm aufgibt oder daran festhält, ist gleich, 223 Lakatos, Geschichte. S. 281 f. 224 Ebd. S. 283. 225 Ebd. S. 286. 226 Feyerabend, Kuhns Struktur. S. 208. 227 Lakatos. Geschichte. S. 286. 228 Ebd. S. 286 f. 229 Feyerabend, Über einen neueren Versuch. S. 490.
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C. Theorie und Theoriekontext
denn im Lichte dieser Regeln ist bei des rational. Die Akzeptierung dieser Regeln bedeutet nach Paul Feyerabend die Abschaffung der Regeln, da nach diesen Regeln jeder tun kann, was er will. ,,Es folgt, daß es zwischen Lakatos und mir keinen ,vernünftig' beschreibbaren Unterschied gibt ... ", es gibt lediglich "einen großen Unterschied in der Rhetorik".230 Imre Lakatos meint, daß Thomas Kuhn und Paul Feyerabend offensichtlich zwei Dinge vermengen. Er habe methodologische Regeln für die Bewertung eines Forschungsprogrammes geliefert?3] Wir können dadurch Forschungsprogramme "in bezug auf ihr heuristisches Potential bewerten: wie viele neue Tatsachen haben sie produziert, wie groß war ,ihre Fähigkeit, Widerlegung im Verlauf ihres Wachstums zu erklären,?,,232 Die Methodologie der Forschungsprogramme liefert keine "Regeln, mit deren Hilfe man Lösungen erreicht, sondern nur noch Hinweise für die Bewertung bereits vorhandener Lösungen. So wird die Methodologie von der Heuristik getrennt, in ähnlicher Weise, wie man Werturteile von Sollsätzen trennt. ,,233 Diese Regeln sollten von "harten heuristischen Ratschlägen über auszuführende Handlungen" getrennt werden. 234 Wenn er damit seine "Regeln für die ,Elimination' ganzer Forschungsprogramme,,235 meint, sind diese allerdings so "weich", daß selbst ein erklärter erkenntnistheoretischer Anarchist wie Paul Feyerabend sie akzeptieren kann. Abgesehen vom Problem der sogenannten Inkommensurabilität von Theorien konkurrierender Forschungsprogramme (oder in der Sprache von Kuhn Paradigmen), worunter verstanden wird, daß durch die unterschiedlichen Begriffsinhalte der verwendeten Begriffe auch eine Unvergleichbarkeit der empirischen Resultate folgt,236 worauf hier vorerst nicht weiter eingegangen wird, scheinen Thomas Kuhn und Paul Feyerabend wenig Schwierigkeiten zu haben, die Methodologie von Imre Lakatos zu akzeptieren. Die Kritik konzentriert sich hauptsächlich auf die heuristischen Ratschläge über die Eliminierung von Forschungsprogrammen, bzw. darauf, daß Imre Lakatos sein Versprechen, solche anzugeben, nicht einlösen konnte. Die Kritik von Thomas Kuhn und Paul Feyerabend hat zwei Gesichter. Einerseits wird begrüßt, daß er für einen theoretischen Pluralismus (',Ein ,theore-
230 Feyerabend, Wider den Methodenzwang. S. 259. 23] Vgl. Lakatos, Geschichte. S. 286. 232 Lakatos, Falsifikation. S. 133. 233 Lakatos, Geschichte. S. 272; vgl. auch ebd. S. 286. 234 Vgl. ebd. S. 286. 235 Ebd. S. 281. 236 Vgl. Feyerabend, Explanation, Reduction and Empiricism. In: FeigUMaxwell (Eds.), Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. IlI, Scientific Explanation, Space and Time. Minneapolis: University of Minnesota Press 1962; Feyerabend, Kuhns Struktur; Feyerabend, Wider den Methodenzwang; Kuhn. Die Struktur; Kuhn, Die Entstehung des Neuen - Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 45 sowie Hempel.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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tischer Pluralismus' ist besser als ein ,theoretischer Monismus' ,,)237 und für Toleranz eintritt ("kein Vorteil für eine Seite darf jemals als absolut endgültig angesehen werden",238 andererseits wird gerade dieser Liberalismus kritisiert. Der Leitsatz dieser Methodologie - " ,eine Atempause zu gewähren' - und die Argumente für liberale Maßstäbe zur Beurteilung von Theorien behindern die Angabe von Bedingungen, unter denen ein Forschungsprogramm aufgegeben werden müßte oder seine weitere Unterstützung unvernünftig würde.'.239 Soweit eine kurze Skizze der Kontroverse, wobei ein wichtiges Problem, nämlich ob die Regeln von Imre Lakatos erst im nachhinein für die Beurteilung einer Theorie angewendet werden können, für später aufgehoben wurde. Will man nun Imre Lakatos gegen diese Vorwürfe verteidigen, scheint es zweckmäßig zu sein, wenn wir zugeben, daß Paul Feyerabend recht hat, wenn er meint, seine Rhetorik hätte ihn zu weit geführt,240 als er versprochen hatte, Regeln für die Eliminierung ganzer Forschungsprogramme bereitzustellen. Wahrscheinlich hat Paul Feyerabend recht, daß dieses Versprechen ein Relikt des Popperschen Falsifikationismus ist und "er sich noch nicht an seine eigenen liberalen Vorschläge gewöhnt hat.',241 Die Forderung nach Eliminierung oder Beseitigung hat eine lange Tradition: "Der Induktionismus will Theorien beseitigen, denen die empirische Stützung fehlt. Der Falsifikationismus will Theorien beseitigen, die keinen über den ihrer Vorgänger hinausgehenden empirischen Gehalt haben. Jedermann will Theorien beseitigen, die widersprüchlich sind oder wenig empirischen Gehalt haben ...242 Aber was sol1 die ,,Eliminierung" oder "Beseitigung" eigentlich bedeuten? Wenn man darunter nicht Bücherverbrennungen versteht, können Theorien, soweit sie publiziert wurden, nicht "eliminiert" werden. Sie können höchstens " ,zur Seite gestellt' werden".243 Wenn aber Theorien nicht eliminiert, sondern nur zur Seite gestellt werden, können sie immer wieder neu aufgegriffen werden. Die Methodologie der Forschungsprogramme hat, wie wir gesehen haben, keine Regeln gegeben, wie man Forschungsprogramme eliminiert, auch nicht, wann diese zur Seite gestel1t werden sollen. Dadurch können wir mit Paul Feyerabend die Wissenschaftsgeschichte und die aktuelle Wissenschaft als eine Einheit betrachten. "Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Die gesamte Geistesgeschichte wird in die Wissen-
Lakatos, Falsifikation. S. 150. Lakatos, Geschichte. S. 283; vgl. auch Lakatos, Falsifikation. S. 152. 239 Feyerabend, Wider den Methodenzwang. S. 257 ff. 240 Vgl. ebd. S. 257 ff. 241 Ebd. S. 257. 242 Ebd. S. 258. 243 Lakatos, Geschichte. S. 282. 237 238
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c. Theorie und Theoriekontext
schaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet.,,244 Eine wichtige Frage ist, ob man Paul Feyerabend soweit folgen kann, ohne die Sinnlosigkeit aIIer methodologischen Regeln akzeptieren zu müssen. Die von Paul Feyerabend geforderte und durch die konsequente Anwendung der Regeln der Methodologie der Forschungsprogramme implizierte Einheit von Wissenschaftsgeschichte und aktueIIer Wissenschaft soII es möglich machen, daß aIle Ideen der Geistesgeschichte für die Verbesserung und Entwicklung von Theorien mobilisiert werden. Aber wie soII man entscheiden, ob es uns gelungen ist, ..bessere" Theorien zu formulieren, oder ob eine neu vorgelegte Version einer Theorie gegenüber ihrem Vorgänger eine Verbesserung darsteIIt? Die Methodologie der Forschungsprogramme enthält solche Regeln. Sie gibt zwar keine heuristischen Regeln, wie die Wissenschaftler in einer konkreten Situation handeln soIIen - wann etwa ein degenerierendes Forschungsprogramm aufgegeben werden soII - aber sie gibt Regeln für die Beurteilung bereits artikulierter Theorien. Eine Frage, die hier von Bedeutung ist, haben wir bisher noch nicht behandelt: Können wir auf Grund der Regeln der Methodologie der Forschungsprogramme entscheiden, ob eine neu vorgelegte Theorie gegenüber ihrer Vorgängerin eine Verbesserung darsteIIt oder ist uns das nur im nachhinein aus einer geschichtlichen Distanz möglich? Wenn wir diese Regeln nur im Nachhinein anwenden können, d. h. nur für die Rekonstruktion der Wissenschafts geschichte, dann müssen wir den Kritikern zustimmen, daß Imre Lakatos uns relativ wenig mitgeteilt hat, was die aktueIle praktische Tätigkeit der Wissenschaftler betrifft (angenommen die Tätigkeit der Geschichtswissenschaftler). Er hat uns aber doch etwas durchaus Praktisches gegeben, wenn diese Regeln auf eine neu vorgelegte Theorie angewendet werden können. Wir werden damit zusammenhängend noch die Frage erörtern, welche Konsequenzen für den Vergleich zweier Forschungsprogramme aus dem Umstand resultieren, daß die Methodologie der Forschungsprogramme keine Regeln bereitsteIlt, wann Forschungsprogramme zur Seite gesteIlt gehören. Wir finden bei Imre Lakatos auf die erste Frage mehrere und recht unterschiedliche Antworten. An einigen SteIlen schreibt er ausdrücklich, daß eine Bewertung nur im nachhinein möglich ist: "Aber das Kriterium des ,heuristischen Potentials' hängt weitgehend davon ab, wie wir die ,Neuartigkeit von Tatsachen' auslegen. Wir haben bisher angenommen, daß die Neuartigkeit der von einer neuen Theorie vorausgesagten Tatsachen sich sofort feststellen läßt. Aber die Neuartigkeit eines Tatsachensatzes kann oft erst nach einer langen Zeitspanne gesehen werden. "245
244 245
Feyerabend, Wider den Methodenzwang. S. 69. Lakatos, Falsifikation. S. 15\.
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"Diese Überlegungen machen aufs neue klar, daß viele unserer Bewertungen erst im Nachhinein gegeben werden können."m Hier geht es aber ausdrücklich um die Bewertung der Programme hinsichtlich ihres heuristischen Potentials. Hier geht es um die Frage: "Wie viele neue Tatsachen haben sie produziert; wie groß war ,ihre Fähigkeit, Widerlegungen im Verlauf ihres Wachstums zu erklären,?,.247 Daher fordert Irore Lakatos: "die Liste der Erfolge und der Mißerfolge der konkurrierenden Programme muß aufgezeichnet und zu allen Zeiten öffentlich vorgelegt werden. ,,248 Damit soll ein Vergleich konkurrierender Forschungsprogramme möglich werden. Das ist aber, wie Imre Lakatos es selbst schreibt, nur aus einer historischen Perspektive möglich. Das Kriterium der Methodologie der Forschungsprogramme für progressive und degenerierende Problemverschiebungen ist auf einen Vergleich der Forschungsprogramme hinsichtlich ihres heuristischen Potentials ausgelegt. "Ein Forschungsprogramm schreitet fort, solange sein theoretisches Wachstum sein empirisches Wachstum antizipiert, d. h. solange es neue Tatsachen mit einigem Erfolg vorhersagt (,progressive Problemverschiebung '); es stagniert, wenn sein theoretisches Wachstum hinter seinem empirischen Wachstum zurückbleibt, d. h. wenn es nur Post-hoc-Erklärungen entweder von Zufallsentdeckungen oder von Tatsachen gibt, die von einem konkurrierenden Programm antizipiert und entdeckt worden sind (,degenerierende Problem verschiebung '). "249 Dieses sehr strenge Kriterium verlangt ausdrücklich, daß neue oder zumindest neuartige Tatsachen vorhergesagt werden. Aber nicht etwa innerhalb eines Forschungsprogramms, sondern etwas Neuartiges im Sinne von "noch nie dagewesen", eine Neuartigkeit der Tatsachen, die noch von keinem Programm antizipiert wurde. ,Jn dieser Methodologie ist es ja für eine rationale Beurteilung höchst wichtig zu wissen, welches Programm eine neuartige Tatsache zuerst antizipiert hat und welches sich die nunmehr alte Tatsache erst später einverleibt hat. ,.250 Da, wie Imre Lakatos gezeigt hat, die Neuheit oder Neuartigkeit einer Tatsache oft erst später erkennbar ist, ist dieser Vergleich erst im Nachhinein möglich. Wenn es um ,junge" Forschungsprogramme geht, ist Imre Lakatos aber viel toleranter: "Ein neues Forschungsprogramm, das eben erst in den Wettstreit eingetreten ist, mag damit beginnen, daß es ,alte' Tatsachen auf neue Weise erklärt, aber es kann lange
246 Lakntos, Falsifikation. S. 151. 247 Ebd. S. 133. 248 Lakntos, Geschichte. S. 283. 249 Ebd. S. 281. 250 Lakntos, Geschichte. S. 285.
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C. Theorie und Theoriekontext
Zeit in Anspruch nehmen, bevor man ihm die Produktion, wirklich neuer' Tatsachen zugesteht,,251.
"Es ist darum nicht ratsam, ein in früherem Wachstum begriffenes Forschungsprogramm schon darum beiseite zu schieben, weil es ihm nicht gelungen ist, einen mächtigen Rivalen zu überholen. Wir dürfen es nicht aufgeben, wenn es in Abwesenheit seines Rivalen eine progressive Problemverschiebung dargestellt hätte. Und eine neu interpretierte Tatsache muß ganz sicher als eine neue Tatsache gelten, ohne Rücksicht auf die unverschämten Prioritätsansprüche amateurhafter Tatsachensammler. Ein junges Forschungsprogramm, das sich rational als eine progressive Problemverschiebung rekonstruieren läßt, sollte für eine Weile vor einem mächtigen etablierten Rivalen geschützt werden. ,,252 Innerhalb der Methodologie der Forschungsprogramme betrachtet Imre Lakatos diese Periode als "Schonzeit" und damit - allerdings sehr vorsichtig - als nicht ganz wissenschaftlich: "Man könnte - mit Vorsicht - diese geschützte Periode der Entwicklung als, vorwissenschaftlich' (oder ,theoretisch') ansehen und erst dann bereit. sein, seinen wahrhaft ,wissenschaftlichen ' (oder ,empirischen ') Charakter anzuerkennen, wenn es beginnt, ,wirklich neue' Tatsachen zu produzieren, aber in diesem Fall muß die Anerkennung rückwirkend geschehen. ,,253 Hier wird keine neue oder neuartige Tatsache, sondern nur eine neue Erklärungsweise gefordert. Hier wird nur gefordert, daß die Erklärung innerhalb des Forschungsprogramms eine progressive Problemverschiebung darstellt und zwar unabhängig von der Frage, daß die so erklärte Tatsache innerhalb anderer Forschungsprogramme bereits antizipiert wurde. Hier wird offensichtlich nicht das strenge Kriterium der Methodologie der Forschungsprogramme, sondern das schwächere Kriterium des raffinierten methodologischen Falsifikationismus für die Bewertung herangezogen. Dieses Kriterium wird aber ausdrücklich auf eine Reihe von Theorien oder auf ein Forschungsprogramm bezogen: "Wir nennen eine solche Reihe von Theorien theoretisch progressiv (die Reihe ,bildet eine theoretisch progressive Problemverschiebung '), wenn jede neue Theorie einen empirischen Gehaltsüberschuß ihrer Vorläuferin gegenüber besitzt ... Wir nennen eine theoretisch progressive Reihe von Theorien auch empirisch progressiv (die Reihe ,bildet eine empirisch progressive Problemverschiebung '), wenn sich ein Teil dieses empirischen Gehaltsüberschusses auch bewährt ... Und schließlich heiße eine Problemverschiebung progressiv, wenn sie sowohl theoretisch als auch empirisch
251 Ebd. S. 152. 252 Ebd. S. 152. 253 Ebd. S. 152, Fußnote 264.
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progressiv ist ... Wir ,akzeptieren' Problemverschiebungen als ,wissenschaftlich' nur dann, wenn sie zumindest theoretisch progressiv sind .. ?54.
