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German Pages 493 [496] Year 2005
THOMAS DREPPER, ANDREAS GÖBEL und HANS NOKIELSKI (Hrsg.)
Sozialer Wandel und kulturelle Innovation
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 40
Sozialer Wandel und kulturelle Innovation Historische und systematische Perspektiven
Eckart Pankoke zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von
Thomas Drepper, Andreas Göbel und Hans Nokielski
Duncker & Humblot • Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-11624-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706© Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Thomas Drepper, Andreas Göbel, Hans Nokielski Einleitung
9
I. Ideengeschichte und moderne Gesellschaft
Franz-Xaver
Kaufmann
Vorläufer wohlfahrtsstaatlichen Denkens: Sismondi, List, Mill
43
Dirk Blasius Zeitdiagnosen: Carl Schmitt und Lorenz von Stein Karl-Siegbert
71
Rehberg
Die ,gesichtslose' Masse und das ,Ende der Persönlichkeit4
85
Arnold Zingerle Der Hypertext - kultursoziologisch betrachtet
113
Wolfgang Lipp Kultur und Zivilisation. Faktoren im Geschichtsprozess mit Blick besonders auf Terror heute: was ihn schürt, und was er zerstört....
137
Andreas Göbel Gesellschaftsstruktur und Romantik
163
II. Strukturen und Kulturen der modernen Gesellschaft Peter Fuchs Wie man die Welt am Einheitshaken aufhängen kann - Magische Beobachtung in der Moderne am Beispiel der Frühromantik und der Systemtheorie
187
Johannes Weiß Vereinigungsnationalismus?
211
6
Inhaltsverzeichnis
Helmut Geller Ende der Wachstumsgesellschaft? Prognosen und Krisenszenarien bei Marx, Schumpeter und Meadows
221
Detlef Pollack Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche in ausgewählten postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas
237
Justin Stagl Zur Soziologie der Konversion
251
Alois Brandenburg Reflexive Modernisierung von Bildung
271
Thomas Heinze Kritische Theorie als Bezugsrahmen eines reflexiven Kulturmanagements
295
Hans Nokielski Transnationale Ruhestandsmigration
311
III. Organisationsstrukturen und Organisationskulturen Helmut Klages Herausforderungen im Globalisierungsschub - das Individuum als Verantwortungs- und Risikoträger
337
Werner Nienhüser Elitenzirkulation in Organisationen. Vorarbeiten zu einer politischen Theorie organisationalen Wandels
355
Rolf G. Heinze Modernisierung durch oder gegen die organisierten Interessen? Zur Reformfahigkeit des korporatistischen deutschen Sozialmodells
383
Annette Zimmer Vereine - Organisationen des Dritten Sektors und Akteure der Zivilgesellschaft
411
Karl Gabriel Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände im Umbruch des Europäischen Sozialstaatsmodells
433
Inhaltsverzeichnis
7
Thomas Drepper Die Grenzenlosigkeit des Managements - Organisations- und gesellschaftstheoretische Überlegungen
449
Bibliographie Eckart Pankoke (Auswahl)
479
Autorenverzeichnis
493
Einleitung Thomas Drepper, Andreas Göbel, Hans Nokielski
I. Genau gelesen, machen sich bereits in den Titeln von Büchern Unterscheidungen geltend, die oft genug nichts weniger als einen programmatischen Charakter haben. Von Jacob Taubes stammt der Hinweis, dass in dem Titel der ersten Hegel'schen Hauptschrift, der »Phänomenologie des Geistes4, im Prinzip all das konzentriert formuliert sei, was der Autor dann danach über hunderte von Seiten entfaltet. 1 Einen solch verdichteten Anspruch kann der Titel „Sozialer Wandel und kulturelle Innovation" selbstredend nicht erheben. So punktgenau wird sich der Titel zumal eines Sammelbandes nicht lesen lassen, als dass in ihm sich all das bündeln ließe, was nachfolgend die einzelnen Autoren unter je spezieller Perspektive erörtern und zur Geltung bringen. Gleichwohl: Beliebig gewählt oder als kleinstes gemeinsames Vielfaches fungierend ist der Titel nicht und einige seiner Implikationen gilt es im Folgenden einleitend zu vergegenwärtigen. ,Sozialer Wandel' ist seit langem einer der soziologischen Begriffe, unter dem die Soziologie ihre Sensibilität für die Unwahrscheinlichkeit und Dynamik der modernen sozialen Welt zu bündeln versucht. Lange Zeit als selbstidentifizierender Gegenbegriff gegen eine Interpretation der Vormoderne als , statisch4 und ,ordentlich' konzipiert, wird er mittlerweile in den verschiedensten Hinsichten - weiterhin als Chiffre für das moderne ,Tempo des Lebens' (Simmel), aber auch allgemein sozial- oder transformationstheoretisch - benutzt. Allemal freilich bleibt an ihm die Faszination darüber, dass, wie Eckart Pankoke mit Blick auf die einschlägige Formulierung von Marx immer wieder betont hat, ,alles Stehende und Ständische verdampft'. Sozialer Wandel meint deshalb immer forcierte soziale Dynamik, und in ihr konzentriert sich damit, gegen die eigentümliche Statik vormoderner sozialer Verhältnisse, eines der dominanten Selbstverständnisse der Moderne. Im Verbund mit dem weiteren Titelelement der kulturellen Innovation erhält der Begriff des sozialen Wandels freilich noch eine andere Implikation. Auch 1
Vgl. Taubes, Politische Theologie.
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Thomas Drepper, Andreas Göbel, Hans Nokielski
sie zielt in das Zentrum der das Fach konstituierenden Unterscheidungen. Hier geht es um die Differenz von Sozialstruktur und Kultur, wie man dies im Anschluss an Parsons in den 60er Jahren vor allem betont hat, die man aber auch mit anderen Unterscheidungen explizieren könnte; die Weber'sche Differenz von Ideen und Interessen oder die neuere, systemtheoretisch vorgelegte von Gesellschaftsstruktur und Semantik zielen in eine ähnliche Richtung. Mit all diesen Unterscheidungen rücken zwei soziologische Fragen ins Zentrum: Fraglich ist zum einen, in welcher Weise eine sich strukturell forciert modifizierende moderne Gesellschaft sich in dieser Dynamik ihres auf Dauer gestellten sozialen Wandels selbst registriert. Und zum Problem wird zum anderen, in welcher Form diese Selbstregistraturvarianten ihrerseits eine nicht nur registrierende und dokumentierende Komponente haben, sondern selbst als Momente dynamischer Strukturveränderungen berücksichtigt werden müssen. Die Unterscheidung von ,sozialem Wandel' und »kultureller Innovation' liegt auffällig nahe an einer bis in die späten 60er Jahre hinein dominanten soziologischen Theorie vorläge, die zu aktualisieren oder gar zu revitalisieren jedoch nicht Absicht des vorliegenden Bandes ist. Talcott Parsons hatte seit den 50er Jahren einen programmatischen Theorieentwurf vorgelegt, in dessen Zentrum die nicht nur in wissenssoziologischer Hinsicht wichtige, freilich auch einseitige These einer Differenz von Sozial- und Kultursystem stand. Die vielfältigen Implikationen dieser theoretischen Grundoption können hier nicht interessieren; auffällig bleibt aber allemal, dass keiner der vorliegenden Beiträge diese parsonianische Differenz von Sozial- und Kultursystem aktiv aufgreift und reproduziert - als wäre sie selbst schon Geschichte (oder Kultur?) des Faches geworden. Was immer sich also in den hier versammelten Studien unter dem Stichwortdual von sozialem Wandel und kultureller Innovation fassen ließe, geht sicher nicht auf in den eigentümlichen Dynamiken eines Sozialsystems und seiner vielfältigen, subsystemspezifischen Relationen zu einem zwar nicht prinzipiell statischen, in einigen seiner theoretisch beschriebenen Eigentümlichkeiten jedoch konstitutiv ,beharrungsintensiven' Kultursystem. Auch in diesem Rahmen ließe sich selbstredend die Denkmöglichkeit kultureller Innovation erörtern, und Parsons hat dies ja an vielen Stellen seines Werks getan; darum jedoch wird es nicht gehen. Die Grundoption ist vielmehr die, kulturelle Innovation - was immer dies nun wiederum en detail heißen mag - als einen integralen Aspekt, als einen Teil der Dynamik eines spätestens mit dem Aufbruch zur Moderne hochdynamischen Sozialsystems zu qualifizieren. Das lässt sich, sucht man zugleich auch nach Anschlüssen an die Forschungsdynamiken anderer Fächer, mit parsonianischen Bordmitteln nur schwer realisieren.
Einleitung
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In den späten 60er und frühen 70er Jahren scharen sich soziologische Versuche, die sich diesem Impetus und Impuls verdanken, typischerweise dann auch nicht um die großen soziologischen Theorien. Im Kontext einer zunehmend geschichtsvergessenen Soziologie sind es demgegenüber gerade die Rückgriffe auf die prominenten historisch-semantischen Überlegungen Reinhard Kosellecks, die einer Soziologie, die sich für ihre eigene Genese im 19. Jahrhundert interessiert und dementsprechend nach den semantischen Umbrüchen im Verlauf der sich industrialisierenden Moderne fahndet, den theoretischen Rückhalt geben. Exemplarisch für diesen Versuch, die Soziologie und ihre semantische Vorgeschichte als einen weiteren Effekt des sattelzeitlichen Umbruchs seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu deuten, steht Eckart Pankokes ,Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik 4 . Sie ist im Kern eine wissenssoziologisch angereicherte begriffs- und sozialgeschichtliche Studie des semantischen und strukturellen gesellschaftlichen Umbruches im 19. Jahrhundert. Ihr Leitgesichtspunkt ist die Ausarbeitung und Durchsetzung des gesellschaftstheoretisch wie -politisch zentralen Themas der ,sozialen Frage 4, mithin jenes begrifflich verdichtete Programm, in dem sich die im 19. Jahrhundert zunehmende Sensibilität für den industriegesellschaftlichen Struktureffekt der ,Erzeugung des Pöbels4 bündelt. Liest man die Studie Pankokes aber auch mit Blick auf ihre methodischen und methodologischen Implikationen, so zeigt sie sich - in der Retrospektive erstaunlich - kompatibel zu jenem Programm einer modifiziert wissenssoziologischen Gesellschaftsanalyse, das auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns erst zu Beginn der 80er Jahre in eine diskutable Theoriegestalt gebracht hat.2 In deren Zentrum stand die Abkehr von der Mannheim'schen Zurechnung gesellschaftlich produzierten Wissens auf Trägergruppen und eine demgegenüber allgemeinere, lediglich differenzierungstheoretisch enggeführte Korrelation von gesellschaftlicher Struktur und semantischer Tradition. Zwar nicht mit ähnlicher differenzierungs- und (ideen)evolutionstheoretischer Ausstattung, aber mit doch durchaus vergleichbarer Sensibilität für das, was bei Mannheim die , Aspektstruktur 4 des Denkens heißt, präsentiert sich nun auch die Pankoke'sche Studie. Man kann dies an mehreren Punkten beobachten: Alleine schon Pankokes Grundoption, dass „in den dogmengeschichtlichen Quellen44 die „geschichtlichen Wandlungen sozialer Strukturen 443 belegbar sind, stellt einen strukturierten Zusammenhang von individuellen Denk-, Handlungs- und Erfahrungsmustern her, den in anderer Weise die Systemtheorie in die einschlägige Frage nach der Relation von gesellschaftlichen Strukturen und semantischen Traditionen kleidet. Und auch die „wissenschaftstheoretische Fragestellung44 nach „der Erkenntnisleistung von Problemstellungen, Modellen und Systemen44 vor allem mit
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Vgl. Luhmann, Gesellschaftliche Struktur. Pankoke , Sociale Bewegung, S. 16.
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Thomas Drepper, Andreas Göbel, Hans Nokielski
Blick auf die „Affinität zwischen bestimmten Methoden der sozialwissenschaftlichen Orientierung und bestimmten praktischen Einstellungen zur sozialen Wirklichkeit" 4 - d.h.: Der alltagserfahrungs(an)leitende Aspekt elaborierter, (sozial-)wissenschaftlicher Semantiken - ist dabei nicht nur antizipiert, sondern konstitutiv und erkenntnisleitend berücksichtigt. Eben weil im Pankoke'sehen Verständnis die Ideen- und Dogmengeschichte beides ist: Dokument für veränderte und gewandelte Sozialstrukturen und innovativer Generator sozialer Strukturen und Erfahrungsmuster zugleich, muss das Programm einer begriffsgeschichtlich sensibilisierten Sozialgeschichte um wissenssoziologische Aspekte erweitert werden. Die bestechende Grundidee ist dabei insgesamt, das Koselleck'sche Programm der ,Geschichtlichen Grundbegriffe' 5 um genuin wissenssoziologische Aspekte in der Tradition Karl Mannheims zu erweitern. Ein solches Programm, so Pankoke explizit, „sollte sich nicht lediglich auf die Frage der historiographischen Terminologie beziehen. Gerade auch die Verfahrensweise und die Aspektstruktur der Sprache der Quellen sollten als Zeugnis für eine situationsbedingte Einstellung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ernst genommen werden."6
Generell ist damit ein Ansatz formuliert, der „dogmengeschichtliche Wendungen in der ideologischen Orientierung" mit „sozialgeschichtliche(n) Wandlungen im Baugesetz der industriellen Gesellschaft" korreliert. 7 Zwar dürfe man, so Pankoke mit Ideologievorbehalt, an der neuen Semantik ihr Moment der Wirklichkeitsverzerrung nicht ignorieren - sie habe in manchen Hinsichten „den empirischen Zugang zur gesellschaftlichen Umwelt ideologisch verstellt" 8 hieß das damals - ; gleichwohl zeige sich u.a. eben auch darin ihre Leistung der „wirksame(n) Orientierung für das gesellschaftliche Bewusstsein und das politische Handeln"9. Insgesamt geht der Versuch also gleichsam dahin, weder der ,Faktizität' einer gesellschaftlichen Wirklichkeit noch den in ihr produzierten semantischen Entwürfen ihrer selbst zu trauen, sondern beide methodisch kontrolliert zu brechen: die ,Wirklichkeit' durch die Hypothese der Erfahrungswirksamkeit der simplifizierten oder geschichtsphilosophisch überhöhten ,Bilder' von ihr, diese Bilder wiederum durch die Überlegung, dass ihre „geschichtsphilosophische(n) Erwartungen durch eine kontrollierte „nachträgliche sozialhistorische Korrek-
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Pankoke , Sociale Bewegung, S. 17. „... eine historische Struktur möglichst in einer sozialgeschichtlich reflektierten, quellenverbundenen Begrifflichkeit darzustellen und zu deuten" (Pankoke , Sociale Bewegung, S. 9). 6 Pankoke , Sociale Bewegung, S. 9. 7 Pankoke , Sociale Bewegung, S. 9. 8 Pankoke , Sociale Bewegung, S. 9f. 9 Pankoke , Sociale Bewegung, S. 10. 5
Einleitung
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tur" 1 0 auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin beobachtet werden können. Die sich begründenden Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts können damit im Freyer'sehen „historisch-hermeneutischen" 11 Sinne als Wirklichkeitswissenschaften qualifiziert werden. Sie liefern zwar kein „positivistisch verifizierbares empirisches »Abbild'", fungieren aber durchaus „als ein sinnhaft verstehbares, geschichtlich wirksames ,Leitbild'". 1 2 Und das wiederum kann man (wissens-) soziologisch beobachten. Mit dieser Grundorientierung, so scheint uns, lässt sich die innere Dynamik von sozialem Wandel und kultureller Innovation sehr viel realitätsgerechter und gegenstandsadäquater fassen als es alternative Ansätze vermögen. Sie bringt neben Analysen, die das Neue eines sozialen Phänomens betonen, das sich zu einem Strukturmuster zu verdichten beginnt - die Soziologie sowohl in Kontakt mit dem ideengeschichtlichen Archiv wie auch (und nicht zuletzt!) in Kontakt mit sich selbst. Denn was könnte sie mehr sein als ein auf die wissenschaftliche Beobachtung konzentriertes „Leitbild" ihrer eigenen Zeit? Diese Grundorientierung ist zugleich auch eine Art Leitlinie, an der entlang sich die hier versammelten Studien auf ihr Gemeinsames hin lesen lassen. Das sei nachfolgend in einigen Hinsichten benannt. Wir lassen uns dabei lose leiten von der Einteilung in drei Themenkomplexe. Im ersten Block sind vor allem Texte versammelt, die sich als Studien im und am ideengeschichtlichen Archiv und seines kulturell innovativen Potentials verstehen lassen. Der zweite Block vereinigt einige Studien zu den strukturellen und kulturellen Umbrüchen der modernen Gesellschaft. Im dritten Block schließlich sind vor allem die Studien versammelt, die diese Umbrüche und Verwerfungen mit Blick auf das moderne Strukturarrangement,Organisation' beobachten.
IL Mit ein klein wenig Mut zur Schematisierung kann man die Motivlagen der sich im 19. Jahrhundert formierenden Soziologie auf zwei große Stoßrichtungen hin ausrichten. Mit den Titeln ,Soziologie und Sozialpolitik' und ,Soziologie und Kulturkritik' ist das Anliegen der »frühen' Soziologie zwar nur grob und ungefähr markiert; immerhin aber artikuliert sich im Spannungsfeld von Sozialpolitik und Kulturkritik der doppelte Versuch, einerseits die gesellschaftsstrukturellen Modifikationen im industriegesellschaftlichen Umbruch zu beobachten und theoretisch auf den Begriff zu bringen, andererseits und in Fortsetzung einer überkommenen sozialphilosophischen Tradition den negativen Effekten die-
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Pankoke, Sociale Bewegung, S. 10. Pankoke, Sociale Bewegung, S. 10. Pankoke, Sociale Bewegung, S. 11.
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ses Umbruchs ihre kulturkritischen Leviten zu lesen. Eine Beobachtung der frühen Soziologie als semantisches Reservoir - und dies nicht trotz ihres, sondern in ihrem Anspruch auf (Wirklichkeits-)Wissenschaft - wird beide Linien nicht ignorieren können. Aber wie genau geht man das Ideengut des 19. Jahrhunderts an - sei es kulturkritisch, sei es sozial- resp. wohlfahrtsstaatstheoretisch, sei es allgemein staatstheoretisch? Wie greift man auf es zu? Auch hier lassen sich verschiedene Varianten unterscheiden. Franz-Xaver Kaufmann z.B. nimmt Jürgen Kaubes (an Luhmann und dessen Theorie der Konstitution des Rechtsstaates über Theorie geschulten) Vorbehalt, der Sozialstaat verfuge über kein ihm eigentümliches und traditionswirksames Ideenreservoir, über keine ,Großtheorie 4, auf die man in Absicht seiner Verteidigung wie auf ein immer noch semantisch effektives Archiv zurückgreifen könne, ernst und sucht - gleichsam im Archiv des Archivs - nach zwischenzeitig verdrängten und vergessenen, aber durchaus auch heute noch anregungsreichen Autoren. Das setzt voraus, dass die strukturellen Problemkonstellationen des 19. Jahrhunderts, auf die diese Klassiker semantisch reagierten, mutatis mutandis auch noch die heute aktuellen Probleme zu fassen vermögen. Kaufmann sucht entsprechend nach Autoren, die als potentielle Klassiker des wohlfahrtsstaatlichen Denkens deshalb fungieren können, weil sich in ihren Schriften ein dritter, vermittelnder Weg zwischen Liberalismus und Sozialismus, Marktgläubigkeit und Staatsgläubigkeit, zwischen dem Akzent auf den Steuerungsmedien Geld und Macht offenbare. Ideengeschichtlich ist interessant, dass die sozialpolitische Theorie, die im Grunde seit langem auf ein drittes gesellschaftliches Steuerungsmedium jenseits von Markt und Staat' pocht - man nenne es »soziale Integration' oder (in einem nicht konstitutionstheoretischen Sinne) ,Sinn' nun auch nach ideengeschichtlichen Vorläufern sucht, die sich diesem theoretischen Desiderat fugen. Das ist ideengeschichtlich deshalb von immensem Belang, weil sich erst hierdurch ein Akzent verstärkt, der mit Blick auf den Ideenpool des 19. Jahrhunderts lange Zeit ignoriert wurde. Der dominante Beobachtungswinkel einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaftslehre und danach dann -Wissenschaft lag eigentlich aus sozialpolitischer Perspektive immer auf der zunehmend sensiblen Beobachtung der im 19. Jahrhundert virulenten Armenfrage, die dann später zur ,sozialen Frage' hochgeneralisiert wurde. 13 Mit der Neuakzentuierung der Semantik von Steuerungsmedien aber kommt sehr viel stärker ein differenzierungstheoretischer Diskurs in die sozialpolitische Ideengeschichte hinein und gewinnt damit Anschluss an einen weiteren wichtigen Themenbaustein der sich ausdifferenzierenden Soziologie. Zu Recht weist Kaufmann darauf hin, dass es vor allem Eckart Pankoke war, der hier in den 70er Jahren
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Vgl. nochmals Pankoke, Sociale Bewegung.
Einleitung
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Neuland betreten und dieses Diskursfeld durch entsprechende Überlegungen erweitert hat. Bei Kaufmann wird deshalb Lorenz von Stein nicht als Verwaltungstheoretiker, sondern vielmehr als Differenzierungstheoretiker in der Nachfolge Hegels qualifiziert, und dies deshalb, weil die Ambitionen auf Vermittlung einer antagonistisch in Klassen zerteilten Gesellschaft und eines weltanschaulich neutralen Staates bei Stein in den Vordergrund rücken. Die mit Hegel eingeleitete und mit Stein konfliktbewältigend weitergeführte Beobachtung der antagonistischen Effekte des modernen industriegesellschaftlichen Kapitalismus ist spezifisch modern gerade deshalb, weil, im Gegensatz zur aufgeklärt absolutistischen Einsicht in den Zusammenhang von Untertanenwohlfahrt, fürstlicher Fürsorgepflicht und wirtschaftlich-politischem Erfolg, hier das Moment der Einsicht in die »Autonomie der gesellschaftlichen Sphären gegenüber dem Staate«14 hinzukommt. Die Rekonstruktion der wohlfahrtsstaatlichen Klassikerkandidaten, die Kaufmann im vorliegenden Beitrag diskutiert - Sismondis Sensibilitäten für Mechanismen der Überproduktion und des proletarischen Kinderreichtums und sein Votum für einen intervenierenden, die gesellschaftliche Verteilungsgerechtigkeit sichernden Staat, Friedrich Lists humankapitaltheoretische Interventionen und schließlich, gewagt und geschickt zugleich, des liberalistischen Ahnherrn John Stuart Mills Erörterungen über die ,necessary and optional functions of government' - hat in diesem Verständnis den Status einer Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit, die freilich deutlich die eigene Zeitgenossenschaft der Dekonstruktion sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Prämissen im Auge hat. Fungiert bei Pankoke Lorenz von Stein als einer der ersten deutschsprachigen Registratoren der neuen ,socialen Bewegung4 und akzentuiert Kaufmann Stein vor allem als an Hegel anschließenden Differenzierungstheoretiker, so kommt bei Dirk Blasius ein weiterer Akzent dieses für die Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts so wichtigen Theoretikers zur Geltung. Denn von Lorenz von Stein und dessen staatstheoretisch wie gesellschaftsanalytisch folgenwirksamer Analyse der neuen postrevolutionären sozialen Bewegungen führt ein direkter Rezeptionsweg zu den staatstheoretischen Engführungen eines Carl Schmitt. Auch sie gehören durchaus noch in den semantischen Umbruchprozess, der der Soziologie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ihre eigentümliche Prominenz sicherte. Denn in vielerlei Hinsicht und bei so manchen Autoren - man kann ergänzend Hermann Heller, Rudolf Smend, Hans Kelsen, ja selbst noch Eric Voegelin nennen - ist die junge Disziplin der Soziologie hier der Kitzel für die konzeptionell-semantischen Innovationen der staatsrechtstheoretischen De14
Zitate, die sich auf Beiträge der Autoren (s. Markierung in kursiv) in diesem Sammelband beziehen, setzen wir in italienische Anführungszeichen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit erfolgt hier auch keine Seitenangabe.
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Thomas Drepper, Andreas Göbel, Hans Nokielski
batte der Weimarer Zeit - ein Konnex, der bis heute einer umfassenden separaten Aufarbeitung harrt. Dieser soziologisch belehrte staatsrechtstheoretische Bezug auf Stein leistet ein Doppeltes: Einerseits gibt Stein eine erste prominente Analyse der delegitimierenden Effekte eines klassisch-überkommenen Staatsbildes unter dem Eindruck einer neuen gesellschaftlichen Dynamik. Und andererseits gelingt es Stein, die staatsrechtstheoretische Prämisse der Superiorität des Staates auf neuem Niveau zu sichern. Der Staat ist in diesem Verständnis Verwaltung und als Verwaltung der modifizierte Inbegriff eines die Differenz von Staat und Gesellschaft übergreifenden Steuerungszentrums. Das macht diese Konzeption staatsrechtstheoretisch attraktiv und sichert dem Staatsrecht umgekehrt die Teilhabe an den die neue Strukturform der Gesellschaft registrierenden Plausibilitäten der jungen Soziologie. Neben diesem großen Bogen eines Rückgriffs auf die Semantik des 19. Jahrhunderts gibt es freilich im selben Kontext auch kleinere, gleichsam feinere Formen dieser Selbstverständigung durch Rückbezug. Was bewegte, so die subtile Frage von Blasius, Carl Schmitt dazu, im Jahre 1940 Lorenz von Steins Aufsatz über die preussische Verfassungsfrage aus dem Jahre 1852 neu zu edieren? Setzt man voraus, dass es hierbei nicht um archivarische Interessen geht, sondern um eine ,editorische' Form der Selbstvergegenwärtigung, dann rückt zumal bei einem so sprach- und kontextsensiblen Theoretiker wie Carl Schmitt - ein Stichwort aus Schmitts Nachwort in das Zentrum der Aufmerksamkeit: Preussen. »Was vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ... ein politischer Sehnsuchtsbegriff gewesen sein mag - Preußen, entwickelte sich im Krieg zu einem Signalwort, das die konservativen Eliten auf eine immer größer werdende Distanz zu den Auswüchsen des Führerstaats gehen ließ.« Die Stein'sche Schrift und überhaupt der Bezug auf den posthegelschen Theoretiker der Differenz von Staat und Gesellschaft, von Schmitt Zeit seines Lebens hoch geschätzt, gewinnt dadurch im Jahre 1940 einen spezifischen Sinn: den der zurückhaltend ,preussischen', d.h. nationalkonservativen Distanzierung vom NS-Regime. Und wie nebenbei liefert Blasius Studie damit ein Beispiel für die Renovierungsfähigkeit einer ehedem innovativen Semantik, die unter anderen strukturellen Rahmenbedingungen immer noch einen (freilich anderen) Unterschied zu machen imstande ist. Als das Jahrhundert der ,socialen Frage' ist das 19. Jahrhundert zugleich auch das der Reflexion auf das Phänomen der ,Masse'. Und das Stichwort der »socialen Bewegung' ist allemal nicht nur ein Hinweis auf die forcierte soziale Dynamik der modernen Gesellschaft, sondern hat sein ,fundamentum in re' in den konkreten Massenbewegungen des revolutionären und postrevolutionären Zeitalters. Das geht auch in die Facetten soziologischer Reflexion ein. Georg Simmel etwa hatte in den einleitenden Bemerkungen seiner großen Soziologie behauptet, dass „die Ansprüche, die die Wissenschaft der Soziologie zu erheben pflegt, die theoretische Fortsetzung und Abspiegelung der praktischen Macht"
Einleitung
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seien, „die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt haben". 15 Hatte im 18. Jahrhundert das Bürgertum seine Angehörigen als Subjekte in ihrer unaufgebbaren Individualität und als (zunächst ökonomisch, schließlich aber umfassend weltaneignend-) souverän gefeiert, so geht im späteren 19. Jahrhundert „das Bedeutungsgefuhl" der „unteren Stände" einher mit der Impression, das deren Angehörige nicht als Individuen, sondern „nur als einheitliche Masse" erscheinen. 16 Ein Bedeutungsstrang der Soziologie erscheint damit immer auch als bürgerlich-aversive Reaktion auf die Genese einer neuen Klasse. Den komplementären Linien von Vermassung und De-Individualisierung geht im vorliegenden Band Karl-Siegbert Rehberg nach. Rehberg reflektiert dabei auf einen zentralen Topos bürgerlicher Individualität: Sein je Eigentümliches und sich Unterscheidendes hat das bürgerliche Individuum an seinem Gesicht und seiner Physiognomie. Die Massen dagegen verlieren genau diese Eigentümlichkeit. Sie sind gesichtslos und anonym, verlieren (trotz und im ,aufrechten Gang') ihr ,menschliches Antlitz' und erscheinen eher als „das soziale Tier, das sich von der Leine gerissen hat" (Moscovici). Rehbergs Zugriff ist freilich keine rein historisch-semantische Untersuchung. In seinem Versuch einer Systematisierung von Masse-Typen in Aktual-Massen und strukturelle Massen wiederholt sich vielmehr eine Eigentümlichkeit der Soziologie und ihrer Begriffe insgesamt: die Überfuhrung je aktueller politischsozialer Kampfbegriffe in wissenschaftliche Begriffe, ihre Verwissenschaftlichung also. ,Masse' ist deshalb nicht nur Teil einer Aversions-Semantik (bleibt dies aber immer auch!), sondern zugleich (eben) ein Begriff, der sich zur Sezierung des verabscheuten Phänomens eignet. Das Tableau des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert, das Rehberg im Rückgriff auf die Massensoziologie und -psychologie der Simmeis, Geigers, Le Bons, Canettis und Musils entwirft, ist in seiner Gesamtskizze so beeindruckend wie in seiner Gesamtdiagnose homogen: Allemal geht es bei den revolutionären, bewegten Massen um einen Verlust an Souveränität und Selbstkontrolle, um einen Rückfall auf das vernunftlose Niveau tierischer Triebhaftigkeit und um eine Perversion jenes ,Makro-Anthropos', der im Leviathan eines Thomas Hobbes noch den Kopf eines Körpers und damit dessen vernünftige Homogenität hatte, nun aber degeneriert ist zu einem kopflosen, sich unkontrolliert selbst bewegenden Triebarrangement, dessen einzelne Teile eben deshalb keine ,Gesichter' mehr haben, sondern zu ,Typen' werden. Wie schon häufig und mit anderen Kategorien versucht Rehberg auch hier, soziologische Kernbegrifflichkeiten auf ihre zeitgenossenschaftlichen Qualitäten hin zu durchdringen; Typenbildung er-
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Simmel , Soziologie, S. 13.
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Simmel, Soziologie, S. 13.
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scheint so nicht mehr einfach als methodologisches Desiderat soziologischer Forschung, sondern auch als »Ausdruck' der Zeit, in der ein solches Desiderat aufgestellt und diskutiert wird und die in diesem Falle eine des »Endes der Persönlichkeit' ist. 17 Freilich: in Rehbergs Verständnis wäre die Soziologie nicht mehr ihrer Tradition mächtig, würde eine solche Rekonstruktion nicht auch versuchen, ihre eigene Zeitgenossenschaft zu benennen. Es bleibt dann aber das Phänomen auffallend, dass - im Gegensatz zur vorletzten Jahrhundertwende, die immerhin noch beides, die konkret sich bewegende Aktualmasse wie auch die strukturellen Masseneffekte der rationalisierten Moderne kannte - unsere eigene Zeit, zumindest in den ,entwickelten' Ländern, keine Aktualmassen mehr kennt. Riesmans glückliches (und immer glücklicher werdendes) Stichwort von der »lonely crowd', der anonymisierten Masse des massenmedialen Publikums bringt dies brennglasförmig auf den Begriff. Rehberg zögert nicht, diese semantische Schraube noch ein Stück weiter zu drehen und spricht von einem »Formenwandel der Massen, die nun auch noch ihre Gesichtslosigkeit verloren haben«). Der soziologische Individualisierungsdiskurs könnte sich, allen sozialstrukturellen Plausibilitäten zum Trotz, als Euphemisierung - in den 70er Jahren hätte man gesagt: als Ideologie - genau dieses Phänomens entpuppen. Die angesprochene Relation von streng wissenschaftlicher Kontur soziologischer Begriffe einerseits und ihrem , ideologischen' Gehalt andererseits bedürfte an dieser Stelle eigentlich einer separaten Reflexion. Sie müsste u.a. die komplizierte Relation von Verwissenschaftlichung unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung und den dann noch möglichen Formen gesamtgesellschaftlich effektiver und ,anschlussfähiger' Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft berücksichtigen. Das kann an dieser Stelle nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Ausführlichkeit geschehen. Immerhin aber mag der Text Helmut Gellers zu den prognostischen und auf Krisenszenarien hin orientierten Theorievorlagen von so unterschiedlichen Autoren wie Marx, Schumpeter und Meadows als ein Beitrag zu genau dieser Diskrepanz gelesen werden. Sicher wäre es zu wenig, reduzierte man diese Differenz auf die zwischen einer gesetzmäßigen Konsequenz der Zukunftsaussagen dieser Autoren und einer solchen, die lediglich auf „Wunschdenken" beruht. Aber der Kern dieses Dilemmas, und damit u.a. auch eine Reflexion auf die zeitdiagnostischen Möglichkeiten der Soziologie insgesamt unter dem Diktat ihrer TheoriefÖrmigkeit, ist damit allemal berührt. 17 Man könnte hier auch an Simmeis Individualitätsapriori denken, das ja nicht einfach nur eine Vergegenwärtigung der unterstellten Individualität des sozialen Gegenüber ist, sondern vielmehr eine subtile Reflexion auf den Zwang, ihn typisieren zu müssen. Das Individualitätsapriori erscheint dann wie eine Transformation des alttestamentarischen Gebots: ,Du kannst gar nicht anders als Dir ein (typisches) Bild vom anderen zu machen.'
Einleitung
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Was die in diesem Band vorliegenden Studien, zumal dann, wenn sie auf den begrifflichen Formenvorrat der frühen Soziologie zurückgreifen, allemal eint, ist ihr Optimismus, mit einem unter den spezifischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts etablierten Vokabular auch die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts beobachten und beschreiben zu können. Das zeigt sich an der Kaufmann'sehen Klassikersuche, das zeigt sich am Rehberg'schen Masse-Diskurs, und das zeigt sich in anderer Weise mit den Beiträgen von Lipp und Zingerle an gleich zwei Versuchen, das Dual von Kultur und Zivilisation für eine Analyse neuer Phänomene der eigenen Zeitgenossenschaft zu nutzen. Darin steckt durchaus eine auch von den Autoren bemerkte Unwahrscheinlichkeit. Denn so wirkmächtig die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation für die und in der Konstitutionsphase der Soziologie zweifelsohne war: Zunächst will es scheinen, als habe sie ihre Plausibilitätshochphase längst hinter sich. Der Weg »von Castells zurück zu den Klassikern der Kultursoziologie« (Zingerle) ist weit, bedenkt man, dass das Zeitalter von Simmel und Alfred Weber alles Mögliche war, sicher aber kein ,Informationszeitalter 4. Genau mit ihm aber verbinden wir als Zeitgenossen (und als ,user4 inzwischen) alltags- und erfahrungsnah sozialen Wandel. Worum also geht es, wenn nun die alte kulturkritische Unterscheidung auf neue Erfahrungshorizonte projiziert wird? Müsste man nicht sagen: ,Sozialer Wandel und kulturelle Restauration4? Dass die Dinge komplizierter liegen, zeigen beide Beiträge auf je eigentümliche Weise. Arnold Zingerle rekurriert auf die von Alfred Weber kultursoziologischterminologisch prominent gemachte Unterscheidung von Kultur und Zivilisation, um mit ihrer Hilfe den Charakter des Hypertext als allumfassendes, alle bisherige Kultur absorbierendes Medium - fast müsste man von einer »totalen Institution4 sprechen so wie ihn in jüngster Zeit prominent vor allem Castells vorgelegt hat, zu kritisieren. Alfred Weber hatte die Unterscheidung u.a. mit der von Mittel (zu einem Zweck) und (Selbst-)Zweck expliziert. Es läge nun nahe, die informationelle Revolution der vergangenen Jahre und ihre Überinterpretation bei Castells mit eben diesem Raster zu kontern. Der Hypertext wäre dann eben ein Medium im wörtlichen Sinne, ein Mittel zwischen von ihm nicht selbst gesetzten Zwecken und einem ,user 4, dem man eben dies, Zwecksetzungen und (kulturelle) Werteproduktion unterstellen könnte. Dieser möglichen Entdramatisierung der Castell'schen Überdramatisierung steht freilich entgegen, dass »Zivilisation4 sich als Qualität des ,http4 nicht so ohne weiteres in Anschlag bringen lässt. Zivilisation bezieht sich auf ,Instrumentalität 4, der Hypertext aber ist mehr als ein ,Instrument 4 mit »weitgehende(r) Kontrolle der Mittelebene durch die Handelnden«. Wer ,im 4 Netz agiert, nutzt es nicht einfach als ein Mittel zu einem Zweck, sondern ist seinen Strukturen und Regelungen in hohem Maße unterworfen. Wenn aber tendenziell der Hypertext mehr als ein Medium ist, zwar vielleicht nicht gerade eine sich selbst bezweckende Qualität, zumindest aber
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selbstzweckanaloge Muster hat: Was geschieht dann mit der »Funktionsweise von Kultur als Prozess«? Auf dem Weg zu einer Antwort nutzt Zingerle die vor allem von Jan Assmann prominent gemachte Reinterpretation von Kultur als einer spezifischen Gedächtnisleistung - eben: als kulturelles Gedächtnis - und stellt auf ihrer Grundlage die Frage nach der Integrierbarkeit des Hypertext in diesen Zusammenhang. Warum ist der Hypertext nicht mit der Funktion eines kulturellen Gedächtnisses betraubar? Ihm fehlen die Fixpunkte, wie sie ein überkommener Begriff von Kultur an Denkmälern, Bauwerken, Kunstwerken oder Bibliotheken hatte. Die Löschoption verbürgt keine »dauerhafte Möglichkeit des Erinnerns«. Sie haben lediglich den Charakter von »Surrogaten«. Ein ,online4 abrufbares Bild des Kölner Domes, gar ein virtueller Gang durch seine komplexe Architektur, ist kein Ersatz für »die Beteiligung der Sinne« und eine elementare »körperliche Präsenz«. Vor allem aber kehrt sich kultursoziologisch diejenige Differenz um, an der Simmel zugleich den tragischen Charakter aller Kultur markiert hatte: zwischen der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des je individuellen Lebens und der Dauerhaftigkeit seiner von ihm geschaffenen und ihm zugleich damit als fremd gegenüberstehenden Objektivationen. »Ginge Kultur ganz im Hypertext auf, wäre Simmel als Beobachter der Gegenwart genötigt, den Formgegensatz umzudrehen: Der (relativen) Statik eines noch überschaubaren subjektiven Lebens stünde die permanent sich ins Unendliche ausdehnende, in stetiger Veränderung begriffene Welt der virtuellen ,Objekte4 gegenüber, aus der sich auch die letzten Spuren »zeitloser Gültigkeit 4 verflüchtigt haben.« Die abschließende Diagnose Zingerles muss dann aber konsequent ambivalenten Charakter haben. Der konstitutiv interpretative Charakter des ,animal symbolicum4, der die Grundlage für die (interpretadv-)prozessuale Qualität von »Kultur 4 darstellt, kann einerseits die »Tatsache ..., dass sich zwischen das Subjekt und die objektiven Inhalte und Werte der Kultur mehr und mehr ein Phänomen wie der Hypertext schiebt«, von ihren Castell'schen Überinterpretationen entlasten. Andererseits ist die Max Weber'sche Emphase des »Kulturmenschen sind wir ... 4 , bewusst in der Schwebe gehalten zwischen einem neukantianischen und konstitutionstheoretisch lesbaren Sinnbegriff und einem emphatischen und dann vor allem kritisch wirksamen Kulturbegriff, der in der ,virtual reality 4 eine ganz andere und qualitativ neue Tragik beobachtet als in der Simmel'schen ,objektiven Kultur 4 . 1 8
18 Das sehen ,Schrift-Steiler' übrigens ähnlich: „Der Ehrgeiz jeder Erzählung muß es sein, von ihren Lesern behalten und erinnert [!] zu werden. Einzelne Flocken aber erlöschen schon im Sinken, oder ihr Wirbel bietet den hübschen Anblick eines tanzenden Vergessens. Was übrigens in der Schrift nicht ganz so leicht gelingt wie in den elektronischen Medien." (Strauss, B., Der Untenstehende auf Zehenspitzen, München 2004, S. 5)
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In ganz anderer Weise greift Wolfgang Lipp auf die Differenz von Kultur und Zivilisation zurück. Auch ihm dient sie als Ausgangspunkt für die Beobachtung eines Phänomens der eigenen Zeitgenossenschaft und auch er greift auf Alfred Webers analytisch gemeinte Unterscheidung, und d.h.: auf Kultur und Zivilisation als »Faktoren im Geschichtsprozess« in einer dramatologischen Variante zurück. Neu an diesem Versuch ist vor allem, dass die Begriffe nun nicht mehr in ihrer agonal-europäischen Kontur benutzt, sondern vielmehr auf weltgesellschaftlichem Niveau placiert werden. Den Auftakt dazu gibt Huntingtons ,clash of civilizations'. Freilich: schon die Übersetzung als ,Kampf der Kulturen4 könnte man als einen Hinweis darauf lesen, dass die alte Unterscheidung ,Kultur vs. Zivilisation' kollabiert ist. Lipp aktualisiert sie nun aber mit Blick auf den weltpolitischen ,Kampf um und gegen den Weltterrorismus und gewinnt ihm dabei neue und frappierende Facetten ab. Der Kulturbegriff hatte, jenseits seiner operativ gemeinten Handhabbarkeit, gegen den der Zivilisation ja auch immer den Aspekt der letzten Werte (der ,ultimate values' könnte man mit Parsons sagen, wäre diese Theorie nicht ihrerseits in gewissen Kreisen als Zivilisationstheorie etikettiert), und des Wertbezugs ,um seiner selbst willen' und nicht in technisch-instrumentell-zivilisatorischer Absicht ,um eines anderen willen' betont. Projiziert auf weltgesellschaftliche Arrangements wechseln freilich die ,Adressen', auf die hin ein solcher Kulturbegriff gedacht war. »Ist es den Verfechtern von Zivilisation (sive Kultur) zunehmend darum zu tun, an die Stelle jenes ,tugendhaften', ethisch-anspruchsvollen ,guten Lebens' (Aristoteles) ... ein transzendenzloses, im Sinne der ,life sciences' aber machbares, biotisches ,Wohlleben' zu setzen ..., pflegen die Schurkenstaaten ,Werte' - traditionelle ,Kulturwerte' - zwar ostentativ und halten sie hoch und heilig, sind mittelstrategisch (wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich) und kurz: zivilisatorisch, aber kaum in der Lage, sie ... auf Dauer zu behaupten.« Auch diese Beobachtung ist, gemäß ihrer Leitunterscheidung, sicher kritisch gemeint. Sie artikuliert aber auf weiterführendem Niveau, in welcher Weise die Soziologie - im 19. Jahrhundert auch angetreten, um ihre eigene Zeit begrifflich (und nicht nur feuilletonistisch oder in Form inflationärer Zeitdiagnosen) in Gedanken zu fassen - diesen Anspruch weiter aufrechtzuerhalten sich bemüht. Dass dabei überkommene Unterscheidungen mit neuen angereichert werden können - bei Lipp eben die Differenz von Kultur und Zivilisation mit der von Theokratie und Biokratie - spricht zunächst nicht gegen sie. Der Frühromantik der Schlegels, Schleiermachers und Hardenbergs fehlt eine solche historisch etablierte Leitdifferenz wie die von Kultur und Zivilisation noch. Zwar steht ihnen Rousseau vor Augen, und eine allfällige Kritik am Philister und bürgerlichen Spießer ist obligater Ton ihrer eigenen Zeitgenossenschaft. Ihr genuin innovatives Potenzial freilich wird man darin nicht suchen wollen. Wie aber ließe sich dieses Potenzial benennen? Vor allem: Wie ließe es sich soziologisch sortieren, sofern man die Frühromantik als einen historisch-
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semantischen Komplex begreift, der in einer intimen Korrelation zum strukturellen Umbau auf die moderne Form funktionaler Differenzierung steht und in deren Zusammenhang neue , Gussformen' für neuartige Erfahrungen unter diesem Rahmen offeriert? Ähnlich wie auch die Studie von Peter Fuchs (s.u.) bezieht sich Andreas Göbel auf die einschlägigen frühromantischen Fragmente. Anders als Fuchs aber sucht er die Antwort nicht in einer neuen, gleichsam modernitätskompatiblen Kommunikationsform, sondern gibt der Frage eine neue Wendung mit Blick auf das methodische Instrumentarium, mit dessen Hilfe man dies beobachten kann. Damit steht im Zentrum der weiteren Überlegungen die Anfrage an die soziologische Systemtheorie, ob ihr wissenssoziologischer Strang in der Lage und geeignet ist, jenseits seines Akzentes auf die Beobachtung von Übergangssemantiken im Prozess des Umbaus von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung, solche historischen Semantiken wie die der Frühromantik in gleichsam gesellschaftsgeschichtlicher Feineinstellung zu beobachten. Wer von der Struktur der modernen Gesellschaft spricht, kann von ihrer Differenzierungsform nicht schweigen. Die Relation von sozialem Wandel und kultureller Innovation muss deshalb auch immer sowohl die - selbst wieder strukturellen wie kulturellen - Eigendynamiken der einzelnen Funktionssysteme (oder Wertsphären oder Felder oder Sinnprovinzen) berücksichtigen wie auch in genereller Hinsicht die kulturellen, semantischen Reaktionsformen auf die Durchsetzung funktionaler Differenzierung implizieren. Die Relation von sozialem Wandel und kultureller Innovation betrifft eben nicht per se das Ganze einer Gesellschaft, sondern lässt sich auch konzentriert mit Blick auf einzelne Teilbereiche wie Politik, Kunst, Erziehung oder Religion beobachten. Dazu liefern einige der hier versammelten Beiträge weitere Materialien. Peter Fuchs reflektiert den gesellschaftsstrukturellen Wandel von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft am Beispiel der Frühromantik. Er tut dies entlang der durch Niklas Luhmann für die soziologische Diskussion fruchtbar gemachten Beobachtungstheorie und der Figur der magischen Beobachtung. Im Zentrum seiner (zunächst nichtmagischen) Beobachtung steht die These, »dass eine besondere Form magischer Beobachtung sogar eine wesentliche Umschalt- und Krisenbewältigungsreaktion im Zuge der Transformation des Gesellschaftssystems von der stratifizierten zur funktionalen Differenzierungstypik gewesen sein könnte oder noch immer ist«. Die Magie bzw. der Begriff der Magie etwa eines Friedrich von Hardenberg erscheint aus dieser Perspektive - ganz ähnlich übrigens wie dessen Mittelalterprojekt - nicht mehr nur als vormoderne Alltagspraxis, Kult oder Ritus, sondern als ein durchaus modernes Phänomen. Magische Praxis ist eine Praxis, die für die Bewältigung immanenter Probleme auf eine transzendentale Hinterwelt zurückgreift, sie ist eine weltdeutende Kommunikationsform, die sich bemüht, »etwas ganz bestimmt Unbezwingbares gleichwohl zu bezwingen. Das müsste dann so etwas
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sein wie ein irgendwie geartetes, auf breiter Basis sich einstellendes Verlangen, die Welt am Haken einer Einheitsvorstellung aufzuhängen«. Die Übertragung magischer Beobachtung in nicht-magische Sozialzusammenhänge bezieht sich auf Krisenlagen, die mit der Umstellung von der stratifizierten auf die funktional differenzierte Gesellschaft einhergehen. Damit sind der Einheitsverlust und die Polykontexturalität der modernen Gesellschaft, Kontingenzschübe, die Individualisierung von Weltbeobachtungsverhältnissen sowie die Depräzisierung kommunikativer und kognitiver Anschlüsse gemeint. Auf diese Desorientierungskrise durch den Verlust eines kommunikativen Einheitspunktes reagiert die Romantik mit der Entwicklung einer spezifischen Kommunikationsform. Fragmentarische Kommunikation ist Kommunikation mit Hilfe schriftlich fixierter Fragmente, die sich an der Unterscheidung Unendlichkeit/Fragment orientiert, wobei der eigentlich magische Akt im Romantisieren liegt. Frühromantik ist dann »eine raffinierte, intellektuell und ästhetisch anspruchsvolle Lösung des Problems der De-Präzisierung kommunikativer Anschlüsse im Übergang zur funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems«. Die Form magischer Beobachtung, die Romantisieren mit Ironisierung verbindet, stellt den Versuch dar, die verlorene Einheit der Welt doch noch herzustellen und »diese nie erreichbare Einheit wenigstens noch in der Schwebe zu halten«. Das autologische Moment in Fuchs Text liegt dann in der Frage, ob die von ihm zur Analyse genutzte Beobachtungstheorie ebenfalls magische Züge enthält, und die »Beobachter der Theorie (oder deren Betreiber) in das magische Bemächtigungsspiel eingemeindet werden«? Ist die Systemtheorie selbst als theoretisches Zauberwerk, als eine Form von Magie zu begreifen? Von alteuropäischen Realitätsvorstellungen aus gesehen wäre es durchaus möglich, »die Systemtheorie als vielleicht letzten Akt einer Weltbemächtigung zu verstehen, die die Einheit der Welt paradox, aber eben doch zurückzugewinnen versucht: als Differenz. Die , Schwebewelt' der Sinnsysteme zu behaupten, wirkt wie eine magische Beschwörung. Alles ist Differenzgebrauch, ist Beobachtung, eine solche Aussage fungiert wie ein All-Satz.« Wie die Frühromantik, und hier macht Fuchs den Vergleichsgesichtspunkt aus, hängt die Systemtheorie die Welt an einem Haken auf, »aber dieser Haken ist nicht eingeschlagen, er ist im »Nirgendwo', hinter der Zeitmauer.« Die Diagnose »transzendentaler Obdachlosigkeit' wird zu einem Transzendenzgaranten, der von sich weiß, dass er keiner mehr ist und in der Konsequenz dann an den Schwierigkeiten einer dafür adäquaten Theorieform laboriert. Mündet hier die theoretisch angeleitete Beobachtung einer der ersten modernen semantischen Großkomplexe in einer Selbstreflexion der eigenen Theorie (als eines späteren semantischen Großkomplexes), so bezieht sich der Text von Johannes Weiß in anderer Weise auf die Relation von (gewandelter) sozialer Struktur und ihrer kulturellen Beschreibung. »Vereinigungsnationalismus« bespricht den Zusammenhang von sozialstrukturellen Verhältnissen, im engeren
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Sinne politischen Rahmenbedingungen, und der Funktion von Kollektividentitäten bzw. kollektiven Selbstbeschreibungen. Dieser Text ist ein Beitrag zur Reflexion der Transformationsforschung, der am Beispiel der deutsch-deutschen Vereinigung dezidiert die symbolische und semantische Ebene mit in den Blick nimmt und sich nicht auf sozialstrukturelle Aspekte beschränkt. Dabei wird deutlich, wie sehr es auf Bezeichnungen und semantische Besetzungen ankommt und wie diese als tief sitzende politisch-moralische Vorentschiedenheiten wirken. Das lässt sich vorzüglich an der ,Nation4 als Kollektivsymbol reflektieren. Die dezidierte »Ablehnung der Leitidee von der einen Nation« speist sich aus der politisch-moralischen Angst vor der »Wiederauferstehung der Nation«, die mit einem »aggressiven Nationalismus der Vergangenheit« assoziiert wird. Weiß hält fest, dass sowohl im politischen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung nicht deutlich genug zwischen Nation als Selbstbeschreibungs- und als sozialwissenschaftlicher Analysekategorie unterschieden wurde und wird. Die sozialwissenschaftliche Analyse hat sich auf solche Selbstwahrnehmungs- und Selbstbeschreibungssemantiken einzulassen, »wenn angenommen werden muss, dass sie kollektive Bewusstseinszustände, Gefühle und Handlungen de facto bestimmen, und dies auch dann, wenn eine solche Sichtund Redeweise entweder überhaupt nicht oder nur nach sorgfältiger Klärung, Präzisierung und Entemotionalisierung der fraglichen Begriffe in die Wissenschaftssprache übersetzt werden kann. Ebenso gilt allerdings auch, dass die Soziologie eine solche Selbstbeschreibung den politischen Akteuren ... keinesfalls ,überstülpen' darf.« Phänomene der Religion und des Religiösen kommen im vorliegenden Band in zwei Varianten zur Geltung. Detlef Pollack beschäftigt sich in seinem Beitrag mit »Religiösität innerhalb und außerhalb der Kirche in ausgewählten postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas«. Pollacks Text ist sowohl ein Beitrag zur Transformationsforschung als auch zur Religionssoziologie. Pollack fragt, ob das religionssoziologische Interpretationsmodell der „Unsichtbaren Religion" (Thomas Luckmann) auch für die Analyse der religiösen Entwicklungen in Osteuropa geeignet ist. Pollack geht hierzu drei engeren Fragen nach. Vollzieht sich in Osteuropa überhaupt ein Säkularisierungsprozess? Wie eng ist die Beziehung zwischen den traditionellen und den neuen Religionsformen? Und in welchem Ausmaß sind die neuen Formen der Religion ein Ausdruck von Individualisierungsprozessen? Lässt sich also insgesamt in den ehemals sozialistischen Ländern »eine vom Modernisierungsgrad der jeweiligen Länder beeinflusste Tendenz hin zu einer zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung von Religion beobachten«? Analytisch orientiert sich Pollack an den religionssoziologisch mannigfach benutzten und gut etablierten Unterscheidungen zwischen sichtbarer/unsichtbarer Religion, institutionalisierten/nicht-institutionalisierten Religionsformen, Kirche/Religion, Säkularisierung/Entkirchlichung, individualistischen/ kollekti-
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vistischen Religionsformen, christlich-kirchlicher/außerkirchlicher Religiosität, die dann empirisch reichhaltig gesättigt werden. Pollack greift dafür auf das Datenmaterial einer von ihm selbst durchgeführten Untersuchung zurück (,Political Culture in Central and Eastern Europe'). Die empirischen Ergebnisse zeigen ein sehr differenziertes Bild. In einigen osteuropäischen Ländern lässt sich die gleichzeitige Steigerung außerkirchlicher und kirchlicher Religiosität feststellen. Pollack kommt zu dem Ergebnis, dass »neue Formen von Religiosität außerhalb der Kirche in Mittel- und Osteuropa eine beachtliche Rolle spielen«. Die Tendenzen hin zu einer religiösen Individualisierung dürfen aber nicht überschätzt werden. Gerade in den traditionell religiösen Ländern ist das Interesse an neuen Formen der Religiosität eher gering. Auch wenn es eher geringe Tendenzen hin zur religiösen Individualisierung sind, so schlägt Pollack doch vor, von einem »nachholenden Modernisierungsprozess« zu sprechen, der gerade in Ländern wie der Tschechischen Republik, Estland, Ostdeutschland und Slowenien zu verzeichnen ist. Allemal freilich zeigt sich, dass religiöse Orientierungen in Zeiten forcierten sozialen Wandels eine wichtige kulturelle Bezugsgröße sind - und dies nicht nur bei konvertierenden Romantikern. Justin Stagl widmet sich auf den ersten Blick einem ganz anderen Aspekt von ,Wandel': dem der Konversion. Er greift damit ein in der religionssoziologischen Forschung der vergangenen Jahre prominentes Thema auf und versieht es mit einem zusätzlichen, ethnologisch orientierten Gesichtspunkt. Vordergründig entsteht so ein begriffliches und typologisches Raster für eine Art Universalgeschichte der Konversion, die etwa in der Unterscheidung von Berufung (vom bloßen Mitglied einer Religionsgemeinschaft zum z.B. Schamanen - also eigentlich: von einer Laien- in eine Professionsrolle), Erweckung (vom säkularen Saulus zum christlichen Paulus) und Übertritt (von einer in eine andere Religionsgemeinschaft) zur Geltung kommt. Was Stagl dann aber im Grunde vorlegt, ist gleichsam eine Mikroanalyse persönlichen Wandels: dem des Übertritts in eine neue bzw. des erstmaligen Eintritts in eine Religionsgemeinschaft. Zu einem mikroanalytisch relevanten Beispiel für den makroanalytisch relevanten Begriff des sozialen Wandels wird all dies, weil für Stagl Konversion »das Äquivalent der Initiation unter Bedingungen höherer sozio-kultureller Komplexität« ist: »Statt in eine observanzreligiöse Stammesgemeinschaft führt die Konversion aber in eine charismatisch gestiftete Glaubensgemeinschaft; ...«. An diese Unterscheidung schließt Stagl konsequent weitere Überlegungen zur Form der Konversion unter modernen Bedingungen an. Hier fällt einerseits die Affinität säkular-eschatologischer Heilslehren (gerade auch mit ,soziologischem' Anspruch) zu einer weit- und menschheitsgeschichtlich erweiterten Drei-Phasen-Sequenz auf; die ,Kirchen'Förmigkeit der glaubensgemeinschaftlichen Anhängerschaft und eine analoge »Konversion' zu ihnen als Mitgliedschaftsbedingung kommt hinzu. Andererseits
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vermutet Stagl, dass der spezifische Unterschied sich vor allem im Umgang mit einer modern-offenen, „aus dem Erwartungshorizont aller bisherigen Erfahrungen freigesetzten Zukunft" 19 ergibt. Einmal mehr erweisen sich dadurch ,Zeit' und ,Kontingenz' als diejenigen Parameter einer modernen Gesellschaft, durch die hindurch eine Soziologie (hier: der Konversion) die Eigentümlichkeiten der Moderne zu erfassen versucht. ,Bildung' ist einer jener Begriffe, die ,von Haus aus', will sagen: seit seiner Hochzeit im 19. Jahrhundert, einen engen Bezug zum Kulturbegriff haben. Noch der Simmelsche Begriff von Kultur als ,dem Weg der Seele zu sich selbst' hatte einen deutlichen Bezug zu dem, was unter den universitär-nachidealistischen Reformbedingungen Humboldt mit Bildung meinte. Davon ist in dem Bereich, der heute ,Bildungssektor' heißt, nicht viel übrig geblieben. Der Begriff selbst ist in Unschärfe degeneriert und meint inzwischen alles Mögliche. Soziologisch gewendet könnte man auch sagen: seine Funktion als Kontingenzformel des Erziehungssystems hat er eingebüßt, wobei er entsprechend, dann als diffuser Begriff, die semantisch-selbstbeschreibenden Horizonte dieses Systems weiter mit bedient. Indem der Begriff der Bildung seinen Leitformelcharakter verloren hat, wird er nun aber soziologisch, speziell wissenssoziologisch, sehr viel schärfer beobachtbar. Der Beitrag von Alois Brandenburg thematisiert unter dem Titel »Reflexive Modernisierung von Bildung' diesen Wandel des Bildungsbegriffes, seiner Semantik und seiner Funktion im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft. Sein Anspruch liegt darin, die Bildungssoziologie als Wissenssoziologie zu verankern, indem man die Bildungstheorie in wissenssoziologischer Einstellung als pädagogische Semantik in ihrer Relation zur Sozialstruktur beobachtet. Brandenburg entwickelt diese Idee in vier argumentativen Schritten. Zu Beginn steht die begriffs- und programmgeschichtliche Analyse des Bildungsbegriffes in der bürgerlichen Gesellschaft und des neuhumanistischen Bildungsideals mit der Vorstellung des allgemein und umfassend gebildeten Individuums. ,Bildung für alle', so stellt Brandenburg wissenssoziologisch fest, kann aber nicht nur als demokratisierende Revolution gewürdigt werden, sondern muss auch als bürgerliche Basisideologie begriffen werden, die dem dritten Stand zur Selbstbeschreibung, Legitimation und zur Standespolitik diente. Die klassische Bildungssemantik enthielt damit schon immer Momente von Ideologie und Utopie. Unter »Bildung als Medium sozialer Integration« behandelt Brandenburg den Zusammenhang von Bildungsinklusion, Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit. Die zunehmende Inklusion bildungsferner Bevölkerungsschichten und die Expansion der Bildungsbeteiligung haben durchaus positive Effekte hervorgebracht: Die sukzessive Umstellung von zugeschriebenem zu erworbenem Status und Erfolg durch Leistungsselektion als Erfolgs- und 19
Pankoke, Sociale Bewegung, S. 44.
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Karrieremaßstab, die Ermöglichung gesellschaftsinterner Mobilität und Bildungskarrieren, mitunter sogar die Gleichheit von Bildungschancen lassen sich allesamt nicht ignorieren. Brandenburg stellt aber mit Bourdieu auch die Gegenrechnung auf und fragt, ob sich nicht doch noch immer Ungleichheitsstrukturen zeigen, die trotz aller Individualisierungsprozesse die Bedeutung von Herkunft und Milieuverwurzelung als Determinante der Biographie und Karriere reproduzieren. ,Bildungs'-politisch steht man damit nahe an dem Diskussionszusammenhang, der sich an der PISA-Studie entzündet hat. An ihm fallt aber soziologisch vor allem auf, »dass Bildung neuerdings in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, vor allem der politischen Kommunikation zunehmend beachtet wird, dabei jedoch die Beliebigkeit, Unschärfe und Unreflektiertheit der Begriffsverwendung auffällig kontrastiert zur Betonung von Leistungsdaten, die, wie etwa im Falle der PISA-Studie, mittels einer feingeschliffenen Methodik erhoben wurden«. Eine Klärung leistet die PISA-Studie streng genommen aber auch nicht. Einige ihrer Ergebnisse behindern sogar eine sorgfältige Reflexion und Revision des Bildungsbegriffes eher als sie zu fördern. Die bildungspolitischen Akteure geraten in betriebsame Hektik und verfallen einem blinden Aktivismus, indem sie die Suche nach Bildungsstandards und Programmroutinen in den Vordergrund rücken. Stattdessen, so Brandenburg, gelte es, Bildung als Phänomen zu würdigen, »das immer rekursiv auf seine eigene Geschichte zurückgewendet ist und gleichzeitig als Kontingenzformel des Erziehungssystems, das nicht Notwendige der möglichen Inhalte eingrenzt ...«. Bildung hat nicht abgewirtschaftet, sondern sowohl als Begriff wie als Praxis eine Funktion an der Grenze von Gesellschaft und Person, denn Bildung ist gesellschaftstheoretisch als doppelgesichtige Selektion von Inhalt und Form des Wissens zu begreifen, die sowohl gesellschaftliche wie individuelle Funktionen erfüllt. - Das ist mit Parsons und dessen Relation von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit im Hintergrund sicher triftig beschrieben; fraglich ist aber, was ,Bildung 4 dann eigentlich noch von ,Erziehung 4 unterscheidet bzw. ob man beide nicht eigentlich genauer unterscheiden müsste, um den Bildungsbegriff auch in seinen aktuellen Varianten wissenssoziologisch beobachten zu können. Immerhin ist er ein Begriff, dessen kulturell-innovative Sprengkraft lange vorüber ist, der aber gleichwohl - wie banal auch immer eingesetzt - als Focus politischer Diskussion einen sozialen Wandel des Erziehungssystems begleitet, der sich nicht nur universitär gewaschen hat. In vielerlei Hinsicht zehren Brandenburgs Beobachtungen hintergründig von dem semantischen Reservoir der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers u.a. Deren forcierte Rezeption seit den 60er Jahren hat dabei ihre genuin bildungsbürgerliche Abkunft zeitweilig vergessen lassen. »Halbbildung4 ist ein sicher durch und durch bildungsbürgerlicher Begriff; mit ,Kulturindustrie 4 steht es nicht anders. Beide Male verweisen sie auf die drohende Vereinnahmung der
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in diesem Theorieverständnis einzig innovativen, weil dem Warencharakter widerständigen Instanz: dem autonomen, seiner selbst und der (Abgründigkeit der) Natur in ihm bewussten Individuum. In ihm allein liegt im Zeitalter eines sozialen Wandels hin zur Kulturindustrie die innovative (freilich auch: fragile) Rettung. Eine Variante dieses Diskurses offeriert Thomas Heinzes Text über „Kritische Theorie als Bezugsrahmen eines reflexiven Kulturmanagements". Mit Bonß und Honneth geht Heinze davon aus, dass sich die Aktualität der kritischen Theorie nicht durch eine hermeneutische Selbstauslegung der klassischen Texte allein wird retten können. Neu ins Kalkül gezogen werden müssen auf jeden Fall die Veränderungen im technologischen und massenmedialen Bereich ebenso wie die Akzentverschiebungen der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrungsverarbeitung. Gleichwohl gilt in dieser Perspektive weiterhin, dass die systematische (theoretische und empirische) Aufklärung über die Wirkungsweise der Kultur- und Bewusstseinsindustrie auch heute noch eine produktive Herausforderung für ein reflexives Kulturmanagement darstellt. Deshalb, so Heinzes Postulat, »sollte es zur , Ethik 4 des Kulturmanagers gehören, auf der Basis einer theoretisch und empirisch fundierten Kulturkritik ... sein Handeln so auszurichten, dass die interessierten und involvierten (Kultur-)Rezipienten zu einem reflektierten (aktiven) Umgang mit den Projekten und Produkten von ,höherer 4 und ,niederer' (Massen-)Kultur angeleitet werden.« Änderungsbedarf sieht Heinze indes hinsichtlich des Subjektmodells der kritischen Theorie. Im Zeitalter der modernen Massenmedien braucht es ein dynamischeres Konzept des gesellschaftlichen Individuums, das die Formen der gesellschaftlichen Kulturaneignung, Selbstzuordnung, Selbstdefinition und Einpassung stärker mit in Betracht zieht. Neben die nicht zu verleugnende Standardisierung und Schematisierung von massenmedialen Produkten tritt immer mehr der Prozess der Re-Individualisierung der Massenmedien, die mitunter auch zum souveränen Konsumenten führt, der sich sein spezifisches Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsprogramm zusammenstellt und autonomer ist, als so mancher Kulturkritiker meint. Es fragt sich freilich, ob mit dieser individualisierungstheoretischen Modifikation nicht, ähnlich wie im Falle der Bildung, der kritische Impetus endgültig verloren geht. Wenn eine kritische Theorie der Kulturindustrie mittlerweile zum guten Ton kulturindustrieller Produkte und Produktionsformen gehört - also: selbst Warencharakter hat! - und deren normative Basis: eine unaufgebbarwiderständige Individualität, selbst die ,id£e directrice' der Konsumwelt geworden ist, dann kann man zumindest nicht mehr ignorieren, dass die Form und das Vokabular der Kritik in das Kritisierte eingewandert ist. Und die ernsthafte Anschlussfrage wäre dann: Welcher Form von Theorie bedürfte es eigentlich, um beobachten zu können, wie eine ehedem innovative semantische Form (hier: die Kritische Theorie) Teil eines sozialen Wandels wird, den sie selbst in kriti-
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scher Absicht beobachtet hatte? Und wie könnte diese Theorie dann noch »kritisch4 sein? Die Relation von Sozialstruktur und Kultur hat, wie oben bereits erwähnt, neben allen Anschlusskomplikationen und neben allen Komplikationen der Relation beider Komponenten, ja auch immer den Sinn, die Dynamik zunächst zufälliger, sporadischer und ephemer auftauchender sozialer Phänomene zu einer sozial auffälligen, also strukturell sich sedimentierenden Form zu begreifen. Hier geht es zunächst weniger um die Frage, wie eine Komponente der Sozialstruktur sich selbst kulturell beschreibt und auf den Begriff bringt, als vielmehr darum, innovative sozialstrukturelle Elemente in das Licht soziologischer Erkenntnis zu bringen. Einen dieser erst in den letzten Jahren auffälligen Effekte beschreibt Hans Nokielski in seiner Studie über „Transnationale Ruhestandsmigration44. Mit den Bildern deutscher oder englischer Kolonien vor allem in den südlichen europäischen Ländern, mit den vielsprachigen ,urbanizaciones4 und Altersdomizilen Marke ,Abendfrieden 4 an der spanischen Mittelmeerküste, der eigenheimverwöhnten Toscana-Fraktion oder der Provence anglais ist das Phänomen selbst schnell benannt und sozial bekannt; noch nicht aber soziologisch seriös verortet. Mit dem etablierten soziologischen Begriff der ,Migration 4 ist die Eigentümlichkeit dieser neuen Selbst- und Lebensverhältnisse nur in Ansätzen beschrieben. Denn gerade der Begriff der Migration, so macht Nokielski deutlich, suggeriert, zusammen mit den Behälterraumimplikationen der älteren Soziologie, einen eindeutigen Übergang und Wechsel von dem einen sozialen ,Behälterraum4 in einen anderen. Ruhestandsmigration aber ist gerade ,Ortspolygamie 4 (Beck) als Lebensentwurf und Lebensform eigentümlich. Ihr Motiv ist zudem nicht wirtschaftliche oder politische Not; ganz im Gegenteil liegt ihr ein »Überschuss an Wohlstand und Möglichkeiten« zugrunde. Ruhestandsmigration ist in den meisten Fällen (und man wird wahrscheinlich generationenrelativ ergänzen müssen: noch) - Wohlstandsmigration auf der Grundlage hoher Alterseinkommen, erhöhter Lebenserwartungen, massentouristisch erworbener Erfahrungen und, zumindest EU-intern, erleichterter Aufenthaltsbestimmungen. Dass diesen Rahmenbedingungen modifizierte Selbst- und Lebenskonzepte entsprechen, hat die soziologische Milieu-, Lebensstil- und Wertewandelforschung inzwischen vielfältig plausibilisiert. In sie fügt sich auch Nokielskis Versuch, diese neuen sozialstrukturell relevanten Formen mit dem Begriff der ,Raumpioniere 4 zu fassen. Die Spezifik dieser Lebensform in den Details ihrer Bezüge im Wirtschafts-, Gesundheits- und politischen System, aber auch mit Bezug auf Fragen der sozialen Integration beginnt sich sicherlich erst langsam auszudifferenzieren. Es könnte aber durchaus sein, dass sich hier erstmalig Einstellungsmuster und Lebensweisen sozial verdichten, die, auch über den Wohlstandshintergrund hinaus, einen ersten Einblick in neue, z.B. durch technologische Innovationen und der auf ihrer Basis
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möglichen Aufhebung kleiner sozialräumlicher Segregationsmuster (privat vs. beruflich) provozierten sozialen Existenzformen bietet. Unstrittig gehört zu den Struktureigentümlichkeiten der modernen Gesellschaft die im Vergleich zu vormodernen Vorläufern auffällig dominante Stellung des Sozialsystemtypus ,Organisation 1. Trotz (oder wegen?) des Weber'sehen Akzents auf Bürokratie und auf die rationale Variante der Legitimität von Herrschaft beginnt die Soziologie erst in den letzten Jahren, dieses Phänomen in seiner Relevanz für eine Gesellschaftstheorie der Moderne zu verorten. Auch eine Erörterung der Korrelation von sozialem Wandel und kultureller Innovation kann auf diese Facette nicht verzichten. Das liegt sicher nicht nur daran, dass, inzwischen unter neoliberalen Vorzeichen sichtbar, z.B. semantische Innovationen, die man als Beschreibungsfolien oder ,Gussformen' für das Selbstverhältnis moderner Individuen qualifizieren könnte, ersichtlich aus dem Arsenal von auf Dauerinnovation gestellten Wirtschaftsorganisationen stammen - die berüchtigte ,Ich-AG' ist dafür nur das bekannteste Beispiel. Aber so wie »sozialer Wandel' in der Moderne sich ohne Rückgriff auf,Organisation' nicht zureichend explizieren lässt, so muss auch ,kulturelle Innovation' unter den Bedingungen der Moderne die Innovation organisationaler und organisationsintern produzierter Semantiken mit durchaus gesamtgesellschaftlichen Effekten mit berücksichtigen. Der Text von Helmut Klages über „Herausforderungen im Globalisierungsschub" reflektiert diese Anforderungen und Ansprüche an das moderne Individuum als »Verantwortungs- und Riskoträger« im mittlerweile selbstverständlich als Globalisierung bezeichneten sozialen Wandel. Klages behandelt diese Entwicklungen mit einer doppelten Referenz: Er beginnt mit der Ebene der Organisation und geht dann über zur sozialstrukturellen bzw. gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Hier wird das moderne Individuum in der Rolle als Organisationsmitglied mit den gesellschaftlichen und organisationalen Erwartungen konfrontiert. Die Ungewissheit, Unsicherheit, Dynamik, Unberechenbarkeit und Unplanbarkeit, denen moderne Organisationen sich heutzutage gegenübersehen, werden an die Individuen weitergegeben und als Erwartungen und Zumutungen gesteigerter Ambiguitätstoleranz, Mobilitäts-, Veränderungs- und Lernbereitschaft formuliert. Managementimperative werden immer mehr zu Selbstmanagementimperativen ausgeweitet und die Postulate der Dauerreorganisation der modernen Arbeitswelt in an den Einzelnen gerichtete Flexibilitätsappelle umgemünzt. Zur permanent lernenden Organisation gehört - wie selbstverständlich auch das permanent lernende Individuum. Deroutinisierung, Anpassungsfähigkeit, Selbständigkeit, Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Kreativität, SelbstUnternehmer und Unternehmer-Selbst sowie lebenslanges Lernen sind nur einige der Schlagworte, die diesen Trend semantisch ausflaggen. Klages reflektiert diese Phänomene in ihrer Ambivalenz einerseits als Individualisierungschancen für Wagemutige und andererseits als Risikoaspekte der Individualverantwor-
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tung. Die Heraufkunft der flexiblen Organisation kann durchaus »faszinierende Chancen für flexible, wagemutige, zu selbständigem Handeln und Entscheiden fähige Menschen« mit sich bringen. Ein positives Szenario bestünde laut Klages in einer möglichen neuen Gleichheit von Lebens- und Arbeitsbedingungen. Neue Organisationsformen wie die , virtual corporation' könnten durchaus neue Autonomiezugewinne der verschiedenen Kooperationspartner (Unternehmer, Mitarbeiter, Kunden) in organisational und interorganisationalen Beziehungen bewirken. Die gegenseitige Unabhängigkeit verwirklicht sich in Teams, Projekten, flexiblen Kundenbeziehungen, kurzfristigeren Verträgen und Netzwerken. Unter diesen neuen Organisations- und Arbeitsbedingungen haben Individuen durchaus »rapide anwachsende Chancen, sich von ,Arbeitgebern',,Direktoren', , Vorgesetzten' und ,Managern' unabhängig zu machen und auf eigene Verantwortung autonom und selbstgesteuert tätig zu werden«. Die andere Seite der Chancen sind die Risikoaspekte der neu geforderten Individualverantwortung. Das Einzelindividuum als Verantwortungsträger und „Selbstunternehmer" hat mit den Externalisierungen und Individualisierungen der Risiken moderner Organisations- und Arbeitsverhältnisse zu kämpfen. Der Einzelne erkennt sich im radikalen Sinne als Humanressource und schnell auswechselbare Humanreserve, die sich einerseits im Sinne des ,fitten' Unternehmens permanent selbst fit halten, sprich permanent weiterqualifizieren und -motivieren soll, dafür auf der anderen Seite aber nicht mehr mit Kontinuitäten und Sicherheiten im Sinne einer »Aufrechterhaltung psychischer Gleichgewichtszustände« rechnen kann. Dadurch entstehen neue gesellschaftliche Ungleichheiten. Nicht nur haben einige Beschäftigte sicherere Arbeitsplätze als andere, auch die Chancen, im Risikofalle den Anschluss nicht zu verlieren und abzustürzen, variieren erheblich. An dieser Stelle schlägt Klages den Bogen zu seiner zweiten Referenz, der sozialstrukturellen bzw. gesamtgesellschaftlichen Perspektive. In der Diagnose des Wandels klassischer sozial- und wohlfahrtspolitischer Sicherheitsfragen treffen sich die Meso- und die Makroebene seiner Analyse: Neoliberale Trends lassen sich sowohl auf der Organisations- als auch der Gesellschaftsebene auszumachen. Der stufenweise Abschied von der Sozialstaatsidee geht einher mit der Expansion von Anspruchshaltungen und der Änderung kollektiver Daseinssicherung. Klages konstatiert, dass sich in der Sozialstaatsdiskussion eine vergrößerte Bereitschaft »zur grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Sozialstaatspolitik und zur Übernahme der Substanz der neoliberalen Botschaft« zeigt, »die auf eine Zurückschneidung staatlicher Ziele und Programme in Verbindung mit einer Aufwertung spontaner gesellschaftlicher Selbstentwicklungsfähigkeiten und ökonomischer Marktkräfte abstellt«. Und Klages wagt die Prognose, dass es auf absehbare Zeit nicht zu einer Umkehrung des neoliberalen Trends kommen wird. Es fehlt an alternativen Gegenpositionen; im Gegenteil: Auch innerhalb der Soziologie lassen sich Tendenzen sondieren, Gesellschaft nur noch als Markt bzw. mit marktförmigen Kategorien zu beobachten.
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Das ist auffällig, denn traditionell fehlt es ja wahrlich nicht an dazu alternativen soziologischen Theoremen und Begriffen. Das betrifft traditionell etwa die non-kontraktuellen Grundlagen des Vertrages, das betrifft aktuell aber auch das Phänomen Organisation. M.a.W.: Um solchen wie den von Klages erwähnten und anderen organisational relevanten Tendenzen auf die begriffliche Spur zu kommen, muss man nicht unbedingt das soziologische Vokabular selbst mit den beratungsnahen und optimierungssehnsüchtigen Vokabularien der Betriebswirtschafts- und Managementlehre anreichern. Ein gerüttelt Maß an inkongruenter Perspektive zu den diversen Formen der Praxis war schon und ist noch immer ein erstes Qualitätssiegel soziologischer Forschung. Ein Vorschlag in dieser Richtung lässt sich dem Beitrag Werner Nienhüsers entnehmen. Seine Studie über die , Elitenzirkulation in Organisationen' untersucht die Frage nach den Karriereregularien organisational Eliten in der modernen Gesellschaft. Und auch Nienhüser hat - wie Klages - eine Doppelbindung im Blick. Es geht nicht nur um die Organisationsreferenz, sondern, ausgehend von der Ebene der Organisation, um gesellschaftlichen Wandel. Die entsprechende Inkongruenz leiht sich Nienhüser (nicht ohne provokantes Schmunzeln) bei Pareto und Mosca. Er greift so die bei beiden prononcierte Relation von gesellschaftlichem Wandel und Elitenwechsel auf und unterstreicht dadurch die Unterversorgung moderner betriebswirtschaftlicher und soziologischer Organisationsforschungen mit elitentheoretischen Ansätzen. Nienhüser strebt hierbei eine Verbindung der älteren Elitentheorie mit neueren Organisationstheorien an, um den Zusammenhang von Erfolg, Wandel, Macht und Führungskräftewechsel in den Blick nehmen zu können: Wie lassen sich die soziale Struktur und die Macht organisationaler Eliten erklären? Wie kann der Einfluss der Elitenstruktur auf das Unternehmensverhalten bestimmt werden? Wie wirkt das Unternehmensverhalten auf die sozial- und machtstrukturelle Zusammensetzung und den Wandel der Organisationselite zurück? Die elitentheoretische Umorientierung dieser Fragen schafft Distanz vor allen Dingen zu den Personalisierungen der üblichen Managementlehren, die auf potente und kompetente Entscheider zurechnen. Nienhüser geht zwar von Unternehmensmanagern aus, vermutet aber die prinzipielle Generalisierbarkeit seiner Analyse auch auf andere Organisationen und andere Eliten hin. Der Elitenbegriff ist Nienhüser zufolge Alternativbegriffen wie Topmanagement, Führungskräfte, Vorstände etc. vorzuziehen, da er von spezifischen Organisationen, speziell Unternehmen, abstrahiert sowie Anschlussfähigkeit an eine breitere soziologische und politikwissenschaftliche Elitenforschung erlaubt. Fragen zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Stabilität und Wandel und Elitenwechsel können so für die Analyse von Organisationen fruchtbar gemacht werden; Organisations- und Gesellschaftstheorie kommen über den Elitenbegriff ins Gespräch. Das ,tertium comparationis' ist dabei der dauerhafte Antagonismus zwischen der nach Monopolisierung, Erhaltung und Ausweitung ihrer
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Macht strebenden Herrschaftselite und der auf neue Herrschaftsstrukturen bedachten Konkurrenz-Elite. Durch Anreicherung der akteurs- und handlungstheoretischen Perspektive der Elitentheorie um kognitions- und attributionstheoretische sowie sozialkonstruktivistische Perspektiven gewinnt freilich auch deren herrschaftslogischer Zuschnitt neue Konturen. Derart nämlich gerät auch die klassische wissenssoziologische Korrelationsaussage von gesellschaftlicher Trägergruppe und Ideen- bzw. Interessenkonstellationen in den Blick. Präferenzen organisationaler Eliten können den Wandel von Organisationen besser erklären als »strukturelle Variablen oder gar die Präferenzen der Organisationsmitglieder insgesamt«. Organisationale und gesellschaftliche Eliten: Das sind in diesem Verständnis dann die sozialen Adressen, deren selektive Wahrnehmungsprozesse, Situationsdefinitionen und Legitimationsbeschaffiingen durch ,retrospective sensemaking' die entsprechenden sozialen Effekte produzieren. Dafür und darum werden sie als Entscheider identifiziert und attribuiert. An Nienhüsers abschließenden typisierenden Überlegungen zu Konfigurationen des Wandels (Nicht-Wandel, Nichtumkämpfter Wandel, Umkämpfter Wandel, Wandel als machtpolitisches Instrument) zeigt sich, wie eine gesellschaftstheoretisch sensibilisierte Organisationssoziologie auch die klassischen Domänen einer makrosoziologisch dominierten Theorie sozialen Wandels anzuregen weiß. In einer überkommenen engen politikwissenschaftlichen Interpretation ist der eigentliche Agent sozialen Wandels immer schon der steuernde Staat gewesen. Nicht zuletzt die Skepsis einer soziologischen Differenzierungstheorie der Moderne hat an diesem Bild in den vergangenen Jahrzehnten notwendige Korrekturen angebracht. ,Neue Steuerungsmodelle' (nicht nur, aber auch) des Sozialstaates und seines tradierten Korporatismus, ein neuer Akzent auf ,active Society' und auf andere zivilgesellschaftliche Konzepte (und Semantiken) stehen hier zur Diskussion. Rolf Heimes Beitrag beschäftigt sich mit der Krise und Reformfähigkeit des Sozialstaats und der Steuerungsfähigkeit des politischen Systems angesichts dichter Korporatisierung. Die Suche gilt möglichen Alternativen zu »obrigkeitsstaatlichen Formen« wohlfahrtsstaatlicher Reformen durch die Kooperation und Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure - Drittsektororganisationen als »Ressourcen einer aktiven Zivilgesellschaft«. Wenn traditionelle Formen der Konsensbildung angesichts der Komplexität neuer Probleme (Arbeitsmarkt, Zuwanderung, Gentechnik, Energiepolitik etc.) versagen, könnte die Einbeziehung gesellschaftlicher Organisationen und Expertengremien einen Funktionswandel vom hierarchischen zum moderierenden Staat bedeuten, da neue Kooperationsformen in Form von Bündnis- und Konsensrunden, Expertenräten, Zukunftsinitiativen und runden Tischen neue Ressourcen und Handlungsoptionen erschließen lassen könnten. Heinzes Diskussion des ,Bündnis für Arbeit' stimmt freilich skeptisch, mindert zumindest allzu forsche Optimismen: Fehlende gemeinsame Problemwahrnehmung, heterogene Situationsdeutungen und konfrontative
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Handlungsstrategien bei den teilnehmenden Interessengruppen zeigen im Kern, dass die zentralen Großorganisationen schwerlich nur von ihren dominanten Selbstbeschreibungen loskommen. Eine einmal etablierte Semantik mit entsprechenden Selbstverständnissen zeigt einfach ein gewisses Beharrungsvermögen, das so leicht wie eine steuerungseuphorische Politik dies glaubt, sich nicht renovieren lässt. Auch Heinzes zweites Beispiel, die strukturelle Umgestaltung des Wohlfahrtsverbändekorporatismus in Deutschland durch neue Steuerungsmodelle, zielt in eine ähnliche Richtung. Vordergründig geht es dabei um eine betriebswie volkswirtschaftliche Modernisierung, Rationalisierung und Reorganisation des Gesundheits- und Wohlfahrtssektors. Mit Blick sowohl auf die dominanten Trägerorganisationen dieses Sektors, deren Gründunggeschichte teilweise in frühe Phasen des Modernisierungsprozesses zurückreicht, als auch auf die dem Wohlfahrtsverbändekorporatismus traditional als Legitimationsmuster zugrundeliegende Semantik einer nach Wertelagern und Lebensbereichen segmentär differenzierten Gesellschaft, wie sie insbesondere im ,Subsidiaritätsprinzip' zum Ausdruck kommt, wird jedoch deutlich, dass es sich hier nicht um einfache Prozesse steuerungstechnischer Reform oder organisatorischer Anpassung handelt, sondern zugleich auch Modelle und Beschreibungen gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Disposition stehen. (Dazu ausfuhrlich der Beitrag von Gabriel in diesem Band.) Wie sonst kaum andere Organisationen haben die ,freien Träger4 es lange Zeit erfolgreich verstanden, sich den Funktionsmodi von Politik und Wirtschaft durch eine Selbstbeschreibung als stabile ,Säulen4 traditionsgefestigter Moralität und eigenweltlicher Solidarität zu entziehen - und auf Sonderstellung wie Sonderwegen zu beharren. Insofern sind die Wandlungsprozesse bei den Wohlfahrtsverbänden - einschließlich ihrer Einbindung in einen Verbändekorporatismus - ein guter Indikator für die Reichweite und Stärke des gegenwärtigen Wandels gesellschaftlicher Strukturen, wie aber auch für deren semantisch gestütztes Beharrungsvermögen. Details dieser Wandlungsprozesse liegen darin, dass mehr Gewicht auf Hauptamtliche gegenüber Ehrenamtlichen gelegt wird, Führungs- und Entscheidungsstrukturen umgebaut werden, Änderungen der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen sind, eine Pluralisierung der Trägerlandschaft sowie zunehmend privatwirtschaftliche Anbieter und informell organisierte Akteure (Selbsthilfegruppen etc.) zu verzeichnen sind. Insgesamt haben der Wettbewerbsgedanke und die Ökonomisierung der Wohlfahrtslandschaft (Monetarisierung, Wettbewerb, Controlling, Effizienz, Zielorientierung), kurz: die Vermarktlichung sozialer Dienste, Einzug gehalten. Es erhöht sich damit der Ökonomisierungsdruck auf die Einzelorganisation der Wohlfahrtsverbände, so dass in Zukunft die Frage nach Kooperation, Vernetzung, mehr Wettbewerb und dem Management sozialer Dienstleistungen auf kommunaler Ebene eine der Schlüsselfragen im Bereich der Sozialpolitik sein wird. Folgt man Heinze, so
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kommt es im Rahmen eines neuen Managements sozialer Sicherheit auf den Paradigmenwechsel von bürokratischer Organisation und Planung hin zu Arrangements von Vernetzungsinstanz und Koordinationen an. Ein erster Schritt innerhalb einer experimentellen Innovationsstrategie wäre - nach Heinze - die Entwicklung entsprechender dialogischer Diskussions- und Planungsformen, »um ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Potentiale eine Bündelung der Ressourcen der lokalen Akteure voranzutreiben«. Sicher ist die ,Zivilgesellschaft 4 in diesem Verständnis kein Demokratieromantikprojekt, »sondern ein Name für die kooperative Organisation der Zukunftsfähigkeit eines Staates, dessen Steuerungsressourcen schwinden«. Politiknahe Steuerungsmodelle alleine sind freilich kein Garant für kontrollierbaren sozialen Wandel einer Gesellschaft als Ganze. Eine ähnliche Themenstellung wie Heinze hat auch Annette Zimmer im Auge. Zimmer setzt sich mit den Vereinen im gegenwärtigen Deutschland als »Organisationen des Dritten Sektors und Akteure der Zivilgesellschaft« auseinander und diskutiert deren Möglichkeiten und Restriktionen, die ihnen als zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und Produzenten wohlfahrtsrelevanter Leistungen und Dienste im Kontext der Wohlfahrtsstaatskrise sowie angesichts des Vertrauensverlustes der Parteiendemokratie zukommen können. In der Zivilgesellschafts- und Sozialstaatsdebatte werden Vereine seit einiger Zeit unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Relevanz als Alternative sowohl zur staatlichen wie zur privat-kommerziellen Wohlfahrtsproduktion thematisiert. Aber sind sie wirklich dazu eine Alternative? Können sie diesen weit reichenden Erwartungen, die in sie gesteckt werden, auch gerecht werden? Vor allem aber: wie sehen sie sich selbst? Die Selbsteinschätzungen der Vereine geben Anlass zum Nachdenken: Sie lassen sich vor allem auf eine kritische Einschätzung der staatlichen Rahmenbedingungen konzentrieren. Der Staat, einerseits Förderer von Vereinsaktivitäten, zeigt sich andererseits in deren Perspektive als wenig verlässlicher Partner und Garant geeigneter Rahmenbedingungen. Die befragten Vereine sehen sich durchaus selbst als dynamische gesellschaftliche Kraft. Und ihre Bedeutung, so die Selbsteinschätzung, als »Infrastruktur der Zivilgesellschaft« wird in Zukunft noch eindeutig zunehmen. Ihnen kommt eine innovative Kraft zu, die »sowohl kommerziellen Akteuren als auch und insbesondere dem Staat« überlegen sein kann. Vereine sehen sich als Akteure im Kampf für Toleranz, Gerechtigkeit und Pluralismus. Sie sind Garanten einer offenen Gesellschaft, leisten Sozial- und Systemintegration, bieten die Lösung sozialer Probleme, übernehmen soziale Verantwortung, operieren kostengünstig und sind ohne Standesdünkel frei zugänglich. Die kritische Selbsteinschätzung weist aber auch auf Managementund Organisationsprobleme hin. Vereine halten sich für sozial gerechter, kostengünstiger und bedürfnisorientierter, sehen sich jedoch in punkto Innovationskraft sowie im Hinblick auf ein effizientes Management im Vergleich zum
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Markt häufig eher in der Defensive. Insgesamt verstehen sich Vereine als wichtige Orte sozialer Integration und als wichtige Dienstleistungseinrichtungen, als institutionelle Alternative zu Markt und Staat. Zimmer gibt abschließend zu bedenken, ob die »typisch-deutsche Einbettungsstruktur des Vereinswesens unter dem Leitmotiv der Subsidiarität« heute noch zeitgemäß ist. Eine neue Form des ,Public-Private-Partnership 4 sieht Zimmer in der Umstellung vom konsensorientierten Leitprinzip der Subsidiarität zu einer eher vertragsorientierten Konzeption, durch die die Vereine ihre Rolle als »countervailing power' angemessener realisieren könnten. Mit dem Beitrag Karl Gabriels über die Rolle der kirchlichen Wohlfahrtsverbände im Umbruch des Europäischen Sozialstaatsmodells schließt sich in gewisser Weise ein thematischer Kreis, den die Kaufmann'sche Suche nach ideengeschichtlichen Klassikern des fur das 20. Jahrhundert maßgeblichen Sozialstaatsmodells eröffnet hatte und den Gabriel nun bis in die organisationsstrukturellen Konsequenzen der Wohlfahrtspflege hinein ausbuchstabiert. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände des Diakonischen Werks und des Deutschen Caritasverbandes gelten seit langer Zeit als die zentralen Akteure der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland. Ihrem Selbstverständnis nach charakterisiert sie die Wertgebundenheit der sozialen Arbeit. Sie sind Partner im Sozialstaat und beanspruchen »Gemeinwohl-Agenturen', ,Anwalt der Betroffenen 4 und ,soziale Dienstleistungsanbieter4 zu sein. Sie sind gleichzeitig an ihre jeweils spezifische kirchliche Identität gebunden. Für die duale Wohlfahrtspflege in Deutschland spielt der religiös-kirchliche Faktor eine konstitutive Rolle. Gabriel bezeichnet das deutsche System als quasi-universalistisches, versicherungsstaatlich ausgeprägtes Wohlfahrtsregime mit einer starken Stellung kirchlicher Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Die historische Entwicklung und Bearbeitung der sozialen Frage hat im 19. Jahrhundert zum dualen System Deutschland gefuhrt und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zwischen Staat, Markt, Familie und Kirche positioniert. Diakonie und Caritas haben von Beginn an vermittelnde Funktionen zwischen Gesellschaft und Staat übernommen. Anders als öffentliche Ämter und private Dienstleister bringen Diakonie und Caritas »Prinzipien solidarischen Helfens in das System sozialer Dienstleistungen« ein. Ihr Handeln ist weder an der Markt- noch an der Wirtschaftslogik orientiert, sie agieren als Non-Profit-Organisationen gemeinwohlverpflichtet. Sie stehen dabei vor der Aufgabe, verschiedene Handlungslogiken, Motive und Rationalitäten miteinander zu verbinden und erfüllen so eine Integrationsfunktion nach innen und nach außen. Nach Innen vermitteln sie zwischen den außen stehenden Sektoren der sich zunehmend pluralisierenden Kirchen. Und nach außen stellen sie einen Bereich des öffentlichen Lebens dar, »in dem Kirche und Gesellschaft neue Verflechtungsformen angenommen haben, die gegenstrukturelle Wirkungen zu Prozessen der Entkirchlichung des übrigen gesellschaftlichen Lebens entwickeln.«
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Dieses Modell ist in die Krise geraten. Im Gegensatz freilich zu Rolf Heinzes Überlegungen stellt Gabriel eher die Frage, ob die (europa-)politischen Korrekturen an ihm nicht die eigentliche Krise darstellen. Durch die zunehmende Entstaatlichung kirchlicher Wohlfahrtsverbände und die neue europäische Integrationspolitik hat sich für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände ein starker Veränderungsdruck ergeben. Die grundlegende Reform des Wohlfahrtsstaats stellt vermehrt Markt- und nicht Sozialintegration in den Vordergrund. Das neue Modell rückt damit von der Dimension sozialen Ausgleichs im klassischen europäischen Sozialmodell deutlich ab. Dem entspricht im übrigen nicht zufällig auch eine Veränderung in den die Sozialmodelle grundierenden »religiöskirchlichen Wurzeln«. Die den Sozialstaat und dessen Selbstverständnis maßgeblich mitprägenden und lange Zeit dominanten Strömungen des Luthertums und des Katholizismus weichen zunehmend »freikirchlichen Strömungen des Protestantismus und des Calvinismus ..., die sich in den Tendenzen des neuen Sozialmodells widerspiegeln.« Wie ein Gespenst kehrt der Weber'sche ,Geist des Kapitalismus4 zurück und prägt zunehmend das Gesicht eines lange Zeit sozialstaatlich gebändigten Kapitalismus. Die Differenz zwischen Heinze und Gabriel offenbart unterschiedliche Modi des soziologischen Umgangs nicht nur mit neueren Steuerungsmodellen, sondern insgesamt mit Semantiken und Beschreibungsmodellen, die ersichtlich nicht aus dem überkommenen Arsenal der Soziologie stammen, sondern eher betriebswirtschaftlichen und managerialen Diskursen abgelauscht sind und die nebenbei - ein Indiz dafür sind, dass die Hegemonie der Soziologie als gesellschaftsübergreifender Stichwortgeber lange vorüber ist. Damit kann man soziologisch affirmativ oder kritisch umgehen. Einer dritten Variante geht Thomas Drepper nach. Seine organisations- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen zur neuen »Grenzenlosigkeit des Managements4 zehren von der Grundeinsicht, dass erst eine genuin soziologische Beobachtung der neueren Managementlehren in der Lage ist, deren blinde Flecken zureichend zu beobachten. Speziell geht es dabei um zwei zentrale Hinweise. Zum einen gelingt es nur einer organisationssoziologischen Rekonzeptualisierung von Managementlehren, die »Objekte4, auf die sich diese Lehren beziehen, als das zu beschreiben, was sie sind: Organisationen in einem Kontext. Organisationssysteme sind eigentypische Phänomene mit eigenen Grenzsetzungsmechanismen in einer gesellschaftlichen Umwelt; deshalb der Doppelakzent auf Organisation und auf Gesellschaft. Zum anderen: Gesellschaft weist selbst wiederum eine ihr eigene spezifische Differenzierungsform auf. Dieser Hinweis ist für eine Soziologie des Managements von besonderer Relevanz, weil so in den Blick gerät, was ansonsten verschwimmt. Geht man die Dinge differenzierungstheoretisch an, so zeigt sich, dass die Grenzenlosigkeit der Diffusion jener Semantik neuer wie alter Managementlehren und entsprechender Handlungsprogramme sich korrekter beschreiben ließe als ein vielfältiger Ein-
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tritt in gesellschaftliche Gebiete, die über je eigene, sinnhaft konstituierte Grenzen und Erwartungshorizonte verfugen. An diesen Grenzen entlang müssen die Gewinne und Verluste, die Chancen und Risiken plausibel und opportun erscheinender semantischer Importe (oder sollte man sagen: ,Kolonialisierungen'?) überprüft werden. Die Beispiele, entlang derer Drepper diese „Kombination von Organisations- und Differenzierungstheorie" exemplifiziert - Wirtschaftssemantiken in der Erziehung und Erziehungssemantiken in der Wirtschaft - weisen zugleich über das konkrete Thema hinaus auf eine Art gesellschafts- und differenzierungstheoretisch belehrter Diskursanalyse, eine Theorie semantischer Transfers und Transformationen, die die Dualität von sozialem Wandel und kultureller Innovation in den Focus von „Grenzsetzungen und Grenzverschiebungen" 20 und der immer wieder neuen und ungleichzeitigen Begründung von „Sinn- und Systemgrenzen" 21 bringt. Es ist sicher unmöglich, all die vielen Facetten und Detailüberlegungen der hier versammelten Studien in ein sie umgreifendes und homogenisierendes Gesamtkonzept zu fügen. Bezüge zueinander und gemeinsame Sensibilitäten sind zweifelsohne vorhanden; einige haben wir vorstehend zu markieren versucht. Dennoch (oder deshalb) gilt: Zu spannungsreich und vielfältig sind die Ansätze, als dass eine enge gemeinsame Klammer sie in das Korsett einer strengen Theorie des sozialen Wandels und seines Bezugs zu Momenten kultureller Innovation zwängen könnte. Und doch: Sucht man abschließend wenn auch nicht eine solche Theorie, so doch ein kleinstes gemeinsames Vielfaches, so bietet sich an, die soziologische, speziell wissenssoziologische, auf Strukturen und Kulturen hin orientierte Sensibilität für den permanenten, auf Dauer gestellten Schwellencharakter der Moderne, für ihre Dauerfragilität und immer wieder neue Brüchigkeit ins Zentrum zu stellen. Wie kein zweites steht dafür das Œuvre Eckart Pankokes, das in seinen vielfältigen thematischen und theoretischen Bezügen das Spektrum sozial- und ideengeschichtlicher Studien, Aspekte der Kommunal- und Sozialpolitik sowie moderne Varianten der Organisations- und Kultursoziologie und Überlegungen zum Dritten Sektor und dessen ehrenamtlicher Basis umspannt. Nicht zuletzt für dieses Werk selbst gilt, was Pankoke im Kommentar zur Edition klassischer Schwellentexte moderner ,Gesellschaftslehre 4 an Eigentümlichkeiten ihrer spezifischen Modernität festgehalten hat. Hier wie dort verknüpft sich eine „moderne Bewusstheit der Geschichtlichkeit von Gesellschaft" mit neuem „Sinn für die ,Künstlichkeit' des Sozialen" und einer gesteigerten „Empfindlichkeit für die Dialektik, Paradoxie und Tragik gesellschaftlicher Modernisierung". 22 Als Teilnehmer und Teilhaber einer Generation, die sich im Bewusstsein ihrer eigenen 20 21 22
Pankoke, Die Arbeitsfrage, S. 10. Pankoke, Die Arbeitsfrage, S. 21. Pankoke (Hrsg.), Gesellschaftslehre, S. 816.