Die Wissenschaftlichkeit wird hier bereits dann zugebilligt, wenn eine theoretisch progressive Problemverschiebung eingetreten ist. Eine theoretisch progressive Problemverschiebung bedeutet, daß die neue Theorie gegenüber ihrer Vorgängerin einen Überschuß an empirischem Gehalt besitzt. Und dies "kann sofort durch eine apriori logische Analyse nachgeprüft werden.,,255 Hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen, wobei Imre Lakatos gegenüber jungen Forschungsprogrammen viel toleranter ist als gegenüber alten oder etablierten. Aber was sind junge Forschungsprogramme? Sind einmal zur Seite gestellte Forschungsprogramme, wenn sie neu aufgegriffen werden, jung oder alt? Wenn auch im Rahmen dieser Methodologie keine Regel existiert, wann Forschungsprogramme zur Seite gestellt gehören, ist es doch eine empirische Tatsache, daß nicht alle jemals verfolgten Programme zum aktuellen Stand der Wissenschaft gehören, sondern zur Geschichte der Wissenschaft verwiesen wurden. Von dort können sie allerdings jederzeit hervorgeholt werden. Oder: Ist ein ehemals sehr erfolgreiches Forschungsprogramm, welches nach einer längeren Phase der Degeneration neu aufblüht, jung und alt? Da nur wenige Gedanken wirklich neu sind, und wenn man nur lange genug sucht, immer einen geistigen Vorfahren in der Wissenschaftsgeschichte finden wird, scheint die Frage, ob ein Forschungsprogramm jung oder alt ist, müßig. Wenn man das akzeptieren kann, erscheint die Vorgangsweise von Imre Lakatos, eine Unterscheidung zwischen alten und neuen Forschungsprogrammen einzuführen und unterschiedliche Kriterien für ihre Beurteilung vorzuschlagen, recht willkürlich. Demnach haben wir zwei Kriterien. Das strenge Kriterium der Methodologie der Forschungsprogramme ist aber nur im nachhinein anwendbar und selbst diese nachträgliche Bewertung ist vorläufig, da ein Forschungsprogramm immer neu aufgegriffen werden und dadurch neue Tatsachen produzieren kann. Das schwächere Kriterium des raffinierten methodologischen Falsifikationismus können wir dagegen sofort anwenden. Dieses schwächere Kriterium ist aber nur für den Vergleich zweier Theorien aus derselben Theorienreihe oder aus demselben Forschungsprogramm anwendbar. Akzeptiert man, daß eine Bewertung von Forschungsprogrammen hinsichtlich ihres heuristischen Potentials nur aus einer geschichtlichen Perspektive möglich ist, wird deutlich, daß keines der bei den Kriterien für eine aktuelle Bewertung konkurrierender Forschungsprogramme herangezogen werden kann. Aktuell kann nur jedes Forschungsprogramm für sich alleine beurteilt werden.
254 255
Lakatos, Geschichte. S. 115 f. Ebd. S. 113.
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c. Theorie und Theoriekontext
Damit ist aber auch das Problem der Inkommensurabilität gegenstandslos geworden, da dieses Problem nur dann besteht, wenn wir Theorien konkurrierender Forschungsprogramme vergleichen wollen. Dieses Problem stellt sich nur für den Geschichtswissenschaftler, wenn er Forschungsprogramme hinsichtlich ihres heuristischen Potentials bewerten will. Wissenschaftlicher Fortschritt kann damit aktuell nur innerhalb eines Forschungsprogramms als solcher gedeutet werden. Das bedeutet nicht, daß wir zu dem raffinierten Falsifikationismus zurückkehren, sondern nur, daß wir innerhalb der Methodologie der Forschungsprogramme für die aktuelle Bewertung von neu vorgelegten Theorien das Kriterium des raffinierten Falsifikationismus anwenden. In bestimmten Fällen, wenn es sich um ,junge" Forschungsprogramme gehandelt hat, hat das auch Imre Lakatos getan. Da wir uns auch bei der Beurteilung von positiven Problemverschiebungen innerhalb eines Forschungsprogrammes irren können, brechen wir auch hier mit der Vorstellung der Falsifikation, zumindest im Sinne einer endgültigen Falsifikation. Jede nach unserem Urteil überholte Theorie kann jederzeit neu aufgegriffen werden. Wir haben aber Regeln für die Beurteilung neu vorgelegter Theorien innerhalb eines Forschungsprogrammes. Diese Überlegungen führen uns zu einem konsequenten Theorienpluralismus. Damit kann aber Irnre Lakatos nur einverstanden sein, denn "ein ,theoretischer Pluralismus' ist besser als ein ,theoretischer Monismus,.,,256 Nach Imre Lakatos sind die methodologischen Regeln einer normativen Wissenschaftstheorie von heuristischen Ratschlägen zu trennen. Die Methodologie der Forschungsprogramme als normative Wissenschaftstheorie hat Regeln für die Beurteilung bereits artikulierter Theorien bereitgestellt. Diese Regeln haben auch eine präskriptive Wirkung. Das schwächere Kriterium kann als die Aufforderung aufgefaßt werden: ,.produziere progressive Problemverschiebungen. " Das stärkere Kriterium dagegen verlangt: "Produziere neue oder neuartige Tatsachen." Einen weiteren mit den Regeln der Methodologie der Forschungsprogramme vereinbaren heuristischen Ratschlag liefert das Programm von Paul Feyerabend: ,,Die gesamte Geistesgeschichte wird in die Wissenschaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet...257 Die hier vertretene Auffassung kann auch auf eine andere Weise gestützt werden. Wie die folgenden Zitate belegen, waren bereits aus den früheren Veröffentlichungen von Kar! Popper die erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Methodologie erkennbar: ,,Jene Theorie ist bevorzugt, die sich im Wettbewerb, in der Auslese der Theorien am besten behauptet. ..258
Lakatos. Geschichte. S. 150. Feyerabend. Wider den Methodenzwang. S. 69. 258 Popper, Logik der Forschung. S. 73. 256 257
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..... aber wir halten es für keinen Zufall, daß gerade dieser Weg zum Erfolg führte. Er entspricht der Methode der Auslese, die nur dann wirksam ist, wenn die Theorie hinreichend falsifizierbar, hinreichend bestimmt ist, um an der Erfahrung scheitern zu können."259 ..Die Prüfungen führen zur Auswahl der Hypothesen, die die Prüfungen bestanden haben, und zugleich zur Eliminierung derjenigen Hypothesen, die sie nicht bestanden haben und die deshalb verworfen werden. Es ist wichtig, daß man sich der Konsequenzen dieser Auffassung bewußt wird: alle Prüfungen lassen sich als Versuche auffassen, falsche Theorien auszumerzen - die schwachen Punkte einer Theorie zu finden, und sie zu verwerfen, wenn sie durch die Prüfung falsifiziert wird. "260 In späteren Veröffentlichungen stellt Karl Popper seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt ausführlich dar, wobei er ausdrücklich auf seine früheren Aussagen hinweist: ..Das alles läßt sich so ausdrücken, daß der Erkenntnisfortschritt das Ergebnis eines Vorganges ist, der dem sehr ähnlich ist, was Darwin ,natürliche Auslese' nannte; es gibt also eine natürliche Auslese von Hypothesen: unsere Erkenntnis besteht zu jedem Zeitpunkt aus denjenigen Hypothesen, die ihre (relative) Tüchtigkeit dadurch gezeigt haben, daß sie bis dahin in ihrem Existenzkampf überlebt haben, einem Konkurrenzkampf, der die untüchtigen Hypothesen ausmerzt. "261 .. Die Erkenntnistheorie, die ich vorschlagen möchte, ist weitgehend eine darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts. "262 Diese Vorstellung, daß Erkenntnisfortschritt ein Evolutionsprozeß ist, und daß die Evolution des Wissens und die biologische Evolution nach denselben Prinzipien verlaufen, wird auch von anderen Autoren geteilt: ..In the present essay it is also argued that evolution - even in its biological aspects is a knowledge process, and that the natural-selection paradigm for such knowlegde increments can be generalised to other epistemic activities, such as leaming, thought, and science. "263 .. Auch der nach Erkenntnis strebende Mensch geht so vor, daß eine in seinem Inneren vorgefundene Vorstellung, eine in seinem Denken entstandene Hypothese mit der Außenwelt konfrontiert und ,nachschaut, ob sie paßt' .,,264 Für unsere Argumentation müssen wir noch eine hier wichtige Vorstellung von Karl Popper wiedergeben:
Popper, Logik der Forschung. S. 93. Popper, Das Elend des Historizismus. Tübingen: Mohr, 2. Auflage 1969, S. lOS. 261 Popper, Objektive Erkenntnis. S. 288. 262 Ebd. S. 289. 263 Campbell. S. 413. 264 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels - Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977, S. 40. 259
260
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C. Theorie und Theoriekontext
..In dieser pluralistischen Philosophie besteht die Welt aus mindestens drei ontologisch verschiedenen Teilwelten, was ich so ausdrücken werde, daß es drei Welten gibt: als erste die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände; als zweite die Bewußtseinswelt oder die Welt der Bewußtseinszustände; als dritte die Welt der intelligibilia oder der Ideen im objektive Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens: Die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der Argumente an sich; die Welt der Problemsituationen an sich. Eins der Grundprobleme dieser pluralistischen Philosophie ist die Frage der Beziehungen zwischen diesen drei ,Welten'. Die drei Welten hängen so miteinander zusammen, daß die ersten beiden und die letzten beiden aufeinander wirken können. Die zweite Welt, die Welt der subjektiven oder persönlichen Erfahrungen, steht also mit jeder der beiden anderen Welten in Wechselwirkung. Die erste und die dritte Welt können nicht aufeinander wirken, außer durch das Dazwischentreten der zweiten Welt, der Welt der subjektiven oder persönlichen Erfahrungen."2M
Diese dritte Welt der objektiven Gedankeninhalte ist ein Produkt des menschlichen Geistes und damit ein menschliches Produkt. Sie ist eine überindividuelle Welt und ein Teil der menschlichen Kultur. Wir können die dritte Welt als ein lebendiges, sich entwickelndes System betrachten, und die Parallele zur biologischen Evolution drängt sich von selbst auf. Die Betrachtung der dritten Welt zeigt aber, daß wir auch Unterschiede zur biologischen Evolution feststellen können. Die in den oben wiedergegebenen Stellen verwendeten Ausdrücke wie "natürliche Auslese", ,,Existenzkampf', "falsche Theorien ausmerzen" und ,,EIiminierung" haben, wenn wir über die dritte Welt reden, eine andere Bedeutung als in der biologischen Evolutionstheorie. In Bezug auf die dritte Welt können die Ausdrücke wie ,,Eliminierung" und ,,Ausmerzen", wie bereits dargestellt wurde, nur bedeuten, daß bestimmte Theorien zur Geschichte der Wissenschaften verwiesen werden. Durch die Forderung, daß diese Entscheidung endgültig sein müsse, wird im Rahmen des methodologischen Falsifikationismus versucht, die Unerbittlichkeit der biologischen Evolution zu simulieren. Imre Lakatos wollte Regeln angehen, wann ganze Forschungsprogramme zu eliminieren sind. Auch für ihn war die Strenge der biologischen Evolution ein positives Beispiel. Verläuft nun die Evolution der dritten Welt genauso wie die biologische Evolution? Karl Popper scheint teilweise dieser Meinung zu sein, wenn er schreibt: ..Damit möchte ich beschreiben, wie die Erkenntnis tatsächlich fortschreitet. Ich meine es nicht bildlich, obwohl ich Bilder verwende. Die Erkenntistheorie, die ich vorschlagen möchte, ist weitgehend eine darwinistische Theorie des Erkenntnisfortschritts ...266
Objektive Erkenntnis. S. 174. Ebd. S. 289.
265 Popper, 266
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Nun ist es, wie Konrad Lorenz ausführlich begründet, auch in der Biologie nicht möglich, die Eigenschaften höherer Systeme aus den Eigenschaften niedrigerer zu deduzieren. 267 Und es kann sich daher als Fehler erweisen, wenn man die Systemeigenschaften der dritten Welt aus den Eigenschaften niedrigerer Systeme ableiten will. Aber auch nach Karl Popper scheint das überindividuelle System der dritten WeIt andere Systemeigenschaften zu besitzen als biologische Systeme, denn sonst würden wir keine normative Methodologie benötigen, die dafür sorgt, daß unbrauchbare Hypothesen eliminiert werden. Verläuft die Evolution der Wissenschaften genauso wie die biologische Evolution, dann werden unbrauchbare Lösungen ausgemerzt; dann brauchen wir allerdings keine Methodologie, die dafür sorgt, daß falsche Lösungen ausgemerzt werden. Karl Popper und Imre Lakatos meinen aber offensichtlich, daß die dritte Welt andere Systemeigenschaften besitzt als biologische oder ökologische Systeme, denn sie meinen, daß es notwendig sei, Regeln einzuführen, die entscheiden, wann Hypothesen oder Forschungsprogramme eliminiert werden müssen. Die Notwendigkeit von Regeln für die Eliminierung von Theorien oder von Forschungsprogrammen könnte man zunächst negativ zu begründen versuchen. Die Regeln sollen dazu dienen, daß der Konkurrenzkampf von Hypothesen, Theorien oder Forschungsprogrammen nicht behindert wird. Vor allem sollten systemfremde Einflüsse wie politische, ökonomische, weltanschauliche usw. ausgeschaltet werden. Alle Maßnahmen und Bestrebungen, die geeignet sind, den Konkurrenzkampf zu unterbinden, müssen bekämpft werden. (Diese Gedanken und die einzelnen Vorschläge für die Realisierung dieses Zustandes sind aus der klassischen Ökonomie bekannt). Auf dieser Grundlage kann man aber nur die Notwendigkeit von Regeln für die Schaffung eines als ideal für die Entwicklung der dritten Welt angesehenen Zustandes, in dem der Konkurrenzkampf der Theorien sich frei entfalten kann, begründen, nicht aber die Notwendigkeit von Regeln für die Eliminierung von Theorien oder von Forschungsprogrammen. Auf diese Weise kann nur begründet werden, wie oder mit weichen Argumenten die Entwicklung einer Theorie nicht behindert werden soll oder auf Grund welcher Argumente eine Theorie nicht eliminiert werden sollte. Woran liegt es aber, daß wir nach Karl Popper normative Regeln benötigen, um Theorien rechtzeitig ausmerzen zu können? Der Unterschied zu biologischen Systemen scheint gerade darin zu liegen, daß die Eliminierung nicht in dem Sinne erfolgt, wie in biologischen Systemen. Im überindividuellen kulturellen System werden Hypothesen und Theorien nicht endgültig eliminiert wie unvorteilhafte Mutationen im biologischen System, sondern können in der Tradition einer Gesellschaft, in ihren Mythen oder in Bibliotheken weiterexistieren. Dadurch können sie jederzeit neu aufgegriffen werden. Wenn jemand normative Regeln einführen will, wann Hypothesen und Theorien zu eliminieren sind, und verlangt, daß diese Entscheidung endgültig sein müsse, dann meint er, daß
267
Vgl. Lorenz, Die Rückseite. S. 56 ff.
9 Meleghy
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diese Eigenschaft des kulturellen Systems nachteilig für die Entwicklung der dritten Welt sei. Auch Imre Lakatos möchte Forschungsprogramme endgültig eliminieren. ,,In der Methodologie von Forschungsprogrammen wird übrigens der pragmatische Sinn einer, Verwerfung' (eines Programms) kristallklar: es ist die Entscheidung, nicht mehr an ihm weiterzuarbeiten...268 Wenn, wie Imre Lakatos meint, diese Entscheidung endgültig sein müsse, dann bedeutet diese Entscheidung (soweit man sich daran hält) eine Annäherung an die Bedeutung von Eliminieren im biologischen Sinne, da Forschungsprogramme als Bestandteile der dritten Welt nur durch die Vermittlung der zweiten subjektiven Welt entwickelt werden können. Die Forderung nach endgültiger Eliminierung können wir so verstehen, daß man meint, die oben dargestellte Systemeigenschaft habe nachteilige Folgen für die Entwicklung der dritten Welt. Man meint, damit diese negative Eigenschaft aufgehoben werde, müsse man, durch die Einführung methodologischer Regeln, dafür sorgen, daß Theorien oder Forschungsprogramme genauso endgültig eliminiert werden wie biologische Systeme. Man betrachtet also zunächst die Evolution des überindividuellen kulturellen Systems. Nun stellt man fest, daß kulturelle Systeme teilweise andere Eigenschaften besitzen als biologische Systeme. Man meint nun, daß die Evolution der biologischen Systeme besser funktioniere als die Evolution der kulturellen Systeme. Man müsse daher normative Regeln einführen, damit die Evolution der überindividuellen Systeme genauso funktioniere wie die Evolution biologischer Systeme. Nun scheint aber die Frage gerechtfertigt zu sein, ob es richtig ist, daß die oben beschriebene Eigenschaft des kulturellen Systems, daß Hypothesen, Theorien und ganze Forschungsprogramme nicht im selben Sinn eliminiert werden wie unvorteilhafte Mutationen in der biologischen Evolution, für die Entwicklung der dritten Welt hinderlich ist. Sind nicht vielmehr - wie Paul Feyerabend meint - normative Regeln, die diese Systemeigenschaft eliminieren wollen, hinderlich? Oder anders ausgedrückt: Ist diese neue Systemeigenschaft der überindividuellen geistigen Welt nicht gerade ein großer Fortschritt gegenüber anderen Systemen? Wenn wir mit Konrad Lorenz269 und Donald Campbell 270 die biologische Evolution als einen Prozeß betrachten, in dem Wissen erworben und vermehrt wird, können wir es folgendermaßen ausdrücken: Eine Art hat im Laufe ihrer Entwicklung eine Menge von Wissen erworben. Stirbt nun diese Art aus, dann geht das Wissen, das diese Art repräsentiert, verloren. Karl Popper könnte sagen, daß das durchaus positiv sei, denn: falsche Lösungen müssen eben eliminiert werden. Ist es aber vorteilhaft, daß das Wissen dieser Art endgültig verloren geht? Es könnte durchaus sein, daß Teile dieses verlorenen Wissens die Fähigkeit der übriggebliebenen Arten, ihre Probleme zu lösen,
268 269 270
Lakatos, Falsifikation. S. 152, Fußnote 245. V gI. La renz. D·le R··uckseite. . V gl. Campbell.
11. Thematisierung des Kontextes innerhalb der Wissenschaftstheorie
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verbessern würden. Durch die neue Systemeigenschaft der überindividuellen dritten Welt ist diese Möglichkeit nun gegeben, da das frühere Wissen in der Tradition, in Mythen und heute in Bibliotheken weiterexistiert; dadurch können wir dieses Wissen dazu verwenden, unsere heute aktuellen Theorien zu verbessern. Es könnte auch sein, daß Teile des Wissens der Arten, die im Konkurrenzkampf bestanden, für bereits eliminierte Arten einen noch nie dagewesenen Vorsprung bedeutet hätten. Es wäre in diesem Fall sicherlich vorteilhaft, wenn das Wissen der übrig gebliebenen Arten für die Verbesserung des Wissens der im Konkurrenzkampf eliminierten Arten verwendet werden könnte. Durch die neue Systemeigenschaft des überindividuellen kulturellen Systems ist auch diese Möglichkeit gegeben. Wir können unsere aktuellen Theorien für die Verbesserung früherer Theorien verwenden. Im Rahmen der Methodologie der Forschungsprogramme können wir das hier Gesagte so ausdrücken: Man nehme die Theorien früherer Forschungsprogramme (aus der Wissenschaftsgeschichte) und schaue nach, ob durch die Berücksichtigung dieser Theorien in den heute aktuellen Forschungsprogrammen positive Problemverschiebungen erzeugt werden können. Man nehme dann die Theorien aktueller Forschungsprogramme und schaue nach, ob durch die Berücksichtigung dieser Theorien in früheren Forschungsprogrammen positive Problemverschiebungen produziert werden können. Damit sind wir bei unserem Ausgangspunkt angelangt: "Kein Gedanke ist so alt oder absurd, daß er nicht unser Wissen verbessern könnte. Die gesamte Geistesgeschichte wird in die Wissenschaft einbezogen und zur Verbesserung jeder einzelnen Theorie verwendet...271 Zusammenfassend können wir festhalten, daß die Bedeutung des Kontextes und die damit verbundene Problematik der zwei Ebenen der wissenschaftlichen Erkenntnis in der Methodologie erkannt und thematisiert werden. Keineswegs einheitlich sind allerdings die Folgerungen die man bisher gezogen hat. Karl Popper verbannt die Fragen des Kontextes weiterhin aus der Wissenschaftstheorie, Irnre Lakatos ist für eine Integration des Kontextes durch die Bewertung ganzer Forschungsprogramme, Thomas Kuhn für die konsequente Behandlung durch eine Art Sozialpsychologie der Wissenschaftsgeschichte und Paul Feyerabend für die Aufgabe jeglicher Regeln oder Vorschriften. Die Bedeutung des Kontextes ist aber trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die in der Methodologie herrschen, Allgemeingut geworden. So schreibt etwa Wolfgang Stegmüller in diesem Zusammenhang: "Kein Wissenschaftler, der Untersuchungen über einen Bereich von Gegenständen anstellt, wendet sich seinem Forschungsobjekt gänzlich vorurteilsfrei, mit einer geistigen tabula-rasa-Position, zu. Er wird stets, stillschweigend oder ausdrücklich, mit einer Reihe von Grundannahmen an sein Gebiet herantreten. Dieses background 271
Feyerabend. Wider den Methodenzwang. S. 69.
132
C. Theorie und Theoriekontext
knowledge, wie es im Englischen auch genannt wird, mag dem Wissenschaftler häufig überhaupt nur zum Teil bewußt sein. Vielfach liegen unbewußte Annahmen zugrunde, die für so selbstverständlich gehalten werden, daß der Wissenschaftler gar nicht auf den Gedanken kommt, diese Annahmen ausdrücklich zu formulieren, da er nicht an die Möglichkeit denkt, sie könnten vielleicht preisgegeben werden."272 Robert Merton, der für solche Grundannahmen den Ausdruck Orientierungshypothesen (general orientations) geprägt hat, hat auf eine wichtige Funktion solcher Grundannahmen aufmerksam gemacht. "Such orientations involve broad postulates which indicate types of variables which are somehow to be taken into account rather than specifying determinate relationships between particular variables .... This is the case with Durkheim's generic hypothesis, which holds that the ,determining cause of a social fact should be sought among the social facts preceding it' and identifies the ,social' factor as institutional norms toward which behaviour is oriented .... The chief function of these orientations is to provide a general context for inquiry; they facilitate the process of arriving at determinate hypothesis ...273 Freilich war die Problematik des Hintergrundwissens oder von Orientierungshypothesen einzelner wissenschaftlicher Praktiker, wie die nachfolgende TextsteIle zeigt, auch bereits früher bekannt: "Beschäftigt mit Einzelfragen und Experimenten, steht der Forscher im Laboratorium ,allgemeinen Betrachtungen' mit Mißtrauen und Abneigung gegenüber. Es ist selbstverständlich, daß konkrete Probleme nicht durch methodologische Erwägungen und Forderungen, sondern nur durch geduldige Einzeluntersuchung angegriffen werden können. Andererseits aber bestimmen die biologischen GrundeinsteIlungen die Probleme, die der Forscher überhaupt sieht; sie bestimmen seine Fragestellung, sein experimentelles Vorgehen, die Auswahl der Methodik und schließlich den Typ der Erklärung und Theorie, die für die untersuchten Erscheinungen gegeben werden. Tatsächlich ist die Abhängigkeit von herrschenden Einstellungen nur um so stärker, je weniger sie bewußt ist. In diesem Sinne steht außer Zweifel, daß sowohl die Forschungsarbeit und die Triumphe, wie auch die Grenzen der klassischen Biologie durch die von uns angegebenen Leitprinzipien bestimmt wurden. Um dies festzustellen, genügt der Blick auf ein beliebiges Gebiet der Biologie, aber auch, worauf wir noch zurückkommen, ebenso der Medizin und Psychologie.'-2) und für B die Werte in der zweiten Spalte stets höher sind als in der ersten Spalte (2) 1 und -1>-2). Oder anders ausgedrückt, Gestehen ist für beide Spieler die dominante oder beherrschende Strategie. Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß das Ergebnis, in dem beide Spieler ihre dominante Strategie wählen und damit die in der rechten unteren Zeile wiedergegebenen Auszahlungen (-1, -1) erreichen, ein Gleichgewicht darstellt. Dieses Ergebnis ist insoweit ein Gleichgewichtspunkt, da beide Spieler verlieren, wenn sie von ihm individuell abrücken (die Auszahlung für einseitiges Nichtgestehen ist -2 und dieses Ergebnis ist schlechter als -1). Die beiden Gefangenen sind in dieser Geschichte in verschiedenen Zellen untergebracht und haben keine Möglichkeit, sich abzusprechen und eine gemeinsame Vorgehensweise zu vereinbaren. In dieser Situation ist für beide Gefangenen das ·Gestehen die sicherste Strategie: Gestehen sie, so erhalten sie schlimmstenfalls 5 Jahre Freiheitsstrafe, gestehen sie nicht, so kann das für sie 10 Jahre Verlust der Freiheit bedeuten. Für beide Gefangenen gilt zudem: unabhängig davon, zu welchem Verhalten der andere Gefangene sich entschließt, sie gewinnen mehr bzw. verlieren weniger, wenn sie gestehen (2)1 und -1>-2). Gestehen ist, wie wir bereits gesehen haben, für beide Gefangenen die dominante oder beherrschende Strategie. Und trotzdem ist das auf Grund des beidseitigen Gestehens erreichbare Resultat - beide Gefangenen erhalten 5 Jahre - irgend wie unbefriedigend, bedenkt man, daß beide Angeklagten mit nur 1 Jahr Gefängnis davonkommen könnten, wenn sie beide schweigen würden. Aber für A ist zu schweigen nur dann güns-
39 Meleghy
610
E. Der soziologische Gegenstandsbereich
tiger, wenn er sicher sein kann, daß auch B schweigt, anderenfalls geht B frei aus und A geht für 10 Jahre ins Gefängnis. Und dasselbe gilt auch umgekehrt. Da sie aber nicht sicher sein können, daß der andere Angeklagte schweigt, ist für beide die sicherere Strategie, zu gestehen, die günstigere. Aus diesem Grunde können wir die Bedingung, daß die beiden Gefangenen sich vor dem Verhör nicht absprechen können, ruhig aufheben. An dem Resultat ändert sich dadurch letztlich nichts. Sie werden sich möglicherweise (oder sehr wahrscheinlich) gegenseitig zusichern zu schweigen. Die Frage aber ist: Kann A mit Sicherheit wissen, daß B sich tatsächlich an die Vereinbarung hält? Und kann B mit Sicherheit wissen, daß A sich tatsächlich an die Vereinbarung hält? Das ist also das Dilemma der beiden Gefangenen: Die rationale Entscheidung beider Akteure führt zu ein für beide Gefangenen relativ unvorteilhaftes, gleichzeitig aber stabiles Ergebnis. Das für beide wesentlich günstigere Resultat, weIches die beiden Gefangenen prinzipiell auch erzielen könnten, liegt für rationale Akteure außer Reichweite und ist zudem unstabil. "Das Paradoxe an der Sache," schreibt Morton Davis, "ist folgendes: zwei naive Gefangene, die diesem Gedankengang nicht folgen können, sind beide still und bekommen nur ein Jahr Gefangnis. Zwei gescheite Gefangene, die von spieltheoretischen Überlegungen nur so strotzen, gestehen und bekommen 5 Jahre Gefängnis, in denen sie dann ihre Gescheitheit bewundern können.,,1417 Das Problem der beiden Gefangenen ist als ein Paradigma für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle aufzufassen. Gefangenendilemmasituation steht also für einen Situationstyp. Als Gefangenendilemmasituation wird jede durch die Matrix 3 wiedergegebene Konstellation, soweit die Bedingung V>B>St>A erfüllt ist, bezeichnet. Die Buchstaben bedeuten V=Versuchung, B=Belohnung, A=Ausnützen, St=Strafe, K=Kooperation und NK=Nicht-Kooperation. Matrix 3
NK
K K
B
B
A
V
NK
V
A
St
St
Darstellung 20:
Gefangenendilemmasituation (allgemein)
Durch Verallgemeinerung des Problems der beiden Gefangenen gelangt man zu einem Situationstyp (verallgemeinerte Gefangenendilemmasituation), welcher folgendermaßen strukturiert ist: In einer verallgemeinerten Gefangenendilemmasituation sind mindestens zwei Personen beteiligt, die wiederholt vor der
1417 Davis MoTton, Spieltheorie für Nichtmathematiker. München und Wien: Oldenbourg 1972, S. 105.
11. Der soziologische Gegenstandsbereich in der Literatur
61 )
Entscheidung stehen, zu kooperieren (K) oder nicht zu kooperieren (NK), wobei 1. wenn alle bzw. die meisten Beteiligten nicht kooperieren, das Resultat relativ unvorteilhaft ist. 2. wenn alle bzw. die meisten Beteiligten kooperieren, das Resultat relativ vorteilhaft ist. Jedenfalls ist das Ergebnis vorteilhafter, als würden alle bzw. die meisten nicht kooperieren. 3. jeder der beteiligten Personen erhält die höchstmögliche Auszahlung, wenn sie alleine nicht kooperiert und alle bzw. die meisten anderen kooperieren. 4. wenn einige Beteiligte nicht kooperieren, ist das Ergebnis für die kooperierenden Personen weniger vorteilhaft als in dem Fall, daß alle kooperieren. Beispiele für die verallgemeinerte Gefangenendilemmasituation sind das Zahlen (K) oder das Nicht-Zahlen (NK) von Einkommensteuer, das Wählen (K) oder das Nicht-Wählen (NK) bei Wahlen, das Durchqueren (NK) oder das Umgehen (K) einer Wiese in einer städtischen Parkanlage, das Halten (K) oder das Brechen (NK) einer Vereinbarung. In allen diesen Fällen ist - soweit die verallgemeinerte Gefangenendilemmasituation tatsächlich die adäquate Beschreibung der Situation ist - die Nicht-Kooperation die rationale Verhaltensalternative, mit dem relativ unbefriedigendem Ergebnis, daß alle weniger erhalten als sie erhalten könnten, würden alle (die meisten) kooperieren. Soweit eine kurze und keineswegs erschöpfende Beschreibung der Problemsituation (P J), die den Ausgangspunkt für die Erörterung der Theorie der Gefangenendilemmanormen dient. Das Dilemma selbst ist hinlänglich bekannt. Es zählt heute sozusagen zur sozialwissenschaftlichen Folklore. Kehren wir aber nach diesem kurzen Exkurs wieder zurück zu dem Problem der beiden Gefangenen. Was die beiden Gefangenen in dieser Situation nach Edna UllmannMargalit benötigen, ist ein wie auch immer geartetes Mittel, das ihnen hilft, zu dem relativ günstigen Ergebnis zu gelangen, welches sie erhalten, wenn sie beide schweigen. Ein solches Mittel könnte z. B. das Bestehen von Liebe oder Freundschaft zwischen den beiden Gefangenen sein. Liebe oder Freundschaft zwischen den beiden Gefangenen könnte die Relationen zwischen den Auszahlungen in Matrix 3 solcherart verändern, daß die Strategie gestehen (NK) die Strategie nicht gestehen (K) nicht mehr dominiert. Die Bedingung V>B>St>A wäre dann nicht mehr erfüllt. Die Situation der beiden Gefangenen wäre damit keine Gefangenendilemmasituation mehr. Liebe und Freundschaft sind aber (zumindest in dem hier gemeinten Sinne) keine normativen (oder drittweltlichen) sondern psychologische (oder zweitweltliche) Phänomene. Bezogen auf eine Problemsituation P J könnten wir in diesem Fall von psychologischen oder zweitweltlichen Problemlösungen (VL) sprechen. Hier geht es aber nicht um eine Theorie von Liebe und Freundschaft
E. Der soziologische Gegenstandsbereich
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oder allgemeiner um eine Theorie von Emotionen, sondern um die Theorie von Gefangenendilemmanormen oder allgemeiner um eine Theorie von Normen und Institutionen. Zu Liebe und Freundschaft als Problemlösungsmittel (VL) in einer verallgemeinerten Gefangenendilemmasituation (PI) muß man zudem bemerken, daß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß man mit Hilfe dieser Mittel das Problem lösen kann, mit zunehmender Größe der Zahl der Beteiligten stark abnimmt. Bezogen auf normative Mittel der Problembewältigung sieht Edna UllmannMargalits Argumentation folgendermaßen aus: Eine Situation, die im Sinne der verallgemeinerten Gefangenendilemmasituation strukturiert ist, stellt die beteiligten Individuen vor ein Problem. Das Problem läßt sich etwa folgendermaßen formulieren: Wie läßt sich ein relativ günstiges aber unstabiles System vor dem Umkippen in ein relativ ungünstiges und stabiles System bewahren? Ein Mittel für die Lösung dieses Problems stellen mit geeigneten Sanktionen abgestützte Normen dar. In diesem Sinne kann gesagt werden, daß eine solche Situation nach Normen verlangt und weiters, daß eine Norm, welche ein solches Problem gelöst hat, von diesem Problem erzeugt wurde. Solche Normen werden von Edna Ullmann-Margalit als Gefangenendilemmanormen bezeichnet. 1418 So könnte z. B. die Lösung des Problems der bei den Gefangenen (in der ursprünglichen Fassung des Dilemmas) die durch die Androhung der Todesstrafe abgestützte Norm (der Gemeinschaft der Kriminellen), in einer solchen Situation unter keinerlei Umständen zu reden, sein. Eine solche Norm stellt eine (versuchte) Problemlösung (VL) des Problems der beiden Gefangenen (PI) dar. Diese Norm wird entsprechend als eine Gefangenendilemmanorm bezeichnet. Mehr technisch gesprochen geht es hier darum, durch die Einführung der gerade erwähnten Gefangenendilemmanormen, die durch die Matrix 2 wiedergegebene Situation, in die, durch die Matrix 4 dargestellte Situation, zu überführen. Matrix 2
Matrix I
B
B
gesteht nicht gesteht nicht A
gesteht
I
2
-2
I
-2
gesteht nicht
gesteht
-I
gesteht nicht
2 -I
A
gesteht
gesteht
I
I
-2 - 3
-3
-2
- 3 -3
Darstellung 21: Gefangenendilemmanorm
Bei den Ziffern, die die Bewertungen der Resultate durch die beiden Gefangenen in Matrix 4 angeben, wird davon ausgegangen, daß die Aussicht, exeku1418
Vgl. Ullmann-Margalit, S. 21 f.