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Geschichtlichkeit diesen dauerfragilen Arrangements mit wissenssoziologischem Spürsinn theoretisch und forschungspraktisch mit ungebrochenem Elan und Engagement verschrieben hat, sei Eckart Pankoke diese Sammlung zum 65. Geburtstag gewidmet.
Die Herausgeber bedanken sich herzlich bei den Autorinnen und Autoren für deren engagierte Mitarbeit an der Realisierung dieses Bandes. Herrn Prof. Dr. jur. h.c. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot sei im Besonderen für seine Bereitschaft zur Ermöglichung dieser Festschrift gedankt. An Herrn Lars Hartmann geht der Dank für die Kooperation und Betreuung in Herstellungsund Drucklegungsfragen. Frau Gudrun Quenzel, Frau Michaela Janotta und Frau Marion Nokielski unterstützten die Fertigstellung des Textes durch umfangreiche technische und sprachliche Korrekturhilfen. Auch an sie geht der herzliche Dank der Herausgeber.
Literatur Luhmann, N., Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 9-71. Pankoke, E., Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik. Grundfragen der deutschen , Social Wissenschaft4 im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1971. -
Die Arbeitsfrage. Arbeitsmoral, Beschäftigungskrisen und Wohlfahrtspolitik im Industriezeitalter, Frankfurt a. M. 1990.
-
(Hrsg.), Gesellschaftslehre, Frankfurt a. M. 1991.
Simmel, G., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11), hrsg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992 (zuerst 1908).
I. Ideengeschichte und moderne Gesellschaft
Vorläufer wohlfahrtsstaatlichen Denkens: Sismondi, List, Mill Franz-Xaver Kaufmann
Unter den deutschen Soziologen meiner Generation hat sich keiner so entschieden mit der Spurensicherung unserer Fachtradition beschäftigt wie Eckart Pankoke. Seine Dissertation Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik: Grundfragen der deutschen ,Socialwissenschaft' im 19. Jahrhundert blieb lange Zeit das einzige Werk, das Soziologen daran erinnern konnte, dass die deutsche Soziologie nicht erst mit Georg Simmel und Max Weber beginnt abgesehen von der umfassenden Geschichte der Soziologie des leider allzu früh verstorbenen Friedrich Jonas. Pankoke hat diese Spurensicherung fortgesetzt in der unter Soziologen wenig bekannten Bibliothek Deutscher Klassiker , in der er den Band Gesellschaftslehre herausgegeben und die Texte des 18. und 19. Jahrhunderts mit kompetenten Kommentaren uns vermittelt hat. Für mich war Pankokes Dissertation vor allem der Schlüssel zu einer ideengeschichtlichen Betrachtung von Sozialpolitik, die mich jahrelang beschäftigt und kürzlich zu einer monographischen Darstellung geführt hat.1 Dabei habe ich mich auf die deutsche Tradition konzentriert, soweit diese sich mit dem Begriff Sozialpolitik verbunden hat. In diesem Beitrag möchte ich ergänzend auf drei sozialwissenschaftliche Klassiker hinweisen, welche die deutsche Soziologie völlig aus den Augen verloren hat, die jedoch gerade in der Perspektive einer theoretischen Reflexion des Wohlfahrtsstaates problemaufschließend sind: Sismondi, Friedrich List und John Stuart Mill.
I. Gibt es Klassiker wohlfahrtsstaatlichen Denkens? Als Königsweg, sich der Identität einer kulturellen Tradition zu versichern, erweist sich die Rekonstruktion ihrer Geschichte. Eben darin liegt der Sinn der Rede von Klassikern. Klassiker sind Autoren, die Ideen prägnant formuliert haben, weiche in der Folge für eine Tradition prägend oder wegweisend geworden sind. Die Rede von Klassikern meint also zwangsläufig einen Diskurs der historischen Rekonstruktion. Nur die Nachgeborenen können über die Klas1
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sizität von Texten entscheiden, und sie tun dies aus dem Horizont ihrer Zeit und nicht demjenigen der Verfasser. Und da auch die Horizonte der Nachgeborenen sich mit der Zeit verändern, schwankt der Kurswert' von Klassikern erheblich.
1. Vorbemerkungen Der sprichwörtlichen Eule der Minerva folgend, welche ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, hat auch das systematische Nachdenken über den Sozialoder Wohlfahrtsstaat erst im Horizont seiner Krisendiagnosen begonnen. Der Krisendiskurs entstand Anfang der siebziger Jahre in neomarxistischen Zirkeln, weitete sich aber nach dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und der ersten Ölkrise bald aus. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks hat das wohlfahrtsstaatliche europäische Sozialmodell seine Mittellage zwischen Kapitalismus und Sozialismus verloren und muss sich nun gegen die Attacken eines von den Vereinigten Staaten inspirierten Marktzentrismus sowie gegen Globalisierungsdiskurse behaupten, die das unvermeidliche Ende des europäischen Wohlfahrtsstaates prognostizieren. Die zunehmende demografische Schieflage vieler europäischer Staaten, insbesondere von Deutschland, tut ein Übriges, um solchen Krisenszenarien Plausibilität zu verleihen. Was aber meint - abgesehen von überstrapazierten Sozialhaushalten - die Rede vom Sozial- oder Wohlfahrtsstaat? 2 Jürgen Kaube diagnostizierte kürzlich ein „Reflexionsdefizit des Wohlfahrtsstaates", trotz rund drei Jahrzehnten internationaler Wohlfahrtsstaatsforschung. Es fehle eine „einheitliche, die Entstehung des Wohlfahrtsstaates begleitende oder präludierende Ideologie nach Art etwa des naturrechtlichen Vertragsdenkens oder Lehre von der Diktatur des Proletariats. ... (Auch) gibt es für Gerechtigkeit', Solidarität' oder ,Wohlfahrt 4 als Wertprämissen sozialstaatlichen Handelns (keine) äquivalente(n) theoretischein) Ausarbeitungen wie sie für ,Freiheit' in der Theorie der Naturrechte und für ,Gleichheit' in der Theorie der Demokratie vorliegen". 3 Angesichts der zwischen den großen Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts - Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus - herrschenden Auseinandersetzungen er2
Im vorliegenden Zusammenhang verzichte ich auf eine Differenzierung zwischen beiden Begriffen. In der politischen Rhetorik meint , Sozialstaat' meist die deutsche Variante von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Vor allem aber betont die Rede vom Sozialstaat mehr die grundgesetzlich festgelegte politische Verantwortung, also den politics-Aspekt, während die internationale Rede vom Weifare State die institutionellen Ausprägungen solcher Verantwortung, also den policy-Aspekt meint. Ebenso verzichte ich auf eine Unterscheidung zwischen ,Sozialpolitik' und ,wohlfahrtsstaatlicher Politik'. Im Gemeinverständnis bezieht sich »Sozialpolitik' auf einen engeren institutionell definierten Bereich; die wissenschaftlichen Diskurse zu Sozialpolitik haben jedoch die breiteren gesellschaftspolitischen Implikationen, um die es hier geht, häufig mit im Blick gehabt. 3 Kaube, Reflexionsdefizit, S. 44.
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scheint der inkrementale und pragmatische Reformismus, auf den man die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung vor allem zurückfuhren kann, wenig profiliert und ideologieträchtig. Seine ideellen Grundlagen im angelsächsischen Utilitarismus, im Christentum katholischer und lutherischer (insbesondere pietistischer) Prägung und nicht zuletzt im sozialdemokratischen Revisionismus blieben heterogen und ideologisch kontrovers. Auch wenn wir mit guten Gründen von einer internationalen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg sprechen können, so erfolgte diese doch stets auf nationalen Pfaden, mit eigensinnigen Bestimmungen der ,sozialen Frage4 und institutionellen Entscheidungen, deren Prämissen vielfach weit in die jeweilige Nationalgeschichte zurückreichen. 4 Da kann es kaum verwundern, dass es an einer international anerkannten „Ideologie des Wohlfahrtsstaats 44 mangelt, wenngleich in der Doktrin sozialer Grundrechte wenigstens ein Ansatz dazu vorhanden ist, welcher im Zuge der Globalisierung an Bedeutung gewinnen dürfte. 5 Kaubes Beobachtung, dass es an einem kohärenten Korpus legitimierender Ideen und Begriffe für den Wohlfahrtsstaat mangelt, ist ernst zu nehmen. Deshalb will ich hier Eckart Pankokes Spurensicherung erweitern und potentielle Klassiker des wohlfahrtsstaatlichen Denkens nominieren, deren Ideen und Begriffe für eine zeitgemäße Theorie des Wohlfahrtsstaates von Belang sind. Damit meine ich - in aller Kürze - Autoren, die im Zuge der für das 19. Jahrhundert charakteristischen Auseinandersetzungen zwischen Liberalismus und Sozialismus - oder Marktgläubigkeit und Staatsgläubigkeit - einen vermittelnden Weg gesucht haben und den Vorteilen und der Notwendigkeit beider Steuerungsprinzipien gerecht geworden sind; die also wenigstens implizit dem modernisierungstheoretisch zentralen Sachverhalt der Differenzierung und Komplementarität gesellschaftlicher Funktionssysteme Rechnung getragen haben.6 Die Dogmengeschichte nationalökonomischer Ideen fasst sie meist unter dem Begriff des Interventionismus zusammen, ein zweifellos wichtiger Aspekt. 7 4
Vgl. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Vgl. Kaufmann, Die Entstehung sozialer Grundrechte. 6 Pankoke hat als erster den Problembezug von ,Socialer Politik' und gesellschaftlicher Differenzierung gesehen: „Die begriffliche Verknüpfung des ,Socialen' mit dem politischen' verweist somit auf Problemzusammenhänge, die im Rahmen der Trennung von ,Staat' und ,Gesellschaft' theoretisch uninteressant und praktisch irrelevant bleiben mussten, setzt diese Trennung ... jedoch als Bezugsproblem voraus." (Sozialpolitik, S. 77). 7 Vgl. Keller, Dogmengeschichte; sowie als nie mehr erreichtes Standardwerk Gide/Rist, Histoire des Doctrines Economiques. Eine deutsche Übersetzung der ersten Auflage (1909) wurde u. d. Titel „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen" von Franz Oppenheimer herausgegeben (Jena 1913). Die 7. Auflage (1947) liegt in englischer Übersetzung vor: A History of Economic Doctrines from the time of the physiocrats to the present day, 2 n d ed., London 1948. Die amerikanisierte Geschichtsvergessenheit der deutschen Wirtschaftswissenschaften zeigt sich auch darin, dass sie - mit Ausnahme der ihr kaum mehr zuzurechnenden Arbeiten von Joseph A. Schumpeter 5
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Aus soziologischer Sicht bemisst sich ihr Rang aber auch nach ihrem Sinn für die Partikularität des marktwirtschaftlichen Geschehens einerseits und des politischen Geschehens andererseits im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang.8 Dieser Perspektive entsprechend werden im Folgenden auch Vertreter unterschiedlicher Wissenschaften erwähnt. Die im Folgenden zunächst namhaft gemachten deutschen Autoren habe ich an anderer Stelle ausführlicher besprochen, sodass ich mich mit Bezug auf sie aus Raumgründen auf Stichworte beschränken kann.9
2. Deutsche Autoren Wirkungsgeschichtlich grundlegend ist Lorenz von Stein, wobei sein Vorbild Hegel auch in dieser Hinsicht nicht zu vergessen ist - das hat schon Pankoke hervorgehoben. 10 Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung hatte es anfänglich mit der Abarbeitung der Folgeprobleme von Liberalisierung und Industrialisierung zu tun, insbesondere denjenigen der funktionalen Differenzierung. 11 Das moderne Differenzierungsdenken geht auf Hegel zurück - trotz dessen weitgehender Ignorierung durch Niklas Luhmann! Stein hat als erster die Vermittlung von , Staat' und der vom Klassenkonflikt zerrissenen bürgerlichen Gesellschaft' gesucht, allerdings ebenso wenig wie die übrigen deutschen Denker der Sozialpolitik das dritte Moment der Hegel'schen Differenz bedacht, nämlich die Familie. 12 Dennoch: Lorenz von Stein ist der Begründer einer gesellschaftstheoretischen Perspektive, wie sie heute für eine Theorie des Wohlfahrtsstaates unverzichtbar erscheint. Als zweiten deutschen Klassiker wohlfahrtsstaatlichen Denkens möchte ich den , Staatssozialisten' Adolph Wagner in Vorschlag bringen. 13 Wagners Be-
seit dem Zweiten Weltkrieg kein einziges fachgeschichtliches Werk von Rang hervorgebracht hat. 8 Zur Begründung dieser Position vgl. Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, insb. Kap. 11. 9 Vgl. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken; ebendort weiterführende Literaturhinweise. 10 Vgl. Pankoke, Sozialpolitik; ferner ders. (Hrsg.) Gesellschaftslehre, S. 1050f. u. S. 1136f. 11 Hierzu nunmehr prägnant Huf Sozialstaat und Moderne. 12 Eine Ausnahme bildet Spann, Die Erweiterung von Sozialpolitik durch die Berufsvormundschaft; im Übrigen war die Familienpolitik ein zentrales Problem in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung Frankreichs. 13 Dagegen scheint mir Gustav von Schmoller trotz seiner jüngsten Renaissance im Bereich der Wirtschaftsgeschichte analytisch zu schwach, um uns noch viel lehren zu können. Ebenso wenig habe ich mich mit Albert Schaeffle anfreunden können, dem
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deutung liegt nicht nur in seiner für die Gründung des Vereins für Sozialpolitik katalytischen „Rede über die sociale Frage" (1871), sondern vor allem in seiner wissenschaftlichen Grundlegung der öffentlichen Finanzwirtschaft. Bei Wagner wurden erstmals die Werkzeuge des von Stein so genannten „arbeitenden Staates" systematisch dargestellt, und zwar stets mit der doppelten Blickrichtung auf deren finanzwirtschaftliche und sozialpolitische Bedeutung. Sozialpolitik bedeutete ihm die Beeinflussung der sozio-ökonomischen Verteilungsverhältnisse im Interesse der benachteiligten Klassen. Wagners Finanzwissenschaft ist bis heute grundlegend für elementare Vorstellungen des Sozialstaates, wie die Progressivst der Einkommenssteuer und die Bedeutung öffentlich finanzierter Dienste. Nahezu verdrängt aus den sozialpolitischen Diskursen ist der sozialdemokratische Jurist Hugo Sinzheimer. Er gehörte nicht zu den Zirkeln der Sozialpolitiker, und da gegenwärtig zwar das Sozialrecht, aber kaum das Arbeitsrecht mit der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in Verbindung gebracht wird, ist auch von der Jurisprudenz hier wenig Unterstützung zu erwarten. Sinzheimers bahnbrechende Leistung besteht in der Überwindung der individualistischen Auffassung vom Arbeitsvertrag, wie sie sich auf der Basis des römischen Rechts herausgebildet hatte. Er bezeichnete - hierin Karl Marx folgend - den Arbeitsvertrag als „rechtliches Gewaltverhältnis" und entwickelte auf der Grundlage deutschrechtlicher Traditionen die Rechtsfigur des „korporativen Arbeitsnormenvertrags", also unseres heutigen Arbeitsverfassungs- und TarifVertragsrechts. Sinzheimer hatte einen klaren Blick für die sozialen Folgen des Rechts und forderte deshalb eine „legislative Rechtswissenschaft", in heutiger Terminologie eine Gesetzgebungslehre. Hat Wagner die sozial gestaltende Tätigkeit des Staates in finanzwissenschaftlicher Hinsicht begründet, so Sinzheimer in rechtswissenschaftlicher. Größere Beachtung hat in den letzten Jahrzehnten Eduard Heimann gefunden. Anscheinend ohne Lorenz von Stein zu kennen, nahm seine Soziale Theorie des Kapitalismus die gesellschaftstheoretische Fragestellung wieder auf und stellte die Dynamik des Kapitalismus in einen geistes- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang. Sozialpolitik war für Heimann „der institutionelle Niederschlag der sozialen Idee im Kapitalismus"; 14 als soziale Idee bezeichnete er das Bürgertum und Arbeiterschaft gemeinsame normative Fundament aus Christentum und Aufklärung. Wir finden hier einen klaren Blick für die Herausforderungen des Kapitalismus als Gesellschaftsformation und deren produktive Umgestaltung durch Sozialpolitik; dagegen fehlt Heimann ein klares Staatskonzept. Auch in späteren Schriften, die sich bis in die 1960er Jahre hinziehen, Pankoke in seiner Dissertation große Beachtung geschenkt, ihn in seine ,Gesellschaftslehre4 allerdings nicht aufgenommen hat. 14 Heimann, Soziale Theorie, S. 167.
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untersuchte er Zusammenhänge zwischen kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung und machte als einer der ersten deutlich, dass die Klassenfrage durch neue Herausforderungen des Kapitalismus abgelöst werde, insbesondere durch die entpersonalisierenden Wirkungen des technisch-ökonomischen Rationalismus und die ökologischen Gefährdungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es in Deutschland an Sozialwissenschaftlern, welche das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Sinne der nun international voll in Gang gekommenen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung weiterführend interpretierten. 15 Erwähnenswert ist hier lediglich Hans Achinger, der u.a. wesentlich zur Integration der Fürsorge in das sozialpolitische Denken und damit zur Überwindung der Fixierung der Sozialpolitik auf die Klassen- und Arbeiterfrage beigetragen hat. Seine Schrift Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik - Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat (zuerst 1958) machte die Stoßrichtung bereits im Titel deutlich. Seine Schriften sensibilisierten auch für die unerwünschten Nebenfolgen einer zunehmenden Institutionalisierung von Sozialpolitik, die in der Folge unter den Schlagworten ,Verrechtlichung 4 und ,Bürokratisierung' ausführlich diskutiert worden sind. 16 Schließlich hat Achinger maßgeblich zur Renaissance einer soziologischen Beschäftigung mit Sozialpolitik beigetragen und wichtige Punkte einer Forschungsagenda formuliert. In Ergänzung zu diesen auch der Geschichte der Sozialpolitik zuzuordnenden deutschen Autoren sei im folgenden von Friedrich List die Rede, dem Vorkämpfer für den deutschen Zollverein, dessen theoretischen Arbeiten zum Teil erst Jahrzehnte nach seinem Tod wiederentdeckt wurden, und der wohl auch deshalb in den Fachgeschichten der Sozialwissenschaften ein Schattendasein führt, m.E. zu Unrecht.
3. Ausländische Autoren Natürlich sollte eine Nominierungsliste von Klassikern des wohlfahrtsstaatlichen Denkens auch ausländische Namen umfassen, wenngleich die deutsche
15 Da ich ,Klassiker' zu nominieren beabsichtige, schließe ich noch Lebende aus. Unter diesen sei der Jurist Hans F. Zacher wenigstens erwähnt, der wie kein anderer die Grundlagen der deutschen Sozialstaatlichkeit konzeptuell entwickelt hat. 16 Diese Problematik wurde bereits von Götz Briefs „Die Krise der Sozialpolitik" klar erkannt. Niklas Luhmanns „Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat" nimmt zwar auch auf Folgeprobleme wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung Bezug und hat mit dem Konzept der Inklusion einen für die Wohlfahrtsstaatstheorie wichtigen Begriff geprägt. Die Stoßrichtung seiner Theorie ist jedoch einer Begründung wohlfahrtsstaatlichen Denkens eher entgegengesetzt, weshalb er nicht in meine ,Klassikerliste' gehört. Seine Theorie stellt wie beispielsweise auch diejenige Friedrich von Hayeks - eher einen kritischen Prüfstein dar, der gegenüber sich eine Theorie des Wohlfahrtsstaates zu behaupten hätte.
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Tradition des sozialpolitischen Denkens bis zum Ende der Weimarer Republik durchaus als international führend angesehen werden darf. Zweifellos gehören das schwedische Ökonomenehepaar Alva und Gunnar Myrdal und der britische Soziologe Thomas H. Marshall auf eine solche Liste. Die Myrdals haben schon früh auf den Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Sozialpolitik hingewiesen und für eine Verbindung von Frauen- und Familienpolitik votiert, die in Deutschland bis heute nicht in die Köpfe will. 1 7 Darüber hinaus hat vor allem Gunnar Myrdal Grundlagenprobleme der Sozialpolitik behandelt und schon früh auf die Problematik der Entwicklungsländer in sozialpolitischer Perspektive hingewiesen.18 Marshall ist durch seine Theorie des ,Citizenship' und in diesem Zusammenhang durch die Betonung sozialer Rechte als Grundlage der Inklusion inzwischen auch in Deutschland rezipiert worden. 19 Für heute will ich von weiteren Nominationen aus neuerer Zeit absehen und etwas ausführlicher auf drei Vorläufer des wohlfahrtsstaatlichen Denkens eingehen, die einer Generation angehörten, in der von Sozialpolitik' und erst recht von Wohlfahrtsstaat' noch nicht die Rede war: 20 Es sind dies, neben dem oben erwähnten Friedrich List, der, vor allem im französischen Sprachraum einflussreiche, Schweizer Sismondi und der Brite John Stuart Mill. Allen dreien ist zunächst gemeinsam, dass sie noch nicht einer bestimmten Disziplin zuzuordnen sind, sondern mehr oder minder dem aufklärerischen Ideal des Universalgelehrten nacheiferten; keiner von ihnen wurde durch ein Universitätsleben disziplinar eingebunden. Ferner haben alle drei ihre hier interessierenden sozialwissenschaftlichen Positionen in Reaktion auf Adam Smith und seine Schule entwickelt. Das ist ein wesentliches Kriterium, um in meiner Klassikerliste nominiert zu werden. Denn die kameralistische und merkantilistische Wohlfahrtsdoktrin des 17. und 18. Jahrhunderts kannte zwar durchaus schon den Zusammenhang von fürstlicher Politik, Wohlfahrt der Untertanen und wirtschaftlich-politischem Erfolg; und insofern ist die Rede vom „präliberalen Wohlfahrtsstaat" durchaus berechtigt. Aber es fehlte ihr noch das Bewusstsein für die Probleme, die sich aus der zunehmenden Autonomie der gesellschaftlichen
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Vgl. Myrdal, Kris i Befolkningsfragan. Myrdals Werk harrt noch einer systematischen Aufarbeitung; Ansätze bei Streeten, Programme und Prognosen, sowie Meyer-Kramer, Analyse. 19 Vgl. Marshall, Bürgerrechte, mit einem würdigenden Vorwort von Elmar Rieger. 20 Die Wortverbindung von ,politisch' und ,sozial' entwickelte sich zuerst in Deutschland im Umfeld der Ereignisse von 1848; eine codierte Wortverwendung von Sozialpolitik' lässt sich erst im Kontext der Bismarckschen Sozialreformen nachweisen; die internationale Verbreitung des Begriffs erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Von einem ,sozialen Staat' sprach zuerst Lorenz von Stein, von Wohlfahrtsstaat' Adolph Wagner, doch bürgerten sich die Bezeichnungen in codierter Form auch in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, ja sie haben im Wesentlichen erst seit den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Krisendiskussion größere Verbreitung gefunden; vgl. hierzu Kaufmann, Sozialpolitisches Denken. 18
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Sphären gegenüber dem Staate ergeben. Diese zuerst von Hegel auf den Begriff gebrachte Spannung zwischen bürgerlicher Gesellschaft, Staat und Familie ist jedoch theoretisch konstitutiv für alle zeitgenössischen Probleme der Wohlfahrtsstaatlichkeit.
I I . Simonde de Sismondi: Verteilungsproblematik und externe Effekte Jean Charles Léonard Simonde wurde 1773 in Genf geboren und ist ebenda 1842 gestorben. Er war Zeit seines Lebens Privatgelehrter und konnte es sich leisten, Berufungen an die Universitäten Wien und Paris auszuschlagen. Unter Berufung auf italienische Vorfahren legte er sich den Zunamen de Sismondi zu; unter diesem Namen ist er vor allem als Historiker und politischer Ökonom in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Sein in unserem Zusammenhang klassisches Werk Nouveaux Principes d'économie politique : Ou, de la richesse dans ses rapports avec la population (1819) 21 bezog sich im Titel auf die nur zwei Jahre zuvor veröffentlichten Principles of Political Economy von David Ricardo und stellte die erste kritische Auseinandersetzung mit der sich auf Adam Smith berufenden klassischen Schule dar. Neben Ricardo war deren wichtigster Repräsentant der Franzose Jean-Baptiste Say, und neben ihm propagierte Sismondi zunächst in einer 1803 erschienen Schrift die Ideen von Adam Smith im französischen Sprachraum. Auch in seinen späteren Neuen Grundsätzen der politischen Ökonomie. Oder vom Reichtum in seinen Beziehungen zur Bevölkerung bezog er sich auf die Gedanken dieser Schule, nun aber als deren Kritiker in bestimmten Hinsichten: „Ich trennte mich von Freunden, deren politische Ansichten ich teile; ich wies auf die Gefahren der Neuerungen hin, die sie empfehlen; ich bewies, dass mehrere Einrichtungen, welche sie lange Zeit als Irrtümer bekämpften, wohltätige Folgen gehabt hatten; schließlich berief ich mich bei mehreren Gelegenheiten auf die Intervention des Staates, um die Vergrößerung des Reichtums zu regeln, anstatt die politische Ökonomie auf die einfachere und augenscheinlich liberalere Maxime des „laisser faire et laisser passer" zurückzuführen." 22
Sismondis diagnostische Leistung bestand darin, dass er unter dem Eindruck der ersten industriellen Überproduktionskrise in England den widersprüchlichen Charakter der bürgerlich-industriellen Wirtschaft aufwies: Die heraufkommende industriekapitalistische Wirtschaftsform wird als Bedrohung des harmonischen 21 Die von Achim Toepel besorgte deutsche Ausgabe von 1971 (aufgrund der überarbeiteten 2. Auflage von 1827) ist einer früheren Übersetzung entschieden vorzuziehen. Zu Sismondi siehe neben der Einführung Toepels die Monographie von Amonn, Simonde de Sismondi; sowie de Laubier, Sismondi; ferner Gide/Rist, A History, S. 184211. 22 Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Vorwort zur 2. Auflage von 1827, Bd. 1,S. 3.
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Bildes einer bürgerlichen Gesellschaft von Gleichen dargestellt. Der für die Begründung sozialreformerischer Vorschläge maßgebliche theoretische Grundgedanke - und um ihn allein kann es hier gehen - liegt in der systematischen Unterscheidung des Produktions- und des Verteilungsproblems im Kontext der politischen Ökonomie. Politische Ökonomie war für ihn „die Suche nach Mitteln und Wegen, durch welche die größtmögliche Anzahl von Menschen in einem Staatswesen in höchstem Maße an materiellem Wohlstand teilhaben kann" 23 , und er sah es als Aufgabe des Staates an, eine angemessene Verteilung des produzierten Reichtums sicherzustellen. Er bekannte sich zwar weiterhin zu den Prinzipien des Smith'schen Systems der politischen Ökonomie, dessen Überlegenheit gegenüber dem Merkantilsystem und den Lehren der Physiokraten er sehr deutlich herausstellte. Aber er distanzierte sich von Smith in dem entscheidenden Punkt, dass nicht die Größe des Sozialprodukts allein, sondern das Verhältnis von Größe und Verteilung des Sozialprodukts den Volkswohlstand bestimme. Damit ist die Eigenständigkeit der Verteilungsproblematik im Verhältnis zur Allokationsproblematik erstmals formuliert worden, ein Punkt, durch den sich eine Theorie des Wohlfahrtsstaats deutlich von den Economics of Weifare unterscheidet; denn deren Pareto-Optimalität bezieht sich nur auf die Allkokations- nicht auf die Verteilungsseite des ökonomischen Prozesses, ja sie vermag diese Differenz bis heute nicht anzuerkennen. Die gesellschaftstheoretische Bedeutung der Argumentation Sismondis resultiert aus der Verknüpfung von drei Einsichten: (1) Das sich selbst überlassene Industriesystem tendiere zur Überproduktion, weil es den ganz überwiegenden Teil der Erlöse in den Händen einiger weniger Kapitalisten konzentriere und die breiten Massen der Bevölkerung zu wenig Lohn erhielten, um die produzierten Güter zu kaufen. Das Industriesystem vermehre kontinuierlich das Güterangebot, bewirke aber gleichzeitig durch die Konkurrenzierung des herkömmlichen Gewerbes Arbeitslosigkeit und senke so die Nachfrage. Auf diesem Argument bauten in der Folge die Forderungen nach staatlich organisierter Einkommensumverteilung auf. (2) Gegen Malthus bestritt Sismondi, dass es eine immanente Tendenz zur Übervölkerung gebe, vielmehr sei der Kinderreichtum der Proletarier 4 - und hier nahm Sismondi den ursprünglichen römischen Sinn des Wortes auf - auf ihre Armut zurückzuführen, die ihnen jede Sicherheit und Zukunftsorientierung verweigere. Sismondi plädierte daher für eine breite Streuung des Produktivvermögens und die Stärkung des Kleineigentums, woraus von selbst eine Rationalisierung des generativen Verhaltens und damit eine Einschränkung des BevölkerungsWachstums resultieren werde. (3) Die Ausbeutung der Arbeiter - und hier dachte Sismondi, dem damaligen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung entsprechend, ebenso an die Landarbeiter wie an die gewerblich Tätigen - sei die Konsequenz der Auflösung der
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alten Schutz- und Solidaritätspflichten, wie sie sowohl im Feudalsystem wie in den Zünften gegeben waren. Diese ,Befreiung' ermögliche es den Arbeitgebern, ihre Arbeitskräfte über Gebühr zu belasten und die Kosten von deren Krankheit und Arbeitsunfähigkeit zu externalisieren, da diese Konsequenzen anschließend von den Gemeinden und nicht von ihnen selbst zu tragen seien.24 Sismondi entdeckte hier also bereits das Problem der negativen externen Effekte marktwirtschaftlicher Produktion und schlug als Lösung eine Internalisierung der Kosten vor. 25 Die gesellschaftstheoretische Pointe der Argumentation Sismondis wird aber erst deutlich, wenn man diese drei Gedanken zusammenfasst: Die Beseitigung der ständischen Schranken der Wirtschaftstätigkeit hat zur Entfesselung der Konkurrenz und dadurch zu extremen Entwicklungen - hier Überproduktion, dort Bevölkerungswachstum - geführt, zwischen denen ein keineswegs notwendiger Widerspruch, das Verteilungsproblem, klafft. Die postulierten staatlichen Eingriffe können daher nicht nur unmittelbar verteilungspolitische Wirkungen, sondern auch soziale Folgewirkungen zeitigen, in deren Konsequenz sich die ,soziale Frage4 auflöst. Sismondi erwartete die Überwindung des Elendes der am Existenzminimum lebenden Bevölkerung durch die kombinierte Wirkung mehrerer Maßnahmen: Durch ein die Vermögensteilung forcierendes Erbrecht sollte die Akkumulation größerer Vermögen vermieden und die Schicht der Bodenbesitzer und Gewerbetreibenden verbreitert werden. Ferner sollten Gesetze veranlassen, „daß der Eigentümer materielle und politische Vorteile erzielt, sofern er eine engere Beziehung zu seinen Arbeitern hat, sie für längere Zeit einstellt und an seinen Profiten beteiligt. ... Die Kapitalisten werden sich unter diesen Umständen bemühen, Arbeiter für sich heranzuziehen, diese an Eigentum und Sparsamkeit zu interessieren, aus ihnen schließlich Menschen und Bürger zu machen, während man heute unaufhörlich bestrebt ist, sie zu Maschinen zu degradieren." 26 Durch die damit ereichte betriebliche Integration der Unterschichten würden diese eine Lebensperspektive erhalten, die sie auch zu einem rationaleren Reproduktionsverhalten veranlassen könnte, und damit würde der
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„Ist sich aber einmal der Großpächter oder Großgrundbesitzer dessen bewußt, dass er allein, während des ganzen Jahres mit der Familie des Tagelöhners, den er benötigt, belastet ist, dann wird er nicht mehr daran interessiert sein, dessen Lohn so sehr wie möglich zu senken oder von ihm mehr Arbeit zu verlangen als er kräftemäßig leisten kann" (Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Bd. 1, S. 276). 25 „Es liegt auf der Hand, dass, wenn die Gewerbe lediglich zum Zwecke der Wohltätigkeit wieder zu Körperschaften vereint würden und die Fabrikherren die Pflicht hätten, allen Armen ihres Gewerbezweiges Unterstützung zu leisten, etwa in der Art, wie es die Gemeinden in England tun, man sogleich die Leiden beendete, welchen die arbeitende Klasse ausgesetzt ist" (Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Bd. 2, S. 281). Genau dies geschieht übrigens mittels der Berufsgenossenschaften in Deutschland! 26 Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Bd. 2, S. 285.
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Druck der übermäßig nachwachsenden jugendlichen Arbeitskräfte, Marxens ,industrielle Reservearmee', von selbst verschwinden. Es liegt in der Konsequenz des Programms von Sismondi, dass die Produktionsentwicklung langsamer vor sich gehen würde, als bei ungehindertem Kapitalismus. Denn man gelangte „bald zu der Erkenntnis, daß viele Manufakturen, die man als gewinnbringend ansah, in Wirklichkeit mit Verlust arbeiten; denn die Hilfeleistungen, die die Gesellschaft jährlich ihren Arbeitern gewährt, ist größer als ihre Produktivität". 27 Dieser heute unter dem Eindruck drohender ökologischer Katastrophen wieder plausible Gedanke hat sich, wie die Geschichte gezeigt hat, gegen die Dynamik des „Enrichissez-vous" (so der damalige französische Finanzminister Guizot) nicht durchsetzen können, aber die Forderung nach sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten der Arbeiter lassen sich durch die Überlegungen Sismondis überzeugend begründen. Ebenso hat Sismondi als erster erkannt, dass die Wohlstandssteigerung eine dem Moral Restraint von Malthus überlegene Empfehlung zur Rationalisierung der Fortpflanzung darstellt. Marx brachte Sismondi als „kleinbürgerlichem Ökonomen" vergleichsweise hohe Wertschätzung entgegen: „Zentrale Thesen, mit denen Marx den Zusammenbruch des Kapitalismus vorhersagt: Konzentration, Überproduktion, Unterkonsumtion, Verelendung und Desintegration stammen von Sismondi, den Marx an entscheidenden Stellen ausführlich zitiert" 28 ; Marx kritisierte Sismondi jedoch wegen der von ihm angestrebten Vermittlung zwischen einer an bloßem Gewinnstreben orientierten Wirtschaft und einem an der Wohlfahrt der Bürger orientierten Staat. Hierfür entwickelte Sismondi allerdings noch keine Theorie, sondern nur mehr oder weniger plausible pragmatische Vorschläge. Aus heutiger Sicht enthalten sie jedoch bereits die Idee, Verhaltenssteuerung über institutionelle Veränderungen anzustreben. Und solche institutionellen Bedingungen zu ändern, hielt Sismondi den Staat für imstande. Zwar blieb seine Ausarbeitung dieses Gedankens rudimentär, und er fragte auch nicht, inwieweit und warum der Staat in der Lage sei, die institutionellen Voraussetzungen menschlichen Verhaltens zu ändern. Marx verwarf eben diese Hoffnung und setzte deshalb auf die Revolution des Proletariats. Für Lorenz von Stein dagegen wurde die Frage der staatlichen Handlungsmöglichkeiten zentral. Wirkungsgeschichtlich ist Sismondi vor allem in Frankreich einflussreich geworden, doch haben seine Gedanken - vermittelt über Marx und Rodbertus mittelbar auch die deutschen Interpretationen der sozialen Frage beeinflusst. 29 Mills selbständige Behandlung der Verteilungsproblematik (siehe unten) wurde
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Sismondi, Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Bd. 2, S. 285f. Jonas, Geschichte der Soziologie, S. 51. Vgl. Gide!Rist, A History, S. 210f.
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von den „speculations of the St. Simonians" angeregt, 30 zu denen wahrscheinlich auch Sismondi zu zählen ist.
I I I . Friedrich List: Der Staat und die produktiven Kräfte Radikaler als durch Sismondi wurde das von Smith ausgehende Konzept der Ursachen des „Wohlstandes der Nationen" durch Friedrich List in Frage gestellt. Nicht allein die durch Arbeitsteilung und Konkurrenz vorangetriebene Produktivität der Arbeit, sondern ein wesentlich breiterer Komplex „produktiver Kräfte" war für ihn die Ursache des Volkswohlstandes. List (1789-1846), ein schwäbischer Autodidakt, kurze Zeit Professor für Staatsverwaltungspraxis an der Universität Tübingen, dann Politiker, missliebiger Emigrant, Nationalökonom und Inspirator des nationalen Protektionismus, Eisenbahnpionier in Amerika und Vorkämpfer der politischen Einigung Deutschlands, war die längste Zeit seines Lebens auf publizistische Tätigkeit als Lebensunterhalt angewiesen, und beendete sein schließlich ziemlich elendes Leben selbst. Sein politisches und publizistisches Engagement sowie seine Gegnerschaft zur liberalen Nationalökonomie und der Mangel an akademischer Einbindung haben zweifellos dazu beigetragen, dass er überwiegend um seiner politischen, nicht jedoch um seiner wissenschaftlichen Wirkung willen in die Geschichte eingegangen ist. 31 Hinzu kommt, dass zwei seiner bedeutenderen Schriften, nämlich die Antworten auf die Preisaufgaben der Pariser Académie des Sciences Morales et Politiques (1837) erst 1913 bzw. 1983 wieder aufgefunden worden sind. 32 Zudem ist List keiner Schule zuzuordnen. 33 So ist er den Ökonomen bestenfalls eine Fußnote wert, und wird von den Soziologen völlig ignoriert. Ausgangspunkt des List'sehen Denkens war die regionale Zersplitterung und ökonomische Rückständigkeit Deutschland nach dem Wiener Kongress (1815). Er setzte sich für liberale und rechtsstaatliche Regierungsformen ein und strebte den Zusammenschluss der deutschen Staaten zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum an. Dies geschah im Wesentlichen aufgrund der Einsicht in die technologische, ökonomische und politische Überlegenheit Englands, dessen
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Vgl. Mill, Principles, Introduction, S. XXII. Zu Leben und Werk von List siehe Henderson, List; zum neuesten Stand der ListForschung vgl. Stadtverwaltung Reutlingen (Hrsg.), List und seine Zeit. Zum Theoriesystem von List vgl. Randak, List und die wissenschaftliche Wirtschaftspolitik. 32 List, Das natürliche System; bzw. List, Die Welt bewegt sich. Bis dahin war das wissenschaftliche Denken von List im deutschen Sprachraum im Wesentlichen nur durch das erstmals 1841 veröffentlichte Nationale System der politischen Ökonomie bekannt. 33 Zu den vielfältigen Einordnungsversuchen von List vgl. Ott, Ideengeschichtliche Bedeutung Friedrich Lists. 31
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Waren nach Aufhebung der napoleonischen Kontinentalsperre den Kontinent überschwemmten. Das wissenschaftliche Denken Lists ist von dieser zeitgeschichtlichen Situation nachhaltig geprägt, aber es ist mehr als deren bloßer Reflex und enthält - vor allem im Natürlichen System der politischen Ökonomie - durchaus eine eigenständige Theorie. Der systematischen Struktur nach umfasst sie drei Elemente: Eine Theorie der Wirtschaftsentwicklung, eine Theorie der produktiven Kräfte und eine politische Theorie. Den Ausgangspunkt bildet das Problem der nachholenden Wirtschaftsentwicklung, konkret also die Frage, wie Deutschland am besten den fortgeschrittenen Entwicklungsstand Englands erreichen könne. Nach List ist die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes im Wesentlichen vom Grad der Entfaltung seiner produktiven Kräfte abhängig. Eine Regierung tut daher gut daran, nicht in erster Linie den Handel, sondern die produktiven Kräfte ihres Landes zu fordern. Hierunter verstand List zum einen das wirtschaftliche Realkapital, wie es insbesondere durch die Industrialisierung geschaffen wird, und für dessen von der ausländischen Konkurrenz ungestörten Aufbau er eine Schutzzollpolitik empfahl. 34 Aber dies ist nur der vordergründige Aspekt des Problems. In Auseinandersetzung vor allem mit Adam Smith wies List darauf hin, dass dieser zwar die Ursachen des Volkswohlstandes zu Recht in der Produktivität der Arbeit sehe, dass er aber die Produktivität der Arbeit selbst nicht zu erklären vermöge: „Die Kraft Reichtümer zu schaffen ist demnach unendlich wichtiger als der Reichtum selbst. ... Wir fragen: heißt es wissenschaftlich räsonieren, wenn man als Ursache einer Erscheinung etwas bezeichnet, was für sich selbst das Resultat einer Menge tieferliegender Ursachen ist? ... Was es denn sei, wodurch diese Köpfe und diese Arme und Hände zur Produktion veranlaßt und wodurch diesen Anstrengungen Wirksamkeit gegeben werde? Was kann es anders sein als der Geist, der die Individuen belebt, als die gesellschaftliche Ordnung, welche ihre Tätigkeit befruchtet, als die Naturkräfte, deren Benützung ihnen zu Gebot stehen?"35
Die Arbeitsproduktivität ist für List somit keine natürliche Gegebenheit, sondern das Zentralproblem der Entwicklungschancen eines Landes, die er von vier zentralen Faktoren abhängig sieht: (1) Den natürlichen Vorbedingungen wie
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„Eine Nation, die eine nur vom Ausland abhängige Agrikultur besitzt, die aber durch ihre moralischen Qualitäten oder die Natur ihres Landes befähigt ist, eine Manufakturkraft durch Einführung von Zöllen und Abgaben zu pflanzen und zu mehren, opfert vielleicht für den Augenblick viele Werte, weil sie Industrien hervorruft, die zunächst nur teure und unvollkommene Produkte erzeugen. Allein sie erwirbt für die Zukunft eine beträchtliche Masse produktiver Kräfte, einzig dadurch, daß sie von nun an unter ihren Angehörigen die Teilung der Arbeit im großen eingeführt und für immer die tätige Wechselseitigkeit zwischen Agrikultur und Industrie gesichert hat; das aber bedeutet ein dauernd progressives Wachstum des allgemeinen Wohlstands." {List, Das natürliche System, S. 195). 35 List, Das politische System, S. 220 u. 223.
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Klima, Bodenbeschaffenheit, Bodenschätze und Mobilitätsbedingungen (z.B. Flüsse oder hinderliche Gebirge); (2) den individuellen Kräften, wie sie in Form von Erziehung, Bildung und Erfahrung als Humanvermögen der Individuen und der Nation als ganzer auftauchen; 36 (3) institutionelle Bedingungen der Produktivität Hierunter verstand List die Gesamtheit der kulturellen, rechtlichen und organisatorischen Gegebenheiten eines Landes;37 (4) die wirtschaftlichen Kräfte im engeren Sinne, so insbesondere die „Agrikulturkraft" und „Manufakturkraft", also den technologischen Entwicklungsstand von Landwirtschaft und Industrie, während List dem Handel nur geringen Einfluss auf die Entwicklung der Produktivkräfte zumaß.38 Differenzierungstheoretisch gesprochen bezieht sich Lists Theorie der produktiven Kräfte also nicht nur auf die innerhalb des Wirtschaftssystems operativen Faktoren, sondern auch auf Leistungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, insbesondere des Rechtes und der Politik, aber auch der Familie und des Bildungswesens. Er legte besonderen Wert auf die in ihrem ökonomischen Nutzen im Einzelnen gar nicht mehr zurechenbaren kulturellen und politischen Gegebenheiten, von denen doch die wirtschaftlichen Entwicklungschancen in entscheidender Weise abhängen. Und er fasste auch die relevanten individuellen Eigenschaften breiter als der Humankapitalbegriff, insofern er Werthaltungen und soziale Fähigkeiten (social capital) mit einbezog. Lists Theorie betrifft also „die Kräfte oder Fähigkeiten, die tätig sind und zur Produktion beitragen, nicht jedoch die Dinge selbst, die produziert sind und als Tauschobjekte einen Wert haben." 39 Letzteres ist der Gegenstand der „kosmo-
36 Der Begriff, Human vermögen' kommt bei List noch nicht vor, er spricht in diesem Zusammenhang von ,Nationalproduktivkraft: „Der größte Teil der Komsumption einer Nation geht auf die Erziehung der künftigen Generation, auf die Pflege der künftigen Nationalproduktivkraft" (List, Das politische System, S. 227). Den Begriff,Humanvermögen' hat Krüsselberg im Anschluss an List entwickelt und im Rahmen des Fünften Familienberichts zur Geltung gebracht. 37 „Die christliche Religion, die Monogamie, die Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft, die Erblichkeit des Throns, die Erfindung der Buchstabenschrift, der Presse, der Post, des Geldes, des Gewichts und Maßes, des Kalenders und der Uhren, die Sicherheitspolizei, die Einführung des freien Grundeigentums und die Transportmittel sind reiche Quellen der produktiven Kraft." (List, Das nationale System, S. 227) Henderson (List, S. 119) weist daraufhin, dass Vorentwürfe Lists zum (nie vollendeten) politischem System die Behandlung folgender Themenbereiche vorsahen: „(I) Ackerverfassung und Ackerpolitik, (II) Gewerbeverfassung, (III) Verkehrsverfassung, (IV) Finanzverfassung, (V) Gerichts- und Administrationsverfassung, (VI) Wehrverfassung, (VII) Staats- und Parlamentsverfassung, (VIII) Geist der Nationen und sein Einfluß auf die produktiven Kräfte und die Erwerbung der Reichtümer, (IX) Internationale Verhältnisse und auswärtige Politik." 38
Vgl. List, Das natürliche System, Kap. XIX. List, Das natürliche System, S. 191. List thematisiert somit den Prozessnutzen der Produktion, nicht nur ihren Ergebnisnutzen. Zu dieser Unterscheidung vgl. Kaufmann, 39
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politischen Ökonomie" von Smith und seinen Nachfolgern, welche in Überspringung der von List betonten „nationalen Ökonomie" die „Privatökonomien" unmittelbar mit der postulierten „Menschheitsökonomie" verknüpft. Den Fokus der List'sehen Theorie bildet dagegen eindeutig der Nationalstaat, der nach dieser Auffassung die Verantwortung für die Entfaltung der produktiven Kräfte trägt. Damit wird die Bedeutung des marktwirtschaftlichen Systems nicht in Frage gestellt, wohl aber die in der klassischen Theorie nach Smith entstandene Vorstellung einer politikunabhängigen Marktwirtschaft. Für List kommt es modern gesprochen - auf die Synergieeffekte zwischen Staat und Märkten an. Und er hat auch die wertschöpfende Rolle der Familie reflektiert, im Gegensatz zu nahezu allen anderen Ökonomen des 19. Jahrhunderts. Zwar neigte List dazu, die Steuerungsfähigkeit des Staates zu überschätzen, genauer: Er hat das von John Stuart M i l l thematisierte Problem unerwünschter Nebenwirkungen staatlicher Intervention (vgl. Abschnitt IV) noch nicht systematisch reflektiert. Aber er stellte schon die Frage nach den Bedingungen, unter denen staatliche Wirtschaftspolitik erfolgreich sein kann. Dies ist der Sinn seiner Entwicklungstheorie. 40 Staatlicher Politik stellen sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen unterschiedliche Aufgaben. Die protektionistische Politik, für deren unbeirrbaren Verfechter List im Allgemeinen gehalten wird, empfahl er im Wesentlichen nur für den Übergang von der reinen Agrarwirtschaft zur nationalen Industriewirtschaft, während im Übergang von dieser binnenmarktzentrierten dritten zur vierten Entwicklungsstufe (erheblicher internationaler Austausch) der Protektionismus allmählich zugunsten des Freihandels aufzugeben ist. Entscheidend ist aber insbesondere, „daß die restriktive Handelspolitik nur insofern wirksam sein kann, als sie von der fortschreitenden Kultur und den freien Institutionen der Nation unterstützt wird". 4 1 Im Hinblick auf eine Theorie des Wohlfahrtsstaats ist List bahnbrechend mit seiner Betonung einer Verantwortung des Staates für die institutionellen Rahmenbedingungen der Wirtschaftstätigkeit und die Gewährleistung der Entwicklung von Humanvermögen, und er sah beide Gesichtspunkte im Zusammenhang: „Die Geschichte lehrt also, dass die Individuen den größten Teil ihrer Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 197-220, hier S. 214ff. 40 Lists Entwicklungstheorie wird am ausführlichsten als Stufentheorie im Natürlichen System von 1837 (Kap. IX-XIII, sowie X V I I I ) entwickelt. In seinem späteren Werk finden sich gelegentlich abgewandelte Versionen, so insbesondere in der Einleitung zum Nationalen System. In unserem Zusammenhang sind Details hierzu entbehrlich. 41 List, Das nationale System, S. 155. Und er bemerkt an anderer Stelle: „Einfuhrzölle sollten nicht eingeführt werden, um Geld in die Staatskasse zu bringen; denn dies könnte äußerst schädlich für die produktiven Kräfte der Nation sein. ... Sie werden eingeführt mit dem Zweck des Schutzes und der allmählichen Mehrung der produktiven Kräfte der Nation." (Das natürliche System, S. 195)
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produktiven Kraft aus den gesellschaftlichen Institutionen und Zuständen schöpfen." 42 Beide Arten „produktiver Kräfte" stehen jedoch außerhalb des Horizonts der klassischen Ökonomie, und List bemerkte polemisch, aber zu Recht: „Wer Schweine erzieht, ist nach ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. ... Ein Newton, ein Watt, ein Kepler sind nicht so produktiv als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugstier". 43 Wir können List daher auch als wesentlichen Vordenker der Humankapitaltheorie bezeichnen. Zwar haben viele Autoren des 19. Jahrhunderts, insbesondere diejenigen der beiden sog. historischen Schulen, auf die Vernachlässigung kultureller und sozialer Momente in der ökonomischen Theorie hingewiesen und von daher eine „ethische Richtung" der Sozialökonomie entwickelt, welche unmittelbar zur Sozialpolitik hinführt. 44 Aber diese Denkweise bleibt theoretisch schwach und stellt das,Soziale' bzw. ,Kulturelle' dem , Wirtschaftlichen' antithetisch gegenüber. List dagegen hat als erster den wirtschaftlichen Wert staatlicher Sozial- und Kulturpolitik* 5 verdeutlicht und damit den unfruchtbaren Gegensatz zwischen Marktwirtschaft und staatlicher Intervention bereits im Ansatz überwunden. Er wurde damit zu einem Vorläufer für die aktuellen Bemühungen einer Sozio-Ökonomie, welche gesellschaftliche Leistungsfähigkeit im Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche zu rekonstruieren sucht.46 Darüber hinaus ist die List'sehe Theorie ihrer Intention nach dynamisch und pragmatisch angelegt. Es ging ihm nicht in erster Linie um den Vergleich von Entwicklungsstufen, sondern um Strategien, um von einer Entwicklungsstufe zu einer anderen zu gelangen. Eben darin liegt seine heutige Bedeutung für die Entwicklungskonzepte der Dritten Welt. 4 7 Dagegen findet sich bei List kaum ein sozialpolitisches Argument im engeren Sinne. Zwar verkannte er nicht das Elend seiner Zeit, aber er sah in der Industrialisierung die Lösung und nicht die Ursache des Problems. 48 Nicht die Fabriken hätten die Armen geschaffen, sondern die Armen die Fabriken, schrieb er an den Württembergischen König Wilhelm I. Sein Hauptziel war die rasche Indus42
List, Das nationale System, S. 195. List, Das nationale System, S. 200. Lists Polemik richtet sich hier übrigens nicht nur gegen die Vernachlässigung der Haushaltproduktion, sondern gegen die These der Klassiker, dass nur herstellende Arbeit produktiv, Dienstleistungen dagegen unproduktiv seien. 44 So insbesondere Gustav von Schmoller, vgl. hierzu Nau, Politisches Ethos. 45 Zur Wiederaufnahme dieses schon Ende der Weimarer Zeit aktuellen Diskurses vgl. Vobruba (Hrsg.), Wert der Sozialpolitik. 46 Vgl. Stahmer, Aufbau eines sozio-ökonomischen Berichtssystems; sowie der Projektverbund „Berichterstattung zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland" (federführend Prof. Dr. Martin Baethge, SOFI Göttingen). 47 Vgl. Senghaas, Moderne Entwicklungsproblematik; Senghaas, Neue internationale ökonomische Ordnung. 48 Hierzu Seidel, Armutsproblem. 43
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trialisierung Deutschlands, von der er auch eine Überwindung der , sozialen Frage4 erwartete. In diesem produktivistischen Optimismus ähnelt er unserem letzten Autor.
IV. John Stuart Mill: Selbsthilfe und das Problem der Intervention Der Geistesgeschichte gilt er als etwas blauäugiger Liberaler, er selbst bezeichnete sich in seiner zweiten Lebenshälfte als Sozialist; der politischen Ideengeschichte gilt er als skeptischer Demokrat. John Stuart M i l l (1806-1873) war ein Wunderkind, das von seinem Vater James M i l l im Geiste des Freundes Jeremy Bentham erzogen wurde. In der Folge geriet M i l l junior unter den Einfluss der meisten Geistesströmungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und galt daher vielen als Eklektiker. Sein Ruhm gründete sich vor allem auf A System of Logic (1843), seine Principles of Political Economy (1848) und seine politischen Schriften Ort Liberty (1859) und Considerations on Representative Government (1861). Als Bediensteter und später Pensionär der East India Company brauchte er sich zeitlebens nicht um seinen Unterhalt zu sorgen. 49 Zu Lebzeiten ein weltweit berühmter Mann, ist sein Stern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu erloschen. Seit etwa 1970 erlebt er jedoch im englischen Sprachraum eine Renaissance. In unserem Zusammenhang interessiert M i l l vor allem wegen seiner in den Grundsätzen der politischen Ökonomie entwickelten Theorie staatlicher Intervention, welche systematisch im fünften Buch „Vom Einfluß der Regierung" abgehandelt wird. Diese steht allerdings im größeren Zusammenhang seines Bemühens um das Konzept einer politischen Ordnung größtmöglicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. 50 Und dies nicht nur in theoretischer Hinsicht: Mill, der von 1865 bis 1868 dem englischen Parlament angehörte, scheint wesentlich dazu beigetragen zu haben, dass einflussreiche Kreise in der liberalen Partei in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Bedeutung sozialpolitischer Maßnahmen erkannten, was die Voraussetzung für die große liberale Phase der britischen Sozialreform zwischen 1905 und 1920 gewesen ist.
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Eine vorzügliche Einführung in Leben, Werk und Wirkung von J. S. Mill gibt Stafford, John Stuart Mill. Einseitig auf seine philosophischen Fragestellungen konzentriert dagegen Rinderle, Mill. Eine Rekonstruktion seiner Sozialphilosophie vermittelt Kurer, John Stuart Mill - The Politics of Progress. 50 Nicht von ungefähr fügte er dem Titel seiner Principles of Political Economy den Zusatz ,With Some of Their Applications to Social Philosophy4 hinzu. - Der Einfluss dieses Lehrbuchs, das von Auflage zu Auflage die sozialen Anliegen von Mill deutlicher hervortreten ließ, kann kaum überschätzt werden, es erreichte im 19. Jahrhundert 32 Auflagen, vgl. Stafford, John Stuart Mill, S. 9.
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Die Rede ist im Folgenden in erster Linie von Mill, aber wir können seine häufig widersprüchlich eingeschätzten Positionen nur als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Jeremy Bentham angemessen begreifen. Bentham war der erste Theoretiker der politischen Intervention, der diesen Namen verdient, 51 und Mills differenziertere Position zur staatlichen Intervention war eine im Kern liberale Antwort auf Benthams autoritären Kollektivismus, allerdings verknüpft mit einer guten Dosis Sympathie für sozialistische', aus heutiger Sicht allerdings eher soziale und genossenschaftliche Ideen. 52 Mills Streben war darauf gerichtet, Grundsätze zur Unterscheidung zwischen angemessenen und nicht angemessenen Staatsinterventionen zu entwickeln. Er formulierte somit als erster ein zentrales theoretisches Problem, das bis heute den meisten sozialpolitischen und wohlfahrtsstaatlichen Auseinandersetzungen zugrunde liegt. Ausgangspunkt der Interventionslehre Benthams war die Einsicht, dass „das Individuum durch seine ,pains and pleasures' zu Handlungen getrieben (wird), die nicht immer mit dem größten Glück der Gesellschaft vereinbar sind. Das ist vor allem dann der Fall, wenn wegen Mängeln in der gesellschaftlichen Organisation keine Sanktionen das Handeln des Individuums in richtige Geleise lenken, oder wenn das Individuum seine richtigen Interessen nicht verstehen kann oder will". 5 3 Für ihn gab es nicht, wie im Liberalismus, die von Adam Smith mit der Metapher von der unsichtbaren Hand' herbeigeführte Harmonie zwischen Individualinteressen und Allgemeininteresse. Es sei vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers, rationale Institutionen zu entwerfen, also Regelwerke, welche die Individuen aufgrund der mit ihnen verbundenen Vor- und Nachteile dazu anhalten, sich in ihrer Lust-Unlust-Balance so zu verhalten, dass ihre Handlungen im allgemeinen Interesse sind. Bentham entwickelte systematische Vorstellungen für politische Institutionen, die diesen Anforderungen entsprechen. Freiheit war für ihn nichts, worauf die Menschen eine Art vorstaatlichen Rechtsanspruch haben, sondern eine reine Frage der Zweckmäßigkeit. Wichtiger als Freiheit sei die Sicherheit der Gesetze, nur in ihrem Rahmen könne sich Freiheit entfalten. Das Ausmaß an Freiheit stehe also zur Disposition des Gesetzgebers, der dabei aber an das Prinzip der Glücksmaximierung gebunden sei. Bentham war sich dabei der mangelhaften Voraussehbarkeit möglicher Ge51 Vgl. Keller, Dogmengeschichte, S. 60ff. - Bentham und Mill sind auf dem Kontinent insbesondere in Deutschland nie sehr ernst genommen worden, was umgekehrt ebenso für das Denken Hegels und seiner Nachfolger in Großbritannien gilt. Dies hat nicht nur Gründe in den unterschiedlichen geistigen Traditionen, sondern auch in den Strukturen der Wirklichkeit: England war schon im 18. Jahrhundert eine vergleichsweise liberale Gesellschaft, in der der Regierung nur beschränkter Einfluß zukam, während in Deutschland der Staat die alles beherrschende Wirklichkeit blieb. 52 Als sozialistisch4 wurden im 19. Jahrhundert auch die meisten sozialreformerischen Bewegungen bezeichnet. Der begriffliche Zusammenhang mit dem Marxismus wurde erst im 20. Jahrhundert codiert. 53 Keller, Dogmengeschichte, S. 68
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setzgebungsfolgen durchaus bewusst und entwickelte daher nicht nur den Gedanken der Kodifikation, d.h. der Positivierung und Systematisierung aller Rechtsnormen, sondern bezog auch die Möglichkeit ihrer Revision, und damit die Verknüpfung von Stabilität und Wandelbarkeit des Rechts, in seine rationale Rechtskonzeption ein. 54 Dass das Recht nicht etwas naturrechtlich Gegebenes oder gewohnheitsrechtlich Gewordenes, sondern das Produkt rationaler Konstruktion und revidierbarer politischer Entscheidungen sei, ist das grundlegend Neue von Benthams Lehre, was in seiner Tragweite durchaus mit der Entdeckung der Gesetze des Marktes durch Adam Smith verglichen werden kann. Denn damit kann auch das Recht grundsätzlich als Mechanismus kollektiven Lernens verstanden werden. M i l l übernahm die staatstheoretische Orientierung von Bentham und konfrontierte sie mit der ökonomischen Theorie der Klassiker, welche ihm zur unbezweifelbaren Wahrheit geworden war. 55 Seine Kritik an Bentham bezog sich vor allem auf dessen Methode, auf seinen undifferenzierten Nützlichkeitsbegriff und auf sein krudes Demokratieverständnis, das ausschließlich die Mehrheitsregel als Entscheidungskriterium zuließ. Was M i l l vor allem von Bentham unterscheidet, ist seine Einsicht in die elementare Bedeutung der Freiheit für den menschlichen Fortschritt: „Es ist wünschenswert, dass in Dingen, die nicht in erster Linie andere berühren, jede Individualität sich behaupten darf. Wo nicht der eigene Charakter des Menschen, sondern die Überlieferungen und Gewohnheiten anderer Leute die Richtschnur des Handelns abgeben, da fehlt einer der wesentlichen Bestandteile des menschlichen Glücks und geradezu der Hauptbestandteil des persönlichen und sozialen Fortschritts."56
Für Mill war „der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung einer der stärksten Wünsche der menschlichen Natur". 57 Er entwickelte eine Art,Soziologie der Freiheit', derzufolge es von der Art der menschlichen Institutionen abhängt, inwieweit Menschen Gelegenheit erhalten, selbst zu wählen und dadurch ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Zugleich ging es ihm darum, die Chancen innovatorischer Minderheiten und einer möglichen Vielfalt der Auffassungen gegen die erdrückende und konformisierende Macht der Mehrheitsmeinung zu sichern. Eben 54 Eben darin sieht Luhmann den Sinn von Positivierung, vgl. Rechtssoziologie, S. 201 ff. 55 Das gilt allerdings im Unterschied zu Ricardo und seiner Schule nur mit historischen Einschränkungen. Zum hierfür maßgeblichen Einfluß von Auguste Comte vgl. Ashleys Introduction zu den Principles, S. XVff. 56 Mill, Die Freiheit, S. 188. 57 Rinderle, Mill, S. 141. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Zeitumstände: Der Hauptgegner Mills war der Traditionalismus und Paternalismus des Victorianischen Zeitalters, gegen den er die Freiheit und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Menschen, auch des Arbeiters, in Stellung brachte. Dies erklärt auch seine Skepsis gegenüber staatlichen Schutzmaßnahmen für Erwachsene.
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diese Vielfalt und die Sicherung antagonistischer Auseinandersetzungen in der öffentlichen Meinung wie im Parlament erschien ihm um des menschlichen Fortschritts willen unverzichtbar und daher ein Gebot des Nützlichkeitsprinzips. In diesem Sinne ist auch Mills Engagement für die Emanzipation der arbeitenden Klassen zu verstehen, das sich bei ihm nicht nur auf die Arbeiter im engeren Sinne, sondern bereits auch auf die Frauen im Besonderen bezog, für deren Einschluss in das allgemeine Wahlrecht er nicht nur publizistisch, sondern auch politisch im englischen Parlament eingetreten ist. M i l l behandelte die Arbeiterfrage an mehreren Stellen seiner Grundsätze der politischen Ökonomie, vor allem im IV. Buch mit dem bezeichnenden Titel „Der Einfluß des Fortschrittes der Gesellschaft auf Produktion und Verteilung". Wie Sismondi behandelte er die Verteilungsfrage unabhängig von der Produktionsfrage. Er interpretierte die Abhängigkeit der arbeitenden Klassen als reine Machtfrage, welche mit zunehmender Ausbildung und der damit verbundenen zunehmenden Intelligenz und Selbstorganisation überwunden werden könne. Der Klassenantagonismus galt ihm als unproduktives und daher dem Kriterium der Nützlichkeit widersprechendes Verhältnis, das es zu überwinden gelte. Und er schlug zu diesem Zwecke sowohl genossenschaftliche Produktivassoziationen als auch Formen der Mitbestimmung sowie der Kapital- und Gewinnbeteiligung vor. Das genossenschaftliche Prinzip schien ihm am ehesten die Entfaltung der Arbeiter zu selbständig handelnden Menschen zu fördern, und er beschrieb ausführlich entsprechende Experimente. Mills Einstellung zu wohlfahrtsstaatlicher Politik wird in der Literatur kontrovers diskutiert. 58 Staatliche Eingriffe wurden von ihm eindeutig befürwortet zur Bekämpfung der Verelendung der untersten Schichten, zur Bildung und Erziehung derjenigen, die kein Schulgeld zahlen können und zur Verbreiterung des Eigentums an Grund und Boden. Im Übrigen richteten sich seine sozialpolitischen Vorstellungen stärker auf die Förderung der Selbsthilfefähigkeit der unterprivilegierten Klassen. Sein übergeordnetes Ziel war die Erhöhung der Chancengleichheit, nicht aber eine Nivellierung der Ergebnisse produktiver Tätigkeit. Was das Problem staatlicher Intervention betrifft, so orientierte sich M i l l grundsätzlich an der Bentham'schen Unterscheidung von ,Agenda4 und ,NonAgenda', wobei das Verhältnis von Kosten und Nutzen der Staatsintervention, also die Erhöhung oder Schädigung des Volkswohlstandes als Kriterium dienen sollte. Im Unterschied zu Bentham begnügte sich M i l l jedoch nicht mit dieser Maxime, sondern versuchte in ausgedehnten, oft nahezu kasuistischen Argu-
58 Vgl. mit unterschiedlichen Akzenten Ekelund/Tollison, Ökonomie und Kurer y John Stuart Mill and the Welfare State.
J.S. Mills neue politische
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mentationen Kriterien für die Zweckmäßigkeit Staatsinterventionen zu entwickeln, 59
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oder Unzweckmäßigkeit
von
Mill unterschied zwischen „necessary and optional fiinctions of government". 60 Als notwendig galten ihm all die Staatsfiinktionen, die zu einer bestimmten Zeit ob ihrer allgemeinen Nützlichkeit unumstritten sind, über deren Zweckmäßigkeit also Einigkeit besteht. Für die Notwendigkeit' ist ihm also das einhellige Urteil der öffentlichen Meinung maßgeblich. Zu den notwendigen Staatsaufgaben seiner Zeit zählte er, neben Rechtssetzung und Rechtspflege sowie der Sorge für die allgemeine Sicherheit, die Steuererhebung. Und er bemühte sich in der Folge eingehend, allgemeine Grundsätze der Besteuerung zu entwickeln, welche eine Erbschaftssteuer für große Vermögen einschließen, um der Vermögenskonzentration entgegenzuwirken. Seine Leitvorstellung war dabei die Gewährleistung eines von (direkten und indirekten) Steuern befreiten Existenzminimums, während oberhalb dieser Grenze eine einkommensproportionale (und nicht etwa progressive) Steuerbelastung angestrebt werden solle. Hinsichtlich der optional functions stellte Mill bedauernd fest, dass es bisher völlig an Regeln fehle, welche in diesen Zweifelsfällen über die Zuständigkeit oder Nichtzuständigkeit des Staates zu entscheiden gestatteten. Das 10. und 11. Kapitel des fünften Buches seiner Principles ist daher ausschließlich der Entwicklung derartiger Regeln gewidmet. Er lehnt zunächst die Staatsintervention in all denjenigen Fällen ab, wo die politische Zielsetzung als verwerflich oder aber die eingesetzten Mittel als untauglich gelten müssen. Dies sind also kategorische Urteile, die sich beispielsweise gegen die Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, gegen eine protektionistische Wirtschaftspolitik, die Begünstigung von Monopolen oder den Versuch richten, die freie Preisbildung durch staatliche Maßnahmen außer Kraft zu setzen. So bleibt dann der für die theoretische Fragestellung interessante Bereich deijenigen Staatseingriffe, wo eine klare Entscheidung aus allgemeinen Gründen nicht möglich ist, wo es vielmehr auf das Verhältnis zwischen den mit der staatlichen Intervention verfolgten Nutzen und den mit ihnen verbundenen Nachteilen ankommt. Hier entfaltete Mill eine überaus breite Kasuistik. Die Grundregel jedoch bezog er auf den Grundsatz der Freiheit Die Anhänger einer Staatsintervention tragen die Beweislast, dass diese größere Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Jeder Staatseingriff gilt als Übel, soweit er nicht durch einen größeren Nutzen aufgewogen wird. Der Großteil der Ausführungen bezieht sich sodann auf Kriterien, welche die Wahrscheinlichkeit eines Nutzens staatlicher Intervention a priori plausibel machen, „sie sind so zahlreich, dass sie die Regeln nicht bestätigen, sondern sprengen".61 Der Staat solle insbe59 Vgl. hierzu Mill, Grundsätze, Buch V, Kap. 1 und 11, aber auch Die Freiheit, S. 256ff. Eine ausführliche Darstellung gibt Keller , Dogmengeschichte, S. 143ff. 60 Mill, Principles, S. 795ff. 61 Keller, Dogmengeschichte, S. 155.
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sondere dann eingreifen, wenn zu vermuten sei, dass die Individuen ihre eigenen Interessen nicht angemessen verstehen oder die zur Befriedigung ihrer Bedürfiiisse zweckmäßigen Mittel nicht richtig beurteilen könnten, wie dies beispielsweise für Kinder der Fall ist, daher das Gebot allgemeiner Schulpflicht. Aber auch in all den Fällen, wo Dritte im Namen und Interesse bestimmter Individuen handeln, wie dies im Bereich der Wohltätigkeit und nicht zuletzt vieler kommerzieller Dienstleistungen der Fall sei, galt ihm die private Lösung keineswegs als a priori überlegen. Er sah ferner auch bereits das Problem der externen Effekte, seien sie positiver oder negativer Art. Schließlich - und dieser Vorbehalt trägt schon fast den Charakter einer Generalklausel - gebe es Gegenstände des öffentlichen Interesses, denen die Regierung selbst dann gerecht werden müsse, wenn dies grundsätzlich auch die Privaten tun könnten, aber sie es aus irgendwelchen Gründen nicht täten. Als Beispiele werden hier Häfen, Kanäle, Bewässerungssysteme, Krankenhäuser oder Universitäten angeführt. Will man aus dieser Vielzahl von Gesichtspunkten einen einheitlichen Schluss ziehen, so bietet sich für diese optional functions am ehesten der Begriff des Subsidiaritätsprinzips an: Die Regierung solle dort - und nur dort eingreifen, wo spezifische Gründe dafür sprechen, dass bestimmte Zwecke, die im öffentlichen Interesse liegen, aufgrund privater Initiative allein nicht genügend verfolgt werden. Sie solle aber der privaten Initiative oder dezentralkommunalen Lösungen überall dort den Vortritt lassen, wo es möglich ist: „Die größte Dezentralisierung der Macht, die noch mit ihrer Wirksamkeit verträglich ist, aber die größtmögliche Zentralisation der Kenntnisse und Erfahrungen und daraufhin ihre Verteilung vom Mittelpunkt aus.... Die Vorschriften selbst aber sollen durch die Gesetzgebung fixiert werden; die zentrale Verwaltungsbehörde hätte nur über deren Ausführung zu wachen".62
Diese Maxime entspricht jüngsten zeitgenössischen Überlegungen eines Übergangs vom Wohlfahrtsstaat' zum ,Gewährleistungsstaat\ Nun kann aber - ebendies ist eine notwendige Konsequenz des gesamten utilitaristischen Denkens - das öffentliche Interesse keine inhaltlich feststehende Größe sein, sondern sein Inhalt ist nur in politischen Auseinandersetzungen festzustellen. Hier unterschied sich M i l l von Bentham: Während Bentham die Feststellung der öffentlichen Interessen allein von der Mehrheitsentscheidung abhängig machen wollte, ging es M i l l vor allem darum, durch Verfahren sicherzustellen, dass möglichst unterschiedliche Gesichtspunkte im Prozess der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zur Geltung kommen können, um auf diese Weise die Lernfähigkeit des politischen Systems zu maximieren.
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Mill, Die Freiheit, S. 263.
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Zusammenfassend lassen sich somit hinsichtlich staatlicher Intervention vier Fälle unterscheiden: (1) Staatsaufgaben, über deren Zweckmäßigkeit ein allgemeiner Konsens herrscht, welche daher als notwendige' bezeichnet werden; (2) Zwecke und Aufgaben, deren Erfüllung sowohl auf politischen wie anderen, ,privaten' Wegen möglich erscheint; hier gilt der Grundsatz der Subsidiarität staatlicher Eingriffe; (3) Zwecke, deren Verfolgung durch staatliche Maßnahmen deshalb abgelehnt werden, weil ihre Inhalte als verwerflich gelten; (4) Zwecke, deren staatliche Verfolgung abzulehnen ist, weil für ihre Erreichung keine erfolgreichen staatlichen Mittel bekannt sind. Anhand von Mills Überlegungen wird einsichtig, weshalb sozialreformerische Positionen in theoretischer Hinsicht oft unbefriedigend und bloß pragmatisch wirken. Die prinzipiellen Gesichtspunkte, welche von Seiten des Liberalismus einerseits oder des Konservatismus bzw. Sozialismus andererseits für und gegen Staatsinterventionen vorgetragen werden, können eine genauere Prüfung von Nutzen und Schaden staatlicher Eingriffe nicht ersetzen. Dennoch vermag auch die kasuistische Lösung Mills nicht voll zu überzeugen. Denn natürlich kann man in den meisten Fällen recht unterschiedlicher Meinung über die Wirkungen und Nebenwirkungen bestimmter Staatseingriffe sein und daher selbst auf der Basis einer gleichen utilitaristischen Orientierung zu recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen.63 Eben dies belegen die bis heute fortdauernden Auseinandersetzungen. Mills Beitrag zu einer Theorie der reformistischen Position liegt somit weniger in seinen utilitären Erörterungen, als in der daraus zu ziehenden Schlussfolgerung, dass es angesichts der häufigen Ungewissheit der Interventionsfolgen vor allem darauf ankomme, ein möglichst breites Wertberücksichtigungspotenzial in der Form des Verhältniswahlrechts und eines wirklich allgemeinen Wahlrechts unter Einschluss der Frauen sicherzustellen, sowie die Entstehung einer Öffentlichkeit zu begünstigen, mit deren Hilfe die Lernfähigkeit im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse gesteigert werden kann. Im deutschen Sprachraum war M i l l und die von ihm vertretene utilitaristische Position nie einflussreich. Seine sozialpolitischen Anschauungen des Primates von ,Selbsthilfe' gegenüber ,Staatshilfe' entsprachen jedoch weitgehend denjenigen von Lujo Brentano, der sich stark an Großbritannien orientierte. Das erneuerte Interesse an M i l l im angelsächsischen Raum dürfte im Zusammenhang mit der Renaissance des liberalen Selbsthilfegedankens und den deutlicher werdenden Grenzen staatlicher Daseinsvorsorge zusammenhängen. 63 Ähnlich Kurer. „Mills approach leads to a particular difficulty, that of incompatible ends. This is reflected in his discussion about practical politics, and is responsible to a large degree for the traditional view of Mill as an incoherent thinker. There is however no such confusion on Mill's part, the problem is one inherent in the complexities of his aims." (John Stuart Mill - The Politics of Progress, S. 194).
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V. Schlussbemerkung Nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die sozialpolitische Perspektive präformieren heute ein Denken in Verteilungskategorien. Aus der Perspektive partikulärer Interessen ist dies auch durchaus plausibel: Man will wissen, was als Ergebnis politischer Entscheidungen für einen selbst herauskommt. So betrachtet erscheint wohlfahrtsstaatliche Politik als Nullsummenspiel: Was den einen gegeben wird, muss den anderen genommen werden, sei es vorher in Form von Steuern und Beiträgen, oder nachher, sofern die staatlichen Wohltaten' auf Pump finanziert werden. Die meisten politischen Diskurse zur Wohlfahrtsstaatlichkeit suchen dagegen die kollektive Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit bestimmter politischer Maßnahmen zu begründen und dadurch zu einem Ergebnis jenseits partikulärer Interessenabwägung zu gelangen. Regelmäßig stehen sich ja nicht nur Begünstigte und Belastete wie zwei große Fronten gegenüber, sondern beide sind Minderheiten, die um die politische Zustimmung der Mehrheit ringen müssen. Hier zählen nicht Interessebekundungen, sondern nur Argumente kollektiver Nützlichkeit oder des so genannten Gemeinwohls. Wissenschaftliche Diskurse sollen den Rahmen setzen, innerhalb dessen um die Plausibilität derartiger Argumente gerungen wird. Offenbar fehlt es noch weithin an einem Kanon akzeptierter Kriterien kollektiver Nützlichkeit. Die Frage nach Klassikern des wohlfahrtsstaatlichen Denkens dient natürlich vor allem der Suche nach Argumenten von dauerhafter Gültigkeit, die in ihrem Zusammenhang so etwas wie ein im günstigen Falle theoriefähiges Argumentationsgerüst ergeben könnten. Von Sismondi können wir die Einsicht in die Autonomie der Verteilungssphäre und die Abhängigkeit externer Effekte von institutionellen Regelungen lernen. Friedrich List kann uns für die Bedeutung von Prozessnutzen und der Humanvermögensbildung sensibilisieren. John Stuart Mill verdanken wir eine prägnante Formulierung des Interventionsproblems und den Hinweis auf das prozedurale Element sozialpolitischer Gemeinwohlsuche. Alle drei konvergieren im Postulat der Entwicklung der Fähigkeiten insbesondere der Unterschichten als Bedingung dauerhaften Fortschritts an Freiheit und Gleichheit. Wir können die Argumente als Bruchstücke oder besser Bausteine einer umfassenderen Argumentation betrachten, die gerade heute, wo Grenzen und Dysfunktionen staatlicher Umverteilungspolitik offenkundig werden, zu einer Rückbesinnung auf essentielle Elemente der wohlfahrtsstaatlichen Programmatik beitragen könnte.
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Zeitdiagnosen: Carl Schmitt und Lorenz von Stein Dirk Blasius
I. Die Schrift „Zur preußischen Verfassungsfrage" Mit dem Tod eines Wissenschaftlers scheint auch sein Œuvre dem Vergessen anheim zu fallen. Ein noch so großer Lebensfleiß hinterlässt meist nur wenige Spuren im Gedächtnis der nachfolgenden Forschergenerationen. Carl Schmitt (1888-1985) dementiert durch Leben und Werk das Vergänglichkeitsgesetz, dem alles wissenschaftliche Arbeiten unterworfen zu sein scheint. Erst nach seinem Tod setzte eine ungewöhnlich breite Schmitt-Forschung ein, der es um eine historische Wertberichtigung des nach 1945 Verfemten geht. Lorenz von Stein (1815-1890), wie Schmitt Jurist und Staatswissenschaftler, war einer der produktivsten Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Auf seine vielen Bücher legte sich schnell der Staub der Epoche; sie wurden kaum gelesen, ihr Autor, wenn erwähnt, oft mit dem Freiherr vom und zum Stein, dem großen preußischen Reformer, verwechselt. Neben Ernst-Wolfgang Böckenforde war es der Soziologe Eckart Pankoke, der schon früh Lorenz von Stein als historische Ankerfigur für zugespitzte gesellschaftliche Problemlagen und staatliche Reformkonzepte entdeckte. In seiner Monografie von 1970 über die „Grundfragen der deutschen ,Socialwissenschaft' im 19. Jahrhundert" arbeitete Pankoke heraus, dass Stein in der Gesellschaftskrise seiner Zeit „eine Herausforderung an die Staatsgewalt" sah, „im Sinne der »socialen Reform 4 in die Mechanismen des industriekapitalistischen Sozialsystems einzugreifen." 1 In den siebziger Jahren gewann der lange vergessene Lorenz von Stein den Status eines Klassikers in der Geschichte der politischen Ideen.2 Man beachtete die beträchtliche thematische Spannweite seiner Publikationen und sah in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem frühen Sozialismus und Kommunismus Wegmarken „für konstruktive Korrekturen des bürgerlichen Systems". Stein wurde als Vor-
1
Pankoke, Sociale Bewegung, S. 74; vgl. Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker, S. 248-277. 2 Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft; Blasius/Pankoke, Lorenz von Stein.
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denker einer „Transformation revolutionärer Systemkritik in Orientierungen einer sozialreformerischen Systemkorrektur" gewürdigt. 3 Es ist das Verdienst von Norbert Simon, durch den Nachdruck einer kleinen Schrift von Lorenz von Stein auf die Beziehungsgeschichte zweier Denker aufmerksam gemacht zu haben, die den großen, tragischen wie verhängnisvollen, Scharnieren der deutschen Nationalgeschichte zuzuordnen sind.4 1852 veröffentlichte Stein die Abhandlung „Zur preußischen Verfassungsfrage" in der „Deutschen Vierteljahrs Schrift" 5 ; 1940 gab Carl Schmitt diese Arbeit mit einem Nachwort versehen neu heraus.6 In historischen Texten ist Geschichte gespeichert, doch Texte können auch Geschichte ,machen4 . Steins Schrift hat ihren Quellenwert für den Gang der preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert; in den Händen Schmitts wurde sie zu einem erstrangigen Dokument für die Wirrnisse und Verwerfungen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Auch die „Gebrauchsspuren" (Norbert Simon) eines Textes sind als Spuren von Geschichte lesbar.
II. 1940: Schmitts Stein-Rezeption Raum, Großraum, Reich und die geschichtliche Lage des Völkerrechts waren die zentralen Themen, auf die sich das wissenschaftliche Interesse Carl Schmitts seit Anfang der vierziger Jahre richtete. Aus den während der Kriegszeit verfassten Arbeiten Schmitts fällt auf den ersten Blick sein 1940 geschriebener Aufsatz „Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts" thematisch heraus.7 Diese Arbeit erschien in „Schmollers Jahrbuch", einer Zeitschrift, die von Jens Jessen (1895-1944) herausgegeben wurde. Jessen gehörte zum engeren Kreis der nationalkonservativ eingestellten „Honoratiorengruppe" des bürgerlichen Widerstands. Ist Schmitts Studie über Stein nur ein beiläufiges Nebenprodukt in dieser Schaffensphase - und der von ihm gewählte Publikationsort eher zufällig, oder wird hier eine verschlüsselte Botschaft über Menschen mitgeteilt, die ihre „innere Landkarte" neu zu zeichnen begannen? Die Beschäftigung Schmitts mit Lorenz von Stein war sowohl Zeit- wie Selbstdiagnose. In seinem Aufsatz in „Schmollers Jahrbuch" kündigte Schmitt die „Neuherausgabe" von Steins 1852 erschienener Abhandlung „Zur preußischen Verfas3 von Stein, Schriften zum Sozialismus. 1848, 1852, 1854; Pankoke, Vorwort zum Nachdruck, S. VIII. 4 Simon (Hrsg.), Verfassungsfrage. 5 von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage. 6 von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, S. 5-60; Schmitt Nachwort, S. 61-70. 7 Schmitt, Stellung Steins, S. 641-646.