11. Der soziologische Gegenstandsbereich in der Literatur
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tiert zu werden, negativer bewertet wird (- 3) als die Gefangnisstrafe von 10 Jahren (- 2). Es läßt sich leicht erkennen, daß in der durch die Matrix 4 wiedergegebene Situation die Strategie nicht gestehen für beide Gefangenen die günstigere ist. Wenn A schweigt, so ist für ihn das Resultat günstiger, und zwar unabhängig davon, zu welchem Verhalten B sich entschließt. Und dasselbe gilt für B. In dieser Situation ist für beide Gefangenen nicht gestehen die dominante oder beherrschende Strategie. Zudem läßt sich feststeHen, daß das Ergebnis, in dem beide Spieler ihre dominante Strategie spielen, einen Gleichgewichtspunkt darsteHt, und zwar in dem Sinne, daß beide Beteiligten verlieren, wenn sie von ihm individueH abrücken. Es geht hier letztlich um folgendes: Die in Matrix 2 wiedergegebene Gefangenendilemmasituation - die im Zusammenhang mit Matrix 3 formulierte Bedingung V>B>St>A ist hier erfüllt - wird durch die Einführung einer als Gefangenendilemmanorm bezeichnete Regel in die durch die Matrix 4 wiedergegebene Situation übergeführt. Die neue, durch Matrix 4 wiedergegebene Situation, ist keine Gefangenendilemmasituation. Die Bedingung V>B>St>A ist hier nicht erfüHt. James Coleman bemerkt in diesem Zusammenhang, daß es eine Sache ist, aufzuweisen, welche Funktion eine Norm für die beteiligten Individuen erfüHt, und es eine ganz andere Sache ist, zu erklären, wie eine Norm entstanden ist. ,,Es soHte", so James Coleman, "klar sein, daß die Funktionen, die eine Norm für ihre Behaupter erfüHt, oder, um es in meiner Terminologie auszudrücken, deren Interessen an der Norm nicht ausreichen, um ihre Emergenz oder Aufrechterhaltung zu erklären. ,,1419 Meines Erachtens hat James Coleman mit diesem Einwand recht. Was von Edna UHmann-Margalit aufgezeigt wird ist, auf welche Weise eine Situation (Gefangenendilemmasituation) durch die Einführung einer Norm (Gefangenendilemmanorm) verändert wird, oder anders ausgedrückt, auf welche Weise eine bestimmte Problemsituation (PI) durch die Einführung einer normativen Problemlösung (VL) in eine neue Problemsituation (P 2) verwandelt wird. Was hier aufgezeigt wird, oder wenn man wiH, was hier erklärt wird, ist die Funktionsweise der betreffenden Norm. Wie oder auf welche Weise die Norm entstanden ist, wird damit nicht erklärt. Mein Punkt in diesem Zusammenhang ist aber ein ganz anderer. James Colemans Kritik an Edna UHmann-Margalits Theorie der Gefangenendilemmanormen besagt, daß es sich dabei nicht um eine richtige oder voHständige Erklärung der Entstehung dieser Normen handelt. Was wäre aber, wenn es sich dabei gar nicht um eine Erklärung und auch nicht um einen Erklärungsversuch
1419
Coleman, Grundlagen. S. 335.
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E. Der soziologische Gegenstandsbereich
handeln sollte? Tatsächlich ist Edna Ullmann-Margalits Theorie der Gefangenendilemmanormen keine Erklärung und auch kein Erklärungsversuch. Es handelt sich dabei vielmehr um die drittweltliche Beschreibung von drittweltlichen (d. h. sprachlich-logischen) Beziehungen zwischen drittweltlichen Phänomenen (Problemsituationen). Edna Ullmann-Margalits Theorie ist, anders ausgedrückt, keine Erklärung sondern die Beschreibung einer drittweltlichen, d. h. logischen Gesetzmäßigkeit. Dieses (logische) Gesetz besagt: Wird in eine Situation, welche durch die Matrix 2 adäquat beschrieben wird, eine Gefangenendilemmanorm eingeführt, so wird die ursprüngliche Situation in eine neue, durch die Matrix 4 adäquat dargestellte Situation überführt. Dabei wird als Gefangenendilemmanorm jene Norm verstanden, durch die eine Situation, welche durch die Matrix 2 adäquat dargestellt wird, in eine neue Situation, welche durch die Matrix 4 adäquat dargestellt wird, überführt wird. Läßt sich dieses Gesetz als Bestandteil einer theoretischen Erklärung verwenden? Meiner Meinung nach durchaus. Das Explanandum wäre allerdings nicht das Vorhandensein einer besonderen GefangenendIlemmanorm, sondern das Bestehen der in Matrix 4 dargestellten, für die Beteiligten relativ günstigen, Problemsituation. Das Vorliegen der durch die Matrix 4 wiedergegebenen Problemsituation läßt sich mit Hilfe des angegebenen Gesetzes aus den relevanten Randbedingungen ableiten. Die relevanten Randbedingungen sind: I. das Bestehen einer durch die Matrix 2 wiedergegebenen Gefangenendilemmasituation und 2. die Einführung der Gefangenendilemmanorm. Erfüllt diese Theorie die eingangs formulierten sechs Kriterien? 1. Die Theorie sollte keine geschichtliche Theorie sein. Alle Wissenschaften gehen, wie wir im Abschnitt D.IV.6.b) festgestellt haben, nach demselben grundlegenden Muster (PI -+ VL -+ FB -+ P2 usw.) vor. Wodurch die zwei Gruppen, theoretische und geschichtliche Wissenschaften, sich unterscheiden, ist ihr Interesse an verschiedenen Elementen derselben methodisch-logischen Struktur (Gesetz, Randbedingung -+ Explanandum). Die theoretischen Wissenschaften interessieren sich mehr für die allgemeinen Gesetze (mit Hilfe derer sie aus den Randbedingungen die zu erklärenden Sachverhalte ableiten), während die geschichtlichen Wissenschaften sich mehr für die Randbedingungen (aus denen sie mit Hilfe allgemeiner Gesetze die zu erklärenden Sachverhalte ableiten) interessieren. Die hier dargestellte Theorie ist keine geschichtliche Theorie. Die Theorie erklärt nicht, wie und warum die (durch die Matrix 2 beschriebene) Gefangenendilemmasituation entstand, und sie erklärt auch nicht, wie und warum in dieser Situation die Gefangenendilemmanorm entstand. Sie erklärt mit anderen Worten nicht das Zustandekommen der relevanten Randbedingungen. Die Theorie erklärt aber, warum auf dieser Grundlage (d. h. auf Grund des Vorliegens der relevanten Randbedingungen) notwendigerweise die durch die Matrix 4 beschriebene Situation entstand und damit die Gefangenendilemmasituation
11. Der soziologische Gegenstandsbereich in der Literatur
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überwunden wurde. Im Zentrum des Interesses bei dieser Erklärung stehen nicht irgend welche Randbedingungen, sondern ein gesetzmäßiger Zusammenhang. Und das ist das Kennzeichen theoretischer (im Gegensatz zu geschichtlichen) Erklärungen. Auch ist diese Erklärung - was ein weiteres Kennzeichen theoretischer Erklärungen ist - indifferent gegenüber einer Reihe von geschichtlichen Fakten. Ob die Gefangenendilemmanorm evolutionär, d. h. als nichtintendiertes Ergebnis von Handlungen, die auf andere Ziele gerichtet waren, entstand, ob sie bewußt für die Lösung des Dilemmas eingeführt wurde, von wem sie ,eingeführt wurde, all das ist für die Erklärung irrelevant. Die genannten Randbedingungen werden im Falle dieser Erklärung als unproblematisch angesehen. Wesentlich oder bedeutsam ist lediglich, daß diese Randbedingungen vorliegen, die Frage, wie und warum es dazu kam, daß diese Randbedingungen vorliegen, wird als unerheblich betrachtet. Wesentlich ist hier die Frage, was der Forscher als sein Problem ansieht. Interessiert sich der Forscher mehr für die Randbedingungen als für das Gesetz, so wird er das Gesetz als unproblematisch betrachten und sich der Untersuchung der Frage widmen, wie und warum es dazu kam, daß bestimmte Randbedingungen vorliegen. Was in diesem Fall angestrebt ist, ist eine geschichtliche Erklärung. 2. Die Theorie sollte eine evolutionäre Theorie sein. In evolutionären Theorien von sozialen Normen und Institutionen sollen Normen und Institutionen als Problemlösungen (VL) innerhalb einer evolutionären Sequenz (PI -+ VL -+ FB -+ P2 usw.) thematisiert werden. In der vorliegenden Theorie von Gefangenendilemmanormen wird genau das geleistet. Die Theorie zeigt, daß eine bestimmte Problemsituation (PI) durch die Einführung einer Norm (VL) in eine neue Problemsituation (P2) übergeführt wird. Was hier erklärt wird, ist, anders ausgedrückt, die Funktionsweise der betreffenden Norm oder Institution. Evolutionäre Erklärung und Erklärung der Funktionsweise sind problematische Begriffe. Auguste Comte, Herbert Spencer und die meisten Kulturanthropologen des neunzehnten Jahrhunderts waren Evolutionisten. Beeinflußt von Charles Darwins Evolutionstheorie versuchten sie menschliche Gesellschaften mittels bestimmter Merkmale auf einer evolutionären Skala anzuordnen und innerhalb dieses Entwicklungsvorganges bestimmte Stadien auszumachen. 1420 Alfred RadcIiffe-Brown und Bronislaw Malinowski waren Funktionalisten. Sie gingen bei ihren Erklärungen davon aus, daß 1. Normen und Institutionen funktional für die Gesamtgesellschaft wären, daß 2. alle Normen und Institutionen positive Funktionen für die Geamtgesellschaft erbringen würden und daß 3. alle Normen und Institutionen einer Gesellschaft unentbehrlich wären. 1421 Mit sol-
1420 1421
Vgl. Cohen, S. 43 ff. Vgl. Merton, Sodal Theory. S. 79 ff.
616
E. Der soziologische Gegenstandsbereich
ehen Anliegen und mit solchen VorsteIJungen hat die hier diskutierte Theorie nichts zu schaffen. Eine gewisse Verwandtschaft weist die Theorie mit Robert Mertons funktionaler Analyse auf. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen zeigt, daß Normen und Institutionen keineswegs immer für die GesamtgeselJschaft positiv funktional (funktional im Sinne von positiven objektiven Konsequenzen) sind. So hat z. B. die für die Lösung des Gefangenendilemmas vorgesehene, durch Androhung der Todesstrafe abgestützte Norm (der Gemeinschaft der Kriminellen) unter keinerlei Umständen zu reden, eine positive Funktion für die Gemeinschaft der Kriminellen, nicht aber für die Gesellschaft als ganzes. Diese Norm ist, mit den Begriffen von Robert Merton ausgedrückt, für die an erster StelJe genannte Einheit funktional, für die an zweiter StelJe genannte Einheit dysfunktional. Die Einheit, die durch eine gegebene Funktion gefördert wird, muß, wie Robert Merton betont, daher stets angegeben werden. 1422 Darüber hinaus zeigte unsere Analyse von Gefangenendilemmasituationen, daß die Lösung des Dilemmas durch die Einführung einer Gefangenendilemmanorm nicht die einzige Lösung des Dilemmas darstellt. Diese Lösung ist daher keineswegs unentbehrlich. Dieselbe Funktion kann, zumindest in bestimmten Situationen, auch durch Liebe oder Freundschaft (d. h. durch zweitweltliche funktionale Alternativen) erzielt werde. Die hier diskutierte Theorie der Gefangenendilemmanormen entspricht allerdings nur teilweise Robert Mertons Idealbild einer soziologischen Theorie. Soziologische Theorien bestehen Robert Merton zufolge aus einigen logisch miteinander verbundenen Hypothesen, aus denen empirisch überprüfbare Folgerungen abgeleitet werden können. Robert Merton bezeichnet solche Theorien als Theorien mittlerer Reichweite. Es handelt sich bei solchen Theorien weder um die Beschreibung von empirischen Regelmäßigkeiten noch um umfassende Theorien von sozialen Systemen, sondern um Komplexe, die zwischen diesen bei den Extremen liegen. 1423 Als ein Beispiel für eine solche Theorie mittlerer Reichweite wird von Robert Merton die Referenzgruppentheorie angeführt. Menschen bewerten entsprechend dieser Theorie ihre Situation, indem sie ihre Lage mit der Lage von anderen relevanten Menschen vergleichen. Das ist eine sehr einfache Theorie. Aus dieser Theorie lassen sich aber eine ganze Reihe von empirischen Implikationen ableiten. So impliziert die Theorie z. B., daß Menschen, die einen Schicksalsschlag erlebt haben, weniger unglücklich sind, wenn ihre Nachbarn einen noch größeren Verlust als sie zu beklagen haben. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen ist weder eine umfassende allgemeine Theorie, noch die Beschreibung einer empirischen Regelmäßigkeit. Sie ist so gesehen eine Theorie mittlerer Reichweite. Im Gegensatz zu Robert
1422 1423
Vgl. Merton, Sodal Theory. S. 141. V gl. ebd. S. 39 ff.
11. Der soziologische Gegenstandsbereich in der Literatur
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Mertons Theorien mittlerer Reichweite besteht diese Theorie aber nicht aus testbaren empirischen Hypothesen. Sie enthält, ähnlich wie die Bezugsgruppentheorie, nur ein einziges Gesetz. Dieses Gesetz beschreibt aber keinen empirischen, sondern einen logischen Zusammenhang. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen ist, wie wir gesehen haben, in dem Sinne eine evolutionäre Theorie, daß sie Normen und Institutionen als Problemlösungen innerhalb einer evolutionären Sequenz thematisiert. Sie ist, wie wir ebenfalls gesehen haben, keine geschichtliche Theorie. Sie erklärt nicht, wie und warum die Gefangenendilemmasituation entstand, und sie erklärt auch nicht, wie, warum und von wem die Gefangenendilemmanorm eingeführt wurde. Sie ist aber nicht deswegen eine evolutionäre Theorie, weil sie keine geschichtliche Theorie ist. Evolutionäre Theorien, d. h. Theorien, die Normen und Institutionen als Problemlösungen innerhalb einer evolutionären Sequenz (PI -+ VL -+ FB -+ P2 usw.) thematisieren, können durchaus geschichtliche Theorien sein. Im Gegensatz zu theoretischen Erklärungen liegen im Zentrum des Interesses bei solchen Erklärungen nicht die allgemeinen Gesetze (aus denen gemeinsam mit den relevanten Randbedingungen das Explanandum, die neu entstandene Situation P 2, abgeleitet wird), sondern die besonderen, geschichtlich einmaligen Randbedingungen (aus denen gemeinsam mit den allgemeinen Gesetzen das Explanandum, die neu entstandene Situation P2 , abgeleitet wird). 3. Die Theorie sollte eine soziologische Theorie sein. Eine soziologische Theorie sollte sich mit Problemen und Problemlösungen befassen, welche mit den innerartlichen Wechselwirkungen von individuellen Organismen (Hierarchie I. Art) einhergehen. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen behandelt ein Problem; welches bei der Koppelung und Abstimmung des Verhaltens von individuellen Organismen einer Art entsteht. Sie behandelt ein, in diesem Sinne, soziales Problem. Diese Theorie ist daher eine, in diesem Sinne, soziologische Theorie. Die Theorie behandelt zudem nicht irgendein soziales Problem, sondern das vielleicht bedeutsamste soziale Problem überhaupt: das Problem der Kooperation. Mit diesem Problem beschäftigt sich u. a. der Begründer der neuzeitlichen politischen Philosophie Thomas Hobbes in seinem Werk ,,Leviathan". Thomas Hobbes' Ausgangspunkt ist der Naturzustand. Bei Abwesenheit von staatlichen Institutionen würden Menschen ihre egoistischen Ziele mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgen. Dabei würden sie keinerlei Rücksicht auf andere Menschen nehmen. Insbesondere würden sie sich nicht für die Folgen ihres Handeins für andere kümmern. Der Naturzustand läßt sich als ein erbarmungsloser Kampf aller gegen alle charakterisieren. In einer solchen Situation würden nur die verschlagensten und skrupellosesten Individuen bestehen. Diese Situation zu überwinden, liegt im natürlichen Interesse aller Beteiligten. Aber obwohl das so ist, kann der Naturzustand von den einzelnen Individuen nicht überwunden werden. Thomas Hobbes' Lösung dieses Prob-
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E. Der soziologische Gegenstandsbereich
lems besteht darin, daß alle Bürger miteinander einen Vertrag schließen, in dem sie sich gegenseitig zusichern, daß sie auf die Freiheit, ihre individuellen Interessen nach eigenem Gutdünken zu verfolgen, verzichten und sich einer gesetzgebenden absoluten Autorität unterwerfen. Thomas Hobbes' Problem, d. h. der Naturzustand, läßt sich nach Edna UIImann-Margalit l424 und Wolfgang Kersting l42S als eine Gefangenendilemmasituation charakterisieren. Seine vertragstheoretische Lösung des Problems kommt im wesentlichen der Lösung des Problems durch die Schaffung einer Gefangenendilemmanorm gleich. Mancur Olson behandelt in seinem berühmten Buch ..Die Logik des kollektiven Handelns ..1426 die Frage, warum es großen Gruppen so schwer fällt, ihre Interessen zu vertreten? Das Problem, womit sich Mancur Olson in diesem Buch beschäftigt, ist ein Kooperationsproblem. Die Situation großer Gruppen läßt sich als eine Gefangenendilemmasituation modellieren: Zwar liegt es im Interesse aller, eine wirksame Interessenvertretung zustandezubringen, aber am vorteilhaftesten für jedes Individuum ist es, wenn sich alle, außer ihnen selber, bei der Vertretung ihres Gruppeninteresses engagieren. Verfolgen alle Beteiligten konsequent ihre individuellen Interessen, wird eine wirksame Vertretung des Gruppeninteresses daher nicht zustande kommen. Mancur Olsons Lösung des Problems ist die Einführung einer Gefangenendilemmanorm, die alle Beteiligten verpflichtet, sich an den Kosten der Interessenvertretung zu beteiligen. Das in der Theorie der Gefangenendilemmanormen behandelte Problem ist nicht nur ein sehr bedeutsames, sondern zudem ein sehr altes Problem. Das Kooperationsproblem ist genaugenommen so alt wie das Leben. Probleme im objektiven Sinne entstanden, wie wir im Abschnitt D.II!. gesehen haben, gemeinsam mit den objektiven Werten, zugleich mit der Entstehung des Lebens. Mittels der biologischen Steuerung konnte das Problem, wie wir im Abschnitt E.I!.g)aa) gesehen haben, nur unter Blutsverwandten gelöst werden (genetischer oder Verwandtenaltruismus). Nach der Entstehung der Fähigkeit, andere Mitglieder der Art als Individuen zu erkennen, konnte sich zudem eine weitere Lösung des Problems, der reziproke Altruismus, entwickeln. Diese Lösung des Dilemmas ist sowohl bei Tieren als auch bei Menschen anzutreffen. 1427 Die Lösung des Problems unter Individuen, die sich persönlich nicht kennen, also so gesehen unter Fremden, wurde erst mit der Entstehung der normativen Welt möglich. Die Lösung des Dilemmas mittels Gefangenendilemmanormen ist daher (zumindest sieht es heute so aus) menschlichen Gesellschaften vorbehalten. 1428
V gl. Ullmann-Margalit. Vgl. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg: Junius 1992. 1426 Vgl. Olson 1968. 1427 Vgl. Axelrod, Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg 1987. 1424
1425
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Aber natürlich sind nicht alle sozialen Probleme Kooperationsprobleme. Edna Ullmann-Margalit behandelt in ihrem Buch "The Emergence of Norms.. 1429 neben Gefangenendilemma- bzw. Kooperationsnormen, Koordinations- und Ungleichheits normen. Koordinations- und Ungleichheitsprobleme sind nach Edna Ullmann-Margalit ebenso bedeutsame soziale Probleme wie Kooperationsprobleme. Ich möchte an dieser Stelle eine Bemerkung zu Thomas Hobbes' Lösung des Kooperationsproblems machen, die sich eigentlich auf das erste hier behandelte Kriterium (Die Theorie sollte keine geschichtliche Theorie sein) bezieht. Eine häufig geäußerte Kritik an Thomas Hobbes' vertragstheoretischer Lösung des Kooperationsproblems besagt, daß souveräne staatliche Herrschaft tatsächlich nicht auf die von Thomas Hobbes beschriebene Weise entsteht. 1430 Die Theorie von Thomas Hobbes entspricht, so wird argumentiert, nicht der geschichtlichen Realität. Und tatsächlich entstand (soweit man das heute überblicken kann) in keinem Land der Erde staatliche Autorität auf eine Weise, die der Beschreibung von Thomas Hobbes auch nur annähernd entspricht. Diese Kritik ist trotzdem verfehlt. Thomas Hobbes' Theorie ist keine geschichtliche Theorie. Und das, obwohl Thomas Hobbes eine Geschichte erzählt. Seine Theorie ist im wesentlichen eine theoretische Erklärung. Sie erklärt die Funktionsweise von Gefangenendilemmanormen. Sie zeigt, wie eine Gefangenendilemmasituation durch die Einführung einer Gefangenendilemmanorm überwunden werden kann. Und für diese theoretische Erklärung sind Fragen wie, wie und warum die Gefangenensituation entstand? und wie, warum und von wem die Gefangenendilemmanorm eingeführt wurde? einfach irrelevant. 4. Die Theorie sollte nur logische und keine empirischen Gesetzmäßigkeiten enthalten. Die Aufgabe einer Theorie von Normen und Institutionen besteht in der drittweltlichen Rekonstruktion der logisch-gesetzmäßigen Beziehungen zwischen drittweltlichen Phänomenen. Die in der Theorie der Gefangenendilemmanormen beschriebene Problemsituation (Gefangenendilemmasituation) besteht ausschließlich aus drittweltlichen Elementen. Die Elemente, durch welche die Problemsituation sich konstituiert, sind das Wissen der Beteiligten um ihre Optionen und um deren Folgen, sowie das Wissen der Akteure um ihre Bewertungen dieser Folgen. Bemerkt werden soll zu diesem letzten Punkt, daß man zwischen der Bewertung eines Ereignisses, im Sinne eines zweitweltlichen psychologischen Phänomens, und dem Wissen um die Bewertung dieses Ereignisses, im Sinne
Vgl. Vowinckell995. Vgl. Ullmann-Margalit. 1430 Vgl. Kersting 1992. 1428
1429
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eines drittweltlichen Phänomens, unterscheiden kann, wobei Elemente von drittweltlichen Problemsituationen, wie die Gefangenendilemmasituation, in ihrer dargestellten Fassung, ausschließlich drittweltliche Phänomene sind. Hingewiesen werden soll hier noch, um Mißverständnisse zu vermeiden, auf den Umstand, daß eine psychologische oder zweitweltliche Tatsache, wie z. B. das Bestehen von Liebe oder Freundschaft zwischen den beiden Gefangenen, vom Standpunkt der drittweltlichen Problemsituation betrachtet, externen Charakter hat. Liebe oder Freundschaft sind als solche, d. h. als psychologische oder zweitweltliche Phänomene, keine Bestandteile einer drittweltlichen Problemsituation. Bestandteil der drittweltlichen Problemsituation ist nur das (drittweltliche) Wissen um das Bestehen einer solchen zweitweltlichen Tatsache. Die drittweltlichen Elemente der Gefangenendilemmasituation stehen untereinander nicht in einer empirischen, sondern in einer drittweltlichen (logischen) Beziehung. Entsprechend sagt die spieltheoretische Analyse dieser Situation nichts darüber aus, wie Menschen in einer solchen Situation handeln, sondern darüber, wie rationale Akteure in einer solchen Situation handeln sollten. "Die Spiel theorie", schreibt Anatol Rapaport, "ist nach Geist und Methode eindeutig normativ. Ihr Ziel ist eine Vorschrift, wie ein rationaler Spieler sich in einer bestimmten Spielsituation verhalten sollte.'.1431 Morton Davis bemerkt in diesem Zusammenhang: "Wir haben vorhin gefragt, was ein Spieler tun sollte, und was das Endergebnis eines Spiels sein sollte - ,sollte', nicht moralisch gesehen, sondern als das, was für die Interessen des Spielers am zweckdienlichsten ist. Die Frage danach, was die Leute tatsächlich tun und was tatsächlich geschieht, wenn ein Spiel gespielt wird, bleibt am besten dem Verhaltensforscher überlassen. (Dies wird manchmal so formuliert, daß der Spieltheoretiker sich mehr für die normativen als für die deskriptiven Aspekte eines Spiels interessiert.).,,1432
Die Theorie der Gefangenendilemmanormen enthält kein empirisches Gesetz. Empirische Gesetze beschreiben Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomenen. Empirische Phänomene stehen untereinander in einem empirischen Zusammenhang. Drittweltliche Phänomene stehen untereinander nicht in einem empirischen, sondern in einem drittweltlichen (d. h. logischen) Zusammenhang. Daher sind die Gesetze, die die Beziehungen drittweltlicher Phänomene untereinander beschreiben, logische und keine empirischen Gesetze. 5. Die Theorie sollte empirischen Charakter haben. Obwohl es sich bei den Gesetzen, die in eine theoretische Erklärung von Normen und Institutionen eingehen, nicht um empirische Gesetze handelt, haben theoretische Erklärungen von Normen und Institutionen empirischen Charakter, und zwar in dem 1431 Rapaport, Kritiken der Spieltheorie. In: Thorsten Bonacker, Konflikttheorien: Eine sozialwissenschaftliche Einführung mit Quellen. Opladen: Leske und Budrich 1996, S. 443. 1432 Davis Morton. S. 14.
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Sinne, daß es sich bei den Randbedingungen einer solchen theoretischen Erklärung um empirische Randbedingungen handelt. Es geht in dem hier diskutierten Zusammenhang also um die Frage nach der empirischen Verankerung von drittweltlichen Problemsituationen. Unterschieden werden können prinzipiell zwei Alternativen: 1. Bei den beschriebenen drittweltlichen Situationselementen handelt es sich um Elemente einer fiktiven Situation und 2. bei den beschriebenen drittweltlichen Situationselementen handelt es sich um die Elemente des Wissens der in einer tatsächlichen Problemsituation involvierten Individuen, also z. B. darum, was zwei tatsächliche Gefangene wissen. Im 1. Fall handelt es sich um die Logik einer fiktiven, im 2. Fall um die Logik einer empirischen Situation. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen ist entsprechend dann eine empirische Theorie, wenn es sich bei den Randbedingungen der Theorie (Vorliegen einer Gefangenendilemmasituation und Einführung einer Gefangenendilemmanorm) um empirische Randbedingungen handelt. Gehen wir davon aus, daß die vorliegende Theorie in diesem Sinne eine empirische Theorie ist. Was besagt diese Aussage genauer? Wir müssen bei der Beantwortung dieser Frage vorsichtig sein. Das Gesetz, aus welchem das Explanandum (die neue in der Matrix 4 beschriebene Situation) gemeinsam mit den relevanten Randbedingungen logisch abgeleitet wird ist, wie wir gesehen haben, kein empirisches sondern ein logisches Gesetz. Aus diesem Umstand folgt, daß die Theorie wenig darüber aussagt (zumindest im Sinne einer unmittelbaren Verursachung), wie die in der Situation involvierten Menschen tatsächlich handeln. Was aus dem empirischen Charakter der Theorie folgt, ist, daß die Logik der Situation nach Einführung der Gefangenendilemmanorm sich tatsächlich, und Zwar auf die in der Matrix 4 beschriebenen Weise, verändert. Wir können auf Grund des empirischen Charakters der Theorie anders ausgedrückt angeben, in welche Richtung die Logik der Situation (im Sinne einer drittweltlichen Steuerung) das Handeln der beteiligten Personen drängt. Oder wieder anders gewendet, die Theorie gibt an, wie wir unter Punkt 4 gesehen haben, wie rationale Akteure handeln sollten und nicht, wie Menschen in einer solchen Situation tatsächlich handeln. Genauere Aussagen über die Wirkung der drittweltlichen Steuerung sind dann möglich, wenn wir annehmen können, daß die beteiligten Akteure sich rational verhalten wollen. Der (3a-weltliche) Inhalt der normativen Entscheidung der Akteure, sich rational verhalten zu wollen, ist in diesem Fall eine im Modell zu berücksichtigende Randbedingung. Die Rationalität der Akteure wird bei der Erklärung als ein weiteres (drittweltliches) Element der Logik der Situation eingeführt. Aber selbst in diesem Fall können wir häufig nicht genau angeben, wie die beteiligten Personen handeln werden. Rational handeln zu wollen, ist nämlich eine Sache, rational handeln zu können, ist eine ganz andere Sache. Wie Anatol Rapaport gezeigt hat, werden Menschen bei der Bestim-
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mung einer optimalen Strategie, selbst bei relativ einfach erscheinenden Situationen, bald überfordert. 1433 Eine andere Möglichkeit, die Wirkung der drittweltlichen Steuerung der Logik der Situation auf das Verhalten der Akteure genauer zu bestimmen, geht über die Berücksichtigung von Hypothesen, die Aussagen darüber machen, unter welchen Voraussetzungen Akteure dazu neigen, sich entsprechend der drittweltlichen Steuerung der Logik der Situation - also in diesem Sinne rational, zu verhalten. Solche Hypothesen könnte man, da mit Hilfe dieser Hypothesen die Distanz zwischen der drittweltlichen Logik der Situation und der erstweltlichen Verhaltensebene überbrückt wird, als Überbrückungshypothesen bezeichnen. Um eine solche Überbrückungshypothese handelt es sich auch bei der bereits wiederholt diskutierten Rationalitätshypothese. Diese Hypothese besagt genaugenommen, daß Menschen unter allen Umständen sich entsprechend der drittweltlichen Steuerung der Logik der Situation - also in diesem Sinne rational - verhalten. Diese Hypothese ist aber, da sie, wie jedermann weiß, falsch ist, eine wenig brauchbare Überbrückungshypothese. Wir haben bisher empirische Situationen behandelt. Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Analyse von fiktiven Situationen wäre nutzlos. Zeigt die Analyse, daß eine solche, durch fiktive Elemente konstruierte, Problemsituation durch die Einführung einer bestimmten Norm in eine sehr wünschenswerte Situation transformiert werden kann, dann kann die Frage aufgeworfen werden, ob die zunächst fiktiven Situationselemente nicht vielleicht realisiert, d. h. in empirische Situationselemente übergeführt, werden könnten und sollten. 6. Psychologische (zweitweltliche) Phänomene sollen in einer Theorie von Normen und Institutionen als Rückkoppelungsprodukte drittweltlicher Phänomene thematisiert werden. Eine Theorie von Normen und Institutionen sollte einerseits ohne jegliche psychologische Annahmen entwickelt werden, andererseits können Normen und Institutionen als drittweltliche Steuerungen (Hierarchie 2. Art) unmittelbar oder kausal auf die Ebene psychischer (zweitweltlicher) Phänomene einwirken. Psychische (zweitweltliche) Phänomene können daher als externe Folgen drittweltlicher Phänomene thematisiert werden. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen enthält keine psychologischen Annahmen. Sie enthält insbesondere keine allgemeinen oder universellen Aussagen über das menschliche Verhalten im Sinne einer Rationalitätshypothese oder Wert-Erwartungstheorie. Die Frage, ob oder inwieweit die in der Situation involvierten Individuen rational handeln, bezieht sich, soweit sie überhaupt thematisiert wird, nicht auf die zentrale (logische) Transformationsregel, oder wenn man will, auf das zentrale (logische) Gesetz, des Modells, sondern auf eine der (empirischen) Randbedingungen der Theorie.
1433
V gJ. Rapaport, S. 450 ff.
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Dieser Umstand wurde sowohl von Max Weber als auch von Karl Popper klar erkannt. Die Konstruktion rationaler Modelle, d. h. von Geschehenszusammenhängen unter der Annahme, daß die beteiligten Individuen sich vollständig rational verhalten (und vielleicht auch im Besitze der vollständigen Information sind), ist für sie ein methodisches Hilfsmittel, ein abstrakter Hintergrund, vor dem sich die tatsächlichen Geschehenszusammenhänge deutlich abzeichnen. "Für die (... ) wissenschaftliche Betrachtung werden nun alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als ,Ablenkungen' von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt.,,1434 "Ich meine damit folgendes Verfahren: man konstruiert ein Modell auf Grund der Annahme, daß alle beteiligten Individuen sich vollkommen rational verhalten (und vielleicht auch, daß sie im Besitze des vollständigen Informationsmaterials sind), und dann schützt man die Abweichung des tatsächlichen Verhaltens dieser Individuen vom Modellverhalten, wobei dieses als eine Art Nullkoordinate dient.,,1435 Die Konstruktion rationaler Modelle beruht also weder nach Max Weber noch nach Karl Popper auf irgendwelchen allgemeinen psychologischen Hypothesen (oder Gesetze) im Sinne einer empirischen (psychologischen) Rationalitätshypothese oder Wert-Erwartungstheorie. Karl Popper schreibt in diesem Zusammenhang: ,,Nebenbei möchte ich erwähnen, daß weder das Prinzip des methodologischen Individualismus noch das der Nullmethode der Konstruktion rationaler Modelle m. E. die Annahme einer psychologischen Methode impliziert,,1436 und Max Weber noch deutlicher: "Insofern und nur aus diesem methodischen Zweckmäßigkeitsgrunde ist die Methode der, verstehenden Soziologie' rationalistisch. Dieses Verfahren darf aber natürlich nicht als ein rationalistisches Vorurteil der Soziologie, sondern nur als methodisches Mittel verstanden und also nicht etwa zu dem Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben umgedeutet werden. Denn darüber, inwieweit in der Realität rationale Zweckerwägungen das tatsächliche Handeln bestimmen und inwieweit nicht, soll es ja nicht das Mindeste aussagen. ,,1437 Die Theorie der Gefangenendilemmanormen zeigt zunächst, wie rationale Akteure in einer bestimmten Situation (Gefangenendilemmasituation) handeln würden und welches Ergebnis sie dabei erzielen würden. Darüber hinaus zeigt die Theorie, wie rationale Akteure nach der Einführung einer bestimmten Norm (Gefangenendilemmanorm) handeln würden und welches Ergebnis sie in dieser Situation erzielen würden. Die Theorie beantwortet gleichzeitig die Frage,
Weber, Wirtschaft. S 2. Popper, Das Elend. S. 110 f. 1436 Ebd. S. 111. 1437 Weber, Wirtschaft. S. 3. 1434 1435
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welches Ergebnis zu erwarten ist, wenn wir die möglicherweise recht unrealistische Randbedingung - alle Beteiligten verhalten sich vollständig rational aufgeben. So zeigt die Theorie, daß in einer Gefangenendilemmasituation irrationale Akteure (die, trotz der Gefahr ausgenützt zu werden, kooperieren) höhere Gewinne erzielen als rationale Akteure, vorausgesetzt alle Akteure handeln in diesem Sinne irrational. Die Theorie zeigt zudem, daß in einer Population von rationalen Spielern, d. h. unter Spielern, die in einer Gefangenendilemmasituation, trotz der Gefahr ausgenützt zu werden, stets kooperieren, ein Akteur, der sich rational verhält, die höchste Auszahlung erzielt. Wir sind mit dieser letzten Feststellung bei unserem eigentlichen Thema angelangt. Fassen wir nämlich die in der ursprünglichen Version des Gefangenendilemmaproblems von den Mitspielern erziel baren Auszahlungen - freizukommen, bzw. eine kürzere oder längere Zeit in einem Gefängnis zuzubringen, als eine Metapher für Lebenschancen in einer Gesellschaft auf, so zeigt sich, daß rationale Akteure in einer gemischten Population - eine recht realistische Randbedingung - bessere oder höhere Lebenschancen haben als irrationale Akteure. Führen wir zudem die gleichfalls realistische Annahme (Randbedingung) in dem Modell ein, daß erfolgreiche Akteure von den weniger erfolgreichen Akteuren (zumindest nach einiger Zeit) nachgeahmt werden (d. h. die Akteure sind lernfahig), so können wir erkennen, daß die Anzahl der rationalen Akteure in der Population mit der Zeit ansteigen muß. Die Zunahme oder der Anstieg der Rationalität der Akteure, ein psychologisches (zweitweltliches) Phänomen, läßt sich auf diese Weise, d. h. auf Grundlage der Theorie der Gefangenendilemmanormen, als ein Rückkoppelungsprodukt drittweltlicher Phänomene (Problemsituationen) thematisieren. Es ließe sich zeigen, daß die Erklärung des europäischen Zivilisationsprozesses und der damit einhergehenden Zunahme der Rationalität der Akteure durch Norbert Elias l438 genau nach diesem Muster erfolgt. Der Beweis für diese Behauptung wird an dieser Stelle allerdings nicht angetreten. Ich möchte abschließend zu diesem Themenkreis noch einmal betonen, daß soziologische Gesetze auf der Ebene der normativen Steuerungsebene drittweltliche, d. h. logische Gesetze sind und daß soziologische Theorien, in denen solche (logischen) Gesetze vorkommen, dann empirischen Charakter haben, wenn es sich bei den Randbedingungen der Theorie um empirische Feststellungen handelt.