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sungsfrage" an. Ende 1940 erschien die Edition in der Reihe „Dokumente zur Morphologie, Symbolik und Geschichte" mit einem „Nachwort", das die Textfassung in „Schmollers Jahrbuch" um wichtige Passagen ergänzt.8 Schmitt gab eine Schrift heraus, die „so gut wie verschollen" war. 9 Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Sprachenergie kündigte er dieses Werk an. „Seine Leuchtkraft entfaltet sich freilich nicht der flüchtigen, von außen kommenden Lektüre. Umso größer wird sie für den gesammelten, von innen heraus lesenden Betrachter. Die Hellsichtigkeit dieses Aufsatzes ist außerordentlich; sie entspringt einer Wahrnehmungs- und Formulierungsfähigkeit, wie sie nur den Augenblicken des Abschiedes und des Wendepunktes eigen ist. Der größte Denker und Beobachter von Staat und Gesellschaft spricht hier an einem Wendepunkt der deutschen Verfassungsbewegung von der wichtigsten politischen Größe, dem preußischen Staat und stellt die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis der beiden, die Lage Deutschlands bestimmenden Größen, d.h. die Frage, wie weit der preußische Staat überhaupt einen Pakt mit der Gesellschaft schließen kann, wie weit er überhaupt verfassungsfähig ist." 10 Stein hatte 1852, als der Verfassungsstaat Preußen noch wenig gefestigt war, die Frage aufgeworfen: „Wer hat Recht in Preußen: diejenigen, welche eine Verfassung für Preußen wollen, damit eben Preußen ein verfassungsmäßiger Staat sei und bleibe, oder diejenigen, welche in einer solchen eine höchste Gefährdung der Gegenwart und Zukunft Preußens sehen?"11 Zwar ging Stein ausführlich darauf ein, dass „die Volksvertretung ... kein historisches Element des preußischen Staats" sei; doch den Satz: „So wenig die Volksvertretung Preußen gebildet hat, so wenig kann Preußen eine Volksvertretung bilden" ließ er so nicht stehen.12 Lorenz von Stein betrachtete die aus der Revolution von 1848 hervorgegangene preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 „als eine große und ernste Vorarbeit für eine Gesamtvertretung Deutschlands";13 an sich sei diese Verfassung zwar „ein Haltloses, aber sie hat trotzdem eine wahrhaft geschichtliche Bedeutung. Sie wird der Kristallisationspunkt der Ideen werden, welche das Heil Deutschlands und damit Europas in einer deutschen Verfassung erkennen." 14 Lorenz von Stein war nicht der Denker, der, wie Schmitt schrieb, die „Kernfrage des kommenden, ungelösten Verfassungskonfliktes von 1862-66" vorweggenommen und für die weitere Entwicklung das Misslingen des „Kompro8
Schmitt, Nachwort, S. 68-70. Schmitt, Stellung Steins, S. 641. 10 Schmitt, Nachwort, S. 69. 11 von Stein, Preußische Verfassungsfrage, 12 von Stein, Preußische Verfassungsfrage, 13 von Stein, Preußische Verfassungsfrage, 14 von Stein, Preußische Verfassungsfrage,
9
S. 8. S. 22f. S. 56. S. 59.
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misses von preußischem Soldaten- und bürgerlichem Verfassungsstaat" prognostiziert hatte.15 Stein lieferte eine präzise Zeitdiagnose. Er betonte um die Mitte des 19. Jahrhunderts, was Schmitt nicht entgangen sein dürfte, die Zukunftsfähigkeit Preußens aufgrund seiner konstitutionellen Ordnung. Schmitt publizierte einen historischen Text mit politischem Aussagegehalt. In der aktuellen Situation des Jahres 1940 ging es nicht mehr um gelungene oder fehlgeschlagene preußische Verfassungskompromisse, sondern um Preußen als staatliches Erinnerungssymbol. Im Rückgriff auf die Werkgeschichte eines großen Staatswissenschaftlers suchte Schmitt sich der eigenen Lage zu vergewissern und seinen Lesern Hinweise zur historischen Lagebeurteilung zu geben. Lorenz von Stein war für Schmitt kein Unbekannter. Im „Streit um den Rechtsstaat" hatte er sich auf Stein bezogen und diesen als Verbündeten bei der „polemischen Überwindung des liberalistischen Gesetzesstaates" ausgemacht.16 Neben Gneist habe Stein „in der geschichtlichen Lage des deutschen 19. Jahrhunderts" die ungeheure Anstrengung unternommen, „mit Hilfe eines deutschen' , auf Harmonie von Staat und Gesellschaft hinzielenden Rechtsstaatsbegriffes die Unterordnung des Staates unter die bürgerliche Gesellschaft aufzuhalten". 17 Lorenz von Stein ist vor allem auch deshalb einer der interessantesten und kreativsten Denker des 19. Jahrhunderts, weil er in seinem Spätwerk die zentralen Legitimationsprobleme der bürgerlichen Ordnung, die sich im Entwicklungsgang der bürgerlichen Gesellschaft stellten, illusionslos aufspürte. 18 Seine mehrbändige „Verwaltungslehre", an der er ab Mitte der sechziger Jahre bis zu seinem Lebensende arbeitete, zeigt, dass auch der späte Stein noch ganz in der epochalen Einflussdimension der Hegeischen Philosophie stand.19 Dieses Werk ist der imponierende Versuch, das gesamte Feld des staatlichen Verwaltungshandelns enzyklopädisch zu erfassen und rechtswissenschaftlich zu durchdringen. Der eine kaum überschaubare Stofffülle umspannende und strukturierende Grundgedanke liegt im Plädoyer für eine in der Verantwortung des Staates stehende „soziale Verwaltung". Auch Carl Schmitt sah Steins „Verwaltungslehre" als einen großartigen Versuch „konkreten Ordnungsdenkens" an. „Der liberalen Gewaltenteilungslehre, der Grundlage des liberalen Rechtsstaates und des ihm zugeordneten normativistischen Positivismus, wird - bei Stein weit größer als bei Gneist - deutsches Ordnungsdenken entgegengesetzt. Deshalb sind ihre Arbeiten auch heute noch für uns von aktuellem Interesse, Denkmäler
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Schmitt, Nachwort, S. 70. Schmitt, Streit um den „Rechtsstaat"?, S. 191. 17 Schmitt, Streit um den „Rechtsstaat"?, S. 191. 18 Blasius, Krisenprobleme der Moderne, S. 197-205 und Geschichte der sozialen Bewegung S. 11-17. 19 Blasius, Zeitbezug und Zeitkritik, S. 419-433; vgl. von Stein, Verwaltungslehre. 16
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eines, wenn auch erfolglosen, aber echten Gestaltungsversuchs und nicht nur Fundgruben wertvollen Materials." 20 Schmitt sah zu Recht in Stein die Tradition „deutschen Ordnungsdenkens" verkörpert. Der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat war in vielem der historische Fluchtpunkt der Steinschen Überlegungen. Im ersten Teil der „Verwaltungslehre", der das verfassungsmäßige Regierungsrecht behandelt, heißt es: „Deutschland hat den persönlichen Staat und die Regierung ausgebildet und die gesellschaftlichen Ordnungen denselben unterworfen, ohne sie zu vernichten. Daher hat es die Teilnahme der letzteren an der Gesetzgebung zugleich beschränkt und doch organisiert, die Selbstverwaltung ausgebildet, aber der Regierung unterworfen und das Vereinswesen zugelassen, aber es systematisch in die Vollziehung aufgenommen. Aus dieser Unterordnung der Gesellschaft unter den persönlichen Staat geht daher die größere Selbständigkeit des letzteren hervor, die eben deswegen mit dem freien Staatsbürgertum vielfach in Konflikt gerät." 21 Stein hielt diese Konflikte vom „System und Recht der vollziehenden Gewalt" her für regulierbar, während ihm die Überantwortung des Staates an gesellschaftliche Kräfte im Rahmen einer parlamentarischen Ordnung der erste Schritt in Richtung sozialer Revolution zu sein schien. Carl Schmitt war mit der Denkrichtung Lorenz von Steins vertraut, und dieser erfreute sich nicht erst 1940 seiner Wertschätzung. Doch Stein rückte in diesem Kriegsjahr in eine besondere Rezeptionsperspektive. Schmitt zitierte in seinem Nachwort zur „preußischen Verfassungsfrage" Johannes Popitz, um zu unterstreichen, dass Steins „Wirkung ... keineswegs zu Ende" sei. 22 Dieses Zitat entnahm er zwar einer Abhandlung, die Popitz 1933 über „Das Finanzausgleichsproblem in der deutschen Finanzwissenschaft der Vorkriegszeit" verfasst hatte,23 doch die Worte, mit denen auf Popitz verwiesen wurde, könnten auch eine Ahnung von dessen historischer Rolle im Jahre 1940 anzeigen. Schmitt schrieb: „Ein Sachkenner ersten Ranges, Johannes Popitz, dessen große Autorität auf der seltenen Verbindung staatsmännischer Klugheit, verwaltungs- und finanzwissenschaftlicher Erfahrung und eines der besten deutschen Tradition entsprechenden Sinnes für echte Theorie begründet ist, schrieb im Jahre 1933: ,Man muss mit Bewunderung feststellen, wie Lorenz von Stein bereits 1885 aus seinem tiefen Einblick in die Bedeutung der Verwaltung und in die staatsbildende Kraft des Steuerwesens den Weg vorausgesehen hat, der seitdem, wenn auch erheblich später als er das vielleicht annahm, beschritten wurde, und zwar,
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Schmitt, Arten des rechtswissenschaftliehen Denkens. von Stein, Verwaltungslehre, S. 39. Schmitt, Nachwort, S. 67f. Popitz, Finanzausgleichsproblem, S. 395-438.
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wie er selbst sagt, aus der Natur der Dinge heraus, ohne auf die Untersuchungen der Wissenschaft zu warten. 4 " 2 4 Popitz war in seiner Untersuchung über das „Finanzausgleichsproblem" von den „stärksten Leistungen deutscher Finanzwissenschaft" ausgegangen, die für ihn mit den „drei Namen" Lorenz von Stein, Adolph Wagner (1835-1917) und Albert Schäffle (1831-1903) verknüpft waren. 25 Er sah in Stein, Bezug nehmend auf das mehrteilige „Lehrbuch der Finanzwissenschaft", 26 „in glücklicher Synthese den Nationalökonomen und Finanzwissenschaftler mit dem Staatsund Verwaltungswissenschaftler" vereint. 27 In das Nachlassexemplar seiner Edition hat Schmitt handschriftlich die Namen der Personen eingetragen, mit denen er über Steins Schrift „Zur preußischen Verfassungsfrage" gesprochen oder vielleicht auch nur korrespondiert hat. 28 Die Namensliste ist chronologisch geordnet und hält zum Teil das Datum des Kontaktes fest. Hier finden sich unter anderen die Namen „E.R. Huber", „Hans Freyer", „W. Sombart", „Forsthoff 4 , „Bilfinger", „Härtung 5.6.42", „E.W. Böckenförde 1958". An erster Stelle dieser Liste steht „J. Popitz44. Johannes Popitz (1884-1945), dieser prominenteste Konservative an Hitlers Kabinettstisch, als Führungsfigur des nationalkonservativen Widerstandes auch er ein Opfer der Regime-Rache des 20. Juli 1944, war der wohl engste Vertraute Schmitts in der Zeitspanne des „Dritten Reichs44. Durch seine Tätigkeit an der Handelshochschule Berlin hatte sich für Schmitt der Kontakt zu einer Persönlichkeit ergeben, die ihm die Tür zum Betreten der großen politischen Bühne öffnete. Man kann Popitz in der Formierungsphase des NS-Regimes als den Mentor Schmitts bezeichnen. Popitz setzte sich dafür ein, dass Schmitt an zwei zentralen Gesetzesvorhaben des NS-Staates an verantwortlicher Stelle mitwirken konnte: dem „Reichsstatthaltergesetz44 vom 7. April 1933 und dem preußischen „GemeindeVerfassungsgesetz 44 vom 15. Dezember 1933. Popitz war es auch, der Carl Schmitt die Berufung in den von Göring neu eingerichteten Preußischen Staatsrat ermöglichte (Gesetz über den Staatsrat, 8. Juli 1933). 29 Auch in diesem Gremium begegneten sich Schmitt und Popitz. Popitz selbst verkörperte den Traditionstyp des preußischen Beamten. Vom preußischen Regierungsassessor stieg er nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Spitzenkraft im Reichsfinanzministerium auf; er war von 1925 bis 1929 als Staatssekretär dieses Ministeriums einer der politisch einflussreichsten Beamten. Ein Konflikt mit 24 25 26 21 28
Schmitt, Nachwort, S. 67f.; vgl. Popitz, Finanzausgleichsproblem, S. 418f. Popitz, Finanzausgleichsproblem, S. 404. von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft. Popitz, Finanzausgleichsproblem, S. 416. Nachlass Schmitt, in: HStA Düsseldorf, RW 265, Karton 418, im Anschluss an
S. 71. 29
Blasius, Carl Schmitt.
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dem Reichsbankpräsidenten Schacht über die Auswirkungen des Young-Plans auf den Reichshaushalt und eigenständig eingefädelte Versuche, die katastrophale Lage der Reichsfinanzen über die Aufnahme ausländischer Kredite in den Griff zu bekommen, führten im Dezember 1929 zu seinem Rücktritt. 30 Als Staatssekretär im einstweiligen Ruhestand begleiteten Popitz wie auch Carl Schmitt wissenschaftlich und publizistisch die Zeit sich verschärfender Wirtschafts- und Verfassungskrisen. Beide kamen sich persönlich immer näher und entdeckten gemeinsames „Gedankengut". Johannes Popitz blieb für Schmitt auch nach seinem „Sturz" im Jahre 1936 diese Hinterhalt-Aktion der SS kostete ihn Ämter und Einfluss - eine wichtige Anlehnungsperson. Als Schmitt im Juli 1938 seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, konnte er in kleiner Runde den langjährigen Vertrauten als „lieben Freund" begrüßen. 31 Popitz sprach „schöne" Worte „über Staat, Gesellschaft, Freundschaft und Familie" und Schmitt erinnerte daran, dass er „1929 ... in Berlin durch Johannes Popitz eine weitere nicht nur für meinen Stand und meinen Beruf als Lehrer des Öffentlichen Rechts sondern für meine menschliche Bildung ebenso wesentliche Einführung in den preussischen Staat, preussische Verwaltung und preussischen Stil mit seiner typisch deutschen Spezifizierung" erfahren habe, „ohne deren Kenntnis meine Bildung und mein Wesen fragmentarisch geblieben wäre." Was vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, bei Popitz vielleicht stärker als bei Schmitt, ein politischer Sehnsuchtsbegriff gewesen sein mag - Preußen, entwickelte sich im Krieg zu einem Signalwort, das die konservativen Eliten auf eine immer größer werdende Distanz zu den Auswüchsen des Führerstaats gehen ließ. An der „Weiterungs"-Geschichte der Steinschen Schrift von 1852 lässt sich das belegen.
I I I . Weiterungen der Stein-Rezeption: nationalkonservativer Widerstand Im Austausch mit Popitz scheint auch die Biographie Steins neu entdeckt worden zu sein. Informationen für sein Nachwort entnahm Schmitt dem Nachruf Carl Mengers, der 1891 in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik" erschienen war. 32 Schmitt richtete den Blick jetzt auch auf den frühen Stein, der sich in Frankreich mit der Wucht revolutionärer Prozesse konfrontiert sah. Nach dem Abschluss seines juristischen Studiums war Stein 1841 mit einem Reisestipendium der dänischen Regierung nach Paris gegangen. Hier beobachtete er die Organisationsformen und geistigen Orientierungen des gegen die Julimonarchie opponierenden Frühsozialismus. Seine „zeitgeschichtlichen" Er-
30 31 32
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 705f. Nachlass Carl Schmitt, in: HStA Düsseldorf, RW 265, Karton 206. Schmitt, Nachwort, S. 67; vgl. Menger, Lorenz von Stein, S. 193-209.
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fahrungen verarbeitete er in dem 1842 erschienenen Buch „Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte".33 Auf diese Arbeit verweist Carl Schmitt, aber er zitiert auch die aus ihr hervorgegangene dreibändige „Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage", die 1850 erschien und das Datum 1789 als Ausgangspunkt einer revolutiongeschüttelten Gesellschaftsentwicklung umkreist. 34 Schmitt hatte die 1921 von Gottfried Salomon herausgegebene Ausgabe zur Hand. Das Nachlassexemplar zeigt, wie genau und zielgerichtet Schmitts SteinLektüre war. 35 Auf dem Einbanddeckel des zweiten Bandes der „Geschichte der socialen Bewegung" notiert Schmitt „Staat = die höchste irdische Persönlichkeit" und verweist auf die entsprechende Stelle in Steins Werk. Hier heißt es, dass jede einseitige Herrschaft einer Klasse über die Staatsgewalt den Keim zur Revolution lege, „indem sie die Natur der höchsten irdischen Persönlichkeit des Staates innerlich verkehrt. Die Revolution aber führt zur Abhängigkeit auch der herrschenden Klasse unter die Gewalt der Waffen." 36 Hatte die nationalsozialistische Revolution, von 1940 aus gesehen, die Natur des Staates „innerlich verkehrt"? Carl Schmitt warf diese Frage indirekt auf, indem er sich mit den Auswirkungen der Revolution von 1848 auf die „persönliche Schicksalslinie" Steins beschäftigte. „Herrlich" klangen für Schmitt die Sätze, die Stein im Oktober 1849 an den Schluss des Vorworts zu seiner „Geschichte der socialen Bewegung" gestellt hatte. Schmitt zitierte sie wörtlich: „Unser ist die Arbeit. Die Morgenstunde der Weltgeschichte mit ihrer kräftigen Belebung in den ersten Strahlen der nahenden Sonne hat unsere Zeit geweckt, hat ihr die Kraft, die Lust, das Vertrauen der Jugend gegeben. Wir wollen diese Stunde nicht verlieren." 37 Stein war zu dieser Zeit noch Professor für Staatswissenschaft in Kiel. Er beteiligte sich mit großem Engagement an der deutschen Nationalbewegung, die zunächst mit Unterstützung Preußens die Integration Schleswigs in den dänischen Staat abwehren und die Einheit der Herzogtümer Schleswig und Holstein unter demokratischen Vorzeichen aufrecht erhalten konnte. Doch mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 gelangte Dänemark wieder in den vollen Besitz seiner alten Herrschaftsrechte. 1852 erkannten die europäischen Mächte die Integrität des dänischen Gesamtstaats als unantastbar an. 38 1852 verlor Stein
33
von Stein, Socialismus und Communismus . von Stein, Geschichte der socialen Bewegung; vgl. Schmitt, Nachwort, S. 61. 35 Nachlass Schmitt, in: HStA Düsseldorf, RW 265, Karton 221. 36 Vgl. von Stein, Geschichte der socialen Bewegung, Bd. 2, S. 49. 37 Schmitt, Nachwort, S. 62; vgl. von Stein, Geschichte der socialen Bewegung, Bd. 1,S. 7. 38 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 934f. 34
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wegen seines „Verhaltens", wie man ihm mitteilte, seine Professur und musste seine Heimat verlassen. Als Stein seinen Aufsatz „zur preußischen Verfassungsfrage" schrieb, war er ohne Amt und Einkünfte. Erst 1855 wurde er als Professor für das Fach politische Ökonomie an die Wiener Universität berufen. Im „persönlichen Schicksal" Steins sah Schmitt den Grund, dass dieser die Verfassungsfrage Preußens „mit der unpersönlichen Sachlichkeit des großen Gelehrten, dem die entscheidend richtigen Kategorien zu Gebote stehen", habe ansprechen können. „Heute, in dem Abstand fast eines Jahrhunderts, wirkt dieser Aufsatz wie das politische Testament eines noch lange weiterlebenden, aber in diesem Augenblick auch in seiner persönlichen Schicksalslinie gebrochenen, politischen Denkers, dessen Blick, durch diese Tragik geschärft, unmittelbar zur Kernsituation durchdringt." 39 Es ist für den „von innen heraus lesenden Betrachter" offenkundig, dass Schmitt die eigene Situation im Jahre 1940 auf die Situation Steins im Jahre 1852 projiziert. Dennoch ist die Präsentation des Stein-Textes mehr als nur verstecktes Selbstmitleid, elegische Bespiegelung der eigenen Befindlichkeit. Zwar schrieb Stein: „Je größer die Weltgeschichte, desto geringer ist das, was nicht bloß der Einzelne, sondern was am Ende alle Einzelnen in ihr vermögen." 40 Doch Lorenz von Stein war kein gebrochener Mann. Er kämpfte für die Einsichten, die er gewonnen hatte, und schlug sich auf die Seite der „spezifisch preußische[n] Verfassungspartei". 41 Er war sich gewiss, dass deren Vertreter, „und zwar ohne alle Rücksicht auf ihre sonstige politische Anschauung, ob sie radikal oder konservativ sein mögen, von den Vertretern des spezifischen Preußentums verfolgt, mit all den Anklagen überhäuft werden, die man einem geheimen, aber formell nicht erreichbaren Staatsfeind entgegenhält."42 Stein war davon überzeugt, dass erst „die Wahrheit und Treue einzelner Menschen" zu einer „Wahrheit des Staatslebens" führe. 43 Preußen sah er in der Gefahr stehen, sich von der Wahrheit seines Staatslebens zu entfernen, statt sich mutig zu ihr zu bekennen. Für Carl Schmitt war Stein ein Denker, der in dem von Revolutionen aufgewühlten Europa Preußen in seine historische Aufgabe einwies. „Der Staat, um den es sich, europäisch-konkret gesprochen, nunmehr handelte, war Preußen, das nach der démission de la France an der Reihe war, der Idee des Staates die letzte geschichtliche Aufgabe und Verwirklichungsform
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Schmitt, Nachwort, S. 69f. von Stein, Preußische Verfassungsfrage, S. 6. von Stein, Preußische Verfassungsfrage, S. 57f. von Stein, Preußische Verfassungsfrage, S. 58. von Stein, Preußische Verfassungsfrage.
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zu verschaffen". 44 Wenn man davon ausgeht, dass Schmitts Stein-Edition sowie sein Stein-Aufsatz, den der Ende 1939 zum Widerstand gestoßene Jens Jessen publizierte, im Jahre 1940 Gesprächsthema zwischen Carl Schmitt und Johannes Popitz gewesen sind, spricht vieles dafür, dass das „preußische" Element in den Widerstandsaktivitäten von Popitz durch die Erinnerung an einen Deutschland zugewandten Kenner Preußens eine Bestätigung und Kräftigung erfuhr. Diese Vermutung kann quellenmäßig belegt werden. Anfang April 1943 hatte Schmitt in seiner Funktion als Hochschullehrer ein Gutachten über eine eingereichte Habilitationsschrift zu verfassen, die das Thema „Lorenz von Stein und die deutsche Rechtswissenschaft" zum Gegenstand hatte.45 Schmitt war nicht sehr angetan von der vorgelegten Leistung, ließ die Arbeit aber passieren. Er bemängelte, dass der Verfasser „die eigentlich systematische Leistung Steins auf rechtswissenschaftlichem Gebiet" nicht herausgearbeitet und sich „in den vielen unklaren und schwankenden Darlegungen zu dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft im allgemeinen" verstrickt habe. „Wenn er [Stein] von Staat spricht, meint er Frankreich oder Preußen. Daher ist seine Lehre vom Amt und dem Aufbau der Ämter interessanter als seine Philosophie vom Staat und Gesellschaft." Stein interessierte Schmitt als der „für die Mitte des Jahrhunderts 1840-1880 herrschende Generation ... repräsentative Vertreter des deutschen bürgerlichen Geistes, der zwischen der feudalen kirchlichen Reaktion auf der rechten und der sozialistischen Revolution auf der linken Seite, aber auch gegenüber dem westlichen Liberalismus seinen eigenen Weg zu halten sucht." Die Entwicklung seiner Persönlichkeit sei auf die „Gesamtentwicklung des deutschen Geistes" zu beziehen. „Die beides beherrschende tiefe Krisis ist innerlich durch die Auflösung des Hegelianismus, äußerlich durch den politischen Misserfolg der bürgerlichen Revolution von 1848 bestimmt." Die intensive Beschäftigung mit dem Werk und der Biographie Lorenz von Steins ließ die Kontakte zwischen Schmitt und Popitz zu einem Zeitpunkt enger werden, als mit den vom nationalsozialistischen Deutschland gewonnenen Feldzügen auch dessen Ideologie den Sieg über die durch Preußen und seine Geschichte repräsentierte Idee des Staates davonzutragen schien. In dieser Situation entschloss sich Popitz zu einem gegen den Staat Hitlers gerichteten Handeln. Mit dem von ihm formulierten „vorläufigen Staatsgrundgesetz" war er federführend an den Verfassungsplänen des nationalkonservativen Widerstands beteiligt. 46 Hans Mommsen hat betont, dass Jenseits aller politischen Interessenlagen und Ideengänge ... die moralisch begründete Überzeugung, dass es notwendig war, gegen die Unmenschlichkeit des Regimes ein Zeichen zu set44 45 46
Schmitt, Nachwort, S. 66. Bundesarchiv Koblenz, Nachlass 262 - Johannes Popitz, Nr. 96. Schulz, Über Johannes Popitz, S. 485-511.
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zen", das gemeinsame Anliegen der Opposition gegen Hitler war. 47 Seine Zeichensetzung bezahlte Popitz mit dem Leben. Er wurde am 21. Juli 1944 verhaftet und am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Carl Schmitt begab sich auf den weniger gefahrvollen Weg der Reflexion. Er suchte die Nähe zu Popitz, vermied aber jede Grenzüberschreitung. Schmitt hatte seine Habilitations-Stellungnahme am 13. April 1943 fertig gestellt. A m 14. April sandte er sie Popitz mit einem Begleitbrief zu. 48 Die „habil.Schrift selbst", schrieb er, „wird Sie wahrscheinlich nur ärgern; sollten Sie sie aber doch zu sehen wünschen, so bringe ich sie Ihnen gelegentlich." Zum eigenen Gutachten heißt es in diesem Brief: „Der beil. Abdruck eines kleinen Gutachtens könnte Sie vielleicht interessieren, wegen des Themas ,Lorenz von Stein' , aber auch im Zusammenhang mit unserm Gespräch von gestern abend, über die Zeit nach 1848 und das Schicksal des deutschen Geistes in der Generation unserer Großväter. Was hub es an? Was brachte den Fluch? Von heut Ists nicht und nicht von gestern. Und die zuerst das Maß verloren, unsere Väter Wußten es nicht und es trieb ihr Geist sie. Vielen Dank für den schönen Abend und die besten Grüße Ihres Carl Schmitt." In einem Zusatz bemerkt Schmitt weiter: „Die biographischen Entdeckungen über die Jugend Steins waren mir durch mündliche Mitteilungen W. Ahlmanns längst bekannt." Schmitts Rekurs auf Lorenz von Stein, so der festzuhaltende Befund, erschließt eine wichtige Facette seines mit der Unheilsgeschichte des „Dritten Reichs" so eng verwobenen Lebensweges. Traditionen der eigenen Profession wurden zu einem Zeitpunkt verstärkt erinnert, als der Staat Hitlers mit allen Grausamkeiten einen Weltanschauungskrieg zur Eroberung der Weltherrschaft führte. Carl Schmitt reservierte sich vor jeder Widerrede gegen den Rassenkrieg, fand aber Zugang zu Kreisen, die ihn verurteilten. Diese Zirkel verstanden sich als geistesaristokratische Avantgarde eines anderen Deutschland. Im Haus des von Schmitt erwähnten blinden Bankiers Wilhelm Ahlmann (18951944) in Berlin in der Tiergartenstraße traf sich die Prominenz des nationalkonservativen Widerstands. 49 Auch Carl Schmitt stand dem „norddeutschen Grandseigneur Ahlmann" nahe. Als bekannt wurde, dass auch Graf Stauffenberg Ahlmann aufgesucht hatte, nahm dieser sich im Dezember 1944 das Leben. Freunde Ahlmanns gaben 1951 ein „Gedenkbuch" „Tymbos für Wilhelm Ahl47
Mommsen, Bürgerlicher Widerstand, S. 55-67. Carl Schmitt an Johannes Popitz, 14.4.1943, in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlass 262 - Johannes Popitz, Nr. 96. 49 Vgl. Schramm, Ahlmann, S. 111; Müller, Stauffenberg, S. 304. - Ahlmann war mit Jens Jessen befreundet, der den Kontakt zu Stauffenberg hergestellt haben dürfte. Carl Schmitt begegnete Ahlmann in dessen nur kurzzeitiger Funktion als Hilfsreferent in der Hochschulabteilung des Preußischen Kultusministeriums (Anfang 1933 bis September 1933), als Schmitts Wegberufung von Köln anstand; vgl. Koenen, Der Fall Carl Schmitt, S. 366f. 48
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mann" heraus. 50 Neben Ernst Forsthoff, Hans Freyer, Gunther Ipsen, Percy Ernst Schramm lieferte auch Carl Schmitt zwei kleinere Beiträge: „ Z u r Phonetik des Wortes Raum" und „Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung". 5 1 I n einer Vorbemerkung schrieb er, diese „Stücke" seien „Gegenstand zahlreicher Gespräche mit W i l h e l m A h l m a n n gewesen." Er unterbreite sie „den gemeinsamen Freunden als Dokumente seines zeugenden Geistes ... Die Darlegung Zur Phonetik
des Wortes Raum ist W i l h e l m Ahlmann i m Herbst 1942 vorgetragen
und mit ihm in vielen Gesprächen erörtert worden; sie w i r d hier unverändert zum erstenmal gedruckt."
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Koenen, A., Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995. Menger, C., Lorenz von Stein. 23. Sept. 1890, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Bd. 1., 1891. Mommsen, H., Bürgerlicher (nationalkonservativer) Widerstand, in: W. Benz / W. H. Pehle (Hrsg.), Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt a. M. 1994. Müller, C , Oberst i.G. Stauffenberg. Eine Biographie, Düsseldorf 1970. Pankoke, E., Sociale Bewegung - Sociale Frage - Sociale Politik. Grundfragen der deutschen „SocialWissenschaft" im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970.
50 Tymbos ftir Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch. Herausgegeben von seinen Freunden, Berlin 1951. 51 Tymbos für Wilhelm Ahlmann, S. 241-251.
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Vorwort zum Nachdruck L. von Stein, Schriften zum Sozialismus.
Pöpitz, J., Das Finanzausgleichsproblem in der deutschen Finanzwissenschaft der Vorkriegszeit, in: Finanzarchiv 1933, Neue Folge, Bd. 1. Schmitt, C., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Schriften der Akademie für Deutsches Recht), Hamburg 1934. -
Was bedeutet der Streit um den „Rechtsstaat"?, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 95,1935, S. 189-201.
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Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, in: Schmollers Jahrbuch fiir Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 64, 1940, II. Halbband, hrsg. v. J. Jessen, S. 641-646.
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Nachwort zu: Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, besorgt von Carl Schmitt, Berlin 1940, S. 61-70.
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Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, in drei Bänden (1850), hrsg. v. G. Salomon, München 1921 (Neudruck 1959); Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830; Bd. 2: Die industrielle Gesellschaft, der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848; Bd. 3: Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848.
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Lehrbuch der Finanzwissenschaft. 5., neubearbeitete Auflage, Leipzig 1885/86. Zweiter Theil. Die Finanzverwaltung Europas. Zweite Abtheilung: Die einzelnen Steuern und ihre Systeme. Dritte Abtheilung: Das Staatsschuldenwesen.
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Schriften zum Sozialismus. 1848, 1852, 1854. Mit einem Vorwort zum Nachdruck von E. Pankoke, Darmstadt 1974.
Die ,gesichtslose' Masse und das ,Ende der Persönlichkeit' 1 Karl-Siegbert Rehberg
I. Das Gesicht in Masse und Massengesellschaft - Einleitende Bemerkungen 1. Anthropologische Ausgangsfragen und moderne Massenhaftigkeit Der Mensch als ein Wesen - wie Helmuth Plessner unterschied - , das einen Körper hat, und zugleich existentiell mit diesem so verschmelzen kann, dass es auch „ein Leib isf\ hat - wie jedes Lebewesen, überhaupt jedes System, eine Innen- und eine Außenseite sowie eine seine „Identität" sichernde „Grenze". 2 Der Mensch ist allerdings durch deren Überschreitung, durch eine Außensicht auf sich selbst, gekennzeichnet und lebt immer auch unter Darstellungszwängen (gerade in seiner Rollenhaftigkeit). Unbestreitbar, dass er auch das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" ist, als das Karl Marx ihn beschrieb.3 Aber dieses Wesen ist notwendig zugleich immer individuiert, ganz gleich, ob es als Teil der Gattung, einer Gruppe oder als Bestandteil einer Masse in den Blick kommt. Erst sein „Aussehen", seine Haltung, sein Körperausdruck geben dem
1 Die Existenz und der Wandel der Massen in den Industriegesellschaften und die damit verbundenen Schreckensbilder einer Überwältigung der Individualität, die mit ihrem Entstehen schon bedroht schien, stehen in vielfacher Beziehung zum Lebenswerk Eckart Pankokes, der die Entstehung des Industrialismus und der ihn moderieren sollenden Sozialpolitik seit den Anfängen (beispielsweise auch durch die Perspektive des die Massenphänomene sensibel wahrnehmenden Lorenz von Stein) mit stupender Gelehrsamkeit erforscht hat. In diesem Beitrag zu seiner Festschrift geht es um Deutungsmuster und sozusagen Begleitmelodien der Strukturgeschichte. Aber Kultursoziologen (eben auch Eckart Pankoke) wissen ja, dass die „Wirklichkeit" ohne diese nicht zu denken ist. Für die wie immer produktive und sorgfältige Unterstützung bei der Verfertigung des Manuskriptes danke ich Heike Delitz, Dana Giesecke und Cornelia Schupp. Angeregt wurde ich zu diesen Überlegungen durch die von dem Aachener Kunsthistoriker Peter Gerlach in Schloß Morsbroich bei Leverkusen kuratierte Ausstellung Der Mensch mit Eigenschaften - Kunst und Psychologie von Leonardo bis Freud v. 30.9.2000-9.1.2001, in deren Rahmen ich einen Vortrag zur negativen Physiognomik der Massen hielt. Ihm und seinen seit Jahren vorgelegten Studien zu Physiognomie und Körpertypik verdanke ich wichtige Impulse. 2 Plessner, Die Stufen des Organischen. 3 Marx, Thesen über Feuerbach, S. 5ff., hier: 6 [6. These].
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Menschen eine wahrnehmbare Existenzform. Und da ist es insbesondere das Gesicht, das - darin dem Namen ähnlich, durch dessen Setzung Gott ja alle Dinge und Wesen geschaffen haben soll - seine Individualität ausmacht (jemand sagte einmal klug, ab dem dreißigsten Lebensjahr sei jeder für sein Gesicht „verantwortlich"). Psychische Dispositionen, Charakter, Stimmungen, sogar Absichten sollen den Gesichtszügen eingeschrieben sein. Und: Sein Gesicht zu „verlieren" bedeutet nicht nur in den ostasiatischen Hochkulturen die Auslöschung, zumindest Bedrohung der eigenen Integrität und Würde. In den Kunsttheorien seit der Antike, sodann in physiognomischen Klassifikationen seit dem 14. Jahrhundert und schließlich in der Verwissenschaftlichung der Anthropologie seit dem 18. Jahrhundert 4 hat man deshalb im menschlichen Antlitz den , Schlüssel zur Seele' finden wollen. Goethe tief beeindruckend, hatte etwa Johann Caspar Lavater eine systematische Psychologie von den Gesichtszügen her zu entwickeln gesucht. Dabei wurden gezeichnete und gemalte Bilder (sogar solche des Erlösers) zum Medium der objektivierenden Enthüllungsarbeit. In Dichtung und Wahrheit finden wir die Anekdote, nach welcher man den Forscher irreführen wollte, indem man ihm falsche Porträts unterschob, um seine Urteilsfähigkeit auf die Probe zu stellen - jedoch erkannte er im Falle Goethes den verfälschenden Schabernack sofort. Als er den Dichter jedoch zum ersten Male traf, war er nach all seinem Vorwissen mit dem Mann selbst nicht zufrieden, denn er sah ihn anders, als er es erwartet hatte, wozu Goethe ironisch anmerkte: „Ich versicherte ihm dagegen nach meinem angeborenen und angebildeten Realismus, daß, da es Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es auch dabei wollten bewenden lassen."5
Das berührt die Dialektik von Verhüllen und Verbergen. Nicht immer war das Gesicht in gleichem Maße »individuell', denn es ist Personen- und Typussymbol in einem, und nicht in allen Zeiten und nicht auf allen sozialen Rangstufen gibt es dasselbe Recht auf,Individualität'. Etwa hat Edith Wenzel für spätmittelalterliche Frauenbeschreibungen gezeigt, wie alles Individuell-Besondere der bloßen Typisierung zum Opfer fallen kann.6 Auch gibt es Zeiten, die dazu zwingen, im Persönlichen nur grotesk verdichtet zu sehen, was zeittypisch ist: Karikatur und ein archetypischer „Primitivismus" können dann zu Metaphern der Wahrheit über die verzerrte geschichtliche Situation werden, wie Peter Gerlach das an Otto Dix demonstriert hat.7 In meinem Beitrag soll es nun aber um eine eigentümliche Gegenspiegelung des Physiognomischen gehen, nämlich um das Phänomen der „Gesichtslosigkeit" als einem Zeitmerkmal. Das lässt an 4 5 6 7
Gerlach, Typen. von Goethe, Dichtung und Wahrheit, III. Buch, 14. Teil, S. 15ff. u. 19. Wenzel, Schöne Frauen - böse Frauen. Gerlach, Selbstbildnis und Selbstinszenierung.
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Anonymität denken, an ein Eintauchen des Einzelnen in größere Kollektivzusammenhänge, vor allem an Menschen in Massenzusammenballungen und in der „Massengesellschaft". Es war der industriegesellschaftliche Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts, durch den sich die Mws-ewgesellschaften herausgebildet haben und zwar auf der Basis einer strukturellen Spannung: Sie waren sichtbare und fühlbare Äfo.wewgesellschaften. Die auf relativ engem Raum zusammengedrängten Unterschichten bildeten eine massenhafte „Partei" schon vor jeder Elendsrevolte oder Konfliktdemonstration. Ihr bloßes Dasein genügte: Wenn man etwa die Menschen frühmorgens auf dem Weg in die Fabriken und nach Werks- oder Schichtschluss sah, gesteigert dann die „Reservearmee" der Arbeitslosen oder die für einen Tag Angeheuerten (etwa in den Hafenstädten), war man auch mit der „Massengesellschaft" konfrontiert - das war ihre Physiognomie. Unübersehbar waren auch die neuen Wohnbausiedlungen für die Arbeiterfamilien, die das Antlitz der Städte grundlegend veränderten. Auch dafür sind uns physiognomische Metaphern vertraut: Die Wohnsilos wirken anonym und ,gesichtslos', organisieren das menschliche Leben in einer massenhaften Gleichausrichtung, die an militärische Disziplinierung erinnert, weshalb man nicht nur in Berlin anschaulich von „Mietskasernen" sprach. Zwar gab es auch andere Projekte, sozialistische Versuche, den Menschen in Arbeitersiedlungen im Rahmen einer klassengebundenen Kollektivität etwas „Individuelles" zurückzugeben. Dieses sollte aber gerade im Zusammengehörigkeitsgefühl verankert werden, wie es in den Arbeiterburgen - etwa dem „Karl-Marx-Hof' im „Roten Wien" - erzeugt wurde. 8 Und eine „klassenüberwindende" Gemeinschaftsvariante sollte auch die Scheinidylle des Heimatschutz-Stils liefern. Aber dominierend blieben die Stadttrabanten in allen industriellen Ballungsorten. Immer ging es bei diesen, nicht nur auf den einstigen Ostblock beschränkten, „Plattenbauten", die man in der DDR spöttisch auch „Arbeiterschließfächer" nannte, um eine Modernitätsdurchsetzung, blieb Gesichtslosigkeit das hervorstechendste Merkmal - zumindest des architektonischen Rahmens. Es wären dies Korrespondenzphänomene zur Massenpräsenz. Wo immer es im Kapitalismus zu klassenkämpferischen Aktionen kam, offenbarte sich, was man in revolutionären Erhebungen zugespitzt erlebte: Menschenmassen in Bewegung seien von außen und von innen unkontrollierbar, zerstörerisch, emotional, unorganisierbar, eben „das soziale Tier, das sich von der Leine gerissen hat". 9 Solange dieses vielköpfige, aber gesichtslose Wesen nicht durch das ordnende Haupt eines die Herrschaftssouveränität ausübenden „Leviathan" gekrönt wird, kommt es zum ungehemmten Ausleben der menschlichen Träume und Leidenschaften, „vom Brutalsten bis zum Heroischsten, vom 8 9
Novy, Beiträge zum Planungs- und Wohnungswesen, bes. S. 65-74. Moscovici, Zeitalter, S. 13.
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Delirium bis zum Martyrium". 10 Jedenfalls zeigt sich in dieser Metaphorik, dass es nun eine der bürgerlichen Gesellschaft entsprechende UnterschichtenSichtbarkeit gab und nicht mehr nur die demonstrative und symbolisch hoch ausdifferenzierte der adeligen und hochbürgerlichen Eliten.
2. Masse-Typen Nach dem bisher Gesagten ist auf eine Vermischung unterschiedlicher Phänomene aufmerksam zu machen, die durch das Wort „Masse" nahegelegt wird, analytisch aber vermieden werden sollte. Von der „Massengesellschaft" war die Rede als von den Menschenmassen, durch welche die Städte als „pulsierend" wahrgenommen werden, sodann aber auch von absichtlich organisierten oder plötzlich entstehenden Massenzusammenballungen. Und gerade weil das eine auf das andere verweist, ohne identisch zu sein, ist eine begriffliche Unterscheidung notwendig. Ich schlage eine Zweiteilung vor, in die sich dann viele typologische Ausdifferenzierungen einordnen ließen, nämlich zu unterscheiden: a) Aktualmassen und b) strukturelle Massen. Zu a) Das zentrale Ausgangsphänomen, das die Massenpsychologie so sehr beunruhigt hat und das Auslöser für Massenängste und -hoffnungen gleichermaßen war, ist die Aktualmasse. Diese kann typisierend weiter ausdifferenziert werden, z.B. als aktive und passive Masse, sodann auch als akklamierende Masse (wie man sie von der römischen Volksversammlung bis zu den autoritären Inszenierungen des 20. Jahrhunderts kennt) oder als zerstörerische Masse. Es kann sich um organisierte bzw. künstliche oder um spontane Massen handeln, um institutionell geordnete oder anti-institutionelle Massen. Auch können sie „langsam" sein, wie in Prozessionen, oder sogar „unbewegt", wie im Falle einer autoritär-disziplinierten Erstarrung. Es ist die bewegte, revolutionäre Masse, welche in Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin ihre künstlerische Stilisierung gefunden hat. Der Film lief 1926 nicht nur mit größtem Erfolg in mehreren Berliner Kinos und wurde von der kommunistischen Zeitung „Die rote Fahne" als „erstes Werk der Massen" begrüßt. Auch Joseph Goebbels hegte für ihn größte Bewunderung: „Ich muss schon sagen, dieser Film ist fabelhaft gemacht. Mit ganz prachtvollen Massenszenen. Technische und landschaftliche Aufnahmen von prägnanter Durchschlagskraft und die Bombenparolen so geschickt formuliert, daß man keinen Widerspruch erheben kann. ... Ich möchte, wir hätten einen solchen [Film]." 11
10 11
Moscovici, Zeitalter, S. 13. Zit. in Kenkel, Gesicht, S. 223f.
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1934, vier Jahre später, versuchte der Reichspropagandaminister den deutschen Filmregisseuren vorzuexerzieren, welche Lehren daraus zu ziehen seien: „Je größer das Kunstwerk, desto mehr ist es dem Künstler gelungen, diese kreative Explosion der Massen selbst zu verstehen, zu empfinden und mitzuteilen."12
Karen Kenkel hat sehr schön gezeigt, wie die faszinierende Dynamik des Eisenstein-Films sich von Leni Riefenstahls Triumph des Willens (über den 6. Parteitag der NSDAP in Nürnberg 1935) unterschied. In beiden Filmen wurden Massen aus der Vogelperspektive gezeigt. Im Potemkin „durchqueren die dynamischen Massen das ruhige Meer, sie bewegen sich vorwärts, um gegen die staatliche Unterdrückung zu protestieren". Ganz anders in Riefenstahls propagandistischer NS-Hymne: „Hitler bewegt sich, die Kamera im Rücken ... durch ein regloses Meer von in Blockformation aufgestellten Menschen". Die „schlagende Wirkung der geschlossenen, schweigenden, unbewegten Masse" suggeriere, dass sie vom Führer aus dem Chaos formiert werde. 13 Zu b) Strukturelle Massenhaftigkeit zeigt sich in den „Stadtwüsten" (Werner Sombart u.a.) ebenso wie in Prozessen der Nivellierung und der Einebnung der Personen, ihrer Standardisierung und schließlich ihrer „Normalisierung". 14 Auch gehört jede lebensweltliche - etwa durch Ausbeutung erzeugte - Homogenisierung hierher, wenn sie strukturell wahrgenommen wird; sie verweist latent auf die Aktualisierbarkeit der Masse. Es gibt aber auch Konsumentenmassen, also verschiedenste soziale Konstellationen bis hin zur Massenhaftigkeit „individualisierter" Lebenszusammenhänge in unseren Tagen. In diesem Sinne benutzte schon Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Theodor Geiger den Massebegriff, um ein differenziertes „Schichtungsbild" des deutschen Volkes zu entwerfen. Klar hat er zwischen den verschiedenen Ungleichheitsbegriffen (besonders zwischen Klassen und Schichten) unterschieden und ein Bild der „sozialen Lagerung" entworfen, in dem drei Grundlagerungen (Kapitalistische Lage, Mittlere Lage und Proletarische Lage) herausgearbeitet und in ihrer Tiefengliederung weiter aufgeteilt werden konnten. Darüber hinaus versuchte er fünf strukturelle Zusammenhangsgruppen in Beziehung zu spezifischen Mentalitäten zu setzen und nannte diese die „fünf Hauptmassen", nämlich den „kapitalistischen ,Block'", den „alten Mittelstand", die „Proletaroiden", die „Proletarier" (Arbeiter und Angestellte) und den „neuen Mittelstand". Gerade weil diese statistisch errechenbaren Gruppen auf Mentalitäten bezogen wurden, ergaben sich Aktionsbeziehungen und eine Latenz der Willensbildung, die zur
12 13 14
Kenkel, Das Gesicht der Masse, S. 224. Kenkel, Das Gesicht der Masse, S. 225. Vgl. hierzu v. a. Link, Versuch.
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Massenbewegung werden konnte, zur Massenaktion oder zu einem massenhaften Verhalten wie in der Stimmabgabe bei Parlamentswahlen. 15 Organisierte Massen, die selbstverständlich strukturell begründet sind und stets die Aktualisierbarkeit der mobilisierten Masse als politisches Mittel einsetzen, sind beispielsweise soziale Bewegungen. Hierher gehören, bei allen nationalen und historischen Unterschieden, prototypisch die katholischen oder sozialistischen Handwerker- und Arbeiterorganisationen. Das führte zur Massenkanalisierung in den Arbeiterparteien und in der formal hoch organisierten Gewerkschaftsbewegung, wo die strukturelle Lage, die dadurch erzeugten Arbeitsbedingungen und Schicksale sowie die mobilisierbare Kampfkraft institutionell symbolisiert und verhandlungsfähig gemacht wurden. Auch noch die rechtlich und rituell geformten Tarifauseinandersetzungen verweisen stets auf die Mobilisierbarkeit der Aktualmasse, also auf den Streik - und im Grenzfall: auf den Generalstreik. 16 Um der hier vorgeschlagenen Hauptunterscheidung von Aktualmassen und Struktureller Massenhaftigkeit zu folgen, werde ich - nach einigen wissenschaftsgeschichtlichen Bemerkungen - zunächst auf die Topoi der Phänomenologie der Aktualmassen eingehen und am Ende meines Aufsatzes auf einige Schlussfolgerungen zurückkommen, die sich daraus für die heutige Gesellschaftsstruktur ergeben, von welcher etwa der Münchner Soziologe Ulrich Beck nicht zu Unrecht meint, dass sie in ganz besonderer Weise durch „Individualisierung" geprägt sei, obwohl ihre Massenhaftigkeit doch kaum zu übersehen ist. 17
II. Wissenschaften des Masse-Phänomens als Verarbeitung der Revolutionserfahrung Mit dem neuen Typus der „Massengesellschaft" war auch der Aufstieg der Soziologie verbunden, welche - wie Georg Simmel am Anfang des vergangenen Jahrhundert zeigte - „die theoretische Fortsetzung und Abspiegelung der praktischen Macht" gewesen ist, „die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt haben".18 Simmel meinte hier nicht aktuell zusammenströmende Menschen, wohl aber deren Großstadtpräsenz, durch welche die strukturellen Bedingungen der modernen Gesellschaft auch sinnlich ins Bewusstsein gehoben wurden. Er setzte diese neue Tatsache der Massengesellschaft mit einem Wahrnehmungsvorgang in Beziehung, denn das 15 16 17 18
Vgl. Geiger, Die soziale Schichtung, bes. S. 82-105. Vgl. Geiger, Masse, S. 25ff. Vgl. als Initialtext Beck, Risikogesellschaft, bes. 2. Teil (S. 113-248). Simmel, Soziologie, S. 13f.
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Auftreten der Massen ist mit einer Verschiebung des (schon von Hegel beschriebenen) „Kampfes um Anerkennung" 19 verbunden oder in Simmelscher Formulierung: „Daß aber das Bedeutungsgefiihl und die Aufmerksamkeit, die die unteren Stände den höheren abzwangen, gerade von dem Begriff der ,Gesellschaft 4 getragen ist, liegt daran, daß vermöge der sozialen Distanz die ersteren den letzteren nicht nach ihren Individuen, sondern nur als einheitliche Masse erscheinen" 20
Damit hatte Simmel eine sehr feinsinnige Beobachtung gemacht, dass nämlich die Homogenität der Aktualmassen, ihre ,Gesichtslosigkeit' und die vermutete Vernichtung alles Individuellen selbst einen perspektivischen Beobachtungspunkt voraussetzt. Die Massen werden von einer gesteigert individuellen Position aus gesehen und gerade deshalb als bedrohlich empfunden, weil sie Präsenzsymbole einer ent-individualisierenden Gesellschaftlichkeit sind und weil sie die Machtverhältnisse umkehren könnten. Ebenso wie die Soziologie ist die Massei^sycÄo/ogze, welche in der Moderne die intellektuellen und die populären Bilder von der Masse geprägt hat, selbst ein Produkt der Massengesellschaft. Es war dies vor allem eine Entdeckung französischer Autoren, allen voran Gustave Le Bons mit seiner 1895 publizierten Psychologie der Massen, aber auch des Soziologen Gabriel Tarde, der das Phänomen der Nachahmung ins Zentrum der Vergesellschaftung stellte. 21 Auch Emile Dürkheim verdankte seinen großen akademischen Erfolg, 1906 als erster französischer Soziologe einen Lehrstuhl - und dann auch noch an der Sorbonne - zu erhalten, einer Perspektive, die vom Kollektiven ausging und die laizistische Integration der Nation in der III. Republik zum Ziel hatte. Es war damals eine Grundfrage der französischen Sozialwissenschaften, ob und wie Gesellschaften sich nach der Revolution von 1789 und nach der Kette von Umstürzen während des gesamten 19. Jahrhunderts re-stabilisieren ließen. Und die Massen spielten bei den Ordnungsauflösungen und -restaurationen eine entscheidende Rolle, wie Edmund Burke das in seinen Betrachtungen über die Französische Revolution scharfsichtig und schon ein Jahr nach deren Beginn gezeigt hatte.22 Le Bon nannte sein eigenes Buch ein letztes „Hilfsmittel für den Staatsmann", der die Masse zwar nicht beherrschen könne, aber zumindest versuchen müsse, sich von ihr nicht allzu sehr beherrschen zu lassen.23
19
Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung. Simmel, Soziologie, S. 13. 21 Vgl. Tarde, Die sozialen Gesetze, bes. S. 24ff. u. 50ff. 22 Vgl. Burke, Betrachtungen, bes. dessen bissige Analyse der „tyrannisierten Tyrannen44 (S. 146ff.). Eckart Pankoke hat gezeigt, wie der aus der Pariser Revolution entwickelte Begriff bereits 1793 durch Gentz ins Deutsche eingeführt wurde, indem er Burkes Begriff „crowd" übersetzte mit: „der vereinigte Haufen ... eine große Masse44, vgl. Pankoke, „Masse, Massen44, Sp. 828-832. 23 Le Bon, Psychologie, S. 7. 20
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Übrigens führten sehr ähnliche Beobachtungen im damaligen Frankreich auch zu ganz entgegengesetzten Bewertungen: Der Angst vor der Massenaktion stand deren hymnische Verherrlichung zur Seite. Schon Marx hatte emphatisch postuliert, dass die Theorie zur „materiellen Gewalt" werde, wenn sie „die Massen" ergreife. In Frankreich folgte eine revolutionäre Bewegungstheorie, die auf die Gewalt des „Generalstreiks" als dem Mittel des Systemumsturzes setzte.24 Georges Sorel, der das emphatisch gegen den trocken-szientistischen „Materialismus" der deutschen Marxisten propagiert hatte, fand übrigens - wie auch der Massenverächter Le Bon - in Benito Mussolini einen begierigen Leser.
I I I . Die Phänomenologie der Aktualmasse 1. Die vereinigende Erregung: Musil, Canetti, Le Bon Die Aktualmasse, die uns in diesen, immer auch politisch adressierten, Analysen entgegentritt, hat zumeist dieselben Charakteristika. Und erinnern wir uns der Beobachtung Georg Simmeis: Die angstbesetzte Massenfaszination hängt aufs engste mit der Wahrnehmung aus gehobener Schichten- und Elitenlage zusammen, deren Mitglieder sich auch durch jene Massen noch bedroht fühlten, deren Durchsetzungskraft gegen gemeinsame Gegner sie durchaus zu schätzen wussten. Das „Unheimliche" einer massenhaften Zusammenballung von Menschen mögen sogar diejenigen empfinden, die von der Dynamik mitgerissen sind - aber erst recht ist die Masse ,von oben' gesehen ein Moloch, ein moderner Lindwurm. Und wenn sie noch Gesichter zeigt, dann sind es - wie in A. Paul Webers böser Zeichnung - die verzerrten Fratzen des „Gerüchts" oder der „Jagd-" und „Hetzmeute". 25 Beide Perspektiven hat auch Robert Musil beschrieben, wobei er Ulrich, diesen „Mann ohne Eigenschaften" - vergleichbar den Kameraperspektiven in den modernen Massenfilmen - als Beobachter „von oben" postierte, während er dessen Freund Walter szenisch einer sich formierenden Masse auslieferte, die „ohne bestimmte Absicht zusehends an Dichte und innerer Kraft gewann". 26 In dem Zuge, dessen Anfang und Ende man nicht sehen konnte, hörte man etwas, „das man nicht verstand, verstümmelte Botschaften und Wellen stummer Erregung liefen von vorne nach hinten, und die Leute empfanden, je nach ihrer Natur und nach
24 Vgl. Marx, Kritik, S. 385, zit. auch in Pankoke, „Masse, Massen"; sowie Sorel, Über die Gewalt. 25 Weber, A. P., Das Gerücht, bes. S. 103-187; vgl. auch Canetti, Masse bes. S. 103187. 26 Vgl. zu der gesamten Episode und allen im Folgenden aus dieser Schilderung gegebenen Zitaten, Musil, Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1: Erstes und Zweites Buch. Kap. 120: Die Parallelaktion erregt Aufruhr (S. 625-634, hier: S. 626-629).
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dem, was sie auffaßten, Empörung oder Angst, Rauflust oder einen sittlichen Befehl und drängten nun in einem Zustand vorwärts, ... daß sie sich zu einer allen gemeinsamen lebendigen Kraft vereinten, die mehr auf die Muskeln einwirkte als auf den Kopf.
Auch Walter wurde davon angesteckt, und Musil weiß nicht recht, „wie diese Veränderung entsteht, die aus eigenwilligen Menschen in gewissen Augenblicken eine einwillige Masse macht, die der größten Überschwänglichkeit im Guten wie im Bösen fähig und der Überlegung unfähig ist". Musil sprach von einer „Psychologie der Entladung". Aus der Beobachterperspektive Ulrichs, von einem Balkon aus zusehend, erinnert ihn die Masse „einen Augenblick lang an einen Muskel ..., der sich vor dem Schlag verdickt. Im nächsten Augenblick sauste dieser Schlag durch die Luft und sah wunderlich genug aus, denn er bestand aus einem Schrei der Entrüstung, von dem man früher die aufgerissenen Münder sah, als man den Laut hörte".
Und der Graf Leinsdorf, dem der Protestaufmarsch galt, urteilte kühl und verächtlich: „Der Rachen des Volks!" Das ist die Physiognomie der Masse und die durch sie erzeugte Gesichtslosigkeit ihrer atomisierten Teilhaber. Ausgehend von den revolutionären Massen - Geiger nennt sie das „kollektive ,Nein'" 2 7 - , von der Destruktionskraft des aufgeheizten Augenblicks, der vielleicht in Gang gesetzten, dann aber kaum steuerbaren Bewegung, wird stets von der „Unvernunft" der Masse gesprochen, von der Herabsetzung der Urteilskraft aller Beteiligten, von der Aufhebung jeder personal vertretbaren Logik und Ethik. Ebenso ging Theodor Geiger von der durch Suggestion erzeugten „Verdummung der Individuen in der Masse" aus, von ihrer Suggestibilität und der Unmöglichkeit, individuelle Intelligenz einzusetzen, da sie in der „Masse nichts zu suchen hätte", so wenig wie die Logik. 28 An die Stelle des Nachdenkens, ja selbst des Vordenkens treten die Erregbarkeit und eine „Logik der Leidenschaft". 29 T. S. Eliot fasste das spöttisch zusammen: „Die Gattung Mensch kann nicht viel Realität ertragen, die Massen noch weniger." 30 In diesem Zusammenhang stehen auch alle Bestimmungen der Masse als Trägerin des „kollektiv Unbewußten". Serge Moscovici sieht geradezu eine neue Anthropologie aufsteigen, die tiefenpsychologisch gestärkt war: „Alles was kollektiv ist, ist unbewußt, und alles was unbewußt ist, ist kollektiv." 31
27 Vgl. Geiger, Masse, S. 61 und 96ff. - Keine Revolution ist ohne die Mobilisierung der Massen oder gegen sie möglich, obwohl die entscheidenden Vorgänge oftmals nicht durch die Massen selbst, sondern vor dem Hintergrund ihres Druckpotentials vollzogen werden. Das war nicht nur bei dem als „Oktoberrevolution" verklärten bolschewistischen Staatsstreich von 1917 der Fall. 28 Geiger, Masse, S. 129ff, 124ff. u. 132. 29 Moscovici, Zeitalter, S. 48. 30 Zit. in Moscovici, Zeitalter, S. 48. 31 Moscovici, Zeitalter, S. 123.
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Karl-Siegbert Rehberg Es entspricht dies ganz dem Massenerlebnis Elias Canettis am 15. Juli 1927
i n W i e n 3 2 , das ihn zeitlebens nicht mehr losließ und ihm nicht nur ein „theoretisches" Werk, Masse und Macht Stoffsammlung),
sondern
auch
sein
(eine etwas ungestaltete typologische wichtigstes
Buch,
„Die
Blendung",
sozusagen aufzwang. Die Masse hatte für ihn noch ein „Gesicht", wenn auch ein „zuckendes" und von W u t oder Begeisterung verzerrtes. Das Feuer wurde i h m z u m Analogon dieser Masse, nicht nur zu deren wichtigstem Zerstörungsmittel, vielmehr eine Parallalbewegung, grenzenlos verzehren wollend. Aber: „ N a c h aller
Zerstörung
muß
es
wie
sie
erlöschen." 3 3
Canetti
schildert
einen
Menschenauflauf, der durch einige Polizisten und deren Versuch der Festnahme eines
Hauswartes,
später
dann
die
Überwältigung
eines
gaunerhaften
Schachgenies ausgelöst wurde: „Die Anwesenden teilen sich in zwei Parteien. Das Herz der einen schlägt für den Helden, die anderen stehen immer hinter der Polizei. Doch bleibt es nicht bei den Herzen. Den Männern juckt es in den Fäusten, aus den Kehlen der Frauen kreischt es, um sich mit der Polizei nicht einzulassen, stürzt man sich auf Kien. Er wird geschlagen, gestoßen und getreten." I n einer anderen Episode k o m m t die Masse z u m Siedepunkt: „Vor dem Theresianum wurde Fischerle ... ein unerwarteter Empfang zuteil. ... Ein Alter, der ihn erblickte, jammerte: ,Der Krüppel!4 ... Eine Frau nahm den schwachen Ausruf des Alten auf und ließ ihn laut werden. Da hörten es alle; das Glück, etwas zusammen zu wollen, fuhr in sie. ,Der Krüppel!' ging es über den Platz, ,Der Krüppel!4" - „Selbst der Ruhigste verlor die Fassung. ... Die Männer zerquetschten ihn zu Brei. Die Frauen erhoben ihn erst in den Himmel, dann zerkratzten sie ihn. Austilgen wollten ihn alle. ... Alle begehrten ihn, alle lechzten nach ihm. Besorgte Väter hoben Kinder über die Köpfe. Sie könnten zertrampelt werden und sie sollten lernen, zwei Fliegen auf einen Schlag. Nachbarn nahmen es ihnen übel, daß sie jetzt noch an Kinder dachten. Viele Mütter waren über ihre Kinder hinaus; sie ließen sie ruhig schreien, sie hörten nichts, sie hörten nur: ,Der Krüppel! 444 - „Die Todesstrafe müßte wie-
32 Das Ausgangserlebnis, das Canetti tief prägte, hat er oft geschildert, z.B. in seiner Autobiographie: Am 15. Juli 1927 waren die Mörder von Arbeitern im österreichischen Burgenland von einem Gerichtfreigesprochen worden, woraus sich eine spontane und führerlose Demonstration von Arbeitern aus allen Wiener Bezirken formierte. Am Ende brannte der Justizpalast und es gab in den Kämpfen mit der Polizei neunzig Tote. Noch ein halbes Jahrhundert danach spürte Canetti die Erregung des Tages: „Es ist das Nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe. ... Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm. ... Ich sehe mich nicht gut an diesem Tag, aber ich fühle noch die Erregung, das Vorrennen und Ausweichen, das Flüssige der Bewegung. Alles ist beherrscht durch das Wort,Feuer', dann durch dieses selbst. Ein Stoßen im Kopf. Es mag Zufall gewesen sein, daß ich keine Angriffe auf Polizisten selbst sah. Wohl aber erlebte ich, wie auf die Menge geschossen wurde und Leute fielen. Die Schüsse waren wie Peitschen44; Canetti, Die Fackel im Ohr, S. 257, 277. Feuer und Masse wurden für Canetti zu einem unauflösbaren Verbindungstrauma, denn wie die Flammen muss die Masse sich aus der zuckenden Bewegung nähren, um nicht zu verfallen. 33 Canetti, Masse, S. 16f.
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der her. Krüppel gehören ausgerottet. Alle Verbrecher seien Krüppel. Nein, alle Krüppel Verbrecher." 34 So ist es das Massenerlebnis, das jene auf Ansteckung beruhende Homogenität erzeugt, der gegenüber alles Individuelle zurücktritt und die „verdeckten Triebe zur Herrschaft gelangen". W o b e i es sich jeweils um eine Gefühlsspannung handelt, die aus einer „ M e n g e " eine „Masse" formt und das damit verbundene Machtgefühl der großen Zahl, ohne das es kein massenhaftes Wir-Erlebnis gibt. 3 5 Was i m 19. Jahrhundert als neues Phänomen entdeckt wurde und bis in unsere Zeit hinein letztlich unverarbeitet zum Schrecken gerät, sind diese Aktualmassen, deren Verschmelzungs- und Explosionskraft sozusagen eine humane ,Atomenergie 4 , darstellt (denn u m die Atomisierung der Individuen und eine Energiefreisetzung aus ihrer Abspaltung v o m ,normalen Leben 4 geht es dabei j a allemal). N u n fühlte sich der Bürger auch politisch nicht mehr als „Herr i m eigenen Haus". Elias Canetti, der zeitlebens an einer typologischen Bewältigung seines eigenen Masseerlebnisses arbeitete, hat das die „offene Masse" 3 6 genannt, die sich gegen das Zeremoniell, gegen die j e gegebene Ordnung wendet und deren Ausbruch dazu führt, dass immer neue Menschen in sie hinein gezogen werden, dass sie „sich nie gesättigt f ü h l t " 3 7 , w e i l sie alle Menschen - ausgenommen den
34
Canetti, Die Blendung, S. 318 u. 353-356. Co/m, Masse, S. 355; sowie Vleugels, Masse. 36 Die ausfuhrlichste Phänomenologie von Massenphänomen hat in neuerer Zeit der Schriftsteller Elias Canetti in einem merkwürdig spröden Buch („Masse und Macht") ausgearbeitet. Er unterschied dort die „offene" und „geschlossene" Masse, also eine schnell zerfallende Zusammenballung von Menschen und eine auf Wiederholung des Massenereignisses und -erlebnisses ausgerichtete Form. Zentral ist für ihn bei der Entstehung der „offenen Masse" das Moment der „Entladung", in welcher alle Trennungen abgeworfen sind und alle sich „gleich fühlen" (Canetti, Masse, S. 12ff.) Katalysator der Ansteckungskraft einer sich formierenden und in Bewegung geratenen Masse ist für ihn die Zerstörungssucht, oft angetrieben von einem Verfolgungsgefühl, ist der Ausbruch aus einem institutionellen oder zeremoniellem Rahmen, ist die Unkalkulierbarkeit des Ad-hoc-Ereignisses, von dem alle mitgerissen werden, denn die Masse will wachsen und sucht sich eine Richtung. Entscheidend sind dann nicht mehr rationale Kalküle, dispensiert ist sogar die Selbstbeobachtung, und es kommt zu einer Rhythmisierung des Gruppenlebens (vgl. Canetti, Masse, S. 30ff.), zur „zuckenden Masse". Diese werden dann zur „Meute" (vgl. Canetti, Masse, S. 103ff.), z.B. zur Jagdmeute, zur Kriegs- oder Klagemeute, zur Hetzmeute. 35
37 Auch bei Simmel finden sich dann die weitverbreiteten Kriterien für Massen, also die Steigerung der Vereinseitigung und Radikalisierung in einer aktuell existierenden Menge von Menschen. Hier können Suggestionen „eine außerordentlich starke nervöse Aufregung" produzieren, „die den Einzelnen oft besinnungslos mitreißt, jeden Impuls lawinenartig anschwellt und die Menge zur Beute der je leidenschaftlichsten Persönlichkeit in ihr werden läßt"; Simmel, Soziologie, S. 70.
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Feind - erfassen will. 3 8 Oder vielleicht will sie sogar den Gegner, den zu erreichen die Masse sich in Bewegung gesetzt hat, verschlingen, zumindest einbeziehen: So war es in der Französischen Revolution, als der Zug der Marktweiber den König unter dem Druck des Volkes von Versailles in die Hauptstadt Paris „heimholte". 39 Masse ist zugleich Erlösung „vor der Berührungsfurcht": „Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung ..., keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter."40
Durchgängig werden die Massen als wankelmütig und stimmungsabhängig geschildert, nur durch Emotionen vorangetrieben und durch die gemeinsame Aktion, schnell ablenkbar, abzuwiegeln, aber auch aufzustacheln. Kommt es zur Panik, zerfällt eine Masse ebenso wie nach dem Erreichen eines Ziels, oder besser: dem Abebben der Erregung. Gustav Le Bon vermutete insgesamt eine Zunahme der Triebhaftigkeit und interpretierte die Massenereignisse nicht nur situationsanalytisch, sondern geschichtsphilosophisch. Obwohl er zugeben musste, dass eine Steigerung der „Sittlichkeit" in einer Massenaktion durchaus vorkommen könne - etwa drang 1848 eine „heulende, wimmelnde, elende Volksmasse" in die Tuilerien ein, ohne zu plündern 41 - , sah er in dem „Gesetz der seelischen Einheit der Massen" 42 insgesamt doch einen unaufhaltsamen Niedergang der französischen „Rasse" und Kultur, ja (wenn man das antike Rom zum Maßstab nehme) eine umfassende, tödliche Degeneration hin zur demokratischen Gesellschaft: „Der Pöbel herrscht und die Barbaren dringen vor." 4 3
38
Vgl. Canetti, Masse, S. 35. Vgl. dazu auch Burke, Betrachtungen, S. 152ff. 40 Canetti, Masse, S. 12. Eine zentrale Metapher der Massenphänomenologie ist deswegen die „Dichte" oder soziale Verdichtung. Nicht zufallig ist dies auch eine Grundkategorie der Soziologie Emile Dürkheims, der darin den eigentlichen dynamischen Faktor in der Veränderung der Gesellschaften sah. Die moderne, zur „Anomie" tendierende Gesellschaft ist eben auch im besonderen Maße räumlich und kommunikativ verdichtet. Überall, auf „den Straßen, in den Fabriken, in den Parlamentsversammlungen oder in den Kasernen, selbst in den Ferienorten sehen wir nichts als Massen, die sich in Bewegung oder in Ruhe befinden"; Moscovici, Zeitalter, S. 37 u. 39. 41 Le Bon, Psychologie, S. 41 ff. 42 Le Bon, Psychologie, S. lOff. 43 Le Bon, Psychologie, S. 182. Das 19. Jahrhundert charakterisiert Moscovici (Zeitalter, S. 36) als „ein Jahrhundert der Explosion des gewalttätigen und knetbaren mobile vulgus" und weist darauf hin, dass man den „kollektiven Taumel, der der Revolution von 1848 folgte", auch in den Beschreibungen Flauberts finde - vgl. vor allem Flaubert, L'Education sentimentale. 39
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In alledem geht es zentral um das Schwinden der „bewußten Persönlichkeit" 4 4 , um die Auflösung des personalen Verantwortungsgefühls 45, um eine Entfesselung der Triebe durch das in der Masse erzeugte Machtgefühl und die spezifisch damit verbundene „Namenlosigkeit" jedes ihrer Mitglieder. Man denke an die Empörung, die es auslöst, wenn Polizeiphotographen eine Demonstration ,physiognomisch' in Demonstranten zerlegt. Mag mancher die konkreten Folgen, etwa die Archivierung bei Geheimdiensten, fürchten, so ist das eigentlich Aufstachelnde daran, dass symbolisch die Einheit zerstört und der kollektive Gesamtzusammenhang reduziert wird auf eine durch Rechtstatbestände definierbare Zurechnungs-Individualität - und das schon während der Aktion. Wichtig für die weitere Klassifikation unterschiedlicher Masseneffekte sind auch die Massen-Bewegungen, etwa die Massenmobilisierungen im 20. Jahrhundert. Marcel Mauss beschrieb, wie die Einzelnen zu Teilen einer Maschine würden, zu „Speichen eines Rades, dessen magischer, tanzender und singender Rundlauf das Ideale ... wäre ... Seine rhythmische, gleichmäßige und kontinuierliche Bewegung ist der unmittelbare Ausdruck eines Geisteszustandes, in dem das Bewußtsein jedes Einzelnen von einem einzigen Gefühl, einer einzigen halluzinatorischen Idee, nämlich der des gemeinsamen Ziels übermannt wird. Alle Leiber haben dieselben Schwingungen, alle Gesichter tragen dieselbe Maske [!] und alle Stimmen sind ein einziger Schrei 44.46
Auch Canetti beschrieb wiederholt die rhythmische Bewegung, die Schrift der Fußspuren, die Überwältigung der Körper durch Töne und Gesang - dann auch die Entladung nach erzwungener Dichte, bei öffentlichen Hinrichtungen etwa der befreiende Aufschrei beim Anblick des abgetrennten Hauptes.47 Wir kennen am Ende einer Musik- oder Theateraufführung das Händeklatschen als befreiende Entlastung des Publikums vom Kontemplationszwang. Es ist dies eine kultivierte Kanalisierung und Sublimierung des Masseneffekts. All das hat Le Bon maßstabbildend beschrieben, vorausweisend durchaus auch auf das , Jahrhundert der Ideologien4 (welche er „tyrannische und herri-
44
Le Bon, Psychologie, S. lOff. „Die Masse ... ist ungegliedert, ihrer selbst unbewußt, einförmig und quantitativ, ohne Art und ohne Überlieferung, bodenlos und leer. Sie ist Gegenstand der Propaganda und Suggestion, ohne Verantwortung, lebt auf tiefstem Bewußtseinsniveau.44 Davon sei das „in Ordnungen gegliederte44 Volk mit einer bewussten „Lebensart und Denkungsweise und Überlieferung" als etwas „Substantielles und Qualitatives44 zu unterscheiden, so dass der Einzelne aus dem Volk „einen persönlichen Charakter [besitzt], auch durch die Kraft des Volkes, von der er getragen ist"; Jaspers, Ursprung und Ziel, S. 164. 46 Zit. in: Moscovici, Zeitalter, S. 40. 47 Canetti, Masse, S. 30ff. 45
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sehe" Glaubenslehren nannte48), auf das 20. Jahrhundert also, in dem alles realisiert wurde, was das 19. zumindest im Ansatz schon gedacht hatte. Le Bon sah aus den Massen die Ersetzung der Vernunft durch Tatbereitschaft aufsteigen, bei gleichzeitiger Zunahme des Gefühls, dass die eigene „Kraft ins Ungeheuere" wachse. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren alle sich des Sieges der Massen sicher, während rückblickend - wie besonders Moscovici gezeigt hat - vor allem die Führer in Erinnerung geblieben sind, von Lenin und Stalin, Mussolini und Hitler bis zu Mao Tse-tung, Nehm, Tito, dem (auch konsumistisch) sakralisierten Che Guevara und - dem nun etwas vereinsamten - Fidel Castro.
2. Die Suche nach dem Massengrund (S. Freud) Le Bon hatte in der Massenanalyse einen entscheidenden Schritt getan. Zuvor waren die Massen wesentlich kriminologisch gedeutet und behandelt worden. Etwa leitete Cesare Lombroso sie in seiner Anthropologie des Kriminellen aus deren Neigung zum Verbrechen ab und sein italienischer Landsmann Scipio Sighele arbeitete diese Theorie weiter aus und schuf den Terminus der „kriminellen Massen", womit er vor allem jene sozialen Bewegungen meinte, welche den Rechtsbruch zum Kampfmittel machten, also Anarchisten und radikale Sozialisten, streikende Arbeiter und die Teilnehmer nicht genehmigter Versammlungen. Daraus schlussfolgerte Moscovici: „Die Massen finden also über den Umweg der Kriminalität Einlaß in die Wissenschaft." 49 Der Geniestreich Le Bons bestand darin, dieses Konzept aufzugeben und den Mechanismus der Masse unanhängig von ihrer Zusammensetzung zu bestimmen (selbst wenn sie aus Aristokraten oder Philosophen bestünde, folgte sie den gleichen Gesetzmäßigkeiten). Insofern haben die Massen notwendig „nur Kraft zur Zerstörung", obwohl sie zu Edelmut und Enthusiasmus, zu Heldentum und Altruismus gebracht werden könnten - es gibt also keineswegs nur die kriminelle, sondern auch die tugendhafte Masse.50 Einen weiteren Schritt im Verständnis der Massenphänomene als EntIndividualisierung versuchte Sigmund Freud in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse zu tun. 51 Alle Merkmale, die Le Bon beschrieben hatte, übernahm er, vor allem aber dessen Hervorhebung des Führer-Syndroms. Auch Gerhard Colm sah im „erlösenden Wort" des Anführers den Grund für die
48
Le Bon, Psychologie, S. 4. Moscovici, Zeitalter, S. 101; vgl. auch Lombroso, Der Verbrecher; sowie Sighele, Psychologie. 50 Vgl. Moscovici, Zeitalter, S. lOOff, bes. 102f. 51 Freud, Massenpsychologie. 49
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Ansteckungsfähigkeit, aber auch den Schlüssel für eine Einfühlung in das „Massenerlebnis". 52 Freud zeigte, wie ein Antlitz aus der Masse auftaucht oder sich ihr formierend entgegenstellt. Es wird zur Projektionsfläche der massenhaften Gesichtslosigkeit, zur Physiognomie des Führers. Nebenbei gesagt, enthält die Masse Gesichter, die jedoch unsichtbar und irrelevant bleiben, solange sie nicht sozusagen jheräusgezoomt4 werden. Das erste Hitlerphoto Heinrich Hoffmanns, des späteren Leibphotographen des „Führers", war 1914 in einer Massenszene anlässlich der Kriegserklärung auf dem Münchner Odeonsplatz aufgenommen worden. Man kennt die Photomontage, in welcher der junge, hutschwenkende Mann aus Braunau, die allgemeine Begeisterung teilend, in Vergrößerung nochmals auf das Bild appliziert worden ist. Claudia Schmölders stellt dieses Photo deshalb an den Anfang ihres außerordentlich material- und gedankenreichen Buches über Hitlers Gesicht 53, in welchem sie die Inszenierung dieser der Masse enthobenen Physiognomie („ein Antlitz - vom Kampf geformt", wie es 1936 im Illustrierten Beobachter hieß) nachzeichnet. Aber der „Herr Hitler" war damals eben noch nicht die Projektionsfigur, sondern ein beliebiger, nebensächlicher Teilnehmer. Die entscheidende Leistung Freuds lag nun darin, die Suggestionshypothese von Le Bon und Gabriel Tarde innerpsychisch analysiert zu haben. Es ging ihm nicht nur darum, zu verstehen, warum Menschen bereit sein mögen, ihre IchIdeale und ihre Individualität mit einem größeren Kollektiv zu verschmelzen, auch nicht nur darum, dass ihnen ihre Eigenheit und ihr „Gesicht" genommen werden. Vielmehr wollte er verstehen, warum sie es freudig ablegen. Denn die Masse verschlingt das Individuum nicht gegen dessen Willen, wenn oft vielleicht auch in höherem Maße, als es dies zulassen möchte. Schon Le Bon hatte die Masse dem hypnotisierten Menschen angenähert, der seine Persönlichkeit, seinen Willen, seine Selbstkontrolle aufgibt, sich hingibt an die zauberische Suggestivkraft des Hypnotiseurs - vielleicht um zu sich selbst zu kommen, oft mit dem Bewusstsein, es handele sich um ein, wenn auch prekäres, Spiel. Freuds psychoanalytischer Begriff für dieses Phänomen hieß seit seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1916 „Identifizierung" 54 ; das bezeichnet die früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person. Intensivierte Formen sind dann Hypnose und besonders die Verliebtheit. Gerade letztere führt - wie die Massensuggestion - zur Idealisierung des geliebten „Objekts" bis hin zu einer Bereitschaft der Selbstentwertung oder gar Selbstaufopferung. Dadurch können auch Normvorstellungen ins Schwimmen kommen oder wie Freud etwas klischeehaft formulierte: „In der Liebesverblen-
52 53 54
Vgl. Colm, Masse, S. 357. Schmölders, Hitlers Gesicht. Freud, Massenpsychologie, S. 44ff.
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dung wird man reuelos zum Verbrecher." 55 Jedenfalls wird das begehrte Objekt an die Stelle des eigenen Ich-Ideals gesetzt. Eine Masse entsteht nun aus einer Gleichgerichtetheit dieser projektiven Orientierungen. Ihre anti-individuelle „Gleichheit" beruht auf einem Prinzip, das für einen Augenblick lang funktionieren kann und das Freud kulturpsychologisch zur Erklärung aller Egalitätstendenzen heranziehen wollte. Wie die blutbefleckte Brüderhorde am Anfang aller Kultur, verzichtet man auf Sexualpartner, Güter oder Rangerhöhungen immer noch, damit auch die anderen all das nicht legitim beanspruchen können. Zumindest rhetorisch gab Freud zu, die Rolle eines Führers zu stark betont zu haben, rechtfertigte dies aber durch sein kulturtheoretisches Erklärungsmodell. Nach dem „Vatermord" hätten die Brüder sich neue „Übermenschen" geschaffen, idealisierte Personifizierungen, wie die des monotheistischen Gottes. Und das wiederhole sich im Augenblick des Massenerlebnisses im Bezug auf einen Führer. Anzumerken ist, dass das Führer-Masse-Verhältnis oft mit einem Bild umschrieben worden ist, das auf die Schönheit des Körpers wie des Gesichtes besonderen Wert legen müsste, zumeist jedoch in einer merkwürdig de-personalisierten Form verwendet wird: Zum beliebten Stereotyp wurde nämlich, dass die Masse „weiblich" sei, nämlich „unbeständig, leichtgläubig, launenhaft". Karen Kenkel referiert Friedrich Rückerts Verdacht gegen die Frauen, denen alles, sogar das Lesen zum „extrem emotionalen, beinahe sinnlichem Verlangen" werde, das aller rationalen Kontrolle und reflektierenden Disziplin entgegenstehe - das sei eben typisch weiblich. 56 Schon Napoleon brüstete sich großtuerisch, „nur eine Mätresse zu lieben, nämlich Frankreich. Mit ihr schlafe ich". 57 Und der Schriftsteller Emil Ludwig brauchte Le Bon nur zu wiederholen: „Die Masse liebt die starken Männer. Die Masse ist eine Frau." 58 Das klingt auch bei Freud an, mehr noch aber andere Triebmotive, denn das Faszinosum der unheimlichen Massenerregung sei auch darin zu suchen, dass sie ein Ventil schaffe für die Triebunterdrückung. Das wird institutionell in den Verkehrungsriten unterschiedlichster Kulturen gesichert, denken wir an die römischen Saturnalien oder an den Karneval, bei dem die »persönliche Physiognomie4 durch eine zusätzliche Maske verschleiert werden muss. Die „Gesichtslosigkeit" der Masse bezieht sich nicht nur auf die Individuen, die sie bilden, und die ihre Individualität einschmelzen in die große gemeinsame Bewegung, auch nicht nur auf das projizierte Antlitz der Macht und der
55
Freud, Massenpsychologie, S. 52. Vgl Kenkel, Gesicht, S. 213. 57 Moscovici, Zeitalter, S. 145. 58 Vgl. Moscovici, Zeitalter, S. 144ff., wo er auch Emil Ludwig und Ernst Bloch zitiert, welcher über die Ausstrahlung Hitlers auf Frauen reflektierte. 56
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(Freud hätte gesagt: verliebten) Identifikation mit einem „Führer". Auch die Feinde der Masse müssen ihre Gesichter verlieren. In Massenerhebungen, besonders in bilderstürmerischen Aktionen, wird das deutlich, wenn etwa die gestürzten „Götzenbilder" - seien es die Portalskulpturen gotischer Kathedralen oder die Lenin-, Dzerzinski- und Thälmann-Denkmale nach 1989 - vor allem ihr Gesicht verlieren: Die Köpfe werden abgehauen, die Nasen zerstört, die Augen ausgestochen oder auf andere Weise „geblendet" und bei Gemälden aufgeschlitzt oder zerkratzt. Die magische Stellvertretung des Bildes ist erst gebrochen, wenn es seine physiognomische Macht verloren hat. 59 In den Gegenüberstellungen der Masse und des durch sie verschlungenen Individuums werden durchgängig Vorstellungen des Reaktiven auf der einen Seite und solche der Handlung mit Willens- und Entschlusskraft auf der anderen Seite hervorgerufen. Die Massen, das Volk, der Pöbel werden reaktiv zu einer Einheit, die sofort wieder zerfallen kann. Panik mag einen Augenblick lang anstachelnd wirken, die zusammenschweißende Angst steigern. Dann aber zwingt der physische Selbsterhaltungstrieb zu Eigenrettung und instinktiver Fluchtreaktion, zur Zentrifiigalität des Massenhaufens, zu einem sozusagen zweiten Seelenverlust, der vielleicht in ihr abschließendes Unglück Stürzenden.
IV. Das „Ende der Persönlichkeit" Der Masse-Diskurs, wie er zuerst in Frankreich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entfaltet worden ist, hing immer mit einem Paralleldiskurs zusammen, der den Sinn des ersteren mitbegründete, jedenfalls für dessen Verständnis notwendig ist: Massentheoreme handeln implizit immer vom „Ende der Persönlichkeit', von der Angst vor dem Verlust großer, d.h. handlungsmächtiger Subjektivität. Darum ging es untergründig bei Oswald Spengler, das sah auch Max Weber heraufkommen, ebenso Georg Simmel (diese beiden entschiedenen Verteidiger der Moderne), das war es, was Arnold Gehlen betrauerte, ja sogar noch deren Opponenten, nämlich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Aber auch Jean Baudrillard oder Jean-Francois Lyotard - also Autoren der sogenannten „Postmoderne" - gehen von der Durchstreichung des Individuums durch die Kraftlinien des Systems und durch die medialen Überbietungen jeder individuellen Absicht und Entscheidung aus. Niklas Luhmann wäre zu nennen und Michel Foucault. In allen diesen Fällen geht es um das „Verschwinden des Menschen". Was dann kommt, heißt Einpassung - oder, wie Adorno und Gehlen einander einvernehmlich versicherten - Anpassung als gängiger
59 Vgl. die Ausstellung „BILDERSTURM. Wahnsinn oder Gottes Wille?" im Bernischen Historischen Museum vom 2.11.2000-16.4.2001 und dazu: Blickle et al. (Hrsg.), Macht und Ohnmacht
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Habitus in der „verwalteten Welt" 6 0 ; „Außengeleitetheit" nannte es David Riesw o «
6 1
man. Dieses viel beredete Verschwinden der „Persönlichkeit" zeigt sich sogar in einem Medium besonders individuierter Darstellung, nämlich im Porträt, das die Einzelfigur auf neue Weise im Typischen aufgehen lassen kann. Und dies, obwohl einzelne Personen und deren Konterfei doch das Gegenteil der Masse sind, nicht nur „große Männer" (und Frauen), die in die Ahnengalerien der Geschichte eingegangen sind, sondern alle, die ein Antlitz haben - etwa in einem Porträt (sei es gemalt, gemeißelt oder photographiert). Das Porträt ist geradezu definiert durch die (mehr oder weniger gelungene) Verschmelzung von Typisierung und der Subjektivität der Dargestellten. Zunehmend wurde es auch psychologisch, sollte also seelische oder habituelle Tiefenschichten festhalten, mehr sein als bloßes Oberflächenabbild. Zwar haben die Bildmedien und Stilformen der Darstellung sich gewandelt, aber das Porträt blieb, spätestens seit der Renaissance, ein Bestandteil der erhöhenden Präsenz einer Person im öffentlichen und (nicht immer leicht abgrenzbaren) familialen Raum. Der Kunsthistoriker Wolfgang Brückle hat gezeigt, dass in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Porträtphotographie und -malerei an ein Ende gekommen seien, abgelöst durch eine neue Physiognomik des Typischen. 62 Übrigens ist der Sozialistische Realismus durchaus mit dem Programm aufgetreten, den Proletariern Gesichter zu geben, indem sie darstellungsfähig wurden - sogar in der Historie als der höchstrangigsten der Künste. Das war auch eines der Motive in der Ablehnung der westlichen Abstraktion im Formalismusstreit, 63 durch welche „Eigenschaften", also auch die konkrete Physiognomie der Ausbeuter wie der Werktätigen, aufgelöst würden. 64 Typenbildung war nun aber auch ein besonderes Kennzeichen der Moderne, nicht nur bei Max Weber. Die rationalisierende Wissenschaft reagierte auf die strukturelle Massenhaftigkeit, in dem sie „Übersichtlichkeit" zu schaffen suchte - Gestalthaftes und Strukturelles trat an die Stelle des Individuellen. Gerade auch in den großen Projekten photographisch-physiognomischer „Gesamtdar-
60 Vgl. z.B. Adorno, Aberglaube, S. 172. Auch Arnold Gehlen verwendete den Ausdruck „Verwaltete Welt", den er wahrscheinlich A. A. Cournot entlehnte, seit 1952; wiederholt taucht der Begriff auch in Vortragstiteln Gehlens auf; vgl. Gehlen, Gesamtausgabe, S. 444f., sowie Anm. 20.2 (S. 468f.). 61 Vgl. Riesman/Denney/Glazer, Masse, bes. S. 137ff. 62 Vgl. Brückle, Portrait, wo er besonders auf August Sanders Mappenwerk Antlitz der Zeit. 101 Lichtbildnisse wesentlicher Männer und Frauen aus deutscher Gegenwart und jüngster Vergangenheit (Königstein/Leipzig 1930) einging, der vor allem durch Walter Benjamins Besprechung auch in sozialwissenschaftlichen Kreisen bekannt wurde. 63 Vgl. Rehberg, Abstraktion. 64 Vgl. Damus, Malerei der DDR, S. 115.
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Stellungen" mit ihren nationalen, ständischen oder regionalen Orientierungen sollte „mit Hilfe der Physiognomie das sprechende Bild einer Generation" erzeugt werden. 65 Es geht - wie das schon Alfred Döblin im Vorwort zu August Sanders fragmentarisch gebliebenem Mappenwerk, aber auch Ernst Jünger ausgedrückt haben - um einen neuen „Phänotypus" 66 (man denke auch an die entsprechende Begleitrhetorik Gottfried Benns), eben um Typik als Seinszugang und Seinszustand. Und es war dies eine Systematisierung des Blicks in unterschiedlichsten politischen Lagern, also keineswegs nur ein Vorgriff auf die ausmerzende Typik des nationalsozialistischen Rassismus. Allerdings ist dies nur eine Seite der Geschichte des Porträts, das immer etwas „Typisches" zeigen sollte, dies aber notwendig nur in einer je dargestellten Person spiegeln kann. Nicht nur in den alten Ständeordnungen, auch im modernen Verständnis flexibler sozialer Rollen ist die abstrakte Entgegensetzung von „Persönlichem" und „Typischem" immer falsch, verweist das Besondere der Biographie, des Charakters, der habituellen Prägungen und der physiognomischen Repräsentanz ja gerade immer auch auf ständische Lagen, Klassenzugehörigkeiten, Regionalbezüge und andere Rollen- und Zeitkontexte. Jede Person ist ein Kreuzungspunkt all dieser Einflusslinien. Und eben das zeigt sich im Porträt. Wenn Typus und Individualität, wenn sozialer Status und persönliche Intimität auch immer schon den Spannungshintergrund für Porträts lieferten, so gibt es selbstverständlich auch die Möglichkeiten der Schematisierung, der stereotypisierenden Heraushebung des Typischen als dem eigentlichen Bildgegenstand. Dann wird vielleicht etwas von der Massenhaftigkeit sichtbar, zumindest vom Gruppenbezug, in dem Menschen leben und auch definiert werden können.
V. Die unsichtbare Masse Die Panoramen des Geschichts- und Subjektverlustes führen zurück zur strukturellen Masse, zur Massenhaftigkeit der Massen-Gesellschaften. Massenhaftigkeit als Epochenphänomen hat die Sozialtheoretiker und Zeitdeuter seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fasziniert. Überall war von „Rationalisierung" und von „Mechanisierung" 67 die Rede, der kulturindustriellen und konsumistischen Massenverführung und der Massenhaftigkeit des Daseins und der „Daseinsvorsorge". 68 Für Max Weber begründete das die pessimistische Vi65
Vgl. Lendvai-Dircksen, Das deutsche Volksgesicht und Lerski, Köpfe des Alltags. Vgl. Brückte, Portrait, S. 135f. 67 Vgl. Rathenau, Kritik und Spengler, Untergang des Abendlandes, z.B. Bd. II, S. 619ff. sowie Spengler, Mensch, bes. S. 60-89. 68 Jaspers, geistige Situation, S. 25ff. 66
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sion, dass die Menschen der Zukunft entindividualisiert wie die Fellachen im Alten Ägypten, wenn auch komfortabel in einem „Gehäuse der Hörigkeit" zu leben gezwungen sein würden. 69 Immer sieht man in solchen Bildern auch Nietzsches „letzten Menschen" vor sich. 70 Das wurde zum Signum struktureller Massenhaftigkeit nach den Klassenkampf-Parolen, denn die „Bevölkerungsmassen können nicht leben, ohne den riesigen Leistungsapparat, in dem sie als Rädchen mitarbeiten, um ihr Dasein zu ermöglichen". 71 Die „Herrschaft des Apparats" war ein weitverbreitetes Motiv, das 1945 noch bei Leopold Wiese zur bequemen Entschuldigung für den Nationalsozialismus herhalten musste72; auf vergleichbare Motive Adornos und Gehlens habe ich hingewiesen. Der diktatorische Modus moderner Massenbeherrschung hat ebenfalls ein bürokratisches Fundament, unterscheidet sich aber durch gezielt-organisatorische Gleichschaltung. Die politische Entsprechung der Angst vor dem Massenzeitalter und der nie fehlenden Verachtung für die - wie Nietzsche formulierte - „Viel-zu- Vielen" 73 , deren bloße Zahl schon ein Verbrechen sei, findet sich in Friedrich Meineckes Betrachtungen von 1940, der von der Goethe-Zeit bis zum „Hitlermenschentum" eine „Gleichgewichtsstörung", einen ,jähen Absturz" der deutschen Geschichte sah. Hatte es einst einen Machiavellismus der Eliten gegeben, eine sichtbare Minderheiten-Verfügung über die ragione di stato, so gebe es nun einen „Mz.s5e«machiavellismus", der zur ethischen Rechfertigung eines „rüden Volksegoismus" führe. So kulminiere der „Machtrausch" des deutschen Bürgertums in der Kaiserzeit letztlich in der „Bestialität" und in den „Sümpfen der Hitlerzeit". 74 Nietzsche erschien (wie Hegel) auch einem Autor als Prophet der neuen Wirklichkeit des Massenmenschen, der sich von den psychologischen Massentheorien abheben wollte, um eine Diagnose der Moderne zu geben. Es war dies José Ortega y Gasset, der den Aufstand der Massen nicht in den Ansteckungsphänomenen großer Menschenmengen sah, sondern in der Realisierung einer technisch und gesellschaftlich vollkommenen Welt. Es sei die „ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum seiner Person", die den „Durchschnittsmenschen" definiere. Dann erscheint die Masse nicht mehr als dynamische Bedrohung, sondern als träge Ausformung der „Wohlstandsapathie".75
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Weber, M., Parlament und Regierung, S. 464. Vgl. Nietzsche, Zarathustra, hier: „Zarathustra's Vorrede", bes. S. 19ff. Nietzsche, Zarathustra., S. 26. Vgl. von Wiese, Situation, bes. S. 35ff.; vgl. dazu Rehberg, Stunde Null, S. 33f. Nietzsche, Zarathustra, hier: „Von den Predigern des Todes", S. 55ff., hier: S. 55. Vgl. Meinecke, bes. S. 79-84. Ortegay Gasset, Aufstand, bes. S. 60-68.
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In den entwickelten Industriegesellschaften vermindern sich die Möglichkeitsspielräume durch elektronische Kommunikations- und Verwaltungssysteme, die kontrollintensiver und flexibler 76 in einem sind. Zugleich aber scheinen Kontingenzen und Realitätsvariationen (nicht nur informationstechnisch) als vertausendfacht - bis hin zur Virtualität als neuer Realitätsform. 77 Heute wird nicht nur das Gesicht des Einzelnen in der Masse verwischt und ausgelöscht. Vielmehr hat diese selbst ihre, durch situative Zusammenballung erzeugte Gestalt verloren. Wir leben in einer Gesellschaft der Massenphänomene, der Massenerlebnisse und unabschließbaren Informationsflüsse. Und gleichwohl gibt es in den hochindustrialisierten Ländern fast keine Aktualmassen mehr (die in Fußballstadien erzeugten Menschenansammlungen samt deren organisierter Hysterisierung einmal ausgenommen). Was Hooligans heute entfesseln, ist uns zumeist nur aus der Geschichte bekannt, und für die Jetztzeit sind wir auf Fernsehberichte aus „fernen" Ländern angewiesen, wenn wir wirkliche Massenphänomene sehen wollen. Gehörten zur Unberechenbarkeit der Akutalmassen Auslöseereignisse wie Proteste und der Zusammenstoß mit Ordnungsmächten, beispielsweise auch gefährliche Trauerzüge und ekstatische Beweinungen, so müssen wir allzuoft diese entgrenzenden Rituale in den fast täglichen Berichten über Palästina sehen. An dieser Verschiebung der Massenexistenz ändern in den befriedeten, reichen Gesellschaften die wenigen angemeldeten und gutbewachten Demonstrationen auch nichts mehr. Und die stillen Solidaritätszusammenkünfte mit Lichterketten und Blumenniederlegungen mögen zwar auf Ansteckungseffekten und Suggestionen immer noch beruhen. Aber die klassischen Kriterien der Aktualmasse dürfte man kaum dabei finden. Und das sind ja auch zumeist nur kleine Gruppen. Die Massenhaftigkeit findet in einem anderen Modus statt. Dazu einige Beobachtungen: Wenn Millionen denselben Krimi lesen und im geschützten Voyeurismus vor dem Fernsehgerät dieselbe Live-Show oder etwa die künstlich erzeugten Lebensweltkrisen im braven Big Brother-Container anschauen, so ist die mediale Gleichschaltung der Blicke gigantisch. Erlebt wird 76 Vgl. zum „flexiblen Normalismus44 als einer die Normativität zunehmend substituierenden Form der Handlungskoordination Link, Versuch, S. 75-102 und zu dem Einwand, dass auch die Normalisierung sekundär normiert und ethisiert werden müsse, um wirksam zu sein: Rehberg, Normalitätsfiktion, bes. S. 177ff. Eine andere Facette neuester Flexibilisierungstendenzen wurde kritisch untersucht in: Sennett, Der flexible Mensch. 77 Arnold Gehlen sprach schon 1957 von „Erfahrung zweiter Hand44 als der entscheidenden und notwendig medial vermittelten „Wissens-Quelle44 der Menschen im industriellen Zeitalter; vgl. Gehlen, Seele, S. 51 ff. - Ähnlich, aber verächtlicher formulierte Ortega y Gasset, dass der Massenmensch nicht dumm sei, „eher gescheiter und intelligenter als früher, aber von Gemeinsätzen, Vorurteilen und Gedankenfetzen abhängig und von ,naiver Unverfrorenheit' 44 (Ortega y Gasset, Aufstand, S. 74). Dieser Gedanke findet sich später auch in der postmodernen Theorie der „Simulakren44; vgl. Baudrillard, Tausch, bes. Kap. II: Die Ordnung der Simulakren, S. 77-130.
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dies aber - man erinnere sich an Riesmans Formulierung 78 - in „einsamer", allenfalls in Kleingmppen-/>ara//e/zYä/. Das einzige Massenerlebnis mit Stockungen und Entladungen, mit innerem Bewegungsdrang und einer gewissen Unabsehbarkeit ist das allereinsamste: Die zumeist begleitungslosen Autofahrer in Staus und „stockendem" Verkehr lassen noch etwas von der Zusammenballung von Menschenmassen ahnen. Aber es handelt sich ja nur noch um „Blechlawinen", um eine zwanghafte Verdichtung, in der die einzelnen sich selbst als individuelle Akteure mit einem je eigenen rationalen Kalkül und wirklichen Handlungsoptionen erleben, also gerade nicht in der „Masse". Tourismus wäre ein anderes Beispiel. Diese Form der Gleichschaltungen durch Gleichgerichtetheit bedürfen der sichtbaren Masse also nicht mehr. Das sahen schon die Autoren der Frankfurter Schule, welche die Gründe für die von ihnen akzentuierte Manipulation der Massen ja auch weniger in einer Massenkultur als vielmehr in der Kulturindustrie, d.h. in einer kommerziellen Interessen dienenden kulturellen Maschinerie, sahen. Deshalb auch ging es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bei der Diskussion von massenpsychologischen Autoren - etwa Le Bon oder Freud immer um die gesellschaftlich produzierte Ich-Schwäche und nicht um die Masse und deren scheinbare Irrationalität. Das Entscheidende für sie war die Massen-Identifikation mit einem wirklichen oder imaginären Führer (beziehungsweise Aggressor): „Nicht die Massen produzieren das Grauen, unter denen heute die Welt steht, sondern alles und alle, welche ihrer sich bedienen, indem sie sie erst zu Massen machen."
Das allerdings hatte auch schon Le Bon gesehen, der in der Herrschaft der Massen (wie übrigens auch Robert Michels 79 ) die „Herrschaft der Komitees, d.h. der Leiter" sah 80 , so dass die Massen „gelehrige Instrumente in den Händen von Usurpatoren, von Diktatoren" würden 81 ; und dies war ja auch das zentrale Thema von Freud. Aus der Perspektive Kritischer Theorie bedeutet das: „Darum ist es verblendet, der angeblich verblendeten Masse Vorwürfe zu machen oder der Fiktion ihrer verderblichen Herrschaft eine Pflege der sogenannten Persönlichkeit entgegenzusetzen, die deren eigenen Begriff Lügen straft."
78
Vgl. Riesman/Denney/Glazer, Masse. Vgl. Michels, Soziologie des Parteiwesens, wo er die These von der Selbstentmachtung der Massen gegenüber dem von ihnen mit uneingeschränkter Macht ausgestatteten Diktator darstellt - das ist das Phänomen des „Bonapartismus" (vgl. bes. S. 208ff.). 80 Zit. in: Institut für Sozialforschung, Exkurse, S. 76. 81 Vgl. Serge Tschakhotine („Le viol de la foule par la propagande politique"), zit. in: Institut für Sozialforschung, Exkurse, S. 76. 79
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So erst könne die „dämonische Gewalt" gebrochen werden, wenn man an die Massen und ihren Sog nicht einfach mehr glaube.82 Der Formenwandel der Massen, die nun auch noch ihre Gesichtslosigkeit verloren haben, die aufgelöst erscheinen in eine bloße atomisierte Gleichzeitigkeit, wird besonders deutlich an der Massenarbeitslosigkeit. Bedrohlich bestimmt sie die Wahrnehmung auch noch derer, die in ,Arbeit und Brot stehen', erscheint sie als latentes Kollektivschicksal, das jedoch in die Vereinzelung führt. Seit Hegels berühmter - und von Marx nur weiter ausgeführter - Feststellung hat sich daran nichts geändert, dass in der bürgerlichen Gesellschaft nämlich das „Gefühl ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre" nach wie vor entscheidend „durch Arbeit (durch Gelegenheit dazu) vermittelt" werde. Daran kann keine sozialpolitische Moderierung und selbst die Sicherung der „Subsistenz der Bedürftigen" etwas ändern, weshalb diese Exklusion aus der auf Arbeit gegründeten Gesellschaft „sogleich die Form eines Unrechts" annähme.83 Zwar sind die Arbeitslosen, selbst wenn deren Zahl heute in Deutschland derjenigen, die Hitlers Aufstieg zur Macht 1933 ermöglicht haben soll, bedrohlich nahe kommt, nirgends zu sehen - wenigstens nicht als Masse, nicht einmal als Menge derer, die am Arbeitsamt zum „Stempeln" anstehen müssten. Aber deren diskursive Präsenz ist allgegenwärtig, etwa in den Beschwörungsformeln der Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder, die mit unterschiedlich dynamischer Geste, aber mit vergleichbarer Naivität die Halbierung der Arbeitslosenzahlen zum Prüfstein ihres Regierungshandelns zu machen versprachen. Und die allgegenwärtige Suggestion, dass die Zurückhaltung der Gewerkschaften in TarifVerhandlungen, dass der gesetzliche Abbau von Arbeitnehmerrechten und schließlich der als „Reformen" propagierte Umbau der Arbeitslosenverwaltung zu „mehr Beschäftigung" führe, verweist auf die Realität der keineswegs abnehmenden Arbeitslosigkeit, deren Massenhaftigkeit statistisch präsent ist, nicht jedoch lebensweltlich. Deshalb auch ist die Formierung einer Arbeitslosenbewegung unwahrscheinlich oder - wie Pierre Bourdieu in einer Rede anlässlich der punktuellen Selbstorganisation französischer Arbeitsloser im Januar 1998, die beispielsweise die Ecole Normale Supérieure besetzt hatten, es ausdrückte - „ein gesellschaftliches Wunder". Die denkbare Aktualmasse wäre unter diesen Bedingungen übrigens nicht mehr die Vernichtung personaler Identität, das Verschlingen der Selbstkontrolle, die Delegation der Persönlichkeit an das gleichsam hypnotisierte Ganze. Vielmehr könnte die Eigenwürde gerade in ihr wieder eine Grundlage finden, denn die „wichtigste Errungenschaft dieser Bewegung", so formulierte Bourdieu, „ist die Bewegung 82
Institut für Sozialforschung, Exkurse, Kap. V, Masse (S. 70-82), hier: S. 78. Vgl. Hegel, Grundlinien, S. 389f. (§§ 244f.), wo es weiter heißt: „es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist ..., dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern." 83
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selbst, ihre Existenz als solche: sie entreißt die Arbeitslosen und mit ihnen die von Tag zu Tag zunehmende Zahl der prekär Beschäftigten der Unsichtbarkeit, der Isolation, dem Schweigen, kurz: dem Nichts". 84 Die Entstehung der Massen im Industrialismus war mit dessen Produktivität ebenso verbunden wie mit einem neuen Typus der Krise. Schon damals prägte die Zusammenballung der Menschen „das Gesicht" der neuen, im 19. Jahrhundert sprunghaft sich erweiternden Städte, wurden Massenhaftigkeit und Beschleunigung zu Ausdrucksformen der Moderne. Davon konnte sich die gesteigerte Individualität zugleich abheben (wie Georg Simmel dies meisterhaft beschrieben hat 85 ). Die Chancen zur „Individualisierung" sind heute enorm erweitert und die Verdichtung des menschlichen Zusammenlebens gleichwohl zur Selbstverständlichkeit geworden. Dies aber ist mit einem Gestaltwandel des Massenlebens verbunden, indem Allgegenwart und Unsichtbarkeit einander korrespondieren.
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84 85
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Der Hypertext - kultursoziologisch betrachtet Arnold Zingerle
I. Einleitung: von Castells zurück zu den Klassikern der Kultursoziologie Was den Menschen, das „animal symbolicum" (Cassirer), vom Tier unterscheidet - sein Verhältnis zur Welt der Zeichen - hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte, kurz vor dem Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, mit der Digitalisierung aller Lebensverhältnisse - was nicht nur im Sinn der Lebensumstände und Lebenstechniken zu verstehen ist, sondern unter Einschluss der Grundlagen des Lebens selbst - und mit der vernetzten elektronischen Kommunikation auf grundlegende Weise verändert. Wir stehen vor der Frage, ob wir den Bruch mit dem Vergangenen, die Charakteristik der gegenwärtigen Veränderungen und die Richtung, die zukünftige Entwicklung möglicherweise einschlagen wird, mit angemessenen Kategorien zu erfassen imstande sind. Die Kultursoziologie ist dabei besonders herausgefordert. Wenn Zeichensysteme evolutionäre Voraussetzung menschlicher Kultur sind und Schriftzeichensysteme die mediale Schicht derjenigen evolutionären Stufe kennzeichnen, auf der jegliche hochkulturelle und, auf dieser aufbauend, jegliche „moderne" Entwicklung erst möglich wurde, so stellt sich die Frage, wie die grundlegenden Veränderungen unserer Zeit demgegenüber einzuordnen sind. Der Gebrauch der Schrift ist in entscheidenden funktionellen Bereichen der Gesellschaft zu einem Phänomen der „Oberfläche" geworden, eine eher sekundäre, technisch-kommunikative Schicht zur Verschlüsselung und Entschlüsselung der Codes des primären und entscheidenden, weil digitalisierten Kommunikationssystems. Gibt diese Tatsache schon genügend Anlass, von einer neuen Stufe „kultureller Evolution" zu sprechen (was uns Autoren wie McLuhan oder Castells nahe legen)? Oder rechtfertigt es diese Tatsache lediglich, auch die digitale Grundlage des neuen Kommunikationssystems - so universell einsetzbar und expansiv dieses auch sein mag - nur als eine Weiterentwicklung auf der „technischen", also der Mittel- oder Instrumentalebene der Kommunikation einzustufen und hiervon grundsätzlich und mit aller zu Gebote stehenden analytischen Schärfe die Ebene der Bedeutungen zu unterscheiden: der Ebene also, auf der sich die handelnden Subjekte mit ihren Interpretations-, Bewertungs- und Beurteilungsleistungen bewegen, die stets auf das Symbolsystem der „natürlichen" Sprachen angewiesen sind? Und würde diese Differenzierung nicht daraufhinauslaufen, zur
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Arnold Zingerle
Durchleuchtung der Probleme, die damit gegeben sind, nochmals auf die Präzisierungsmöglichkeiten in Bezug auf den Begriff der Kultur zurückzugreifen, die durch die klassischen Anfänge der deutschen Kultursoziologie am Beginn des 20. Jahrhunderts angeboten wurden? Das würde erstens bedeuten: den durch die anglophone Internationalisierung der Sozial- und Kulturwissenschaften (schon von der Sprache her) notwendig verschliffenen Unterschied zwischen der bedeutungsstiftenden Dimension der „Kultur" und der Mittelebene der „Zivilisation" (wie er, wertfrei-analytisch, von Alfred Weber artikuliert wurde) wieder in die Diskussion einzubeziehen; zweitens würde es aber ebenso bedeuten: der konstitutiven Rolle der Subjekte im kulturellen Prozess - sei es im Widerspiel mit den Objektivationen (Simmel) oder als wertbewusst Stellung nehmende Instanz (Max Weber) - angesichts der neuen Lebensverhältnisse erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Die folgenden Überlegungen plädieren - indirekt, durch ihre Argumentation zum Gegenstand - mit Nachdruck für diesen Rückgriff auf die klassische deutsche Kultursoziologie. Es geht dabei nicht um Einzelheiten ihrer Positionen, sondern um grundsätzliche Aspekte ihrer Begrifflichkeit und um das Orientierende, das Erneuerungsfähige ihrer Gesamtperspektivik. Ich möchte dies, am Ausgangspunkt meiner Überlegungen, zunächst ex negativo, nämlich mit einer Kritik gegenüber Manuel Castells' Positionierung kultureller Phänomene innerhalb der heraufkommenden informationalen Gesellschaft verdeutlichen. Diese, so Castells im Grundlagenteil seines dreibändigen Werkes über das globale „Informationszeitalter" 1, sei näher als „Netzwerkgesellschaft" zu bezeichnen, weil sie nicht nur in ihrem funktionalen Kernbereich, dem Komplex Wissenschaft - Technik - Wirtschaft und mit den daran anknüpfenden Machtstrukturen, auf elektronischer Informationstechnologie und deren Netzwerken beruhe, sondern weil beides darüber hinaus lebensweltliche Verhältnisse (so: die Chancen der Individuen, ihr Leben zu gestalten) und kulturelle Prozesse beeinflusse, strukturiere und dominiere. Ich lasse hier allgemeinere Probleme, die sich mit dem Ganzen von Castells* großangelegter Darstellung ergeben, einmal beiseite - die Probleme seiner empirisch-historischen Verfahrensweise, seines postmarxistischen, beinahe technikdeterministischen Strukturdenkens in Analyse und Begrifflichkeit; die Probleme, die sich aus seiner Neigung ergeben, den Netzwerkbegriff zu hypostasieren und dessen informationstechnologische Spielart mit der organisatorischen zu verschmelzen; und schließlich sehe ich ab von seiner Attitüde, an entscheidenden Stellen der Argumentation, die ausführlicherer theoretischer Vertiefung bedürften, enigmatische Kurzformeln wie „zeitlose Zeit" oder „Raum der Ströme" spielen zu lassen. Stattdessen beschränke ich mich hier auf die zentralen Aussagen über das Verhältnis von „Netzwerkgesellschaft" und „Kultur". 1
Castells, Netzwerkgesellschaft.
Der Hypertext - kultursoziologisch betrachtet
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Castells gelangt zu ihnen an der Stelle, an der er die neue Qualität der Medienmacht erörtert, die mit der Verkoppelung des Fernsehens mit elektronischen Multimedia-Netzwerken entsteht. Das Grundmuster seiner Argumentation besteht in folgendem Gedankengang: da alle Kultur Kommunikation und alle gesellschaftlich bedeutsame Kommunikation gleichzusetzen ist mit der Botschaft der Medien, wird deren kulturelle Gestaltungsmacht jetzt, im Zeitalter multimedialer Netzwerke, in einem bisher nie gekannten Ausmaß gesteigert. Für Castells gilt jetzt umso mehr, was er bereits von der Phase vor der Multimedia-Technik behauptet hat: „In einer Gesellschaft, in der die Massenmedien die zentrale Rolle spielen, bleibt die Existenz von Botschaften, die sich außerhalb der Medien befinden, auf interpersonale Netzwerke beschränkt. Sie verschwinden so aus dem kollektiven Bewusstsein."2 Castells hat also, darin Postman nicht unähnlich, die Kultur selbst, ihre objektivierte Schicht in Werten, Sinnstrukturen, Wissen im Visier: sie werde, sofern nicht medienvermittelt, irrelevant. Castells stellt eine strukturelle Analogie zur neuen globalisierten Wirtschaft der „Netzwerkunternehmen" her: wie dort, so realisiere sich auch in der „kulturellen Sphäre ein ähnliches Muster von Vernetzung, Flexibilität und ephemerer symbolischer Kommunikation in einer Kultur, die im Wesentlichen um ein integriertes System elektronischer Medien organisiert ist, das natürlich das Internet einschließt. Kulturelle Ausdrucksformen jedweder Art sind in zunehmendem Maß in diesen elektronischen Hypertext einbezogen oder durch ihn geformt". 3 Es gibt in Castells' Werk keine Stelle, die nun genau umgrenzte, was „kulturelle" Ausdrucksformen von anderen unterscheidet. Dies entspricht einem höchst extensiven Gebrauch des Wortes „kulturelle Ausdrucksform", was auf Castells' Auffassung zurückgeht, der Hypertext subsumiere sie umfassend. „Jede kulturelle Ausdrucksform, von der Schlechtesten bis zur Besten, von der Allerelitärsten bis zur Populärsten kommt in diesem digitalen Universum zusammen, das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Manifestationen des kommunikativen Verstandes zu einem gigantischen, nicht-historischen Hypertext verbindet. Auf diese Weise bauen sie eine neue symbolische Umwelt auf. Sie machen die Virtualität zu unserer Wirklichkeit" 4 , wodurch die Kultur mehr und mehr zu einer „Kultur der realen Virtualität" 5 wird. Auch wenn Castells wiederholt einschränkt: Dieser Prozess beträfe die „meisten" kulturellen Ausdrucksformen, also nicht sämtliche, so macht doch die auf Integrationsfähigkeit
2
Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 385. Castells, Bausteine, S. 429. Der Artikel, der den Theorieteil von „Netzwerkgesellschaft" zusammenfasst, ist nicht nur konziser, sondern auch und in einiger Hinsicht präziser als der Buchtext und daher lesenswert. 4 Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 425. 5 So die Zwischenüberschrift in Castells, „Netzwerkgesellschaft", S. 425. 3
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und Flexibilität beruhende, systemische Sogwirkung des Netzwerkes grundsätzlich vor nichts halt. Deshalb ist auch subjektive Weltwahrnehmung, ist „Erfahrung" mutiert: „Die Virtualität dieses Textes ist tatsächlich eine entscheidende Dimension der Realität, sie stellt die Symbole und Icons bereit, mit denen und durch die wir denken und somit existieren" 6 ... iyAlle Botschaften aller Art werden in das Medium eingeschlossen, weil das Medium so umfassend, so diversifiziert, so formbar geworden ist, dass es die ganze menschliche Erfahrung in denselben Multimedia-Text absorbiert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in jenen einzigen Punkt des Universums, den Jorge Borges ,Aleph' genannt hat." 7 Wie Castells auf Raum und Zeit als fundamentale Bedingungen dieser Transformation von „Kultur" eingeht, verweist zugleich indirekt auf zwei zentrale Konstitutionsmodi kultureller Phänomene. Der Übergang von Kultur in den Hypertext bedeutet die Herauslösung aus ihren zeitlichen (geschichtlichen) und räumlichen Einbettungen. Wenn beliebige historische Bezüge in „Echtzeit" zusammengeführt werden können („zeitlose Zeit"), wenn Orte ihre räumliche Materialität verlieren und in Bildercollagen übergehen („Raum der Ströme"), so erblickt Castells darin die materiellen Grundlagen „einer neuen Kultur, welche die Verschiedenheit der historisch überkommenen Systeme der Repräsentation überschreitet und in sich einschließt".8 Diese Koexistenz aller Symbole „ohne Bezug zu sozialer Erfahrung" 9 hat so, diagnostiziert Castells, für die Individuen als Konsumenten, die zugleich „Akteure" dieser medialen Hypertextkultur sind, Sinnfragmentierung und Sinnverlust zur Folge, weil es kaum einheitliche Interpretations- und Bewertungscodes, nur formale Codes der Kommunikation 10 gibt. Soweit Castells. Was ist davon zu halten? Ein überpointierter Blick auf ein Neues kann die Augen für gewisse Dinge erst öffnen - und dies geschieht an nicht wenigen Stellen in Castells' Werk, dessen gewaltige Stoffmassen ansonsten auch nicht mehr lesbar wären. Doch Castells' Einbau der Kultur in seinen Gegenstand entspringt nicht einer Pointierung, die weiter führt: Zu viele Fragen bleiben offen, vor allem aber lebt die Zuspitzung des Gedankens auf die umfassende Absorption der Kultur durch das Medium von einer maßlosen Überschätzung der Technik (oder: des technischen Kommunikationssystems „Hypertext") und von einer Unterschätzung der Kom-
6
Castells, Bausteine, S. 429. Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 426 (i. Orig. o. Kursiv). 8 Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 429. 9 Castells, Bausteine, S. 437. 10 Das so zustande kommende „systemische" Missverständnis bezeichnet Castells mit „Kakophonie" (Castells, Bausteine, S. 437); zutreffender wäre das Bild der „babylonischen Sprachverwirrung". 7
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plexität von Kultur, ihrer Mehrdimensionalität, ihrer Prozessualität und nicht zuletzt ihrer Bedeutung, ihres „Eigengewichts" in Geschichte und Gesellschaft. Castells' Sicht der Kultur fordert zu vielen Rückfragen heraus; die meisten scheinen mir in Verbindung zu stehen mit der Verortung kultureller Phänomene diesseits und jenseits der Grenze des Systems „Hypertext" 11 , in dessen Binnenoder Außenraum. Was hindert, davon auszugehen, dass es kulturelle Phänomene diesseits und jenseits dieser Grenze gibt; dass mit den neuen Informationsnetzwerken den „alten" kulturellen Phänomenen neue hinzugefugt wurden darunter solche, die den alten vergleichbar sind (etwa: als „Kulturtechnik"), nebst anderen, die völlig neue Entwicklungen bringen (so: die Generierung nicht nur neuer kultureller Formen, sondern auch Inhalte im „Netz" und durch das „Netz")? Was hindert, anzunehmen, Kommunikation über Kultur, ja Vermittlung kultureller Inhalte nehme durch das Neue einen anderen Charakter an, insbesondere durch die Chancen, die sich durch Interaktivität massenhaft eröffnen? Derlei Fragen haben das Diesseits und Jenseits der Hypertext-Grenzen im Blick, ohne zu den massiven Gewichtungen, wie Castells sie vornimmt, zu kommen. Diese erwecken jedoch den Eindruck, der Ort aller Kultur sei künftig der Hypertext; was nicht durch ihn integriert werde, sei lediglich eine Restgröße. Gibt es überhaupt bei Castells neben progressiv integrierbarer Kultur auch eine nicht-integrierbare? Es scheint, trotz der oben erwähnten gelegentlichen Beschränkung des Integrationsprozesses auf die „meisten" kulturellen Ausdrucksformen, ernsthaft keine zu geben - lediglich Grenzen der Integrationsbereitschaft bzw. -geschwindigkeit. Ebenfalls benennt Castells Hemmnisse in dieser Hinsicht bei traditionellen Quellen kultureller Botschaften, „die außerhalb des Systems stehen und sich auf dem Weg über historisch codierte gesellschaftliche Gewohnheiten einschalten: Religion, Moral, Autorität, traditionelle Werte, politische Ideologie". Castells räumt ein: „Nicht dass sie ganz verschwänden, aber sie werden geschwächt, es sei denn, sie codieren sich neu innerhalb des neuen Systems ...". 12 In der Tat, über diese Neucodierung behaupten sich alte und neue Weltanschauungsgruppen, und neue setzen sich erst über sie durch. Aber was ist damit über den Ort von Kultur gesagt? Es fällt auf, dass Castells bei dieser Sicht des „historisch" Gewordenen vor allem solche kulturelle „Sender"-Instanzen im Auge hat, die Sinn und das moralisch oder politisch Richtige produzieren; die kulturellen Formungen des Wahren ebenso wie die des Schönen bleiben bei ihm fast systematisch ausgeblendet. Dabei ließe sich gerade an den beiden Beispielen Wissenschaft und Kunst die
11 Der Ausdruck „Hypertext" wird auf zweifache Weise gebraucht: a) für die Verknüpfung der Elemente von Multi-Media über Internet; b) für die Gesamtheit der elektronisch vernetzten „Texte" des Internet (vgl. http, „hypertext transfer protocol"). Im folgenden wird „Hypertext" immer im Sinne von (b)) verstanden. 12 Castells, Netzwerkgesellschaft, S. 428.
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Sogwirkung des Hypertexts zeigen. Aber vielleicht hat Castells Wissen und Kunst, diese beiden großen Bezirke des Kulturellen (wie übrigens ebenso alles, was mit ihnen zusammenhängt und unter den heute so unbequem gewordenen Begriff der „Bildung" fällt) deshalb ausgeblendet, weil die Realität von Wissenschaft und Kunst der Verortung der Kultur, die Castells zwischen dem Innen und Außen des Hypertexts vornimmt, massiv widerspricht. Gewiss, durch den Hypertext ist in den Wissenschaften viel in Bewegung gekommen - in Forschung, in Lehre, und gerade auch im kommunikativ-diskursiven Bereich. Aber: was sich in den Labors, in Seminaren und in der „Einsamkeit und Freiheit" der individuellen geistigen Auseinandersetzung am Schreibtisch ereignet, hat seinen Schwerpunkt nach wie vor außerhalb der Grenzen des Hypertexts. Und so sehr auch der Hypertext den Künsten neue präsentative, inszenatorische, ja auch durch die allein ihm eigenen Techniken - neue produktive Möglichkeiten bietet 13 , so sehr wird niemand im Ernst behaupten können, dem Leben der Kunst mit seiner reichen Facettierung, bis hin zum „Kunstbetrieb" etwa musikalischer Hochkultur, seien außerhalb der Grenzen des Hypertexts nur mehr marginale, residuale Perspektiven zuzusprechen. Castells' Fixierung auf die Idee der unbeschränkten Absorptionskraft des Hypertexts ist nicht zuletzt deswegen so abwegig, weil er mit ihr Generalisierungen verknüpft, die vor allem eine Überprüfung an den von ihm ausgeblendeten Bezirken der Kultur verlangen. Den Medien und insbesondere - was ja auch aufgrund seiner scheinbar unbegrenzten Speicherkapazität nahe liegt - dem Hypertext wird die Fähigkeit angesonnen, das kollektive Gedächtnis fortzusetzen: nichts anderes besagt doch die oben zitierte Feststellung, Botschaften, die sich „außerhalb" der Medien befinden, verschwänden aus dem „kollektiven Bewusstsein". Das würde zum Beispiel bedeuten: das Wissen um das Weltkulturerbe der UNESCO existiere nur insofern und so lange, wie es über die Bildschirme repräsentiert und erreichbar ist. Der Hypertext und die innerhalb seines Systems Agierenden würden folglich alles kulturell relevante Wissen für das kollektive Gedächtnis vorselegieren und -strukturieren. Das Unrealistische dieser Sichtweise, mit der die Funktionsweise von Kultur als Prozess grundsätzlich verkannt wird, zeigt sich an dem herabgestuften Stellenwert, den Castells innerhalb seiner gedanklichen Szenerie der kulturellen Hypertext-Dominanz den Individuen und ihrem sozialen Umfeld zumisst. Botschaften außerhalb des Mediums bleiben, so Castells, „auf interpersonale Netzwerke beschränkt", und verschwinden - so muss man wohl die oben wiedergegebene Passage lesen - deshalb aus dem kollektiven Bewusstsein; kulturelle Ausdrucksformen außerhalb des elektronischen Netzes reduzieren sich auf „rein individuelle", somit letztlich irrelevante Erfahrungen; 14 das muss so sein, da auf 13 14
Für den Bereich der Literatur s. dazu Porombka , Hypertext. Castells , Bausteine, S. 437.
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der anderen Seite der Hypertext „die ganze menschliche Erfahrung" (s.o.) in sich aufnimmt, weshalb er auch, vermittels seiner Symbole und Icons, die Kategorien unserer Welterfahrung bereitstellt, die Begriffe also, „mit denen und durch die wir denken und somit existieren". 15 Der soziale Raum zwischen den auf diese Weise in ihrem Sein abgeschwächten Individuen und dem ens realissimum des Hypertexts ist somit kulturleer: Castells scheinen die in allen Gesellschaften unentbehrlichen, institutionellen Zwischeninstanzen, die das Individuum für die Kultur, zur Kultur hin sozialisieren (es möge genügen, exemplarisch auf Feiern zu verweisen), und die ihm überindividuelle Erfahrungen eigener Art nachhaltig vermitteln, fremd zu sein. Ein schrofferer Gegensatz als der zwischen dem technologischen Determinismus, wie er in Castells' Sicht der Kultur zutage tritt, und den Positionen der klassischen deutschen Kultursoziologie ist kaum denkbar. So sehr auch Simmel, so sehr die Gebrüder Weber sachliche Eigengesetzlichkeiten, ja oft genug auch technische Voraussetzungen an Kulturphänomenen betonen (ein prominentes Beispiel ist Max Webers „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik"), so sehr ist Kultur bei ihnen grundsätzlich ein undeterminiert-dynamischer Komplex, niemals festgelegt auf bestimmte technische Mittel und Verfahrensweisen. Gleichsam internalisiert und daher selbstverständlich ist ihnen das aus der Philosophie des Idealismus übernommene Axiom der Zusammengehörigkeit von Kultur und Freiheit. Entscheidender aber für jenen schroffen Gegensatz ist die Stellung des Subjekts. Nur im Subjekt und durch das Subjekt wird Kultur wirklich, weshalb die Perspektivik im Verhältnis zu Castells vollständig umzudrehen ist. Dann wäre ein Phänomen wie „Hypertext" unter dem Gesichtspunkt der Kultur vor allem auf eine Weise auf den Begriff zu bringen: als ein technisches Phänomen, das einer Vielfalt von heterogenen Zwecken dient, zu denen auch die Produktion, die „Präsentation" und Zugänglichmachung kultureller Objekte (hegelisch: „Objektivationen") zählt. Wesentlich wäre nun aber für diese Sicht das „Mediale" des Phänomens im Sinne des Mittelhaften, Instrumentellen und - damit zugleich gegeben - die fundamentale Exteriorität der Subjekte im Verhältnis zum Mittel sowie, daraus folgend, ihre innere Distanz zu ihm.
II. Medialität und Instrumentalität Nicht zufällig ist Distanz Maxime einer langen bildungstheoretischen Tradition, auf die man sich in Deutschland noch bis über die Mitte des gerade vergangenen Jahrhunderts berufen hat. Sie besagt: Mit einer Sache kann sich
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Castells, Bausteine, S. 429 (Hervorhebungen in den beiden zuletzt zitierten Ausdrücken v. mir, A. Z.).
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fruchtbar nur auseinandersetzen, wer Distanz zu ihr hat. In leicht verschobener Bedeutung war „Distanz" in derselben Epoche ebenfalls Schlüsselbegriff bedeutender nicht-soziologischer Kulturtheorie. So ist, in den Worten von Aby Warburg, das bewusste Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt „Grundakt menschlicher Zivilisation". 16 In der deutschen Tradition dieser Idee steht bekanntlich in diesem Zusammenhang an der Stelle des Ausdrucks „Zivilisation" sinngemäß „Kultur". Auch in der gegenwärtigen deutschen Kulturtheorie wird diese Idee der Distanz als Bedingung von Kultur bekräftigt: so kommentiert Jan Assmann die oben zitierte Hervorhebung der Distanz bei Warburg mit dem Satz: „Die Kultur institutionalisiert diese Distanz". 17 Max Webers Kulturbegriff 18 , der auf der Idee einer sinnverleihenden Stellungnahme gegenüber der „Welt" beruht und damit jene Distanz fundamental voraussetzt wie gleichzeitig aufrecht erhält, auf Dauer stellt, ist deshalb dieser Tradition ebenso zuzuordnen wie die Unterscheidung „Kultur - Zivilisation" bei seinem Bruder Alfred. Alfred Weber zufolge ist der „äußere Mittelapparat" der Zivilisation zu unterscheiden vom „kulturellen Wollen und Verhalten", das Stellung nimmt und von einer „seelisch-geistigen Mitte" her Sinngebung und Formung gewinnt. Zivilisation bezeichnet dagegen eine Konstellation gesellschaftlicher Entwicklung innerhalb eines evolutionären Fortschritts, den Alfred Weber - hierin trotz aller sonstigen Unterschiede in Soziologie, Geschichte, Politik und Philosophie seinem Bruder Max nahe kommend - als „graduell zunehmende theoretischintellektuelle Beherrschung des Daseins" 19 bezeichnet. Dagegen ist Kultur nicht-instrumentell, sie hat ihren Wert in sich selbst und transzendiert die „äußeren", den Alltag bestimmenden Seiten des Lebens. Mit Johannes Weiß 20 ist festzustellen, dass die wertungsgeladen-ideologische Begriffsgeschichte der Gegenüberstellung von „Kultur" und „Zivilisation" im deutschen Denken außerhalb Alfred Webers 21 kein Grund sein sollte, diesen beiseite zu lassen und auf die analytischen Chancen seiner wertfrei gemeinten Unterscheidung zu verzichten. Die kultur- (eigentlich: zivilisations-) kritische Attitüde, von der sich die Analyse absetzen sollte, meint - aufgrund bestimmter negativ bewerteter Entwicklungen der Zivilisation - „Kultur" schlechthin positiv sehen zu müssen. Auch eine „kulturalistische" Kritik des „Mediums" Hypertext, die sich bewusst auf die angedeutete Distanz beruft, könnte der Versuchung erliegen, den Hypertext als Produkt der Zivilisation abzuwerten. Die analytische Reduk-
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Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 137. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 137. 18 Weber, M., s. vor allem: „Objektivität". 19 Weber, A., Kulturgeschichte, S. 26. 20 Weiß, Art. „Zivilisation", S. 715ff. 21 s. dazu bes. Fisch, Art. „Zivilisation, Kultur", bes. Abschn. V I I I und IX (S. 740 ff.). 17
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tion auf Instrumentalität könnte in die wertende umgepolt werden: Die Medien seien doch „nur" auf der instrumenteilen Ebene angesiedelt. Es lohnt sich, an dieser Stelle etwas näher auf den Aspekt der Instrumentalität einzugehen. Zunächst wäre die Frage zu stellen: ist diese Reduktion auf das Instrumentelle überhaupt empirisch haltbar? Sind darüber hinaus auch die mit dem Begriff „Instrument" logisch verbundenen Begriffe „Medium" und „Mittelhaftigkeit" geeignete Kategorien, um die Wirklichkeit des „Hypertexts" angemessen zu erfassen? Und, falls diese Frage verneint werden muss: wird dadurch Alfred Webers Unterscheidung hinfällig - oder ist nicht gerade sie einsetzbar, um bestimmte Aspekte der Problematik, die sich mit dem Hypertext stellt, besser zu erkennen? Eine Untersuchung zum semantischen Umfeld des Wortes „Internet" dürfte besonders dort, wo es klassifikatorische Zuordnungen bzw. Subsumtionen betrifft, eine auffallende Unschärfe, ein Schwanken zwischen „Medium" und Instrument" finden. Die Sprache scheint vorläufig gegenüber dem neuen Phänomen noch keine sachlich angemessene Lösung anbieten zu können, denn „Hypertext" ist, so sehr er „mediale" und zugleich „instrumenteile" Seiten enthält, mehr und anderes als „Medium" und „Instrument". Auf den ersten Blick drängen sich gewiss vor allem instrumentelle Eigenschaften auf. Soviel er auch beinhalten, „leisten" mag: aus der Perspektive des Nutzers („Users") ist er stets angewiesen auf ein funktionierendes technisches Substrat, auf elektronische Hardware, auf den PC: so gesehen, ist jedes Verhältnis, welches sich zwischen den Nutzern und dem Hypertext herstellt, abhängig von einer materiell-instrumentellen Handlungsumwelt, ähnlich einem Werkzeug. Schon in diesem elementaren Sinne ist er somit Handlungs-„Mittel". Aber Mittelhaftigkeit zeigt sich vor allem darin, dass er auf vielfältige Weise in zahlreiche zweckrationale 22 Handlungsabläufe eingebaut ist: es gibt kaum einen Bereich des privaten wie des öffentlichen, insbesondere des beruflichen Lebens,23 der davon nicht zunehmend betroffen wäre. So sehr diese Dimension eines Handlungsmittels unabweisbar ist: Das Charakteristische der damit gemeinten Abläufe ist, sofern sie verknüpft sind mit dem Hypertext, damit noch nicht erfasst. Man könnte die 22 Ich verwende den Terminus „zweckrational" hier nicht in der anspruchsvollen Form, wie sie ursprünglich bei Max Weber steht: letztlich ein auf Kausalwissen basierendes, flexibles Kalkül, das Zwecke gegen Mittel und beides gegen Folgen sowie Nebenfolgen abwägt (s. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, Teil I, Kap. 1, § 2, Erläuterungsabschn. 4), sondern in der mittlerweile allseits verbreiteten, vereinfachten Version, die auf das schlichte Prinzip des bewußten Einsatzes von Mitteln für Zwecke reduziert ist. 23 Schon die Nennung solcher Bereiche in Begriffen konventioneller Klassifikation erfordert zu beachten, dass der Hypertext von seinem Funktionsprinzip der Vernetzung her, also auf technischer Grundlage, stetig entdifferenzierend oder zumindest in Richtung auf umfassende systemische Interpénétration hin wirkt („Telearbeit" ist nur eines von vielen Beispielen).
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Blickrichtung des vorletzten Satzes ebenso gut umdrehen und behaupten: Zahlreiche zweckrationale Handlungsketten seien „eingebaut" in das System „Hypertext". Da sie jedoch nicht innerhalb dieses Systems beginnen und enden, wäre eine Formel angebracht, die ihren Verlauf „durch" den Hypertext „hindurch" zum Ausdruck bringt. Was aber ist das Spezifische des Hypertextes, das dessen Interpretation mit Hilfe einer Terminologie, die auf das Instrumentelle bezogen ist, im Wege steht? Die klassische Idee der Instrumentalität setzt die im Prinzip weitgehende Kontrolle der Mittelebene durch die Handelnden voraus. Der Hypertext kann abgesehen von der selbstverständlichen Tatsache, dass er sich im Ganzen wegen seiner Ausdehnung und Komplexität, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen, der Kontrolle entzieht - auch für die einzelnen Akteure, die sich einem außerordentlich kleinen Ausschnitt aus dem Ganzen gegenübersehen, nicht einfach als Gegenstand von Kontrolle gedacht werden: jedes Umgehen mit ihm bedeutet den Anschluss an ein interaktives System, in dem einerseits Kommunikations- wie Handlungswege in der Regel hochgradig vorstrukturiert sind, das jedoch andererseits potentiell „unendliche" Spielräume für Information, Kommunikation und Handlung enthält. Das bedeutet: unterschiedliche Grade von passiver und aktiver Kontrolle, von Eingeschränktheit und Freiheit bestehen im System „Hypertext" nebeneinander, ineinander. In der Interaktion mit ihm können sehr gezielt Dinge erledigt werden, aber je nach dem, in welchem Nutzungsbereich man sich befindet (man denke etwa an die Unterschiede zwischen „Surfen", der Teilnahme an einer e-bay-Versteigerung und „Mailen"), ist es beim Beginn einer Abfolge von Schritten völlig offen, wie und wo sie enden werden. Der typische Gebrauch eines Instruments ergibt sich dagegen daraus, dass dieses einen auf klar definierbare „Handhabung" hin entworfenen Umriss, also: klare Grenzen hat und die Handhabung in ihrem Ablauf bekannt ist. So wird diese in ihren Wirkungen „kalkulierbar" und insofern - setzt man die „Handlungsumstände" ebenfalls bis zu einem gewissen Grade als bekannt voraus - „kontrollierbar". Nebenbei fällt auf, dass die Sprache, in der solche Instrumentalität beschreibbar wird, an einer überholten Rolle der Hand hängt: sie entspricht jener Phase im produktiven Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, die in „Manufaktur" ihren arbeitsgeschichtlichen Höhepunkt erreicht hatte. Die soeben begonnene, mit ihrer Bezeichnung „digital" immer noch auf einen Teil der Hand zurückgreifende Epoche (die Funktion der Hand ist geschrumpft auf Impulsgebung durch die Finger) weist jedoch, technisch-utopisch weitergedacht, auch schon über dieses Stadium hinaus, dessen Überschreitung gekennzeichnet sein wird vom annähernd körperlosen - „Digitieren" 24 sowie Sprechen
24 Vgl. die in der italienischen Bezeichnung für das Betätigen elektronischer Tastaturen - digitare - enthaltene Korrespondenz von elektronischem Funktionselement, Körperbewegung und Sprachausdruck.
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weitgehend überflüssig machenden - Kurzschalten der Gehirnfunktionen mit den Bedienungsstationen des Hypertexts (einem unerwarteten Vexierbild der Idee einer „Noosphäre", wie sie in der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts 25 aufgekommen war). Mit der Bewegung im „Netz" hängen die räumlichen Wahrnehmungsweisen des „Virtuellen" zusammen. Obwohl faktisch sich auf „Oberflächen" bewegend, haben die Nutzer den Eindruck, sich nicht „auf 4 , sondern „im" Netz zu befinden; nicht zufällig bedient sich die für die Massennutzung geschaffene Programmsprache einer großen Zahl räumlicher Metaphern (von architektonischen wie „Portalen" bis hin zu nautischen wie „Navigation"). Was nun der Anwendung instrumentalistischer Begriffe auf den Hypertext vor allem entgegensteht, ist eine Tatsache, durch welche die Unterscheidung in „virtuell" und „real" gründlich gestört wird: die Schaffung von Realitäten innerhalb des Systems „Hypertext", die für das Leben sowohl von Individuen wie von Gruppen in genau derselben Weise „wirklich" sind wie ihre Entsprechungen außerhalb des Systems. Nicht nur werden erst innerhalb des virtuellen „Raums" Handlungsoptionen deutlich, somit entscheidbar und Zielsetzungen (Objekte, Abläufe innerhalb wie außerhalb dieses Raumes), „realistisch" erreichbar. Wie verschiedenste Formen der Kommunikation, so werden auch zwischenmenschliche Beziehungen, wie eine steigende Zahl von Untersuchungen zeigt, 26 nicht nur im „Netz" initiiert, fortgesetzt, „gepflegt". Vielmehr: Anknüpfungen, Fortsetzungsverläufe wie Abbrüche überschreiten nach beiden Seiten hin die Grenze zwischen dem virtuellen und dem außervirtuellen „Raum". 27 Über das Private hinaus geschieht Vergleichbares dort, wo wirtschaftliche, politische, dann aber auch und besonders Akteure der Wissenschaften innerhalb und außerhalb dieses „Raumes" Themen, Arbeitsressourcen und Diskussionspartner finden bzw. bearbeiten. Und wie im Fall der Wissenschaft, so wird auch in anderen Fällen Kulturrelevantes hier erst generiert, produziert und rezipiert. Deshalb hinterlassen gegenwärtig mehr und mehr auch kulturelle Prozesse hier Spuren, die weit über rein informatorische Funktionen hinausgehen; sie hinterlassen insbesondere einen neuartigen Typus „sedimentierten" (A. Schütz) kulturellen Wissens, der durch die im Vergleich zu den bisherigen „Externalisierun-
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s. de Chardin , Le phénomène humain. Spätestens seit Turkles, Life on the Screen sind Untersuchungen zu dem Thema in den Medienwissenschaften, in Sozialpsychologie und Soziologie zu finden. 27 Erkenntnisse dazu, die den verbreiteten Pessimismus in Kulturkritik und Medienpädagogik widerlegen, konnten anlässlich einer 2003 in Bayreuth von Karin Mackevics vorgelegten Magisterarbeit (Soziologische Aspekte der computervermittelten Kommunikation. Persönliche Beziehungen in Online-Kommunikationsformen) gewonnen werden. 26
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gen" von Sprache (Schrift, Text 28 ) völlig neuen Formen elektronischer Speicherung und Nutzung des Wissens möglich wurde. Dies alles berechtigt freilich noch nicht zu Verallgemeinerungen im Stile von Castells' Befund über die unbeschränkte „Absorption" der Kultur durch den Hypertext. Die Fragwürdigkeit eines solchen Befundes wird besonders deutlich an jenem Teilbereich des kulturellen Wissens, das seit einiger Zeit als „kulturelles Gedächtnis" diskutiert wird. Das soll im folgenden weiter ausgeführt werden. Zuvor aber ist es angebracht, kurz zur Frage nach dem Stellenwert von Alfred Webers Unterscheidung „Kultur" / „Zivilisation" zurückzukehren: verliert sie, so hatten wir gefragt, angesichts des Hypertexts ihre Gültigkeit? Der bisherige Gedankengang kann in einem zusammengefasst werden: Relativierung der Abgrenzbarkeit dessen, was Weber mit „Zivilisation" meint, unter der Voraussetzung, dass das Hauptmerkmal von „Zivilisation" Instrumentalität sei. Dennoch, eine Kritik Alfred Webers kann sich nicht auf diesen relativierenden Aspekt beschränken. Gewonnen anhand von mikrotheoretischen Charakteristika - das den Hypertext nutzende Individuum stand im Vordergrund erfordert dieser Aspekt den komplementären Blick aufs Ganze, eine makrotheoretische und damit historische Perspektive. In solcher Perspektive erhält ein gegenläufiges Argument Evidenz und die Kritik gegenüber Weber einen positiven Akzent. Eine unabweisbar historische Tatsache ist darin zu sehen, dass die Entwicklung des Hypertexts bei einem Instrumentalismus par excellence ihren Ausgang genommen hatte: in der militärischen Informationstechnik. Danach erst brachte sie, Schritt für Schritt mit der differenzierenden Ausweitung des Systems, die Befriedigung weiterer und anderer Bedürfnisse mit sich. Auch wenn unter diesen Bedürfnissen zunehmend solche sich einstellten, die mit individueller Lebensgestaltung, zumal „Freizeitgestaltung", mit Massenkonsum und „Vergnügungsindustrie" und, in charakteristischer Nähe zu letzteren, in wachsendem Maß auch solche, die als „kulturell" klassifiziert zu werden pflegen: man sollte sich keinen Illusionen hingeben, dass die treibende Kraft der Entwicklung nicht ganz überwiegend in eben jenen Rationalitäten, jenen Interessen zu suchen sei, die den Kern von Alfred Webers Begriffskomplex „Zivilisation" ausmachen, im Bereich also „der von Wissenschaft und Technik für die Zwecke der Lebensbewältigung und der Bedürfnisbefriedigung bereitgestellten Kenntnisse, Fertigkeiten, Apparate und Organisationen". 29 Kann „Kultur" im Verhältnis dazu als funktionelles Leichtgewicht angesehen werden, das sich innerhalb des Leistungsspektrums des Hypertexts erst mit der weltgeschichtlich durchaus üblichen Verspätung (cultural lag, nach W. F. Ogburn) einstellt?
28 Leroy-Gourhan, Le geste et la parole ; s. dazu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 22. 29 Weiß, Art. „Zivilisation", S. 716.
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Eine solche Verwendungsweise des Begriffs „Kultur" läge offensichtlich völlig abseits des von Weber Gemeinten. Zwar ist - angesichts einer Rezeption, die Alfred Weber missverständlich einreiht in die deutsche Begriffsgeschichte eines dichotomen Gegensatzes - festzuhalten, dass Weber „Kultur" und „Gesellschaft" voneinander analytisch unterscheidet, sie jedoch in spezifischen, historischen Konstellationen auf je unterschiedliche Weise als Dimensionen jedes (geschichts-)möglichen gesellschaftlichen Lebens auffasst, die auf je unterschiedliche Weise aufeinander bezogen sind, so dass das Phänomen „Hypertext" in seiner Sicht durchaus mit „Kultur" verknüpfbar wäre. Das differenzierende und entscheidende Kriterium jedoch, das jeder Relativierung der Grenze von „Kultur" und „Zivilisation" im Wege stehen würde, ist allerdings die in Webers Theorie geradezu einen apriorischen Stellenwert einnehmende Inkongruenz kultureller Phänomene mit allem, was sich aus wissenschaftlich-technischem „Fortschritt" ergibt und diesen darstellt: in ihren kulturellen Stellungnahmen, Deutungen, Symbolisierungen und Sinnschöpfiingen transzendieren Individuen und Kollektive grundsätzlich jeden denkbaren Stand zivilisatorischer Entwicklung. Die dimensionale Zusammengehörigkeit, Aufeinanderbezogenheit von „Kultur" und „Zivilisation" im Kontext der gesellschaftlichen „Geschichtskörper", wie Alfred Weber sich ausdrückt, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die - oben angesprochene - offenkundige Eignung des Hypertextes als einer technischen Grundlage für Produktion, Darstellung, Rezeption und Verwendung kultureller Inhalte und Daten (von der Wissenschaft über die Kunst und die Religion bis hin zum „kulturellen Gedächtnis") zwingt dazu, die funktionelle Seite der Kultur genauer in den Blick zu nehmen. V o n den mehrfachen Möglichkeiten, dieses Problem zu klären, wird hier der Weg über das in jüngster Zeit vermehrt diskutierte „kulturelle Gedächtnis" genommen.
I I I . Hypertext und kulturelles Gedächtnis30 Vorausgesetzt sei, dass es in allen gesellschaftlich-kulturellen Komplexen, auf allen Entwicklungsstufen ab der Erfindung der Kommunikation über exteriorisierte Symbole (schriftliche und andere Zeichen) einen traditionalen Zusammenhang zwischen einerseits dem Wissen von der kollektiven Vergangenheit sowie den kulturellen Formen der Memorialisierung der Geschichte und anderseits den symbolischen Sinnwelten (P. L. Berger/T. Luckmann) gab, die beides stützten und legitimierten. Posttraditionalität, „Moderne" haben diesen Zusammenhang zerbrochen. „Kollektive" ( M . Halbwachs) und „kulturelle" (J. Assmann) Gedächtnisse werden in ihrer Pluralität, in ihrer individualisierten Optio30 Die Abfassung dieses Abschnitts wurde besonders durch die Lektüre von zwei Büchern inspiriert: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, sowie Weinrich, Lethe.
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nalität und somit anscheinend abnehmenden (in Fragmenten allerdings auch wieder belebten) gesellschaftlichen Bedeutung wahrgenommen. Eine kaum überbrückbare Kluft scheint das darauf bezogene kulturelle Wissen, das aus früheren gesellschaftsgeschichtlichen Epochen in die Gegenwart hineinragt, zu trennen von den Katarakten des täglich neu produzierten und nur mit kürzesten „Halbwertzeiten" zirkulierenden Funktionswissen der modernen Gesellschaft, das in seinen Eigenschaften bedingt ist durch eines der Wesensmerkmale dieser Gesellschaft: der permanenten, am Markt orientierten Erneuerung ihrer materiellen Ausstattung. Was läge nun näher, als den Hypertext als einen Mechanismus bisher nicht gekannter Beschleunigung bei der Übertragung neuen Wissens diesem Bild einzufügen und damit Alfred Webers Zivilisationskonzept zu verstärken? Überträgt man jedoch das gedankliche Prinzip, welches den Debatten um das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis zugrunde liegt, nämlich die Suche nach der in den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Konstellationen angemessenen „Funktionalität" memorialen Wissens, memorialer Praktiken, memorialer Kultur, so führt der Rückgriff auf Alfred Weber zu einem anderen Aspekt. Die memorialen Funktionen des tradierten bzw. umlaufenden gesellschaftlichen Wissens müssten nämlich, zieht man die Konsequenz aus Webers Begriffsbildung, zunächst unterteilt werden in „kulturelle" und „zivilisatorische". Es gibt demnach neben dem kulturellen auch ein „Gedächtnis der Zivilisation"; trotz - heute - kurzer Verfallsfristen funktioniert auch das Wissen der Zivilisation nur mit einem bestimmten Maß mnemischer Verfahren und Routinen. Sie sind überwiegend ausgerichtet auf die Bewältigung praktischer Alltagsprobleme und insofern (über)-lebensnotwendig - anders als die mit stabilen Sinnstrukturen verwobenen Wissensgehalte des kulturellen Gedächtnisses, zu dessen wichtigsten Funktionen die Stiftung und Erhaltung kollektiver Identität gehört und das daher ein Phänomen der „longue durée" ist. Der Unterschied zwischen beiden wird noch deutlicher, wenn die zum Erinnern komplementäre Gedächtnisfunktion einbezogen wird: das Vergessen. Idealtypisch vereinfacht gilt dann: für das „Überleben" von Kultur ist Erinnerung (Gedächtnis) Maxime, für das „Überleben" der Zivilisation Vergessen. 31 Der Bewahrungs-, der Bestandserhaltungsakzent, der auf jeder Kultur liegt, ist ohne Gedächtnis nicht denkbar, das „Fortschreiten" jeder Zivilisation nicht ohne ständiges Vergessen des Überholten, des Unbrauchbaren, des Unnützlichen.32
31 „Überleben" ist in Anführungszeichen gesetzt, um Assoziationen mit Spengler oder mit anderen Biologismen fernzuhalten. 32 Die aufgezeigte Differenz der Vergessens- bzw. Erinnerungsmaxime impliziert im übrigen auch einen utilitarisch-rationalen Aspekt: zivilisatorische „Errungenschaften" sind charakterisierbar durch einen Gebrauchswert der reduziert oder annulliert wird, wenn sie durch zweckmäßigere ersetzt werden; das kulturelle Gedächtnis beinhaltet dagegen Objekte, die ihren Gebrauchswert behalten, auch wenn ihnen mit der Zeit viele analoge (affine) Objekte zur Seite gestellt sind.
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Von hier aus ergeben sich unterschiedliche normative Ausprägungen: Kultur ist durch Memorialismus charakterisiert, also durch normative Privilegierung des Erinnerns, Zivilisation durch Oblivionismus, die normative Privilegierung des Vergessens. Wiederum böte sich, im Hinblick darauf, eine prima-facieÜbertragung auf den Hypertext an. Inwiefern aber ist er als oblivionistisch einzustufen? Dagegen spricht seine technische Grundlage, die - genau genommen - eine mnemotechnische ist. Dazu steht in merkwürdigem Gegensatz der Gebrauch, der ständig Entscheidungen darüber verlangt, was gespeichert, also potentiell erinnert, und was gelöscht, also vergessen werden soll. Gerade der Hypertext, der als Ganzes doch als Symbol technologischen, d.h. auf gründliches Vergessen früherer Informationspraktiken beruhenden Fortschritts gelten kann, zeigt in seiner Funktionsweise eine hochproblematische Widersprüchlichkeit: der unbegrenzten Speicherungskapazität des Hypertexts, die verbunden ist mit der potentiellen Wiederaufrufbarkeit des gespeicherten Details, entspricht kein „systemadäquater" normativer Impuls des Löschens. Wenn irgendwo, so müsste gerade an dieser Stelle eine neue Kultur des Vergessens entstehen. Als „Kultur" wäre hierbei ein Zweifaches zu verstehen: einmal das Kultivieren einer Einstellung, genauer: das bewusste Schaffen und Fördern einer dauerhaften Handlungseinstellung. Zum anderen und wichtiger: das Bewusstsein für bewertende Kriterien, anhand derer über das Speichernswerte und das zu Löschende entschieden werden kann. Eine so verstandene Kultur des Umgangs mit dem Hypertext, des Handelns „gegenüber", „mit" oder „in" ihm ist grundsätzlich mit dem Hypertext selbst nicht gegeben, sie ist mit ihren Werten nur außerhalb seines Systems verortbar und kann nur von dort her wirksam werden: eine Unterscheidung, die der von Alfred Weber gemeinten Trennlinie zwischen „Kultur" und „Zivilisation" vollkommen entspricht. Der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses", anhand dessen nun die These von der unbeschränkten „Absorption" von Kultur durch den Hypertext weiter diskutiert werden soll, verlangt an dieser Stelle eine Präzisierung zum Kulturbegriff. Der soeben besprochene Aspekt eines bewertungsbewussten Umgangs mit dem Hypertext legt es nahe, hierin eine hypertextspezifische Realisierungsform der einen, der subjektiven Seite aus Georg Simmels vielzitierter, aber analytisch zu selten nachvollzogener Kulturkonzeption zu erblicken, derzufolge Kultur ein Vorgang, ein dynamischer Prozess ist, der sich zwischen dem produktiven und aneignenden subjektiven Geist auf der einen und den Sachverhalten, den Werten des „objektiven Geistes" auf der anderen Seite abspielt.33 Welche Veränderungen bewirkt nun in jenem Segment des „objektiven Geistes", den das kulturelle Gedächtnis darstellt, der Hypertext? Wenn hier zur Diskussion dieser Frage von Jan Assmanns Begriff des kulturellen Gedächtnisses ausgegangen wird, so ist damit zugleich die Behauptung impliziert, dieser Begriff, der am
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s. vor allem: Simmel, Kultur.
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engeren Objektbereich der Hochkulturen und der in ihrer Gedächtniskultur zentralen Stellung der Schriftlichkeit entwickelt wurde, könne mit bestimmten Modifikationen auch für die auf die Hochkulturen folgenden modernen Kulturkomplexe (einschließlich ihrer gegenwärtig sich globalisierenden Fortsetzungen) fruchtbar gemacht werden. Diese Behauptung wird zunächst gestützt durch Assmanns eigene, verweisungsreiche Umgangsweise mit dem Begriff, darüber hinaus aber auch durch zahlreiche Anschlüsse, die von der Metahistorie über die Philosophie bis hin zu sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen wie Soziologie und Ethnologie reichen, wo der Begriff insbesondere den Theorietraditionen des „kollektiven Gedächtnisses" (seit M. Halbwachs) und der Wissenssoziologie vermittelbar ist. Einer dieser Anschlüsse - es handelt sich um eine konzise Interpretation von Assmann, die der Historiker Oexle seiner Abhandlung über „Memoria als Kultur" eingefügt hat 34 - wird im folgenden aus argumentationspragmatischen Gründen benutzt: an ihm lässt sich, in einem ersten Schritt, gut zeigen, welche Modifikationen angebracht sind, wenn Assmanns Kulturkonzeption in gegenwärtige Verhältnisse übersetzt wird; ebenso lässt sich von hier aus, im nächsten Schritt, die gestellte Frage nach der Absorptionsfähigkeit des Hypertexts präziser beantworten. Oexle umreißt Assmanns Konzeption wie folgt: „,Kulturelles Gedächtnis' meint ... die jeweilige ,Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform des kulturellen Sinns', als ,Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht'.35 Es wird abgegrenzt von ,Wissenschaft' (der die Bezogenheit auf ein kollektives Selbstbild abgehe) und vom kommunikativen Gedächtnis', das auf der Alltagskommunikation der Individuen in einer Vielzahl von Gruppen beruhe, aber nur einen beschränkten Zeithorizont umfasse (in der Regel drei bis vier Generationen, also 80 bis 100 Jahre) und keine Fixpunkte kenne, die es an eine sich immer weiter sich ausdehnende Vergangenheit binden würden. Eben dies kennzeichnet aber das kulturelle Gedächtnis. Seine Fixpunkte sind langfristige Objektivationen im Bereich der Kultur und der Kommunikation: also Texte, Bilder, Denkmäler, Bauten, Riten, die durch kulturelle Formung und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Fest, Feier) zu ,Erinnerungsfiguren' werden, zu ,Inseln vollkommen anderer Zeitlichkeit' bzw. der ,Zeitenthobenheit'. Dieses kulturelle Gedächtnis ist gleichfalls gruppenbezogen (,identitätskonkret'), es ist rekonstruktiv (d. h. es bezieht sein Wissen immer auf eine aktuell gegenwärtige Situation); es ist (in Texten, Bildern, Riten) haltbar geformt; es ist (durch Zeremonialisierung und Zuweisung an spezielle Träge des Gedächtnisses) institutionalisiert und gesichert; es impliziert Wertperspektiven
34 35
Oexle, Memoria als Kultur, bes. S. 30 f. Assmann, Kollektives Gedächtnis, S. 9.
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und Relevanzabstufungen; es ist reflexiv, in dem es in Praxis und Auslegung das Selbstbild einer Gruppe vermittelt und damit stabilisiert und ein kollektives Wissen über die Vergangenheit bietet, ,auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt 4 ". 36 Die mit dem Ausdruck „Sammelbegriff..." eingeleitete Definition ist an sich weit genug, um alle denkbaren gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse einschließen zu können. Jede Gesellschaft überliefert und vergegenwärtigt kulturellen Sinn, wenngleich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen, auf unterschiedliche Weise. Wenn Assmann von ihm feststellt, er steuere „Handeln und Erleben", so bedeutet dies, in die Begriffssprache der Soziologie übersetzt: insbesondere wegen dieser normativen Funktion gehört der gemeinte Teil des kollektiven Gedächtnisses zur Kultur, da zu den zentralen Funktionen von Kultur die Strukturierung von Normen über Werte gehört. Auch die normative Seite der Wir-Identität gehört dazu. Soweit könnte Assmanns Definition auch die Verhältnisse der Gegenwart einschließen. Dass jedoch das Fehlen eines kollektiven Bezugsrahmens für Identität Assmann als Grund gilt, „Wissenschaft" aus dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses auszuschließen, ist nur nachzuvollziehen, wenn „Wissenschaft" als modernes Phänomen verstanden wird, also als Ergebnis eines Differenzierungsprozesses, und „kulturelles Gedächtnis" nur als normatives Wissen einer Kultur, deren Regulative noch nicht differenziert sind in die selbstreferentiellen - wenn auch in einigen abstrakten Werten und Regeln verbundenen - Bereiche der Religion, des Rechts, der Moral, der Kunst und eben der Wissenschaft. 37 Eine solche Beschränkung des Begriffs „kulturelles Gedächtnis" ist jedoch nicht zwangsläufig und nicht evident. Der Komplexität moderner Gesellschaft und Kultur im Ganzen könnte ebenso gut ein differenzierter Begriff des kulturellen Gedächtnisses zur Seite gestellt werden. Dann wäre z.B. dem „spezifischen Interaktionsrahmen" Wissenschaft ein systemspezifisches kulturelles Gedächtnis zuzurechnen, eine „Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsform" ihres spezifischen kulturellen Sinns, der sich vor allem auf den normativen Kern von Forschung und akademischer Kommunikation (von der die Kommunikation innerhalb der Lehrbeziehung nur ein Fall neben anderen ist) bezöge. Einzelne Qualitäten der so differenzierten Struktur des kulturellen Gedächtnisses verdienten es, weiter ausgeführt zu werden: etwa das Verhältnis von formalen und materialen Standardisierungen und deren Interpénétration (R. Münch) über Systemgrenzen hinweg (die formalen Standardisierungen laufen z. B. in der Wissenschaftskultur und in der Rechtskultur vermittels höchst unterschiedlicher Arten des Gedächtnisses auseinander, die materialen sind jedoch in Teilberei36
Oexle, Memoria als Kultur, S. 30. Diese Reihung entspricht den Sphären des „objektiven Geistes", an denen Simmel seine duale Kulturkonzeption (Simmel, Kultur) zu verdeutlichen pflegt. 37
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chen, so im Fall bestimmter Grundrechte, miteinander verbunden usw.). Diese Argumentationslinie, die auf eine systemtheoretische Typisierung von Gedächtnissen hinausläuft, kann jedoch im Rahmen dieses Beitrags nur angedeutet werden. Dasselbe gilt für den Komplex der Entmythologisierung, „Entzauberung", Rationalisierung kultureller Gedächtnisse durch Wissenschaft, die andererseits über ihren historischen Zweig, dem die „natürliche", nämlich „arbeitsteilige" Rolle eines Interpreten des kulturellen Gedächtnisses zuwächst, nach wie vor unentbehrlich für das kollektive Selbstbild von umfassenden gesellschaftlichen Komplexen, namentlich von nationalen und anderen politischen Vergemeinschaftungen erscheint. Auch das unterscheidende Merkmal, mit dem Assmann das relativ kurzlebige „kommunikative Gedächtnis" vom „kulturellen Gedächtnis" abgrenzt - dauerhafte Objektivationen als „Fixpunkte" und auf diese bezogene Formen der symbolischen und der rituellen Kommunikation (Oexle stellt sie zu Recht in den Mittelpunkt) - stellt für eine Übertragung von hochkulturellen auf moderne und gegenwärtige Lagen kein grundsätzliches Hindernis dar, zumal Assmann die mit jedem kulturellen Gedächtnis gegebene kommunikative Praxis prinzipiell verknüpft sieht mit der Pragmatik der Situationen, in die hinein das Zeitenthobene der entsprechenden Objektivationen zwangsläufig „rekonstruktiv" (Oexle) vermittelt werden muss. Institutionalisierungsmodalitäten, Grade der Zeremonialisierung und der festen Zuweisung an spezielle Träger des Gedächtnisses sind dieser prinzipiellen Adaptationsfähigkeit gegenüber sekundäre Aspekte. Ohne Bezugnahme auf Assmann wird dies auch von einem Artikel über symbolischen Ausdruck und rituelles Verhalten bekräftigt, den Habermas aus Anlass der Debatte um den Bau des Berliner „Holocaust-Denkmals" verfasst und in seiner Schrift „Zeit der Übergänge" unter der Rubrik „Öffentliche Repräsentation und kulturelles Gedächtnis" veröffentlicht hat 38 : „die kommunikative Verflüssigung der normativen Gehalte von Mythen und Riten, von symbolischen Ausdrucksformen und Praktiken" bedeutet, so Habermas, wohl „eine Umformung, nicht aber die Auflösung der Geltungsgrundlagen des »zwecklos obligatorischen Handelns 4 ". 39 Symbolische Darstellungs- und rituelle Ausdrucksformen würden auch in modernen Gesellschaften „nicht nur in residualer Gestalt" auftreten; das Beispiel des Berliner Mahnmalprojekts zeige, „dass sich das kulturelle Gedächtnis einer Nation von Staatsbürgern nicht allein im diskursiven Medium von Unterricht, literarischer Überlieferung, Museums- und Gedenkstättenpädagogik fortpflanzt; es verlangt offensichtlich auch nach symbolischer Darstellung und Ritualisierung". 40
38
Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Habermas beruft sich mit diesem Zitat auf Gehlens Institutionentheorie. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 69-179. 40 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, S. 82. 39
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Die Konsequenzen, die aus dem Gesagten für die Frage nach der Absorptionsfähigkeit des Hypertextes zu ziehen sind, liegen auf der Hand. Was das kommunikative Gedächtnis betrifft, so erlaubt das „Medium" des Hypertextes nicht nur über die Inhalte, die es aufbauen (persönliche Erinnerungen, Erinnerungen einer Gruppe, einer Generation usw.) zu kommunizieren. Durch den Austausch zwischen drei Generationen kann das kommunikative Gedächtnis über den Hypertext auch erst hergestellt werden; über die stetige Fortsetzung des kommunikativen Gedächtnisses ist es möglich, dass der Zeithorizont von 80 bis 100 Jahren, den diese Generationen umschreiben, gleichsam „mitwandert". 41 Unklare Grenzen der Teilnahme an dieser virtuellen Diskursformation und entsprechend beliebige Grenzziehungen von Wir-Identitäten sprechen nicht gegen dieses grundsätzlich gegebene Absorptionspotential. Ganz anderes ergibt sich im Fall des kulturellen Gedächtnisses. Es gibt, zunächst, auch in diesem Fall nichts, worüber der Hypertext nicht Kommunikation zuließe. Insbesondere gibt es keine kulturelle Objektivation, die er nicht reproduzieren könnte. Die symbolischen Fixpunkte, an die sich die Erinnerung des kulturellen Gedächtnisses heftet, der rituelle Umgang mit ihnen, die Dramaturgie eines Festes, Erinnerungsorte und Erinnerungslandschaften, Denkmäler und Museen, der Ablauf einer Historikerdebatte über ein kollektives Schicksal, das sich in jenen symbolischen Fixpunkten verdichtet - dies alles kann selbstverständlich über Bildschirme „abgerufen" und über sie zum Gegenstand sekundärer Auseinandersetzungen werden. Folgende Gesichtspunkte sind jedoch gegen die Einbeziehbarkeit in das System „Hypertext" anzuführen: a) Die Fixpunkte werden für die Nutzer wenn überhaupt, so nur für die Zeitdauer ihres Abgerufenseins zur - virtuellen - Realität. Sie sind einer potentiell gleichwertigen Speicher- und Löschoption unterworfen. Dabei verbürgt die Entscheidung für das Speichern keineswegs die dauerhafte Möglichkeit des Erinnerns: jede künftige Erfindung haltbarerer Speichermaterialien geriete in einen fundamentalen Widerspruch zu den kurzen Innovationszyklen der Programmtechnologie. b) Die Virtualität der mit diesen Fixpunkten gemeinten Objektivationen gibt diesen den Charakter von Surrogaten. Während für die Frage der Absorptionsfähigkeit im Falle von Texten die Differenz elektronisch-nichtelektronisch eine relative ist (solange ästhetische Qualitäten keine Rolle spielen), bedeutet der Surrogatcharakter bei allen Objektivationen, die wegen ihrer ästhetischen Qualitäten, ihrer räumlichen Dimension und/oder als soziales Ereignis die Beteiligung der Sinne, körperliche Präsenz und äußere wie innere Verhaltensweisen erfordern, eine schier unüberbrückbare Kluft zwischen nichtvirtueller und virtu-
41 Dieses Bild verwendet Assmann in seiner typologischen Gegenüberstellung der beiden Gedächtnisformen in: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 56.
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eller Realität und setzt der Absorptionsfähigkeit des Hypertextes eine feste Grenze. c) Die kulturellen Bezugspunkte des Erinnerns, deren fixierter Charakter am deutlichsten in den Prozessen der Kanonisierung von Texten, der Standardisierung von Verhaltensmodellen und im raumgestaltenden Prinzip von Denkmälern zum Ausdruck kommt, bilden in ihrer Dauerhaftigkeit den größten Kontrast zur Flüchtigkeit alles dessen, was im Zusammenhang des Hypertexts eine analoge Rolle spielen könnte. Assmann, der Texte in Anlehnung an K. Ehlich als „wiederaufgenommene Mitteilung" im Rahmen einer „zerdehnten Situation" auffasst, erläutert diese als die Lösung eines Grundproblems, dem Bedürfiiis nach Stabilisierung in einer flüchtigen Welt: „Wenn Kulturen ... ,Inseln im Meer des Vergessens4 sind, dann ist die ,zerdehnte Situation4 die Urszene der Kultur. Hier wird etwas der Flüchtigkeit der Kommunikation und dem Meer des Vergessens entrissen, um es fur den Fall einer späteren Wiederaufnahme zu bewahren 44.42 Es sei an dieser Stelle auch an das Verhältnis von Flüchtigkeit und Stabilität in Simmeis Kulturbegriff erinnert, der den Gegensatz zwischen dem Leben und den von ihm hervorgebrachten kulturellen Objektivationen kennzeichnet. Simmel beschreibt ihn als „Formgegensatz ... zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die, einmal geschaffen, unbeweglich aber zeitlos gültig sind44 4 3 Ginge Kultur ganz im Hypertext auf, wäre Simmel als Beobachter der Gegenwart genötigt, den Formgegensatz umzudrehen: Der (relativen) Statik eines noch überschaubaren subjektiven Lebens stünde die permanent sich ins Unendliche ausdehnende, in stetiger Veränderung begriffene Welt der virtuellen „Objekte44 gegenüber, aus der sich auch die letzten Spuren „zeitloser Gültigkeit" verflüchtigt haben. d) Eine unüberwindbare Barriere stellt sich der Absorption des kulturellen Gedächtnisses durch den Hypertext schließlich durch die Sachverhalte des Institutionellen entgegen, die mit dem kulturellen Gedächtnis verbunden sind. Erst in der „institutionalisierten Kommunikation44, in die der kollektive Gebrauch der langfristigen Objektivationen eingebettet ist (die in der wortlos rituellen Kommunikation ebenso wie in der Deutungskultur, den „korrekten 44 Sprachregelungen von Gemeinschaften, oder bloß im Fortschreiben wissenschaftlich legitimierter Erläuterungen musealer Exponate und in vielem anderem zum Ausdruck kommt), gewinnt das Gedächtnis der Kultur seine Wirklichkeit und Wirksamkeit im Leben von Gruppen oder Gesellschaften. Erst durch institutionelle Akteure, die als seine „Träger 44 fungieren (gleich ob sie dieser Rolle erblich oder zeremoniell oder über professionellen Kompetenzerwerb zugewiesen werden), kann es kontinuierlich Geltung als legitimes gesellschaftliches Wissen erlangen und selbst legitimierend auf andere Bereiche der Kultur 42 43
Assmann, 4. Diskussionseinheit, S. 242. Simmel, Kultur, S. 385.
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einwirken; erst durch institutionelle Träger ist es den zentralen Wertperspektiven und Relevanzabstufungen der Gesamtkultur vermittelt. Die Tatsache, dass all dieses jene personellen und sachlichen Zusammenhänge voraussetzt, die der auf die Kontinuität aller Kultur bezogene Begriff „Tradition" meint, wenn er über die bloße Wiederholung des Eingelebten und die triviale Fortsetzung von bewährter Routine hinausgeht und auf der „Pflege" von Werten („Kultivierung") beruht, mag zu Genüge die vollkommene Exteriorität des Gemeinten gegenüber dem Hypertext verdeutlichen. Gewiss, unter den individualisiertfragmentierten Verhältnissen der Gegenwart sind viele gesellschaftliche Bereiche entinstitutionalisiert oder zumindest institutionell gelockert worden, und „gelockert" erscheinen die dazugehörigen spezifischen Formen und Inhalte des kulturellen Gedächtnisses.44 Gleichwohl setzen sich innerhalb der oben im Anschluss an Simmel genannten Teilsphären objektivierter Kultur - Religion, Moral, Recht, Wissenschaft und Kunst - unverkennbar Kerne des Institutionellen fort, die - indem sie fortgesetzt um die Gültigkeit von Maßstäben (von Standards) oder um deren Erneuerung ringen, wie nichts anderes in der Gegenwartsgesellschaft als Verkörperung kultureller Kontinuität (und damit des kulturellen Gedächtnisses) angesehen werden können. Es ist offensichtlich, dass der Hypertext nicht als Surrogat für diese Kerne - verdichtete Strukturen konsistenter und persistierender Sinnhaftigkeit - in Frage kommen kann. Überließe man ihm das kulturelle Gedächtnis, würde es sich auflösen in mnemische Anomie (dieser Ausdruck scheint die Sache eher zu treffen als „kulturelle Amnesie", die sich auf den ersten Blick anbietet 45 ).
I V . Schlussbemerkung: der Imperativ des kulturellen Subjekts An der Teildimension der Kultur, die das kulturelle Gedächtnis darstellt, konnten somit Grenzen gegenüber der Vision einer Verschmelzung von „Kultur" und „Hypertext" aufgezeigt werden (analoge Untersuchungen zu weiteren Teildimensionen der Kultur müssten dieser zur Seite gestellt werden). Dabei bewegte sich der Gedankengang überwiegend auf einer makrotheoretischen Ebene. Ich möchte abschließend nochmals zur mikrotheoretischen zurückkehren und erneut das Individuum in seinem Verhältnis zum Hypertext in den Blick nehmen. 44
Den Ausdruck „Lockerung" verwendet, in verschiedenen Facetten, Anton C. Zijderveld in seiner Diagnose gegenwärtiger Institutionalität (Zijderveld, The Institutional Imperative), wobei er im Zusammenhang der Individualisierung auch von - individuellen wie kollektiven - „loose memories" spricht (S. 153 f.). 45 Vgl. Friedrich H. Tenbrucks Warnung (die zuerst 1984, noch ohne Wissen um die kommende Macht des Hypertextes, formuliert wurde): „... Stämme, Völker, Kulturen und Nationen erwartet das Los des Caspar Hauser, wenn das historische Gedächtnis verloren geht" (Tenbruck, Gedächtnis der Wissenschaft, S. 312).
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Das Problematische an der Lage des Individuums ist nicht so sehr (worauf bereits Simmel hingewiesen hatte) das Übergewicht der objektivierten Sphären der Kultur im Verhältnis zur subjektiven Anforderung, sich deren sachliche Gehalte und Werte zu erschließen, zu erarbeiten und anzueignen; es ist vielmehr die Übermacht des Vielfältigen, des Beliebigen und des Ephemeren - eine jedes Maß sprengende optionale Vielfalt (die durch vorfabrizierte Strukturierungen nicht wettgemacht wird), die wie nie zuvor den Menschen als „Subjekt der Kultur" herausfordert. Die schon anthropologisch gegebene Disposition, in Verhaltensformierung, in „Lebensführung" die durch die offene Umweltrelation stammende „Reizüberflutung" (Arnold Gehlen) zu meistern, wird im Zeitalter hypertextueller Informationsüberflutung, der Schwächung und Erosion institutioneller, in den Alltag übersetzbarer Maßstäbe, mehr und mehr zum Problem. Wie nie zuvor stellt Technik einer größtmöglichen Zahl von Menschen „Information" zur Verfügung, aber nur außerordentlich wenige sind imstande, über professionell-spezialistisch festgelegte sowie über triviale Nutzungsarten hinaus, sie kulturell zu gebrauchen, d.h. einen Maßstab des Wissenswerten anzulegen. Über dem Meer des Möglichen, auf dem sich die Mehrheit „navigierend" bewegt, wölbt sich kein orientierender Sternhimmel. Wie nie zuvor ist der Mensch im Zeitalter des Hypertexts in der Lage, Erinnernswertes verfügbar zu machen und sich von dem, was vergessen werden sollte, zu trennen. Den Alltag beherrscht indes die Folge: gespeichert - vergessen.46 Hinzu kommt das den meisten Nutzern nicht bewusste Problem der informationellen Heteronomie. Zweifellos gewinnen sie durch den Hypertext Handlungsspielräume. Zugleich aber verzichten sie im tagtäglichen Umgang mit dem Hypertext auf die Autonomie der Vorselektion und der Entscheidung über selbst gewonnene (statt über vorstrukturierte) Optionen. Was könnte als Kultur in diesem Zusammenhang, angesichts dieser Problemlage verstanden werden? Der Wandel und die Inkonsistenzen auf der Seite der Kultur, die Simmel als Welt der Objektivationen dargestellt hat, zu denen die Subjekte ihr rezeptives und produktives Verhältnis finden müssen, damit Kultur als ein lebendiger Prozess real werden kann, macht es schwer genug, diese Frage zu beantworten. Noch schwieriger wird dies Unterfangen, bezieht man die Qualitäten des Subjekts ein, die angesichts der Tatsache gegeben sein müssen, dass sich zwischen das Subjekt und die objektiven Inhalte und Werte der Kultur mehr und mehr ein Phänomen wie der Hypertext schiebt. Wie könnte heute der an das Subjekt der Kultur gerichtete Imperativ erfüllt werden, der in Max Webers berühmtem Wort aus dem „Objektivitätsaufsatz" enthalten ist, nach dem als „Kultur" ein „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens" zu verstehen ist - was eben kulturelle Subjekte („Kulturmenschen",
46
Vgl. das Kapitel „Gespeichert, das heißt vergessen" (Kap. X) in: Weinrich,
Lethe.
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wie Weber sich ausdrückt) voraussetzt, „begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen" 47 ?
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47
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Kultur und Zivilisation Faktoren im Geschichtsprozess mit Blick besonders auf Terror heute: was ihn schürt, und was er zerstört 1 Wolfgang Lipp
Widmung Sieben Jahre sind sieben Jahre. Sieben Jahre haben Eckart Pankoke und ich am Lehrstuhl für Soziologie, J. C. Papalekas, der neu gegründeten Ruhruniversität Bochum (mit anfänglicher Exklave an der „Sozialforschungsstelle" in Dortmund) als Mitarbeiter und Assistenten in enger Tuchfühlung gestanden, und diese Jahre haben uns nicht nur auf Grund der äußeren Gegebenheiten der Gründungslage der Universität mit all ihren Chancen und Provisorien, der Ansprüche und Versprechungen unseres damals noch jungen, Profil suchenden Fachs, der Soziologie, schließlich aber des Auf- und Ausbruchs der „68er" jener Generation, der wir angehörten und mit der wir uns zugleich auseinandersetzten - : Nein, diese Zeit hat uns auch innerlich, als Personen, geprägt, und ich habe Eckart Pankoke gerade im Rückblick dafür zu danken, dass er die „ Komplexität " der Fragen, die damals auf uns einströmten und die zu beantworten waren, durch vielfältiges Vorbild, das er gab, durch sein Wissen und seine Freundschaft immer wieder zu „ reduzieren " half - bis hin zu jener Luhmannschen Formel selbst, die er damals früh entdeckt und in Bochum in Umlauf gebracht hatte, und die mir dann, über Bochum hinaus, zum Anstoß für erste postdissertantische wissenschaftliche Forschung wurde.
1
Der Beitrag geht zurück auf die „Abschiedsvorlesung", die ich an der Universität Würzburg anlässlich meines Ausscheidens aus dem aktiven Lehrbetrieb (im Wintersemester 2001/2002) am 8. Februar 2002 im Toscana-Saal der Residenz gehalten habe. Die damalige Fassung ist inzwischen revidiert, und ich habe ihr den Charakter einer „Abhandlung" gegeben. Gleichviel bleibt die Form der Rede, dem Anlass entsprechend, streckenweise aufrechterhalten.
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So widme ich Eckart Pankoke, dem Begleiter, Freund und Kollegen, meinen Beitrag zur Festschrift in aller Mitfreude und mit Dank! Das Thema, das ich darin behandle, wird ihn die nicht wenigen akademischen Spuren, die auf unsere gemeinsame Zeit zurückverweisen, sicherlich schnell erkennen lassen!
I. Einführung, Fragestellung Mensch und Gesellschaft wandeln sich kontinuierlich. Sie machen „Geschichte", und sie erfahren sie. Wie geht dieser Wandel vor sich? Was treibt ihn an? Wer steuert den Prozess - und wohin? Zu den denkbaren analytischen Schnitten, die man zur Klärung der Fragen hier ansetzen kann, zählt die Unterscheidung von Kräften, die das Geschehen „kulturell", und solchen, die es „zivilisatorisch" tragen. Begriffsgeschichtlich in höchst labyrinthischer sozialer und politischer Bedeutung anzutreffen 2 - was ihr näheres Verständnis gewiss erschwert - , haben „Kultur" und „Zivilisation" Beachtung systematisch in der Kultursoziologie, und hier vor allem im Werk Alfred Webers,3 gefunden. 4 Nimmt man die Dinge von dort her ins Visier, erhält man Einblick in Verhältnisse, die gleichsam „dialektisch" gerichtet sind. Kultur und Zivilisation - streckenweise scheinbar identisch: identisch i.S. wechselseitiger semantischer Durchdringung der Sphären, z.B. von (kulturellen) „Zielen" und (zivilisatorischen) „Mitteln", (kulturellen) „Ideen" und (zivilisatorischen) „Interessen" etc. und vice versa - gehören, wie sprichwörtlich die Seiten einer Medaille, einerseits zwar zusammen und sind auf Konkordanz, ihr praktisches Ineinandergreifen im Medium von Gesellschaft, auf Integration angelegt (Kultur sive Zivilisation; Zivilisation sive Kultur); gleichwohl verfangen sie sich - oft entlang vorgegebener, gesellschaftsinterner, z.B. sozioökonomischer Verwerfungslinien, oft entlang aber auch von Abgrenzungen nach außen, so politischen „Freund-Feind"-Markierungen 5 - in Divergenzen, Widersprüchen, heillosen „Entzweiungen" (Zivilisation vs. Kultur; Kultur vs. Zivilisation). Sie verlieren die Balance, driften räumlich und namentlich zeitlich auseinander,6 stoßen
2 3
Vgl. nur Fisch, Zivilisation, Kultur. s. Weber, A., Prinzipielles zur Kultursoziologie; ferner Weber, A., Kultursoziolo-
gie. 4 Ich kann den von Alfred Weber angestoßenen - und von Oswald Spengler (Spengler, Untergang des Abendlandes) in gewisser Weise überschatteten - Diskurs, das „Kultur-Zivi lisations-Konzept", philologisch hier nicht im Detail nachzeichnen. Mir ist vielmehr darum zu tun, die Hauptinhalte des Diskurses in Erinnerung zu rufen; dabei lenke ich den Blick besonders auf die „dialektischen" Potentiale. Zugleich gehe ich davon aus, dass die Dinge in der gegebenen „zeitgeschichtlichen Lage" heute eklatante neue Bedeutung erhalten haben. 5 Dazu klassisch Schmitt, Begriff des Politischen. 6 „Cultural lag"; s. Ogburn, On Culture and Social Change.
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einander „metaphysisch" ab und prallen real aufeinander - bis hin zu Vernichtungskriegen.7
1. Systematische Aspekte Die Zusammenhänge und ihre Analyse komplizieren sich insofern, als Kultur und Zivilisation zugleich die Basis darstellen, auf der auch „Geschichte" bzw. konkrete einzelne Geschichtsverläufe sich formieren. Dramatische Züge erhält das Geschehen vor allem hier dahingehend, dass die Menschen, die in ihr stehen - „Geschichtstäter", „Geschichtsopfer", das „Geschichtspublikum" - Geschichte zwar gerne als Prozess konzipieren, der „linear" erfolgt und Pfade des „Fortschritts" geht, die Entwicklungen faktisch immer wieder aber kippen und einschwenken, besser: einschwenken müssen, auf Verlaufsformen „zyklischer" Art. Geschichte, wie der Kultur-Zivilisations-Ansatz es zeigen will, vollzieht sich in der Tat in zyklischen Schüben; sie kennt „Werde"-Prozesse, „Aufstieg" und „Blüte", „welkt" aber auch und erfährt „Niedergang" und „Verfall"; sie träumt von „Siegen" - und kann doch in „Chaos" versinken. 8 Es kommt erneut - je mehr dann Fähigkeiten zur „Vermittlung" schwinden, ja schließlich die „Mitte" selbst in „Verlust" gerät 9 - zur Zerstückung (Desintegration) hier kultureller, dort zivilisatorischer Faktoren. Polarisierende, destruktive Kräfte übernehmen das Kommando; das „Licht der großen Kulturprobleme (zieht) weiter" 10 , die Schatten wachsen und Kulturblüten blühen auf an anderer Stelle. Nun will ich meine Überlegungen nicht nur ins Abstrakte, Theoretische gehen lassen. Obwohl das Konzept von Aufstieg und Niedergang, Blühen und Welken mit dem Kultur-Zivilisations-Ansatz eng verbunden ist, kann das hier behandelte Thema - Kultur und Zivilisation, ihre Konkordanzen, ihre Entzweiungen als Grundfaktoren von Geschichte - auch ohne direkte Bezugnahme auf das „Glücken" von „Kulturblüten" aufgenommen werden. Wichtig ist immerhin, dass Kulturblüten, wenn sie da blühen, ein hohes, im Ganzen unwahrscheinliches Maß an ideeller Kraft, funktionaler Differenzierung und sozialer Integration voraussetzen. Beispiele, dass derartige Konjunkturen sich einstellen können, 7
Vgl. gut auch Csäky/Uhl , Zivilisationsbrüche. Vgl. bes. Spengler , Untergang des Abendlandes, mit der wohl pointiertesten Ausarbeitung dieser Sichtweise. 9 Ich knüpfe hier an die seinerzeit bekannte, konservative kulturkritische Formel des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (Sedlmayr, Verlust der Mitte) an. Sie findet im Versuch Paul Virilios (Virilio , Kunst des Schreckens) die Kunst der Moderne als „Kunst des Schreckens" zu erweisen, nachträglich gewissermaßen Bestätigung. Während moderne Kunst jenen Verlust der Mitte ftir Sedlmayr seismographisch nur anzeigt, macht sie ihn dem Menschen, Virilio zufolge, heute gleichsam terroristisch, durch Verbreitung lähmenden ästhetischen Schreckens bewusst. 10 Weber , M., Wissenschaftslehre, S. 214. 8
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sind etwa die spätkulturelle „hellenistische Kultur", das späte „Mittelalter" oder auch jene moderne und spätmoderne „Zivilgesellschaft", wie sie der Westen und insbesondere die USA hervorgebracht haben. Gerade sie, die Zivilgesellschaft, zeigt ja auf, dass es möglich ist, Elemente hoher Wertkultur - so, im Bereich des religiösen Lebens, nonkonformistischen christlichen Fundamentalismus,11 oder, in Öffentlichkeit und Politik, die Option für Demokratie und Menschenrechte - mit den zivilisatorischen Raffinessen etwa der Technik, dem Dynamismus der Wirtschaft, den Errungenschaften der Wissenschaften etc. zu einer produktiven, überaus reichen, politisch schließlich hegemonial auftretenden kulturellen Funktionseinheit zu verbinden. Gerade an dieser Stelle aber ist auch zu fragen - und hier präsentiere ich zugleich Vermutungen, die mich zum vorliegenden Thema speziell beschäftigen - , ob nicht inmitten solcher Kulturblüte der Weg am Ende doch zum „Untergang" - wie ihn Oswald Spengler für das „Abendland", womöglich also jene Zivilgesellschaft, prophezeit hat 12 beschritten ist, und nur der Schauplatz inzwischen gewechselt hat: gewechselt hat von der ursprünglich europäischen Ebene auf die umfassende „weltgesellschaftliche" Szenerie. 13 Träfe, wofür vieles spricht, die Annahme zu, ließe sich der „Kampf der Kulturen" 14 , den die USA heute gegen eine Reihe von „Schurkenstaaten" (Afghanistan, Irak, Iran, Nordkorea; die „Achse des Bösen") führen, als Ausdruck eines weltweit „wieder" auflebenden Zivilisationen-vs.-Kulturen resp. Kulturen-vs.Zivilisationen-Kriegs verstehen. Dabei zeigte sich, dass der Vorgang eine markante epochale Schwelle übersteigt: Ist es den Verfechtern von Zivilisation (sive Kultur) zunehmend darum zu tun, an die Stelle jenes „tugendhaften", ethisch anspruchsvollen „guten Lebens" (Aristoteles), zu dem „klassisch" einst der Polis-Bürger sich aufgerufen sah, ein transzendenzloses, im Sinne der „life sciences" aber „machbares", biotisches „Wohlleben" zu setzen,15 pflegen die Schurkenstaaten „Werte" - traditionelle „Kulturwerte" - zwar ostentativ und
11
Vgl. Lipp, Wolfgang, Einleitung, bes. S. 19-32. „Nicht nur der Künstler kämpft gegen den Widerstand der Materie und gegen die Vernichtung der Idee in sich. Jede Kultur steht in einer tief symbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Räume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen - sie wird zur „Zivilisation". {Spengler, Untergang des Abendlandes, S. 143). Hier, im „Untergang des Abendlandes", wird „zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen." (ebd., S. 3). 13 Vgl. jetzt Farrenkopf, Prophet of Decline. 14 Huntington, Kampf der Kulturen. 15 Vgl. Lipp, Wolfgang, Biokratie. 12
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halten sie hoch und heilig, sind mittelstrategisch (wirtschaftlich, technisch, wissenschaftlich) und kurz: zivilisatorisch, aber kaum in der Lage, sie gegen querlaufende „weltgesellschaftlich" ausgreifende, „moderne" und „postmoderne" Verhältnisse auf Dauer zu behaupten. Sie stehen - nicht zuletzt militärisch hier auf gleichsam „verlorenem Posten".16 Dass man dort, mit dem Rücken zur Wand, zur Waffe des „Terrors" greift zum selbstmörderisch-mörderischen, radikalen Ausstieg aus dem Leben, einem Akt, durch den alle Werte, die man vertrat, und alle Rechtfertigungen, die man vortrug, mit unterzugehen drohen scheint mir wenn nicht zwangsläufig, so doch konsequent zu sein. Das Geschehen gehorcht am Ende den aufsteigenden epochalen Regeln eines Systems, das ich als „Biokratie" 17 bezeichne. Ich komme auf die Dinge, der Titelfrage meines Beitrags folgend, näher unten zurück.
2. Historische Erfahrungen In der Tat waren es die besonderen zeitgeschichtlichen Erfahrungen, die mich mein Thema - unser heutiges Thema - stellen ließen, wie ich es stellte. Ausgangspunkt meiner Überlegungen wurde der „Fall der Berliner Mauer" (1989), wurden die Öffnung des „Eisernen Vorhangs", der Zusammenbruch der Sowjetunion, das Ende des „Kalten Krieges". Der Amerikaner Francis Fukuyama 18 hat die gewaltigen Umstrukturierungen und die damals sich abzeichnende neue geschichtliche Lage mit der These bedacht, dass mit dem Sieg, den im „Wettkampf der Systeme" der „Westen" über den „Osten" davongetragen hatte, alle wesentlichen politischen und ideologischen Motive, „Geschichte zu machen", entfallen seien; die Geschichte - qua „Weltgeschichte" - sei insofern ans Ende gekommen; ein Zeitalter der „Nachgeschichte" habe begonnen. Angesichts des Wohlstands, den der Kapitalismus, die freie Marktwirtschaft, verbunden mit liberaler Demokratie nun ungehemmt über die Erde verbreiten werde, gebe es keine andere Option. Feinde und Feindbilder, Machtanmaßungen, der Kampf um alternative politische Linien, im übrigen die Vereinnahmung durch Verstaatlichung und Staat verflüchtigten sich; an die Stelle treten würde das Fluidum allgemeiner soziokultureller Toleranz, würden die Tugenden einer ebenso offenen, individuell-initiativen, kompetitiven, wie satten - oder doch satt machenden - „Bürgergesellschaft" oder „civil society". 19
16
s. zu diesem Topos Jünger , Der verlorene Posten; vgl. Lipp, Wolfgang, Risiko, Verantwortung, Schicksal. 17 s. Lipp, Wolfgang, Biokratismen und Biokratie. 18 Fukuyama , Das Ende der Geschichte. 19 Dazu z.B. Zöller (Hrsg.), Vom Betreuungsstaat zur Bürgergesellschaft; Raeder , Wesen der Zivilgesellschaft.