1438 Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziologische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 und Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziologische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978.
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Dieser Sachverhalt wurde, wie ich es im Abschnitt D.lV.6.e) bereits angeführt habe, von Karl Popper erkannt. Seine Ausführungen zu diesem Thema sind möglicherweise etwas mißverständlich. Ganz unmißverständlich zu dieser Frage äußert sich aber Friedrich von Hayek. Als Illustrationsobjekt dient ihm das sogenannte "Gesetz der Grundrente": "In seiner ursprünglichen Form war es ein Satz über Wertänderungen eines Dinges, das physikalisch definiert war, nämlich Land. Es besagt, daß Änderungen in dem Wert von Waren, in deren Produktion Land gebraucht wird, eine viel größere Änderung im Wert des Landes verursachen werden als im Wert der anderen Faktoren, die mitverwendet werden. In dieser Form ist es eine empirische Verallgemeinerung und sagt uns weder, warum, noch unter welchen Bedingungen es gilt. In der modernen Volkswirtschaftslehre treten an seine Stelle zwei verschiedene Sätze verschiedenen Charakters, welche zusammen zu der gleichen Schlußfolgerung führen. Der eine ist Teil der reinen Wirtschaftstheorie und besagt, daß, wo immer in der Produktion einer Ware verschiedene (knappe) Faktoren erforderlich sind, deren Verhältnis variiert werden kann und von denen einer nur für diesen Zweck (oder verhältnismäßig wenige Zwecke) verwendet werden kann, während die anderen ausgedehntere Verwendungsmöglichkeiten haben, eine Änderung im Wert des Produktes den Wert des ersteren mehr beeinflussen wird als des letzteren. Der zweite Satz ist die empirische Feststellung, daß Land in der Regel ein Faktor der ersteren Art ist, d. h., daß die Menschen viel mehr Verwendungsmöglichkeiten für ihre Arbeit kennen als für ein bestimmtes Stück Land. Der erste dieser Sätze ist, wie alle Sätze der reinen Wirtschaftstheorie, ein Satz über die Implikationen von bestimmten menschlichen Einstellungen gegenüber Dingen und als solcher notwendig wahr, unabhängig von Zeit und Ort. Der zweite ist eine Behauptung, daß die Bedingungen, die im ersten Satz gefordert werden, zu einer gegebenen Zeit und für ein bestimmtes Stück Land zutreffen, weil die Leute, die damit zu tun haben, bestimmte Ansichten über seine Verwendungsmöglichkeit und die Verwendungsmöglichkeit von anderen Dingen haben, die zu seiner Kultivierung erforderlich sind. Als empirische Verallgemeinerung kann er sich natürlich als unzutreffend erweisen und oft wird das auch der Fall sein. Wenn z. B. ein Stück Land verwendet wird, um eine spezielle Frucht zu erzeugen, deren Kultivierung eine seltene Geschicklichkeit erfordert, so kann die Wirkung eines Sinkens der Nachfrage für die Frucht ausschließlich auf die Löhne der Leute mit dieser speziellen Geschicklichkeit fallen, während der Wert des Landes möglicherweise praktisch unberührt bleibt. ,,1439 Diese Ausführungen scheinen mir ganz deutlich zu sein. Die fragliche Theorie besteht aus zwei Sätzen. Der erste Satz ist ein logisches Gesetz. Es ist notwendig wahr. Der zweite Satz ist eine empirische Feststellung, die besagt, daß die Voraussetzungen der Theorie im gegebenen Fall tatsächlich vorliegen. Und führt die Theorie in einem konkreten Fall zu falschen Voraussagen, so war, wie
1439
Hayek, Mißbrauch. S. 39 f.
40 Meleghy
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wir gesehen haben nach Friedrich von Hayek, der zweite empirische Satz oder Randbedingung, und keineswegs das (logische) Gesetz, falsch. Diese Besonderheit der Sozialwissenschaften (gemeint ist der Umstand, daß die Gesetze dieser Wissenschaften logische Gesetze sind) wird von Friedrich von Hayek auf den besonderen Charakter des Gegenstandsbereiches der Sozialwissenschaften zurückgeführt. Die Gegenstände dieser Wissenschaften haben Friedrich von Hayek zufolge "subjektiven Charakter".I440 Damit ist nach Friedrich von Hayek folgendes gemeint. Während die sogenannten Naturwissenschaften sich mit irgend weIchen materiellen Dingen beschäftigen, befassen sich die Sozialwissenschaften mit ideellen Gegenständen, d. h. mit Gegenständen, die aus Begriffen und Ideen aufgebaut sind. Die ideellen Gegenstände, mit denen die Sozialwissenschaften sich beschäftigen, sind nach Friedrich von Hayek nicht gleichzusetzen mit ihren konkreten Erscheinungen in den Köpfen von konkreten Menschen: "Während Begriffe oder Ideen natürlich nur in den einzelnen Denkenden existieren können und während insbesondere nur im einzelnen Verstand die verschiedenen Vorstellungen aufeinander wirken können, ist es doch nicht die Gesamtheit der Einzeldenkenden in all ihrer Komplexität, sondern es sind die individuellen Begriffe, die Ansichten, die die Menschen von einander und von den Dingen gebildet haben, die die wahren Elemente des sozialen Gefüges bilden.,,1441 Friedrich von Hayeks subjektive Phänomene sind demnach keine empirischen (zweitweltlichen) Phänomene, sondern drittweltliche ideelle Gegenstände. Wir können diesen Sachverhalt, wie mir scheint, etwas klarer, daher auch so ausdrücken: Gegenstand der Sozialwissenschaften sind nicht die zweitweltlichen psychologischen Denkprozesse der Menschen sondern die drittweltlichen ideellen (d. h. drittweltlichen) Inhalte dieser Prozesse. Und die ideellen drittweltlichen Phänomene, mit denen die Sozialwissenschaften sich beschäftigen, stehen untereinander in logischen und nicht in empirischen Beziehungen. Daher sind die Gesetze, die die Beziehungen dieser Phänomene untereinander beschreiben, logische und keine empirischen Gesetze. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die eingangs genannten sechs Kriterien von der Theorie der Gefangenendilemmanormen erfüllt werden. Die Theorie der Gefangenendilemmanormen ist 1. keine geschichtliche Theorie, sie ist 2. eine evolutionäre Theorie, sie ist 3. eine soziologische Theorie, sie enthält 4. nur logische Gesetze, sie hat 5. empirischen Charakter und sie kommt 6. einerseits ohne psychologische Annahmen aus, sie ermöglicht andererseits, daß psychologische Phänomene als Rückkoppelungsprodukte drittweltIicher Phänomene thematisiert werden. Das Ziel dieser Ausführungen war aber nicht,
Hayek, Mißbrauch. S. 39. 1441 Ebd. S. 42 f.
1440
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eine bestimmte Theorie zu entwickeln, sondern zu zeigen, wie eine Theorie von Normen und Institutionen grundsätzlich aussehen sollte.
3. Kulturelle Phänomene Für viele Soziologen ist das wesentlichste Kennzeichen soziologischer Gegenstände, daß diese kulturelle Phänomene sind. Weder die innerartlichen Wechselwirkungen der Individuen einer Art (soziale Phänomene) noch die normativen Entscheidungen (der Mitglieder) einer Gesellschaft (normative Phänomene) sind nach dieser Auffassung für sich genommen schon soziologische Gegenstände. Zu dem soziologischen Gegenstandsbereich zählen nach dieser Auffassung diese Erscheinungen nur dann, wenn es sich bei ihnen gleichzeitig um kulturelle Phänomene handelt.
a) Zum Kulturbegriffin der Soziologie Sucht man nach dem Faktor, der für die Einzigartigkeit des Menschen und seiner Gesellschaft verantwortlich ist, so ist es nach dem amerikanischen Soziologen Kingsley Davis seine Kultur. Erst diese Dimension macht nach ihm dieses Wesen, das ohne Kultur ein Tier wäre, zum Menschen. Was also den Menschen und seine Gesellschaft von den übrigen Primaten und ihrer Gesellschaften unterscheidet ist nach Kingsley Davis die Zugabe der Kultur. Daher beinhaltet nach ihm das Studium der menschlichen Gesellschaft das Studium der Kultur: "The study of human society, therefore, involves the study of culture. No matter what aspect or part of society is considered, the presence or a cultural mode of transmission is of paramount importance. If, for instance, it is a question of the family, a sheer biological interpretation, which omits culture as a basis of explanation, will not do. Family patterns are cultural patterns, and their variations from place to place and time to time are cultural variations. It is culture that makes necessary the distinction between marriage and mating, legitimacy and iIIegitimacy, authority and dominance. If cuIture is so significant with respect to the family, how much more significant must it be with respect to such things as economic, political, and religious organization. By no stretch of the imagination can the difference between a democracy and a dictatorship, for example, be explained as a biological difference." 1442 Die Analyse der menschlichen Gesellschaft muß nach Kingsley Davis also auf der kulturellen Ebene erfolgen und die Erforschung des Ursprungs, der Natur und Bedeutung der Kultur ist nach ihm eine der wichtigsten Aufgaben der Soziologie. I443
1442
1443
Davis, Kingsley, Human Society. New York: Macmillan 1955, S. 4. V gl. ebd. S. 4.
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Die Kultur umfaßt nach Pitirim Sorokin alle Phänomene, die Menschen, in dem sie miteinander interagieren oder sich gegenseitig beeinflussen, bewußt oder unbewußt hervorbringen oder verändern. Entsprechend dieser Vorstellung sind nicht nur Wissenschaft, Religion, Kunst, Technik und alle materiellen Gegenstände der technischen Zivilisation kulturelle Phänomene, sondern auch die Spuren von Eingeborenen, die von Forschungsreisenden entdeckt werden und die Knochen und Asche, die vom Lagerfeuer von prähistorischen Menschen stammen und heute von Archäologen studiert werden. 1444 Häufig werden innerhalb dieses recht umfassenden Gebietes verschiedene Bereiche unterschieden. So setzt sich die Kultur nach Roland Posner z. B. aus folgenden Teilbereichen zusammen: soziale Kultur (Institutionen), materielle Kultur (Artefakte) und mentale Kultur (Mentefakte). Kultur ist nach Georg Simmel die Vergegenständlichung des Geistes. Sie ist menschliche Geistestätigkeit, aber in einer Form, die die Aufbewahrung und Anhäufung der Bewußtseinsprodukte ermöglicht. Sie ist, indem sie das Weitergeben des Erfundenen (außerhalb des Erbganges) ermöglicht, nach Georg Simmel die wichtigste menschliche Erfindung überhaupt: "Mit der Vergegenständlichung des Geistes ist die Form gewonnen, die ein Konservieren und Anhäufen der Bewußtseinsarbeit gestattet; sie ist die bedeutsamste und folgenreichste unter den historischen Kategorien der Menschheit. Denn sie macht zur geschichtlichen Tatsache, was als biologische so zweifelhaft ist: die Vererbung des Erworbenen.,,1445 . Dieselbe Eigenschaft der Kultur wird auch von Thomas Luckmann betont: "Objektivierungen sind die Ergebnisse subjektiver Handlungen, die - als Bestandteile einer gemeinsamen Welt - sowohl ihren Produzenten wie auch anderen Menschen zur Verfügung stehen .... Überdies beruht die Aufrechterhaltung der Symbolwelten über die Generationen hinweg (wodurch sie zum Kernstück sozialer Traditionen werden) auf Vorgängen der gesellschaftlichen Vermittlung von Wissen.,,1446 Da Kultur auf dem Prinzip der Weitergabe des erworbenen Wissens außerhalb des Erbganges beruht, beginnt die kulturelle Entwicklung auf der Ebene des Individuums, wie Günter Dux betont, immer auf den frühen Stufen der Ontogenese. Für alle menschlichen Individuen gibt es einen Punkt, wo sie biologische Wesen sind, die zwar die Voraussetzungen für eine kulturelle Überformung mitbringen, aber noch keine kulturellen Wesen sind. In diesem Punkt beginnt ihre kulturelle Entwicklung:
1444 Vgl. Sorokin, Social and Cultural Dynamics. Boston: Porter Sargent 1970, S. 2. 1445 Simmel, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Herausgegeben und eingeleitet von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S.103. 1446 Luckmann, Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 80 f.
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"Immer beginnt die spezifische kulturelle Entwicklung, jene alles beherrschende Nötigung, lernen zu müssen und Verhaltensformen und Wissen selbst auszubilden, auf den frühen Stufen der Ontogenese. Immer gibt es eine Stufe Null der Geburt, in der der Mensch als biologisches Lebewesen da ist, einiges an biologischer Ausstattung für die künftigen Lebensformen mitbringt, nur die geistig-kulturellen Lebensformen selbst noch nicht. Die müssen allemal erst entwickelt werden.,,1447
Kultur in diesem Sinne ist ein System von externen Objektivationen. Kulturelle Phänomene haben ihre objektiven Eigenschaften und ihre eigene innere objektive Logik. Daher ist das Denken und die Analyse kultureller Phänomene ausschließlich in der Kategorie der Widerspiegelung von Klasseninteressen nach Pierre Bourdieu grundsätzlich verfehlt. Eine solche (reduktionistische) Analyse läßt nach ihm die innere Logik der kulturellen Objektivationen außer Betracht. So verrät, so das Beispiel von Pierre Bourdieu, die Aussage "Religion (sei) das ,Opium des Volkes' ... nicht viel über die Struktur der religiösen Botschaft". dabei ist. so Pierre Bourdieu weiter, "die Struktur (... ) die Bedingung für die Erfüllung der (z. B. oben angeführten) Funktion." "Die ausschließliche Aufmerksamkeit für die Funktionen". schreibt Pierre Bourdieu. "führt in der Tat dazu. die Frage der internen Logik der kulturellen Gegenstände, ihre Struktur als Sprachen zu ignorieren.,,1448 Die Kultur ist. wie wir gesehen haben, das Phänomen. dem der Mensch sein Mensch-Sein verdankt. Kultur. oder genauer die Kulturfähigkeit, ist die wichtigste menschliche Eigenschaft überhaupt. Durch seine Kultur erhebt sich der Mensch aus dem Reich der biologischen Natur. Das Verhalten des Menschen ist kulturelles Verhalten. Mittels biologischer Kategorien läßt sich das menschliche Verhalten daher nicht adäquat beschreiben und analysieren (Kingsley Davis. Georg Simmel). Kultur ist ein umfassendes Phänomen. Zu der Kultur gehören alle gesellschaftlichen Institutionen sowie alle Arte- und Mentefakte (Kingsley Davis. Pitirim Sorokin, Roland Posner). Kultur ist ein gesellschaftliches Produkt. Sie entsteht durch die Wechselwirkung menschlicher Individuen und sie wird gesellschaftlich (durch die Wechselwirkung menschlicher Individuen) vermittelt (Kingsley Davis, Thomas Luckmann). Kultur ist die Erfindung des Menschen. Sie ist ein menschliches Produkt, ein Produkt des menschlichen Geistes (Georg Simmel. Pitirim Sorokin. Thomas Luckmann). Kulturelle Phänomene sind externe Objektivationen oder objektive Vergegenständlichungen des menschlichen Geistes (Georg Simmel, Thomas Luckmann). Diese externen Produkte des menschlichen Geistes haben ihre objektiven Eigenschaften. Kulturelle Phänomene erschöpfen sich daher nicht in ihren Funktionen. Eine lediglich funktionale Analyse vernachlässigt den objektiven Charakter der Kultur (Pierre Bourdieu). Kultur bedeutet. die Konservierung. Weitergabe und Anhäufung erworbener Fähigkeiten (Georg Simmel, Thomas Luckmann). Diese neue
1447 1448
Dux, Die Logik der Weltbilder. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 67. Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg: VSA 1991, S. 110.