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Die Realgeschichte, wie sie sich spätestens mit der Balkankrise, den Balkankriegen ab Mitte der neunziger Jahre und schließlich mit dem „11. September" (2001), dem Afghanistankrieg und dem Einmarsch der USA in den Irak in Erinnerung brachte: Die Realgeschichte hat diese These bald freilich Lügen gestraft; sie trat mit jenen Kriegen, politischen Linienfragen, kulturellen Sinndiskrepanzen unmissverständlich erneut auf den Plan. Die „Deblockade" der Lebensprozesse, die der Zusammenbruch des Sowjetsystems zweifellos bewirkt hatte, sollte die Geschichte gerade nicht still stellen; sie zog vielmehr das Wiederaufleben und d.h. sofort: ein von Konflikten besetztes jähes Wiederaufleben lange verdrängter bzw. unterdrückter ethnischer, ethnokultureller und religiöser Konflikte (hier zwischen Orthodoxen, Katholiken und Muslimen) nach sich, 20 und so oder so wurde deutlich, dass nicht nur die von den Entwicklungen praktisch Betroffenen, sondern die Historiker selbst, die die Dinge aufzeichnen, mit Geschichte - ihrer Geschichte - auch in Zukunft konfrontiert bleiben werden. Gewiss, (die) Geschichte ist längst nicht am Ende.21 Aber wie geht sie weiter? Geändert haben sich sicher die Fragen, die sie aufwirft; überhaupt herrscht eine neue geschichtliche „Lage". Wie ist diese Lage näher zu bestimmen? Im Folgenden versuche ich, die wichtigsten Merkmale, die hier zu nennen sind, modellhaft einmal zusammenzustellen. Dabei gehe ich davon aus, dass die Dinge sich weltweit „vernetzen"; sie erhalten „globalen" Charakter und stellen Exponenten eines übergreifenden „weltgesellschaftlichen" Systems dar.
3. Aktuelle Modelle Ante portas steht also die „ Weltgesellschaft". 22 Ihre Geschichte hat erst begonnen. Ihr Beginnen zeitigt in der Tat aber auch Enden, Beendigungen, Kappungen früherer Muster, so das Ende der sog. ideologischen „Großerzählung" (J. F. Lyotard), und im Pendant: einer vermeintlich durch Werte, Leitideen, ethische Regeln garantierten soziokulturellen Einheit(lichkeit). 23 Praktisch gesehen weichen „entweder-oder"-Handlungen (resp. Haltungen) tendenziell einem „Sowohl-als-auch". „Anything goes": Die Parole, die Cole Porter mit gleichnamigem Musical (aus dem Jahre 1934) einem Vergnügungspublikum anempfahl, hat Paul Feyerabend zum paradoxen gnosiologischen Prinzip auch der Wissenschaften gemacht, und dass man, wo man auch stehe, heute immer „auch anders 20 Vgl. pointiert Papalekas, Zeitenwende; zusammenfassend ferner Lipp, Wolfgang, Wiederkehr des Volkes. 21 Vgl. nur Demandt, Endzeit. 22 Dazu einführend: Beck (Hrsg.), Weltgesellschaft; vgl. auch Estel, Nation und nationale Identität; bes. Kap. VI: Die moderne Nation - heute, S. 401-495. 23 Vgl. Boisits/Stachel (Hrsg.), Ende der Eindeutigkeit; Czäky/Stachel (Hrsg.), Mehrdeutigkeit.
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kann", hat nicht zuletzt Niklas Luhmann verkündet. Gags, Bluffs, oder mehr? Der neue Verhaltensstil, den der Mensch jetzt anlegt, sein typischer „Habitus" (P. Bourdieu) bedeutet kritisch gesprochen: Verlust an Disziplin, Schlüssigkeit, Selbstverständlichkeit sowohl auf sozialer wie auf individueller Handlungsebene; und heißt - positiv genommen - zunehmende Liberalisierung und Individualisierung; steigende Ich-Ansprüche, wachsende Ich-Kompetenzen. Als dominanter sozialstruktureller Differenzierungsstil setzt sich „Pluralisierung" durch. „Lose Kopplung" verbindet die Menschen, die Gruppen, ihre Projekte, anstelle durchlaufender, monolithisch träger, engerer Integration der Teile. Es entsteht, was man „multikulturelle Gesellschaft" nennt. 24 Sie ist nicht mehr „melting pot", wie Einwanderungsgesellschaften wie die USA es reklamierten, sondern „salad bowl", bunte Salatblättermischung, 25 und man achtet darauf, wie frisch sie bleibt. Auch kommt es zunehmend zur „Hybridisierung" der Dinge, 26 zur Bildung halb fiktiver, halb realer, halb exotischer, halb banaler, in die Nischen der Weltgesellschaft eingepflanzter „Melangekulturen"; sie gehören, wie auch die Formen des „Glokalismus", mit zum System, bleiben funktionell aber unscharf und spiegeln den Wechsel von Moden wider. Was „Richtungen" - vor allem die „Entwicklungsrichtung" - der Weltgesellschaft angeht, geraten „lineare" Konzepte zunehmend in Verdikt. Die Idee des „Fortschritts" verblasst, und Kritik an ihr wird laut. Bewusst werden vielmehr die Negativfolgen des Fortschritts. „Moderne", „Modernität", „Modernisierung" verlieren an Nimbus; „Kontingenz" tritt an die Stelle 27 und „Mehrlinigkeiten", „Verzweigungen" etc., aber auch „Schleuderpisten", „Entgleisungen", „Holzwege" besetzen die Ränge. Sichtbar - erneut sichtbar - werden Prozesse schließlich des „Niedergangs"; sie treten als „Regression", „Zusammenbruch", „Entladung von Gewalt" ins Bild. Überhaupt häufen sich Bilder, Bildserien, Bildphantasien vom „Ende der Welt"; „Apokalypse" hat Konjunktur, 28 und sie detoniert und flammt auf nicht nur weithin in den Medien, sondern - seit jenem 11. September - mitten im wirklichen Leben! Insgesamt unterliegt „Rationalität", jene Paradekategorie einer vorrückenden „wissenschaftlichen Zivilisation" 29 , im Übergang zur Kultur der „Spät"- oder „Postmoderne" 30 einer paradoxen, rückwärts schauenden Neubewertung. Ihr Bündnis mit „Aufklärung" scheint im Zentrum - der virtuellen „Mitte" - des 24 25 26 27 28 29 30
derne.
Vgl. exemplarisch Mintzel , Multikulturelle Gesellschaft. Vgl. Lipp, Wolfgang, Regionen, Multikulturalismus und Europa. Nederveen , Melange-Effekt ; vgl. Wagner , Herausforderung Vielfalt. Vgl. z.B. Makropoulos , Modernität und Kontingenz. Dazu Loibl y Apokalypse. Schelsky , Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. s. zu dieser v. a. Welsch , Postmoderne Moderne; Vester , Soziologie der Postmo-
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weltgesellschaftlichen Systems an Evidenz und Schwung zu verlieren; an scheinbar „abgeklärten", profan gewordenen Rändern hingegen ist eine Art Umkehrbewegung, sind „Desäkularisierungen" zu beobachten, grandios inszenierte Indienstnahmen technischer Rationalität in fiktional aufgeschäumten, quasi magischen Sinnhorizonten. 31 Sieht man von den hochgradigen Schmiere-, Rausch- und Lügenzügen, dem Fiktionalismus der „spaßgesellschaftlichen" Seite der Zivilisation einmal ab, 32 geraten vor allem dabei jene düsteren fundamentalistischen Haltungen in Sicht - Fanatismen des „Heiligen Kriegs" - , wie sie - Ferment, Element und Gegenwelt der Weltgesellschaft zugleich - die zeitgenössische Terror-Szene charakterisieren. Ich komme hierauf noch zurück, schließe fürs Erste aber die „Einleitung" in unser Thema ab und blättere den Hauptteil meiner Überlegungen auf:
I I . Hauptteil Beginnen wir mit der Feststellung, dass heute nicht primär Wirtschaftsformen, alternative ökonomische Stile (Marktwirtschaft; Planwirtschaft) es sind, wie sie - alltagsbezogen - „Industriegesellschaften" einst prägten, sondern tendenziell auch metaphysisch (meta-alltäglich) gerichtete, im Kern religiöse Kulturen, die (wieder) ins Zentrum gesellschaftlicher Prozesse rücken und schließlich einfließen ins globale Geschehen. Sie scheinen auch weltweit entscheidende politisch-militärische Impulse zu setzen. Näher zu zeigen versucht hat dies insbesondere Samuel P. Huntington.
1. Samuel P. Huntington Ich zitiere aus seinem viel beachteten Werk, „The Clash of Civilizations. Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert" wie folgt: „Kultur und die Identität von Kulturen, auf höchster Ebene also die Identität von Kulturkreisen, prägen heute, in der Welt nach dem Kalten Krieg, die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt. Zum ersten Male in der Geschichte ist globale Politik sowohl multipolar als auch multikulturell; Verwestlichung ist etwas anderes als Modernisierung; und wirtschaftliche und soziale Modernisierung erzeugt weder eine universale Kultur irgendeiner Art noch die Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften. ... Eine auf kulturellen Werten
31
s. v. a. Honer/Kurt/Reichertz (Hrsg.), Diesseitsreligion. Vgl. kritisch z.B. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode; Maase, Grenzenloses Vergnügen; Purdy, Das Elend der Ironie. 32
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basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander ... (Sie) gruppieren sich um die Führungs- oder Kernstaaten ihrer Kultur." Was den „Westen" und seine typischen „universalistischen Ansprüche" betrifft, gerät er „mit anderen Kulturkreisen" zunehmend in Konflikt, „am gravierendsten mit dem Islam." 3 3
2. Zurück zu den Begriffen Huntingtons Aussagen überzeugen, was die Sache betrifft, über weite Strecken. 34 Wichtige Begriffe, so „Kultur" und „Zivilisation" - die Titelbegriffe, wohlgemerkt, der deutschen Ausgabe seines Buches, die dort bewusst zusammengeführt werden - , sind jedoch zu präzisieren, ihre Begründungen im Einzelnen zu vertiefen. Im Lichte der deutschsprachigen kultur- und geschichtssoziologischen Tradition - bes. eines Alfred Weber, 35 eines Hans Freyer, 36 auch eines Norbert Elias; 37 Spätausläufer liegen mit Papalekas38 oder Pankoke39 vor 4 0 - wird z.B. zwischen „Kultur" und „Zivilisation" strenger, zumindest profilierter unterschieden als bei Huntington, und dies zum einen, weil die Konzepte (einschließlich der Realverhältnisse, die sie ins Visier nehmen) in Europa entlang unterschiedlicher politisch-praktischer Kontexte (z.B. Englands, Frankreichs, Deutschlands) auch unterschiedlich gewertet werden, und zum anderen, weil in der Sache selbst - in dem, was in Kultur (sive Zivilisation) das Kulturelle, in Zivilisation (sive Kultur) das Zivilisatorische sei - Unterschiede bestehen. So oder so bleibt es realistisch anzunehmen, dass in Kulturen resp. Zivilisationen Elemente sowohl des Kulturellen als auch des Zivilisatorischen enthalten sind, wenn auch in unterschiedlicher normativer Mischung, verschachtelt, mit
33
Huntington , Kampf der Kulturen, S. 19. Vgl. kritisch aber z.B. Müller , Zusammenleben der Kulturen. 35 Z.B. Weber, Ä., Prinzipielles zur Kultursoziologie; Kultursoziologie. 36 Z.B. Freyer , Wirklichkeitswissenschaft; s.a. Freyer/Papalekas/Weippert (Hrsg.), Technik; vgl. Uner , Geistige Bewegung. 37 Elias , Prozess der Zivilisation; vgl. Bogner , Zivilisation und Rationalisierung; s. jetzt auch Schäfers , Kultur und Zivilisation. 38 Papalekas (Hrsg.), Kulturelle Integration und Kulturkonflikt. 39 Pankoke (Hrsg.), Institution und technische Zivilisation. 40 Die Grundlegung des Diskurses geht geistesgeschichtlich auf Friedrich Nietzsche zurück. Sie lässt sich als „Geburt der Zivilisationstheorie aus dem Geiste der Kulturkritik" charakterisieren (dazu näher Fischer , K., Verwilderte Selbsterhaltung) und ist in weitem, hier nicht darzustellendem Gedankenbogen inhaltlich zugespitzt auf die Erkenntnis, dass „Gott tot" und das Zeitalter des „Nihilismus" angebrochen sei. 34
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schwankenden Bedeutungen und wechselndem konkret-funktionellen Schwerpunkt. 41 Nicht i.S. nur krasser (essentieller) Widersprüche, sondern i.S. von Differenzen, Divergenzen und kurz: relationalen Verhältnissen stehen Kultur und Zivilisation zur Debatte. Denkbar, gedanklich nachvollziehbar im Sinne von „Idealtypenbildung", bleiben gewiss hier auch die Extremvarianten: Kultur als „reine" Kultur, Zivilisation als „reine" Zivilisation. Doch lässt sich der Abstand, in dem die Modelle zur Wirklichkeit stehen, „wirklichkeitswissenschaftlich" (Max Weber) hinreichend genau erfassen? Und wie sind die Spannungen, Torsionen und spezifischen Zerreißkräfte, die Kultur und Zivilisation teils innerhalb eines Gesellschaftssystems, teils zwischen Systemen erzeugen, möglichst klar darzustellen? Was bedeuten Kultur und Zivilisation inhaltlich schließlich selbst? Welchen Sinn macht ihre Unterscheidung?
3. Kultur und Zivilisation,
Gesellschaft und Geschichte
Lassen Sie mich, ehe ich hierauf Antwort gebe, vorab unsere Rahmenkategorie, „Geschichte", einmal präzisieren: Geschichte ist - im Anschluss zunächst an Max Weber 42 - vorzustellen als zeitorganisiertes, in seinen Einzelmomenten komplex verflochtenes Handlungsgeschehen, durch das der Mensch es unternimmt, sich selbst und seinesgleichen in einer Welt, die an sich nur leere Unendlichkeit, ein Chaos von Bedrohungen, Krise um Krise für ihn darstellt, „Sinn" zu geben bzw. Institutionen, Güter und Werte zu schaffen - und zwar schöpferisch, mit Herz und Seele, Phantasie und Geist zu schaffen - , die ihm erst eigentlich Sicherheit, eine Daseinsbasis sui generis bieten. Die Schöpfungen, die der Mensch auf diese Weise zuwege bringt - und die ihm stets auch Mut, Bereitschaft zur Auseinandersetzung und kurz, mit Max Weber 43 gesprochen, „ K a m p f abverlangen - haben grundsätzlich Kulturcharakter; sie stellen - institutionell befestigt, als soziales Ganzes, das Gestaltqualität erhält - eben „Kulturen" im hier interessierenden kulturgeschichtlichen Sinne dar. „Der geschichtliche Prozess" - wie Alfred Weber 44 ausführt - erscheint sodann als „eine Abfolge, ein Nebeneinanderbestehen und ein teilweises Aufeinander-Aufgebaut sein verschiedener großer Kulturen ..., welche alle ihr eigenes Wesen, ihre eigene Schicksalshaltung ..., ihre eigenen Vollendungshöhen und ihre Abfälle, ihren eigenen Rhythmus der Bewegung besitzen ... Diese Kulturen 41 Vgl. z.B. Fischer, H. Theorie der Kultur; Vernunft; ders. Zivilisation, mit allerdings harmonisierender Tendenz. 42 Weber, M., Wissenschaftslehre. 43 Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe. 44 Weber, A., Kultursoziologie, S. 286.
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sieht man eingebettet in große Geschichtskörper, die ... zu Einheiten zusammengefasst sind durch einen jedem von ihnen eigenen ereignishaften historischen Lebensprozess. ... Jeder dieser Geschichtskörper hat eine ihm eigentümliche Gesellschaftsstruktur." Ich lege i.F. unseren Erörterungen zum Thema vor allem nun Kulturen zugrunde, die „hochkulturellen" Status haben. Ihre Entfaltung, ihre „Kulturblüte", ihre „zivilisatorischen „Phasen" 45 und auch ihr „Niedergang" lassen sich eintragen in den Zeitpfeil der Geschichte; sie stellen weder nur das Material, noch den bloßen Ausdruck der Geschichte, sondern bewegende Faktoren - eben „Geschichtskörper" - selber dar, und sie bestimmen nicht zuletzt gerade das Tempo, die Schnelligkeit, die Beschleunigung des Geschichtsprozesses. Nach dem Aufkommen der mesopotamischen Reiche, den Anfängen und Höhepunkten der ägyptischen Kultur sind es v.a. die Kulturen der sog. „Achsenzeit", auf die wir zum Thema achten müssen, die Kulturen des alten Israel, Griechenlands und des Hellenismus, Roms, des frühen Christentums oder des Islams. Von aktuellem Interesse ist schließlich die europäische Neuzeit und ist heute, weltumspannend, die Kultur der Moderne, einschließlich der Postmoderne, wie sie der Westen geprägt hat - und immer noch verstärkt ausbildet. Hochkulturen, exemplarisch also Achsenkulturen, sind wesentlich von der Idee getragen, dass zwischen der Vielzahl empirischer Ordnungen, die die Wirklichkeit enthält - und denen der Mensch i. d. R. vertraut - , und letzten transzendentalen Größen, die allein erst Einheit stifteten, grundsätzlich Widersprüche bestehen. Sie versuchen emphatisch, diese Spannung - das Gegenüber letztlich von „Diesseits" und „Jenseits" - zu überwinden: sei es aktiv, durch Bewährung, tätige Bewährung, allein im Diesseits, sei es passiv, durch Rückzug aus der Welt - Abstieg ins Jenseits und Selbstversenkung. A m Ende bleiben aus der Sicht jener Kulturen - die Widersprüche unauflösbar; sie dauern an und werden Anlass unversöhnlicher, im Kern religiös verfasster Konflikte, so namentlich zwischen Orthodoxie und Heterodoxie, Rechtgläubigen und Abtrünnigen, Eiferern und Indifferenten. 46 Wie immer Kulturen ihren „Sinn" bestimmen - und ihn ästhetisch, ethisch, lebenspraktisch zu realisieren suchen: Zu den markantesten Objektivierungsspuren, die sie in der Geschichte hinterlassen, werden im positiven Falle der Aufbau, im negativen die Zerstörung (wenn nicht das NichtZustandekommen überhaupt) von Verhältnissen sein, die man „Zivilisation" bzw. „zivilisatorisch" nennt. Zugleich gilt umgekehrt, dass Zivilisationen, haben sie einmal Eigendynamik erhalten, ihren „Muttergrund" - eben jeweils „Kultur" - technisch-instrumentell teils erst roburieren, gesellschaftlich verankern und zur Blüte führen,
45 46
Dazu neuerdings gut: Graeve, Die offene Zukunft. Vgl. näher Eisenstadt, Axial Age Civilizations.
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teils aber aufwühlen, der Erosion durch Bedürfnisse, Zwecke, Interessen aller Art preisgeben und in den Werten, sc. den ursprünglichen, ideellen Werten, in Frage stellen. Kulturen-Zivilisationen, Zivilisationen-Kulturen: Hier handelt es sich, wie gesagt, nicht nur um zwei Seiten ein und derselben Medaille; es handelt sich auch um wechselnde, quantitative wie qualitative Durchdringungsverhältnisse, um Bündnisse, die geschlossen, oder Konfliktlinien und Brüche, die vorgeschoben, verteidigt oder stillgelegt werden können. Wie sind die Dinge näher zu verstehen; wie ist Zivilisation präziser zu bestimmen? Ich knüpfe hier erneut an Alfred Weber an. Weber sieht im „Zivilisationsprozess (zunächst die) vorwärts treibende intellektuelle Beherrschungstendenz", die der Mensch „der Natur und dem Dasein" 47 gegenüber an den Tag legt. „Alle zivilisatorischen Elemente durchsetzen und durchdringen das Gesamtdasein einer Zeit bis in seine letzten Poren; nicht bloß in der Form der Technik, welche seine äußere Struktur mitbestimmt, sondern auch durch die Art der geistigen Objektwelt, welche sie neben und über die äußere stellen (und) mit dieser amalgamieren." 48 Anders als Spengler, der im Zivilisationsprozess pointiert den Vorgang sah, der zur Austrocknung, schließlich zum Absterben der Ursprungskultur führen musste,49 erkannte Weber dem Geschehen prinzipiell eine positive, „lebensaggregierende" 50 Funktion zu. Im Effekt ist beides - in freilich je unterschiedlicher, realgeschichtlicher Schwerpunktsetzung - gültig. Zivilisatorische Mechanismen können den Lebensschwung, die besondere schöpferische Kraft, die Kulturen - und mit und in ihnen: Kulturmenschen - elementar entfalten, durch Zuführung zusätzlicher Ressourcen, die sie technisch, und d.h. hier: auch psycho-, sozio- und biotechnisch verfügbar machen, durchaus steigern. Sie ebnen Kulturen insoweit den Weg erst zur Reife, stärken und verfeinern das Substrat von Kulturen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie „zivilisieren", d.h. auf das Niveau von städtischem, urbanem, zivilem Leben heben (dies herauszuarbeiten versucht exakt das Konzept, das Norbert Elias „zivilisationssoziologisch" vorgelegt hat), und reichern das Angebot kultureller Güter im Ganzen an. Am Ende setzen sie - durch Schaffung von „Märkten" und „Medien" die „Teilhabe" an den Dingen, die „Nutzung" dieser Güter durch die Gesellschaftsbürger selbst in Gang.
47
Weber, A., Kultursoziologie, S. 289. Weber, A., Kultursoziologie, S. 287. 49 „Jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation ... Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht.... Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluss; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod." (Spengler., Untergang des Abendlandes, S. 43). 50 Weber, A., Kultursoziologie, S. 287. 48
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Wie präsentieren sich - demgegenüber - die negativen Seiten von Zivilisation? Sie sind im Fokus von Bedingungen, wie die Kultur der Spätmoderne (Postmoderne) sie heute vorgibt, ja nicht zu übersehen und liegen, analytisch gesprochen, darin, dass der Zuwachs an a) sachneutraler Zweck-Mittel-Rationalität, b) sozialneutraler technischer Beherrschung und c) kulturneutraler Individualisierung, den Zivilisation ermöglicht, erkauft wird um den Preis der zunehmenden Verflachung, genauer: Mediatisierung, Materialisierung und Vermarktung der Kulturwerte selbst: Werte und ihre transzendentale Dimension, Werte, insbesondere religiöse Werte, und ihre Diesseits-Jenseits-Spannung, wie sie für Kultur so typisch sind, werden im Zivilisationsprozess umfunktioniert zu Mechanismen, die das „größte Glück der größten Zahl", die massenhafte Befriedigung massenhafter sozialer Bedürfhisse im Jetzt und Hier avisieren. Immanentalistisch gerichtet, stellen sie den Ausgleich dieser Bedürfnisse, ihre Sättigung und wechselseitige soziale Verträglichkeit schrittweise dabei dadurch her, dass sie den Schleichweg „billigen", desubstanzialisierende Kompromisse gehen. Sie bringen die Dinge auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner" und „reduzieren" 51 jene einst geltenden „höheren" Werte, „tugendhaft" zu leben und ein „gutes" - ethisch gutes - Leben zu fuhren, auf die Schwundwerte teils eines triebnahen sozialhedonistischen Lebens, teils von ,fitness', Leben und Überleben überhaupt. Das Dasein regelt sich „transzendenzlos" im Diesseits ein, 52 es trägt am Ende „biotische", ich möchte sagen: schrecklich biotische Züge. 53 Zivilisationen werden hier nicht nur „blind" für kulturellen Sinn als solchen; sie knüpfen sich aus der Verflechtung mit Kultur (dem Kulturellen einer Kultur) überhaupt aus und müssen für Menschen, die Kultur von Wertinnenseiten her erfahren, für Kulturidealisten also, die Kultur zugleich aktiv gestalten und jenen Lebensschwung, den zivilisatorischer Fortschritt spenden kann, sinnhaft zu integrieren und zu aggregieren suchen, als „Wüste" und allenfalls „Fata Morgana von Sinn" (Wolfgang Lipp), als flimmernde „Sinnleere", erscheinen. So 51 Vgl. nähere systematische Analysen dazu in Lipp, Wolfgang, Reduktive Mechanismen. 52 „Transzendenz", vermindert um „Transzendenzlosigkeit": das Maß lässt sich verstehen als Restgröße von Handlungs- bzw. Praxis-Sinn, die bei Handlungsträgern (Individuen, Gruppen, Gesellschaften) im Spiel bleibt auch dann, wenn Handlungsflihrung und Handlungssicherheit kritisch-rationalistisch Zug um Zug hinterfragt, demoralisiert, entwertet werden. Die genannte Größe hat offenbar extrakulturelle, i.e. biotische Statur. Sie birgt das Risiko des Nihilismus, der steigenden Destruktivität und eines Totalzusammenbruchs in sich. Mit Transzendenz/Transzendenzlosigkeit umzugehen, sie aufzubauen oder sie abzubauen, ist nicht nur Aufgabe im praktischen Dasein; es ist ständiger Impuls auch der Theoriearbeit, so besonders der (Geistes-)Wissenschaften. Dass zu den Unternehmungen, die Transzendenz auf den Leib rücken, heute die Soziologie (Soziologische Systemtheorie), namentlich in der supertheoretischen Fassung, die ihr Niklas Luhmann gab, gehört, ist nicht zu übersehen (s. Lipp, Wolfgang, Reduktive Mechanismen; Autopoiesis; vgl. Baier , Soziologie). 53 Vgl. ausführlicher jetzt Lipp, Wolfgang, Biokratie.
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oder so kann es dazu kommen, dass Zivilisation und Kultur zunehmend in Gegensatz geraten. „Zivilisationsbrüche" 54 tun sich auf, begleitet von „Kulturzerstörung" 55 , und je plötzlicher sie sich ereignen, je wütender sie andauern, je quälender sie sich erschöpfen, desto beliebiger, austauschbarer, umkehrbarer scheinen im Gesamtgeschehen auch Täter und Opfer, ja Kultur und Zivilisation selbst zu werden. W i l l man die Dinge im Grundsatz verstehen, kann man sie immerhin von ihrem Ausgangspunkt, ihrem Grundschematismus her entschlüsseln: „Zivilianer", die Verfechter von Zivilisation, werden Schauplätze, auf denen „Kulturianer" das Sagen haben, dann ebenso verteufeln, wie Kulturianer, die Verfechter von Kultur, Auswüchse der Zivilisation: jenen Turmbau zu Babel anprangern, den Gott selbst einst zerschmettert hatte; sie gehen im Extremfall ins Off des Geschehens, in den Untergrund, tauchen als „Schläfer" ab und holen aus zum gewaltsamen Gegenschlag.
I I I . Schluss Ich komme zu meinen Schlussausführungen. Dabei will ich versuchen, die bisher gewonnenen Einsichten an Kultur und Geschichte einmal näher heranzutragen. Ich greife das relativ ,junge", wenn auch lange übersehene, vielleicht verdrängte Phänomen des internationalen „Terrorismus" dabei exemplarisch am Beispiel des „11. September" - heraus. 56 Bis vor jenem 11. September dem Menetekel der Wende zum Terror - hatte der Durchschnittsbürger weder seitens der Politik, der Medien und ihrer Sprecher oder sonstiger Kanzelredner „Meldung" zur Sache erhalten. Umso schneller, noch am Abend des Tags, haben die USA mit der Rede ihres Präsidenten, George W. Bush, zur Lage der Nation, den Kräften, die sie hinter dem Anschlag witterten, Radikalmaßnahmen angekündigt. Sie sprachen von „Krieg", „Präventivkrieg" - ohne bereit zu sein, Recht auf Krieg (völkerrechtlich) auch dem Feind zuzugestehen - und zogen kreuzzugsartig - in den Krieg in der Tat. 5 7 Mit welchen Erscheinungen, diesseits und jenseits des Militärischen, haben wir es soziologisch zu tun? Wie viel Gereimtes - und wie viel Ungereimtes - ist im Spiel? Wenn es wirklich zutrifft, dass die entscheidenden Konfliktlinien, die die Geschichte heute bestimmen, an den Grenzen nicht mehr nur von Wirtschafts-
54
Csäky/Uhl, Zivilisationsbrüche. Vgl. bes. Thum, Kulturbegründer und Weltzerstörer; ders., Kultur im Widerspruch. 56 Als umsichtige, interdisziplinär angelegte Studie dazu s. jetzt Lipp, Wilfried, Feind - B i l d - Denkmal. 57 Vgl. kritisch z.B. Chomsky, War Against People; Fisch, Unmögliche Begegnung. 55
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systemen, sondern der Weltkulturen verlaufen, d.h. hier exemplarisch: den Grenzen zwischen islamischer und westlich-amerikanischer Kultur, dann lassen sich signifikante diagnostische Präzisierungen geltend machen, Schlussabschätzungen, die ich wie folgt vortrage:
7. Kultur, Religion und Krieg Der „Kampf der Kulturen" oder anders: das „Aufeinanderprallen der Zivilisationen", von dem die Rede ist, ist in Wahrheit ein Kampf, der „überkreuz", zwischen Kultur und Zivilisation geführt wird. Nicht so sehr Kulturen bekämpfen sich hier, die - bei vergleichbarer Kulturhöhe - unvereinbare kulturelle Eigenart entwickelt hätten, sondern Kulturen, deren zivilisatorisches Niveau auseinander klafft. Musste es - aus der Sicht der USA - z.B. darum gehen, Afghanistan - oder genauer: das Regime der Taliban - „in die Steinzeit zurückzubomben" 58, verteufelten die führenden islamistischen Strömungen im Lande die Kultur - oder richtiger: die Kulturen - des Westens; sie leisteten erbitterten Widerstand und riefen auf zum „Dschihad", zum „Heiligen Krieg". Hier wie dort stigmatisierten die Kontrahenten ihr Gegenüber als das eklatant „Böse", einen Satan und „Feind" schlechthin. Hassgefühle, wie sie zwangsläufig aufkamen, schlugen bei den zivilisatorisch überlegenen, siegreichen Amerikanern als kulturelle Verachtung nieder - z.B. von Völkern, Bildungsstätten und ihrem intellektuellen Klima, die etwa Nobelpreisträger, weitbeste Forscher und Forschungsergebnisse bisher nicht im Ansatz hervorbringen konnten; die Taliban hingegen - auf kultureller Ebene fundamentalistisch überhöhten religiösen Werten, einer „politischen Religion", 59 ergeben, mussten vor dem „Wertesumpfdem Werteschwund, ja dem Nichts an Werten, das die Amerikaner zivilisatorisch zu charakterisieren schien, Abscheu und Ekel empfunden haben. Dass die Widersacher, der Islam und die USA, so eklatant aufeinanderprallen konnten, setzt Globalisierung und einschlägige weltgesellschaftliche Mechanismen voraus. Sie zwingen Ungleichzeitiges in der Tat ins Zeitgleiche, schieben Entferntes ins Nebeneinander, und beachtlich an diesen Vorgängen ist, dass die Schrumpfung von Zeit und Raum, die sie bedeuten, täglich nicht nur auf dem Bildschirm statthat; sie wirkt auf die geschichtlichen Großverhältnisse, hier den Kampf der Kulturen, entscheidend vielmehr selber ein, erzeugt brisante Paradoxien und löst extreme Zuspitzungen aus. Zu diesem Befund gehört u.a., dass das Schicksal, die Eigenart, die Potentiale der Kulturen, die im Weltsystem auf Tuchfühlung kommen, zusätzlich verschärft werden durch den Spaltpilz des 58 59
Wovon es zivilisatorisch kaum ablag; vgl. Roy , Wut ist der Schlüssel. Dazu Maier , Politische Religionen.
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„Arm-Reich-Konfliktes". Zivilisationen und ihre Nutznießer finden sich in der Regel dann im Lager des Reichtums, des Konsumkults und forcierten Spaßes wieder; Kulturen und ihre Träger gehören einem Club von Bettlern an; sie erfahren im System am Ende doppelten Schaden und haben den Spott noch dazu. Oder war es nicht Hohn, wenn Amerikas Bomberpiloten in jenem Steppenkrieg während knapper Pausen, die sie sich gönnten, aus blauem Himmel Carepakete, voll von Erdnussbutter, niederrieseln ließen, im vorgetäuschten oder gar wahren Glauben, dem Feind und seinem Volk damit Vorgeschmack auf heiß ersehnte zivilisatorische Wohltaten zu geben?
2. Massenvernichtungswaffen
und Selbstmordterror
Was besagt, in diesem Zusammenhang, der Auftritt aktueller „terroristischer" Gewalt? Steht Gewalt vor einem Epochenwandel? Wer übt sie aus, und wie? Auffällig ist vorab, dass Gewaltakte, wie sie vom internationalen Terrorismus und seinen Führern, so Usama Bin Laden, ausgehen, intim verflochten sind mit Praktiken der Gewaltanwendung, die auch der Gegenspieler, Amerika, ausübt. Zumindest die Verbalattacken, die dem faktischen Einsatz vorausgehen, sind an Schärfe auf beiden Seiten kaum zu überbieten; die „Kreuzzugs"-Parole entspricht jener des „Heiligen Krieges", und den „Feind auszurotten", die „Schurken zu stellen" wird hier wie dort verkündet. Was als hintergründige konspirative Zusammenarbeit begonnen hatte - Bin Laden stand anfänglich in Diensten des CIA; seine Familie war als Großmäzen der Universität Harvard in Erscheinung getreten 60 - , hat sich strukturell auch im späteren Entzweiungsfall hervorgekehrt: eine frappierende Spiegelbildlichkeit der Interessen, und die reputierte Dritte-Welt-Politikerin, Arundhati Roy 6 1 , hat Bin Laden und seinen Gegenspieler, Präsident Bush, in Täter- wie Opferschaft insoweit als „Zwillingsbrüder" bezeichnen können. Doch weist jener Terrorismus noch tiefergehende, historische Wurzeln auf; sie führen nicht so sehr, wie man glauben könnte, zurück in ein „finsteres Mittelalter", sondern ankern in der Epoche der Aufklärung und spiegeln die Geburtswehen der Französischen Revolution, den „Terror des Fortschritts" wider, den die Jakobiner, und den Terror der „Reaktion", den die Altstände im Lande entfachten. Von da an pflanzten sich die Dinge - von Folgerevolutionen , die in „Permanenz" übergingen, und „Bürgerkriegen" stoßweise angetrieben - fort bis hin in die Gegenwart, und wissenschaftliche Beobachter wie Hannah Arendt, 62
60 61 62
Vgl. Klingenstein, Harvard. Roy, Wut ist der Schlüssel. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
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Hanno Kesting 63 u.a. wagten die These, eine Art verdeckter, heilloser „Weltbürgerkrieg" werde heraufziehen, eine Guerilla ohne wirkliche institutionelle Hegung, zersplittert, mit aufflackernden terroristischen Zügen. 64 Die Situation ist eingetroffen - doch sind inzwischen die Vorzeichen vertauscht. Hatten politische Bewegungen - auch des militanten, Gewalt offen anwendenden Typs - ihre Aktionen in der Regel bisher ideell (ideologisch) begründet - und sich von Werten wie „Freiheit", „Gleichheit", „Natur", „Menschenrechten" her kreditiert, ist die Öffentlichkeit heute kaum mehr bereit, Selbstlegitimation dieser Art bei Fundamentalisten, Radikalen, Extremgruppen zu akzeptieren; die Beweislast wird vielmehr umgedreht, und Aktivisten verschiedenster Richtung - von Berufsdemonstranten für Alles und Jedes, über Separatisten, Ethnokämpfer und Urwaldpartisanen, bis hin zu Führern und Führungskadern, die maßgebliche (oder weniger maßgebliche) „politische Linien" übertreten - werden schnell als recht- und gesetzlose, „reine" Terroristen hingestellt65 - als Banden, die auch und gerade dann, wenn staatliche (schurkenstaatliche) Stellen organisierend, finanzierend und planend hinter ihnen stehen, tendenziell als bloße Triebtäter, „als nichts" als „Mörder" („Killer") erscheinen. Seit dem 11. September haben - verständlicherweise - namentlich die USA diesen Weg eingeschlagen;66 sie sprechen jenen Bewegungen das Recht, sich für bestimmte - etwa in Religion und Konfession verankerte - kulturelle Werte auch gegen Widerstand - und insofern nicht ohne Gewalt - einzusetzen, kategorisch ab. Zugleich dokumentieren sie die Fälle, legen Täterlisten an, untersuchen Herkunft und Hintergründe, Drahtzieher und Vernetzungen; sie enttarnen, wo sie es können, die Tarnsysteme, gehen in die Offensive und starten Strafaktionen. Hass erzeugt freilich hier Gegenhass, Gewalt nur Gegengewalt. A m Ende ergibt sich, dass Terrorismus und Terrorismusbekämpfung - kriminalistisch, administrativ, diplomatisch spezifisch verschränkt - zum unübersehbaren, global durchschlagenden soziopolitischen Faktor avancieren. In jedem Falle tritt Terrorismus heute als schlimmste - weil teufelskreisfertile - zeitgeschichtliche Erscheinung überhaupt hervor. Wie ist sein Sinn, sein Stellenwert in Kultur und Zivilisation, abschließend klarzumachen?
63
Kesting , Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Vgl. a. Koselleck , Vergangene Zukunft; Lübbe (Hrsg.), Heilserwartung und Terror; ferner jetzt Maier , Der Staat und die Gewalt. 65 Vgl. i. d. S. Hojfman , Terrorismus. 66 Vgl. gut jetzt Lerch, Terrorismus, Widerstand und Politik. 64
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Wolfgang Lipp
3. Theokratie vs. Biokratie Ich behaupte, dass auch und gerade Terrorismus - und in besonderem Maße Selbstmordterror - vor dem Hintergrund jener Spannungen gesehen werden muss, die zwischen Kultur und Zivilisation heute grundsätzlich bestehen. Es handelt sich - trotz aller mangelnden sozialmoralischen Zustimmung und Legitimation - um strukturell vorgegebene, objektiv „in der Luft liegende", globale Wertespannungen, und es geht im typischen Falle darum, entweder die Beachtung von Werten - i.e. kulturellen Werten - durchzusetzen, die die oben hervorgehobene metaphysische (transzendentale, jenseitige) Dimension aufweisen, oder aber Werte zuzulassen bzw. zu oktroyieren, die reduktionistische Züge tragen und im bloßen Diesseits ankern. Werte - Schwundwerte - dieser letzteren Art tendieren dazu, mit Antrieben, Bedürfnissen, politischen Gestaltungsinteressen zusammenzufließen, die biotischen - ich sagte schon oben: schrecklich biotischen - Charakter haben; sie münden - konsequent, wenn für jedermann nicht schon immer auch sichtbar - ein in „Biokratie": in Herrschaft im Namen von Leben, die sich zu Tode rüstet. Interpretiert man jene aktuellen Formen des Terrorismus im Lichte des Kultur-Zivilisations-Ansatzes, wird manifest, dass sie - dialektisch verbunden - in zweifacher Gestalt auftreten: in Gestalt a) des typisch „kulturellen", und in Gestalt b) des typisch „zivilisatorischen Terrorismus". Kulturell ist Terrorismus dabei dann zu nennen, wenn er herausgefordert ist, die innersten Werte des Systems, dem er zugehört, die Werte also der ihm eingefleischten eigenen Kultur, „vorwärts zu verteidigen" gegen Übergriffe äußerer (fremdkultureller) zivilisatorischer Mechanismen. Ich behaupte, dass Kulturen, die zu Widerstand gegen Widersacher nachhaltig hier nicht (mehr) fähig sind, im Kern ebenso „tot" sind, wie - Nietzsches Diktum 6 7 zufolge - „Gott (selbst) tot" ist, abgestorben und abgestiegen zur „Hölle", weil gerade er von der paralytischen Wirkung, die von Zivilisation hier qua Zivilisation ausgeht, getroffen und lahmgelegt war. Dass Gott tot sei, bleibt freilich eine Halbwahrheit. Die Zeitumstände zeigen, dass er aus dem Off der Geschichte, dem Interim eines untergründig fortdauernden stillen kollektiven Glaubens an ihn, jählings auferstehen konnte. Die Palette realer religiöser Bewegungen, die hier gemeint sind, hat viele Facetten; ihnen allen gemeinsam ist ihr grundsätzlicher monotheistischer Zuschnitt, sind ins Radikale gehende fundamentalistische Züge, sind Haltungen und Erwartungen, die das Dasein, das nach Rettung sucht, wieder rückverpflichtet auf die einstmals tragenden reinen religiösen Prinzipien. Gott selbst, der eine Gott - so scheint es aus dieser Sicht - setzt sich an die Spitze eines Kreuzzugs, der hier Erlösung verspricht. Er nimmt „Rache" 68 für die Schmach, die sein Volk - und 67 68
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 150, 166f. Vgl. Kepel, Die Rache Gottes.
Kultur und Zivilisation
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die Kultur dieses Volkes - im „Bündnis" mit ihm im Streit mit anderen erdulden mussten; er lenkt das Kampfgeschehen selbst und gibt mit dem obersten Ziel des Siegs auch die letzten entscheidenden Mittel, den Terror der Selbstzersprengung, vor. So weit die andere (nicht weniger halbe) Wahrheit des „toten Gottes". Was alles hat dies aber mit Kultur und Zivilisation und jenen neuartigen Konfliktlinien zu tun, die an ihnen sichtbar werden? Was Kultur betrifft, sollte plausibel geworden sein, dass sie , über die inhärente monotheistische Rasterung hinaus, praktisch - und namentlich im Konfliktfall - dazu neigt, sich „theokratisch" („gottesherrschaftlich"; d.h. auch: „wertesteif' und „wertestarr") zu formieren. Kultur, die gegen bloße, aber übermächtig gewordene Zivilisation ethisch mobil macht, ist immer auch Kultur, in die auch Gott - der eine, „unbesiegbare Gott"? 69 - (wieder) eingekehrt ist; sie ist auch insoweit als rigides, „theokratisch" geregeltes (oder sich theokratisch regelndes), theokratisch inspiriertes Gesamtsystem anzusehen. 70 Dass Systeme solcher Art heute weithin auf „verlorenem Posten" stehen, habe ich schon erwähnt. Ihre Versuche, sich gegen Unterdrückung und Fremdbestimmung zur Wehr zu setzen, nehmen im Zeitalter des Terrorismus die Form des Selbstmordterrors hier beinahe zwangsläufig an. Nur ein „Gott", j a nur „Gott allein" macht es Kämpfern - Einzelnkämpfern - zumutbar, sich gegen ein vages Versprechen von Heil, Paradies und ewigem Leben für die Aufrechterhaltung gegebener, aber bedrängter kultureller Eigenarten in die Luft zu sprengen. Wie stark, wie mächtig, wie „unbesiegbar" indessen - so lautet wohl die entscheidende „kulturelle Gretchenfrage" - wird Gott selbst, der wiedergekehrte Gott, dann auf Dauer bleiben können? Oder ist es nur ein Hauch, der Schatten Gottes, der die Menschen heimsucht, seine Fratze, und Gott selbst bleibt Chimäre und nichts als Fata Morgana? Einfacher als jene kulturelle Variante des Terrorismus ist die Form des zivilisatorischen Terrorismus zu bestimmen. Versteht man Zivilisation als das Insgesamt von Mechanismen, die es erlauben, Leben - qua krasses „biotisches" Leben - biowissenschaftlich, biotechnisch und biopolitisch möglichst effektiv, wenngleich transzendenzlos-immanentistisch, zu „beherrschen", „abzuwickeln" und zu „nutzen" - Zielsetzungen, die die Gegenwart immer bewusster, immer lauter, immer massenhafter an ihre Fahne heftet 71 und die sie am liebsten als „Unterhaltung" und „Spaß" versteht - , dann ist man über die Kehrseite solcher
69
Vgl. Altheim, Der unbesiegte Gott. Zur Diskussion der Fragen - sie ist unabgeschlossen und wird kontrovers gefuhrt vgl. theologischerseits z.B. Manemann, Die Gewalt der Hypermoral und Lohfink, Gewalt und Monotheismus. 71 Vgl. a. Lipp, Wolfgang, Biologische Kategorien; ferner Agamben, Homo sacer; Stingelin (Hrsg.), Biopolitik und Rassismus. 70
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Wolfgang Lipp
Zusammenhänge nicht weniger schnell ins Bild gesetzt: Die Kehrseite effektiven, massenhaften biotischen Lebens, wie Zivilisation sie bereit hält, ist effektiv herbeigeführter biotischer Tod, ist Lebensvernichtung, ist - bezogen aufs Militärisch-Politische und neue Formen der Kriegsführung 72 - Terrorismus auf der Basis von „Massenvernichtungswaffen". Kultur und Zivilisation, das alte „Morgen"» und das neue „Abendland", „Ost" und „West": kultureller Terrorismus und zivilisatorischer ergänzen sich wie Zwillingsbrüder, freilich feindliche Brüder, auch hier. Im Dasein geht, Gott sei Dank, nicht immer nur der Horror um; es gibt auch Routinen, Routinen des Friedens, und der Geschichtsprozess spült „sozialen Wandel", den man wünscht oder braucht, oder in dem man schon steht, oft wie von selbst an Land. Stehen freilich Werte in Frage - und wird um Werte gekämpft schlägt die Lage um ins Dramatische. Kultur geschieht ja als ganze als „Drama", 73 und ihre Protagonisten - Kulturbringer, Kulturstreiter und Kulturwandler - gehen aus den Kämpfen, die die Erfahrung von Elend, Leid und Tod bedeuten, im typischen, quasi mythischen Fall als Heroen hervor, die verehrt wie Halbgötter werden. In der Realgeschichte treffen wir sie - ursprünglich verachtete, verfolgte, vom „Stigma", „Schuld" zu tragen, gezeichnete soziale Außenseiter - als „Charismatiker": Propheten, Führer, Friedensbringer an, die ihren Weg als Verfechter von Werten, Kulturwerten, potentiell als Märtyrer, Blutzeugen des Heils und Kandidaten des Todes gegangen waren. 74 Was die Selbstmordattentäter der Spätzivilisation, jener sich ins Globale auswirkenden Gesellschaftsform des bloßen Lebens betrifft, entsprechen sie dem Schema des Helden, auf das sie sich zugleich berufen, nur zum kleineren, vergeblichen Teil. Sie sind Märtyrer, und sie sterben, doch töten sie auch und sind Mörder; der Funken des gewaltfreien Widerstands, den sie als Märtyrer zünden könnten, verraucht wirkungslos, und die Ermordung Unschuldiger bedient nicht nur nicht einmal den Nullsummenwahn des „Aug um Aug"-Prinzips, sondern lässt Gewalt und Terror nur um ein Weiteres eskalieren. Man wird die Verstiegenheit und zugleich Ausweglosigkeit, die Selbstmordattentäter - wie die Terrorszene der Zeit wohl überhaupt - kennzeichnet, am ehesten mit dem Befund in Verbindung bringen müssen, dass hinter den dichten technointelligenten Netzwerken, die unsere Welt zusammenzuhalten scheinen, grauer Nihilismus - Nihilismus der Anschauung wie Nihilismus des Handelns lauert. Wenn Kulturen ihres Gottes, ihrer Werte und Prinzipien verlustig gehen - oder diese Götter, Werte und Prinzipien nur noch als Fratzen spuken - , Zivilisationen aber sich einrichten im bloßen Leben, einem Leben, das genossen, aber auch verbraucht, das massenweise versorgt, entsorgt und womöglich ver72 73 74
Vgl. Münkler, Die neuen Kriege. Dazu näher Lipp, Wolfgang, Drama Kultur. Vgl. grundsätzlich Lipp, Wolfgang, Stigma und Charisma.
Kultur und Zivilisation
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nichtet wird, dann droht gewaltiger Sinnverlust. „Schnell dringt der Schrecken ein, wo man eben noch beim festlichen Gastmahl saß. Aufspringend erkennen die Lebenszecher i m Flammenschein den Trug, mit dem die Sicherheit den Menschen umwebt" (Ernst Jünger). W i r müssen darauf achten, dass w i r die Zeichen, die dies belegen, i n Geschichte, Kultur und Zivilisation nicht übersehen, und dass w i r die Entwicklungen nicht laufen lassen! Schon sie zu bedenken wäre wichtig!
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Gesellschaftsstruktur und Romantik Andreas Göbel
I.
Moderne Wissenschaft hat, mindestens als Sozialwissenschaft mit ihrem „Sinn für die ,Künstlichkeit' des Sozialen",1 im Verlauf der letzten 150 Jahre in hohem Maße ein Selbstverständnis auch über die eigene Künstlichkeit entwickelt. Als Wissenschaft von der Gesellschaft - manche sagen auch: als „Gesellschaft der Gesellschaft" - weiß die Sozialwissenschaft sich zugleich als ein Moment der »Wissenschaft der Gesellschaft 4, also: als Teil eines Funktionssystems, dessen eigentümliche Theorien und Methoden, bei aller Suche nach der , Wahrheit4 der ,Realität4, sich von eben der Künstlichkeit tangiert weiß, die sie ihrem Objekt als Ganzem attestiert. Ein hervorragendes Medium dieser Künstlichkeit heißt folgerichtig Theorie. Mit ihr bringt sich die Sozialwissenschaft insgesamt in ein zureichend distanziertes Verhältnis zu ihrem Untersuchungsobjekt. Vorausgesetzt ist dabei, dass erst ein entsprechender Bruch mit den Selbstverständlichkeiten, innerhalb derer vergesellschaftete Individuen agieren und sich selbst und die soziale Welt reproduzieren, erkenntnisaufschließende Effekte im modernen Sinne hat. Nicht Kongruenz zu dem, was ohnehin alle wissen, vermuten und was die Grundlage ihrer gesellschaftlichen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten ist, sondern Inkongruenz zu diesen Prämissen ist damit das, was moderne Sozialwissenschaft als Erkenntnisform der Moderne auszeichnet. Man könnte im Detail zeigen, wie sehr dieses Selbstverständnis der Produktion ungewöhnlichen - manche sagen auch: unwahrscheinlichen - Wissens ein Gutteil schon der klassischen Soziologie, dann aber auch heutiger soziologischer Theorieansätze bis hin zu Bourdieu und Luhmann prägt und (in einer wissenschaftssoziologischen Selbstverständnissen nahe stehenden Weise) epistemologisch bzw. methodologisch etwa von Gaston Bachelard 2 oder von Kenneth Burke 3 reflektiert wurde. Die sozialwissenschaftliche Einsicht in diese eigene Künstlichkeit, die schließlich auch in eine diese Künstlichkeit reflektierende Theorieform gerinnt, 1 2 3
Pankoke, Gesellschaftslehre, S. 816. Vgl. etwa Bachelard, Bildung; sowie Bachelard, Epistemologie. Siehe Burke , Permanence and Change; sowie Burke , A Grammar of Motives.
164
Andreas Göbel
hat ihre Geschichte. Eine der zweifelsfrei prominenten Adressen dieser Geschichte ist der Kontext der Frühromantik, jene kurze Bewegung einer neuen Lebensform und - weitaus wichtiger - jenes Text-, Reflexions- und Fragmentproduktionsarchiv, auf das seitdem noch jede philosophische, literaturtheoretische und zum Teil auch sozialwissenschaftliche Generation in der Absicht auf Vergegenwärtigung der eigenen Position zurückgegriffen hat. Die nachfolgenden Überlegungen kombinieren diese beiden Künstlichkeitsgeneratoren. Es geht hierbei aber um mehr als nur um eine historische Vergegenwärtigung. Vielmehr soll der Hauptakzent auf der Frage liegen, wie sich der romantische, speziell frühromantische Diskurs soziologisch, speziell gesellschaftstheoretisch fassen lässt. Welche Faszinosa und Eigentümlichkeiten gehen von ihm aus in einer Weise, die sich soziologisch explizieren lässt? Ich will diese Frage im Folgenden vor allem mit einem methodischen Zuschnitt versehen, d.h.: mich interessiert, mit welchen Methodika und welcher allgemeinen Fragestellung sich ein solches Textcorpus wie das der Frühromantik soziologisch erschließen lässt. Allgemeiner formuliert, geht es um das methodische Design der Beobachtung historischer Semantiken aus einer soziologischen, genauer: gesellschaftstheoretischen Perspektive. Eine der in jüngerer Zeit wichtigsten Theorieofferten für solche Zugänge hat die soziologische Systemtheorie in der Version Niklas Luhmanns vorgelegt. Sie sei im nächsten Abschnitt grob umrissen (II). Meine Vermutung ist, dass diese Theorievorlage sich in ihrer Durchführung und vor allem: im Plausibilitätsgrad ihrer historisch-semantischen Rekonstruktionsarbeit faktisch konzentriert auf das, was ich an anderer Stelle eine »historisch-semantische Transformationsbegleitforschung' des Übergangs von der Differenzierungsform ,Stratifikation' hin zur Form funktionaler Differenzierung genannt habe.4 Das ist mit Blick auf das Selbstverständnis dieser Theorie, die eben nicht pure Ideengeschichte sein, sondern sich den Wandel von Semantiken differenzierungstheoretisch vergegenwärtigen möchte, auch nur plausibel. Der Hauptgesichtspunkt ihrer Beobachtung historischer Semantiken ist damit eben der differenzierungstheoretisch qualifizierte soziale Wandel hin zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Darin hat sie ihr kardinales Beobachtungskriterium. Konsequenterweise interessiert sie sich nicht - um bei unserem , Anwendungsfall' zu bleiben - für die Frühromantik überhaupt in einer rein ideengeschichtlichen Einstellung, sondern im Grunde nur für die frühromantisch-diskursiven Facetten, an denen entlang sie einige Implikationen funktionaler Differenzierung beobachten kann. In anderer Weise aber - und das betrifft vor allem den Anschluss an sozialgeschichtliche und andere wissenssoziologische Forschungszusammenhänge5 mag man aber Überlegungen darüber anstellen, ob die Grundannahme einer dif4 5
Göbel, A., Selbstbeschreibungen, S. 232. Pankoke , Sociale Bewegung; sowie Pankoke , Gesellschaftslehre.
Gesellschaftsstruktur und Romantik
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ferenzierungstheoretisch enggeführten Evolution von Ideen nicht auch auf die Ebene sozial- bzw. gesellschaftsgeschichtlicher Forschungen heruntergebrochen werden könnte (III). Der Testfall dafür ist eben in diesem Fall die Frühromantik. Das muss ich notgedrungen auf einige allgemein-programmatische und wenige exemplarische Bemerkungen beschränken (IV).
II. Karl Mannheim hatte 1924 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik unter anderem die These vertreten, „dass die Erkenntnistheorie eines Zeitalters nichts anderes enthüllt, als die letzten Voraussetzungen einer Denkstruktur, die in jener Epoche die dominierende war, und dass der Erkenntnistheoretiker und Logiker sich faktisch an der Struktur bestimmter Erfahrungsgebiete des Lebens (z.B. an der religiösen Erfahrung), oder in wissenschaftlichen Epochen an bestimmten Einzelwissenschaften die gerade ins Zentrum treten, orientiert." 6 Mit diesem soziologischen Zugriff noch auf die sakrosankte Domäne erkenntnistheoretischen Denkens hatte sich der Ansatz einer Soziologie gesellschaftlichen Wissens endgültig radikalisiert. Mit ihm war das Programm einer Wissenssoziologie vorgelegt, dass das ideengeschichtlich überkommene Material, statt es entweder geistesgeschichtlich als Emanationen dieser Instanz zu rekonstruieren oder aber, seinen historischen Index ignorierend, es lediglich systematisch zu diskutieren, auf historisch konkrete Adressen und Trägergruppen hin analysierte, zurechnete und „relationierte". Die transzendentaltheoretisch nachgezeichneten Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis erhielten dadurch einen unaufgebbar geschichtlichen Zuschnitt.7 Das, was bei Mannheim noch „Epoche" hieß, war damit die Bedingung für in ihr mögliche Denkformen und „Denkstrukturen", inklusive der dies doch eigentlich transzendierenden Erkenntnistheorie. Die Luhmann'sche Systemtheorie greift dieses Programm, dessen Vorläuferschaft bei Hegel und Marx evident ist, auf, modifiziert es aber in entscheidenden Hinsichten: Es geht nun - erstens - nicht mehr um die konkrete Zurechnung einzelner Wissenskomplexe auf konkrete Trägergruppen, sondern um eine allgemeine Korrelation von gesellschaftlichen Strukturen und produziertem und kommuniziertem Ideengut. Es geht - zweitens - um eine dann auch epistemologisch relevante Reflexion darauf, dass auch eine Theorie, die diese Relationierung von Wissen auf Epochen resp. Trägergruppen betreibt, keine Ausnahme
6
Mannheim, Historismus, S . U . Die neuere Arbeit von Laube, Karl Mannheim, stellt den Historismus-Kontext der Mannheim'sehen Wissenssoziologie im Detail vor. Nicht zufällig lautet ihr Untertitel deshalb auch: „Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus". 7
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von der Regel, nach Maßgabe derer sie ihre Erkenntnisse produziert, darstellt. M.a.W.: Auch in der Erkenntnisform ,Wissenssoziologie' konkretisieren sich die „letzten Voraussetzungen einer Denkstruktur". Wissenssoziologie ohne Selbstbezug ist, salopp formuliert, gleichsam nur die halbe und halbherzig gezahlte Miete. 8 Damit ist der Mannheim'sche Versuch, die ,freischwebende Intelligenz' als Ausnahme von der Regel der Zurechenbarkeit von Wissen zu markieren, systematisch ausgeschlossen. Und schließlich - drittens - transformiert die Luhmann'sehe Theorie die kultursoziologisch allzu unspezifische Rede von einer ,Epoche' und ihren ,Denkstrukturen' in ein gesellschaftstheoretisches Design. Aus der Epoche wird so eine Differenzierungsform, und das systemtheoretisch angereicherte wissenssoziologische Design kümmert sich dementsprechend um die Korrelation von gesellschaftlichen, vor allem: Differenzierungs-Strukturen und semantischen Traditionen. Dieser Ansatz wird verdichtet zu der These, „dass sich zwischen kontingenten, evolutionär variablen Gesellschaftsstrukturen und kontingenten, evolutionär variablen Selbstbestimmungen nichtkontingente Beziehungen feststellen lassen."9 Diese allgemeine Korrelationshypothese betrifft aber nicht nur im engeren Sinne „Selbstbestimmungen" oder „Selbst-Thematisierungen" - später spricht Luhmann von , Selbstbeschreibungen'- des Gesellschaftssystems insgesamt. Es betrifft alle Formen von Semantiken und Sinnbestimmungen. Semantiken können in grober Annäherung als kulturelle Formulierungen von Erfahrungsgehalten qualifiziert werden. Die allgemeine Korrelationsthese besagt dann in diesem Zusammenhang zunächst nicht mehr, als dass die Ausdifferenzierung von Semantiken und gepflegten Semantiken gebunden bleibt „an Rückbeziehbarkeiten in den Alltag des gesellschaftlichen Lebens". 10 Dieser Alltag bleibt der letzte Plausibilitätsgarant für die Durchsetzbarkeit von Semantiken. Hier und hierin haben sie letztlich ihre Funktion: gesellschaftliche Erfahrungen und Erwartungen anzuleiten bzw. genauer: zu ,typisieren'. Ob man also zum Beispiel eine moralfreie Erörterung politischer Strategien für plausibel hält oder die Schönheit eines Kunstwerks, obwohl es nicht die Herrlichkeit der Schöpfung Gottes preist oder die Einheit des Wahren, Guten und Schönen zur Geltung bringt, ist abhängig von den Typisierungseffekten einer Semantik, deren Vorgaben dann alltäglich als plausibel erlebt werden. Oder man könnte etwa an 8
Man muss hier einschränkend hinzufügen, dass auch das Mannheim'sche Œuvre durchaus Ansätze zu solchen Überlegungen enthält und sich derart seiner modernitätsspezifischen Signatur vergewissert; vgl. etwa Mannheim, Allgemeine Soziologie sowie Mannheim, Wissenssoziologie). Diese Überlegungen erreichen freilich nicht das Maß an systemtheoretischer Konsequenz. Denn in der Systemtheorie Luhmanns haben diese wissenssoziologischen Überlegungen zur Korrelation von Gesellschaftstheorie und Gesellschaflsstruktur Effekte, die bis in die damit noch mögliche Theorieform - Stichwort: Selbstreferenz! - reichen. 9 Luhmann, Selbst-Thematisierungen, S. 82. 10 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 20.
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den kunstprogrammatisch wichtigen Begriff der imitatio und seines langsamen Bedeutungsverlusts denken. Dann kann man, differenzierungstheoretisch angeleitet, plausibel machen, dass Imitation als „Sinnbestimmung" und Beobachtungsanleitung von Kunst solange seine Plausibilität behält, wie „die Kosmologie noch von einem Ursprung, von einer Schöpfung der Welt ausging, und zwar von einem Ursprung, der in aller Gegenwart immer noch als Herkunft gegenwärtig ist. So war die Kunst durch die Schöpfung zugleich ermöglicht und an sie gebunden. Denn unter dieser Voraussetzung musste ja auch Erkenntnis als Imitation der von Anfang an festgelegten Bestimmungen etwa als platonische Ideenerinnerung begriffen werden." 11 Imitatio, so kann man dieses Argument konzentrieren, ist als Konzept solange plausibel, wie die kosmologisch garantierte Weltordnung, auf die sie sich als deren Erkenntnis bezieht, plausibel ist. Und die wiederum korreliert mit der Differenzierungsform Stratifikation. Selbstredend erodiert dieses Konzept nur langsam; man muss hier von Jahrhunderten zunehmenden Plausibilitätsverlustes ausgehen. Am Ende dieser b e schichte' (und vieler anderer Parallelgeschichten der Sinnbestimmung von Kunst) steht dann: „Erst die Romantik wird die Funktionsbeschreibung der Kunst ganz vom Gedanken der Imitation ablösen."12 Damit zeigt sich aber auch auf allgemeinem Niveau - und hier kommt die Differenzierungstheorie ins Spiel - , dass diese Semantiken und ihre Evidenzeffekte abhängig von der Form gesellschaftlicher Differenzierung sind. „Wenn das Komplexitätsniveau der Gesellschaft sich ... ändert, muß die das Erleben und Handeln führende Semantik sich dem anpassen, weil sie sonst den Zugriff auf die Realität verliert." 13 Diese - zugegeben hier sehr kompakt verdichteten - Annahmen 14 bilden die Grundlage für eine Beobachtung historischer Semantiken und ihres Wandels unter einer evolutionstheoretischen Perspektive. Vorausgesetzt ist dabei ein (enges) Verständnis von Evolutionstheorie als Theorie der Änderung von gesellschaftlichen Strukturen. In diesem Sinne kann die Systemtheorie dann auch von der Evolution von Ideen (als den Strukturen gesellschaftlicher Erfahrungen) sprechen. Variation, Selektion und Stabilisierung können dann auch im Bereich der Evolution von Ideen beobachtet werden. Damit ist methodisch vieles möglich. Faktisch freilich, auch weil die Evolutionstheorie als komplementär zur Differenzierungstheorie angesetzt wird, liegt auch der Hauptakzent einer Theorie der Evolution von Ideen im Übergang von der Form stratifikatorischer zu der Form funktionaler Differenzierung. Hier sucht sie nach den strukturellen 11
Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 424f. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 425. 13 Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 22. 14 Vgl. ausführlich Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und als Versuch einer zusammenfassenden Rekonstruktion Göbel, A., Theoriegenese. 12
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Hintergründen für die Gesamttransformation des semantischen Apparats im Übergang zur Moderne.
III. Niklas Luhmann hat sich immer recht streng dagegen verwahrt, eine Theorie der soziokulturellen Evolution von Ideen in Korrelation zur jeweils dominanten gesellschaftlichen Differenzierungsform entweder als modifizierte Ideengeschichte oder aber als an sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Forschungszusammenhänge allzu schnell anschließbares Unternehmen zu verstehen. 15 Es geht eben um Ideenevolution, nicht um Ideengeschickte. Will man darin nicht nur eine kontingente Abgrenzungsbemühung soziologisch-gesellschaftstheoretischer Forschung gegenüber historiographischen oder philologischen Ansätzen sehen, so muss man nochmals stärker und deutlicher akzentuieren, dass die Analyse historischer Semantiken im Verständnis dieser Theorie vor allem auf eine Beobachtung derjenigen semantischen Materialien konzentriert ist, an denen sich die sich langsam durchsetzende neue Plausibilität einer neuen Differenzierungsform studieren lässt. Die Grundidee bleibt, dass die unendlichen Variationen positiv oder negativ selegiert und dann vor allem stabilisiert werden nach Maßgabe des Gesamtarrangements einer Differenzierungsform. Unplausibel, so ein früher Hinweis Luhmanns, werden z.B. SelbstThematisierungen des Gesellschaftssystems nicht einfach, weil sie sich als (z.B.) logisch und intern inkonsistent erweisen. Sie können „nicht durch ihre Eigenlogik außer Kraft gesetzt werden". 16 Wenn grundlegend gilt, „dass die Selbst-Thematisierungen der Gesellschaft durch die Struktur des Gesellschaftssystems ermöglicht ...und durch Differenzierungsgrad ... bestimmt werden", 17 dann folgt eben eine Beobachtung dieser Semantiken und Selbst-Thematisierungen derjenigen Differenzierungsform, innerhalb derer sie ihre Geltung entfalten. Es ist also durchaus nicht zufällig, dass sie in diesem Zusammenhang, also: bei der sensiblen Beobachtung des Umbruchs von Semantiken im Übergang zur Moderne ihre eindeutigen Stärken hat, weil sie eben in diesem Umbruch, den sie differenzierungstheoretisch beobachtet, ihr eigentliches Beobachtungskriterium hat. Das aber wird unscharf bzw. irrelevant, sobald es um die Beobachtung semantischer Variationen geht, die sich im Rahmen und Kontext etablierter, durchgesetzter funktionaler (oder auch stratifikatorischer, allgemein also: eine ihrer Form nach mit durchschnittlicher Erwartung ausgestatteter) Differenzie15
Vgl. pars pro toto die Bemerkungen in Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S.
569ff. 16 17
Luhmann, Selbst-Thematisierungen, S. 79. Luhmann, Selbst-Thematisierungen, S. 79.
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rung abspielen. Die semantischen Variationen, die unter dieser etablierten Differenzierungsstruktur beobachtbar sind, sind dann zwar immer noch - mit ideenevolutionärem Rüstzeug - als Variationen beobachtbar, die positiv oder negativ selegiert werden. Stabilisierungseffekte sind an ihnen aber nicht mehr sondierbar, weil die Stabilisierungsfunktion eben unter modernen Bedingungen die Differenzierungsstruktur selbst betrifft. 18 Die kann dann ab einem bestimmten Zeitpunkt als durchgesetzt und etabliert gelten und fungiert in diesem Sinne nur noch als die hintergrundserfüllende Gewissheit,19 die als struktureller Rückhalt für Variierbarkeiten und Selektionen fungiert. So entsteht das Phänomen, diese Formen semantischen Wandels nur noch ohne den Rückhalt eines Bezugs zu einer Struktur, mit der er korreliert werden könnte, beschreiben zu müssen, also eigentlich, scharf formuliert: kriterienlos beobachten zu müssen.20 In anderer Wendung: Das Konzept der Beobachtung historischer Semantiken im Luhmannschen Verständnis ist in einem genauen und wörtlichen Sinne ein katastrophisches bzw. semantikrevolutionäres Projekt. Für die Variationen unter dem Mantel einer als ,Normalität' institutionalisierten Differenzierungsform hat es keinen sensus. Fast könnte man an Thomas S. Kuhn denken und dementsprechend von der »Struktur semantischer Revolutionen' (besser: vom Prozess, noch besser: von der Evolution semantischer Revolutionen) sprechen. Für ,normal science'(besser: für ,normal semantics'), die man beobachten müsste ohne den Focus auf eine Änderung der Form der Differenzierung selbst, besteht weder Interesse noch existiert ein Konzept. Diese Lücke entsteht, so kann man vermuten, nicht zuletzt als Effekt einer im Grunde plausiblen theoretischen Strategie. In einer doppelten Absetzbewegung einerseits von Parsons und dessen theorieleitender Differenz von Sozial- und Kultursystem, andererseits von Karl Mannheim und dessen zurechnender Beobachtung gesellschaftlich produzierten Wissens auf jeweilige Träger- und Interessengruppen hin hatte Niklas Luhmann eine gesellschafts- qua differenzierungstheoriekompatible Wissenssoziologie entworfen, die einerseits - gegen Parsons - das historische Ideengut als operatives Moment gesellschaftlicher Reproduktion begreift und die andererseits - gegen Mannheim - von einer nur noch allgemeinen, also nicht mehr distinkt auf Trägergruppen zugerechneten 18 Dies ist die Hauptthese des Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung im Bereich der Ideenevolution: „Die Stabilisierungsfunktion geht jetzt im Einklang mit der gesamtgesellschaftlichen Evolution auf deren Differenzierungsform über, nämlich auf die funktionale Differenzierung, und bei gesellschaftsinternen Evolutionen auf die Funktionssysteme selbst." Luhmann, Gesellschaftliche Struktur, S. 51. 19 Durchaus im Gehlen'schen Sinn. 20 Das ist, so pauschal, sicher zu scharf formuliert. Aber es bleibt gleichwohl die Auffälligkeit, dass semantische Offerten unterhalb des Niveaus der Neukonstitution oder Reflexion funktionaler Differenzierung nur noch als „Folgeprobleme" funktionaler Differenzierung beobachtet werden. Vgl. dazu auch die unter diesem Schwerpunkt publizierten Aufsätze im 1. Heft des 1998er Jahrgangs von ,Soziale Systeme'.
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Korrelation von gesellschaftlichen Strukturen und semantischen Traditionen ausging. Das hatten wir oben erwähnt. Die ,Allgemeinheit' dieser Korrelation, die reduktive These also, ,passen' müsse es in einer allgemeinen und nicht auf Interessen reduzierten Weise, war vor allem dem differenzierungstheoretischen Fluchtpunkt dieses gesellschaftstheoretischen Ansatzes geschuldet. Zwar konnte man damit triftig die drohende Politisierung der Beobachtung kommunizierter Ideen umschiffen (man denke etwa an einige Implikationen der Mannheim'schen Konservatismusstudie); der Focus ,Ideenkampf und Durchsetzung je eigener Interessen war damit ausgeschaltet, denn in der Tat ließe sich auf derartige Weise ja kaum die Gesamtumstellung, d.h. Revolution des erfahrungsleitenden und erwartungssichernden semantischen Apparates erklären. Die Kehrseite dieser Medaille aber ist damit ebenso deutlich: der Verzicht auf Parsons'sche und Mannheim'sehe Vorüberlegungen - vor allem auf letztere - führt eben auch zum Verzicht darauf, sich die Details semantischer Variationen unterhalb der Domäne bzw. Ebene einer institutionalisierten Differenzierungsform vergegenwärtigen zu können - und wenn doch, so theoretisch und methodisch nicht mehr gedeckt. Es mag dies ein (aber, wenn überhaupt, sicher auch nur ein!) Motiv gewesen sein, den theoretischen Gesamtapparat auf die Idee einer paradoxalen Konstitution aller Form von Beobachtung neu einzustellen und mit ihr die Abfolge und den ,sozialen Wandel' von Semantiken als kulturellen Formen zu rekonzeptualisieren als eine Folge von Ent- und Reparadoxierungen, die als Paradoxa so lange unsichtbar bleiben, wie sie sich als plausibel erweisen. 21 Damit scheint zwar vorderhand ein neues theoretisches Moment der Begründung (und in dieser Weise auch: ein Methodikum zur Beobachtung) von kulturellem Wandel in Gestalt semantischer Variationen auf, das eben auch diese Variationen als Wandel und nicht nur in Form einer semantischen Gesamtrevolution zu beobachten imstande ist. Nur: schaut man genauer hin, ändert sich eigentlich, bis auf eine ungeheure Komplikation in der Suche nach versteckten, ,invisibilisierten' Paradoxien, so viel nicht: Dass Semantiken prinzipiell änderbar sind, mag dann zwar zusätzlich der Hinweis auf eine ihnen zugrunde liegende Paradoxie offenbaren; bezweifelt hatte das freilich auch vorher niemand. Und wann und wie sie sich ändern, welches also die strukturellen Katalysatoren sein mögen, die als (wie immer näher qualifizierte) Anlässe für semantische Modifikationen fungieren, ist dem Paradoxiebegriff selbst nicht zu entnehmen. (Das wäre im übrigen ja fatal, denn dann könnte und müsste man der Ideenevolution, entgegen aller Annahmen über ihre prinzipielle Kontingenz, doch wieder eine Art Teleologie unterstellen.) Auch in diesem Rahmen gilt, dass sie irgendwann
21 Vgl. das paradoxiegeleitete Studium historischer Semantiken in Luhmann, Gesellschaftsstruktur, Bd. 3 sowie vor allem in den Kapiteln zu den Selbstbeschreibungen von Funktionssystemen in den jeweiligen Monographien.
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und irgendwie ihre Plausibilität verlieren. Ob man diese Deplausibilisierung als das Offenbarwerden der ihr zugrunde liegenden, aber bislang nicht gesehenen Paradoxie beschreibt oder eben nicht, ändert im Grunde für die Details der Beobachtung von Semantiken nichts. Auch an dieser Version bleibt im Übrigen eine methodische Ambivalenz auffällig, die schon die frühen, noch nicht Paradoxie-gestimmten Studien partiell begleitet hatte: Trotz aller Abkehr von innovativen Höhenkammsemantiken und trotz bzw. neben aller methodisch erklärten Orientierung an so genannten durchschnittlichen' Semantiken, von denen man annehmen konnte, dass in ihnen sich neue Differenzierungs-Erwartungen und -Selbstverständnisse als »normal' und eben erwartbar kondensiert haben, fand sich in den einschlägigen Studien - nicht zuletzt etwa auch mit Blick auf die Frühromantik und deren Status als avancierte Selbstbeschreibung des Kunstsystems - doch immer wieder eine faktisch dominante Präsenz innovativer, neuer, im jeweiligen Wissenssegment avantgarde-ähnlicher Literaturen. Methodisch gedeckt war dies nur durch den weiteren Hinweis darauf, dass in derartiger Literatur eben erstmalig das thematisiert sei, was sich dann später als Normal- und Durchschnittserwartung strukturell etabliert hat. 22 Die mühevolle Arbeit an und Suche nach dem, was sich, neben möglichen Neuerungen, als immer wieder gleich (oder zumindest ähnlich) semantisch wiederholt, und wie sie sich z.B. im Anschluss an die (methodisch ganz ähnlich optierende) Foucaultsche Diskursanalyse ergibt, findet sich in der Durchführung der Studien Luhmanns nur partiell. Um diese letzten Bemerkungen zu bündeln: Die Selektivität eines gesellschaftstheoretischen Zugangs auf historisch überkommenes Ideengut ist per se nicht unbedingt ein Problem. Gesellschaftstheorie ist nun einmal nicht Gesellschaftshistorie. Gleichwohl fällt auf, dass die hohe Plausibilität sozialgeschichtlicher Forschungen in dieses Raster nicht unbedingt und, sofern überhaupt, nur hochselektiv integrierbar ist. Wenn diese sich auch oftmals in sehr viel größerer Nähe zu den Selbstverständnissen der von ihr analysierten Texte befinden und mit sprachsensiblem, gleichsam germanistisch geschultem Sinn für Details deren Aspektstrukturen sehr viel genauer zu rekonstruieren imstande sind, dann wird man solche Ergebnisse, trotz des Vorbehalts zu großer Gegenstandsnähe, nicht dauerhaft ignorieren können. Man mag zwar einiges von dem, was solcherart Forschungen zutage fordern, in die Veredelungsmaschine einer Gesellschaftstheorie der Moderne einspeisen und dann von einem abstrakten Weltbegriff als Korrelat sinnhafter Operationen sprechen oder, ein anderes Beispiel,
22
Das ist historisch-semantisch-methodisch gleichwohl nicht akzidentiell. Denn nur so entgeht man einem Design, dass systematisch Avantgarden als Motoren sozialen und semantischen Wandels in den Vordergrund rückt. Vgl. dazu und zu weiteren Implikationen dieses Themenkomplexes auch meine Bemerkungen zu Peter Wagners , Soziologie der Moderne', in Göbel, A., Kulturwissenschaften, S. 216ff.
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statt von der Einsicht in die Künstlichkeit des Sozialen23 von Kontingenz als einem stabilisierten Eigenwert der modernen Gesellschaft. Das ist in vielerlei Hinsicht auch triftig, suspendiert aber gleichwohl nicht von dem Mangel an Detailgenauigkeit. Umgekehrt steckt sicher auch in der detailgenaueren soziologischen Arbeit an der historischen Semantik vor der Konstitution der Soziologie mehr Potential als nur eine Vergegenwärtigung derjenigen Denkmuster und Prinzipien, die dann später für das Selbstverständnis der Soziologie als Disziplin maßgeblich wurden. Beides wird man konzedieren können; eben deshalb müsste man beide Akzente komplementär aufeinander beziehen können. Kurzum: Die Grundfrage bleibt, ob sich eine Analyse historischer Semantik als Gesellschaftstheorie in gesellschafts- und sozialgeschichtliche Details hinein erweitern ließe. Die Frage ist natürlich, so frontal gestellt, nicht ernsthaft zu beantworten und müsste über viele Detailschritte und -Studien hinweg sorgfältig portioniert werden. Das kann hier nicht geleistet werden. Vielleicht aber macht es zumindest Sinn, sich am frühromantischen semantischen Material die verschiedenen Dimensionen und ,Problemzonen' bei der theoretischen Vergegenwärtigung von Semantiken und semantischen Implikationen zu verdeutlichen. Wahrscheinlich wird man in einem ersten Schritt nicht umhin kommen, mehrere semantische Ebenen zu unterscheiden. Einerseits mag es eine Art Semantik der Bestätigung der Differenzierungsform geben, die in den weitaus meisten Fällen, in denen es nicht mehr um den Übergang von der einen in eine andere Differenzierungsform geht, einen eher impliziten Charakter hat. Man mag sich etwa einen Disput kunstwissenschaftlicher Programmatiken vorstellen, die nach Maßgabe je konkreter unterschiedlicher Kriterien operieren bzw. für solche votieren, dabei aber beide Male in der Durchführung die operative Autonomie des Kunstsystems nicht in Zweifel ziehen. Und selbst dort, wo dies mehr oder weniger naiv proklamiert wird - man denke etwa an die avantgardistische Programmatik der Aufhebung der Differenz von Kunst und Lebenspraxis - scheitert dies dann spätestens an der Struktur eines operativ autonomen Funktionssystems, in dem solche Programme nebst den entsprechenden Kunstwerken in eben der Weise rezipiert und kommuniziert werden, die diesen Struktur-Kontext eines Systems reproduziert. Neben diesen ,differenzierungsformbestätigenden' Semantiken (oder besser: Dimensionen von Semantiken) wird man zusätzlich auch die Differenz zu vorhergehenden Semantiken und die Unterschiede, die darin liegen, mit berücksichtigen müssen. Denn auch sie machen ja Unterschiede in der Weise der operativen Reproduktion des Systems.24 Sie artikulieren je für sich unterschiedliche 23 So zuletzt noch einmal Pankoke, praktische Künste'; vgl. aber schon dessen ,Gesellschaftslehre'. 24 In einem umfangreichen Text hat M. Göbel mit anderer Stoßrichtung Ähnliches im Auge. Aus seiner Perspektive „ergibt sich im Kontext der Luhmann'sehen Theorie eine
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Selbstverständnisse ,des Politischen', ,des Religiösen', ,des Wirtschaftlichen', ,des Künstlerischen'. Dem kommt man aber nur im Detail auf die Spur, wenn man penibel solche Texte - denn typischerweise haben Selbstbeschreibungen die Form von Texten und dies zumindest wird man als die textwissenschaftliche Dimension der Soziologie akzeptieren müssen - mit Blick auf ihre Kontexte, ihre Relationierungen, ihre Abgrenzungen und ihre vergangen zukünftigen Rezeptionen mit in den Blick nimmt. Das aber heißt: Es gilt, Texte in Kontexten zu beobachten. Welche Details und welche semantischen Ebenen' dabei zu berücksichtigen wären, sei, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in der Folge kursorisch diskutiert.
IV. So viel zunächst ist klar und gilt allgemein wie spezifisch frühromantisch: „Will man die reichen historischen Materialien der einschlägigen Literatur ordnen, genügt es nicht, nur ,ideengeschichtlich' vorzugehen. Da wäre viel zu erzählen." 25 Aber wie dann? Speziell den systemtheoretischen Zugriff auf die (Früh-)Romantik kann man kaum anders als ambivalent nennen: Mal ist es die Entdeckung des Schriftmediums (vor allem in den Charakteristiken Schlegels), 26 das ihre Modernität markiert, mal ist es das Selbstverständnis romantischer Kritik im Kontext einer progressiven Universalpoesie, in deren Zusammenhang sich ein Bewusstsein von der Autonomie eines sich konstituierenden Funktionssystems artikuliert und die darum modern genannt werden kann, mal gar scheint ein systemtheoretisch rekonstruierbarer eigener Kommunikationstyp auf. Aber im Einzelnen:
enge Kopplung der Thesen einer Codierung von Funktionssystemen, der operativen Schließung sowie der These der diese operativen Systeme in ihrer Form und Autonomie bestätigenden Reflexionstheorien. Diese starke These ... wird ihrerseits durch die Annahme getragen, dass sich Reflexionstheorien gegenüber den Codes der Funktionssysteme loyal verhalten und sich an den spezifischen Kontingenzformeln der autonomen Funktionssysteme entlang orientieren. Die These Luhmanns ist, dass sich Sozialstruktur und Semantik zumindest langfristig zu einem System zusammenschließen." (66/7) Das aber verengt „den Raum für die Rekonstruktion von unterschiedlichen Formen der Ausdifferenzierungen der Soziologie" (67) - dies das Thema dieser Studie - über Gebühr. In der Absicht auf Erweiterung des Spielraums der Relation von Sozialstruktur und Semantik heißt es dann: „Die generelle ... Frage ist dann, ob es Selbstbeschreibungen von Funktionssystemen gibt, die nicht dem Muster: operative Autonomie - Reflexivität des systemspezifischen Prozesses - Selbstbeschreibung folgen, sondern sich beispielsweise durch eine Kopplung unterschiedlicher Kontingenzformeln auszeichnen, und somit auch den Grad der Distanzierung eines Funktionssystems von der gesellschaftlichen Umwelt beeinzuflussen vermögen." (69) (Göbel, M., Funktionale Differenzierung, S. 66-69) 25 26
Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 397. Vgl. dazu etwa neuerdings Maak, Ironie und Autorschaft.
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1. Unstrittig dürfte zunächst sein, dass mit dem Titel der Frühromantik sich zunächst und zuvörderst eine bestimmte Programmatik moderner Kunst verbindet. Die Skizze, die Luhmann etwa in ,Die Kunst der Gesellschaft 4 gibt, hat ihren Hauptakzent zweifellos darin, dass mit der (Früh-)Romantik das moderne Kunstsystem erstmalig über eine umfassende Selbstbeschreibung verfügt, die sowohl die wichtigsten Effekte der , Wanderung 4 der Kunst durch unterschiedliche Anlehnungskontexte hindurch auf ihrem Weg zur Autonomie in sich bündelt wie auch einige neue Momente integriert. Zu diesen neuen Akzenten gehört eindeutig etwa die Präferenz von Kunstkritik gegenüber einer systematisch argumentierenden Philosophie der Kunst, die mehr und mehr zu einem akademischen Spezialistentum avanciert und - aus heutiger Sicht - eben deshalb als eine nicht mehr kunstsystemintern operativ anschlussfähige Fremdbeschreibung gilt. 2 7
Insgesamt scheint damit ein Bild der Frühromantik auf, die als Selbstbeschreibung des Kunstsystems deshalb im Zentrum des systemtheoretischen Interesses steht, weil sie endgültig die Einheit des Systems in Differenz zur Umwelt beschreibt. Differenz zur Umwelt heißt dabei zweierlei zugleich. Einerseits etabliert sich eine Differenz zu anderen Werten und deren Codierungen, also: Unterscheidung der Kunstunterscheidung von solchen der Wissenschaft, von denen der Moral und damit zugleich auch der Theologie oder auch von denen der Politik. Und andererseits geht es um die Etablierung einer gegenüber diesen spezifischen Unterscheidungen auffällig unspezifischen Differenz, die mit der traditionell überkommenen Semantik von Sein und Schein, von Fiktion und Realität spielt, innerhalb ihrer variiert und damit insgesamt die Kunst auf die Seite von Schein und Fiktion etabliert, deren andere Seite dann eben unspezifisch alles andere, kunstexterne, als Realität und Sein qualifiziert. Die Frühromantik realisiert damit insgesamt das für das Kunstsystem, was mehr oder weniger zeitgleich andere Reflexionstheorien - die Transzendentaltheorie als Reflexionstheorie des Wissenschaftssystems, die politische Theorie (die schon früher) für das politische System, die Tradition sich verdichtender pädagogischer Bemühungen für das Erziehungssystem - für jeweils ihre Funktionssysteme leisten. Sie alle bringen die Einheit eines Systems in Gestalt seiner Differenz gegenüber einer systemexternen Umwelt systemintern zur Geltung. Sie reflektieren damit vollzogene, zumindest nicht mehr ignorierbare funktionale Differenzierung. Mit Blick auf den semantischen Gesamtapparat kann man dies mit Recht eine Re-Interpretation des sattelzeitlichen semantischen Umbruchs in differenzierungstheoretischen , terms4 nennen. In dieser Interpretationsvariante bezieht die Systemtheorie deshalb die Frühromantik auf „ein Hin-
27 Die Abgrenzung selbst ist frühromantikintern thematisch gar nicht so dominant, sondern läuft eher über Formalternativen. Deren wichtigste heißt sicher, ablesbar an der Zeitschrift,Athenäum': Fragment.
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tergrundgeschehen ..., dass bestimmte Abgrenzungsnotwendigkeiten aufdrängt und mit bestimmten Abschlussbegriffen weiteres Fragen stoppt. Dies Hintergrundgeschehen könnte in einer Neuordnung des Bereichs gesellschaftlicher Kommunikation liegen, oder genauer: im Übergang des Gesellschaftssystems zu einer primär funktionalen Differenzierung, in deren Ordnung schließlich auch die Kunst ihren eigenen, nicht durch andere Mächte bestimmbaren Platz suchen und bestimmen muß." 28 Dieser differenzierungstheoretische Rahmen lässt sich plausibel mit etlichen Details und Eigentümlichkeiten frühromantischer Kunstprogrammatik erklären. Mathias Schöning etwa hat in einer der interessantesten Studien der letzten Jahre zur Frühromantik darauf hingewiesen, dass der romantische „Begriff der Ironie ... keine Maßregel mehr (bezeichnet), wie Inklusion herzustellen sei, sondern einen Reflexionsbegriff, der die soziostrukturelle Evolution einer ausdifferenzierten Literatur semantisch nachvollzieht. Der romantische Begriff der Ironie liefert die Identitätsformel, die unter dem Deckmantel alteuropäischen Sprachgebrauchs einem unüberschaubaren und zunehmend schneller prozessierenden Kommunikationszusammenhang die Möglichkeit bietet, sich überhaupt noch als Zusammenhang selbst zu beschreiben." 29 Schöning macht deutlich, dass der Ironiebegriff im romantischen Zusammenhang kein Literaturprogramm im Sinne einer Anweisung, wie zu produzieren und zu rezipieren sei, darstellt, sondern ein Reflexionsbegriff, der auf die Einheit eines funktionssystemischen Kommunikationszusammenhangs reflektiert und deshalb notwendig „abstraktreflexiv" 30 angelegt sei. Die frühromantische Ironie ist damit „Folge der Selbstbeobachtung von Kunst als System in einer Umwelt, die alles mögliche sein mag, eines aber nicht: Kunst." 31 „Aus der spezifischen Perspektive des Kunstsystems sind nur Repräsentationen der ,Welt 4 möglich, die Kunstcharakter tragen; Kunst kann die Welt nicht simulieren, ,wie sie ist', sie nicht abbilden oder nachahmen, sondern beim Überschreiten der Systemgrenze ,Umwelt/Kunst' wird jedes Element ästhetischer Kommunikation transformiert. ,Naiv 4 wäre eine Welteinstellung zu nennen, die die ästhetische Repräsentation der (Um-)Welt als , Aneignung4 oder ,Erkenntnis 4 oder ,Mimesis4 versteht und das ideale Ziel von Kunst in der wesentlichen und umfassenden Vergegenwärtigung von ,Welt 4 sieht. Dieser Standpunkt ist ,naiv 4 , weil er nicht auf die Kontingenz seiner Position reflektiert, nicht sieht, dass das, was er tut, auch anders möglich ist und keinesfalls durch irgendein Vorwissen von ,Welt 4 garantiert wird. Dieser unreflektierten Position stellt Schlegel nun die moderne Kunst entgegen, die sich bei allem, was 28 29 30 31
Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 400. Schöning, Ironieverzicht, S. 132. Schöning, Ironieverzicht, S. 132. Plumpe, Ästhetische Kommunikation, S. 161.
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sie unternimmt, gleichsam selbst beobachtet; die nicht nur Artefakte produziert, sondern zugleich darum weiß, dass es Artefakte, Kunststücke, sind, die nur aus der Teilnehmerperspektive den Eindruck erwecken mögen, es gehe ihnen um unmittelbaren Weltkontakt". 32 Schlegels bekannter Begriff hierfür ist die „transzendentale Buffonerie". Ähnlich kunstsystemintern lässt sich der Schlegel'sehe Zugriff auf die modernen Formen der Kunstkritik unter dem Stichwort der „Transzendentalpoesie" qualifizieren. An Goethes , Wilhelm Meister' fällt Schlegel auf, was er in anderer Wendung eine „poetische Physik der Poesie" nennt: der poetischen Darstellung gelinge es, in , jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit dar [zu] stellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie [zu] sein". 33 Wenn Schlegel an anderer Stelle formuliert, dass die „Poesie ... nur durch Poesie kritisiert werden (kann)", dann wird damit programmatisch ein Binnenhorizont homogener Kommunikationen aufgespannt, der sich durch keine externen Referenzen mehr irritieren lässt und sich in diesem Sinne autonomisiert. 2. Auffällig am frühromantischen Diskurs ist nicht nur diese kunstspezifische Programmatik. In ihm bündeln sich zugleich semantische Konzepte - oder sollte man hier sagen: Horizonte? - , die einer anderen Logik als nur der der Selbstbeschreibung oder der Programmatik eines operativ autonomen Kunstsystems folgen. Aus soziologischer Perspektive ist hier, um mit dem Bekanntesten zu beginnen, die deutliche, mit antiaufklärerischer Stoßrichtung versehene Präferenz der Romantik für organische Konzepte zu nennen. Wenn es gegen den (aufklärerischen) Staat und seine „maschinistische Administration" 34 geht, wenn Schleiermacher an Garves popularphilosophischer „Charakteristik eines bestimmten Individuums" kritisiert, hier werde „das Individuum ... nur mechanisch zerstückelt" und seine „Einheiten" seien „noch an mehreren Orten zerstreut", 35 so ist das der klassisch antiaufklärerische Ton, mit dem die Romantik ihre Prominenz im agonalen geistesgeschichtlichen Konzert gewonnen hat. Ihr Proprium liegt darin freilich nicht. Denn auch ein Herder, ein Goethe, ein Schiller, ein Justus Moser folgen dieser semantischen Spur, die sich schließlich nach 1789, spätestens nach 1794, auch in die revolutionskritischen Fahrwasser begibt und hier eine der Eigentümlichkeiten des sich darüber konstituierenden nachrevolutionären Konservatismus (Burke, Gentz, Rehberg) bildet. Für die Soziologie des späten 19. Jahrhunderts ist dieser semantische Strang in mehreren Hinsichten relevant: Auf modernem Niveau etabliert sich hier das Konzept eines organischen Ganzen, das im 19. Jahrhundert seine eigentümliche und eigentümlich verschlungene Karriere hat und mit dem Siegeszug der Biologie in der 32 33 34 35
Plumpe, Ästhetische Kommunikation, S. 161. Schlegel, Bd. 1,S. 204. Novalis, Schriften Bd. II, S. 494. Schleiermacher, Gesamtausgabe, Bd. I, 3, S. 69-70.
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zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts schließlich auch in bestimmten Varianten der frühen Soziologie seine Prominenz erhält. Bei allen internen Unterschieden der je einzelnen Konzepte und bei allen Differenzen einer organizistischen Soziologie zu der romantischen Vorläuferschaft wäre es umgekehrt ignorant, würde man hier ein Kontinuum von Selbstverständnissen in der Konzeptualisierung von , Gesellschaft' (und den ergänzenden Überlegungen zu ihrer internen Differenzierung, die damit eng gekoppelt sind) leugnen.36 3. Eine spezifisch romantische Strategie schließlich, die zwar eng mit dem vorhergehenden Punkt verknüpft, mit ihm aber keineswegs identisch ist, lässt sich fassen mit Blick auf die ,Begriffschemie' der Frühromantiker. Speziell an den Fragmenten des Novalis, aber auch an etlichen der Fragmente Friedrich Schlegels lässt sich zeigen, in welcher Weise zu diesem Zeitpunkt bereits fix etablierte Fachsprachen - etwa der Beobachtung von Literatur, staatstheoretischer Provenienz und vor allem der neueren Naturphilosophie - miteinander vermischt werden in der Absicht auf eine Art von ,Selbstüberraschung'. Speziell für Friedrich Schlegel ist die ,Physik' im Sinne der allgemeinen Naturlehre „fast nur Quelle der Poesie und Incitament zu Visionen". 37 Aber auch an Schleiermachers gegenüber der Schlegelschen Experimentierfreudigkeit geradezu ,analytischen' ,Theorie des geselligen Betragens' lässt sich zeigen, wie hier das Vokabular der neueren Chemie - das Konzept der ,Wechselwirkung' ist hier an erster Stelle zu nennen - zum Teil das Basisvokabular dieser frühromantischen Programmschrift bildet. 38 4. Eine Variante dieses Rückgriffs auf die changierende und spekulativ genutzte Semantik der Naturphilosophie zeigt sich in dem, was Dirk von Petersdorff „Mysterienrede" genannt hat. Novalis hatte in der Vorrede zu ,Glauben und Liebe' das Programm einer „Tropen und Räthselspreche" entworfen: „Wenn man mit Wenigen, in einer großen, gemischten Gesellschaft etwas heim-
36 Es muss dieser Punkt einer organischen Semantik der Romantik insgesamt, aber eben auch schon der Frühromantik nicht per se inkompatibel sein zu den im ersten Punkt erwähnten innovativen kunstprogrammatischen Überlegungen. Wenn Friedrich Schlegel etwa in einem seiner ,Lyceums-Fragmente' das frühromantische Selbstverständnis des Verhältnisses von Schriftsteller und Leser benennt, so nutzt er hierbei deutlich genau diesen Diskurszuschnitt: „Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Kalkül, legt seine Maschinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. ... Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie." Schlegel, Bd. 2, S. 161. 37 Zit. nach Dilthey (Hrsg.), Aus Schleiermachers Leben, S. 154. 38 Vgl. ausführlicher zu diesem Zusammenhang u.a. Moser, Translating Discourses; Kapitza, Theorie der Mischung, als eigenen Versuch Göbel, A., Naturphilosophie und moderne Gesellschaft.
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liches reden will, und man sitzt nicht neben einander, so muß man in einer besondern Sprache reden. Diese besondere Sprache kann entweder eine dem Ton nach, oder den Bildern nach fremde Sprache seyn. Dies letztere wird eine Tropen und Räthselsprache seyn." 39 Von Petersdorff versucht nun, die Mysterienmetaphorik und den spätaufklärerischen und frühromantischen Rückgriff auf die antiken Traditionen der Mysterienrede in „funktionsgeschichtliche(r)" Absicht als „Teil einer literarischen Reflexion" und als „Beantwortung und Therapie von Modernisierungserfahrungen" auszuweisen: „Die Diskussionen um intellektuelle und sprachliche Esoterik erweisen sich aus dieser Sicht als Reaktionen auf Differenzierungsprozesse, die sowohl den frühaufklärerisch-universalistischen Wahrheitsbegriff als auch die frühaufklärerische Fiktion einer (zumindest möglichen) Einheit der Gesellschaft erschüttern." 40 Das kann hier im Detail nicht interessieren. Festzuhalten bleibt aber, dass dieser Mysteriendiskurs der Romantiker mehr ist als eine Schwundstufenfreimaurerei. Ihm liegt vielmehr eine spezifische Brechung der Relation von geheimer Gesellschaft und Öffentlichkeit zugrunde. Der Bezug auf die Mysterienrede ist nicht einfach die Aufgabe eines republikanisch-bürgerlichen Öffentlichkeitsprinzips. Dieses Prinzip gilt es auch im frühromantischen Selbstverständnis weiterhin zu realisieren. Die Relation einer über Mysterien, über einen Diskurs der Eingeweihten konstituierten Avantgardegruppierung ist aber nicht mehr die einer geheimen Gesellschaft, die sich gegen die herrschend-repressiven Elemente der Öffentlichkeit im Geheimen derer wahrer Prinzipien versichert und sie pflegt. Sie ist also nicht mehr in diesem Verständnis Gegenöffentlichkeit. Noch anders: Sie folgt nicht mehr der Topologie eines Drinnen und Draußen. Mysterienrede, so die Quintessenz von Petersdorffs, ist vielmehr eine prinzipiell öffentliche, allen zugängliche Rede das , Athenäum' ist schließlich keine geheime Flugblattsammlung - , deren wahrer und tieferer Sinn aber nur einigen Eingeweihten zugänglich ist. Mysterienrede wechselt also gleichsam die Topologie der eigenen Avantgardeposition. Sie steht nicht mehr im Außen - also: im Geheimen - , sondern konstituiert sich als ein ,Außen im Innen', als ein ,Inside out' - also eben: als Mysterium. Man könnte dann weitergehend sogar vermuten, dass das spezifische Raunen des modernen Intellektuellen hier seine historische Genese hat. 41
39
Novalis , Schriften, Bd. II, S. 485.
40
von Petersdorff,
41
Mysterienrede, S. 3.
Ein weiterer Punkt, der eng mit diesem zusammenhängt und zugleich ein Moment dessen birgt, was die Frühromantik „Symphilosophie" auch im Sinne der gemeinsamen Autorschaft und Textproduktion genannt hat, sei hier, obwohl er eigentlich eigens und ausführlicher erwähnt werden müsste, nur gestreift. Romantische Symphilosophie, selbst wenn sie sich in ihrer Selbstreflexion auch auf dialogische Momente der unmittelbaren Kopräsenz der Interaktionspartner bezieht, ist in ihrem Kern ein Reflex der Einsicht in die schriftkulturelle Verfasstheit moderner Kommunikation. Cornelia Bohn hat aus systemtheoretischer Perspektive diese Umstellung auf das Schriftlichkeitsparadigma (nicht erst in der Romantik, hier aber sicher in all seiner inszenierten Künstlichkeit und im
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5. Überhaupt entsteht in dieser Zeit mit der romantischen Naturphilosophie ein Forschungsprogramm, dessen Konturen durchaus mehr in sich bergen als die erwähnte Schlegel'sehe Variante des Zugriffs darauf. Wissenschaftssystemintern zwar nur mittelfristig erfolgreich, entsteht hier aber ein Forschungsfeld, das in all seiner Heterogenität durchaus auch Züge eines klassischen Paradigmas enthält: einen (mehr oder weniger) singulären ,spiritus rector' in Gestalt des Philosophen Schelling, eine Vielzahl von miteinander nicht immer homogenen Forschungstraditionen (Oerstedt und Steffens z.B.), die Abgrenzung gegen unseriöse Varianten naturphilosophischer Paradigmenbildung - „Schlegelianismus der Naturwissenschaften" etwa nennt Steffens die oben erwähnte Strategie Schlegels.42 Insgesamt erkennt man das sichtliche Bemühen um Etablierung einer ,normal science'. Mit Elias könnte man geradezu von der Kreation der Differenz von Etablierten und Außenseitern sprechen. Es ist dann typisch, dass Novalis (zwar mit naturwissenschaftlicher Ausbildung, aber sichtlich mit dem Bemühen um darüber hinausgehende philosophische Prägnanz) Johann Wilhelm Ritters zwischen konkretem Experiment und gewagter Spekulation changierende »Fragmente'43 präferiert und Schlegel sich eben dem anschließt, dass aber eben dieser Kontext von um Seriosität bemühten Naturwissenschaftern abgelehnt wird. 6. Was mit dieser temporären Prominenz naturphilosophischen Denkens passiert, lässt sich gleichwohl nicht begrenzen auf eine innerwissenschaftliche Debatte einerseits und ihre ,ästhetisierende' Aneignung andererseits. Interessant sind dann darüber hinaus vor allem die - wiederum in sich vielfältigen - Versuche, sich dieses neue Diskursuniversum für andere Wissensbereiche und gesellschaftliche Bereiche anzueignen. Schleiermachers ,Versuch' wurde bereits erwähnt. Man kann aber auch auf Adam Müllers noch abstrakte „Lehre vom Gegensatz" und die daraus resultierenden „Elemente der Staatskunst" verweisen; Novalis' durch und durch naturphilosophisch getränkte geschichtsphilosophiBewusstsein der mit ihm implizierten Kontingenz) mit der gesellschafts- qua differenzierungstheoretischen Ausrichtung der Systemtheorie zu verbinden versucht. Sie geht dabei von der „Annahme eines Zusammenhangs, ja eines Verhältnisses wechselseitiger Bedingung von selbstreferentieller Schriftlichkeit und der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, d.h. der Umstellung der Differenzierungsform der Gesellschaft" (Bohn, Schriftlichkeit und Gesellschaft, S. 253) aus. Auf dieser Basis fungiert die (Früh)Romantik als Paradigma deshalb, weil hier nun endgültig sich zeigt, wie in „der kommunikativen Selbstbeschreibung der Romantik diese beiden Momente [Schriftlichkeit und funktionssystemische Ausdifferenzierung; AG] zusammengeführt (werden)." (.Bohrt, Schriftlichkeit und Gesellschaft, S. 253) 42
Genauer heißt es in einem Brief an Schelling: „Seine [Schlegels; AG] Denkungsart scheint mir zu jenem fragmentarischen Wesen, wo man die Natur gleichsam auf witzigen Einfällen zu ertappen versucht und alles nur auf ein regelloses Zusammenhäufen solcher Einfälle hinausläuft, kurz: auf Schlegelianismus der Naturwissenschaft zu führen." (zit. nach Paul, Henrich Steffens, S. 127) 43 Vgl. Ritter, Fragmente.
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sehe Abhandlung über „Die Christenheit oder Europa" mit der Figur des Mittelals (naturphilosophisch verstandenem) , Mittler'-Alters und andere Konzepte mehr ließen sich ergänzen. Allgemein anschlussfähig und modernisierungskompatibel wird man all diese Versuche nicht unbedingt nennen wollen. Adam Müller z.B. greift zwar in seinen Elementen der Staatskunst zum Teil neuere naturphilosophische Argumentationsmuster unter Rückgriff auf Novalis und Ritter auf; im Gegensatz aber zu seiner ,Lehre vom Gegensatz' sind diese Muster in den ,Elementen' deutlich in ein konservativ-restauratives Fahrwasser gemündet. Die organologische Metaphorik ist dementsprechend mit revolutions- und aufklärungskritischen Tönen gespickt. Man mag dies aus systemtheoretischer Perspektive eine , Übergangssemantik' nennen, die, weil sie die Strukturform der Moderne staatstheoretisch nicht zureichend erfasst, schon zum Zeitpunkt ihres Vortrags politisch nicht unbedingt mehr anschlussfähig war. Andererseits aber zeigt seine ,Lehre vom Gegensatz', ebenso ein Resultat der Aneignung der Naturphilosophie, Facetten und Einsichten, die man gerade mit Blick auf das Methodenbewusstsein einer späteren Sozialwissenschaft dezidiert modern nennen 44
muss. 7. Die Details der frühromantischen Textproduktion, sofern sich in ihr auch philosophische Ambitionen artikulieren, stehen weder sozialgeschichtlich noch systemtheoretisch im Vordergrund des Interesses. Aber auch in dieser Hinsicht müsste man sich soziologisch stärker auf ihre Details einlassen können. Auch das kann hier abschließend kaum mehr denn angedeutet werden. ,Unendliche Annäherung' z.B. ist das Stichwort, mit dem Manfred Frank die philosophischen Anfänge der Frühromantik zu bündeln versucht hat. Er stellt diese philosophische Frühromantik in detaillierten Analysen in den Kontext eines nachkantisch wirkmächtigen und hochproduktiven Diskussionszusammenhangs um 1800, in dem es u.a. um die Möglichkeit einer Grundsatzphilosophie und die Begründung von Selbstbewusstsein geht. Die spezielle Schlegel'sche Position in diesem Kontext fasst Frank wie folgt zusammen: „Jacobi hatte ...geglaubt, einen vollkommenen Dualismus zwischen der unmittelbaren Gewissheit des Seins und der endlichen Relativität rationalen Begründens ausmachen zu können. Dadurch hat er den Tübingern, aber auch den Jenensern zu der ihr ganzes Denken nachhaltig bestimmenden Einsicht verholfen, dass Unbedingtes nicht von der Kette der Bedingungen her erreicht werden kann. Friedrich Schlegels
44 Es geht hier um die Selbstreferenz aller gesellschaftlichen Beschreibungen: „Indem wir das Wesen des operirenden Bewusstseins richtig beschreiben, sind wir, die Beschreibenden, bei der ganzen Beschreibung denselben Operationen unterworfen. Denn, deshalb weil wir beschreiben wollen und während unsrer Beschreibung steht die Welt nicht stille ... Das Beschreibende selbst wird freilich in der Beschreibung nie dargestellt und erreicht, weil es, indem es beschrieben wird, zum Beschriebenen wird, dem ein höheres Beschreibendes wieder entgegensteht, das in der fortgesetzten Beschreibung wieder zum höheren Beschriebenen für das immer weiter steigende, immer unerreichbare Beschreibende wird, und so ins Unendliche fort." (Müller , Lehre vom Gegensatz, S. 4f.)
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Denken nimmt nun eine andere Wendung als dasjenige Jacobis einerseits, des absoluten Idealismus Schellings und Hegels andererseits. Die beiden letzten glauben, das Wissen des Absoluten sei einerlei mit der Selbstaufhebung der Relativität; Jacobi umgekehrt sucht die Relativität durch ein höheres Erkenntnisorgan, das er ,Gefühl 4 nennt, zu überwinden. Friedrich Schlegel ist mit Jacobi davon überzeugt, dass ,... die Nichterkennbarkeit des Absoluten ...eine identische Trivialität' sei ... Mit Hegel und Schelling teilt er dagegen die Einsicht, dass der Begriff der Endlichkeit dialektisch an den der Unendlichkeit gebunden ist und nicht von jenem isoliert werden kann. Daraus folgert er aber nicht, dass wir mithin das Absolute positiv in Wissen darstellen können. Es hat den Status einer regulativen Idee (wie bei Kant), ohne welche sich endliches Denken nicht als Bruchstück oder Stückwerk begreifen, durch die es sich aber nicht einfach über diese seine Bedingtheit hinwegsetzen kann."45 Das Alternativkonzept, das hier aufscheint und das mit Bildern wie der unendlichen Fahrt oder Begriffen wie dem der Perfektibilität, die von sich weiß, dass sie nicht zu einem Ende, zu einer Anschlussformel kommt, angedeutet ist, müsste man im Detail nachzeichnen. A n Schlegels Condorcet-Rezeption und einigen Überlegungen von Novalis kann man dann aber insgesamt plausibel machen, dass es hier u m eine grundsatzphilosophisch neue Position geht, die sich fraglos einerseits der modernen Prozessualisierung und Dynamisierung überkommener Kategorien hin zum Aufbau von ,Bewegungsbegriffen 4 fügt, die aber andererseits mehr ist als nur eine Dynamisierung vordem statischer Kategorien. Die Nichterkennbarkeit des Absoluten und die erkannte Unmöglichkeit eines „Suchen nach Einem Princip
44
Mannheim gesprochen, „Denkstruktur
( N o v a l i s ) 4 6 offenbart vielmehr eine, m i t 44
, die, interpretiert man sie systemtheore-
tisch, mit einem anderen Konzept der Systemtheorie kompatibel wird: dem v o n , Welt 4 als einem Korrelat sinnhafter Operationen (und eben nicht mehr als einer congregatio corporum). I n der unabschließbaren Suche nach einem letzten Grund artikuliert sich eine Weltvorstellung, die auf das prinzipielle ,Auch an-
45
Frank, Unendliche Annäherung, S. 860f. „Was thu ich, indem ich filosofire? ich denke über einen Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne - sondern innre Beschaffenheit - Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte - so wäre der Trieb zu Filosofiren eine unendliche Thätigkeit - und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfhiß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte - und darum nie aufhören würde. Durch das freywillige Entsagen des / Absoluten entsteht die unendliche freye Thätigkeit in uns - das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit eine Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebne Absolute lässt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, dass durch kein Handeln erreicht wird, was wir suchen. Dis ließe sich ein absolutes Postulat nennen. Alles Suchen nach Einem Princip wäre also ein Versuch die Quadratur des Zirkels zu finden. / Perpetuum mobile. Stein der Weisen." (Novalis, Schriften Bd. II, S. 269f.). 46
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ders möglich Sein4 aller Sinnkondensate verweist und darin ihr Zentrum hat. Sie ist kompatibel mit einer Differenzierungsform, die kein Zentrum mehr hat, auf das hin sich Sinn als notwendig oder unmöglich, letztgründend und abschließbar, also: als nicht kontingent erweisen würde.
V. Legt man die systemtheoretische Perspektive der „Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation zugrunde", so gibt es frühromantisch „mehr zu entdecken ... als eine bloß epochentypische Semantik. Unter ihrem Deckmantel weisen die Fragmente, die Form der Konnektion von Autor, Werk und Leser und die Reflexion der Schriftlichkeit in eine Zukunft, an der noch unsere Gegenwart teilhat. Sie ist wesentlich dadurch bestimmt, Abschlussformen, Perfektion zu vermeiden, Differenz und Diversifikation zu stimulieren und polykontextural zu beobachten. Dass die Literatur der Frühromantik beginnt, ihr Operieren darauf umzustellen und ihre Texte entsprechende Spuren davon festhalten, ...", 4 7 macht sie zu einer der wichtigsten Adressen sowohl moderner Kunstprogrammatik wie eines Selbstverständnisses von Modernität überhaupt. Das bleibt systemtheoretisch unstrittig. Und ebenso wenig kann es genügen, mit Hinweis auf die Vielfalt frühromantischer Facetten nun doch wieder ,Epochentypik4 zu reinstallieren. Die angedeutete Vielfalt indiziert aber andererseits, dass eine Eingrenzung des romantischen Diskurses auf die Frage der Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation und die autopoietische Schließung eines modernen Kunstsystems ihn um wichtige Dimensionen verkürzt. Die funktionssystemspezifische Diachronie, die die Rekonstruktion der frühromantischen Semantik faktisch anleitet und auf die hin sich die Systemtheorie mit ihrem Problemgesichtspunkt ,funktionale Differenzierung 4 konzentriert, vernachlässigt dadurch das hochkomplexe synchrone Arrangement eines Diskursund Kommunikationszusammenhangs. Man muss diesen Zusammenhang nicht auf einzelne Autoren hin orientieren. Aber die in hohem Maße heterogene Programmierung und semantische Orientierung dieses Zusammenhangs wird man andererseits auch nicht gänzlich ignorieren können. Nur so, d.h. über akribischsynchrone Detailarbeit, ließe sich wahrscheinlich der triftige modernisierungstheoretische Hintergrund sozialgeschichtlich anschlussfähig gestalten.
47
Schöning, Ironieverzicht, S. 81.
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IL Strukturen und Kulturen der modernen Gesellschaft
Wie man die Welt am Einheitshaken aufhängen kann Magische Beobachtung in der Moderne am Beispiel der Frühromantik und der Systemtheorie Peter Fuchs
Es ist sicher sonderbar, den Übergang von der Prämoderne zur Moderne an soziale Beobachtungsprozesse zu binden, die sich als ,magisch4 kennzeichnen lassen. Die Aufklärung, die sich für sehr modern hielt, hätte sich das verbeten, und auch im Blick auf die zunehmende Verwissenschaftlichung und Technisierung der Welt, die ihr folgte, scheint es nicht angebracht, Magie und Magisches als etwas aufzufassen, das nachgerade symptomatisch für das sein soll, was die Moderne und gar die Postmoderne im Kern ausmacht.1 Dennoch ist es denkbar, dass eine besondere Form magischer Beobachtung sogar eine wesentliche Umschalt- und Krisenbewältigungsreaktion im Zuge der Transformation des Gesellschaftssystems von der stratifizierten zur funktionalen Differenzierungstypik gewesen sein könnte oder noch immer ist. Eckart Pankoke, der als klassisch orientierter Soziologe sehr intensive Beziehungen zur Systemtheorie der Bielefelder Provenienz unterhält (ohne ihr jemals verfallen zu sein), hat jedenfalls schon sehr früh unter Rekurs auf die Frühromantik und auf das Kriegskunstgenie des General von Clausewitz das magische und das strategische Beobachten als zusammenhängenden Effekt jenes Überganges hervorgehoben. 2 Die folgenden Überlegungen kreisen zunächst um die Modernität der magischen Beobachtung und des darin Entdeckten. Dann widmen sie sich der Frage, ob etwa gar die Form der Beobachtung selbst (und dann auch die der Theorie, die sich darauf bezieht) seltsam magische Konturen gewinnt.
1 Wie so oft hat aber auch hier die Kunst eine eigentümliche Witterung aufzuweisen. Die art magique mag (für viele) dafür einstehen, die von Harald Szeemann ausgerichtete Documenta 1982 (Individuelle Mythologien), die arte povera, die Anthropometrie, Niki de Saint Phalle mit ihren Schießbildern oder der Schamane Joseph Beuys. 2 Vgl. Pankoke/Marx, Das militärischen Denken. Was den Rekurs auf die Romantik anbetrifft, ist der Zusammenhang einer Nähe von Frühromantik zur Systemtheorie schon oft beobachtet worden. Vgl. Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, S. 208ff. Siehe auch Vogl, Romantische Wissenschaft.
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Peter Fuchs I.
Magie ist nicht nur eine Angelegenheit spezifischer Kulte, sie ist auch in der Moderne (und offenbar in zunehmendem Maße) eine Alltagspraxis, in der noch immer die rites des passages, viele Bräuche der Initiation, der Todes- und Totenbehandlung, abergläubische Vorsichtsmaßnahmen, Paraphernalia der Abwehr wie Amulette, Verfahren der Erzeugung des Bösen für Andere bzw. Verfahren der Verteidigung (fattura, contra-fattura) und Traditionen der schwarzen oder weißen Magie eine Rolle spielen.3 Dieser Praxis sind Merkmale inhärent, die einerseits der Religion nahe liegen, etwa in der Annahme einer transzendenten ,Hinterwelt', in der Wesenheiten agieren, die der alltäglichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind und die auf die immanente Welt einwirken können, ohne sich dabei um deren Kausalitäten scheren zu müssen; andererseits aber sind diese Mächte und Gewalten, wenn man über adäquate Techniken verfügt, instrumentalisierbar: Sie lassen sich immanent in den Dienst nehmen (sei es zum Guten, sei es zum Bösen). Magie ist, wenn man konzise formulieren will, eine Praxis der Bezwingung jener Wesenheiten, die offenbar selbst Regeln unterworfen sind, die sich zur Bezwingung und Ordnung immanenter Angelegenheiten ausnutzen lassen: im Diesseits der Hinterwelt. Und (und nur dies macht Magie soziologisch zugänglich) sie muss in dieser Praxis Zeichen einsetzen, sie kommt nicht ohne Kommunikation aus.4 Das verletzende, das kränkende Wort - es muss gesagt werden. Jedenfalls könnte man formulieren, dass die Magie - so gesehen - die Leitunterscheidung der Religion (Immanenz/Transzendenz) aufgreift, dabei aber vorsieht, dass es nicht nur Langfristuntertunnelungen zwischen den Unterscheidungsseiten gibt, 5 sondern Tunnel, durch die in jeder Gegenwart seltsa-
3 Vgl. van Gennep, Les rites des passages. Zur Theorie der Magie vgl. grundlegend Mauss, Soziologie und Anthropologie, (erster Teil: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie). Interessant für unser Thema ist, dass im 20. Jahrhundert Kant als Philosoph der Aufklärung zum Hintergrund einer voluntaristischen und psychosomatischen Magie wird. Vgl. Marcus, Theorie einer natürlichen Magie. Vgl. zur Modernität des Themas auch die Beiträge in: Ahrendt-Schulte et al. (Hrsg.), Geschlecht, Magie und Hexen Verfolgung. 4 Vgl. zur genauen Untersuchung einer magischen Praxis Knoblauch, Wünschelrutengänger und Pendler, zum Kommunikationsargument insbesondere S. 22ff. 5 Die in Form der Offenbarung, der Heilsgeschichte, des Erlösungswerkes etc. vorliegen, wenn man an das Christentum denkt. Die Richtung des Bezwingens ist aber eindeutig (sieht man von einigen Legenden ab) - vielleicht mit der Ausnahme der Geschichte Hiobs und der sakramentalen Bezwingungen, die aber wohl eher als Verträge denn als Magie zu denken sind.
Magische Beobachtung in der Moderne
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me Kausalbeziehungen aufgenommen werden können.6 Genau in dieser Hinsicht verhält sich die Magie parasitär zum Code der Religion. 7 Von hier aus könnte man die Form der Magie bestimmen als immanente Untertunnelungsarbeit im Schema Immanenz/Transzendenz. Es gäbe keinen Anlass, diese Form auf nicht religioide Beobachtungsprozesse zu projizieren, es sei denn, es ließe sich zeigen, dass die magische Bemächtigung auch gänzlich andere Ursachen haben könnte. Ebendies tut aber Sigmund Freud 8, wenn er Magie als eine animistische Technik begreift, die ein ,Denksystem' generalisiert, das „das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte" zu begreifen sucht.9 Es geht um die „Allmacht der Gedanken".10 Die Psyche projiziert sich und ihre Strukturbewandtnisse auf die Außenwelt, und da dies ein ganz allgemeiner Zug der Psyche ist, lässt sich an der Magie „am deutlichsten und unvermengtesten die Absicht, den realen Dingen die Gesetze des Seelenlebens aufzuzwingen" vorführen. 11 Es ginge damit auch um ein Dementi der realen Dinge. Wir entnehmen diesem Gedankengang neben der Einsicht, dass Magie nicht ausschließlich ein abergläubischer Rest vergangener Zeiten ist, sondern durchaus noch Funktion haben könnte in der modernen Gesellschaft, nur, dass die Welt von einem Einheitsgesichtspunkt her bezwungen werden soll und dass sich das Moment der Bezwingung über den religoiden Ausgangskontext hinaus generalisieren lässt, dass also ihre Form hineinkopiert werden kann in soziale Kontexte, die sich als eigentümlich nah zu unserer Gegenwart auffassen lassen.12 Magische Beobachtung wäre dann nicht nur der Ausdruck für ein Verfahren, das die Religion eigentümlich parasitiert, sondern auch - in weiterer Abstraktion - der Ausdruck dafür, dass das Magische im Übergang zur Moderne preadaptive advances liefert, die den Versuch ermöglichen, etwas ganz bestimmt Unbezwingbares gleichwohl zu bezwingen.13 Das müsste dann so etwas
6 Vgl. Spencer-Brown , Laws of Form, S. 35; Junge , Medien als Selbstreferenzunterbrecher, S.128ff. 7 Und die Politik kann dann ihrerseits daran parasitieren, wenn sie die Form der Diktatur annimmt. Vgl. Vondung , Magie und Manipulation. 8 Freud , Animismus. 9 Freud , Animismus, S. 88. 10 Freud , Animismus, S. 97. 11 Freud , Animismus, S. 103. 12 Siehe hierzu die Beiträge in Zingerle/Mongardini (Hrsg.), Magie und Moderne. Vgl. ferner dazu, dass Goethe sein Teil ebenfalls dazu zu sagen wusste, Binswangen Geld und Magie. 13 Es ginge nicht einfach um Magie als „Überlebsel" der Vergangenheit in der Moderne. Vgl. Tylor , E. B., Primitive Culture, London 1871, hier zit. nach Mauss , Soziologie und Anthropologie, S. 45.
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sein wie ein irgendwie geartetes, auf breiter Basis sich einstellendes Verlangen, die Welt am Haken einer Einheitsvorstellung aufzuhängen. Dazu passt, dass das Magische in seinen Ausgangskontexten auf existentielle Krisenlagen reagiert, auf Tod und Verderben, Krankheit, Feindschaft, Bedrohung, verlorene und wiederzugewinnende Liebe, auf Ernteverluste, Seuchen und auf alles, was sich unter den Auspizien immanenter Beobachtung nicht regulieren lässt. In loser Analogie darf man annehmen, dass sich die Kopie der Form magischer Beobachtung in nicht-magisch orientierte, soziale Kontexte hinein ebenfalls auf eine Krisenlage bezieht, die dann allerdings nicht mehr individuell zurechenbar ist, sondern im Transit von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft auftritt. Die funktional differenzierte Gesellschaft ordnet nämlich nicht mehr weitgehend voneinander abgeschottete Schichten hierarchisch so an, dass die Repräsentation der Einheit der Gesellschaft in der Spitze der Gesellschaft liegt, sondern arrangiert Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Wissenschaft, Erziehung etc. in der Form der Heterarchie, die keine Repräsentanz der Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft mehr zulässt.14 Die chain of being, der Zusammenhang des Ganzen, das Zusammenwirken der Teile ad majorem gloria Dei ist gesprengt. Die Gesellschaft ist von da an kein Stufenbau aufeinander angewiesener, sich wechselseitig stabilisierender Schichten, denen die Menschen via Geburt in eine Familie angehören, ein Stufenbau, der vom Umgreifenden der metaphysischen Instanz gleichsam abgeschlossen und garantiert wird. Sie ist stattdessen eine sich operativ realisierende Zerlegung der Einheit des Ganzen in eine Mehrheit funktional spezifizierter Systeme, die je für sich die Welt totalisieren, so dass ein repräsentables und beobachtbares Totum der Gesellschaft ausfällt. 15 Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, einen der Haupteffekte dieser anderen Ordnung unter Rückgriff auf Gotthard Günther Polykontexturalität zu nennen.16 Im Prinzip geht es darum, dass funktionale Differenzierung jede Form von Super-Beobachtung ausschließt. Was immer kommuniziert (mithin: beobachtet) wird, gerät unter Kontingenzdruck, kann also als anders möglich aufgefasst werden. Könige werden geknöpft, Adlige müssen einem Lebenserwerb nachgehen; wer Herr, wer Knecht ist, wird unentscheidbar, Gott ist tot, und Päpste müssen Unfehlbarkeitsmöglichkeiten instituieren, die im Moment der
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Siehe als Beispiele für die Analyse von Funktionssystemen Luhmann, Macht; ders., Funktion der Religion; Luhmann/Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem; Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft; ders. t Liebe als Passion; dersDie Wissenschaft der Gesellschaft. Siehe ferner Mayntz, Funktionelle Teilsysteme. Die zentrale Erzählung liefert Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 15 Vgl. umfangreicher Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. 16 Siehe etwa Günther, Life as Poly-Contexturality.
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Dogmatisierung schon bezweifelbar sind. Alles ist anders möglich, und es scheint, dass unter dieser Voraussetzung Ideologien, Fundamentalismen, Prätentionen auf Eindeutigkeit und sichere Orientierung ihre Karriere beginnen, und parallel dazu: die Individualisierung von Weltbeobachtungsverhältnissen die letztlich darauf hinausläuft, dass Individuen sich die Welt, die sie erleben, gleichsam selbst garantieren und dieses Erleben dann aber mühsam gegen andere Einschätzungen dieses Erlebens stabilisieren müssen.17 Was demnach im Übergang von Stratifikation zur funktionalen Differenzierung verkraftet werden muss, das ist die De-Präzisierung kommunikativer (und dann auch kognitiver) Anschlussmöglichkeiten.18 Oder anders: Die Idee, die Welt habe einen kommunikablen Einheitspunkt, etwas, von woher sie sich bezwingen und ordnen lasse, wird unter heftigen Erschütterungen obsolet. Die These ist, dass dieses Problem im 18. Jahrhundert deutlich spürbar wird. Kommunikation wird schwierig, sie wird aufwendig, und die Menschen werden (gerade im Zuge der Aufklärung) damit konfrontiert, dass sie deswegen als ,Kommunikationswesen' aufzufassen seien.19 Man kann dabei nicht einfach nur an Kommunikation beteiligt sein, weil das ein jeder, eine jede gelernt hat, sondern man muss ,communicieren' eigens üben. 20 Offenbar wurde dieses Problem der De-Präzisierung (das man auch eines der Beobachtungsüberlast nennen könnte) so virulent, dass sich unter der jungen Generation in den Jahrzehnten des Übergangs zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert Epochenschwellenbewusstsein einstellte.21 Symptomatisch für die Desorientierungskrise mag das mehr und mehr grassierende Entsetzen vor der Fülle der kommunizierten und kommunizierenden Beobachtungswelt, mag der horror plenitudinis gewesen sein.22 Es ist erstaunlich, mit welcher Witterung gerade die Frühromantiker/innen, bezeichnet durch Namen wie Tieck, Steffens, Ritter, Schelling, die Schlegels, Novalis, Schleiermacher, auf dieses Problem nicht tatenlos, sondern durch die Entwicklung spezifischer Kommunikationstypen reagierten.
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Das tun sie aber kaum allein, wie die Subkulturtheorien zeigen. Man kann dann eine Zeitlang versuchen (jedenfalls unter Künstlern und Intellektuellen), Ideen in ,Kränzchen', die dafür eingerichtet sind, ,frei zirkulieren' zu lassen. Vgl. dazu den Brief von Dorothea Veit an Schleiermacher und den Brief an Rahel, auszugsweise abgedruckt in: Kluckhohn (Hrsg.), Charakteristiken. 19 Vgl. Bödeker , Aufklärung als Kommunikationsprozeß, S. 89. 20 Vgl. Thomasius , Ch., Einleitung zur Hoff-Philosophie, Berlin 1712, Kap. IV, 26, zit. nach Bödeker , S. 93. 21 Vgl. Kluckhohn (Hrsg.), Die Idee des Volkes, S. 9f. Dass die französische Revolution in diesem Zeitraum ihre massiv desorientierenden Wirkungen entfaltete, insofern sie wie ein Paukenschlag den Zusammenbruch der alten Welt markierte, mag dieses Schwellenbewusstsein besonders stimuliert haben. 22 Siehe Frühwald , Die Idee kultureller Nationenbildung, S. 130ff. 18
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II. Diese Kommunikationstypik ist unter dem Gesichtspunkt des Fragmentarismus beobachtet worden. 23 Das frühromantische Fragment ist, wenn wir summarisch formulieren, ein mixtum compositum aus der alteuropäischen Leitunterscheidung von Ganzheit/Teil und der neueren Differenz von Unendlichkeit/ Fragment?* Fragmente sind Momente einer Unendlichkeit , die sich nur der Idee nach zu einer Art von Vollkommenheit aggregieren lassen (symbolisiert durch die Kreisfigur), aber immanent sich nicht zu einer überblickbaren Einheit zusammenschließen können. Das Absolute (das Alles der Fragmente) ist nicht erreichbar. 25 Insofern ist das Fragment - das nur ein Text sein kann 26 - geschlagen mit einem Doppelproblem: Es darf nicht anschlussfähig sein (sonst bliebe es kein Fragment, kein ,Igel', wie es in den einschlägigen Texten heißt, der sich mit seinen Stacheln gegen Vereinnahmung wehrt), und doch muss es angeschlossen werden, damit das Fragment in den Unendlichkeitszusammenhang gerät, der es zum Fragment macht. Das Fragment (in diesem Sinne) realisiert' sich als unabgeschlossene Abgeschlossenheit, durch eine Form, die ihre eigene Singularität (als vollkommenes Fragment) sabotiert, insofern sie als Mitteilung, als Text für Kommunikationszwecke eingerichtet wird. 27 Fragmentarische Kommunikation (Kommunikation mit Hilfe schriftlich fixierter Fragmente) spiegelt so das oben bezeichnete Problem der De-Präzisierung. Jedes Fragment dementiert die Möglichkeit, dass an es selbst angeschlossen werden könnte, denn dadurch würde es de-fragmentarisiert, und doch wird es in das Spiel der Kommunikation einbezogen, aber so, dass präzise Anschlüsse, exaktes Verstehen ausgeschlossen wird. 28 Die Lösung dieses Problems wird
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Vgl. Neumann, Ideenparadiese; Mennemeier , Fragment und Ironie. Siehe zur Generalisierung des Fragment-Gedankens Ostermann , Der Begriff des Fragments. 24 Vgl. Mennemeier , Fragment und Ironie, S. 230ff. 25 „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.", formuliert Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien, S. 5. Gerade in dieser Suche (und der durch sie ausgelösten Resignation) ist das Problem des Einheitsverlustes der modernen Gesellschaft exakt formuliert. Die Pointe liegt im ,überall4. 26 Die romantische Symphilosophie, die anfangs mündlich versucht wurde, scheiterte schnell an der Nicht-Anschlussfähigkeit der Kommunikation von Fragmenten und wurde umgestellt auf Textlichkeit. 27 Vgl. umfangreicher Fuchs , Die Form romantischer Kommunikation. 28 Es ist klar, dass die Versuche programmatisch blieben und kaum zu einer dauerhaften Form der Kommunikation stabilisiert werden konnten. Vgl. dazu Preisendanz , Zur Poetik der deutschen Romantik, S. 64. Grundsätzlich darf man aber sagen, dass die Frühromantiker in diesen Experimenten die Schrift und das Problem ihrer Beobachtung entdeckt haben, ein Problem, das heute mit dem Satz ,gelöst4 würde: Der Text ist seine Beobachtung, also prinzipiell unabschließbar. Jacques Derridas Generalisierung des Schriftbegriffes ist hier einschlägig.
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in der Zeitdimension gesucht. Das Fragment ist Relikt und Entwurf. 29 Das Fragment als Ereignis ist in jeder Gegenwart ein ,Zurückgelassenes', ein »Liegenbleibendes', das in einer unendlich fernen Zukunft komplettiert wird, die als kommende (und jenseitige) Totalität gedacht wird, als „unendliche Fülle", als das Absolute, als Gottheit im Werden. 30 Formuliert man das auf operativ vollzogene Beobachtung hin (hier: Kommunikation), dann wird die Markierung im Blick auf die Unterscheidung, die sie zu einer bestimmten Markierung macht, gleichsam im Stich gelassen. Das ergänzende Ereignis (der operative Nachtrag) findet in einer immanent nicht erreichbaren Zeit statt.31 Damit dies aber möglich wird, muss das (schriftliche) Fragment als Relikt, das in unendlicher Ferne zur Einheit kommen soll, eine eigentümliche Form annehmen.32 Es muss kurz sein und Amplifikation (als Entfaltung dessen, was gesagt wird) vermeiden; es darf keine historisch-genetischen Erklärungen beinhalten, also ohne Konzilianz für die Verstehens- und Einordnungsmöglichkeiten des Rezipienten inszeniert werden; formale Logik (die Verständnishilfen leisten würde) ist kontraindiziert, so dass das Fragment chaotisch wirkt und den Buchstaben nach Schlegels berühmtem Diktum »verflüssigt'. Die kommunikative Abschottung (das ,Einigeln') des Fragmentes wird im selben Zuge chaosförmige Verflüssigung, die erst in jener visio der Zukunft als stillstellbar erscheint. Die Beobachtung der Welt wird, wie man dann formulieren müsste, an einen fundamentalen Aufschub geknüpft, in dem die Einheit der Welt (von der aus alles seine Wahrheit gewönne) imaginär wird und deshalb festgehalten und zugleich nicht festgehalten werden kann. Das Medium, das dies ermöglichen soll, ist das Kunstwerk, dessen ästhetische Organisation eine Ebene der absoluten Realität einführt, gegen die der Alltag als Kompendium nicht notwendiger Möglichkeiten, als schiere Kontingenz erscheint. In der Welt wird die Welt noch einmal beobachtet: durch Kunstwerke, die einen Unterschied etablieren (und immer: in der Immanenz) zwischen notwendiger (vollkommener) Form und der Welt des Durchschnitts, der Alltäglichkeit, Unvollständigkeit. Das kann nur gelingen (und selbst im Scheitern noch überzeugen), wenn Kommunikation als Einheit des Sozialen in besonderer Weise in Anspruch genommen wird. Als Operation ist sie die Kombination von Information, Mit-
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Vgl. Ostermann, Der Begriff des Fragments, S. 194f. Vgl. Ostermann, Der Begriff des Fragments, Schlegel zitierend. 31 Auch daran ist etwas sehr Modernes vor-gedacht. Wir würden heute nur sagen, wenn es um autopoietisch sich inszenierende Systeme gibt, dass die Ergänzung, die Auffüllung zur Einheit, schlicht unmöglich ist. Solche Systeme haben ihr primum movens im Aufschub. Die Zeit der Fülle (der kairos) wäre für sie tödlich. 32 Vgl. dazu Fuchs, Die Form romantischer Kommunikation, S. 209f.; Mennemeier, Fragment und Ironie, S. 235f. 30
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teilung und Verstehen. 33 Die Mitteilung ist die Selektion, anhand derer sich Kommunikation als Kommunikation zu erkennen gibt, sich ,ausflaggt'. Die besondere (romantisierende) Manipulation besteht darin, die Information (Fremdreferenz) als unendlich und unbestimmbar aufzufassen. Das ist die genaue Reaktion auf das eingangs bezeichnete De-Präzisierungsproblem. Unbestimmbarkeit von Information ist identisch mit dem Ausfall jeglicher Information außer der einen: Arbitrarität. Da aber Kommunikation nicht ohne Information arbeiten kann (sie wäre sonst nichts als Selbstreferenz, nichts als tautologisch), muss die Enttautologisierung auf gleichsam minimalem (seichtem**) Raum vorgenommen werden. Die Information »verschmiert 4, und ihre Zweitcodierung, die Mitteilung, muss aus diesem Grund die Informationslast mitübernehmen. In der Sprache Spencer-Browns ist dies ein re-entry: Die Unterscheidung von Information und Mitteilung wird in die Mitteilung hineinkopiert. Oder einfacher: Die Mitteilung informiert als Mitteilung. Nicht das, wovon der Text handelt, ist entscheidend (denn ebendies ist arbiträr, ist Moment der Kontingenzexplosion der Moderne), sondern: wie er mitteilt . Und da der Text, wie wir heute wissen, nichts an sich ist, sondern nur seine Beobachtung , der Anschluss bzw. der Nachtrag durch weitere Äußerungen, entsteht eine Kommunikationsform, die eigentümlich in die Bedeutung der Mitteilungsselektion ausgelenkt ist und, wie man sagen könnte, die Welt, über die informiert wird, weitgehend ausblendet oder seltsam modifiziert. „Der Zauberer ist Poet", heißt es bei Novalis in den Logolischen Fragmenten. Der eigentlich magische Akt ist das Romantisieren. „Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es - Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche -dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt - Es bekommt einen geläufigen Ausdruck, romantische Philosophie. Lingua romana . Wechselerhöhung und Erniedrigung. 4435 Magische Beobachtung (ebendiese Operation) verwandelt die Immanenz und die Transzendenz in Immanenz. Wir haben es mit der Form einer ,Untertunnelungsarbeit4 zu tun, die das Unverfügbare als Text verfügbar macht und zugleich im Unverfügbaren hält. Dies kann dann Transcendentalpoesie genannt werden. 36 Dass diese Poesie (so wenig wie die entsprechenden theoretischen
33 Vgl. dazu umfangreicher das Kapitel über Kommunikation in Luhmann, Soziale Systeme. 34 Ich beziehe mich hier auf Spencer-Brown , Gesetze der Form, S. 7. 35 Vgl. Novalis, Schriften, Bd. II, S. 591 bzw. 545. 36 Vgl. von Schlegel , Seine prosaischen Jugendschriften, S. 242.
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Texte) ohne Ironie geleistet werden kann, liegt auf der Hand und markiert die (Post-)Modernität der romantischen Errungenschaften und Entdeckungen.37
III. Der gerade diskutierte Fall der Frühromantik kann als eine raffinierte, intellektuell und ästhetisch anspruchsvolle Lösung des Problems der DePräzisierung kommunikativer Anschlüsse im Übergang zur funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems gedeutet werden. Die Form magischer Beobachtung (das Romantisieren und das Ironisieren) ist der Versuch, die verlorene Einheit der Welt, ihren cor et punctus herbeizuzwingen und diese nie erreichbare Einheit wenigstens noch in der »Schwebe4 zu halten.38 Jenes „kann gedeutet werden" verweist auf die Theorietechnik des Äquivalenzfunktionalismus 39 Sie kann als Anweisung für Beobachter begriffen werden, ein Problem zu konstruieren, im Blick auf das verschiedene Problemlösungen miteinander vergleichbar werden, wobei der Erkenntnisgewinn wesentlich im Vergleich, im Aufspüren von Äquivalenzen und dem Durchmustern ihrer Ähnlichkeiten und Abweichungen zustande kommt. Fixiert man jenes Problem der De-Präzisierung, der Kontingenzsteigerung, die nicht abgefedert wird in einem superobservatorischen Zentrum der Gesellschaft, lassen sich ganz unterschiedliche Phänomenbereiche finden, in denen Blockaden gegen kommunikative Kontingenz errichtet werden. Die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen ist sogar selbst an solche Niveaus der Absicherung gegen Kontingenz geknüpft. Die Codes dieser Systeme erreichen Grade der ,Realabstraktion', die es diesen Systemen leicht machen, für sich die Welt an das Totum ihrer je eigenen Leitunterscheidung zu binden: Jeder Code, der funktioniert (und ,schwächelnde' Systeme haben schwache Codes), zerlegt die Welt in zwei Werte, die im System regulieren, was die Welt für das System ist. Die Schwierigkeit ist dann, dass die Einheit dieser Welt über Differenzen hergestellt wird, die nur paradox als Einheit begriffen werden können und deshalb zu aufwendigen Strategien der Invisibilisierung der Kontingenz auch noch dieser,Letzt-Unterscheidungen' zwingen. Dabei sieht es ganz so aus, als sei die Form der funktionalen Differenzierung, die die Stratifikation ablöst und damit das Polykontexturalitätsproblem generiert, zugleich die paradoxe Lösung des Problems, das sie erzeugt.
37
Vgl. Fuchs , Die Form romantischer Kommunikation. Dieses Schweben ist eine zentrale Gedankenfigur bei Novalis, die er seinerseits aus der Wissenschaftslehre Fichtes entnimmt. 39 Vgl. zu dieser Technik Fuchs , Die Theorie der Systemtheorie. 38
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Auf dasselbe Problem ist die zunehmende Durchsetzung der Gesellschaft mit Organisationen beziehbar, die gegen die Heterarchie und Polykontexturalität des Gesellschaftssystems hierarchische Insulationen in Stellung bringen, die die gewaltigen Kommunikationsströme der Funktionssysteme entscheidungsbasiert ordnen und sich deshalb nicht selbst kontingent setzen können.40 Sie müssen Formen der Alternativenlosigkeit stabilisieren durch die Produktion von entscheidbaren Alternativen, und sie sind darin (mit Irritationen da und dort 41 ) gesellschaftsweit erfolgreich. Damit zusammenhängend, entwickelt sich eine zunehmend technikbasierte Inhibierung von Kontingenz, die die Simplifikationsleistung technischer Errungenschaften ausnutzt, um einen inviolate level der Weltbeherrschbarkeit zu installieren. Das Jahrhundert, an dessen Schwelle die Romantik steht, ist zugleich dasjenige, in dessen zweiter Hälfte Sigmund Freud mit der überaus erfolgreichen, gesellschaftlich wirksamen Erfindung des Unbewussten beginnt, 42 einer Instanz, zu der kein Zugang möglich ist, die man weder affirmieren noch negieren kann und in der es keine Unterscheidungen gibt, die Beobachtung zuließen. In dieser Form scheint das Unbewusste (vor allem, wenn es dem Theoriestück der Urphantasie zufolge soziale Wirkung entfaltet) den unbeobachtbaren Gott zu ersetzen, und auch hier wird das Unbezwingbare mit Hilfe magischer Praxis bezwungen - im psychoanalytischen Setting etwa, das mit zahlreichen Vorkehrungen sich einer nicht bezwingbaren Macht dennoch zu bemächtigen versucht.43 Und eben in diesem Jahrhundert setzt sich die Entdeckung des menschlichen Körpers in einer Form durch, die wie ein Gegenhalt zur Polykontexturalität eine Realitätsebene zu markieren scheint, in der es Unstrittigkeiten gibt. Der Körper wird Zeichen und Ausdruck für das Leben selbst, für den vis Vitalis, den vitalen Elan, den dann Henri Bergson so zu feiern versteht, dass das intellektuelle und künstlerische Europa begeistert ist. 44 Um diesen Körper herum entwickeln sich Kulte, die sich bis in die Gegenwart massiv durchgehalten haben. Später dann differenziert sich allmählich das System des Leistungssports aus, das diesen Körper supercodiert, in dem es ihn gewinnen/verlieren lässt und genau darauf seine zentralen Sinnprozesse abstellt, so dass sozial auch in diesem Kontext ein inviolate level ,ausgemendelt' wird, in dem Gewinner und Verlierer zeitfest in 40 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen; ders., Organisation und Entscheidung. 41 Vgl. Fuchs, Hofharren und Organisationsberater. 42 Kein Zufall also, wenn Marquardt Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, im Titel dies alles zusammenbringt. 43 Vgl. Fuchs, The Modernity of Psychoanalysis. Dass weite Teile der Psychotherapie modernes Schamanentum inszenieren, ist bekannt. Siehe als Fallbeispiel Herriger, Die Kraft der Rituale. 44 Bergson, Schöpferische Entwicklung.
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den Annalen der Sportgeschichte verzeichnet sind: mit der Ausnahme der aus diesem Grund so verwerflichen Unsicherheit, die durch Doping entsteht.45 Im selben Zuge, in dem der Körper als Kontingenzblockade eingerichtet wird, entsteht eine Gefühls- oder Emotionalitätskultur, die die Kommunikation spezifischer Wahrnehmungen dem Konsens entzieht.46 Mitgeteilte Gefühle werden unbestreitbar und de-arbitrarisieren wie Ankerpunkte die Kommunikation - mit Folgeproblemen, die alles andere als durchanalysiert sind. Das Problem der Polykontexturalität stimuliert aber auch soziale Beobachtungsmöglichkeiten, die sich weniger am Einheitsproblem orientieren, sondern an praktischer Bewältigung von Kontingenz. Es ist kein Zufall, dass im Anfang solcher Bezwingungsversuche das Problem der modernen Gesellschaft in die Metapher des Krieges gezwängt wird. Man muss nur an den preußischen Generalstabsoffizier Carl von Clausewitz denken, für den der Krieg ein Phänomen ist, das in seiner Unberechenbarkeit (Kontingenz) berechenbar gemacht werden muss.47 Es geht wiederum um die Bezwingung, Beherrschung eines unbezwingbaren, unbeherrschbaren Feldes, in dem der Zufall sein Spiel spielt: „Der Krieg ist ein Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden ... Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse. Jene Unsicherheit aller Nachrichten und Voraussetzungen, diese beständigen Einmischungen des Zufalls machen, dass der Handelnde im Kriege die Dinge unaufhörlich anders findet, als er sie erwartet hatte ..." 48 Deutlich wird ein Unterschied gemacht zwischen den Informationen (Nachrichten, Kenntnissen), die der Feldherr hat, und der Realität als turbulentem Feld, das die Informationen gleichsam selbstläufig sabotiert. Die Informationen sind vielfältig, aber absorbieren nicht die Unsicherheit, sondern steigern sie. 49 Die Realität des Krieges ist deshalb „sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig." 50 Abhilfe schaffen nur die „höheren Geisteskräfte", die ihrerseits gesteigert werden müssen: „zu einem wunderbaren Geistesblick ..., der in seinem Fluge tausend halbdunkle Vorstellungen berührt und beseitigt". 51 Das kriegerische Handeln hat es mit den „Friktionen" zu tun, denen die Informationen über das Geschehen durch eine Realität ausgesetzt sind, die sich bezwingen lässt, wenn
45
Vgl. Bette , Systemtheorie und Sport; ferner Fuchs, Die Form des Körpers. Vgl. Fuchs , Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? 47 Vgl. Pankoke/Marx, Das militärische Denken. 48 Clausewitz, Vom Kriege, S. 132. 49 „Die Kenntnis der Umstände hat sich in uns vermehrt, aber die Ungewißheit ist dadurch nicht verringert, sondern gesteigert." Clausewitz, Vom Kriege, S. 132. 50 Clausewitz, Vom Kriege, S. 159. 51 Clausewitz, Vom Kriege, S. 149. 46
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der Feldherr wie ein Künstler ist, der sich über die Regeln hinwegsetzt.52 Von hier aus fuhrt dann ein hier nicht mehr zu begehender Weg in die mitunter gleichfalls magischen Bezwingungspraktiken des modernen Unternehmertums und Managements.
IV. Wir haben bislang das Problem der De-Präzisierung kommunikativer Anschlüsse noch nicht auf die Form der Beobachtung selbst bezogen, sondern nur gesehen, dass sich ein Äquivalenzbereich vergleichbarer Phänomene identifizieren lässt, die allesamt gewisse Merkmale des Magischen aufweisen. Es ging, wenn man so will, um Anwendungen der Form magischer Bezwingungspraktiken auf scheinbar heterogenen Feldern, die sich unter dem Druck der Polykontexturalität so umorganisieren, dass sich die Einheit der Welt noch irgendwie evozieren oder symbolisieren lässt und - w e n n das nicht gelingt - wenigstens Kontingenzblockaden eingerichtet werden, die die Arbitraritätsexplosion nach dem Ende der Stratifikation zumindest befristet abfangen. Man kann aber auch fragen, ob die Form der Beobachtung selbst, die die ganze Zeit zugrundegelegt wurde, nicht nur magisch anmutende Operationen ermöglicht, sondern selbst mit magischen Zügen ausgestattet ist, so sehr vielleicht, dass die Beobachter der Theorie (oder deren Betreiber) in das magische Bemächtigungsspiel eingemeindet werden. Hat sich vielleicht die Weise geändert, wie beobachtet wird und wie diese Veränderung beobachtet wird? 53 Wir sehen hier davon ab, dass die Jahrtausende vor der Moderne keinen eigenen Begriff von Beobachtung, der als Grundlage einer Beobachtungstheorie hätte dienen können, vorweisen können, und begnügen uns damit, dass das, was wir retrospektiv als Beobachtungsleistungen auffassen (insofern ersichtlich Texte, Bilder, Skulpturen, Architekturen, vor allem Sprache/Schrift identifizierbar sind), für den historischen Ausgangskontext funktionaler Differenzierung Momente einer universitas rerum waren. Das ist eine Welt, in der das Falsche und das Richtige, das Wahre und das Unwahre hinlänglich unterschieden und bezeichnet werden können-mit gewissen Randunschärfen, wenn es um den logischen Status von »Möglichkeit4 geht, der unter dem Titel De futuris kontingentibus (Aristoteles) diskutiert, aber nicht gelöst wird. Beobachtung ist unter diesen Bedingungen Dinge-und-Sachlagen-Erzeugung, die Generierung von Seiendem, das das Nicht-Seiende ausschließt: Etwas ist, was es ist - oder es ist etwas anderes. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht: Tertium non datur.
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Clausewitz, Vom Kriege, S. 283. Vgl. zu einer Ausarbeitung dieser Frage Fuchs, Das Weltbildhaus.
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In summarischer Formulierung: Diese Welt ist die von Beobachtern, deren Bezeichnungen und Unterscheidungen nicht grundsätzlich ins Wanken geraten, auch nicht, wenn jenseitige Wesenheiten ins Spiel kommen, die es entweder gibt oder nicht gibt. In der Sprache der neueren Systemtheorie: Sie ist eine Welt, die zentral durch die Beobachtungsebene erster Ordnung aufgespannt wird. Da und dort auftretende, rauschhafte, exzessive, heute als vielleicht psychopathologisch gekennzeichnete Irritationen werden sozial wegsortiert, mitunter auch ausgezeichnet, wenn man an den morbus sacer denkt oder an die blinden Seher und Dichter, die die Antike so sehr schätzte. Bei alledem ist der Beobachter nicht strittig, er liegt der Beobachtung zugrunde (subiectum, hypokeimenon), er ist im Wesentlichen Mann und Mensch. Man kann sich danach fragen, ob er sich täuschen kann, wenn er Urteile über die Welt abgibt, aber vorgesehen ist, dass sich jede Täuschung dem Prinzip nach (und wenn dafür ein Gott notwendig wäre) korrigieren lässt. Und erst das Gedankenexperiment von Descartes erschüttert die Selbstgewissheit des Subjektes, aber restauriert es erneut als Sein, als: cogito ergo sum. Im 19./20. Jahrhundert wird dann das Problem des Beobachtens und seiner Standpunktabhängigkeit entdeckt.54 Vor allem die Physik wird nicht müde darin, den Zusammenhang des Beobachteten mit der Operation des Beobachtens zu behaupten. Die Psychoanalyse hebelt die Verfügbarkeit des Beobachters für sich selbst aus. Die Soziologie erkennt sich im berühmten Thomas-Theorem wieder, das im Kern besagt, dass die Realität das ist, was ein Beobachter als Realität definiert. 55 Die Philosophie muss das Erbe Wittgensteins tragen, den Strukturalismus und den Neo-Strukturalismus zur Kenntnis nehmen.56 Alles in allem scheint es so, als ob die Entdeckung des Beobachters und des Beobachtens selbst korreliert mit funktionaler Differenzierung, und es ist ausgerechnet derjenige Soziologe, der die Gesellschaftstheorie auf diesen Punkt hin getrieben hat, Niklas Luhmann nämlich, der auf der Basis des Formenkalküls von George Spencer-Brown 57 die vielleicht erste zusammenhängende Beobachtungstheorie entwickelt. 58 Diese Theorie offeriert aber, gemessen an der universitas rerum
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Vgl. einfach, um sich ein Vergnügen zu machen, Abbot, Fiatland. Vgl. Thomas , Person und Sozial verhalten. Und zu einem Klassiker des frühen Konstruktivismus Berger/Luckmann , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 56 „Das Auge ist schon in den Dingen, ist Teil des Bildes, es ist die Sichtbarkeit des Bildes ... Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand." So zum Beispiel formuliert Deleuze , Unterhandlungen, S. 82, das Problem. Vgl. auch Derrida , Einige Statements und Binsenweisheiten. 57 Spencer-Brown, Laws of Form. 58 Luhmann, Beobachtungen der Moderne; Fuchs, Die moderne Beobachtung kommunikativer Ereignisse; ders., Der Sinn der Beobachtung. Siehe für eine sorgfältige Rekonstruktion auch Schneider, Die Beobachtung von Kommunikation. 55
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der Vergangenheit, überaus bizarr (und eben: magisch) anmutende Überlegungen.
V. Beobachtung ist zunächst eine Operation. 59 Sie wird vollzogen. Sie geschieht. Sie ist nicht das Beobachtete, die Kommunikabilie (das Thema) oder die Intention eines Bewusstseins, nicht - wie es eine große Tradition nahegelegt hat - das, was gesagt, was gedacht wird. 6 0 Diese Zeilen wäre nichtssagend (nichts als seltsame Flecken aufPapier)-ohne eine Operation, die den Sinn erst inszeniert, den der Text nicht hat. Wenn man also sagt, dass Beobachtung eine Operation sei, wird der Sinn dieses Satzes selbst erst durch Beobachtungsoperationen erzeugt. Beobachtung ist also, und damit fangen die Schwierigkeiten an, eine Operation, die sich selbst voraussetzt, sie kann nicht beobachtungsfrei thematisiert werden. 61 Der Form nach ist Beobachtung die Operation einer Bezeichnung (einer Bezeichnungsleistung), die - indem sie irgendetwas markiert - einen Unterschied einrichtet. Die Bezeichnung greift nicht eine quasi herumliegende Unterscheidung auf. Sie unterscheidet, indem sie vollzogen wird. Nichts lässt sich bezeichnen ohne den zugleich und damit installierten Unterschied. Dieser Unterschied muss nicht eigens unterschieden, er muss nicht unbedingt seinerseits beobachtet werden (als dieser oder jener Unterschied). Es genügt, dass eine Markierung stattfindet, die immer einen Unterschied darstellt. Das Wort ,Unterschied' unterscheidet sich zum Beispiel, indem es genannt wird. Es unterscheidet sich nicht ohne die Nennung (die Markierung, indication).
59 Ich spitze mittlerweile gängige Überlegungen nur zu und verzichte deshalb auf Einzelnachweise. 60 Diese Tradition startet mit dem platonischer Sophistes (237 a-e): lögein = lögein ti - Sagen ist Etwas Sagen. Parmenides weist als erster auf die Intentionalität des Denkens hin (retrospektiv beobachtet), döxai - dokoünta - Annehmen/Angenommenes. Vgl. dazu Thanassas, Die erste „zweite Fahrt", S. 45f. Brentano und Husserl müssen in diesem Kontext nicht eigens erwähnt werden. Siehe aber zum Topos bei Hegel Kreß, Reflexion als Erfahrung, S. 3 3 ff. 61 Deswegen setzt der Begriff Systeme voraus, die Beobachtung machen. In diesem Sinne gibt es Systeme, weil beobachtet wird. Und das ist die Minimalontologie der Theorie. Vgl. auch Fuchs, Theorie als Lehrgedicht. Jeder Versuch, ohne Beobachtung zu beobachten (denn das hieße: ohne Konstruktion), würde sinnhafte Existenz auslöschen." ,Wir' erzeugen eine Existenz, indem wir die Elemente einer dreifachen Identität auseinandernehmen. Die Existenz erlischt, wenn wir sie wieder zusammenfugen. Jede Kennzeichnung impliziert Dualität, wir können kein Ding produzieren, ohne Koproduktion dessen, was es nicht ist, und jede Dualität impliziert Triplizität: Was das Ding ist, was es nicht ist, und die Grenze dazwischen." Spencer-Brown, Gesetze der Form, S. xviii.
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Dabei tritt die weitere Schwierigkeit auf, dass dieser Vorgang niemals ein Vorgang wäre, wenn er singulär stattfände, das heißt: nicht beobachtet würde, wenn ihm kein Anschluss, kein Nachtrag folgen würde. Man könnte auch sagen: Jede Beobachtung ist nur Beobachtung, weil sie beobachtet wird - im Zuge der Zeit, irgendwann, gleich oder vielleicht Jahrtausende später. 62 Der Ausdruck, der sich mit Derrida dafür anbietet, ist der der differance. 63 Die Sinn- und Beobachtungsarbeit psychischer und sozialer Systeme ist an eine laufend aufgeschobene Aktualität gebunden, sie kommt nicht zur Fülle der Präsenz, zu einem Kairos, zu einem nunc stans. 64 Nicht einmal die Rede davon, dass sich Beobachtungen wie Kettenglieder zeitlich verketten lassen, ist tiefenscharf, denn nur Singularitäten (elementare, zählbare Einheiten) könnte man auf diese Weise miteinander verbinden. Das wovon hier die Rede ist, wird zur Einheit aber immer nur in einem Danach, wenn ein Danach folgt, dem ein Danach folgt. Die für unsere Überlegungen wichtigste Konsequenz ist, dass mit dem so gefassten Konzept der Beobachtung theoretisch etwas eingeführt wird, das weder im Singular noch im Plural bezeichnet (!) werden kann. Die Sprache hat dafür keinen positiven Ausdruck. 65 Behauptet wird, dass Beobachtung nicht als Etwas, das sich zählen ließe, zu denken ist, so dass sie - bei Licht besehen - in keinem Satz in die Subjekt- oder Objekt- oder Prädikatsstellung einrücken könnte. Schon an dieser Stelle bricht die Vorstellung einer Realität zusammen, die sich als ein Gegenüber durch ein beobachtendes Subjekt erwischen ließe. Die Ontologien der Tradition liefern kaum Ideen darüber, wie man dieses Problems Herr werden könnte. Von der ontologischen Vergangenheit her wäre, wenn wir die Blickrichtung umkehren, die Annahme, dass etwas in der Welt wirkt (gar: Welt erzeugt), das sich als Identität nicht ausmachen lässt, schlicht: magisch.66 Diese Idee wäre - vielleicht mit der Ausnahme der negativen Theologie eines Cusanus - ebenso kurios wie die, dass alles, was Sinn macht, keine Gegenwart hat außer in einer nachträglichen Vergegenwärtigung, der ihre eigene Gegenwart wiederum nachgetragen wird.
62 Es wird selten darauf geachtet, dass dieses irgendwann 4 ernst gemeint ist. Die Operationen psychischer und sozialer Systeme müssen keinesfalls in der Beziehung direkter Kontiguität stehen. 63 Siehe dazu angenehm verstehbar Derrida, Die différance. 64 Ganz genau müsste man sagen, die Aktualität von Sinnsystemen ist diese aufgeschobene Aktualität, hinter der es keine sozusagen akute, verdecke, okkulte Aktualität gibt. Die Verschiebung' ist deswegen eine irreführende Metapher. 65 Es gibt aber jede Menge Ausdrücke für das, was sich nicht beobachten, nicht bezeichnen lässt. Bei den Nuern beispielsweise tritt an die Stelle der Verschiebung oder Verkennung (also für das nicht Bezeichenbare) die Bezeichnung „kwoth" ein. Vgl. dazu Schäfer, Unbestimmte Transzendenz, S. 161. 66 Natürlich wird vielerorts (auch in der Soziologie) von dieser Tradition her gedacht, und so ist es kein Wunder, dass die Theorie, die diese Probleme generiert, tatsächlich als hermetisch-esoterische Zauberlehre aufgefasst und gebrandmarkt wird.
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Dass Beobachtungen nicht singulär auftreten, zwingt i m gleichen Zuge dazu anzunehmen, dass es keine erste und keine letzte Beobachtung ,gibt'. Denn die erste Operation wäre nur die erste, wenn eine zweite (die dann die erste wäre) sie als erste Operation ,beobachtet'. 6 7 U n d die zweite Operation wäre nur die zweite, wenn eine dritte sie als die zweite einer ersten markieren würde, etc.pp. 6 8 Beobachtende Systeme haben also keinen Ursprung , keinen Z u g r i f f auf das Original einer ersten Operation. 6 9 Sie sind immer schon (für sich) dagewesen™ Deshalb erinnern w i r nichts aus der Zeit, als wir nichts erinnern konnten, und wir erinnern uns ebenfalls nicht daran, wie und wann w i r angefangen haben zu erinnern. Dasselbe gilt für die letzte Operation, die als Operation nur die letzte wäre, wenn es eine Folgeoperation gäbe, die diese Letztheit bezeichnet. 7 1 Aber genau dann wäre die letzte Operation nicht die letzte. Diese Paradoxie tritt (für einen auf Zählen versessenen Beobachter) aber an jeder ,Stelle' eines auf Beobachtungen arbeitenden Systems auf: Jede Operation ist (für sich) keine Operation. Oder i n unnachahmlich konziser Formulierung: The Same is Different.
72
67 Dass begründet die bemerkenswerte soziologische Einsicht, dass Anfänge konstruiert werden müssen, so dass man die Konditionierung dieser Konstruktionen analysieren kann. Das gilt ebenso für die Konstruktion eines Endes. Das betrifft Gruß- und Schlussformeln, die berühmten turn-takings und auch (ein besonders schöner Fall) die Musik. Vgl. Fuchs , Vom Zeitzauber der Musik. 68 Man sieht, wohin das Zählen führt. 69 Metaphorisch könnte man vielleicht von einem Aufspringen, Aufklaffen, von einer dehiscence sprechen. Siehe jedenfalls Lacan, Das Spiegelstadium, S. 66. Vgl dazu, dass im Innersten des Menschen der proton pseudos, die Ursprungslüge residiert, durch die die „Inkonsistenz der symbolischen Ordnung" verborgen/verdeckt wird, Zizek, Die Metastasen des Genießens, S . U . 70 Das zwingt, wie man weiß, Spencer-Brown in die Figur des re-entry hinein. Auch sein Kalkül hat immer schon begonnen, aber merkt das gleichsam unterwegs. Zum anfanglosen Anfang (also zur Begründung eines Kalküls aus einem Nachtrag, einem reentry heraus) lässt sich auch Hegel nennen, für den Prinzipien auch erst nach dem Durchgang dessen, was sie begründen, begründbar werden. Vgl. Kreß , Reflexion als Erfahrung, S. 59. 71 Insofern - so der alte Topos - kann man seinen eigenen Tod nie erleben. Entsprechend muss Tod etwas anderes sein. „When we die the self-boundary eventually disappears. Before it did so, we ascribed a huge value to what we called ,inside4 of ourselves, and comparativeley little value to what we called ,outside4. The death experience is thus ultimatley the loss of the selective blindness to see both sides of every distinction equally. This by definition is absolute knowledge or omniscience, which is mathematically impossible except as equated with no knowledge at all. In the ascription of equal values to all sides, existence has ceased altogether, and the knowledge of everything has become knowledge of nothing.44 Spencer-Brown , Laws of Form, S. 194. 72 Vgl. Glanville , The Same is Different. Dahinter steckt auch das alte Heraklitische Motiv des Stromes, in den man nicht zweimal steigen kann. In allem, was strömt, kann man dasselbe nicht bezeichnen. Die Glanvillsche Formulierung dieses Sachverhaltes ist heute kanonisch. Man findet sie auch als Titel von Kompositionen, etwa „dasselbe ist nicht dasselbe44 von Nikolaus A. Huber (1978) oder „The same is not the same44 von Ole
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Daraus folgt auch, dass kein beobachtendes System eine für sich selbst darstellbare Ganzheit bilden kann. 7 3 Es ist nicht nur nicht i n der Lage, etwas anderes als hoch selektive Selbstbeschreibungen herzustellen, sondern: Es ist nicht Es - an keiner Stelle der Zeit. Weder das Bewusstsein noch Sozialsysteme sind ,Orte', umhegte Einheiten, Objekte. 7 4 M a n kann sie nur durchkreuzt schreiben oder jedenfalls ( i n einem Dauer-Memento) durchstrichen denken. 7 5 Oder sagen: Sie sind Unjekte. Sie sind differance-basierte
Differentialität.
W i l l man provo-
zieren, so müsste man behaupten: Sie sind nicht physikalisch, sie sind: metaphysikalisch.
Sie ziehen (legt man eine Theorie dieses Typs zugrunde) der
universitas rerum eine Ebene des Schwebens ein. 7 6 Aber die Theorie, die dies konstatiert, behauptet zugleich, dass es diese Ebene ist, auf der die Realität des Bewusstseins und der Gesellschaft eingerichtet wird, eine Realität, die sich für das System nicht eintauschen lässt. 7 7 D i e nimmt Realitätskontakt
i n Anspruch.
Das tut sie sogar dann, wenn sie nicht nur die Operation Beobachtung ,in' Unjekten ansiedelt und zugleich zeitlich auf kaum fassbare Weise verschmieren
Lützow-Holm (1991/92). Vgl. zum Versuch, Einheit auf Differenz umzustellen, Clam , Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren? 73 Die Frage ist, wie eine Einheit in der Mannigfaltigkeit ergriffen werden könne, ohne durch die Operation dieses Ergreifens die Zahl der Elemente (Teile, particulars) unabsehbar und durch jede weitere Operation erneut zu vermehren. Es geht also um ein Unendlichkeitsproblem oder um die Unmöglichkeit, durch elementare Operationen eine Ganzheit zu erreichen. Wenn man diese logische Schwierigkeit überwinden wollte, müsste mindestens ein Element gefunden werden, das eine self-evident-unity wäre, „some case of an unity which develops its own différences out of itself." Selbstrepräsentative Systeme wären entsprechend solche Systeme, die ein Element enthalten, das alle anderen Elemente des Systems vollständig spiegeln könnte. Siehe Royce , The World and the Individual. Vgl. auch einen Aufsatz von John C. Maraldo, der leider nur in japanischer Sprache erschienen ist (in: Shizuteru, U., (Hrsg.), Nishida Tetsugaku e no toi (Questioning Nishida's Philosophy), Tokyo 1990, S. 85-95) und deshalb von mir nach der englischen Manuskriptfassung zitiert wird: Maraldo , Self-Mirroring and SelfAwareness. 74 Nishida , Über das Gute, kann deshalb für die europäische Tradition grotesk anmutende Austauschverhältnisse formulieren: „Das Bewußtsein wohnt nicht im Körper, sondern der Körper wohnt im Bewußtsein." 75 Siehe zu Vorbildern im Blick auf die Durchkreuzungstechnik Heidegger , Einführung in die Metaphysik, S. 31, oder an Derrida, Randgänge der Philosophie, S. 31. Siehe auch Fuchs , Die Metapher des Systems. 76 Ich erinnere daran, dass wir diesem Term bei der Frühromantik ebenfalls begegnet sind. 77 „In ... auf Wittgenstein zurückgehender Formulierung kann man ... sagen: Ein System kann nur sehen, was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann. Das verbirgt sich für das System , hinter4 dem Horizont, der für das System kein ,dahinter4 hat. Das, was man ,cognized modeP genannt hat, ist für das System absolute Realität. Es hat Seinsqualität, oder, logisch gesprochen: Ein Wertigkeit. Es ist, was es ist ...44, formuliert Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 52.
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lässt, sondern auch und gerade, wenn sie den Beobachter ins Imaginäre verpflanzt. Beobachtung ist die zeitlich komplexe Operation, in der Bezeichnung und Unterscheidung koinzidieren, aber nur dann, wenn (in der Weise der differance) dabei ein Verzug, ein Aufschub ins Spiel kommt, der das, was als Bezeichnung (mithin: als Unterschied) designiert ist, erst ins Zirkulieren bringt, wenn es aus einer Zukunft heraus, die dann Gegenwart ist, die ihrerseits aufgeschoben wird, unterschieden und bezeichnet wird. In dieser Form der Beobachtung ist der Beobachter (klassisch: das Subjekt) suspendiert, obwohl er zugleich unterstellt wird als derjenige oder dasjenige, was die Beobachtungsleistung generiert, in der er selbst (als Initiator) nicht aufzufinden ist. Diese Unterstellung ist die Zurechnung auf einen Beobachter durch Beobachtungen. In den Sinn- und Beobachtungssystemen allerdings, die wir kennen (Bewusstsein, Sozialsystem), wird Beobachtung nicht beliebig konstruiert. Nicht alles, was vorkommt, kann in die Position des ausgeschlossenen Beobachters auf der Seite der Beobachtung eingeschlossen werden. Entscheidend ist, dass nur solchen ,Einheiten', denen interner Umgang mit der eigenen Innen/AußenUnterscheidung angesonnen werden kann, der Status eines möglichen Beobachters attribuiert wird. Der Beobachter wird als selbstbefassungsfähige Einheit dargestellt, und diese Einheit ist: System. Wenn man will, könnte man sagen: Das System ist die Projektionsfläche für die Zurechnung auf einen Beobachter, für seine (wie immer auch ungenaue),Lokalisierung'. Solange das System gleichsam alteuropäisch ordentlich als Einheit, als identifizierbare Umschlossenheit und in topologischen oder spatialisierenden Metaphern begriffen wird, liegen die Dinge einfach: Das System ist der Beobachter. Da das System aber (sobald Beobachtung, also auch Zeit im Spiel ist) als Einheit einer Differenz entworfen wird (System/Umwelt), ist diese Einheit: Differenz. Die kanonische Formel dafür lautet: System = System/Umwelt. Im Kalkül Spencer-Browns wäre dies ein deutlicher Re-entry-Fall. Oder ein Oszillationsfall: Das System ist nicht das System ist das System ist nicht das System etc. 78 Die Konsequenz ist, dass man den Beobachter nicht antreffen kann, es sei denn: Er wird konstruiert durch Beobachtungen, die gerade nicht Beobachter sind. Der Beobachter ist immer imaginär, ist ein imago agens. Und selbst diese Vorstellung wäre noch trügerisch, wenn man unter , imaginär' nur verstünde, dass er (der wirkliche Beobachter) irgendwie unsichtbar ist. Er ist (wenn man mit Spencer-Brown formuliert) das unwritten cross , das mit jeder Beobachtung nichtgeschrieben wird. Aber was ist denn jetzt das? Unjekte? Unwritten crosses? Imaginäre Beobachter? Zeitverschmierungen? Suspendierte Subjekte und Objekte? Weitgehen78
Man könnte auch sagen, das ,Ding' System ist ein Oszillator. Vgl. Feynman et al., The Feynman Lectures on Physics, Abschnitte 23.If. Vgl. auch Herbst , Alternatives to hierarchies, S. 99.
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de Demontage jeder an Sachverhalte und Dinge geknüpften Ontologie? Systeme als Differenzen? - Ist das nicht: Theoretisches Zauberwerk? Magie?
VI. Nun, es scheint so, wenn man die alteuropäischen Realitätsvorstellungen zugrundelegt. Von dort aus gesehen, ist es möglich (freilich nur, wenn man schon Kontakt mit dieser Art Theorie aufgenommen hat), die Systemtheorie als vielleicht letzten Akt einer Weltbemächtigung zu verstehen, die die Einheit der Welt paradox, aber eben doch zurückzugewinnen versucht: als Differenz. Die , Schwebewelt' der Sinnsysteme zu behaupten, wirkt wie eine magische Beschwörung. Alles ist Differenzgebrauch, ist Beobachtung, eine solche Aussage fungiert wie ein All-Satz. Und es trifft sich (immer noch für die Beobachter, die von Alteuropa her schauen), dass die Systemtheorie als universalistische Theorie auftritt. 79 Wie eine Ausrede sieht es aus, wenn dieser Universalismus sich damit begründet, dass die Theorie mit Selbstreferenzqualitäten ausgestattet sei, mithin als ihr eigener Gegenstand in sich selbst wieder eintrete. Die Theorie beobachtet sich selbst mit, und weil sie auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung angesiedelt ist, muss sie sich selbst als kontingent auffassen: als eine unter anders möglichen Theorien bei gleichzeitiger Prätention auf Universalität - ein performativer Widerspruch par excellence. Geschickte Saboteure der Theorie könnten einfach festhalten, dass die Theoriemagie Resultat des Druckes ist, den die funktionale Differenzierung durch die Tilgung aller Einheitsvorstellungen ausübt, Resultat der Krise, die die Theorie beschreibt. Wie die Frühromantik hängt sie die Welt an einem Haken auf, aber dieser Haken ist nicht eingeschlagen, er ist im ,Nirgendwo', hinter der Zeitmauer. Extreme Scharfsinnigkeit (die man der Theorie kaum absprechen kann) würde darauf verwandt, eine Art (existentialistisch anmutendes) ,Dennoch' aufzubauen, das die Einheit der Welt dementiert und im selben Zuge theoretisch exerziert. Das sind schwere Geschütze. Aber immerhin könnte man versuchen, das Magie-Argument im Sinne eines ,probat experiri' einer Vertauschung zu unterziehen. 80 Magie (als parasitäre Untertunnelungsarbeit im Schema Immanenz/ Transzendenz) hat ihre Außenseite in dem, was man gewöhnlich Realität nennt. Das lässt es zu, die sozialen Praxen der Magie unter der Voraussetzung eines
79 Man könnte sagen: mit der falschen Bescheidenheit, die die Universalität sogleich abschwächt auf die universale Gültigkeit der Theorie für soziale Phänomene. Aber: Was wäre denn, diese Theorie vorausgesetzt, kein sozialer Tatbestand? 80 Siehe zur Figur einer solchen Umkehrung Burke, Dichtung als symbolische Handlung, S. 11 ff.
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methodologischen Atheismus als real, als wirklich aufzufassen, aber als irreal (als nicht bearbeitbar) die Ideen zu bezeichnen, die der Magie zugrunde liegen. Jene Vertauschung würde die Schemaseiten Magie/Realität aufeinander klappen lassen: Das Reale ist magisch, das Magische ist real. Dieser Chiasmus lässt die Unterscheidung kollabieren. Er treibt sie in die Form einer Aporie, in die Form der Unentscheidbarkeit. Die argwöhnischen Beobachter der Theorie haben - bei Licht besehn - sich nur entschieden (weil eine Unentscheidbarkeit vorliegt), ihre Version von Realität so zu arrangieren, dass die Demontage dieser Version als magische Bezwingungstechnik erscheint. Die Theorie, der dies unterstellt wird, inszeniert ihre Version der Realität so, dass die Version der argwöhnischen Beobachter nicht minder als magisch apostrophiert werden kann. Das würde (für die Theorie wie für die andere Seite der Theorie) eine Patt-Situation ergeben (und für niemanden ein ,Matf), eine Situation, die davon zehrt, dass die Beobachter sich wechselseitig als Magier beobachten und jeweils sich selbst: als Realisten. Aporien lassen sich nicht lösen, aber vielleicht kann man die Unterscheidung (Magie/Realität) einfach verwerfen. Sie kostet, da sie eine Unentscheidbarkeit erzeugt, nur Kraft. Sie lässt sich nur um den Preis einer fatalen Lähmung aufrechterhalten. Würde sie einer Rejektion unterzogen, bliebe die Einsicht, dass die magische Beobachtung der Frühromantik eine Form der Poesie war, aber dass 200 Jahre danach die Arbeit an Begriffen (das Theoretisieren und nicht die Operation des Romantisierens) kaum ernsthaft auf die Differenz von Magie und Realität angewiesen ist. Man hat ja gesehen, wie die Aufgabe des ontologischen Schemas die Forschung beflügelt hat. Das schließt ja nicht aus, dass Theorien, die Schemata dieser Art als Denkblockaden auffassen, in ihrer Trockenheit etwas ungemein Bezauberndes haben.
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I. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", hatte Willy Brandt gesagt, und ein solcher Satz wäre vielen führenden Sozialdemokraten, vor allem solchen aus der so genannten Enkelgeneration und insbesondere dem, der sich dann um die Kanzlerschaft der neuen Bundesrepublik bewarb, kaum in den Sinn und gewiss nicht über die Lippen gekommen. Die Losung „Wir sind das Volk!" war bei den Leipziger Montagsdemonstrationen durch „Wir sind ein Volk!" ergänzt und, aus der Sicht der Akteure, auch überboten worden, und das war der Mehrheit der intellektuellen Wortführer des Aufstands gegen die SEDHerrschaft nicht nur verfrüht oder taktisch unklug, sondern als Verrat an der Sache des Widerstands und der erstrebten, durchaus radikal gemeinten Reformen erschienen. Was Willy Brandt ganz persönlich und, wenn der Eindruck nicht täuscht, in einer Situation fortgeschrittener innerparteilicher Vereinsamung zum Ausdruck brachte und was die namenlosen, aber gewiss die Mehrheit repräsentierenden Leipziger Demonstranten wohl vergleichsweise ,naiv' (soll sagen: ohne vorausgehende Prüfung der Voraussetzungen und Folgen ihrer Parole) aussprachen, war die Vorstellung, dass die Menschen in den beiden deutschen Staaten daran festhielten, dem anzugehören, was man üblicherweise „eine Nation" zu nennen pflegte und was in der Rhetorik mancher Politiker vor, während und nach der Vereinigung auch „das gemeinsame Vaterland" hieß. Es ist bekannt, muss also an dieser Stelle nicht ein weiteres M a l rekapituliert werden, wie sehr die Abneigung gegen die deutsch-deutsche Vereinigung, die so viele Repräsentanten der politischen und kulturellen Öffentlichkeit in Ost und West äußerten, von einer dezidierten Ablehnung dieser Leitidee von der einen Nation motiviert war. 1 Dies führte entweder, prototypisch bei Günther Grass, zur prinzipiellen Ablehnung dieser Vereinigung, weil unterstellt wurde, dass damit die Wiederauferstehung der Nation und also, so wurde angenom-
1 Vgl. Weidenfeld/Korte, gung.
Die Deutschen, S. 152ff; ferner Zitelmann Wiedervereini-
212
Johannes Weiß
men, unvermeidlich auch des aggressiven Nationalismus der Vergangenheit einhergehen müsse. Oder aber es wurde gefordert, diese Vereinigung habe sich jenseits aller nationalen EinheitsVorstellungen zu vollziehen, der neue gemeinsame Staat aller Deutschen dürfe also nicht mehr die Gestalt und das Selbstverständnis eines „Nationalstaats" aufweisen. Bei dieser zweiten Option wurde demnach, anders als bei der ersten, eine politische Vereinigung der beiden deutschen Gesellschaften ohne nationale resp. nationalstaatliche „Einbettung" und Sinngebung für möglich gehalten. Diese Möglichkeit wurde allerdings typischerweise, und nicht ohne Plausibilität, an die Voraussetzung geknüpft, dass die neue Bundesrepublik in eine - allererst zu schaffende - post- resp. übernationale politische Ordnung Europas eingebunden und so als Nationalstaat weitgehend depotenziert, wenn nicht vollständig überwunden werde. Besonders nachdrücklich und einflussreich ist diese Auffassung z.B. von Jürgen Habermas vertreten worden.
II. Die Abneigung gegen die Vereinigung unter nationalem resp. nationalstaatlichem Vorzeichen war aber nicht nur in den ,Diskursen' der politisch-kulturellen Öffentlichkeit dominant, sondern auch in den sozialwissenschaftlichen Analysen zu den Voraussetzungen, Formen, Problemen und Folgen des Vereinigungsprozesses. So spielte diese Dimension des Geschehens in der außerordentlich breiten, in eine Vielzahl von Forschungsvorhaben ausdifferenzierten „Transformationsforschung", wie sie z.B., aber keineswegs allein, im Rahmen der KSPW mit beträchtlichem Aufwand durchgeführt wurde, erne auffallend marginale Rolle. Dass das mit sehr tief sitzenden politisch-moralischen Vorentschiedenheiten und Abneigungen zusammenhing, wurde z.B. deutlich, als der Frankfurter Soziologe Ulrich Oevermann 2 auf den revolutionären und durchaus demokratischen Entstehungs- und Bedeutungszusammenhang des Leitbegriffs der Nation verwies und überdies die Auffassung vertrat, dass mit diesem Leitbegriff auch derjenige korporative Akteur bezeichnet werde, dem die aus der jüngeren deutschen Geschichte erwachsende politisch-moralische und auch rechtliche Verantwortung zuzurechnen sei und der allererst durch die Vereinigung wieder zu einem einheitlichen und eindeutigen Zurechnungssubjekt werde. Es ist schwer zu bestreiten, dass das für die Selbst- und Fremdidentifikation in diesem Falle überhaupt verfügbare Vokabular keine angemesseneren Termini bereithält als „Nation" und, sofern es um eine politische und (völker-)rechtliche Definition geht, „Nationalstaat": Bezeichnungen wie „die Deutschen", „das deutsche Volk", „die Bundesrepublik Deutschland" etwa sind in dieser Hinsicht 2
Oevermann, Zwei Staaten oder Einheit.
Vereinigungsnationalismus?
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zweifellos unbestimmter, und sie bringen die - für Oevermanns Argumente entscheidende - spezifische geschichtlich-kulturelle Verbundenheit/Verpflichtetheit nicht oder nur sehr viel schwächer zum Ausdruck. Umso mehr musste auffallen, wie verständnislos, j a empört man in Fachkreisen auf Oevermanns Erwägungen reagierte. Offenbar galt es als vorentschieden, dass die Begriffe „Nation" und „Nationalstaat" moralisch-politisch eindeutig und ausschließlich negativ besetzt und deshalb für eine verantwortungsbewusste politische Rhetorik, erst recht für die Soziologie, völlig unbrauchbar seien, und dies besonders im deutschen Fall, aber auch ganz generell. Dabei wurde durchgehend nicht zwischen der Verwendung dieser und jener Kategorie bei der Selbstbeschreibung bestimmter Gemeinschaften einerseits, in der sozialwissenschaftlichen Analyse andererseits unterschieden. Das ist verwunderlich, weil schon M a x Weber sich ernsthaft gefragt hatte, ob der Terminus Nation überhaupt eine hinreichend präzise soziologische Definition zulasse. Er hat sich bekanntlich bemüht, diese Frage positiv zu beantworten, indem er fragmentarische, aber bis heute nicht überholte - Vorschläge zu einer solchen Begriffsbestimmung machte. Aber auch wenn man die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit der Bezeichnung „Nation" unterstellt, kommt man nicht umhin, ihre Bedeutungen und/oder Gebrauchsweisen in der politischen Rhetorik und Praxis zu erfassen und ihnen in soziologischen Beschreibungen/Erklärungen gerecht zu werden - zumindest so, wie bei der Erforschung der Mafia der Bedeutungsgehalt und die Verwendung der Selbstbezeichnung „ehrenwerte Gesellschaft" erklärungsrelevant wäre. Und man sollte angesichts solcher Gegebenheiten nicht, wie es nicht unüblich ist, unterscheidungslos von „Nationalismus" sprechen - etwa deshalb, weil man nur einen unzweideutig abwertend gemeinten Begriff in diesem Zusammenhang für wissenschaftlich brauchbar hält. Schließlich sollte man auch nicht glauben, dass man Vergemeinschaftungen, die sich der nationalen Semantik bedienen, als rein fiktiv und ideologisch, da auf einem falschen, illusionären Bewusstsein beruhend, ausweisen könnte, indem man sie, Anderson folgend, als bloß „erfundene" Gemeinschaften charakterisiert. In ganz ähnlicher Weise „erfunden" - erfunden von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Intellektuellen - sind nämlich auch viele andere Gemeinschaften, und zwar gerade auch solche, die gemeinhin als politisch progressiv gelten. Darüber hinaus ist eine Unterscheidung zwischen bloß erfundenen und wirklichen Gemeinschaften generell problematisch, weil es eine gesellschaftliche Wirklichkeit jenseits aller Erfindung überhaupt nicht gibt.
III. Die Sozialwissenschaften hätten sich also auf eine Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung vermittels der Semantik des Nationalen einzulassen, wenn angenommen werden muss, dass sie kollektive Bewusstseinszustände, Gefühle
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und Handlungen de facto bestimmen und dies auch dann, wenn eine solche Sicht- und Redeweise entweder überhaupt nicht oder nur nach sorgfältiger Klärung, Präzisierung und Entemotionalisierung der fraglichen Begriffe in die Wissenschaftssprache übersetzt werden kann. Ebenso gilt allerdings auch, dass die Soziologie eine solche Selbstbeschreibung den politischen Akteuren und ihrer Gemeinschaftserfahrung keinesfalls „überstülpen" darf. In dem Maße, in dem die Idee der einen, lange Zeit geteilten und nunmehr wieder, und zwar glücklich, vereinten Nation im gesellschaftlichen und politischen Prozess nicht resp. nicht mehr präsent und handlungswirksam ist, ist resp. wird es unsinnig und auch unzulässig, bei der soziologischen Beschreibung und Erklärung des Geschehens mit ihr zu operieren - es sei denn in der Form eines „kontrafaktischen" Gedankenexperiments, bei dem der Vereinigungsprozess als Prozess einer hochemotionalen, nach innen und außen auftrumpfenden nationalen (Wieder-) Vergemeinschaftung durchgespielt würde. In einer zunächst wohl ganz unplausibel, ja paradox erscheinenden Weise dürfte bei solchen experimentellen Erwägungen sich auch ein Zugang zu denjenigen Extremformen des Nationalismus ergeben, die im Zuge des Zusammenbruchs der DDR und der Vereinigung in der Bundesrepublik, insbesondere in den fünf neuen Bundesländern, aufgekommen sind. In ihrem Umkreis ist man bestrebt, die Selbstbeschreibung ,national' mit spezifisch aggressiven Sinngehalten und mit gewalttätigem Handeln zu verknüpfen und auf diese Weise zu monopolisieren. Das kommt unvermeidlich der erwähnten, in der politischen Öffentlichkeit wie in den Sozialwissenschaften 3 verbreiteten Auffassung entgegen, dass das Bedeutungsfeld von Nation/national nicht nur etymologisch, sondern eben auch ideologisch und motivational in den Nationalismus und damit auch leicht in den Nationalsozialismus hineinführe. Der mehr oder minder aggressive und auch gewaltbereite Neonationalismus in vielen - renationalisierten - postsozialistischen Staaten scheint ja eine solche Auffassung nachdrücklich zu stützen.
IV. Auf diese Frage ist zurückzukommen, doch sind zuvor einige Ergebnisse der empirischen Begleitforschung zum Vereinigungs- und Transformationsprozess in die Betrachtung einzubeziehen. Auch wenn in den großen einschlägigen Forschungsprogrammen der nationale resp. nationalstaatliche Bezugsrahmen keine vordringliche und bestimmende Rolle gespielt hat, enthalten Einzeluntersuchungen doch interessante und für den gegebenen Zusammenhang sehr relevante Befunde. Sie stammen aus verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeitpunk3
Vgl. z.B. Beck , Neonationalismus.