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Erfindung des Menschen ermöglicht die Vererbung erworbener Eigenschaften, ein Vorgang, der in der nichtmenschlichen Natur nicht vorkommt (Georg Simmel, Thomas Luckmann, Günter Dux). Das bedeutet, daß die kulturelle Entwicklung des menschlichen Individuums an einer frühen Stufe der Ontogenese beginnt (Günter Dux). Als kulturell wurden von uns l449 ontogenetisch erworbene und ontogenetisch (generationenübergreifend) weitergegeben Formen des Wissens und Könnens, sowie die Manifestationen dieses Wissens und Könnens bezeichnet. Die kulturellen Phänomene sind einerseits drittweltliche (3a- und 3b-weltliche) Steuerungen, andererseits erst- und zweitweltliche Phänomene, die von diesen Phänomenen gestaltet oder zumindest mitgestaltet wurden. In den angeführten Aussagen lassen sich alle Elemente dieser Konzeption wiederfinden. Bemerkt wird auch, was in unserem Zusammenhang besonders wichtig ist, daß die Erfindung der Kultur die Möglichkeit zur Konservierung, Weitergabe und Anhäufung erworbener Fähigkeiten bedeutet. Tatsächlich bedeutet Kuitur l450 nicht lediglich die Möglichkeit zur Konservierung, Weitergabe und Anhäufung erworbener Fähigkeiten, sondern die tatsächliche Konservierung, Weitergabe und Anhäufung erworbener Fähigkeiten (in welchem Ausmaß und von welcher Dauer blieb allerdings offen). Nicht der flüchtige Gedanke (auch wenn dieser sprachlich formuliert wurde und daher ein externes, objektives drittweltliches Phänomen wurde), an den sich sein Schöpfer einige Sekunden danach nicht mehr, und auch später nie mehr, erinnert, und auch nicht die Zeichnung eines Eingeborenen im Sand, die bereits Bruchteile von Sekunden später vom Wind verweht wurde, sondern der erinnerte und mitgeteilte Gedanke und die (warum auch immer) übriggebliebenen Lebensspuren der Eingeborenen, sind kulturelle Phänomene. Andere in der Literatur vorfindbaren Aussagen zur Kultur wurden im Abschnitt E.1.3. allerdings zurechtgerückt. So ist die Kultur, im Sinne der ontogenetischen Weitergabe ontogenetisch erworbener Fähigkeiten, keine Erfindung des Menschen, auch wenn sie in dem Ausmaß wie beim Menschen bei keiner anderen Art vorkommt. Aber auch der Hinweis auf den sozialen Charakter der Kultur, obwohl dieser Hinweis durchaus zutreffend ist - Kultur wird sozial produziert und sozial weitergegeben (in einem Prozeß, der als innerartliche Verhaltenskoppelung beschrieben werden kann) - muß insofern relativiert werden, daß auch die Produktion und Weitergabe biologisch vererbter Fähigkeiten, zumindest seit der Erfindung der sexuellen Reproduktion, sozialen Charakter hat (auch dieser Vorgang läßt sich als innerartliche Verhaltenskoppelung beschreiben).
1449 1450
Vgl. Abschnitt E.I.3. Vgl. ebd.
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Daß die Soziologie sich mit den festen oder andauernden, d. h. in diesem Sinne kulturellen Produkten des menschlichen Geistes beschäftigen sollte, wird heute insbesondere von der Kultursoziologie betont. Dabei versteht sich die Kultursoziologie nicht als eine besondere Bindestrich-Soziologie neben anderen Bindestrich-Soziologien, sondern als eine besondere ,,Ausprägung und Vertiefung der allgemeinen Soziologie.,,1451 Betont wird von der Kultursoziologie, daß die Soziologie nie auf die "gesellschaftliche(n) Bedingtheit von Kultur und auf die kulturelle(n) Verfaßtheit des Sozialen"1452 vergessen darf. Es geht damit der Kultursoziologie um die Rückkehr zu einer Perspektive, die bereits von den Klassikern des Faches ausgearbeitet wurde. ,,Man pflegt heute", so Friedrich Tenbruck, "den Menschen als soziales Wesen zu bezeichnen. Das ist zwar richtig, aber nicht charakteristisch, weil es auch für viele und keineswegs nur die höheren Tiere gilt.,,1453 Charakteristisch für den Menschen ist nach Friedrich Tenbruck vielmehr, daß er ein kulturelles Wesen ist. Und die Kultur ist "geronnener Geist".1454 Und zu der Kultur und damit zu den soziologischen Gegenständen gehört daher "alles, was erst durch menschliches Handeln wirklich wird: alle Artefakte vom einfachsten Werkzeug bis zur modernen Technik, die ,kultivierte' Natur und das Wirtschaften, die schönen Künste, wie die Wissenschaften, die Institutionen und Vergesellschaftungen nebst Spiel und Sport. Auch eine Maschine ist eben, geronnener Geist' und existiert nur für den, der sie nach ihren Bedeutungen in ihrem Sinn versteht. Und so für alle sonstigen Erscheinungen, in denen menschliches Handeln steckt. Denn selbstverständlich ist auch alle Gesellschaft eine Kulturerscheinung, die aus dem sinnhaften Handeln von Menschen entsteht und auf sinnhaften Bedeutungen beruht. In der Vielfalt ihrer Erscheinungen dokumentiert sich, daß der Mensch ein Kulturwesen, statt bloß ein Sozial wesen iSt.,,1455 Kultur ist, wie wir gesehen haben, geronnener Geist, und man könnte hinzufügen, je geronnener umso besser, daher auch zentraler und wichtiger für die Soziologie. So ist für Friedrich Tenbruck unter allen Kulturerscheinungen für die Soziologie die ,,repräsentative Kultur,,1456 am wichtigsten. Der Begriff der repräsentativen Kultur "bezieht sich auf jene grundlegenden ,Ideen', die in einer Gesellschaft jeweils als richtig, wahr, gültig angesehen oder so respektiert werden.,,1457 Bezogen auf ihre zentrale Aufgabe, die Erforschung der repräsen-
1451 Lipp, Drama Kultur. Berlin: Duncker und Humblot. 1994, S. 250. 1452 Ebd. S. 250. 1453 Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Modeme. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 15. 1454 Ebd. S. 15. 1455 Ebd. S. 15 f. 1456 Tenbruck, Repräsentative Kultur. In: Hans Hajerkamp, Sozialstruktur und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 29. 1457 Ebd. S. 32.
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tativen Kultur, hat die Soziologie nach Friedrich Tenbruck folgende Aufgaben: ,,(a) die Erhebung der repräsentativen Bestände der Kultur, (b) die Identifizierung ihrer Erzeuger und Erhalter, (c) die Aufdeckung der Mittel und Wege ihrer Verbreitung und (d) die Abschätzung ihres Einflusses auf das soziale Handeln. ,,1458 Die Kultursoziologie hat nach Friedrich Tenbruck, wie wir gesehen haben, alle dauerhaften und festen normativen (3a-weltlichen) und kognitiven (3bweltlichen) Phänomene, sowie deren erst- und zweitweltlichen Manifestationen zu ihrem Gegenstand. Der zentrale soziologische Untersuchungsgegenstand ist jedoch nach ihm die repräsentative Kultur, also die dauerhaften und festen kognitiven (3b-weltlichen) Bestandteile der Kultur. Auf die von Friedrich Tenbruck angedeutete Unterscheidung zwischen einem engeren sozialen (wozu alle Phänomene des menschlichen Aufeinanderbezogenseins zählen) und einem weiteren kulturellen Gegenstandsbereich beruht auch die Unterscheidung zwischen der Sozial- und Kulturanthropologie. Der Begriff Kultur bezieht sich für den Kulturanthropologen "auf die charakteristischen Unterschiede, die zwischen Mensch und Tier bestehen und so dem seither klassisch gebliebenen Gegensatz zwischen nature und culture zur Entstehung verhalfen. Unter diesem Blickwinkel figuriert der Mensch als homo faber oder, wie die Angelsachsen sagen, als toolmaker. Bräuche, Glaubensinhalte und Institutionen erscheinen dann wie Techniken unter anderen, nur intellektueller Art: Techniken, die im Dienste des sozialen Lebens stehen und es ermöglichen, wie die Ackerbautechniken die Befriedigung der Nahrungsbedürfnisse oder der Bekleidungstechniken den Schutz gegen die Unbilden der Witterung. Die Sozialanthropologie reduziert sich auf die Untersuchung der sozialen Organisationen, ein wesentliches Kapitel, aber immerhin nur ein Kapitel unter all denen, die die Kulturanthropologie ausmachen.,,1459 "So definiert der Sozialanthropologe Radcliffe-Brown den Gegenstandsbereich seiner Untersuchungen als ,soziale Beziehungen und Sozialstruktur'. Nicht mehr der homo faber steht im Vordergrund, sondern die Gruppe, und zwar die als Gruppe untersuchte Gruppe.,,1460
Auch die Kultur- und Sozialanthropologie betont den gesellschaftlichen oder sozialen Ursprung der Kultur und die kulturelle Bedingtheit menschlich sozialer Phänomene. Während der Gegenstandsbereich der Kulturanthropologie alle kulturellen, d. h. festen oder geronnenen normativen (3a-weltlichen) und kognitiven (3b-weltlichen) Phänomene, sowie deren erst- und zweitweltlichen Manifestationen umfaßt, beschäftigt sich die Sozialanthropologie mit einem Teilbe-
1458 1459
Tenbruck, Repräsentative Kultur. S. 36. Uvi-Strauss, Strukturale Anthropologie I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967,
S.381. 1460 Ebd. S. 381 f.
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reich der Kultur, mit den Vorstellungen über das Zusammenleben des Menschen, mit den Regeln des menschlichen Zusammenlebens und mit dem Zusammenleben der Menschen in Gruppen und Gesellschaften als Manifestationen der von ihr untersuchten kognitiven und normativen Kulturerscheinungen. Die zentralsten soziologischen Gegenstände sind nach Emile Durkheim, wie wir gesehen haben,1461 die festen und dauerhaften, also in dem hier gemeinten Sinne des Wortes, kulturellen Normen einer Gesellschaft. Charakteristisch für Emile Durkheims soziologischen Tatbestände ist, daß sie 1. außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren, 2. daß sie die Fähigkeit besitzen, auf das individuelle Bewußtsein einen Druck auszuüben und 3. daß sie dauerhafte Gebilde sind, die, wie Emile Durkheim betont, bereits vor dem einzelnen Individuum da waren. 1462 Soziologie wird von Emile Durkheim entsprechend definiert als "die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart".1463 Die ersten beiden Kriterien, 1. externer Charakter und 2. die Fähigkeit, auf individuelle Bewußtseine einen Druck auszuüben, haben Emile Durkheims soziologischen Tatbestände mit allen drittweltlichen Phänomenen gemeinsam. Alle drittweltlichen Phänomene, gleich ob es sich bei ihnen um normative (3a-weltliche) oder kognitive (3b-weltliche) und gleich ob es sich bei ihnen um flüchtige oder feste Phänomene handelt, haben externen Charakter und besitzen die Fähigkeit, auf das individuelle Bewußtsein einen Druck auszuüben. 1464 Erst das dritte Kriterium, ihre Dauerhaftigkeit, kennzeichnet Emile Durkheims soziologische Tatsachen als kulturelle Phänomene. Gegenstand der Soziologie nach Georg Simmel sind die menschlichen Beziehungen oder die Wechsel wirkungen der Menschen untereinander (also in dem hier verwendeten Sinne soziale Phänomene), soweit diese feste und dauerhafte Formen angenommen haben. Georg Simmel sieht den Gegenstandsbereich soziologischer Untersuchungen in den Beziehungen oder Wechsel wirkungen menschlicher Individuen untereinander. Es sind diese Beziehungen oder Wechselwirkungen, die nach Georg Simmel aus einem Haufen von Menschen eine Gesellschaft machen. Ohne Wechselbeziehungen oder Wechselwirkungen gäbe es keine Gesellschaft. Wir können, wenn wir diese Wechselwirkungen, die Menschen in Gesellschaften aufeinander ausüben, betrachten, nach Georg Simmel analytisch zwischen Inhalt und Form dieser Wechselwirkungen unterscheiden. Als Inhalt dieser Wechselwirkungen bezeichnet Simmel "alles das, was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständigkeit und Bewegung derart vor-
1461 Vgl. E.II.I.t)aa). 1462 Vgl. Durkheim, Die Regeln. S. 105 f. 1463 Ebd. S. 100. 1464 Vgl. Abschnitt D.I. und Abschnitt E.I.4.
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handen ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht."1465 Die Inhalte der Wechsel wirkungen bringen die Gesellschaft hervor, "indem sie das isolierte nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung gehören. Die Vergesellschaftung ist also die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener - sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden - Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen. ,,1466 Die Differenzierung der Sozialwissenschaften erfolgte bisher nach Georg Simmel derart, daß sich die einzelnen Spezialdisziplinen wie die Nationalökonomie, die Politische Wissenschaft usw., je spezifische Inhalte dieser Wechselbeziehungen zu ihrem Gegenstandsbereich gewählt haben. Die Soziologie als die Wissenschaft von der Gesellschaft kann nach Georg Simmel dann entweder die Summe oder Zusammenschau aller sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen sein oder, und das ist Georg Simmels Vorschlag, eine Soziologie im engeren Sinne sein, indem sie zu ihrem Gegenstandsbereich die reinen oder abstrakten Formen der Vergesellschaftung wählt. Obwohl nach Georg Simmel Form und Inhalt sozialer Phänomene nur analytisch voneinander trennbar sind - sie sind zwei unterscheidbare Aspekte eines Globalphänomens - so sind doch Form und Inhalt voneinander relativ unabhängig: "So mannigfaltig auch die Interessen sind, aus denen es überhaupt zu diesen Vergesellschaftungen kommt - die Formen, in denen sie sich vollziehen, können dennoch die gleichen sein. Und nun andrerseits: das inhaltlich gleiche Interesse kann sich in sehr verschiedenartig geformten Vergesellschaftungen darstellen.,,1467 Nicht nur also hat die Soziologie mit diesen reinen oder abstrakten Formen einen spezifisch eigenständigen Gegenstandsbereich, sondern diese Formen ihres Gegenstandsbereiches besitzen von den Phänomenen, die die anderen Sozialwissenschaften untersuchen auch eine, wenn auch relative, Unabhängigkeit. Betrachtet man die reinen oder abstrakten Formen der Vergesellschaftung, so drängen sich dem Beobachter zunächst bestimmte festere Formen auf, durch die die mächtigsten Interessen und Bestrebungen sich organisiert haben und die sich von ihren Trägern - den einzelnen Individuen - bereits gelöst haben. In diesen festen und sich beharrenden Formen der Vergesellschaftung erblickt Georg Simmel die eigentlichen Objekte der Soziologie: 1465 S·Imme,I SOZIO . Iogle. . S. 5. 1466 Ebd. S. 5. 1467 Ebd. S. 7.
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"Man kann aber die Grenze des eigentlich socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechselwirkung der Personen untereinander nicht nur in einem subjektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Unabhängigkeit von den einzelnen daran teilnehmenden Persönlichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten, da ist Gesellschaft als Realität eigener Art entstanden.,,1468 An anderer Stelle betont Georg Sirnmel aber auch die Notwendigkeit der Erforschung der unzähligen flüchtigen Formen der Wechselwirkung ohne die die festen und beharrenden Formen weder entstehen würden, noch existieren könnten. Das ist nach Georg Simmel zwar eine sehr schwere, gleichzeitig aber wichtige Aufgabe: "Was die wissenschaftliche Fixierung solcher unscheinbaren Sozial formen erschwert, ist zugleich das, was sie für das tiefere Verständnis der Gesellschaft unendlich wichtig macht: daß sie im allgemeinen noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt sind, sondern die Gesellschaft gleichsam im status nascens zeigen.,,1469 Soziologische Gegenstände im engeren Sinne sind nach Georg Simmel also nicht alle Formen menschlicher Wechsel wirkungen, sondern nur die festen und beharrenden Formen der menschlichen Vergesellschaftung. Die flüchtigen Formen menschlicher Wechsel wirkungen sind nach Georg Simmel dagegen keine im engeren Sinne soziologischen Gegenstände. Für sie interessiert sich die Soziologie, weil sie ihr helfen, die Entstehung, Fortbestand und Wandel der Phänomene ihres eigentlichen Gegenstandsbereiches, die festen oder beharrenden Formen der menschlichen Vergesellschaftung, zu verstehen und zu erklären. Die Dimension, auf der kulturelle Phänomene lokalisiert werden können, wurden von uns mittels einer besonderen hierarchischen Ordnung - Hierarchie dritter Art - charakterisiert. Die untere Stufe dieser hierarchischen Ordnung wird von bereits bewährten und weitergegebenen, also kulturellen, die obere Stufe von noch nicht bewährten, d. h. noch nicht weitergegebenen normativen und kognitiven Problemlösungen gebildet. Wir benötigen für die gen aue Kennzeichnung kultureller Phänomene allerdings sowohl die Hierarchie 1., 2. und 3. Art. Wir bezeichneten als kulturell oberhalb der biologischen Steuerungsebene liegenden (Hierarchie 2. Art), bewährte, d. h. weitergegebene (Hierarchie 3. Art) Steuerungen sozialer wie nichtsozialer Phänomene (Hierarchie 1. Art). 1470
1468 Simmel, Aufsätze 1887-1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Georg Simmels Gesamtausgabe. Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 133. 1469 Simmel, Soziologie. S. 15. 1470 Vgl. Abschnitt E.IA.