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ten durchgeführten Befragungen und sind nach dem Vorgang von Weidenfeld und Körte 4 jüngst in einer großangelegten Studie von Bettina Westle5 zusammengeführt und im Zusammenhang interpretiert worden. Die Standardfrage, mit der seit Almond und Verba 6 die relative Stärke der nationalen Bindung gemessen wird, lautet: „Sind Sie stolz, ... zu sein?" Es ist bekannt, dass im internationalen Vergleich der Prozentsatz der positiven Antworten auf diese Frage in Deutschland seit jeher stabil am unteren Ende der Skala rangiert, der Prozentsatz der negativen am oberen. Die Aussage „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" gilt in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik als Ausweis einer dezidiert „rechten", wenn nicht gar rechtsextremen Gesinnung, und das dürfte ihrem faktischen Gebrauch auch durchaus entsprechen. Demgegenüber kann ein Repräsentant der US-amerikanischen Linken sich der Aufgabe widmen, die richtige Form des Nationalstolzes zu beschreiben und zu befördern. 7 Aus dieser sehr unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung erklärt es sich, dass vielen Beobachtern in der Bundesrepublik es hinreichend besorgniserregend erscheint, wenn immerhin eine deutliche Mehrheit auch der bundesdeutschen Bevölkerung die genannte Frage bejaht. 1990, also zu Beginn des Vereinigungsprozesses, äußerten 66 % der Westdeutschen und 68 % der Ostdeutschen, sie seien sehr oder ziemlich stolz, Deutsche zu sein.8 Daraus entspringende Besorgnisse sollten sich allerdings durch den Hinweis dämpfen lassen, dass die Quelle dieses Stolzes ganz überwiegend in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sowie, in immer zunehmenden Maße, in den politischen Institutionen (von der Verfassung bis zur Sozialpolitik) lag, also pragmatischen Charakters war und wenig mit einem überschießenden und ressentimentgeladenen, aus ökonomischen oder politischen Funktionsschwächen des ,Systems' entspringenden nationalistischen Pathos zu tun hatte.
V. Offenbar gilt die Frage nach dem Stolz auf die eigene Nation(alität) in der einschlägigen Forschung als bestes Instrument zur Messung eines nationalen Zugehörigkeitsbewusstseins und auch des Wunschs zur Erhaltung/Stärkung des Nationalstaats. Darin kommen, wie mir scheint, eingefahrene Denkgewohnheiten und Erhebungsroutinen zum Ausdruck, die wohl einer kritischen Überprüfung wert wären. Der Bedeutungsgehalt von Stolz/stolz (und der sprachlichen
4 5 6 7 8
Weidenfeld/Korte, Die Deutschen; vgl. Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Westle, Kollektive Identität. Almond/Verba , The Civic Culture. Rorty , Achieving Our Country. Weidenfeld/Korte, Die Deutschen, S. 131.
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Äquivalente in anderen Sprachen) ist zweifellos außerordentlich schillernd. Überdies ist die emotionale oder evaluative ,Ladung' dieser Begriffe in verschiedenen nationalen und gesellschaftlichen Kontexten sehr unterschiedlich, und zwar auch dann, wenn von dem deutschen Sonderfall ganz abgesehen wird. Oft - vor allem, wenn es um die konkreten Gegenstände des Stolzes geht - hat man den Eindruck, es gehe hier weniger um Stolz als darum, dass man ganz oder auch recht zufrieden resp. glücklich ist, in diesem Land und Staat zu leben. In einem engeren und genaueren Sinne kann man auf etwas nur stolz sein, wenn man an seiner Schaffung oder Erhaltung Anteil hat, und das ist bei sehr vielen dieser Gegenstände (politische Verfassung, Rechtsordnung, große Literatur, Philosophie, Musik, Wissenschaft, Landschaften) eben nicht der Fall - es sei denn, man hielte sich an die Vorstellung eines mystischen Bandes oder einer tiefen Wesensgemeinschaft zwischen allen - verstorbenen, lebenden und kommenden - Angehörigen einer Nation. Und nur, weil diese Vorstellung wohl in irgendeiner Form immer mitschwingt, kann eine Bejahung der Frage nach dem Nationalstolz als bestes Indiz für ein starkes Zugehörigkeitsgefühl verstanden werden: Wer hier positiv reagiert, wird sich erst recht zu allen schwächeren, die Idee einer nationalen Wesensgemeinschaft nicht implizierenden Gefühlsbindungen - wie Zufriedenheit oder Glück - bekennen. Insofern lässt sich an den entsprechenden Prozentwerten tatsächlich ablesen, wie hoch in einer Bevölkerung der Prozentanteil von Menschen mit einem ausgeprägten Zugehörigkeitsbewusstsein ist.
VI. Aus diesem Grunde ist es nun auch zulässig, sinnvoll und ergiebig, die Entwicklung der Rate resp. Stärke der Zustimmung zu eben dieser Stolz-Frage in der Bundesrepublik seit 1989/90 zu verfolgen. Die schon erwähnten Ausgangswerte (66 % resp. 68 %) zeigen, dass es auch in der dramatischen und dann euphorischen Umbruchs- und Vereinigungsphase nicht einmal zu einer bemerkbaren Erhöhung der bis dahin (in der alten Bundesrepublik) üblichen Werte gekommen ist, geschweige denn zu einer Exaltation nationaler Empfindungen oder gar zu einem die politische Führung und das „endlich wiedervereinigte" Volk ergreifenden neuen deutschen Nationalismus. Dies ist eine unbezweifelbare und durch alle sonst verfügbare empirische Evidenz bestens gestützte Feststellung. Sie steht im diametralen Gegensatz zu dem, was von vielen führenden Intellektuellen in beiden Teilen Deutschlands, von nicht wenigen Politikern und auch von einigen Angehörigen der soziologischen scientific Community erwartet, behauptet und befürchtet worden war. Tatsächlich war die Vereinigungsund Transformationspolitik auf allen Ebenen in der Hauptsache, wenn nicht ausschließlich, von dem Motiv und Ziel bestimmt, neben der einheitlichen Staats- und Rechtsordnung zügig gleiche Lebensverhältnisse, also „blühende
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(Wirtschafts-)Landschaften", zu schaffen, und eben darin wurde - und wird die notwendige, möglicherweise auch hinreichende Bedingung der oft genannten und bis heute als defizitär beklagten „inneren Einheit" gesehen. Was an nationalen Empfindungen gezeigt resp. mobilisiert wurde, entspricht wohl dem Minimum dessen, was zur Rechtfertigung und emotionalen Einbettung der institutionellen, vor allem aber finanziellen Transferleistungen benötigt wurde. Ein darüber hinaus gehendes nationales Pathos, mit dem entweder fehlende Leistungen dieser Art kompensiert oder eine bedingungslose, von ökonomischen Erwägungen freie, aus nichts als einem überschwänglichen nationalen Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl sich speisende Hilfsbereitschaft hätte begründet werden können, hat es nicht gegeben - so wenig, dass die Dominanz rein ökonomischer, und zwar privatwirtschaftlich-kapitalistischer wie staatlichwirtschaftspolitischer, Rationalitäten insbesondere von den Menschen in Ostdeutschland immer wieder beklagt und kritisiert wurde und wird. Umso auffälliger ist es, dass auch in Ostdeutschland ausgeprägte nationale Empfindungen zu Beginn des Vereinigungsprozesses kaum stärker und stärker verbreitet waren als in der alten Bundesrepublik und dass sie auch im Verlauf dieses Prozesses, etwa um der Einforderung größerer nationaler Solidarität willen, nicht zunehmend mobilisiert worden sind. Der (Mittel-) Wert für die Stärke des Nationalstolzes hält sich über die Jahre hinweg in beiden deutschen Teilpopulationen deutlich unterhalb des europäischen Durchschnittswerts. Der ostdeutsche Wert sinkt von einem gegenüber dem westdeutschen etwas höheren Ausgangspunkt aus bis 1994 sogar unter diesen, um bis 1996 wieder leicht über ihn anzusteigen.9 An diesem Befund ist vor allem das anfängliche Absinken bemerkenswert, in dem vermutlich eine zunehmende Enttäuschung über die - den sehr hohen Erwartungen (und Zusagen) durchaus nicht entsprechenden - sozioökonomischen Auswirkungen der Vereinigimg zum Ausdruck kommt.
VII. Solche Befragungsergebnisse, aber auch die schlichte Alltagserfahrung und die Beobachtung der politischen Öffentlichkeit, lehren, dass der Prozess des „Zusammenwachsens" der beiden deutschen Teilstaaten nicht von ausgeprägten nationalen Empfindungen getragen war. Die politisch Verantwortlichen haben sich in dieser Hinsicht auffällig zurückgehalten, und weder von Seiten der Bevölkerung noch von Seiten größerer und einflussreicher gesellschaftlicher Organisationen und Gruppen ist dies als ein Manko wahrgenommen und kritisiert worden.
9
Westle, Kollektive Identität, S. 188.
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Man könnte vermuten, dass sich das, wenigstens zu guten Teilen, als eine Reaktion auf die Warnungen und Befürchtungen erklären ließe, die zu Beginn des Prozesses von Wortführern der politisch-kulturellen Öffentlichkeit, aber auch von prominenten Politikern im In- und Ausland geäußert worden waren. Diese Annahme wäre aber ganz unplausibel und wohl nur von dem Interesse motiviert zu überspielen, wie realitätsfern diese Befürchtungen und Warnungen von Anfang an gewesen sind: Eine Neigung zum nationalen Überschwang hat es bei der übergroßen Mehrheit der Menschen in Ost und West zu keinem Zeitpunkt gegeben, und ganz gewiss war ein großdeutscher Nationalismus nicht der Motor des Vereinigungsprozesses. Alle derartigen Mutmaßungen haben sich eindeutig - und zum Glück - als falsch erwiesen. Sie können in ihrem Erklärungs- und Prognosewert auch nicht, wie es des Öfteren geschieht, durch den Hinweis auf die nationalistisch und auch neonazistisch motivierten Umtriebe und Gewalttaten vergleichsweise kleiner Gruppen gerettet werden. Zwar ist die Feststellung unbestreitbar, ja geradezu trivial, dass derartiges in der DDR nicht vorgekommen wäre und dass deren Zusammenbruch und das nachfolgende Geschehen in diesem Zusammenhang, und zwar auch im Blick auf den westlichen Teil der Bundesrepublik, erklärungsrelevant sei. Sehr kurzschlüssig und bei näherer Betrachtung sehr wenig einleuchtend ist es aber, diesen Nationalismus aus dem nationalen Charakter des Vereinigungs-Projekts als solchem abzuleiten, also einen direkten kausalen (und dann auch politisch-moralischen) Zusammenhang herzustellen zwischen der unvermeidlich national resp. nationalstaatlich orientierten Vereinigungspolitik der vergangenen 13 Jahre und diesem aggressiven Radikalismus des Wortes und der Tat. Dessen Erklärung wird man vielmehr in der Hauptsache darin zu sehen haben, dass der herrschaftsstrukturelle, soziale und kulturelle Zerfall der DDR-Ordnung, verbunden mit den unvermeidlichen Härten und den vielen vermeidbaren Unzulänglichkeiten der Transformationspolitik, viele Menschen, vor allem viele Jugendliche, nicht nur arbeitslos, sondern auch bindungs- und orientierungslos gemacht hat. Angesichts dessen ist es nicht paradox, sondern sehr begründet zu erwägen, ob es einer ressentimentgeladenen Suche nach nationalistischer Selbstbindung und Selbstüberhöhung nicht entgegengewirkt hätte, wenn, insbesondere von westdeutscher Seite, ein höheres Maß an zwar unpathetischer und unaggressiver, aber doch nachdrücklicher und emotional motivierender gesamtdeutscher Solidarität mobilisiert worden wäre. Umgekehrt ist anzunehmen, dass eine noch größere Zurückhaltung in dieser Hinsicht, also ein noch bedingungsloseres Vertrauen auf Marktmechanismen, Privategoismus und Selbstorganisation, sehr viel massivere und weitaus größere Gruppen umfassende Formen der ideologischen und insbesondere nationalistischen Radikalisierung erzeugt hätte. In eben diese Richtung hätte gewiss auch ein schneller und weitgehender sowie nach Lage der Dinge ganz einseitiger Verzicht der Bundesrepublik auf ihre nationalstaatliche Souveränität zugunsten
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der europäischen U n i o n gewirkt, der von mancher Seite, ungeachtet seiner faktischen Unmöglichkeit, zur Abwehr des befürchteten Vereinigungsnationalismus gefordert worden war. Solche Erwägungen sind in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Transformation, ihrer Risiken und nichtintendierten negativen Effekte kaum ernsthaft i n Betracht gezogen worden. Das erklärt sich w o h l weniger aus ihrer Unplausibilität als daraus, dass selbst Kausalzusammenhänge, die sich von der Sache her geradezu aufdrängen, in sozialwissenschaftlichen Analysen vernachlässigt zu werden pflegen, wenn die Forschenden sich weniger v o m Erkenntnisstreben als von politisch-moralischen Berührungsängsten und/oder v o m Interesse an unmittelbarer
politischer
Einflussnahme
leiten lassen. E i n
solches
Verhalten aber ist nicht nur wissenschaftlich fragwürdig, sondern auf mittlere und längere Sicht auch politisch-moralisch widersinnig und kontraproduktiv.
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Ende der Wachstumsgesellschaft? Prognosen und Krisenszenarien bei Marx, Schumpeter und Meadows Helmut Geller
I. Prognosen und Verheißungen Prognosen sind Aussagen über die Zukunft. Sie unterscheiden sich von Verheißungen dadurch, dass sie sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit beziehen und aus diesen Erfahrungen Erwartungen an die Zukunft herleiten. Das aber setzt voraus, dass es längerfristige oder gar langfristige Bedingungen gibt, in deren Spielraum das jeweils Neue eintritt. 1 Es muss also Strukturen geben, die dauerhaft sind und Prozesse, die nach bestimmten Schemata ablaufen. Solche Strukturen und Prozessverläufe lassen sich durch Abstraktion von Idealtypen und ihnen zugeordneten Handlungsmodellen beschreiben. Idealtypen unterliegen nach A. Schütz den Postulaten der logischen Konsistenz, der subjektiven Interpretation und der Adäquanz.2 Prognosen sind notwendig, um planen zu können, da Handeln an Zielen ausgerichtet ist, die in der Zukunft liegen. Vom Ziel her werden nach A. Schütz3 Handlungen geplant. Prognosen im hier gemeinten Sinn beziehen sich auf gesellschaftliche Entwicklungen. Prognosen wollen nur aufzeigen, wie ein Prozess in Zukunft verläuft, wenn die Voraussetzungen und Handlungsziele, Motive und Sinnsetzungen, die bisher wirkten, auch in Zukunft weiterwirken, ohne dass neue Wirkfaktoren oder Störungen von außen auftreten. Für Prognosen gilt die ceteris-paribus-Klausel. Sie werden nicht unbedingt dadurch widerlegt, dass ein für einen bestimmten Zeitpunkt vorausgesagtes Ereignis nicht eingetreten ist. Gemäß dem Thomas-Theorem können angenommene Prognosen auf den Prozess selbst einwirken. So sollte in der Jonas-Erzählung4 Jonas der Stadt Ninive den Untergang verheißen. Nach großem Widerstand und einer Reihe von Zeichen, typischen Ele1 2 3 4
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Koselleck, Kunst der Prognose, S. 48. Schütz, Problem der Rationalität, S. 47. Schütz, Handlungsentwürfe, S. 80-83. Jona 1,1-4,11.
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menten einer Prophetenberufung, begibt sich Jonas an den Stadtrand von Ninive, erledigt beiläufig und widerwillig seinen Auftrag und erwartet dann, den Untergang der Stadt beobachten zu können. Doch die Botschaft verbreitet sich in der Stadt und bewirkt, dass die Bewohner Buße tun und dass so die Katastrophe von der Stadt abgewendet wird. Die Voraussage hatte eine pädagogische Wirkung, sie machte Zusammenhänge bewusst und führte so dazu, dass die Prozessbedingungen geändert und der Prozess in eine andere Richtung gelenkt wurde. Eine Prognose wäre dadurch nicht widerlegt. Sie kann geradezu dazu erstellt worden sein, um unerwünschte Zustände zu vermeiden. Die Voraussage soll in den Prozess eingreifen, bestimmte Sachverhalte bewusst machen und so unerwünschte Wirkungen verhindern. Man kann in diesem Fall vom NiniveEffekt reden. Umgekehrt kann eine Voraussage auch ein Verhalten evozieren, das den Prozessablauf so ändert, dass die Voraussage tatsächlich eintritt. Die hier zu besprechenden Aussagen über die Zukunft von Marx, Schumpeter und Meadows sind unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden, dass sie ein Ende der kapitalistischen bzw. wachstumsorientierten Wirtschaft voraussagen, wobei kapitalistisch und wachstumsorientiert praktisch als Synonyme behandelt werden, weil von den Autoren die kapitalistische Denkweise als Triebkraft des Wachstums angesehen wird. Die von den Autoren aufgestellten Zukunftsvorstellungen sollen hier daraufhin untersucht werden, inwieweit sie sich auf Gesetzmäßigkeiten beziehen, welche Stabilitäten sie für die Prozesse annehmen, welche Wirkungen sie erzielen wollen und welche Elemente auf Wunschdenken beruhen, für die sich keine vergleichbaren Prozesse in der Vergangenheit finden lassen, die sich also nicht aus dem Idealtyp ,kapitalistische Gesellschaft' ableiten lassen. Die Voraussagungen haben ein gemeinsames Ergebnis: Sie sehen den Zusammenbruch des kapitalistischen Gesellschaftssystems voraus. Marx und Schumpeter begründen diesen Zusammenbruch endogen aus der Entwicklung der Gesellschaft, wobei Marx das Ende auf die wirtschaftliche Entwicklung und die daraus folgende Revolution zurückfuhrt, Schumpeter aber die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein Weiterleben des Kapitalismus als günstig ansieht. Er leitet das Ende eher aus dem Zerfall der bürgerlichen Moral ab. Meadows begründet den Zusammenbruch in malthusianischer Tradition exogen mit der Erschöpfung wirtschaftlicher Ressourcen.
II. Prognosen für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft 1. Marx Marx charakterisierte den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft als eine Umorientierung in der Zielsetzung der Produktion. Ziel vorkapitalistischer Produktion war nach seiner Analyse der Gebrauchswert, die
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Versorgung der Bevölkerung mit Gütern. Kapitalistische Produktion dagegen ist nicht primär am Gebrauchswert, sondern am Tauschwert einer Ware und an dem über den Tausch erzielbaren Profit ausgerichtet. Diese Ziel-Mittel-Vertauschung ist keine rein individuelle, sondern eine gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenform. Sie ist institutionalisiert, oder - wie Marx sagt - verobjektiviert, fetischisiert, insofern versachlicht und entfremdend sowie zugleich in gesellschaftliche Verhältnisse verwandelt, die das Individuum bestimmen und subordinieren. Im Sinne M. Webers bildet Marx also einen Idealtyp, dem bestimmte Motive unterstellt werden, beansprucht für diesen Idealtyp Geltung und untersucht, wie die Entwicklung verlaufen wird, wenn diese Motive weiterwirken. Die genannte Ziel-Mittel-Umkehrung im Wirtschaftsprozess ist der Motor für die Entwicklung des Kapitalismus und für seine Überlegenheit gegenüber früheren Gesellschaftsformen. Die Profitorientierung im Zusammenhang mit der Marktkonkurrenz bewirkt, dass die Produktionsweise andauernd revolutioniert wird. „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus."5
Dagegen waren die früheren Epochen gekennzeichnet durch die unveränderte Beibehaltung der Produktionsformen. In seiner Trendanalyse stellt Marx Ungleichzeitigkeiten fest. Es existieren verschiedene Produktionsweisen in verschiedenen Ländern, aber auch innerhalb der einzelnen Länder zwischen verschiedenen Branchen. Doch prognostiziert er, dass sich die kapitalistische Wirtschaftsweise sowohl regional als auch sektoral ausdehnen wird. „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischen Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigen Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt."6
Diese Tendenz extrapoliert er in die Zukunft und prognostiziert, dass mit der Zeit alle Arbeit in Lohnarbeit verwandelt wird. 7 Der Entwicklungsprozess ist nicht geradlinig. Er wird immer wieder durch Krisen erschüttert. Marx stellte als erster einen zyklischen Charakter solcher Krisen fest, er verknüpfte diese Krisen mit der Lebensdauer von Maschinen.8 Er 5 6 7 8
Marx/Engels, Manifest, S. 46. Marx/Engels, Manifest, S. 47. Marx, Gundrisse, S. 617. Marx, Kapital, S. 662.
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konstruierte so einen Sinnrahmen, in dem solche Krisen, die bis dahin als Einzelerscheinungen betrachtet wurden, deutbar wurden. Er legte so einen wesentlichen Grundstein für die spätere Konjunkturforschung. Indem er Trends beobachtete und sie verlängerte, was ihm die idealtypische Betrachtungsweise erlaubte, prognostizierte er auch eine weitere Akkumulation des Kapitals, die Entstehung der Großunternehmung und schließlich das Ende der Arbeitsgesellschaft: „Die wirkliche Ökonomie - Ersparung - besteht in der Ersparung von Arbeitszeit, diese Ersparung aber ist identisch mit der Entwicklung der Produktivkraft." Das Kapital reduziert die notwendige Arbeit. Dies bewirkt zunächst, dass ein Teil der Surplus-Arbeitszeit nicht mehr auf die Produktion, sondern auf die Entwicklung der Produktionsmittel, also investiv, verwandt wird. In den Produktionsmitteln wird lebendige Arbeit in vergegenständlichte Arbeit verwandelt, die vom Kapital angeeignet wird. Auch diese Tendenz extrapoliert Marx in die Zukunft. I m Verlaufe dieses Prozesses ändert sich das Verhältnis des Menschen zur Arbeit und zur Maschine. Zunächst beherrscht der Arbeiter das Werkzeug. Das Werkzeug vergrößert seine Fähigkeiten und seine Reichweite. M i t der Entwicklung der Maschine kehrt sich das Herrschaftsverhältnis um. Die Bewegung wird durch einen Automaten, der sich selbst bewegt, gesetzt. Die Arbeiter werden zu bewussten Gliedern des Automaten. Die Maschine ist nicht mehr Arbeitsmittel des Arbeiters. Aufgabe des Arbeitsmittels ist es nicht mehr, die Tätigkeit des Arbeiters auf das Objekt zu vermitteln. Vielmehr ist die Tätigkeit so gesetzt, dass sie nur noch die Arbeit der Maschine, ihre Aktion auf das Rohmaterial vermittelt, überwacht und sie vor Störungen bewahrt. Wissenschaft wird immer mehr zur Produktivkraft. Sie zwingt die unbelebten Glieder der Maschinerie durch ihre Konstruktion, zweckmäßig als Automat zu wirken. Die lebendige Arbeit wird durch die vergegenständlichte angeeignet. Lebendige Arbeit wird zum Zubehör der Maschinerie. Die verwertende Kraft des einzelnen Arbeitsvermögens verschwindet als ein unendlich Kleines. Gesellschaftliche Arbeit ist nicht mehr lebendige Arbeit, sondern das Kapital. Das Kapital hat die inhärente Tendenz, der Produktion einen wissenschaftlichen Charakter zu geben, die notwendige lebendige Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren. Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die Substitution der lebendigen Arbeit durch Maschinen bewirkt einen Lohnverfall. Die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit ist von den Kapitalisten gewollt, da sie die Dispositionsmasse kapitalistischer Arbeitsmarktstrategien erweitert. Die Freisetzung führt zur Entwertung durch Dequalifizierung des Arbeiters. M i t dem Erlöschen des Gebrauchswertes entfällt auch der Tauschwert der Arbeit. Die Arbeiter überfluten leichter zugängliche Industriezweige, verschärfen hier die Konkurrenz, verkaufen ihre Arbeit unter Wert, fallen als
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Käufer aus und verschärfen so die Krise. Die industrielle Reservearmee ist also nicht Produkt einer natürlichen Überbevölkerung, sondern ergibt sich aus der Strategie des Überzähligmachens menschlicher Arbeit. 9 Damit aber kann die Arbeit auch nicht mehr Mittel sein, den Distributionsprozess in der Gesellschaft zu regeln. Dieses Problem sieht Marx deutlich. Er formuliert es, wenn er den Kapitalismus als letzte Form des Wertverhältnisses und der auf Wert beruhenden Produktion bezeichnet. Doch kann nach Marx der Kapitalismus den Schritt zum Übergang zu einem neuen Verteilungssystem nicht gehen, weil er die Arbeitszeit als einziges Maß und die Fiktion der Arbeit als Quelle des Reichtums, also die Arbeitswerttheorie, aufrechterhalten muss, obwohl die lebendige Arbeit nicht mehr Bedingung für den allgemeinen Reichtum ist. Daher darf das Kapital den Übergang zur vollautomatisierten Produktion nicht durchführen und behindert so die weitere Entwicklung. Mit der proletarischen Revolution wird dieses Hindernis beseitigt. Sie erst ermöglicht eine Produktion, die nicht am Tauschwert orientiert ist. Nach seiner Analyse in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie setzt die Revolution die Evolution des Kapitalismus zu seiner vollen Entfaltung voraus. Implizit ist in der Prognose angenommen, dass die Produktion ein solches Ausmaß erreicht, dass kein Anlass besteht, weitere produktivitätssteigernde Anstrengungen zu unternehmen. Weiter impliziert die Prognose, dass die menschlichen Bedürfnisse ein nicht zu überschreitendes Maximum erreichen, das keine höhere Produktion mehr erfordert. In diesem Fall erledigt sich das Problem der Knappheit. Die Verteilung kann entsprechend den Bedürfnissen erfolgen.
2. Schumpeter Hält Marx die Entwicklung des Kapitalismus für notwendig, die Überwindung im Sozialismus aber für wünschenswert, so liegt in der Argumentation Schumpeters10 eher ein starkes Bedauern. Er beschreibt den Prozess eher als Dekadenz des einst erfolgreichen Bürgertums. Obwohl es unter rein wirtschaftlichen Aspekten keinen Anlass für ein Scheitern des Kapitalismus gäbe, würde der Kapitalismus untergehen, weil die bürgerlichen Motivationen zerfallen, weil die Bourgeoisie ihre Vitalität verliert. Nach Schumpeter ist der Kapitalismus ein Prozess »schöpferischer Zerstörung 4. Die entscheidende Neuerung des Kapitalismus ist die, dass er Geld zur Recheneinheit machte. Dadurch verwandelte er die Geldeinheit in ein Werkzeug rationaler Kosten-Gewinn-Kalkulationen. Diese Logik unterwirft - rationalisiert - in ihrer Eroberungslaufbahn alle Tätigkeiten und Denkweisen. So 9 10
Pankoke, Arbeitsfrage, S. 125-129. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie.
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wird der Kapitalismus - und nicht die Wirtschaftstätigkeit im Allgemeinen - die treibende Kraft in der Rationalisierung menschlichen Verhaltens. Der Kapitalismus bringt nicht nur die moderne Industrie hervor, sondern alle Eigenschaften und Leistungen der modernen Zivilisation sind direkt oder indirekt Produkte des kapitalistischen Prozesses, so vor allem das Wachstum der rationalen Wissenschaften und ihren Anwendungen. Der kapitalistische Prozess schafft nicht nur die Mittel und den Willen, sondern er produziert die geistigen Gewohnheiten, aus denen sich die verwendeten Methoden entwickeln. Das wirtschaftliche Modell ist der Nährboden der Logik. 11 Träger dieser Entwicklung ist die Bourgeoisie. Dem Rationalismus einher geht eine Entmystifizierung. Der Kapitalismus verjagt den metaphysischen Glauben sowie mystische und romantische Ideen. Er beraubt damit das ererbte Pflichtgefühl seiner traditionellen Grundlage. Er nimmt jeden Glanz überempirischer Sanktionen von jeder Art von Klassenrechten hinweg. Dieser Prozess ist nach Schumpeter für den wirtschaftlichen Bereich vorteilhaft, doch beschränkt er sich nicht darauf. Er zerstört die institutionellen Ordnungen der feudalen Welt gründlicher als notwendig, befreit sich so von den vielen Fesseln und ersetzt die politische Ordnung, in der der Bürger Untertan war, durch eine andere, die seinem rationalistischen Denken besser entspricht. Schumpeter ist nun der Ansicht, dass der Bourgeois aber nicht die Qualifikation besitzt, sich mit innenpolitischen und nationalen Problemen zu befassen. Aufgrund seines rationalistischen und unheroischen Wesens kann er auch nur rationalistische und unheroische Mittel einsetzen. Kapitalisten sind grundsätzlich pazifistisch. Ihnen fehlt der Heiligenschein, der sie befähigt, Herrscher über Menschen zu sein. Diese Entwicklung macht vor der Bourgeoisie selbst nicht Halt. Wenn auch nicht geradlinig, so dezimiert der Konzentrationsprozess dennoch auf Dauer die bourgeoise Schicht und damit gleichzeitig die politische Unterstützung in der Bevölkerung nicht nur dadurch, dass diese Schicht kleiner wird, sondern vor allem dadurch, dass die lebenskräftigsten, fassbarsten, ausdrucksvollsten Gestalten aus dem moralischen Gesichtskreis des Volkes verschwinden. Herrschaft wird entpersönlicht, anonym und damit unfassbar. Traditionale Herrschaft geht in bürokratische Herrschaft über. Weiter wandelt sich das Verhältnis zum Eigentum. Mit der Aktiengesellschaft verschwindet das spezifische Eigentumsinteresse und damit auch die Funktion des Unternehmers. Die Substitution der Mauern und Maschinen durch ein Aktienpaket entfernt das Leben aus der Idee des Eigentums und vermindert den Zugriff, mit dem, was einem gehört, das zu tun, was einem beliebt. Dadurch wird die Identifikation mit der Fabrik herabgesetzt und damit der Wille, für eine
11
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 201.
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Fabrik und die Kontrolle über sie zu kämpfen. Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treuepflicht. Dadurch wird der Widerstandswille und der Überlebenswille der Bourgeoisie geschwächt. Die Entwicklung fuhrt zur Auflösung der typischen kapitalistischen Motivation der Bourgeoisie selbst. Mit der dargestellten Verflüchtigung des Eigentums wird das bürgerliche Denken sozialisiert, der Spielraum der kapitalistischen Motivation eingeschränkt. Als wichtiger aber noch sieht Schumpeter die Auflösung der bürgerlichen Familie an. Die Rationalisierung greift auf den privaten Bereich über. Die Bürger fuhren in ihr Privatleben die Kostenrechnung ein, so dass auch die Frage des Kinderwunsches diesem Kalkül unterzogen wird. Dies führt zur Geburtenplanung und zur Entwicklung empfängnisverhütender Mittel. Die Zahl der Kinderlosen nimmt zu, die Familienorientierung, die stärkste Triebkraft für das bürgerliche Gewinnmotiv und damit für die Investition, nimmt ab. Der Zeithorizont verengt sich auf die eigene Lebenserwartung. Utilitaristische, hedonistische Werte verdrängen die Orientierung an verborgenen Notwendigkeiten der menschlichen Natur oder des sozialen Organismus. 12 Mit dem Nachlassen der Familienorientierung verschwinden die Hemmungen, die die Tradition der Wünschbarkeit anderer Lebensformen in den Weg gelegt hatte. Ein Individualisierungsschub setzt ein. Mit der Verflüchtigung des industriellen Eigentums einher geht eine Verflüchtigung des Konsumenteneigentums. Die Bedeutung des bürgerlichen Hauses tritt gegenüber seinen Bürden in den Hintergrund. Repräsentationsfunktionen werden aus dem Haus ausgelagert. Die Massenproduktion bietet bestmögliche Qualität bei geringem Kapitalaufwand. Alles spricht nach Schumpeter dafür, dass Anti-Spar-Theorien an Bedeutung gewinnen und die Akkumulationsmotivation reduzieren. Damit reduziert sich auch die Investitionsneigung. Ein weiteres dem Kapitalismus inhärentes und unvermeidbares Moment ist die Ausdehnung des Erziehungsapparates, insbesondere der höheren Bildungsmöglichkeiten über den durch Kostenüberlegungen bestimmten Punkt hinaus. So würden durch die Bildungsorganisation gut ausgebildete Arbeitslose oder unterqualifiziert und unbefriedigend beschäftigte Intellektuelle herangezogen, die dann die Grundsituation des Kapitalismus, nämlich die Verknüpfung von säkularem Fortschritt mit individueller Unsicherheit, die per se die Erzeugung sozialer Unruhe bewirkt, aus einer feindseligen Haltung heraus fördern und organisieren. Als Höhepunkt dieser Entwicklung sieht es Schumpeter an, dass die Bourgeoisie diesen Kräften auch noch die Erziehung ihres Nachwuchses an-
12
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 255.
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Helmut Geller
vertraut. So spricht nach Schumpeter alles für ein Ende der kapitalistischen Gesellschaftsform.
3. Meadows Im Vergleich zu den bisher behandelten Prognosen klammert die von Meadows von ihrem Anspruch her die sozialen Verhältnisse aus.13 Er bezweifelt zwar nicht deren Einfluss auf die Entwicklung, glaubt aber, die Grenzen des Wachstums aus physischen Größen bestimmen zu können. Soziale Verhältnisse könnten höchstens dazu führen, die Grenzen weiter vorzuverlegen. So soll für die Prognose von den besten sozialen Bedingungen ausgegangen werden. 14 Soziale Faktoren werden nur in dem Maße berücksichtigt, wie sie die physische Kapazität der Erde berühren. Meadows geht von folgenden Prämissen aus: a) Es gibt auf der Erde eine begrenzte prinzipiell landwirtschaftlich nutzbare Fläche. Die Hälfte davon, und zwar die ertragreichere, leicht bebaubare, wird bereits landwirtschaftlich genutzt. Für die andere Hälfte sind zur Urbarmachung hohe Kapitalaufwendungen erforderlich. Die Nahrungsmittelproduktion ist abhängig von der zur Verfügung stehenden Fläche und der Höhe des in diese Produktion investierten Kapitals. Mit erhöhtem Nahrungsmittelbedarf müssen immer schlechtere Böden erschlossen werden. Damit nimmt die Profitrate ab. b) Jede Einheit industrieller Produktion benötigt eine bestimmte Menge nicht regenerierbarer Rohstoffe. Die Rohstoffvorräte der Erde sind begrenzt. Mit der langsamen Erschöpfung der Rohstoffvorräte wird immer mehr Kapital erforderlich, um die gleiche Menge von Rohstoffen zu gewinnen. Auch damit sinkt die Wirksamkeit des Kapitals. c) Ein Teil der Rohstoffe wird über die Produktion in einer für den Menschen nicht nutzbaren Form als Abfall in die Luft, das Wasser oder den Boden abgegeben und über die Erde verteilt. Das natürliche ökologische System ist in der Lage, viele solche Abfallstoffe menschlicher Lebenstätigkeit zu absorbieren und sie in chemischen Prozessen in nützliche oder wenigstens unschädliche Stoffe umzuwandeln. Abfallstoffe können aber auch den Mechanismus der Absorption übersättigen und blockieren. Dann häufen sich die Abfallstoffe in der Umwelt an, werden als solche erkennbar, wirken störend und schädigend.15 d) Aufgrund menschlicher Wertsetzungen wächst die Menschheit in exponentieller Weise. Das Bevölkerungswachstum wird durch einen doppelten Re-
13 14 15
Meadows , Grenzen des Wachstums, S.36. Meadows, Grenzen des Wachstums, S.37. Meadows, Grenzen des Wachstums, S.57.
Ende der Wachstumsgesellschaft?
229
gelkreis gesteuert, einmal durch die Geburtenrate und zum anderen über die Sterberate. e) Ebenfalls aufgrund menschlicher Wertsetzungen wächst auch das Kapital in Form einer Exponentialkurve. Auch hier liegt ein doppelter Regelkreis vor, der durch Investition und Abnutzung definiert ist. Diese fünf Faktoren sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr wirken sie über Regelkreise aufeinander ein. Um solche Interdependenzen bestimmen zu können, führt Meadows einige Verhaltensannahmen ein: - Der Rohstoffverbrauch pro Kopf der Bevölkerung steigt in Form einer S-Kurve mit dem Wohlstandsniveau an. - Die Geburtenrate fällt mit steigendem Wohlstandsniveau, steigt aber bei hohen Einkommen wieder leicht an. - Zwischen Umweltverschmutzung und Lebensdauer nimmt Meadows eine derartige Beziehung an, dass sich eine 50fache Vermehrung des Grades von 1970 noch nicht auf die Lebensdauer auswirkt, die Wirkung von da ab aber exponentiell lebensverkürzend wirkt. 1 6 Aufgrund dieser Annahmen macht Meadows für den Fall gleichbleibender menschlicher Wertungen folgende Prognose: Das Industriekapital wächst bis zu einer Höhe, die enorme nicht erneuerbare Rohstoffmengen beansprucht. Bei diesem Wachstumsprozess wird ein großer Teil der noch vorhandenen Rohstoffvorräte verbraucht. Mit steigenden Rohstoffpreisen und der Erschöpfung der Lagerstätten muss immer mehr Kapital aufgewendet werden, um noch genügend Rohstoffe herbeizuschaffen, so dass immer geringere Mittel für weiteres Wachstum eingesetzt werden können. Wenn dann schließlich die Kapitalinvestitionen mit der Rohstoffausschöpfung nicht mehr Schritt halten, bricht die industrielle Basis ein und zieht den Dienstleistungsbereich und die Landwirtschaft mit in den Abwärtsstrudel. Dennoch wächst zunächst aufgrund von Verzögerungsfaktoren die Bevölkerung weiter. Die Sterberate steigt und übertrifft die Geburtenrate. Es kommt zu einem starken Einbruch der Bevölkerung. Dies ereignet sich noch vor dem Jahr 2100. Sollten neue Rohstoffquellen entdeckt werden, tritt der Kollaps des Systems etwas (ca. 20 Jahre) später ein, jetzt allerdings nicht wegen Rohstoffmangels, sondern wegen der Umweltbelastung. Werden das Rohstoffproblem und das Schadstoffproblem gleichzeitig gelöst, dann wird die Grenze des bebaubaren Landes überschritten. Meadows stellt fest, dass die Struktur des Modells, die Art, wie die einzelnen Regelkreise aufgebaut sind und sich beeinflussen, für das Gesamtverhalten des 16
Meadows , Grenzen des Wachstums, S. 105.
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Helmut Geller
Modells viel wichtiger ist als genaue Zahlenwerte, die dann in den Regelkreisen wirken. Selbst relativ große Veränderungen der jeweils eingegebenen Daten fuhren nicht zu grundsätzlich verändertem Verhalten des Gesamtmodells, d.h. das Modell ist gegen Daten immun. 17 Dennoch verheißt Meadows einen Ausweg. Bei Stabilisierung der Bevölkerungszahl und des Kapitals sei ein Gleichgewicht möglich. Dazu müssten Umwertungen vorgenommen werden. Damit das materielle Wachstum erfolgreich unter Kontrolle gebracht werden kann, muss es ein gut definiertes Ziel geben, auf das es hingeleitet wird.
I I I . Apokalyptische Visionen Betrachtet man die drei Ansätze im Hinblick auf Gemeinsamkeiten, so zeigt sich, dass sie die Entwicklung des Kapitalismus mit zunehmender Verunsicherung und Gefährdung der Individuen und mit zunehmender Verunsicherung des Orientierungswissens verknüpfen. Programmatisch gehen alle von der Feststellung einer globalen Krise aus. Diese Krise wird nicht als Schicksal gedeutet, sondern menschlichem Handeln und/oder den sozialen Verhältnissen zugeschrieben. Nur unter dieser Voraussetzung kann überhaupt so etwas wie politischer Handlungsdruck entstehen. Sie dramatisieren die Krise dadurch, dass sie die Idee einer evolutionären Sinn-Richtung ausklammern. Diese wird durch eine prophetisch-apokalyptische Perspektive ersetzt. Dem korrespondiert auf der Handlungsebene der Ruf zur Revolution bzw. zur Umkehr. Entscheidend ist für alle die inhaltliche Komponente: Es geht darum, dem sozialen Tatbestand des Bewusstseins einer globalen Krise politische Handlungsrelevanz zu verleihen. Die zentrale Aufgabe besteht infolgedessen darin, die globale Krise als ein für die Angesprochenen relevantes Thema plausibel zu machen, es sinnhaft mit politischer Absicht aufzuladen, also lebenspraktische Konsequenzen abzuleiten. So glauben alle drei, dass diese Entwicklung zu einem Ende kommt, bzw. kommen kann, dass die Gesellschaft wieder in einen stabilen Zustand übergeht. Nach Marx und Schumpeter wird dieser Zustand über eine Zentralbehörde, die sämtliche gesellschaftlich relevanten Entscheidungen fällt, herbeigeführt, so dass die übrigen Gesellschaftsmitglieder ihre Entscheidungen unter Sicherheit treffen können. Meadows fordert die Entwicklung und Durchsetzung eines stabilen Wertsystems, an dem sich alle sicher orientieren können. Das Gefühl der Verunsicherung durch sozialen Wandel erklärt auch die Resonanz, die Stabilitätsverheißungen in weiten Bevölkerungskreisen erhalten, da mit der Stabilität Sicherheit versprochen wird. Die neue Gesellschaft wird nicht aus Erfahrungen abgeleitet. Sie wird nicht prognostiziert, sondern verheißen.
17
Pestely Jenseits der Grenzen, S. 41-50.
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Alle drei brechen also die Tendenz der weiteren Verunsicherung an einem bestimmt unbestimmten Punkt ab und verkünden eine neue Welt.
I V . Prognostischer Gehalt Sieht man von der jeweiligen apokalyptischen Vision ab, so kann man den prognostischen Gehalt der Ansätze beurteilen. Auch wenn Meadows postuliert, nur physische Faktoren zu berücksichtigen, so sieht er, wie oben gezeigt, soziale Faktoren als wichtigste Ursachen der Krise an: Bevölkerungswachstum und Kapitalwachstum, der Preismechanismus, die Abhängigkeit der Geburtenrate und des RohstoffVerbrauchs vom Wohlstandsniveau, die Wertsetzung bei der Bestimmung von Prioritäten, die Machtverhältnisse bei der Verteilung von Gütern usw. sind soziale Faktoren. Obwohl er sein Modell als ganzheitlich versteht, variiert er soziale Faktoren, als wären sie untereinander unabhängig. Meadows entwickelt ein geschlossenes System, das, wie er selbst feststellt, gegen Daten relativ immun ist. So ist denn auch der empirische Gehalt gering. Er fuhrt kein Beispiel an, das unmittelbar auf eine naturgesetzte Grenze der Ressourcen zurückgeführt werden könnte, vielmehr sind alle Verknappungen, die er als Beispiele anführt, wie er selbst feststellt, politisch bedingt. Meadows Voraussagen stehen und fallen mit der Annahme, dass der aufgrund des Wachstums bedingte Bedarf schneller steigt, als er aufgrund der Ressourcenknappheit gedeckt werden kann. In der Auseinandersetzung mit Malthus begegnet Schumpeter diesem Argument: „Es liegt kein Grund vor, ein Nachlassen des Produktionstempos infolge der Erschöpfung der technischen Möglichkeiten zu erwarten." 18
So hat denn das Meadow'sche Modell nur geringen empirischen und prognostischen, dagegen einen hohen präskriptiven Gehalt. Als präskriptivem System ist ihm Wirkung nicht abzusprechen. Hat es doch dazu beigetragen, das Umweltbewusstsein zu stärken und Rohstoffe intensiver und sparsamer zu nutzen. Gerade dieser Ninive-Effekt war auch seine Intention. Dagegen haben die beiden anderen Ansätze auch einen hohen prognostischen Gehalt. Die von Marx dargestellten Entwicklungstendenzen des Kapitalismus: Ausdehnung der Produktion für den Markt, Konjunkturzyklen, Umwegproduktion über Investitionen, Umwandlung von Arbeit in Lohnarbeit, Arbeitszeitökonomie, Verwissenschaftlichung von Arbeit, Substitution von Lohnarbeit durch Kapital und hohe Kapitalkonzentration sind Tendenzen, die bis heute fortwähren und die sich aus dem Idealtyp kapitalistischer Produktionsweise, tausch1
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S.
.
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orientierte Produktion für den Markt, ableiten lassen. Sie haben einen hohen Erklärungs- und Prognosewert. Andere Erklärungsansätze im Marx'sehen Modell dagegen haben keine Entsprechung im Selbstverständnis der Ökonomen oder entbehren der Erfahrungsbasis. So kritisierte Schumpeter die Arbeitswerttheorie, indem er aufzeigt, dass für die ökonomische Argumentation die Grenznutzenlehre der Arbeitswerttheorie, die Marx der kapitalistischen Produktionsweise notwendig zurechnet, weit überlegen ist, und dass die Arbeitswerttheorie vor allem nicht auf die Arbeit selbst anwendbar ist, weil Arbeiter nicht nach rationaler Kostenrechnung gezeugt werden. 19 Auch gegen die Mehrwerttheorie argumentiert Schumpeter: Wenn alle Kapitalisten Ausbeutungsgewinne machen, kann sich kein Gleichgewicht einstellen, wenn sich ein Gleichgewicht einstellt, gibt es keine Ausbeutung mehr. Als größte Marx'sche Fehlleistung betrachtet er die Verelendungstheorie, weil ihr auch schon zu Marxens Zeiten die Erfahrungsbasis gefehlt habe. Vielmehr sei kapitalistische Produktion Massenproduktion und Massenproduktion erfordere Einkommen der Massen. Die Verelendungstheorie ist umso erstaunlicher, als Marx den Lohn für politisch aushandelbar hielt und das von Lassalle vertretene eherne Lohngesetz ablehnte.20 Aber Marx brauchte die Verelendungstheorie als Eckpfeiler seiner Revolutionstheorie. Marx erörtert das Problem des Marktversagens als Mechanismus zur Lösung des Verteilungsproblems erst für die Endphase des Kapitalismus. Er postuliert, dass zu diesem Zeitpunkt das Leistungsprinzip als Verteilungsprinzip durch ein anderes substituiert werden muss. Was er nicht prognostizierte ist die staatliche Sozialpolitik, die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner und die Demokratisierung, insbesondere den Einfluss der Arbeiterparteien im politischen System. Staatliche Sozialpolitik geht davon aus, dass sich die Unzulänglichkeit des Leistungsprinzips als Verteilungsprinzip nicht erst am Ende der kapitalistischen Entwicklung stellt, sondern dass schon früher Personenkategorien, wie z.B. Alte und Kranke, nicht oder nicht mehr arbeitsfähig sind, dass sie aber dennoch in den Verteilungsprozess einbezogen werden müssen. Sozialpolitik geht von spezifischen Formen der Marktversagung und des Marktversagens aus. „Die Sozialversicherung mit ihrem Prinzip der Umverteilung von Mitteln im Lebenslauf basiert wesentlich auf der Annahme eines Marktversagens in der Zeitdimensi-
19 20 21
Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 53. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 63-69. Leisering, Sozialstaat, S. 178.
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So wurde denn auch 1927 die Einfuhrung der Arbeitslosenversicherung als Vollendung der Sozialgesetzgebung und vor allem als Überwindung des Kapitalismus gefeiert. Sozialpolitik entwickelte sich auch als Reaktion auf den Sozialismus. Die Marx'sehe Prognose war also auch Anlass für politische Maßnahmen, die die Prognose widerlegen sollten. Auch diese Wirkung sollte nicht unterschätzt werden. Sozialpolitik und die Änderung der Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt durch die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpartner, die zumindest in Deutschland - auch als Abwehrmaßnahme gegen den Sozialismus eingeführt wurden, sind Faktoren, die die Verteilungsmechanismen nachhaltig änderten. Schließlich integrierte die Demokratisierung und die mit ihr einhergehende Entwicklung von Arbeiterparteien die Arbeiter in den Staat, so dass die von Marx angenommene Interessenkoinzidenz von Staats- und Bourgeoisinteressen - falls sie je gegeben war - gebrochen wurde. Man könnte sagen, dass durch diese Maßnahmen der Idealtyp »Kapitalismus' geändert wurde und dass auch daher die Entwicklung einen anderen Verlauf nahm als prognostiziert. Schumpeter beschreibt Phänomene, die später mit dem Begriff Pluralismus' erfasst werden, sehr genau. Diese Phänomene beurteilt er von einem festen Normsystem aus und kann sie daher nur als Devianzen umschreiben. Von einer vorgegebenen Ordnung aus gesehen, ist jede andere Ordnung Unordnung. Seine normative Orientierung veranlasst ihn aber nicht, Dinge nicht wahrzunehmen oder wegzureden, sondern sein Bestreben ist, der Wirklichkeit möglichst nahe zu bleiben. Schumpeter kennzeichnet die Entwicklung als eine Verflüchtigung und Entmaterialisierung von Werten. Diese Tendenzen demonstriert er an der Herrschaft, am Eigentum und an der Familie. Darüber hinaus konstatierte er einen Wertewandel, weg von den Akzeptanzwerten hin zu hedonistischen Werten. Er stellt ein Auseinanderfallen institutioneller Zwecke und individueller Motive fest. Er prognostiziert den Zerfall des Idealtyps ,Bourgeois'. M i t diesen Veränderungen verknüpft er ein Nachlassen der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft. Die Erfahrungsbasis für diese Zuschreibung lieferte die Zwischenkriegszeit, insbesondere in Deutschland und Österreich, deren Integrationsprobleme zu dieser Zeit offensichtlich sind. Schumpeter beschreibt die Phänomene in einem normativen Paradigma als Abweichung. So kann er zwar die Entstehung der Problematik aus ihrer Geschichte ableiten, aber keinen angemessenen Sinnrahmen für die Phänomene finden, weil er keinen neuen Idealtyp entwickelt. Er verwendet den Idealtyp ,Bourgeois' nicht mehr im verstehenden Sinn, sondern als Werturteil. Hier liegt auch seine Schwäche. Das ändert aber nichts daran, dass er Entwicklungstendenzen des Kapitalismus früher als andere wahrnahm, dass er Forschungsfragen stellte, die später häufig z.B. in der Wertewandlungsforschung aufgegriffen wurden. Schumpeter stellte eine dem Kapitalismus inhärierende Tendenz zum Ausbau des Bildungssystems über dem ökonomischen Bedarf hinaus fest, ohne diese Tendenz aus dem Kapitalismus abzuleiten. M a n kann jetzt die These aufstellen,
Helmut Geller
234
dass sich diese Tendenz notwendig aus den von Schumpeter beobachteten Entwicklungstendenzen ergibt. M i t dem Prozess der Rationalisierung verflüchtigen sich, wie Schumpeter sagt, die institutionellen Deutungsmuster, spätere Interpreten sagen, sie werden abstrakter, „d.h. sie werden zu Deutungsstrukturen, die von konkreten Situationen und Erfahrungen schon abstrahieren. Das freilich macht sie ihrerseits nicht nur in hohem Maße auslegungsfähig, sondern auch auslegungsbedürftig, schon darum auch weniger handlungswirksam und - jedenfalls unmittelbar - kaum sanktionsfähig ... Das mag man Entfremdung nennen oder Freiheit, jedenfalls erhöht sich der Bedarf individuell generierter Motive." 22 Die abstrakten Deutungsstrukturen müssen durch komplexere Persönlichkeitsstrukturen kompensiert werden. Hier liegt die Ursache für den Ausbau des Bildungssystems. D e m Verzicht auf Integrationsmittel bzw. deren Verlagerung auf abstraktere Ebenen müssen auf
Seiten der
Individuen Qualifikationen ent-
sprechen, die sie erlernen müssen, nämlich diese Integrationsleistungen selbst zu erbringen. 23 Dieses Entsprechungsverhältnis ergibt sich nicht automatisch. Wenn es nicht existiert, treten gesellschaftliche Integrationsprobleme auf, entweder in der Form von Zwangserfahrung und Repression oder in der Form von Anomieerfahrung. Der Ausbau des Bildungssystems ergibt sich also nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Das Bildungssystem wird zum Integrationsfaktor der Gesellschaft. Es vermittelt den Gesellschaftsmitgliedern über Jahre strukturell gleiche Erfahrungen und gleiche Denkstile, auf denen dann die Differenzierung aufgebaut werden kann. Vergleichen wir den prognostischen Gehalt der beiden Ansätze, so zeigt sich, dass sowohl Marx als auch Schumpeter Entwicklungstendenzen im Kapitalismus zutreffend analysiert haben, insofern sie sinnverstehend im Sinne M . Webers vorgingen. Sinn wird von Weber verstanden als ein bestimmender realer Faktor menschlichen Handelns: Die handelnden Personen verbinden mit dem Handeln einen Sinn - sie blicken, wie A. Schütz sagt, in einer bestimmten Richtung auf ihr eigenes Erleben - und dieser Sinn bestimmt ihr Handeln zumindest mit. 2 4 Beide, Marx und Schumpeter, konstruierten einen Idealtyp, der unter der Bedingung handelt, dass der Kapitalismus als legitime Ordnung gilt, d.h. dass das Handeln der Beteiligten an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung ,Kapitalismus' orientiert ist. Die Chance, dass dies tatsächlich geschieht, soll ,Geltung' der betreffenden Ordnung heißen. Gelten beinhaltet mehr als nur Regelmäßigkeit, sondern Gelten beinhaltet Gebote, deren Verstöße durch den Betreffenden selbst oder durch andere perhorresziert werden.
22 23 24
Leitner , Eheschließung, S. 35. Kaufmann , Sicherheit, S. 221-227. Vgl. Weber , Wirtschaft und Gesellschaft, S. 10.
Ende der Wachstumsgesellschaft?
235
„Handeln wird an Maximen mit Soll-Charakter orientiert, die gelten, indem sie als vorbildlich oder verbindlich angesehen werden." 25 Voraussagen, die sich aus anderen Quellen als dem Sinnverstehen speisten, erwiesen sich als unhaltbar. So leitet Marx den Zusammenbruch des Kapitalismus eher aus seiner Revolutionstheorie als aus dem Idealtyp ,Kapitalismus4 ab. Für Schumpeter stand der Zusammenbruch des Kapitalismus schon vor seiner Analyse fest. Er schreibt im Vorwort zu Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie: „(Ich) habe ... zu zeigen versucht, dass eine sozialistische Gesellschaftsform unvermeidlich aus einer ebenso unvermeidlichen Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft entstehen wird. Manche Leser werden sich fragen, warum ich eine so mühsame und komplizierte Analyse für nötig erachte, um das festzustellen, was nun rasch zur allgemeinen Ansicht selbst der Konservativen wird. Der Grund liegt darin, dass die meisten von uns zwar einig sind über das Ergebnis, nicht jedoch über die Natur des Prozesses, der den Kapitalismus umbringt." 26 Oben ist postuliert worden, dass einige Entwicklungen anders als von Marx prognostiziert verlaufen sind, weil sich der Idealtyp geändert hat, weil die kapitalistische Marktwirtschaft durch die soziale Marktwirtschaft substituiert wurde. M i t der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist auch eine Bestreitung des die Sozialpolitik legitimierenden Marktversagens verbunden. Immer mehr Bereiche, denen bisher die Marktförmigkeit abgesprochen wurde, sollen über den Markt reguliert werden. Damit verknüpft ist die Forderung, die Umverteilung durch den Staat zu begrenzen. Setzt sich diese Rückentwicklung zur reinen Marktwirtschaft durch, so ist mit einer Vergrößerung des Anteils der Bevölkerung zu rechnen, der aus dem Verteilungssystem herausfällt, die Verunsicherung der Bevölkerung wird zunehmen, es ist mit einer Verstärkung des Krisenbewusstseins in weiten Teilen der Bevölkerung zu rechnen. Schumpeter prognostizierte eine Verringerung der Identifikation der Unternehmer mit seinem Betrieb. Deutliche Anzeichen für eine solche Entwicklung lassen sich in den jüngsten Konzerntransformationen erkennen, wenn ein M e tallkonzern durch An- und Verkauf von Firmen in ein Touristikunternehmen oder ein Chemie- in einen Energiekonzern umgewandelt wird. Damit wird die Beliebigkeit, womit Geld verdient wird, demonstriert. Solche Transformationen wirken sich auch auf die Identifikation der Belegschaft mit dem Betrieb aus. Sie vergrößern deren Unsicherheit. Damit aber, so ist zu erwarten, wird auch eine apokalyptische Stimmung in der Bevölkerung wahrscheinlicher, die Bereitschaft, das Handeln von Verheißungen steuern zu lassen, wird wieder zunehmen.
25 26
Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 16. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 12.
236
Helmut Geller
Literatur Kaufmann, F.-X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Auflage, Stuttgart 1973. Koselleck, R., Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose, in: Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. Verhandlungen des 22. Deutschen Soziologentages in Dortmund 1984, hrsg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie v. B. Lutz, Frankfurt a. M. 1985. Leisering, L., Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationsverhältnisse, politisch-institutionale Steuerung, Frankfurt a. M. 1992. Leitner, H., Eheschließung und der Aufbau familiärer Wirklichkeit, in: H. Braun / U. Leitner (Hrsg.), Problem Familie - Familienprobleme, Frankfurt a. M. 1976. Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin 1966. -
Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974.
Marx, K. / Engels, F., Manifest der kommunistischen Partei, Berlin 1970. Meadows, D., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Gütersloh 1972. Pankoke, E., Die Arbeitsfrage. Arbeitsmoral, Beschäftigungskrisen und Wohlfahrtspolitik im Industriezeitalter, Frankfurt a. M. 1990. Pestel, E., Jenseits der Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome, Stuttgart 1988. Schumpeter, J. A., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 3. Auflage, München 1972. Schütz, A., Das Wählen zwischen Handlungsentwürfen, in: ders., Gesammelte Aufsätze 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971. -
Das Problem der Rationalität in der sozialen Welt, in: ders., Gesammelte Aufsätze 2. Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag 1972.
Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976.
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche in ausgewählten postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas Detlef Pollack
Die Kritik, die Thomas Luckmann mit seiner These von der „unsichtbaren Religion" an der Säkularisierungstheorie übt, bedient sich der Unterscheidung zwischen institutionellen und nicht-institutionellen Formen der Religion und benutzt diese Unterscheidung, um Prozesse der Säkularisierung von Entkirchlichungsprozessen abzuheben.1 Während in modernen Gesellschaften die institutionellen Formen der Religion, besonders die traditionellen christlichen Kirchen an sozialer Bedeutung immer mehr verlieren, entstehen, so Luckmann, teilweise in, teilweise jenseits der Kirchen neue Formen von Religion, welche in geringerem Maße institutionalisiert und insofern mehr oder weniger unsichtbar sind. Auch wenn die Bindungsfähigkeit der christlichen Kirchen zurückgehe, habe Religion insofern nicht an sozialer Bedeutung verloren. Vielmehr haben sich nach Luckmann lediglich ihre Inhalte und Formen verändert. Angesichts des religiösen Wandels ist es folglich schwierig geworden, noch genau zu definieren, was mit dem Begriff der Religion gemeint ist. Die neuen Formen der Religion tragen eine diffuse Gestalt, die so verschiedene Elemente wie Individualismus, Familialismus, Okkultismus, Esoterik, Psychologie, New-Age, ZenMeditiation usw. umfassen. Zuweilen verschmelzen diese unsichtbaren Formen der Religion mit den traditionellen religiösen Formen, zuweilen ersetzen sie sie. In jedem Fall jedoch sind sie Privatangelegenheit, hochgradig individualistisch, von den Individuen selbst gewählt und nicht von religiösen Institutionen vorgegeben. In diesem Artikel will ich der Frage nachgehen, ob dieses religionssoziologische Interpretationsmodell, das für die Analyse der religiösen Wandlungsprozesse in Westeuropa 2 entwickelt wurde, auf die religiösen Entwicklungen in Osteuropa angewendet werden kann. Drei Fragestellungen sind dabei von Bedeutung: - Vollzieht sich überhaupt ein Prozess der Säkularisierung in Osteuropa? - Wie eng ist die Beziehung zwischen traditionellen und neuen Formen der Religion? 1
Luckmann, The Invisible Religion. Hervieu- Léger, Religion and Modernity; Gabriel, Christentum; Krüggeier , Inseln der Seligen, S. 93-132; Davie, Religion in Britain. 2
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Detlef Pollack
- In welchem Ausmaß sind die neuen Formen der Religion ein Ausdruck von Prozessen der Individualisierung? U m diese Fragen zu beantworten, müssen zwei Dimensionen von Religion unterschieden werden: die institutionelle Dimension der Religion, die sich etwa an Indikatoren wie Kirchenmitgliedschaft, Gottesdienstbesuch oder auch kirchlich geprägter Religiosität festmacht, und die Dimension nicht-christlicher, nicht-institutionalisierter Religion. I m Folgenden nenne ich diese beiden religiösen Dimensionen christliche und außerkirchliche Religiosität. Verschiedene Indikatoren können diese Dimensionen abbilden. Kirchgangshäufigkeit und Glaube an Gott werden in der Regel als Indikatoren für die traditionelle, institutionalisierte christliche Religiosität benutzt. Ich schließe mich diesem Gebrauch an. Schwieriger ist es, die diffusen Formen der Religion, welche außerhalb der Kirche existieren, zu erfassen. U m ältere Formen der außerkirchlichen Religiosität zu erfassen, benutze ich als Indikatoren den Glauben an die Astrologie, an Wahrsager und an die Reinkarnation. Demgegenüber sollen mit dem Glauben an den Erfolg von Zen-Meditation, Yoga, Magie, Spiritualismus, Okkultismus, Mystik sowie dem Glauben an die Prophezeiungen des New Age neue Formen der außerkirchlichen Religiosität abgebildet werden. Die der Analyse zu Grunde gelegten Datensätze stammen hauptsächlich aus der Untersuchung „Political Culture in Central and Eastern Europe" (PCE), die von mir und meinen Mitarbeitern in elf ehemals kommunistischen mittel- und osteuropäischen Staaten im Herbst 2000 durchgeführt wurde. Die untersuchten Länder waren Russland, Bulgarien, Rumänien, Estland, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Ostdeutschland, Ungarn und Albanien. Daneben werden aber auch allgemein verfügbare Datensätze wie das International Social Survey Programme (ISSP) zur Sekundärauswertung herangezogen. Tabelle 1 gibt einen ersten Überblick über die religiöse Situation in Osteuropa im Vergleich zu der Situation in Westeuropa. A u f vier Unterschiede sei in diesem Zusammenhang hingewiesen: 1. Im Vergleich zu Westeuropa gibt es, wie an den traditionellen Indikatoren für Religion, Kirchenzugehörigkeit, Kirchgangshäufigkeit und Glauben an Gott, ablesbar, einige hochgradig säkularisierte Länder in Osteuropa, deren Säkularisierungsgrad über dem der westlichen Staaten liegt. Die Tschechische Republik, Ostdeutschland, Estland und Russland gehören zu diesen hochgradig säkularisierten Ländern. Ohne Zweifel ist diese hohe Zahl von Kirchendistanzierten und Konfessionslosen zu einem großen Teil auf die politischen Repressionen gegen Kirchen und Gläubige im Staatssozialismus zurückzufuhren. In den oben erwähnten Ländern waren die Kirchenzugehörigkeit und die Kirchgangshäufigkeit zu Beginn des Staatssozialismus beträchtlich höher als im Jahr 1989. 2. Der Katholizismus hat dem politischen und ideologischen Druck während des Kommunismus deutlich stärker widerstanden als die protestantischen Kirchen, welche in einem hohen Maße negativ von der politischen Repression betroffen waren. Die ehemals mehrheitlich protestantischen Länder Ostdeutschland und Estland, wo die Kirchenmit-
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
239
Tabelle 1
Indikatoren für Kirchenmitgliedschaft, christliche Religiosität und außerkirchliche Religiosität in Europa
Kirchenmitgliedschaft (in %) 1998/*2000 93
Kirchgangshäufigkeit pro Jahr (Mittel)1998/*2000 21
Portugal
92
22
Spanien
86
19
Irland
94
Frankreich
54
Österreich
Italien
Glaube an Gott (in %) 1998/*2000
Astrologie (in %) 1998
Wahrsager (in %) 1998
88 92
30
36
38
82 94
19
75
8
52
41
38
88
16
81
35
47
Niederlande
42
10
59
24
28
Schweiz
91
10
73
47
48
Westdeutschland
85
10
62
45
43
Großbritannien Nordirland
50
10
68
86
27
89
Schweden Dänemark
72 88
5,5 5
46 57
49
78
Norwegen
90
5
58
Polen
82*
33*
95*
Slowakei
72*
20*
77*
Slowenien
65*
11*
61*
Ungarn
58* 24*
8*
67*
40
34
3*
24*
27
33
Tschechische Republik
27*
5*
32*
53
62
Lettland
66 22*
7
72 47*
66
81
Ostdeutschland
Estland
3,5*
Albanien
77*
8*
86*
Rumänien Bulgarien
96* 44*
14* 6*
98* 66*
65
65
Russland
37*
4*
66*
56
65
Quelle: PCE 2000; ISSP 1998. glieder heute in der Minderheit sind, müssen hier erwähnt werden. In Westeuropa liegen die Raten für Kirchenmitgliedschaft und Religiosität in den vorwiegend katholischen Ländern wie beispielsweise Italien, Portugal, Spanien und Irland ebenso deutlich über
240
Detlef Pollack
den Raten in überwiegend protestantischen Ländern wie Schweden, Dänemark oder Norwegen. 3. Der Grad der Modernisierung hat ebenfalls einen beträchtlichen Einfluss auf die Beständigkeit von Kirchenmitgliedschaft und Religiosität. Vergleicht man die überwiegend katholischen Länder Westeuropas miteinander, kann man feststellen, dass die hochindustrialisierten Länder eine niedrigere Kirchgangshäufigkeit und eine geringere Akzeptanz des Glaubens an Gott aufweisen als die weniger entwickelten Länder. Dies wird bei einem Vergleich der Zahlen von Italien, Spanien, Portugal und Irland mit denen Frankreichs und Österreichs auf den ersten Blick deutlich. Das gleiche gilt auch für Länder, die mehrheitlich nicht katholisch, sondern protestantisch sind. Hier wäre das Beispiel Nordirland im Vergleich zu Ländern wie Schweden, Dänemark oder Norwegen zu nennen. Die gleichen Unterschiede finden wir auch in Osteuropa. Die am höchsten industrialisierten katholischen Länder Slowenien und Ungarn sind gleichzeitig die am meisten säkularisierten. Bei den nicht mehrheitlich katholischen Ländern zeigt sich die niedrigste Kirchgangsrate und Religiosität in Ostdeutschland, der Tschechischen Republik und Estland. Dies sind zugleich auch die ökonomisch am höchsten entwickelten Länder. 4. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Prozentzahlen, welche außerkirchliche Religiosität in Osteuropa beschreiben, außergewöhnlich hoch sind. In westeuropäischen Ländern fällt der Glauben an Gott stets höher aus als die Akzeptanz von Astrologie und Wahrsagern. In Osteuropa ist die Bejahung von Formen außerkirchlicher Religiosität in einigen Fällen genauso hoch wie der Glaube an Gott und manchmal sogar höher als derselbe (Ostdeutschland, Tschechische Republik). Bei einem Vergleich zwischen Ost- und Westeuropa fällt auf, dass sich in Westeuropa ein Prozess der Säkularisierung bezüglich der traditionellen Indikatoren der Religion feststellen lässt. In den osteuropäischen Ländern haben viele Soziologen ein außergewöhnliches religiöses Wiedererleben im Laufe der letzten Jahre beobachtet.3 Allerdings muss man in Tabelle 2 große Unterschiede zwischen den einzelnen postkommunistischen Ländern konstatieren. In einigen Ländern wie Albanien und Russland lässt sich in der Tat ein dramatischer Anstieg der Kirchenmitgliedschaft und des Glaubens an Gott feststellen. In Albanien beispielsweise stimmen 44 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, dass sie jetzt einer Religionsgemeinschaft angehören, während des Kommunismus jedoch nicht-konfessionell gebunden waren, und 31 Prozent stimmen der Aussage zu, dass sie heute an Gott glauben, während sie in der Zeit des Kommunismus nicht an Gott glaubten. Nur drei Prozent der Albaner sind aus der Kirche ausgetreten oder haben ihren Glauben an Gott aufgegeben. In anderen Ländern wie Bulgarien oder Estland erreicht der Anstieg der Kirchlichkeitsund Religiositätsindikatoren ein geringeres Ausmaß. Und in Estland war das Ausgangsniveau der religiösen Wiederbelebung äußerst niedrig.
3
Vgl. zum Beispiel Tomka, Social Role of Religion , S. 17-26.
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
241
Tabelle 2
Veränderungen in der Kirchenmitgliedschaft und Religiosität (in %)
Veränderungen in der Kirchenmitgliedschaft Anstieg*
Abfall**
Italien
Veränderungen im Glauben an Gott Anstieg***
Abfall****
4
8
Portugal
5
5
Spanien
2
9
Irland
5
6
Frankreich
11
21
Österreich
6
13
Niederlande
4
16
Schweiz
13
18
Westdeutschland
11
25 15
Großbritannien
6
Nordirland
7
6
Schweden
7
13
Dänemark
12
15
Norwegen
6
15
3
5
2
4
Slowakei
5
14
7
11
Slowenien
3
15
5
14
Polen
Ungarn
4
11
5
10
Ostdeutschland
1
19
3
15
Tschechische Republik
4
10
5
10
6
8
13
5
Albanien
Estland
44
3
31
3
Rumänien
4
0,5
3
1
Bulgarien
7
3
11
3
Russland
11
1
25
3
Quelle: ISSP 1998,PCE 2000. * = Anteil derer, die heute zu einer Religionsgemeinschaft gehören und früher konfessionslos waren ** = Anteil derer, die heute konfessionslos sind, aber früher einer Religionsgemeinschaft angehörten *** = Anteil derer, die heute an Gott glauben und früher nicht an ihn glaubten **** = Anteil derer, die heute nicht an Gott glauben, aberfrüher an ihn glaubten
242
Detlef Pollack
In den meisten untersuchten ehemals kommunistischen Ländern jedoch sind wir konfrontiert mit einem klaren Abfall der sozialen Relevanz von Religion und Kirche, zumindest wenn man einen längeren Zeitraum ins Auge faßt. Dies ist der Fall in der Slowakei, in Slowenien, Ungarn, Ostdeutschland und in der Tschechischen Republik. Selbst wenn unmittelbar nach dem Untergang des Kommunismus in diesen Ländern sich ein gewisser Aufschwung auf dem religiösen Feld vollzogen haben sollte, ist diese religiöse Wiederbelebung doch bei weitem nicht in der Lage, die Verluste, welche die Kirche in der kommunistischen Zeit hinnehmen musste, zu kompensieren. Dies zeigt sich an den deutlich höheren Verlustzahlen im Vergleich zu den Zahlen, die ansteigende Werte in der Kirchenzugehörigkeit bzw. im Glauben an Gott wiedergeben. Es ist kein Zufall, dass die besonders hoch industrialisierten Länder wie Ostdeutschland oder Slowenien vom Säkularisierungsprozess überdurchschnittlich stark betroffen sind. Wenn es eine positive Korrelation zwischen Modernisierung und Säkularisierung 4 gibt, was viele Soziologen allerdings in Frage stellen,5 dann haben wir einen fortschreitenden Prozess des religiösen Bedeutungsrückgangs in diesen Ländern zu erwarten. In anderen Ländern wie Polen oder Rumänien, deren Modernisierungsniveau geringer ist, sind die Indikatoren für Religiosität und Kirchenbindung auf hohem Niveau fast stabil. Die soeben gemachten Aussagen treffen nur auf die traditionellen Formen von Religion zu. Wie aber steht es mit Formen der außerkirchlichen Religion, die wir als Indikator für jene diffusen, synkretistischen und individualisierten Formen von Religion benutzen, die Luckmann als „unsichtbare Religion" bezeichnet? Leider ist es aufgrund des Mangels an empirischen Untersuchungen nicht möglich, Aussagen über die Entwicklung der außerkirchlichen Religiositätsformen in den letzten Jahren zu machen. Ein Blick auf Tabelle 3 zeigt, dass Formen außerkirchlicher Religiosität in Mittel- und Osteuropa weit verbreitet sind. In Estland, Albanien, Ungarn und der Slowakei glaubt fast ein Drittel, in Russland über ein Drittel an Astrologie, Wahrsager und an die Effekte der ZenMeditation. Nur ein geringer Prozentsatz gibt an, an die Botschaft des New Age zu glauben, welche im Übrigen den meisten Befragten unbekannt ist. Das gleiche gilt für den Glauben an Magie, Okkultismus, Spiritualismus und Mystik. Unterscheidet man ältere und neuere Formen außerkirchlicher Religiosität, gibt es beachtliche Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern. In Albanien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei, wo der Prozentsatz von Kirchenmitgliedern, die sich einem traditionellen Glaubenssystem verpflichtet fühlen, relativ hoch ist, werden die älteren Formen außerkirchlicher Religiosität wie Astrologie oder Glaube an Wahrsager stärker akzeptiert.
4 5
Wilson, Transformations of Religion; Bruce, Choice and Religion. Vgl. beispielsweise Warner, Work in Progress.
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
243
Tabelle 3
Außerkirchliche Religiosität
Astrologie / Horoskope
Wahrsager
Effekte der ZenMeditation, Yoga
Botschaft des New Age
Albanien
25.0
34.6
5.4
4.6
Bulgarien
18.2
19.9
8.3
2.3
Tschechische Republik
17.4
12.4
20.7
2.0
Estland
25.6
23.6
30.5
3.7
Ostdeutschland
10.9
5.6
12.6
1.6
Ungarn
24.1
30.7
22.7
8.1
Polen
7.9
26.5
7.6
1.9
Rumänien
22.9
9.3
11.4
2.2
Russland
46.7
48.7
34.9
7.7
Slowakei
22.1
38.6
19.2
3.2
Slowenien
17.0
16.3
19.5
7.7
Quelle: PCE 2000. Angabe in Prozent. Aussage: „Ich glaube stark" bzw. „zu einem bestimmten Grad." In säkularisierten Ländern wie der Tschechischen Republik, Estland, Ostdeutschland oder Slowenien ist der Anteil derjenigen, die an die Effekte der Zen-Meditation glauben, höher als der Anteil derer, die an Astrologie oder Wahrsager glauben. Gleichzeitig gehören die Tschechische Republik, Estland, Ostdeutschland und Slowenien zu den wirtschaftlich am höchsten entwickelten Ländern in Osteuropa. Betrachtet man die Grafiken 1-3, kann man eine negative Korrelation zwischen dem Grad der Modernisierung, der hier durch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemessen wird, und traditionellen Formen von Religiosität feststellen. So zeigt sich beispielsweise eine negative Korrelation zwischen Modernisierung und dem Glauben an Gott (Grafik 2) oder auch dem Glauben an Wunderheiler, der hier als Indikator der alten Formen außerkirchlicher Religiosität fungiert (Grafik
1). Zwischen Modernisierung und dem
Glauben an die Effekte von Zen-Meditation und Yoga, als Indikator für neue Formen außerkirchlicher Religiosität, besteht hingegen ein leicht positiver Zusammenhang (Grafik 3).
244
Detlef Pollack
Bedeutet das, dass wir in den ehemals sozialistischen Ländern eine vom M o dernisierungsgrad der jeweiligen Länder beeinflusste Tendenz hin zu einer zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung von Religion beobachten können? U m dieser Frage nachzugehen, ist es nötig zu untersuchen, in welchem Verhältnis traditionelle und alternative Formen von Religion zueinander stehen. Entwickeln sich die diffusen, außerkirchlichen Formen der Religion unabhängig von der traditionellen Religiosität, oder wird ihre Akzeptanz von traditionellen Formen der Religion unterstützt?
Grafik 1
Grafik 2 Glaube an Gott (1) in Abhängigkeit von BIP pro Kopf (2)
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
245
Grafik 3 Glaube an Effekte der Zen-Meditation und Yoga (1) in Abhängigkeit von BIP pro KöpT{2)
RUS
EST H \ CZ • SLK •
SLO
ROM
• BG ALB 2.000
•PL
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
14.000
16.000
Quellen Grafiken 1-3: (1) PCE 2000; ( 2) Transition report update, April 2001 (Ostdeutschland: Statistisches Bundesamt) Wie man in Tabelle 4, Spalte A sehen kann, gibt es in fast allen osteuropäischen Ländern eine hohe Korrelation zwischen Kirchgangshäufigkeit und Glauben an Gott, als den zwei Indikatoren für christliche Religiosität. In Spalte B1 und B2 kann man beobachten, dass traditionelle Religiosität (Gottesdienstbesuch und Glaube an Gott) und alte Formen der Religiosität außerhalb der Kirche in den meisten Fällen ebenso eine positive Korrelation aufweisen. Betrachtet man die Beziehung zwischen Kirchgang bzw. Glaube an Gott und neuen Formen außerkirchlicher Religiosität (s. Spalte B 3 und B 4), ist das Bild zunächst etwas verwirrend. Ein genauerer Blick zeigt jedoch erneut einen klaren Unterschied zwischen mehr hochkirchlichen und mehr säkularisierten Ländern. In Ländern mit mehr traditionellen Glaubenssystemen, wie Polen, der Slowakei oder Rumänien, ist die Korrelation zwischen traditioneller Religiosität und neuen Religiositätsformen außerhalb der Kirche nicht signifikant oder sogar negativ. Das heißt, dass in diesen Ländern das Auftauchen von neuen Formen der Religion nicht von traditionellen und hoch institutionalisierten Formen der Religion unterstützt wird. In anderen, mehr säkularisierten Ländern, wo die Beziehung zwischen kirchlicher Religiosität und neuer Religiosität außerhalb der Kirche nicht signifikant oder sogar positiv ist, wie in Ostdeutschland, der Tschechischen Republik oder Estland, gibt es offensichtlich eine stärkere Vermischung von traditionellen Formen der Religion mit neuer, außerkirchlicher Religiosität.
246
Detlef Pollack
Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn wir den Einfluss der religiösen Erziehung während der Kindheit auf die Religiosität als Erwachsene betrachten. Ganz gleich, ob wir Kirchgang, den Glauben an Gott oder alte Formen außerkirchlicher Religion als Beispiele heranziehen, jedes M a l ist bei Menschen, die im Glauben erzogen wurden, die Wahrscheinlichkeit, dass sie diese religiösen Einstellungen und Verhaltensweisen akzeptieren, größer als bei Personen, die nicht religiös erzogen wurden (vgl. Tabelle 4, Spalte 1-3). Betrachtet man jedoch die Effekte der religiösen Sozialisierung hinsichtlich der Akzeptanz neuer
Tabelle 4
Innerreligiöse Beziehungen
A
B1
B2
B3
B4
Cl
C2
C3
C4
Polen
.31
.12
.11
-.09
n.s.
.16
.21
n.s.
-.10
Slowakei
.47
n.s.
.07
-.15
-.08
.37
.54
n.s.
-.12
Slowenien
.47
.17
.20
n.s.
n.s.
.29
.49
n.s.
-.12
Ungarn
.32
.17
.21
-.08
.09
.26
.48
n.s.
-.07
Ostdeutschland
.47
.13
.28
n.s.
.07
.34
.58
.13
n.s.
Tschechische Republik
.55
.08
.26
n.s.
.09
.43
.69
.14
n.s.
Estland
.31
.08
.21
n.s.
.12
.27
.45
.09
n.s.
Albanien
.16
.24
.29
n.s.
n.s.
.19
.26
.25
.15
Rumänien
.08
n.s.
n.s.
-.12
n.s.
.07
.09
n.s.
n.s.
Bulgarien
.29
.13
.36
n.s.
.12
.21
.50
.19
n.s.
Russland
.28
n.s.
.18
n.s.
.09
.24
.47
n.s.
n.s.
Quelle: PCE 2000. A = Korrelation Kirchgang und Glaube an Gott B1 = Korrelation Kirchgang und Außerkirchliche Religiosität (alt) B2 = Korrelation Glaube an Gott und Außerkirchliche Religiosität (alt) B3 = Korrelation Kirchgang und Außerkirchliche Religiosität (neu) B4 = Korrelation Glaube an Gott und Außerkirchliche Religiosität (neu) C1 = Korrelation religiöse Sozialisierung und Kirchgang C2 = Korrelation religiöse Sozialisierung und Glaube an Gott C3 = Korrelation religiöse Sozialisierung und Außerkirchliche Religiosität (alt) C4 = Korrelation religiöse Sozialisiemng und Außerkirchliche Religiosität (neu)
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
247
Formen außerkirchlicher Religiosität, lässt sich feststellen, dass hier die Korrelationen entweder negativ oder nicht signifikant sind (s. C 4). In mehrheitlich katholischen Ländern fallen die Einflüsse von religiöser Sozialisation auf die Akzeptanz der neuen religiösen Formen wiederum negativ aus. Für diese Länder heißt das, dass Menschen, welche nicht im Glauben erzogen wurden, öfter als die religiös Sozialisierten dazu neigen, an Zen-Meditation, Spiritualismus und Okkultismus zu glauben. In diesen Ländern haben neue Formen der Religion eine gewisse Unabhängigkeit von traditionellen Glaubenssystemen erreicht. Sie stellen eine Alternative zu den religiösen Traditionen dar und stehen zu ihnen in Kontrast. In stärker säkularisierten Ländern dagegen ist die Akzeptanz neuer Formen von Religion weder abhängig noch unabhängig von religiöser Sozialisation und kann sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche vorgefunden werden. Mit anderen Worten: Je säkularisierter die Länder sind, desto mehr bilden die verschiedenen Formen von Religion - alte und neue, innerhalb und außerhalb der Kirche - ein synkretistisches Ganzes. Im nächsten Schritt werden wir die Korrelation zwischen den verschiedenen Formen von Religion und Individualisierungsprozessen untersuchen. U m Individualisierung zu messen, wurde ein Indikator für individualisierte Orientierungen entworfen, bei dem der Wunsch, ein außergewöhnliches und extravagantes Leben zu führen, das Interesse, das Leben zu genießen und nicht mehr als nötig zu arbeiten, sowie das Interesse an Selbstbestimmung und postmaterialistische Wertorientierungen als Indikatoren benutzt wurden. (Vgl. Tabelle 5) Wie erwartet, ist die Korrelation zwischen traditioneller Religiosität, Kirchgang, Glauben an Gott und dem Individualisierungsindex zumeist negativ oder nicht signifikant (Tabelle 5, A 1 und A 2). Betrachtet man hingegen neue Formen von Religiosität, reagiert der Indikator für individualisierte Orientierungen positiv (A 4). Je mehr die Menschen gewillt sind, einen extravaganten Lebensstil zu führen oder postmaterialistischen Werten zu folgen, desto mehr tendieren sie dazu, neue Formen von Religiosität zu akzeptieren. Eliminieren wir die Variable „ein außergewöhnliches Leben führen" aus dem Individualisierungsindex, erscheint wieder das schon bekannte Muster (B 1-4): In mehrheitlich katholischen Ländern sind neue Formen der Religion streng verbunden mit individualisierten Orientierungen. In den säkularisierten und modernisierten Ländern, wie Ostdeutschland, der Tschechischen Republik oder Estland, ist die Beziehung zwischen beiden hingegen schwächer oder nicht signifikant. Abschließend lässt sich feststellen, dass neue Formen von Religiosität außerhalb der Kirche in Mittel- und Osteuropa eine beachtliche Rolle spielen. In überwiegend katholischen Ländern scheint die Verbreitung dieser Formen anderen Mustern zu folgen als die Verbreitung traditioneller Formen von Religion. In diesen Ländern stehen erstere tendenziell im Kontrast zu letzteren.
248
Detlef Pollack
In stärker säkularisierten Ländern stellen außerkirchliche Religionsformen keine Alternative zu institutionalisierten Formen der Religion dar und können mit ihnen sogar zusammenfließen. Das heißt, je stärker ein Land entkirchlicht ist, desto mehr vermischt sich die neue Religiosität außerhalb der Kirche mit ekklesialen Religionsformen und bildet mit ihnen ein synkretisches Ganzes. In Ländern, in denen traditionelle Glaubenssysteme dominieren, werden diese neuen Formen von Religion weder durch traditionelle Religionsformen noch durch religiöse Sozial isation gefordert und können insofern als ein Ausdruck von Individualisierungsprozessen angesehen werden. In stärker säkularisierten Ländern hingegen sind die neuen Formen der Religion weniger abhängig von der religiösen Erziehung in den Familien und enger verbunden mit traditionellen Formen von Religion, insofern aber auch nicht so stark durch Individualisierungsprozesse beeinflusst. In jedem Fall sollten wir die Tendenzen hin zu einer religiösen Individualisierung aber nicht überschätzen. In den traditionell religiösen Ländern ist nur eine geringe Zahl der Bevölkerung an diesen neuen Formen der Religiosität interessiert. In den stärker säkularisierten Ländern stellt die neue Religiosität keine Alternative zum traditionellen Glaubenssystem dar und ist daher von den Verlusten der kirchlichen Religiosität ebenfalls negativ betroffen. In diesen Ländern sind die neuen religiösen Formen nicht in der Lage die Verluste der traditionellen Religiosität zu kompensieren, so dass Prozesse der Säkularisierung und der religiösen Individualisierung Hand in Hand gehen. Auch wenn wir die Tendenz hin zur religiösen Individualisierung nicht überbewerten sollten, bleibt die Frage, was die sozialen Ursachen für diese Tendenz sind. Ich schlage vor, diese Tendenzen als Merkmale eines nachholenden Modernisierungsprozesses zu betrachten, welche Länder wie die Tschechische Republik, Estland, Ostdeutschland und Slowenien derzeit durchlaufen. In diesen Ländern ist das Wohlstandniveau höher als in anderen ostmitteleuropäischen Ländern und dort können sich die Menschen daher eher Kurse in Zen-Meditation, Yoga oder Energietraining leisten als anderswo. In diesen Ländern ist es deutlich wahrscheinlicher als in nicht so hoch entwickelten Gesellschaften, dass eine Art Body- und Wellness-Kultur entsteht, in welcher Religion an der Befriedigung nicht-traditioneller, individualisierter Bedürfhisse beteiligt ist.
Religiosität innerhalb und außerhalb der Kirche
249
Tabelle 5
Religiosität and Individualisierung
Al
A2
A3
A4
B1
B2
B3
B4
Polen
-.09
n.s.
n.s.
.16
n.s.
-.08
n.s
.11 **
Slowakei
-.14
-.18
n.s.
.17
-.12
-.17
n.s
.14**
-.11
-.10
n.s.
.12
-.08
-.09
n.s
n.s.
Ungarn
-.12
-.12
n.s.
.13
n.s.
-.08
n.s
.10**
Ostdeutschland
-.16
n.s.
n.s.
.17
-.13
n.s.
n.s
.08*
Tschechische Republik
-.14
-.22
n.s.
n.s.
-.13
-.22
n.s
n.s.
Estland
n.s.
-.11
n.s.
.12
-.06
-.14
n.s
.07*
Albanien
-.14
n.s.
-.08
-.10
-.16
n.s.
n.s
-.07*
Rumänien
-.14
n.s.
n.s.
.09
-.12
n.s.
n.s
n.s.
Bulgarien
n.s.
n.s.
.14
.15
n.s.
n.s.
n.s
.11
Russland
-.06
n.s.
n.s.
.07
n.s.
n.s.
n.s
n.s.
Slowenien
Quelle: PCE 2000 Al = Korrelation Individualisierung und Kirchgang A2 = Korrelation Individualisierung und Glaube an Gott Kirchgang A3 = Korrelation Individualisierung und Außerkirchliche Religiosität (alt) A4 = Korrelation Individualisierung und Außerkirchliche Religiosität (neu) B1 = Korrelation Individualisierung (ohne außergewöhnliches Leben) und Kirchgang B2 = Korrelation Individualisierung (ohne außergewöhnliches Leben) und Glaube an Gott B3 = Korrelation Individualisierung (ohne außergewöhnliches Leben) und Außerkirchliche Religiosität (alt) B4 = Korrelation Individualisierung (ohne außergewöhnliches Leben) und Außerkirchliche Religiosität (neu)
2 5 0
Detlef Pollack
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Zur Soziologie der Konversion Justin Stagl
I. Metamorphosen Leibliche Metamorphosen wie die Insekten kennt der Mensch nicht, wohl aber geistige und soziale. Ihr Urbild ist der Übergang zwischen Wachen und Traum. Dem Traum verbunden sind andere Formen der Überschreitung der wachbewussten Wirklichkeit: Trance, Ekstase, Vision und das freie Spiel der Phantasie. Der Mensch scheint den Wechsel zwischen Bewusstseinsformen und Wirklichkeitsebenen zu brauchen. Durch Maskierung, Verkleidung, Nachahmung, Spiel, Drogengebrauch sucht er aus der eigenen Person herauszutreten und sich etwas anderem anzuverwandeln: dem Jagdwild und den Nahrungspflanzen, Raubtieren, Feinden, übernatürlichen Wesen, sozialen Sonderrollen. 1 Ein Fenster zur prähistorischen Geisteswelt öffnet sich etwa in den Berichten über den sibirischen Schamanismus.2 Zum Schamanen wird man - meist gegen den eigenen Willen - durch ein Berufungserlebnis. Der angehende Schamane verfällt nach einer Periode der Kränklichkeit und seelischer Leiden in eine lange, tiefe Ohnmacht, die er als Jenseitsreise erfährt. Die Geister behandeln ihn dort ebenso wie im Diesseits seine Stammesbrüder das von den Geistern gesandte Jagdwild behandeln: Er wird getötet, zerstückelt, dann freilich wieder zusammengesetzt. Der zwischendurch abgetrennte Kopf kann dieser Operation zusehen, während welcher ein Austausch von Substanzen stattfindet. Mit seinem jenseitigen Substanzanteil gewinnt der Schamane die für seinen Beruf nötigen Kräfte und übernatürlichen Verbindungen. Wenn er aus der Ohnmacht wieder erwacht, ist dieser neue Leib mit seinem bisherigen Leib eins geworden. Der Schamane vertritt nun das Jenseits im Diesseits. In neuen, nun aber induzierten Trancezuständen kann er zu den Geistern zurückkehren, um dort für die Seinen zu intervenieren und im Diesseits zu helfen und zu heilen. Der Preis dafür ist hoch: Er bleibt den Seinen unheimlich und fremd und vereinsamt. Weltweit findet man Vorstellungen, dass sich bestimmte Menschen in Tiere verwandeln können - Hexen, Werwölfe - , dass sie eigentlich nichtmenschliche 1 2
s. hierzu Stagl/Reinhard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins. Müller, Schamanismus, bes. Kap. IV.
252
Justin Stagl
Wesen sind - Wechselbälge, Wiedergänger - oder dass sie mit ihrem Leib außermenschlichen Mächten als Gefäß dienen - Schamanen, Besessene. Nach der Vorstellungswelt vieler Völker war diese Verwandlungsfähigkeit in der Urzeit nicht nur auf gewisse Einzelne beschränkt, sondern allgemein, wovon Mythen berichten und „totemistische" Verwandtschaftsverhältnisse zwischen bestimmten Kategorien von Menschen und Naturwesen zeugen. Weltweit verbreitet sind auch Vorstellungen von einem Weiterleben nach dem Tode oder auch von einem Vorleben vor der Geburt, aus denen folgt, dass der Aus- und Eingang des Menschenlebens als Metamorphosen zu betrachten sind. Daran knüpft sich eine interkulturell verständliche Symbolik von Tod und Wiedergeburt, die dann auch für geistig-soziale Metamorphosen innerhalb des Menschenlebens Verwendung findet. 3 Eine solche Symbolik wird in den Initiations- (Jugendweihe-)ritualen vieler Stammesreligionen dramatisch ausgestaltet.4 Diese sind oft die wichtigsten Gemeinschaftskulte überhaupt. Für diejenigen, die sie absolviert haben, ist eine bisher fraglos hingenommene Lebenswirklichkeit nunmehr religiös gedeutet worden. Die wachbewusste Wirklichkeit ist nun nicht mehr einfach sie selbst, sondern zeigt sich als sozio-kulturelles Konstrukt. 5
I I . Zur Universalgeschichte der Konversion Unter Konversion versteht man die grundlegende Wandlung der persönlichen Religiosität und sozio-religiösen Zugehörigkeit. Sie hat viel mit den Initiationsritualen gemeinsam, ist jedoch ungeachtet dieser ihrer sozialen Aspekte eine im Prinzip individuelle und freiwillige Wandlung. Darin ähnelt sie eher der Berufung des Schamanen. Man hat zwei Menschentypen unterschieden: Der eine fühlt sich zuhause in der Gesellschaft und der Welt, hat sich zumindest damit abgefunden; der andere ist davon enttäuscht und zerfallen mit sich selbst. William James hat sie die „Einmal-" und die „Zweimalgeborenen" genannt.6 Dem Zweimalgeborenen ist die ersehnte Harmonie mit sich selbst, der Gesellschaft und der Welt nicht über die Anpassung an das Vorgefundene, sondern nur durch dessen Überwindung möglich. Bei wachsender sozio-kultureller Komplexität tritt dieser Typus häufiger auf, doch auch relativ undifferenzierte Stammesgesellschaften kennen ihn, wie die Beispiele der Schamanenberufung und der Wiedergeburtsrituale zeigen. 3 s. etwa Metcalf/Huntington , Celebrations of Death; Assmann/Trauzettel (Hrsg), Tod, Jenseits und Identität. 4 s. etwa Eliade , Birth and Rebirth. 5 s. Berger/Luckmann , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 6 Vgl. James, Religious Experience, S. 92ff., S. 168ff., S. 35Iff., S. 466f. - Die Begriffe selbst hat James übernommen von Newman , The Soul, its Sorrows and its Aspirations.