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Will man nun kultureIIe Phänomene erforschen, dann kann man sich entweder unmittelbar mit den drittweltlichen kultureIIen Steuerungen beschäftigen, aber auch mit den gesteuerten sozialen wie nichtsozialen Phänomenen befassen, in denen sich die Wirkung der drittweltlichen kultureIIen Steuerungen manifestiert. Die Kultursoziologie befaßt sich sowohl mit den kultureIIen Steuerungen, als auch mit den von diesen Steuerungen gestalteten oder mitgestalteten Phänomenen. Dasselbe trifft aber auch auf die Kulturanthropologie zu. Die Sozi al anthropologie behandelt dagegen nur einen Teilbereich dieser Kulturerscheinungen. Nach Emile Durkheim sind die zentralsten soziologischen Gegenstände die kultureIIen Normen einer GeseIIschaft. Die Soziologie beschäftigt sich nach ihm darüber hinaus aber auch mit aIIen von den kultureIIen Normen gestalteten oder mitgestalteten sozialen wie nichtsozialen Phänomenen. In diesem Zusammenhang läßt sich die folgende Frage aufwerfen: Warum sollten diese Kulturerscheinungen gerade in den Gegenstandsbereich der Soziologie fallen? Diese Zuordnung wird, wie wir gesehen haben, gewöhnlich damit begründet, daß die kultureIIen Steuerungen die Erzeugnisse der Wechsel wirkungen menschlicher Individuen, und in diesem Sinne soziale Phänomene sind. Der Unterscheidung zwischen Kultur- und Sozialanthropologie liegt aIIerdings eine ganz andere Idee zugrunde. Denn daß die Kultur (im oben angegebenen Sinne) ein soziales Phänomen ist, ist auch in der Kulturanthropologie bekannt. Kultur- und Sozial anthropologie behandeln Gegenstände, die geseIIschaftIichen Ursprungs sind. Die Unterscheidung zwischen Kultur- und Sozialanthropologie bezieht sich nicht auf die Herkunft, sondern auf den Funktionsbereich der behandelten Phänomene. Georg Simmels Konzeption steIIt innerhalb dieses Abschnittes irgend wie einen Fremdkörper dar. Soziologie ist nach Georg Simmel, wie wir gesehen haben, eine Wechselwirkungswissenschaft. Gegenstand der Soziologie sind nach ihm menschlich soziale Phänomene und nicht die kulturellen normativen und kognitiven Steuerungen der GeseIIschaft. AIIerdings behandelt die Soziologe nach Georg Simmel nicht die Inhalte sondern die Formen sozialer Phänomene. Und nicht aIIe sozialen Wechselwirkungen bzw. deren Formen sind nach Georg Simme1 soziologische Gegenstände, sondern nur die festen oder beharrenden, oder wie Georg Simme1 sich ausdrückt, die objektiven sozialen Gebilde bzw. deren Formen. Dieses zuletzt genannte Merkmal soziologischer Gegenstände, ihr beharrender Charakter, motiviert die Behandlung Georg Simmels Konzeption an dieser SteIIe. Die Frage, die hier behandelt werden soII, lautet: Sind Georg Simmels objektive soziale Formen kultureIIe Phänomene? KultureIIe Phänomene sind nach Georg Simmel, wie wir gesehen haben, Objektivationen oder Vergegenständlichungen des menschlichen Geistes, weIche aufbewahrt und außerhalb des Erbganges weitervererbt werden können. KultureIIe Erscheinungen sind
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nach Georg Simmel u. a.: "Sprache, Sitte, Religion, Recht".I471 Diese Kulturerscheinungen sind nach Georg Simmel geistige Produkte des Menschen, aber zustande gekommen in einem komplexen sozialen Prozeß, dessen Ergebnis, die konkrete Kulturerscheinung, ein von niemanden beabsichtigtes Resultat dieses Prozesses darstellt. Georg Simmel: "Endlich ist an jene objektiven Gebilde zu erinnern, die als geistiger Kollektivbesitz, die Gesellschaft als solche eigentlich erst begründen: Recht und Sitte, Sprache und Denkart, Kultus und Verkehrsform. Gewiß wäre alles dies nicht ohne die bewußte Thätigkeit der Einzelnen zustandegekommen; allein diese wird sich fast nie auf das ganze schließlich resultierende Gebilde als auf ihren Zweck gerichtet haben. Vielmehr arbeitet jeder an seinem Teil, und das ganze, dessen Teil dieser ist, entzieht sich seinem Blick.,,1472 "Für das Gewebe des socialen Lebens gilt es ganz besonders: Was er webt, das weiß kein Weber." 1473 Charakteristisch für moderne Gesellschaften ist nach Georg Simmel, daß sich in ihnen ein geistiger Kollektivbesitz angehäuft hat, der von keinem Individuum mehr überschaut werden kann. "In Sprache und Sitte, politischer Verfassung und Religionslehren, Literatur und Technik ist die Arbeit unzähliger Generationen niedergelegt, als gegenständlich gewordener Geist, von dem jeder nimmt, so viel er will oder kann, den aber überhaupt kein einzelner ausschöpfen könnte; zwischen dem Maß dieses Schatzes und dem des davon Genommenen bestehen die mannigfaltigsten und zufälligsten Verhältnisse, und die Geringfügigkeit oder Irrationalität der individuellen Anteile läßt den Gehalt und die Würde jenes Gattungsbesitzes so unberührt, wie irgendein körperliches Sein es von seinem einzelnen Wahrgenommen- oder Nichtwahrgenommenwerden bleibt. ,,1474 Georg Simmel spricht in diesem Zusammenhang vom ,,Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur".1475 Georg Simmels objektive Kultur besteht aus von Generation zu Generation weitervererbten normativen (3a-weltliche) und kognitiven (3b-weltliche) Werkzeugen oder Mitteln der Lebensbewältigung. Diese kulturellen Phänomene sind keine sozialen Gebilde sondern die Produkte sozialer Gebilde. Gegenstand der Soziologie nach Georg Simmel sind nicht diese kulturellen Phänomene selber sondern die sozialen Wechselwirkungsprozesse (bzw. deren Formen), deren Produkte diese Kulturerscheinungen sind.
Simmel, Schriften. S. 96. Simmel, Aufsätze. S. 315. 1473 Ebd. S. 316. 1474 Simmel, Schriften. S. 99. 1475 Ebd. S. 95. 1471
1472
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Betrachtet man Georg Simmels objektive soziale Gebilde vom Standpunkt des Konzeptes der drei hierarchischen Ordnungen (Hierarchie 1., 2. und 3. Art), so sind sie zunächst einmal soziale Gebilde und damit Phänomene der Hierarchie 1. Art. Es handelt sich bei ihnen um die Formen, in denen die innerartlichen Wechselwirkungen, Koppelungen, Abstimmungen usw. sich prozessual entfalten. Andererseits werden die Formen, in denen Georg Simmels Wechselwirkungsprozesse sich entfalten, wesentlich von der normativen und kognitiven Kultur der Gesellschaft bestimmt. So ist z. B. der von Norbert Elias beschriebene Machtmonopolbildungsprozeß die notwendige Folge der normativen Verfassung der von ihm analysierten feudalen Gesellschaft. 1476 Georg Simmels objektive soziale Gebilde sind in dem Sinne kulturelle Phänomene, daß sie von den kulturellen, d. h. auf Dauer gestellten Ideen und normativen Entscheidungen der Gesellschaft (mit)gestaltet werden, oder anders ausgedrückt, weil sich in ihnen die kulturellen normativen und kognitiven Steuerungen der Gesellschaft manifestieren. b) Zum Prozeß der Kulturevolution
Betrachten wir jetzt beide Stufen der Hierarchie 3. Art. Auf der oberen Stufe dieser Dimension können alle jemals sprachlich einigermaßen klar formulierten Vorschläge, Entscheidungen und Tatsachenurteile, auf der unteren Stufe alle (generationenübergreifend) weitergegebenen, d. h. auch auf Dauer gestellten und bewährten sprachlich formulierten Vorschläge, Entscheidungen und Tatsachenurteile lokalisiert werden. Der Konzeption dieser hierarchischen Ordnung liegt die Vorstellung zugrunde, daß Vorschläge, Entscheidungen und Tatsachenurteile u. a. als Wissen, d. h. auch als normative und kognitive Problemlösungen oder auch als Werkzeuge, betrachtet und als solche analysiert werden können. Eng mit der Vorstellung von Problemlösungen und Werkzeugen ist wiederum die Idee ihrer Bewertung verknüpft: es gibt gute Problemlösungen und Werkzeuge und es gibt schlechte Problemlösungen und Werkzeuge. Und man wird, eine soziale Situation vorausgesetzt, davon ausgehen können, daß gute oder brauchbare geistige (d. h. drittweltliche) Problemlösungen und Werkzeuge (von Generation zu Generation) weitervererbt, schlechte oder unbrauchbare geistige Problemlösungen und Werkzeuge dagegen nicht weitervererbt werden. Auf diese Weise entsteht ein evolutionärer Prozeß, der Prozeß der Kulturevolution. Einer der prominentesten Vertreter der Idee der Kulturevolution innerhalb der Sozialwissenschaften ist Friedrich von Hayek. Die menschliche Kultur, zu der er insbesondere die sozialen Institutionen, die moralischen Werte und die religiösen wie profanen Werterklärungssysteme zählt, sind nach ihm das Er-
1476
Vgl. Elias, Wandlungen der Gesellschaft.
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gebnis eines "kulturellen Siebungsprozesses".1477 Dies geschieht nach ihm durch "Gruppenselektion".1478 Gr~ppen, die bessere geistige Werkzeuge für die Lösung ihrer Probleme erfunden haben, erlangen im Wettbewerb mit anderen Gruppen Vorteile. Die im Wettbewerb erfolgreichen Gruppen dehnen ihren Einflußbereich aus, sie exportieren ihre Institutionen und Werterklärungssysteme, sie weisen höhere Reproduktionsraten auf und sie erhalten Zulauf aus anderen Gruppen und ihre sozialen Einrichtungen werden von anderen Gruppen imitiert. Die Kultur erfolgreicher Gruppen verbreitet sich so sowohl vertikal als auch horizontal schneller als die anderer Gruppen. Der hier beschriebene kulturelle Siebungsprozeß ähnelt nach Friedrich von Hayek in manchen Beziehungen dem Selektionsprozeß in der biologischen Evolution, er unterscheidet sich von diesem gleichzeitig aber grundlegend. In beiden Bereichen handelt es sich nach Friedrich von Hayek um einen evolutionären Selektionsprozeß: "Wir wissen heute", schreibt er, "daß alle dauerhaften Strukturen über der Ebene der einfachsten Atome bis zum Gehirn und zur Gesellschaft, das Ergebnis selektiver Evolutionsprozesse sind und nur so erklärt werden können. ,,1479 Die Kulturevolution ist nach Friedrich von Hayek, da sie auf die Weitergabe erworbener Verhaltensweisen (erworbenen Wissens) beruht, aber weit schneller als die biologische Evolution. Beim Menschen verliert die biologische Evolution im Verhältnis zur kulturellen daher an Bedeutung. 1480 Friedrich von Hayek weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Idee der kulturellen Evolution viel älter als die entsprechende Theorie im biologischen Bereich ist. Es geht also nicht darum, daß man eine biologische Theorie auf dem Gebiet der menschlichen Gesellschaft anwendet, vielmehr hat nach ihm Charles Darwin die Idee des kulturellen Siebungsprozesses auf das Gebiet der Biologie übertragen. 1481 Die Kultur ist nach Friedrich von Hayek weder das Ergebnis eines natürlichen biologischen Prozesses, noch das Ergebnis eines bewußten künstlichen Entwurfes, sondern das Resultat eines Selektionsprozesses, in dem erfolgreiche Ideen und Einrichtungen sich durchgesetzt haben. Und da der Mensch die Kultur nicht bewußt entworfen hat, versteht er sie (auch seine eigene) genauso wenig wie die Natur: "Kultur", schreibt Friedrich von Hayek, "ist weder natürlich noch künstlich. weder genetisch übermittelt noch mit dem Verstand geplant. Sie ist eine Tradition erlernter Regeln des Verhaltens, die niemals erfunden worden sind, und deren Zweck das handelnde Individuum gewöhnlich nicht versteht. ,,1482
1477 Hayek, Die drei Quellen. S. 8 und S. 16. 1478 Ebd. S.41. 1479 Ebd. S. 16. 1480 Vgl. ebd. S. 12. 1481 Vgl. ebd. S. 8 f. 1482 Ebd. S. 10.
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Es ist nach Friedrich von Hayek ein Irrtum zu glauben, daß die menschliche Kultur, weil sie weder ein angeborenes Verhaltenssystem noch das Ergebnis rationaler Planung ist, sondern auf Konventionen beruht, daher "willkürlich, beliebig, veränderlich, oberflächlich oder entbehrlich,,1483 wäre. Der Aufstieg des Menschen aus dem Tierreich, die Entstehung der menschlichen Vernunft, der Zivilisation, der Künste und der Wissenschaft wurde, Friedrich von Hayek zufolge, möglich durch die Zähmung der angeborenen Instinkte der Menschen durch konventionelle Regeln, die das friedliche Zusammenwirken der Menschen in größeren Gruppen überhaupt möglich machten. Die Kultur war, anders ausgedrückt, vor der Vernunft da und war dessen Grund und Ursprung. Die Kulturgeschichte des Menschen ist nach Friedrich von Hayek daher sehr alt und reicht weit in vorgeschichtliche Zeiten zurück. 1484 Der Besitz eines Systems von Verhaltensregeln war für die Entwicklung des Menschen, Friedrich von Hayek zufolge, weit wichtiger als zu wissen, warum die Dinge funktionierten, wie sie funktionierten. Mit anderen Worten: "Der Mensch hat sicherlich öfters gelernt, das Richtige zu tun, ohne zu verstehen, warum es richtig war.,,1485 ,,Dieses System von Verhaltensregeln enthielt damals", schreibt Friedrich von Hayek, "viel mehr ,Intelligenz' als das Denken des Menschen.,,1486 ,,Der Geist ist", wie er weiter schreibt, "in eine unpersönliche traditionelle Struktur erlernter Regeln eingebettet.,,1487 Und das ist nach Friedrich von Hayek auch heute noch so. Das Verhalten des Menschen wird Friedrich von Hayeks zufolge von drei verschiedenen Arten von Verhaltensregeln bestimmt: 1. von einer Struktur angeborener oder genetisch vererbter Reaktionsbereitschaften, die sich im Rahmen der biologischen Evolution entwickelt haben und sich nur sehr langsam ändern, 2. von einem System konventioneller Regeln, welche während der kulturellen Evolution sich herausgebildet haben und 3. von einer relativ dünneren Schicht von Regeln, die der Mensch bewußt eingeführt oder verändert hat. Friedrich von Hayek spricht in diesem Zusammenhang auch von drei "Schichten der Verhaltensregeln,,,1488 womit er zum Ausruck bringen will, daß diese drei Arten von Verhaltensregeln nicht, jeder für sich, nebeneinander bestehen, sondern zusammen eine hierarchische Ordnung bilden. Die unterste Ebene der VerhaItenssteuerung besteht aus ererbten instinktiven Verhaltensbereitschaften. Dieses System der Verhaltenssteuerung ist das Produkt der biologischen Evolution. Da dieses System sich nur sehr langsam ändert, kann man davon ausgehen, daß es an Bedingungen angepaßt ist, die für das Leben des Menschen vor
Hayek, Die drei Quellen. S. 10. 1484 Vgl. ebd. S. 12 f. 1485 Ebd. S. 14. 1486 Ebd. S. 15. 1487 Ebd. S. 15. 1488 Ebd. S. 19.
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Einsetzen des großen Zivilisationsschubes vor etwa zwölftausend Jahren charakteristisch waren, an Bedingungen des Lebens in relativ kleinen umherziehenden Gruppen von Sammlern und Jägern. Die mittlere Ebene der Verhaltenssteuerung besteht aus konventionellen Regeln, die sich während der Kulturevolution herausgebildet haben. Diese Regeln ermöglichen dem Menschen das Zusammenleben in relativ großen und komplexen Gesellschaften. Eine der wichtigsten Aufgaben dieser Regeln ist es, die angeborenen Instinkte des Menschen, die in einer zivilisierten Umwelt unangepaßt sind, zu unterdrücken. Die oberste Ebene der Verhaltenssteuerung besteht schließlich aus Verhaltensregeln, die der Mensch aus Gründen, die ihm bewußt waren, eingeführt oder zumindest verändert hat. Als Folge dieser dreifachen Steuerung seines Verhaltens ist der moderne Mensch "von inneren Gegensätzen zerrissen".1489 Seine angeborenen Instinkte sollte er lernen zu unterdrücken, diese melden sich aber immer wieder als unangepaßte Verhaltensappelle. Die moralischen Regeln seiner Gesellschaft wurden ihm mehr oder weniger erfolgreich eingeimpft, aber sie versteht es nicht, sie werfen ihm immer wieder Fragen auf. Er möchte schließlich mit Hilfe seiner Vernunft das menschliche Zusammenleben rational gestalten, das will ihm aber (noch) nicht so recht gelingen. Durchschaut man diesen Zusammenhang, so ist es nach Friedrich von Hayek klar, daß es sehr gefährlich ist, die Menschen durch die Befreiung ihrer Instinkte von der Unterdrückung befreien zu wollen, denn was nach ihm hier freigelegt wird, sind "die Instinkte der Wilden". 1490 Betrachten wir nun Friedrich von Hayeks drei Arten von Verhaltensregeln vom Standpunkt der Konzeption der drei hierarchischen Ordnungen. Es handelt sich bei Friedrich von Hayeks drei Arten von Regeln um verschiedene Typen der Steuerung, also zunächst einmal um Phänom