Zur Soziologie der Konversion
253
Zwischen diesen beiden Typen und zwei Formen von Religion, die Theo Sundermeier „primäre" und „sekundäre Religionen" genannt hat,7 besteht eine Wahlverwandtschaft. Primäre Religionen sind zusammen mit den sie tragenden sozio-kulturellen Gemeinschaften entstanden. Sie sind „Observanzreligionen", die auf Teilhabe und Teilnahme an einer kollektiven Heils Vermittlung gründen. Geistig-soziale Wiedergeburten fuhren nicht aus diesem Bannkreis heraus, vielmehr in bereitstehende soziale Rollen und Funktionen hinein; die potentielle Gefährdung der Gemeinschaft durch den zweimalgeborenen Typus wird so in einen sozialen Nutzen verwandelt. Zeitweiliger Rückzug als Voraussetzung permanenter Einbindung ist das Prinzip dieser sozialen Alchimie. Auch auf höherer Differenzierungsstufe, in den polytheistischen Religionen der frühen Hochkulturen, wird Teilhabe und Observanz verlangt. Es hat hier aber bereits eine religiöse Zentralisierung stattgefunden, wobei das einfache Volk nicht mehr wie in einfachen Stammesreligionen mit der Kultgemeinschaft identisch ist, sondern den Göttern gegenüber durch hauptamtliche Priester repräsentiert wird. Die religiösen Bedürfnisse des Volkes können somit vernachlässigt, ja vergewaltigt werden, was Opposition schafft. Bei noch höherer soziokultureller Differenzierung, verbunden mit der Eingliederung mehrerer primärer Religionen in eine „Ökumene" oder ein Weltreich, verliert deren religiöser Partikularismus an Glaubwürdigkeit und aus der latenten Opposition des Volkes bilden sich Gegenbewegungen, eben die sekundären Religionen, die jeweils von einer prophetisch gestifteten Heilsbotschaft getragen werden, wie der Buddhismus, das Christentum und der Islam. An die Stelle der Heilsvermittlung durch das Kollektiv oder durch dessen Repräsentanten tritt nunmehr die persönliche Annahme einer Heilsbotschaft und mit ihr die Unterscheidung zwischen religiös Wahrem und Falschem. Sekundäre Religionen wenden sich also nicht mehr an partikulare Gruppen, sondern an die gesamte Menschheit und damit an jeden einzelnen Menschen. Sie sind „Universalreligionen". 8 Statt auf Teilhabe und Teilnahme gründen sie auf Mission und Konversion. Die Welt wie sie ist verwerfen sie als heillos und setzen ihr die eigene Erlösungsbotschaft entgegen, verlangen also Abwendung vom Alten und Hinwendung zum in dieser Botschaft verkündeten Neuen. Doch ist der Kampf zwischen Partikularismus und Universalismus bis heute nicht entschieden. Auf Seiten des Partikularismus steht die gewaltige Beharrungsmacht des einmalgeborenen Typus. Gerade nach dem Sieg sekundärer Religionen werden deren entscheidende Züge „in die primäre Religionserfahrung integriert und zu neuen Synthesen verschmolzen". 9 Der Partikularismus im 7
Sundermeier, Religion, Religionen; s. dazu Assmann, Die monotheistische Wende. Vgl. Stark, Sociology of Religion, vor allem Bd. 1, Established Religion und Bd. 3, The Universal Church. 9 Sundermeier, Religion, Religionen, S. 418. 8
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universalistischen Gewand lebt in Gestalt der „Volkskirchen" wieder auf, hochkomplexen Gebilden, die ein Gleichgewicht zwischen Glauben, Ritualismus und Unglauben sowie zwischen organisierter Religion und sozio-politischen Verbänden anstreben, was unweigerlich zu Lasten der Heilsbotschaft geht. Heute, wo diese kunstvoll ausbalancierten Gleichgewichtszustände ins Wanken geraten und die religiöse Individualisierung zunimmt, 10 hat die Religionssoziologie endlich die Bedeutung des Themas Konversion entdeckt.11
I I I . Wesen und Formen der Konversion Im Wort „Konversion", zu Deutsch Bekehrung, steckt die Bedeutung „umwenden", „umkehren" (convertere, ¿Tuoxpscpsiv); gemeint ist die Abkehr vom schlechten, zum Unheil führenden Weg und die Hinwendung zum guten, der zur Erlösung führt. 12 Kern der Metapher ist also der Weg in Gestalt des Lebensweges. William James, der bis heute wohl maßgeblichste Forscher der Konversion, definierte diese (1902) als „the process, gradual or sudden, by which a seif hitherto divided, and consciously wrong, inferior and unhappy, becomes unified and consciously right, superior and happy, in consequence of its firmer hold upon religious realities." 13 Ich unterscheide zwischen drei Formen der Konversion: Berufung, Erweckung und Übertritt. Berufung fuhrt zur Übernahme einer neuen und höheren, jedoch gesellschaftlich institutionalisierten Rolle: so die Berufung eines Schamanen oder eines Ordensmitgliedes. Erweckung bedeutet Umkehr von einem „weltlichen" zu einem „geistlichen" Leben, jedoch ohne notwendige institutionelle Absicherung. Übertritt schließlich führt aus der eigenen Religionsgemeinschaft heraus und zur Aufnahme in eine andere. In der Praxis ist der Unterschied zwischen diesen drei Formen nicht ganz so klar. Beim Übertritt ist der Wechsel der sozio-religiösen Zugehörigkeit evident, doch auch Berufung und Erweckung beenden alte und schaffen neue soziale Einbindungen. Bei der Berufung liegt schon fest, wohin der Weg führt, diese Konversionsform wird also von wohlorganisierten religiösen Gemeinschaften bevorzugt; die Erweckung ist dahingegen ergebnisoffen und individualistisch. James, der die amerikanische Erweckungsreligiosität (Revivalismus) vor Augen hatte, nahm die Erweckung
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s. Luckmann, Die unsichtbare Religion; und darin die Einleitung zur deutschen Ausgabe von Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, S. 7-41. 11 Eine gute Zusammenfassung mit Literaturübersicht geben Knoblauch/Krech/ Wohlrab-Sahr (Hrsg.), Religiöse Konversion. 12 Grimm, J. u. W., Deutsches Wörterbuch, Sp. 1414f. James, Religious Experience, S. .
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stillschweigend als den Prototyp der Konversion überhaupt, 14 was in historischanthropologischer Perspektive aber sicher nicht richtig ist. Mit seiner Bevorzugung der Erweckung war es ihm jedoch möglich, die individualpsychologische Seite der Konversion zu Lasten ihrer institutionell-organisatorischen Seite hervorzuheben. In diesem individualistischen Vorurteil ist ihm die moderne Forschung gefolgt, während sie in anderer Hinsicht von ihm abweicht: James hat artikulierte, eindrucksvolle und insofern „starke" Beispielsfälle verwendet, um das Typische des Konversionsgeschehens rein herauszuarbeiten, während nunmehr „schwache" bevorzugt werden, die das Forschungsfeld zwar ausweiten, aber es auch verundeutlichen. Auch James hatte schon parareligiöse, nämlich lebensreformerisch-weltanschauliche Strömungen in die Konversionsforschung einbezogen, aber doch eher in einem übertragenen Sinne.15 Heute werden solche Bekehrungen zum Hauptthema und damit die klassisch-religiöse Bekehrung zum Spezialfall. 16 Der Konversionsbegriff verliert sich infolgedessen in blutleeren Abstraktionen; man fasst ihn etwa als Austausch „leitender Attributionsschemata" 1 7 oder als Änderung der „kanonischen Sprache". 18 Ich ziehe es hier aber vor, weiterhin von der religiösen Bekehrung auszugehen.
I V . Die Phasen des Konversionsprozesses Die Umkehrmetapher lässt die Bekehrung als ein dramatisches Ereignis erscheinen, während sie in Wirklichkeit ein längerer Prozess ist, der freilich oft unbewusst verläuft. 19 Auch ist sie kein bloßer Akt eines Einzelnen, sondern mitgeprägt durch soziale Faktoren. Als imitatio, Aktualisierung eines richtungsweisenden Urbildes, folgt sie vorangegangenen Konversionen. 20 Mitmenschen, wie Missionare, Evangelisten, Familienmitglieder oder Freunde, helfen dem
14 James, Religious Experience, Lectures VIII-X. - Natürlich kann Erweckung statt zu einem geistlicherem Leben in individueller Verantwortung auch zum Anschluss an eine streng institutionalisierte Sekte führen. Die „konversionistischen" Sekten machen sie zur Eingangsvoraussetzung; s. Wilson, Analysis of Sect Development, S. 27. 15 James, Religious Experience, S. 106ff. Behandelt werden vor allem das „mind eure movement" und der mit religiöser Inbrunst gelebte Unglauben. 16 Die Konversion vom Katholizismus zum Protestantismus und umgekehrt, die in der älteren Literatur eine Hauptrolle gespielt hatte, kommt in der neueren kaum noch vor. 17 „Master attribution scheme"; vgl. Snow/Machalek , Sociology of Conversion. 18 Stromberg, Konversion, S. 49. 19 s. etwa James, Religious Experience, bes. S. 232. 20 s. etwa Shimazono, Conversion stories.
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Konvertierenden auf seinem Weg. 21 Dieser Weg wird schließlich in einer Konversionserzählung sprachlich rekonstruiert, die ihrerseits weiteren Konversionen zum Vorbild dienen kann. 22 Heute wird die Konversionsforschung mehr und mehr zu einer Hermeneutik von Konversionserzählungen. 23 Diese Erzählungen weisen eine dreiphasige Struktur auf, die nicht zufällig der der Wiedergeburtsrituale gleicht: „Zeit davor", „Wendepunkt", „Zeit danach"; damit wird der Lebensweg als auf den Wendepunkt der Bekehrung und die Zeit danach hinführend gedeutet.24 Konversionserzählungen sind demnach standardisiert; es wäre naiv, wollte man den tatsächlichen Verlauf einer Konversion wortwörtlich daraus ablesen. So sind etwa die „Confessiones" von Augustinus, eine der folgenreichsten Konfessionserzählungen überhaupt, in einem auf die Bekehrung zum Christentum hinführenden Sinne gestrafft worden, während der Weg der späteren Heiligen tatsächlich verschlungener verlaufen ist. 25 Doch nun wird in die andere Richtung übertrieben. Man neigt dazu, Konversionserzählungen überhaupt den Realitätsgehalt abzusprechen. Für C. Staples und A.L. Mauss etwa haben diese nichts mit einem bereits stattgefundenen, sondern mit einem erst erwünschten Persönlichkeitswandel zu tun, den sie herbeizuführen helfen sollen: „it is through language that individuals transform themselves".26 Wirklich ernstgenommen hieße das, dass man immer erst dann konvertiert, wenn man davon erzählt. Ich
21 Der Revialismus, der auf die Tradition des Methodismus sowie der Böhmischen Brüder zurückgeht, fordert Konversionen in einer hochemotionalisierten Atmosphäre, jedoch nicht in der Gruppe, sondern in der Masse. Suggestion und Imitation sollen das Konversionserlebnis auslösen. Dieses gehört demnach in die Soziologie des Kollektivverhaltens (s. Smelser , Theorie des kollektiven Verhaltens). Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Graduelle Konversionen sind stattdessen eher in Gruppen eingebunden. Sie ähneln insofern Initiationsritualen, die von Paten gesteuert werden. Diese vertreten die Stelle der Eltern; die rituelle Wiedergeburt orientiert sich an der familiären Sozialisation. Berger und Luckmann betrachten sie daher (wie auch schon James) als das Urbild der „sekundären Sozialisation", wie sie auch in der modernen Gesellschaft, etwa bei räumlicher und sozialer Mobilität oder bei der Berufsfindung, nötig ist - und bei der, wie in der familiären Sozialisation, „signifikante Andere" als Wegweiser benötigt werden (Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 154f, S. 167ff.). 22 s. dazu Wohlrab-Sahr/Krech / Knoblauch , Religiöse Bekehrung, S. 16ff. 23 Als weitere Gebiete der Konversionsforschung nennen die Autoren den Verlauf, die Ursachen und die Kontextbedingungen von Konversionen, wo die Literatur aber gegenüber der zu den Konversionserzählungen merklich zurücktritt. 24 Ulmer , Konversionserzählungen, S. 22ff. 25 Gourdon , Essais sur la Conversion; Guardini , Bekehrung des Aurelius Augustinus. Auch betrügerische Konversionserzählungen folgen dem gleichen Schema, vgl. etwa den Fall des theologisch-ethnographischen Schwindlers George Psalmanazar in Stagl, Eine Geschichte der Neugier, S. 215-251. 26 Staples/Mauss , Conversion or Commitment? S. 137; vgl. dazu WohlrabSahr/Krech/Knoblauch , Religiöse Bekehrung, S. 22ff.
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betrachte den Konversionsprozess demgegenüber als ein reales Geschehen, welches man in fünf idealtypische Phasen gliedern kann: 27
7. Ablösung Er beginnt mit Überdruss an sich selbst, am eigenen Leben. Die Religionssoziologie kann zeigen, dass hierfür Menschen in als unpassend empfundenen Lagen besonders empfänglich sind: Außenseiter, blockierte Aufsteiger, frustrierte Absteiger, Nochnichtfestgelegte wie vor allem Jugendliche, Personen in Notlagen und Krisen. 28 Es gibt unterschiedliche Weisen, hierauf zu reagieren. Zur religiösen Konversion führt nicht so sehr die Unzufriedenheit mit der sozialen Lage als ein - damit freilich verbundenes - Ungenügen an der Seinsordnung überhaupt. Aus misslichen Soziallagen kann man sich auch innerweltlich zu befreien suchen. Die Konversion ist das religiöse Äquivalent. Sie will in einer Art Pauschalverfahren das eigene Dasein wieder in Übereinstimmung mit dem Seinsgrund bringen. Die manchmal geäußerte Annahme, der Weg der Konversion werde nur dann gewählt, wenn innerweltliche Befreiungsmöglichkeiten als aussichtslos erscheinen, entspringt einem antireligiösen Vorurteil. 29 Viele Menschen in aussichtlosen Lagen konvertieren nicht, viele Konvertiten hätten durchaus Handlungsalternativen gehabt. Ohne individualpsychologische Randbedingungen und anthropologische Grundannahmen wird man hier nicht weiterkommen - eine solche ist die des zweimalgeborenen Typus. Wer sich selbst als innerlich gespalten und von dem ihm verfügbaren Deutungen des Lebenssinns unbefriedigt erfährt, hat damit einen ersten Schritt getan: Er wird ein „Suchender". Einem solchen wird die religiöse zur vorrangigen Wirklichkeitsebene, seine Stellung zu ihr zum wichtigsten Problem; innerweltliche Handlungsalternativen blendet er zunehmend aus. Dies muss seiner „weltlicher" eingestellten sozialen Umgebung als religiöse Monomanie und Blickfeldverengung erscheinen. Der Suchende verliert die soziale Anpassung, seine Handlungen und Haltungen werden als sonderbar empfunden - zwischen ihm und seiner Umgebung kommt es zu wechselseitiger Ablösung. Die Fallstu-
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Zur Phasierung s. auch Ulmer, Konversionserzählungen; sowie Loßand/Stark, Becoming an World Saver. 28 Stark , Sociology of Religion, Bd. 2, Sectarian Religion; Muldoon (Hrsg.),Varieties of Religious Conversion. 29 Vgl. zu dieser sog. „Strain-Theorie" Wohlrab-Sahr/Krech/Knoblauch, Religiöse Bekehrung, S. 12f. - Diese Theorie ist gleichsam die Pascal'sche Wette im Lichte von Rational Choice.
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dien zeigen, dass der Wendepunkt des Konversionsprozesses zumeist mit Rückzug aus dieser Umgebung und relativer Isolation von ihr zusammenfällt. 30 Ein Suchender stellt seine persönliche Religiosität implizit über das Heilvermittlungsangebot seiner Religionsgemeinschaft. Für diese wird er damit zum Problem. Sie wird versuchen, ihn entweder zu unterdrücken, auszustoßen oder doch noch irgendwie einzubinden. Gelingt ihr das nicht, wird er irgendeinmal aufhören, sich mit ihr zu identifizieren.
2. Umorientierung Sein Blick schweift also nach auswärts. Der bislang hingenommene Kosmos wird gleichsam fadenscheinig. Der religiöse Schub, den der Suchende erfahren hat, lässt ihn sich nun auch gegenüber religiösen „Anders-Gruppen" öffnen, dies geschieht auf zweierlei Weise: Er setzt sich mit deren Heilvermittlungsangebot auseinander, was sich zunächst als rein intellektuelles Interesse maskieren kann, und er tritt, mehr oder weniger zufällig, auch mit Vertretern solcher Gruppen in Kontakt, die ihm, nachdem sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat, als Paten („signifikante Andere") beim Eintritt in ein neues Leben dienen können.31 Eine deutsche Frau sucht etwa per Zeitungsannonce nach einem Arabischlehrer, den sie dann heiratet und der sie in der Folge zum Islam bekehrt. 32 Die „Jugendreligionen" missionieren gezielt unter den „Rucksacktouristen", jungen Leuten, die sich zeitweilig ihrer sozialen Einbindung entledigt haben und nach neuen, vielleicht spirituellen Erfahrungen suchen.33 Es hängt wohl vom jeweiligen Temperament ab, ob der intellektuelle oder der emotionelle Zugang zur religiösen „Anders-Gruppe" entscheidend wird. 3 4 Der Begriff „Anders-Gruppe" 35 trennt freilich nicht scharf zwischen den drei Konversionsarten, Berufung, Erweckung und Übertritt, können doch auch Sondergruppen der eigenen Religionsgemeinschaft unter Anders-Gruppen verstan-
30 s. die Berichte in James, Religious Experience und Knoblauch/Krech/WohlrabSahr (Hrsg.), Religiöse Konversion. - Die Massenkonversion, die der Revivialismus bevorzugt (s. Anm. 21), ist hier kein Gegenargument: Massenverhalten bedeutet ebenfalls ein Heraustreten aus den Bindungen sozialer Gruppen. 31 s. Anm. 21. 32 Wohlrab-Sahr , Konversion zum Islam, S. 132ff. 33 van Delden , Jugendreligionen, S. 21 Off; s. den Erlebnisbericht von v. Hammer stein, Ich war ein Munie, bes. S. 37. 34 D.h. also von der jeweiligen Affinität zum „Ideencharisma" bzw. zum „Personalcharisma"; s. dazu Gebhardt, Charisma und Ordnung. 35 Er stammt von Sumner, Folkways, §§ 13-15. Hier wird "others-group" als Gegenbegriff zur Eigengruppe ("we-group") gebraucht. Er ist insofern relativ und hängt davon ab, wie die Eigengruppe bestimmt wird.
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den werden. Die drei Konversionsarten differenzieren sich indes auf einer Skala sozio-kultureller Distanz. Bei der Erweckung ist diese Distanz am geringsten; bei der Berufung kommt es bereits zur institutionalisierten Trennung von der bisherigen Umgebung, welche sich beim Übertritt noch radikalisiert: Dieser kann die völlige Trennung von der eigenen Sprache, Kultur und Herkunft nach sich ziehen.36
3. Das Konversionserlebnis Der Wendepunkt, an dem die geistig-soziale Metamorphose stattfindet und sich das Schwergewicht vom alten auf das neue Leben verlagert, ist als subjektives Erleben nur mittelbar, vor allem über Erzählungen, zugänglich. Spektakulär und daher gut erforscht sind die plötzlichen, oft für den Betroffenen selbst überraschend kommenden Konversionserlebnisse. Graduelle Konversionen, wo sich das Erlebnis des Mit-Sich-Einswerdens der zuvor uneins gewesenen Persönlichkeit über einen längeren Zeitraum verteilt und daher schwerer zu fassen ist, haben manches mit der auch sonst stattfindenden Persönlichkeitsbildung Heranwachsender gemein; 37 man könnte sie als Persönlichkeitsbildung mit dominanter religiöser Komponente definieren. Ein graduelles Konversionserlebnis ist besser zu steuern als ein plötzliches und stellt daher die von durchinstitutionalisierten Religionsgemeinschaften wie der katholischen Kirche 38 bevorzugte Variante dar. Die protestantische Erweckungsreligiosität (Revivialismus), welche über den Methodismus und die Böhmischen Brüder auf mittelalterliche Massenreligiosität zurückgeht, sieht in der plötzlichen Konversion dagegen gerade die Gewähr für einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Gläubigen und Gott. 39 Das Überraschungsmoment lässt hier eine übernatürliche Einwirkung plausibel werden und wird so zum Anhaltspunkt für die ersehnte Heilsgewissheit.40 Diese plötzliche Konversion wird als ein Ergriffenwerden erfahren, zu dem man selbst nichts aktiv beiträgt. Sie ist mit einer auch äußerlich bemerkbaren emotionellen Erschütterung verbunden. Bei der Bekehrung des Paulus manifestierte sich diese etwa in Niederstürzen, „Zittern und Zagen" und zeitweiliger Erblindung, wozu als inneres Erleben eine Lichterscheinung sowie die Stimme
36 s.a. Anm. 14 - s. zum Übertritt Wilson, Becoming a Yogi; van Delden , Jugendreligionen; Wohlrab-Sahr, Konversion zum Islam; Wohlrab-Sahr/Krech/Knoblauch, Religiöse Bekehrung, S. 14f. 37 James, Religious Experience, S. 198, S. 203. 38 Stark , Sociology of Religion, Bd. 4, Types of religious Man, S. 251. 39 James, Religious Experience, S. 228ff; s. auch Anm. 14. 40 James, Religious Experience.
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des Herrn kam. 41 In der Phänomenologie des Konversionserlebnisses finden sich diese Momente immer wieder; es wäre noch zu untersuchen, inwieweit sie auf das biblische Vorbild zurückgehen oder sich auch in anderen religiösen Traditionen vorfinden. 42 Der eigentliche Erlebniskern der Konversion scheint inkommensurabel mit allem Bisherigen und damit unsagbar zu sein. In Konversionserzählungen äußert sich dies in Stocken, Stottern, Wiederholungen, Abbrechen, metaphorischen Umschreibungen. 43 Seelsorger und Theologen haben sich schon seit jeher mit dem Konversionserlebnis befasst, sei es um dieses zu steuern, sei es, um das Echte von Unechten oder Psychopathologischen zu unterscheiden. Der Puritaner Jonathan Edwards hat die moderne Hermeneutik der Konversionserzählung schon 1746 vorweggenommen: Das Urerlebnis ist ihm zufolge ein „konfuses Chaos", aus dem in der Folge jene Teile durch häufiges Darandenken und Darüberreden verstärkt werden, die dem sozial akzeptierten Schema der Konversion entsprechen, während die übrigen Teile nach und nach verblassen. 44 In modernen Konversionserzählungen fällt die für die Plötzlichkeit und Unbeschreibbarkeit des Urerlebnisses gebrauchte physikalistische Metapher des „Klickens" auf: „Es hat einfach total geklickt"; „Und es machte klick, ich hörte n Vogel singen ne?" 45 Dieser „Klick" besagt wohl, dass hier vormals disparate, aber zusammenpassende Partien des Selbst ineinander einrasten. Ähnlich physikalistisch war auch schon die Analyse James': Im Konversionsakt werde das Energiezentrum der Persönlichkeit religiös aufgeladen; herum kristallisierten sich dann schon vorhandene Ideen, Gefühle, Glaubensvorstellungen in einer neuen Konfiguration. 46 Für gra41
Apg. 9, 1-9. Christliche, jüdische und nichtchristliche Konversionen scheinen aus einem gemeinsamen anthropologischen Fundus zu schöpfen, was noch näher nachzuweisen wäre. So besteht eine innere Verwandtschaft zwischen der buddhistischen „Erleuchtung" und den christlichen Lichterfahrungen (Photismen; s. zu letzteren James, Religious Experience, S. 25Iff.). 43 Ulmer , Konversionserzählungen, S. 26f. 44 „Very often their (der Bekehrten) experience at first appears like a confused chaos, but then those parts are selected which bear the nearest resemblance to such particular steps as are insisted on; and these are dwelt upon in their thoughts, and spoken of from time to time, till they grow more and more conspicuous in their view, and other parts which are neglected grow more and more obscure. Thus what they have experienced is insensibly strained, so as to bring it to an exact conformity to the scheme already established in their minds. And it becomes natural also for ministers, who have to deal with those who insist upon distictness and clearness of method, to do so too" (Jonathan Edwards: Treatise on Religious Affections (1746) zit. n. James, Religious Experience, S: 204). 45 Krech/Schlegel , Auf der Suche nach dem ,wahren Selbst4, hier S.170, S. 171 (unter Weglassung der Transskriptionszeichen). Es handelt sich hierbei um deutsche Konvertiten zur Neo-Sannyas-Bewegung. Weitere Fallschilderungen in van Delden , Jugendreligionen. 46 James, Religious Experience, S. 200ff. 42
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duelle Konversionen scheinen hingegen eher biologistische Metaphern, neben Tod und Wiedergeburt etwa auch die des Wachstums oder der sexuellen Vereinigung, verwendet zu werden. 47 Jedenfalls fühlt sich der Konvertit nun wieder heil, als „neuer Mensch". 48 Diese Rundumerneuerung wird von ihm zwar enthusiastisch begrüßt, zerstört aber auch seine ja ohnehin schon prekäre Anpassung an die bisherige Umgebung. Dieselbe erscheint nunmehr als das Alte, Überwundene, in einem negativen Licht, der bisherige Kosmos zerfällt und der neue Mensch beheimatet sich in einem neuen Kosmos. In den Worten Peter Bergers und Thomas Luckmanns werden die bislang gültigen nomischen Strukturen und Plausibilitätsstrukturen demontiert und an ihrer Stelle neue aufgebaut. 49
4. Verrat und Zudringlichkeit Von einem bekannten jüdischen Intellektuellen wird gesagt, er habe zum Abschied vom Väterglauben am Grabe des Großvaters unter Tränen ein Schinkenbrot verzehrt. 50 Ein Konvertit zum Judentum, der gefragt wird: "Wie war es?" antwortet: "Sehr unangenehm."51 Es fällt demnach nicht leicht, zu konvertieren. Die Konversion ist ja nicht nur eine persönliche Metamorphose, sie ist auch eine Bewegung im sozialen Raum, die dem Spiel sozialer Kräfte unterliegt. Freiwillige Mobilität wird von den Zurückgelassenen als Verrat empfunden. Warum hat man sich nur von ihnen entfernt? Besonders schlimm ist dies für Religionsgemeinschaften, deren Heilsangebot damit verschmäht wird. Die bisherige Umgebung sucht also den Sich-Entfernenden zurückzuhalten oder, wenn es ihr nicht gelingt, als Überläufer zu diffamieren. Aber auch er selbst befreit sich nur schwer von den alten Loyalitäten, wobei gerade die zur Familie religiös sanktioniert sind. Nicht minder zäh geht die Loslösung von unerwünschten alten Gewohnheiten. Hat man sich endlich losgerissen, bleibt ein Rest von schlechtem Gewissen und Bedauern zurück. 52
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Das ist ein Eindruck, den ich noch exakt belegen müsste. „The sincere Christian is quite a new fabric, from the foundation to the top-stone. He is a new man, a new creature" (Joseph Alleine, zit. n. James, Religious Experience, S. 230). 49 Berger/Luckmann , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 167ff. 50 Gemeint ist Isaac Deutscher. Persönliche Mitteilung von Dan Diner. 51 Eine Wanderanekdote. 52 Ein gutes Beispiel bietet der konvertierte und nobilitierte Jude Don Isaak Abarbanel in Heinrich Heines Der Rabbi von Bacharach, der durch die Küchengerüche seiner Kindheit in die Judengasse gezogen wird und seinem Jugendfreund, dem Rabbi, erklärt: „Ich liebe eure Küche weit mehr als euren Glauben. ... Euch selber habe ich nie verdauen können." (Kapitel III). 48
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Aus eben dem Grunde nimmt die neue Umgebung den sich zu ihr Hinbewegenden keineswegs mit offenen Armen auf. Er wird verdächtigt, die alten Bindungen nicht ganz gekappt zu haben und damit den neuen gegenüber nicht ganz loyal zu sein. Daher gewährt man ihm zunächst nur eine eingeschränkte Zugehörigkeit, den Status eines bloßen Anwärters auf die Vollmitgliedschaft. 53 Übergangszeiten, Übergangsräume, Übergangsrollen haben den Sinn, den Anwärter sowohl von der alten wie von der neuen Umgebung zu isolieren, ihn auf seine Kompatibilität mit der neuen Umgebung hin zu über überprüfen und auf deren „Wirklichkeitsbestimmungen" 54 zu verpflichten. Ist die Überprüfung des Neuhinzugekommenen zu lax, besteht die Gefahr, dass er zu viel aus seiner alten Umgebung mit einschleppt.55 Für den Überprüften ist dies mit mancherlei Zurücksetzungen, Unannehmlichkeiten und Extraleistungen verbunden. Diese nimmt er aber hin, um endlich voll akzeptiert zu werden. Doch auch damit kann er wieder zu weit gehen, nämlich durch Überidentifikation, die von den Alteingesessenen als Zudringlichkeit empfunden wird. Das Wort Konvertit hat ja auch etwas Abschätziges. Solange jemand als Konvertit etikettiert wird, bleibt er eben doch nur ein Neuhinzugekommener. 56 Man spricht hier auch von „Konvertiteneifer". Die religiöse Tradition, in der er nicht aufgewachsen ist, muss sich der Konvertit erst sekundär aneignen. Um nichts falsch zu machen wird er besonders observant, „päpstlicher als der Papst". Die für ihn neuen Glaubensinhalte kennt er meist gründlicher und vor allem systematischer als die in ihnen Aufgewachsenen. Damit kann er diesen ziemlich auf die Nerven fallen. Für den Konvertiteneifer typisch ist, dass der eben erst Bekehrte sogleich wieder andere zu bekehren sucht, gleichsam als wolle er sich an deren Beispiel stets von neuem davon überzeugen, selber den richtigen Schritt getan zu haben. Konvertit und Missionar sind wesensverwandt. Die Konversion ist eine Bewegung gegen die soziale Schwerkraft, sie hat die Anziehung durch die alte und dazu die Abstoßung durch die neue Umgebung zu überwinden. Daher verlangt sie besondere Energie. Diese Energie, die für die bestehenden Verhältnisse destruktiv werden könnte, wird durch „Übergangsrituale" kanalisiert und so der sozialen Kontrolle unterworfen. Solche Rituale steuern in allen menschlichen Gesellschaften Bewegungen im sozialen Raum wie in der sozialen Zeit und erlauben es damit den sozialen Gebilden, trotz 53
Vgl. Emge , Der Einzelne und die organisierte Gruppe. Berger/Luckmann , Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 170. 55 Das ist der Zweck des Noviziates in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen. 56 Das kann sogar generationenlang dauern, wie die „Conversos" in Spanien zeigen, unter Druck zu Christen gewordene Judenfamilien, denen man weiterhin misstraute. Dass dies vom Standpunkt der Altchristen nicht ungerechtfertigt war, beweist das Parallelphänomen des Marranen- oder Kryptojudentums. Gerade das Beispiel der Juden zeigt, dass trotz scheinbarer Vollmitgliedschaft die gruppenfremde Herkunft im Konfliktfalle wieder „ausgegraben" und „aufgewärmt" werden kann. 54
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dieser Bewegungen ihre Identität zu bewahren. 57 Übergangsrituale gliedern sich in drei elementare Schritte: Erstens Riten der Abtrennung, die frühere Zugehörigkeiten demonstrativ beenden, zweitens Riten des Zwischenzustandes, die geltende soziale Bindungen zeitweilig suspendieren, um Gelegenheit für Persönlichkeitstransformationen und kulturelle Neubildungen zu schaffen, und drittens Riten der Angliederung, die neue Zugehörigkeiten ratifizieren. 58 Es wird aufgefallen sein, dass sich dieselben drei Phasen in den Konversionserzählungen und im realen Konversionsgeschehen wieder finden. Das Konversionserlebnis repräsentiert dabei den Zwischenzustand, der durch den Rückzug aus der bisherigen Umgebung eingeleitet und durch die Einschränkung der Zugehörigkeit zur neuen Umgebung prolongiert wird. In diesem Zwischenzustand kann sich das ansonsten fester eingebettete seelische Geschehen verflüssigen, die Metamorphose vollziehen und die aufgewandte Energie eine neue Bahn suchen.
5. Heiligung und Rückfall Konversion als subjektives Erleben bedeutet nicht viel. Die Metamorphose, die stattgefunden hat, muss verfestigt werden, da sie sich sonst leicht wieder verflüchtigt. Erst mit dem Anschluss an eine „ecclesia" kann der frühere Saulus „Paulus bleiben". 59 Darum fasst der Konvertit Entschlüsse und setzt Handlungen, die ihm die erste Hochstimmung über den getanen Schritt erleichtert und die sein künftiges Sein und Tun bestimmen sollen: Abbruch alter Loyalitäten, auch der zur Familie, Abwerfen von Ballast wie soziale Stellung und Besitz, Aufgabe nicht erwünschter Gewohnheiten.60 Er verbaut sich damit die Rückkehr. Solche Riten der Abtrennung werden ergänzt durch Angliederungsriten wie die Proklamation der eigenen Bekehrung - Keimzelle der Konversionserzählung - und Annahme der Konvertitenrolle („Zeugnis ablegen").61 Manchen Neubekehrten trägt die Gewalt seines Erlebens von nun an gleichsam selbsttätig
57 Entdeckt wurden sie von Arnold van Gennep in seinemrichtungsweisendenWerk Les rites de passage. 58 van Gennep, Les rites de passage; vgl. auch Stagl, Übergangsriten und Statuspassagen. 59 Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 169; s.a. Anm. 14 und 26. 60 Zur Bedeutung der Gewohnheiten s. Anm. 52. Zu den Gewohnheiten zählt auch Sucht; die Selbstbefreiung von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen hat etwas Konversionsartiges, wobei die Religion - oder die „unsichtbare Religion" im Sinne Luckmanns - gleichsam die stärkere Droge ist, die die schwächere austreibt; vgl. Knoblauch, Bekehrung zum Nichtrauchen? 61 So macht für Augustinus nicht die intellektuelle Annahme der christlichen Wahrheiten die Bekehrung zum Christentum aus, sondern der Kirchenbesuch, das öffentliche Bekenntnis (Confessiones VIII, 2).
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durch das Leben. Unter diesen sind die Heiligen und Märtyrer. Heiligkeit heißt Aufopferung des profanen Selbst und dauerhafte Rekonstitution der Persönlichkeit unter dem Primat des Religiösen; dies holt aus dem Betreffenden sein Äußerstes heraus und setzt bislang unvermutete Energien und Leidensfähigkeit einschließlich der zum Martyrium 62 frei. Der Heilige erwirbt Charisma, das ihn zum Führer und Vorbild anderer befähigt. 63 Doch selbst der Heilige bedarf der Unterstützung durch die neue Bezugsgruppe, umso mehr noch die weniger heroische Mehrzahl der Neubekehrten. Bei der Berufung und beim Übertritt ist die ecclesia eine organisierte Gemeinschaft, die ihnen den Kontroll- und Schutzraum der eingeschränkten Mitgliedschaft (Noviziat) und in der Folge klar definierte Rollen bereitstellt. Die neugewonnene Identität kann sich hier etwa anhand eines Wechsels des Namens, der Kleidung, der Rechte und Pflichten stabilisieren. Problematischer ist dies bei der Erweckung, wo den Neubekehrten nur ein lockeres Netzwerk anderer Erweckter mit mehr oder minder informellen Hilfs- und Sanktionierungsmitteln erwartet. Dieser muss also in verstärktem Maße selbst an seiner Heilung (sanctification) 64 arbeiten. Bei allen drei Bekehrungsformen aber ist die Arbeit an sich selbst niemals abgeschlossen. Als eine Bewegung gegen die soziale Schwerkraft bleibt jede Konversion der Gefahr des Rückfalls ausgesetzt. „Erweckte" können wieder in „Schlaf verfallen", eine Wiedergeburt garantiert noch nicht, dass das neue Leben besser genützt wird als das alte. Ein Leben in Heiligung ist darum immer prekär. Die Heilsarmee empfiehlt etwa folgende Mittel gegen einen Rückfall: Zeugnis ablegen, also öffentliche Selbstverpflichtung, Gebet, also Erneuerung der Ausrichtung auf Gott, Auswahl der Freunde, also ein konstruierter statt einem gewachsenen Umgang, und schließlich Mission. 65 Wenn sich die neugewonnene Identität dank solcher Mittel verfestigt hat und die Rückfallgefahr mehr oder weniger eingedämmt ist, können auch die Beschränkungen der Außenbeziehungen fallen, ja solche zur früheren Bezugsgruppe wieder aufgenommen werden. 66 Missionierende ecclesiae verdanken
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Hier gilt aber nicht der Umkehrschluss. Heilige sind potentielle Märtyrer, diese aber nicht immer potentielle Heilige. Die frühchristliche Kirche musste wiederholt gegen den Andrang zum Martyrium warnen. Das Martyrium kann der Ausweg des „Rasenden" sein, „der nichts zu hoffen hat, als ein geringes Dasein erhaben aufzugeben" (Schiller, Don Carlos, 3. Akt, 4. Auftritt). 63 s. etwa Lipp, Charisma - Schuld und Gnade; zur Heiligung und Heiligkeit James, Religious Experience, Lectures X I - X V . 64 James, Religious Experience; s. a. Warburton, Organisation and Change. 65 Robertson, The Salvation Army, S. 63. 66 Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 169.
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dem auf solche Weise stabilisierten und gelenkten Konvertiteneifer ein Gutteil ihrer Vitalität. 67
V. Ausblick Die Konversion ist das Äquivalent der Initiation unter Bedingungen höherer sozio-kultureller Komplexität. 68 Statt in eine observanzreligiöse Stammesgemeinschaft fuhrt die Konversion aber in eine charismatisch gestiftete Glaubensgemeinschaft; sie ist damit stärker individualisiert. Mit den Initiationsritualen hat sie indes die Drei-Phasen-Sequenz gemeinsam, die den sozialen Wandel kontrollierbar machen soll - wenn schon nicht objektiv, dann doch subjektiv. 69 Ähnelt sie hierin der Aufnahme in partikulare Gemeinschaften, so passt sich die Konversion mit ihrer Individualisierung der Drei-Phasen-Sequenz doch auch den „sekundären Religionen" an, die sich an jeden Einzelnen richten. Aus diesem religiösen Universalismus ist in der Moderne der Universalismus weltanschaulich-politischen Ideologien wie des Positivismus oder des Marxismus hervorgegangen, welche den sozialen Wandel nicht bloß subjektiv bewältigen, sondern objektiv steuern möchten. Es fragt sich damit, ob und inwieweit die Bekehrung zu solchen Ideologien sich von der zur sekundären Religion unterscheidet. Zunächst ist zu sagen, dass die Ideologien gleichfalls Gebrauch von der vielseitig verwendbaren - Drei-Phasen-Sequenz machen, welche sie gleichsam großschreiben, indem sie sie auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit übertragen. Sie haben nämlich aus dem jüdischen Messianismus das Denkschema der „Dreistadiengesetze" übernommen, die das Insgesamt der Geschichte zu gliedern und deren Verlauf vorherzusagen beanspruchen. Dreistadiengesetze unterscheiden zwischen einem vergangenen oder doch vergänglichen alten Stadium der Unfreiheit und Not, einem „messianischen" Zwischenstadium der Befreiung und einem in Zukunft zu erwartenden neuen Stadium der Freiheit und Fülle. 70 Beim Positivismus wird die messianische Befreiungsaufgabe von der geistigen Macht des Stifters Auguste Comte und seiner Lehre, beim Marxismus von der Weltrevolution und der Lehre ihres „Geburtshelfers" Karl Marx über-
67 s. etwa Stark , Sociology of Religion, Bd. 2, Sectarian Religion und Bd. 3, The Universal Church, Part 2, "Revolutionary Aspects of the Universal Church". 68 Als Übergangsform lässt sich die Einweihung in die antiken Mysterienkulte ansehen. 69 s. dazu Müller , Das magische Universum der Identität. 70 s. dazu Manuel , Frank E., Shapes of Philosophical History; Manuel , Frank EJManuel , Fritzi, Sketch for a Natural History.
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nommen.71 Beide Ideologien verstehen sich als rein innerweltliche, wissenschaftliche Lehren, um die sich aber Weltanschauungsgemeinschaften mit politischen Bewegungen - ecclesiae - gesammelt haben.72 Noch in einer anderen charakteristischen Hinsicht unterscheiden sie sich von den Kirchen der Universalreligionen: Diese beanspruchen den Sinn des Weltganzen bereits zu kennen und gründen eben darauf ihr Erlösungs- und Heilsangebot, jene aber rechnen im Wissen um die ständig weiterwachsende Komplexität der modernen Gesellschaft mit einer „aus dem Erwartungshorizont aller bisherigen Erfahrungen freigesetzten Zukunft", 73 einer Zukunft, die sie trotzdem durch die Erkenntnis der Bewegungsgesetze des sozialen Wandels unter Kontrolle bringen wollen. 74 Hierzu gibt es wiederum zwei Grundhaltungen, die sich abermals durch den Positivismus und den Marxismus exemplifizieren lassen: Ersterer fürchtet die freigesetzte Zukunft und möchte sie „durch Prognose und Planung domestiziert ... nur noch als integrierte ,Unruhe' im Uhrwerk des etablierten Systems" gelten lassen,75 während sie letzterer als Erlösung von der schlechten alten Zeit enthusiastisch willkommen heißt. Insofern sich um beide Lehren Glaubensgemeinschaften - ecclesiae - gebildet haben, entspricht ihre Annahme, wie ja auch James erkannt hat, 76 einer religiösen Konversion. Freilich mit einer signifikanten Einschränkung: Als innerweltlich-wissenschaftliche Lehren appellieren sie vor allem an die Vernunft, negieren also ein übernatürliches Ergriffenwerden im Konversionserlebnis und legen weniger Wert auf eine Persönlichkeitstransformation. Dennoch bedeutet die Annahme dieser Lehren eine Lebensänderung und verlangt somit die Loslösung vom Alten, die Umkehr und den Anschluss an eine neue ecclesia, wobei diese drei Phasen der Konversion des Einzelnen mit den drei universalhistorischen Phasen synchronisiert sind. Das für diese Lehren konstitutive Bewusstsein weiterwachsender sozio-kultureller Komplexität bei freigesetzter Zukunft hat mittlerweile über die ideologischen ecclesiae hinausgehend, auch den Bereich der Religionen im eigentlichen Sinne erfasst; die Folge ist deren
71 s. dazu etwa Tenbruck, Die unbewältigten Sozial Wissenschaften. - Comte sah sich selbst als einen durch seine Leiden - seinen Wahnsinnsanfall und die Verfolgung durch die Pariser Gelehrten - legitimierten Heilsbringer für die Menschheit. Er hatte die „moralische Revolution", die die Menschheit noch durchzumachen haben würde, bereits an sich selber vollzogen Pickering, Aguste Comte, S. 245). Die Literatur zum Messianismus bei Marx ist Legion, s. etwa Topitsch, Marxismus und Gnosis. 72 Den religiösen Charakter des Sozialismus kennt man schon längst, s. etwa Pareto, Les systèmes socialistes. Zum Positivismus s. etwa Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften. 73 Pankoke, Sociale Bewegung, S. 44. 74 So in der „sozialen Dynamik" bei Comte und der Revolutionslehre von Marx. 75 Pankoke, Sociale Bewegung, S. 46. 76 s. Anm. 15.
Zur Soziologie der Konversion
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beginnende Entinstitutionalisierung zur Privatreligiosität, zur „unsichtbaren Religion". 77 In diesem Zwischenbereich zwischen Ideologie und Religion lassen sich zwei Formen modernen Konvertierens ausmachen, die den beiden Grundhaltungen zur freigesetzten Zukunft entsprechen. Es sind dies die Bekehrungen zu fundamentalistischen und zu weltanschaulich-lebensreformerische-esoterischen Bewegungen. Bei den Fundamentalismen ähnelt die Konversion dem bisher aufgezeigten Muster, führt indessen von der Freiheit zur Gebundenheit und vom Universalismus zum Partikularismus. Dagegen führt die Konversion zum „New Age" und anderen modernistischen Religiositätsformen in ein lockeres Netzwerk mehr oder weniger Gleichgesinnter, jedoch nicht ganz mit dem von dem universalistischen Erlösungsreligionen verlangten Ernst, vielmehr experimentell und gleichsam auf Widerruf. So kann auch schon das Shoppen am Esoterikmarkt etwas Konversionsähnliches annehmen, wie im Falle des Popstars Madonna, die die Wirkung der von ihr besuchten und finanzierten „Kaballa-Kurse" (so heißen sie wirklich!) als „revolutionär" bezeichnet, da sie dadurch ja, in den Worten ihrer Gurus, zur „phantastischen Mutter" und „wunderbaren Ehefrau" transformiert worden sei. 78 Bei aller Gegensätzlichkeit haben beide Konversionsformen das eine gemeinsam: Sie führen vor allem von etwas weg und weniger zu etwas hin, sind also „sekundäre Konversionen". 79 Beide reagieren auf die freigesetzte Zukunft, die eine, indem sie ihr den Rücken kehrt, die andere, indem sie optimistisches Vertrauen in sie setzt. Beide entsprechen überdies eher dem Typus Erweckung als dem der Berufung und des Übertritts, 80 die damit freilich nicht verschwinden, sondern nur an relativer Bedeutung verlieren. Zusammenfassend aber kann man sagen, dass mit der Ausbreitung der Ideologien und der Privatisierung der Religionen das alte menschliche Bedürfiiis nach Metamorphosen wiederum neue Formen anzunehmen beginnt.
77
Vgl. Anm. 9. F.A.Z. v. 26.05.2003, S. 9. 79 Zu diesem von Diner geprägten und bisher nur in einem Symposion in Leipzig, 22.-25.11.2003 vorgestellten Begriffbereite ich einen gesonderten Artikel vor. 80 Fallstudien etwa bei Stenger, Höher, reifer, ganz bei sich, sowie Gärtner, Konversion in der rationalisierten Gesellschaft - James' Gleichsetzung der Erweckung mit der Konversion überhaupt hatte insofern etwas Prophetisches. In der Erweckungsreligiosität konstatierte er die „adequacy of (Luther's) view of Christianity to the deeper parts of our human mental structure" (James, Religious Experience, S. 245). Ob sich dies wirklich von heute auf alle Zukunft extrapolieren lässt, bleibe dahingestellt. 78
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Reflexive Modernisierung von Bildung Alois Brandenburg
I. Einleitung Verfolgt man die theoretische Diskussion des Bildungsbegriffs, so zeigt sich diese deutlich als eine Form der Selbstvergewisserung pädagogischen Handelns. Es gibt kein Konzept, mit dem über Jahrhunderte hinweg und durch alle Theoriekonjunkturen hindurch ein breiteres Bachbett für vielfältige und wechselnde Themen erziehungswissenschaftlicher Reflexion ausgehoben worden wäre. Diese oft kritisierte Diffusheit und Unschärfe von „Bildung" ist die Voraussetzung der Offenheit fundamentaler pädagogischer Zielbestimmung für wechselnde Interpretationen und damit für die Historizität der Theoriebildung. Der unausweichliche Rückgriff auf die historisch aufgeschichteten erziehungswissenschaftlichen Deutungsbestände erfolgte überwiegend anhand hermeneutischer Methoden, ergänzt durch den Blick auf die „Institutionen" und Realbedingungen von Lernprozessen, vermittelt durch psychologische, soziologische und politikwissenschaftliche Beschreibungen. Damit liegen auch zahlreiche pädagogische Rekonstruktionen des Bildungsbegriffs vor, in die Paradigmen, Daten und Modelle der Soziologie Eingang gefunden haben. Das soziologische Interesse an Bildung bezieht sich ebenso auf die Theorie wie auf die Praxis des Phänomens. Überblickt man den bislang untersuchten Zusammenhang von Bildung und Gesellschaft, angefangen vom Habitus des Bildungspersonals über die Interaktion des Lernens bis hin zur Organisation der Bildungseinrichtungen und zum gesellschaftsstrukturellen Hintergrund und konzentriert sich auf die für Gesellschaftstheorie ergiebigen bildungssoziologischen Fragestellungen, so lassen sich die folgenden Ansatzpunkte herausarbeiten: 1. Das Bildungskonzept kann in seiner jeweils zeitgebundenen Semantik und begrifflichen Bewegung in Bezug zu den Akteuren gesetzt werden, die an seiner Produktion, Rezeption und Verwendung beteiligt sind - der Erziehungswissenschaft, den Lehrenden und Theorie - Konstrukteuren und nicht zuletzt den durch Bildung privilegierten Sozialschichten: Augenfällig ist in wissenssoziologischer Betrachtung immer wieder die Schlüsselstellung des Bürgertums. 2. Die eminente Bedeutung von Bildung für die gesellschaftliche Positionierung und Statuslegitimation sowie die ideologielastige Selbstbeschreibung des
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Bürgertums bilden den theoriegeschichtlichen Boden für die Frage nach dem Wandel der Bildungsbeteiligung und seiner Folgen für den gesellschaftlichen Statusaufbau. Die Forderung nach zunehmender Inklusion bildungsferner Bevölkerungsschichten in Bildungsprozesse sowie die Einlösung dieses Anspruchs sind ein weiterer herkömmlicher Schwerpunkt der soziologischen Untersuchung von Bildung. 3. Das Erreichen von projektierten und erwarteten Zielen der Bildungsinklusion ist nicht politisch zu erzwingen, sondern hängt davon ab, dass Bildung als erreichbar und lohnend bekannt ist und nicht abschreckt. Die wichtigsten politischen Instrumente sind entsprechend auch Maßnahmen zur Beseitigung von Bildungsbarrieren sowie Werbung und Information. Tempo und Ausmaß der Bildungsinklusion sind einerseits abhängig von der Einschätzung des Bedarfs an qualifizierten Personen und dem Stellenwert von Bildung im zwischen- wie innerstaatlichen politischen Wettbewerb, darüber hinaus aber auch von der Erzeugung ausreichender Bildungsbereitschaft. Dabei macht es einen Unterschied, ob Bildung seitens der Bildungsaspiranten ausschließlich in ihrem Tauschwert für ökonomischen Nutzen und Reputation gesehen wird oder auch als Sinnhorizont, aus dem Welt- und Selbstdeutungsmuster gewonnen werden können. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bildung in der Bundesrepublik unter den Kriterien der Expansion, Partizipation und Effizienz diskutiert. Das Ziel der Förderung von Allgemeinbildung und die Frage, was darunter zu verstehen sei, trat demgegenüber zurück. In der Pädagogik wurde sogar gelegentlich ein „gründliches Vergessen" des Bildungsbegriffs empfohlen. 1 Bereits in den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts zeichnete sich in der Erziehungswissenschaft ein vehementes Interesse an der Neubestimmung des Bildungsbegriffs und an Bildungstheorie generell ab. Die folgenden Überlegungen beziehen sich zunächst auf die Frage nach der Relevanz der modernen Bildungsexpansion für die Inklusion bildungsdistanzierter Schichten: Bildung als Medium sozialer Integration. Tempo und Charakter der Bildungsexpansion haben weiterhin Auswirkungen auf das theoretische und praktische Verständnis von Bildung selbst. Deshalb soll anschließend geprüft werden, wieweit gegenwärtige Interpretationen dieses Begriffs sowohl der gesellschaftlichen Bestimmtheit lernender Personen als auch eines auf soziale Integration angewiesenen Gesellschaftssystems entsprechen. Dabei wird exemplarisch auf den Bildungsbegriff der Pisa-Studie eingegangen, in dem sich ein die öffentliche Diskussion bestimmendes Verständnis ausdrückt.
1
So u.a. bei v. Hentig, Bildung, sowie Tenorth (Hrsg.), Allgemeinbildung.
Reflexive Modernisierung von Bildung
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II. Bürgerliche Bildung zwischen Ideal und Utopie Der gegenwärtige wissenschaftliche Bildungsdiskurs geht überwiegend noch von der Interpretation aus, wie sie in der neuhumanistischen Fassung eines Wilhelm von Humboldt um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formuliert worden ist. Kernpunkt dieser Konzeption ist die Vorstellung des allgemein und umfassend gebildeten Menschen, der seine geistigen Kräfte eigenständig entfaltet, indem er soviel Welt als möglich in sich zu vereinen sucht. „Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen."2
In dieser aus „Freiheit" ebenso wie in Konfrontation mit einer „Mannigfaltigkeit der Situationen" erwachsenden Verfassung erscheint der Lernende zunächst als individuelles Handlungssubjekt, das sich Welt und Kultur zu eigen macht, „sich anverwandelt" und dadurch aus „vollständiger Individualität" schöpferisch auf Welt und Kultur zurückwirkt und zum Fortschritt der Gesellschaft beiträgt. 3 Trotz der Ableitung der Bildungsidee aus dem „Gesetz der Vernunft" versteht der Neuhumanismus Bildung nicht einseitig rationalistisch. Die Ausgewogenheit der an Weltaneignung beteiligten Kräfte wird weniger durch Orientierung an den Idealen der Aufklärung angestrebt als an Vorstellungen, wie Friedrich von Schiller sie in den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen"4 formuliert hat: Die Vergeistigung des Sinnlichen und die Ästhetisierung des Geistigen. In dieser Auffassung sind Impulse der Aufklärung, insbesondere in Form der Kritik vernunftbeschränkender Herrschaft, kaum auszumachen. Von anderen, etwa von J. G. Herder 5, wurde hingegen hervorgehoben, dass Bildung zuallererst Vernunftgebrauch bedeute sowie die Abwehr von allem, was deren Anwendung behindere. Im weiteren Verlauf des Begriffsdiskurses trat zunehmend die Bedeutung von Bildung als Voraussetzung der Emanzipation aller Menschen hervor, als geistiges Agens, aus dem in Verbindung mit gesellschaftlichem Handeln, herrschaftsbasierte Denkeinschränkungen und gesellschaftliche Ungleichheit beseitigt werden könnten. Bildung wurde soziologisiert, indem sie die Idee der Widerständigkeit der Individuen gegen diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse aufnahm, die ungleiche Lernchancen perpetuieren. In dieser Fassung des Bildungsbegriffs verbinden sich Individualität, Vielseitigkeit und Freiheit als Mo-
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v. Humboldt , Grenzen, S. 22. v. Humboldt , Bildung des Menschen, S. 286. v. Schiller, Werke. Herder, Geschichte der Menschheit.
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mente der Überwindung ebenso von utilitaristischen wie von klassenspezifischen Einstellungen. Bildung als Aufklärung, in großer Konsequenz artikuliert in Adornos Kritik der Halbbildung 6 sowie mit pädagogischem Bezug in den Schriften H.-J. Heydorns 7, gehörte schon in der Klassik des Bildungsdiskurses zum semantischen Kernbestand, freilich in den Grenzen der damals zugänglichen Gesellschaftskategorien: Bildung für alle , zumindest als elementare, organisiert in einem Freiraum jenseits gesellschaftlicher Interessen und politischen Drucks. In deutlicher Abgrenzung gegen das ihm wohlbekannte, im Paragraphen I des Allgemeinen Preußischen Landrechts niedergelegte, auf die soziale Herkunft verweisende Verständnis von „Personalität" synthetisiert Humboldt individuelle Besonderheiten und die Orientierung an den universalistischen Regeln von Wissenschaft und Philosophie zur Grundlage eines neuhumanistischen Menschenbildes. Die Autonomie des sich selbst bildenden Individuums manifestiert sich auch im Vorbehalt gegen den aufgeklärten preußischen Absolutismus ebenso wie gegenüber den Ansprüchen der neuen französischen Konstitution in Preußen8 auf Staatserziehung. In der Diskussion der Humboldtschen Ideen ist häufig darauf verwiesen worden, dass die Kluft zwischen humanistischer Idee und politisch-gesellschaftlicher Realität nie überwunden wurde. Die Bildungstheorie, so wurde argumentiert, habe nicht zur Beseitigung der Klassenbarrieren des Lernens beigetragen, sei nicht zum Treibsatz einer vom Bürgertum geführten demokratischen Offensive sowie der Überwindung partikularistischen, ausgrenzenden Denkens durch die Einbeziehung der Lernkompetenzen aller Gesellschaftsmitglieder in den Horizont allgemeiner Bildung entwickelt worden, sondern zur bürgerlichen Basisideologie: Mittels vorgewiesener Bildungskarrieren konnte der ehemalige dritte Stand sich als historisches Subjekt interpretieren und legitimieren, Bildung als Waffe im Abwehrkampf gegen andere Klassen nutzen und Bildungsbarrieren verstärken. Das Bildungsbürgertum nutzte Bildung zunehmend für Standespolitik: Was an Macht und Reichtum fehlte, wurde durch Bildung ausgeglichen. „Das moderne Bürgertum hatte von Anfang an eine zweifache soziale Wurzel: Es bildete sich einerseits aus den Trägern des Kapitals und andererseits aus Individuen, deren einziges Kapitel ihre Bildung war". 9 Ihm ging es um Besitzstandswahrung und die Stabilisierung seiner gesellschaftlichen Lage in Distanz zur revolutionären Sprengkraft verallgemeinerten Vernunftgebrauchs.
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Adorno, Theorie der Halbbildung. Heydorn , Neufassung des Bildungsbegriffs. v. Humboldt , Grenzen. Mannheim , Ideologie und Utopie, S. 136.
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Die Differenz von Bildungstheorie und deren sozial-legitimatorischer Verwendung hat den Bildungsbegriff nicht erledigt, sondern ihn unter eine Spannung gesetzt, die ihrerseits die weitere Hermeneutik ebenso wie die Praxis, schulisches Lernen und Politik bestimmt hat. Widersprüche wie die, dass Bildung allen ermöglicht werden, aber auch selektiv wirken soll, dass die für alle gleiche Freiheit des Lernens in der Praxis zu Ungleichheiten führt und dass gleiche Lernchancen für alle das Lernen entindividualisieren, hat der Entwicklung der Bildungsdiskussion nicht geschadet, sondern sie vorangetrieben. Die Semantik von Bildung umfaßte schon in der Klassik dieses Diskurses gleichzeitig ideologische und utopische Momente. Die Verpflichtung auf Aufklärung und Universalität erzeugte politische Pragmatik für die Neustrukturierung der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft. Die Nützlichkeit von Bildung für die Legitimation bürgerlicher Statusab- und -ausgrenzung fesselte andererseits das utopische Potential auf lange Zeit.
I I I . Expansion und Individualisierung von Bildung Ein Verständnis von Bildung, an der jedermann teilhaben sollte, führte im 19. und 20. Jahrhundert zu zahlreichen Anstrengungen, Bildung als „Volksbildung" oder für spezielle Gruppen, etwa als Arbeiterbildung, zu organisieren. Hierzu diente insbesondere das Vehikel der „Scholarisierung", durch das die zunächst nur ungenügend praktizierte allgemeine Schulpflicht verallgemeinert werden sollte. Die Bedeutung von Bildung für die Emanzipation des Dritten Standes bildete die kulturelle Basis für die Kritik an den Fesseln der Tradition und des politischen Apparates. Modernisierung des Bildungssystems hieß insofern Ablösung einer nicht länger akzeptablen Statusselektion durch Herkunft zugunsten einer am Individuum, seiner Begabimg und seinem Leistungswillen festzumachenden Bildungsselektion. Schul- und Berufserfolg wurden nicht länger als unverdientes Schicksal, sondern als selbstbewirkte Leistung verstanden. Voraussetzung hierzu war allerdings die Institutionalisierung von Schulprüfungen, vor allem des Abiturs, das 1788 in Preußen eingeführt wurde, als Zugangsvoraussetzung für berufliche Karrieren in der staatlichen Verwaltung. Die Generalisierung der Leistungsselektion als Voraussetzung für beruflichen Erfolg war sowohl Instrument der Rechtfertigung gesellschaftlicher Statusverteilung als auch Regulierungsinstrument für die staatliche Bürokratie für Zugang oder Abweisung der Statusaspiranten je nach Bedarfslage: Um 1830 wurden im Zeichen der Überfüllungskrise Prüfungen ausgedehnt und verschärft und beispielsweise durch die Koppelung des subalternen Staatsdienstes mit dem „Einjährigen" differenziert.
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Die Frage, wie weit es mit der Gleichheit der Bildungschancen und der Bildungsselektion als Voraussetzung beruflicher Chancengleichheit gekommen ist, wird bis heute kontrovers diskutiert. Bourdieus Behauptung der auch heute weiterlaufenden Reproduktion der Klassenstruktur durch die ungleiche Verteilung von Bildungszugängen- und abschlüssen liegt als Basistheorie zahlreichen bildungssoziologischen Studien zugrunde. In den meisten wird Bildung als Teil der umfassenderen Sozialisation beschrieben, die nach wie vor zirkulär verlaufe: Bildung löst den Sog der Herkunftsschicht nicht auf, sondern verstärkt ihn. Die Behauptung, dass der Zugang zu Bildungs- und nachfolgenden Berufskarrieren - entgegen den „basics" des Modernisierungsprozesses - immer noch nicht nach universalistischen, von askriptiven Merkmalen freien Kriterien erfolge, sondern die bestehende Sozialstruktur festige, bedarf der Ergänzung. Die Bedeutung der Herkunft als Determinante des Bildungsganges und der gesellschaftlichen Lage ist nicht außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig hat sich jedoch die Vergesellschaftung der Individuen und deren Rekrutierung für Positionen in gesellschaftlichen Feldern umgestellt auf die Anforderungen einer funktionaldifferenzierten Gesellschaft. Die Herstellung von Chancengleichheit in der Bildungsbeteiligung gehört wie kaum ein anderes Moment des Modernisierungsprozesses zum Aktionshorizont staatlicher Planung. Forciert wird dieser Sachverhalt dadurch, dass die Bildungsexpansion - zumindest der dominierenden Planungsideologie zufolge gesellschaftliche Modernisierung gleich auf mehreren Ebenen antreibt: Sie stärkt eine konsensfähige Prozedur der sozialen Inklusion in einen wichtigen Aufstiegskanal zu besseren Lebensbedingungen (a), sie dient der Erzeugung von generellen Mindestqualifikationen als kulturelle Grundausstattung für die Teilnahme an den meisten gesellschaftlichen Handlungsfeldern (b) 10 , kombiniert die Generalisierung von Berufsqualifikationen (c) mit Konsequenzen für die berufliche Allokation aufgrund standardisierter Prüfungen (d) und legitimiert schließlich verbleibende Statusunterschiede mittels der Geltung „moderner" meritokratischer Werte (e). In der soziologischen Literatur ist eine Tendenz zu polarisierten Antworten auf die Frage erkennbar, ob die Bildungsexpansion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einerseits zu Chancengleichheit in der Bildungsbeteiligung, meist gemessen als Schullaufbahn, und andererseits zu einer darauf aufbauenden beruflichen Statuszuweisung geführt habe. Zu unterscheiden sind hier die quantitativen und die qualitativen Aspekte der Bildungsbeteiligung. Die statistische Auswertung der überaus zahlreichen empirischen Untersuchungen zum Wandel der Teilhabe an weiterführender Bildung und am Abschluss des Abiturs zeigt trotz methodischer und argumentativer Widersprüche, dass die Repräsen-
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Dieser Aspekt wird u.a. in der Pisa-Studie herausgestellt.
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tation der Sozialschichten an den bedeutsamen Messpunkten der Bildungskarrieren sich mit Ausnahme der Jahre zwischen 1967 und 1971 überwiegend nur geringfügig verändert hat. 11 So ist z.B. der Anteil der Gymnasiasten an der 13 - 14jährigen Bevölkerung bei Arbeitern und allen Gruppen von Angestellten um ca. 5 % angewachsen, der Abstand zur Beteiligung von Beamtenkindern ist jedoch gleich groß geblieben. Eine prozentual gleiche Steigerung von Teilen der Arbeiterkinder einerseits und Akademikerkinder andererseits hat jedoch bedeutsame Folgen für den kulturellen Kontext, in dem in der Schule Bildung vermittelt wird. Bei in etwa gleich bleibenden Anteilen der sozialen Statusgruppen an der Bildungsexpansion bedeutet dies ein starkes Anwachsen des Anteils der Kinder aus den unteren Schichten in absoluten Zahlen. Dies wiederum verändert die Schulkultur und das dortige Milieu durch die „Absenkung des Rekrutierungsschwerpunktes" (Meulemann). Die Deckungsgleichheit der symbolischen Kultur bürgerlicher Familien mit der Schule, ein Hauptgrund für die Wirksamkeit der Schule als „Mittelklasseninstitution" 12 nimmt in dem Maße ab, in dem Schüler aus weniger kulturkapitalkräftigen Milieus neue Erwartungen und Ziele an die Schule und die Lehrplanung herantragen. 13 Die Expansion der Bildungsbeteiligung gehört zum Kernprogramm der Moderne. Die Verallgemeinerung der Inklusion ist gekoppelt an zunehmenden Universalismus des Bildungswissens: Expansion und permanente Neuproduktion, inhaltliche Globalisierung und nicht zuletzt Wissenschaftlichkeit sind Merkmale des Lernens und seiner Inhalte, die das Bildungssystem und Bildungshandeln inhaltlich und strukturell in Bewegung bringen. 14 Der Konflikt zwischen massenhafter Bildungsbeteiligung und dem Anspruch auf Vermittlung elaborierten, wissenschaftlichen Wissens, das über den Rahmen lebensweltlicher Erfahrung, praktischen Nutzens und situativer Betroffenheit hinausführt, konzentriert sich in der gegenwärtigen Schule auf die Vermittlungsprobleme der Sekundarstufe und in der Hochschule auf die Spannung zwischen dem tradierten Verständnis des forschenden Lernens und Lehrens und den Bedürfnissen der meisten Studenten, die nicht forschen wollen, sondern eine aussichtsreiche und
11 Vgl. u.a. Meulemann, Schullaufbahn. Außerdem: Hende, Mehr Chancen im Bildungssystem . 12 Vgl. Lütgens, Schule als Mittelklasseninstitution. 13 Vgl. de Graaf, Parents resources. 14 Eine eindringliche Analyse des Aufbruchs der studentischen Jugend in den Hochschulen Anfang des 19. Jahrhunderts, in denen die Auflösung partikularer askriptiver Bindungen an Familie, Region und Konvention in Richtung auf ebenso wissenschaftlichen wie politischen Universalismus zum Programm gemacht wurde, findet sich bei Tenbruck, Jugend und Gesellschaft.
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gut organisierte Berufsvorbereitung suchen. Für die Spannung zwischen sozialer Inklusion und Niveausicherung verwissenschaftlichter Bildung gibt es bislang wenig brauchbare Lösungsvorschläge. Die Inklusion aller Individuen in zunehmend verlängerte Bildungslaufbahnen kann durchaus mit der andauernden Reproduktion der Sozialstruktur einhergehen. Die Relevanz der Verteilung von Bildungschancen und deren Folgen für den beruflichen Aufstieg tangieren nicht unmittelbar die Frage nach der Bedeutung von Bildung für das Bewusstsein und die Lebenspraxis der Teilnehmer. So richtig die bekannten Hypothesen sind, dass das Erreichen höherer Bildungsniveaus ein bedeutender Kristallisationskern des bürgerlichen Selbst- und Gesellschaftsbildes gewesen ist, so wichtig ist auch die Feststellung, dass an die Stelle dieser engen Kopplung eine Pluralität von Mustern der Verknüpfung von Bildung mit Wertorientierungen, Einstellungen und Selbstdefinitionen getreten ist. Die bereits erwähnten Sachverhalte, die soziale Verlagerung des Rekrutierungsschwerpunktes, vor allem aber das Amalgam, das Bildungsinhalte mit den im Bildungsvorgang wie auch in anderen Lebensvollzügen enthaltenen weiteren Sozialisationserfahrungen herstellen, bringt Erscheinungen hervor, wie sie am deutlichsten durch die Ergebnisse der Milieuforschung sichtbar gemacht wurden. Die kulturellen Kontexte von Milieus wirken sich auf Bildungserfahrungen innerhalb des Sozialisationsprozesses wie folgt aus: - Milieus bestimmen nicht nur die gemeinsame Wahrnehmung und Erfahrung, sondern auch die Gestaltung und Nutzung von Bildungsangeboten. - Der Einzelne kann in seinem Verhalten und in seiner Orientierung zwischen mehreren Milieus oszillieren und sich an weiteren Umweltkontexten orientieren. Milieus werden nicht selten temporär und mit innerer Distanz durchlaufen und biographisch kombiniert. Der Kern des Habitus erhält eine auf dem Sockel des Herkunftsmilieus aufliegende Patina aus Dispositionen und Verhaltensweisen, die weitgehend vom Ursprungshabitus abgelöst sind. Einerseits gibt es also gute Gründe für das Andauern der Reproduktion sozialer Ungleichheit bei fortschreitender Expansion von Bildung, andererseits differenzieren sich die subjektiven Attitüden und Verarbeitungsformen praktizierter Bildung in Korrespondenz zu pluralen und wechselnden Milieubeteiligungen. Die gewachsene „Selbstreflexion" eines Teiles der Schüler und Studenten ermöglicht die „bewußte Distanzierung" von den inkorporierten Schemata des Habitus. 15 Untersuchte man lediglich den Zusammenhang der Herkunft und der daran gekoppelten Aufstiegswege, so übersähe man die pluralistisch ausdifferenzierten Lebensformen, in denen gleiche Bildungserfahrungen sich mit den unter-
15
Vester , Neue soziale Milieus, S. 194.
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schiedlichen biographisch verwobenen und individuell kombinierten Milieuselektionen verbinden. Die Bildungsexpansion hat im Wesentlichen eine in etwa gleich starke Steigerung der Bildungsbeteiligung der großen gesellschaftlichen Statusgruppen und dadurch bedeutsame strukturelle Verschiebungen hervorgebracht: So bedeutet eine Steigerung des Anteils von Arbeiterkindern an den Gymnasiasten des 10. Schuljahres zwischen 1961 und 1970 um 12 % bei ungefähr gleich starker Zunahme der Quote von Beamtenkindern, 16 dass - in absoluten Zahlen gemessen - Arbeiterkinder ihren Minderheitenstatus verlieren und sich die kulturelle Konsonanz von „Mittelklassen" und Schulkultur verändern wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit wirkt sich die Lebenswelt der nunmehr quantitativ stärker in den Schulen vertretenen Schülerkohorten auf die Einstellungen zur Schule und deren Bildungspraxis, auf Inhalte, Methodik und Sinnbestimmung des Lernens aus. Der durch die Bildungsexpansion induzierte soziale Strukturwandel der Bildung, seinerseits ableitbar aus bildungspolitischen Planungsvorgaben, bringt auf seiner Kehrseite, der Intentionalität der lernenden und lehrenden Akteure, neue überraschende Effekte hervor. Einer der wichtigsten ist die Aufhebung der Trennung von Bildungskarriere und anderweitiger Sozialisation. Hatte Bildung - ihrem frühbürgerlichen Anspruch gemäß - die Funktion, den Partikularismus der Alltagsbiographien der Adepten in Richtung auf ganzheitliche Welterfassung zu überschreiten und damit eine neue, auf Bildung gegründete Identität zu konstituieren, so ist sie gegenwärtig integraler Bestandteil der Selbstvergewisserung von Lernenden aus sozialen Schichten geworden, deren Alltagssozialisation ihrerseits Bildung affiziert: Die über Bildung angeeigneten Objekte und praktischen Methoden der Identitätsbildung werden mit lebensweltlichen und vor allem auch massenmedialen Identifikations- und Beratungsangeboten verbunden. Die individuelle Nutzung und Verarbeitung von Bildungserfahrungen zur Lösung der jeweils anstehenden Sozialisationsprobleme folgt unmittelbar daraus, dass für fast alle Individuen das frühe Erwachsenenalter entscheidend durch das verlängerte Moratorium schulischer, von Arbeitsanforderungen abgelöster Lernprozesse bestimmt wird. 1 7 Die Abtrennung vom Arbeitsleben mit seinem spezifischen Zwangscharakter und die Typisierung der Schulzeit als Phase der experimentellen, ebenso kognitiv wie sozialisatorisch und kommunikativ definierten Selbsterfahrung hat auf verbreiteter sozialer Basis die Identifikationsrelevanz von Bildung ebenso verändert wie den Bildungsbezug der Identitätskonstruktion der Lernenden. Bildung, gleich in welchem Alter betrie-
16 17
Vgl. Meulemann/Wiese, Bildungsexpansion. Vgl. Fuchs, Jugendliche Statuspassage.
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ben, hat die Bedeutung jugendspezifischer „Sonderzeit": Thematisch strukturierte Lebenszeit mit der Chance und Aufforderung, sie im Blick auf die je eigene Lebensgeschichte experimentell zu erproben und in die Konstruktion des eigenen Ich einzubauen. Die soziale Erweiterung und Verlängerung der Lernzeit, die mit der Aneignung verwissenschaftlichten Wissens und seiner Methodik sowie der Hochschätzung generalisierter Kultur im Verhältnis zu Alltagswissen verbracht wird, fordert die Einstellung, auch außerhalb institutionellen, insbesondere schulischen Lernens, in der Herstellung von Identität auf Expertenwissen und professionelle Beratung jeglicher Schattierung, allerdings auch unterschiedlicher Qualität zurückzugreifen. Die Nutzung, eigentätige Verarbeitung und vor allem die Integration von Bildung in die wechselnden Konstruktionen der individuellen Biographien schafft eine Realität von Bildungspraxis und -folgen, die aus Planungszielen, Lehrplänen und Richtlinien nicht ableitbar ist. Bildungsinhalte, beispielsweise festgemacht an curricularen Schwerpunkten, mögen in ihren Wertbezügen diffus sein, Bildungspraxis ist es nicht. Die mit der Bildungsexpansion gekoppelten Chancen des Jugendmoratoriums, allen voran wachsende Selbstbestimmung, sind sowohl Nährboden als auch Frucht generell erweiterter Bildungspraxis. 18 Es liegt nahe anzunehmen, dass die Bildungsexpansion in enger Wechselwirkung mit Individualisierungsprozessen steht und auf komplexe Weise an reflexiver Modernisierung beteiligt ist. Die Effekte des Strukturwandels der Bildungsexpansion beeinflussen demnach die Bedeutung von Bildung selbst, sowohl deren Praxis als auch die Theorie, in ihrer Sozialisationsrelevanz und darüber hinaus. Das Verständnis von Bildung ist wissenschaftsgeschichtlich fast ausschließlich in philosophischen und pädagogischen Diskursen thematisiert worden. Es kann nicht Aufgabe der Soziologie sein, sich an diesen im Wesentlichen durch hermeneutische Methoden und normative Ableitungen bestimmten Untersuchungen zu beteiligen. Wohl aber kann Soziologie in historischer Perspektive fragen, in welcher Relation Bildungsbegriffe zu gesellschaftsstrukturellem Wandel stehen, welches ihre ideologischen und utopischen Elemente sind und in welcher Weise Gesellschaft sich in ihnen selbst zum Thema macht.
18 Zwischen der sozialen Verallgemeinerung und Ausdehnung der mit „Mittelklassenkultur" verbundenen Bildung und dem Wertewandel der 60er und 70er Jahre in der Bundesrepublik dürfte ein enger Zusammenhang bestehen. Vgl. Meulemann , Value Change; Klages, Wertorientierungen.
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I V . Bildungssoziologie als Wissenssoziologie Eine theoretisch vordringliche Frage ist die nach der Relation von Bildung und gesellschaftlicher Modernisierung. Untersucht man die in den letzten Jahren unternommenen Versuche, den Bildungsbegriff zu rekonstruieren, so zeigen sich mehrere Leitfäden dieser Diskussion, die im Rückbezug auf die Begriffsgeschichte eine Neubestimmung zum Ziel haben. Was dort im Blick auf die „moderne Welt" als Grundlage der Begriffsbewegung vorausgesetzt wird, ist allerdings nur gelegentlich soziologisch begründet. Diese fast ausschließlich pädagogisch geführte Diskussion über einen modernen Bildungsbegriff ist fokussiert auf mehrere Bedeutungsfelder, auf denen die theoriegeschichtlich abgeleitete Neufassung mit der Analyse gewandelter Welt- und Selbstbezüge der Bildungsakteure konfrontiert wird: 1 9 1. Einen Schwerpunkt bildet die Frage, ob und wie in einer durch exponentielles Wachstum an Wissen gekennzeichneten Welt die Humboldtsche Forderung zu realisieren ist, dass das Individuum so viel Welt als möglich in sich vereine, also im Bewußtsein repräsentiere. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, dass der Zugang zu den sich ausdifferenzierenden Wissensformen grundsätzlich allen, zumindest in Form von Grundbildung, zugänglich sein soll. Auf dieses Bedeutungsfeld bezieht sich auch die unabschließbare Bestimmung eines Wissenskanons - mit freilich befristeter Gültigkeit - einschließlich Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie des Lernens. Dabei wird Allgemeinbildung von Spezialbildung abgegrenzt. Ein weiteres Spannungsmoment besteht im Gegensatz zwischen routinemäßig angeeignetem, einverleibtem Wissen als kultureller Ausrüstung für gesellschaftliche Partizipation einerseits und einer kritisch-reflexiven Kompetenz und Einstellung hierzu, die Realitätsprüfungen ermöglicht und dazu sich zuallererst klarmachen kann, was dies bedeutet. 2. Ein weiteres Bedeutungsfeld umfasst die Frage nach der Stellung des Individuums zwischen Anpassung und Selbstbestimmung: Wie kann eigensinnigwiderständiges Denken verbunden werden mit gesellschaftlich erwarteter Wissensanwendung, insbesondere anwendungsbezogenem Wissen und Können? 20 Der Kern dieser Bedeutungsdimension liegt in der tradierten Auffassung, dass das Individuum darauf angelegt sei, sich mit Hilfe seiner entwickelten Vernunft öffentlich zu engagieren und seinen gesellschaftlichen Ort selbst zu bestimmen. Diese Perspektive leitete den Bildungsdiskurs in der Antike und in der Aufklärung. Hier wäre u.a. auf die Bedeutung des Erziehungsziels der Aretö als Voraussetzung politischen Engagements bei den Sophisten oder Platos' pädagogi-
19
Die folgenden thematischen Aspekte werden meist miteinander verbunden, im Folgenden jedoch analytisch getrennt. 20 Plakativ ausgedrückt in der Zielbestimmung „Fähigkeit zur integrativen Autonomie", so bei Huschke-Rhein, Die verallgemeinerte Natur.
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sches Ziel einer vernunftbegründeten, öffentlich verantwortlichen Lebensführung zu verweisen; weiterhin auf die Pädagogik der Aufklärung und des Humanismus, in der Bildung als selbständiger Gebrauch der Vernunft zum Kern jeglicher Erziehung gemacht wurde. Die soziologische Reflexion dieser Bedeutungsdimension erreichte ihren Höhepunkt in Adornos Kritik der Halbbildung sowie der von ihm zusammen mit Horkheimer verfaßten „Dialektik der Aufklärung", die die pädagogische Diskussion entscheidend geprägt hat und in der Forderung nach einer „Neuen Aufklärung" aufgegriffen wurde. 21 3. Von diesem Bedeutungsfeld, in dem eine auf Ratio gegründete Verbindung zwischen dem gebildeten Individuum und seiner kritisch-aktiven Einwirkung auf die gesellschaftlich-politischen Prozesse hergestellt wird, ist ein anderer Ansatz zu unterscheiden, der die Funktion von Bildung für die Persönlichkeitsgenese in den Mittelpunkt stellt. Das Modell vernunftgeleiteten politischen Handelns wird hier marginalisiert, die gesellschafts-theoretische Ableitung taucht hier, wenn überhaupt, nur als eine mögliche Option unter diversen Person-Umwelt-Beziehungen auf. Die Arbeit am Begriff orientiert sich an verschiedenen Personenkonstrukten. Was in der klassisch-humanistischen Phase u.a. als Ganzheitlichkeit oder Selbstformung formuliert wurde, wird gegenwärtig umdefiniert als Forderung, die Fähigkeit zur „Transformation" der Kategorien zu erwerben, die für die Selbst- und Weltbestimmung der Subjekte geeignet sind, also eine Rekonstruktion des Bildungssubjekts mit dem Blick auf die „Pluralisierung von kognitiven Bereichen" 22 , auf die Fähigkeit zu Sprachspielen, in denen heterogene Wissensbestände angeeignet und als Gegenstände der Selbst- und Weltinterpretation verwendet werden. Einige der hier einzuordnenden Beiträge zur Bildungstheorie sind insofern soziologisch relevant, als sie den Bildungsbegriff biographie- oder sozialisationstheoretisch zu rekonstruieren versuchen. Gründliche Rekurse auf aktuelle gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Bildungsbegriffs bleiben jedoch die Ausnahme und meist auch oberflächlich. Die mainstream-Bildungssoziologie hat die Frage nach der Genese, den Handlungskontexten und der Realisierbarkeit von Inhalten und Methoden der Bildung nicht aufgegriffen. Gegenstand soziologischer Untersuchungen sind nicht soziale Bedingungen semantischer Bewegungen, sondern die Verteilung von Bildungsressourcen sowie deren sozialstrukturelle Voraussetzungen und Folgen. Die eingangs aufgegriffene Kontroverse über die Veränderung der Bildungsbeteiligung hat die wissenssoziologische Analyse des Bildungsbegriffs kaum berührt. In der theoretisch wohl konsequentesten Form der These von der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Klassengebundenheit des kulturellen Kapitals und seiner Konvertierbarkeit in andere Kapitalformen bei Bourdieu bedeutet die Thematisierung von 21 22
Vgl. hierzu auch v. Hentig , Wiederherstellung der Aufklärung. Vgl. Marotzki y Lern- und Bildungsprozesse, S. 67.
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Bildung als Tauschwert gleichzeitig die Trivialisierung der Bildungsinhalte jenseits ihrer Eignung als Elemente des Habitus. Bourdieu greift das Moment des Verwertungsaspekts von Bildung wieder auf, den Adorno als Kern des entfremdeten Bewusstseins identifiziert hatte. Eine Theorie der Bildungsinhalte ist aus dieser Kritik einer Bildung, die vom „Fetischcharakter der Ware ergriffener Geist" ist, nicht abzuleiten. Umso mehr Aufmerksamkeit verdienen die erwähnten empirischen Befunde, in denen sich Veränderungen der Bildungsrealität, insbesondere der sozialisatorischen Bedeutung von Bildungsinhalten abzeichnen, die auf soziale Verschiebungen der Bildungspartizipation zurückzuführen sind. Der Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Bildung einerseits und deren Relevanz für Identitätsbildung andererseits dürfte einen der fruchtbarsten Ansatzpunkte einer Bildungssoziologie, die sich als Wissenssoziologie versteht, bilden. Während die gesellschaftliche Konstitution und Funktion des Bildungsbegriffs in der theoretischen Diskussion weithin unbestimmt bleiben, zeichnet die politische Kommunikation und Entscheidungspraxis sich durch eindrucksvolle Indifferenz gegenüber der Frage aus, wie Bildung inhaltlich zu bestimmen sei. Man kann geradezu von einer Spaltung der Themenselektion sprechen, insofern es einerseits um die hermeneutische Rekonstruktion des Begriffs, andererseits um datenbasierte Argumente zur Expansion, Partizipation und Effizienz von Bildung im Rahmen von Ländervergleichen geht. Zieht man als prominente wissenschaftliche Kontrolle heutiger Bildung und Argumentationsfundus politischer Kommunikation die PISA-Studie heran, 23 so wird diese Divergenz deutlich. Vereinfacht formuliert: Die PISA-Studie interessiert sich - auftragsgemäß - nicht für die inhaltliche Bestimmung und Kritik von Bildungsbegriffen und deren Bedeutung für Sozialisationsprozesse, sondern für Vergleichsdaten, die sich einem weitgehend konventionellen und bildungstheoretisch beliebigen Kategorienrahmen fügen. Gegenstand der Untersuchung sind nicht Verlauf und Ergebnis von Bildung, sondern von „Kompetenzen", operationalisiert als „reading literacy", „mathematical literacy" und „scientific literacy". Zu diesen bereichsspezifischen Basiskompetenzen kommen fachübergreifende Kompetenzen, wie die Fähigkeit zu selbstreguliertem Lernen, Zielorientierung, Einstellungen zu kooperativem und konkurrierenden Lernen u.a. hinzu. Im Blickpunkt stehen diejenigen Qualifikationen, die für eine erfolgreiche Partizipation an unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Handlungsfeldern als erforderlich angenommen werden.
23
Baumert et al. (Hrsg.), Basiskompetenzen.
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„Literacy" wird mit Grundbildung übersetzt, „Bildungsprozesse" benennt die PISA-Studie als ihren Untersuchungsgegenstand.24 Auch in der lebhaften publizistischen Reaktion auf PISA werden deren Ergebnisse und die politische Reaktion darauf mit Bildungsreform gleichgesetzt. Die in methodischer Hinsicht sehr gründlich durchgeführte Studie unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise von anderen Vergleichsuntersuchungen. Sie nimmt konsequenter als andere alltagsweltlich relevante Kompetenzen in den Blick und versteht sich als eine Art System-Monitoring für die Kontrolle von Basisqualifikationen mit universaler Bedeutung für das Leben, zumindest in modernen Gesellschaften. Sie liefert umfassende, wenn auch lückenhafte Daten über wichtige Voraussetzungen von Lernleistungen, und zwar insbesondere Leistungen in institutionellen Kontexten. Sie klammert die Frage allerdings vollständig aus, in welcher Beziehung die ermittelten Basiskompetenzen zu einem neu formulierten Bildungskonzept stehen können. Es leuchtet ein, dass dieser blinde Fleck sich notwendig aus der gewählten Zielsetzung des internationalen Leistungsvergleichs und der hierfür angemessenen Methodik ergibt. Allerdings können die vorliegenden Ergebnisse durchaus zur Klärung im engeren Sinne bildungsrelevanter Fragen beitragen: in welcher Weise beispielsweise die in Deutschland relativ geringe Bewertung schulischer Lernprozesse Folgen für die Akzeptanz von Bildungshandeln als Bestandteil der Identitätskonstitution hat. Eine weitergehende Frage ist die nach den Auswirkungen des Wertewandels seit Ende der 60er Jahre, also danach, wieweit das Bildungsverständnis durch die Verschiebungen von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten verändert worden ist. 25 Einige Aspekte und Folgen von PISA deuten daraufhin, dass die Ergebnisse der Studie eine sorgfältige Reflexion und Revision des Bildungsbegriffs eher behindern als fordern: Die bildungspolitischen Akteure geraten in hektische Betriebsamkeit, 26 gerichtet auf das Ziel, nationale Bildungsstandards zu errichten und eine bessere Platzierung im OECD-Ranking zu erreichen. Dabei wird die Frage nach dem Was und Wozu von Bildung marginalisiert. Die Suche nach Bildungsstandards, die für die staatlich kontrollierte Schule gesetzt und kontrolliert werden, führt fort von der Sicht des Schülers als einer auch und zuerst außerhalb der Schule, nämlich in seiner Familie, zusammen mit Gleichaltrigen und durch Medienrezeption sich selbst Kultur aneignenden Person.
24 25 26
Baumert et al. (Hrsg.), Basiskompetenzen, S. 50. Vgl. Klages, Wertorientierungen. Vgl. Brake , PISA.
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Die Einbindung der Kulturaneignung in das Interaktionsgeschehen der Schulklasse und der außerschulischen Aktionsfelder bleibt im Hintergrund, ebenso wie die Erweiterung des Bildungsbegriffs in Richtung auf die „Aneignung gegenständlicher, sozialer, gesellschaftlicher und medialer Erfahrungen". 27 Verallgemeinernd bleibt festzustellen, dass Bildung neuerdings in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, vor allem der politischen Kommunikation zunehmend beachtet wird, dabei jedoch die Beliebigkeit, Unschärfe und Unreflektiertheit der Begriffsverwendung auffällig kontrastiert zur Betonung von Leistungsdaten, die, wie etwa im Fall der PISA-Studie, mittels einer feingeschliffenen Methodik erhoben wurden. 28 Dies gilt für Verbandspolitik ebenso wie für massenmediales Agenda-Setting und für bildungspolitische Sprachspiele, eingefordert etwa durch Roman Herzogs Forderung, Bildung müsse „das Mega-Thema unserer Gesellschaft" werden. Bedeutet dies, dass der Bildungsdiskurs, möglicherweise wegen der Geschlossenheit der wissenschaftlichen Hermeneutik und der Teilnehmergruppe, institutionell nicht anschlussfähig und bestenfalls als prinzipiell beliebige Legitimationsgrundlage für pädagogisches Handeln zu verstehen ist? Bei einigen Bildungstheoretikern macht sich angesichts der Instrumentalisierung von Bildung im Sinne eines utilitaristischen Kalküls von Erfolgschancen und politischer Opportunität Endzeitstimmung breit. „Mit der Vorstellung von Bildung war im Kern die Hoffnung verbunden, den historischen Prozeß insgesamt nicht mehr wie bisher nur als unbegriffenes Schicksal erleiden zu müssen, sondern ihn verstehen und selbstbestimmt gestalten und dazu die notwendigen Fähigkeiten erwerben zu können". 29 Ein Verständnis von Bildung als „Mittel der Wahrnehmung des Vorteils im ungeschlichteten bellum omnium contra omnes", wie es durch die Massenmedien als „Bildungsrevolution" ausgerufen werde, gefährde den pädagogischen Kerngehalt von Bildung. Wird Bildung solchermaßen verkürzt, so kann es kaum noch darauf ankommen, die Interpretation von Bildung auf Veränderungen im Zusammenhang von Person und Gesellschaft umzustellen, insofern Ziele und Inhalte von Bildung mit verallgemeinerten, entindividualisierten und quantifizierbaren Kompetenzen zusammenfallen. Ist der Bildungsbegriff, so ist zu fragen, mehr als das ideologische Flaggschiff der pädagogischen Profession, das durch ständiges Abdichten und Nachrüsten vor dem Untergang gerettet wird? Hat Luhmann recht, dass Bildung als „funktionsabhängige Ideologie" des
27
Deinet , Schule und Jugendarbeit, S. 330. Auffällig ist das gestiegene Interesse an „Bildungsleistung", an Quiz- und anderen Unterhaltungssendungen des Fernsehens, in denen kunterbuntes Wissen nach seinem Aufmerksamkeitswert ausgewählt und zum Prüfstein von Bildung gemacht wird. 29 Peukert, Die Zukunft von Bildung. 28
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Erziehungssystems geradezu „Ersatzausdruck für Erziehung" 30 geworden ist? Kündigt sich der endgültige Untergang des klassischen Bildungsbegriffs an, wenn er nunmehr als Sammelbezeichnung für inhaltlich weitgehend beliebige Kompetenzen umgemünzt wird, wie sie sich aus konventionellen Mustern der Wissensselektion in den großen Zentralräumen der Modernisierung: Europa, USA und Japan herausgebildet haben? Ein Rettungsversuch wurde durch einen publizistischen Vorstoß unternommen, der mit Spitzenplätzen auf den Bestsellerlisten zwar nicht Politik gemacht hat, wohl aber den am Verschwinden humanistischer Bildung Verzweifelten neuen Halt verspricht: Schwanitz Anleitung für die Kommunikation unter Gebildeten.31 Hier wird zupackend und mit informierter Willkür die Restauration von Bildung, sprachlich zeitgemäß verpackt, als Kanon von Wissen betrieben. Abgesehen von der Einschränkung des Bildungsbegriffs auf kognitives Wissen und dessen Einordnung soll hier ein Fundus gemeinsam gewusster Kultur geschaffen werden, indem Bildung als Paradox begriffen wird: Bildung ist die Anwendung des eigenen Verstandes auf eine historisch begründete und kulturell artikulierte Welterfahrung, allerdings durch Eingliederung in eine Überzeugungsgemeinschaft, die für sich schon weiß, was man alles wissen muß. Dennoch: Bildung als Phänomen, das immer rekursiv auf seine eigene Geschichte zurückgewendet ist und gleichzeitig als Kontingenzformel des Erziehungssystems das nicht Notwendige der möglichen Inhalte eingrenzt, hat nicht abgewirtschaftet, sondern sowohl als Begriff wie als Praxis eine Funktion an der Grenze von Gesellschaft und Person. Bildung ist gesellschaftstheoretisch als doppelgesichtige Selektion von Inhalt und Form des Wissens zu begreifen, die sowohl gesellschaftliche wie individuelle Funktionen erfüllt. Mit der Imagination des Gebildeten ist eine Idee entwickelt worden, durch die der „Mensch" in spezifischer Weise als „Medium der Gesellschaft" 32 begriffen wird. Es entspricht dem erreichten Stand funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, dass passgenaue Modelle des Verhaltens als Adressen teilsystemspezifischer Kommunikation entworfen und zu berechenbaren „Akteursfiktionen" gesellschaftlicher Subsysteme rationalisiert worden sind: zu homo oeconomicus, homo juridicus 33 und nicht zuletzt dem seine sozialen Rollen tragenden homo sociologicus. Diese Partialformeln ermöglichen es sozialen Systemen, Akteure als Adressen anzusprechen, darauf „zuzugreifen" 34 und ihre 30 31 32 33 34
Luhmann/Schorr , Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 82 f. Schwanitz , Bildung. Vgl. Fuchs/Göbel (Hrsg.), Der Mensch. Hutter/Teubner , Homo juridicus, S. 121. Hutter/Teubner , Homo juridicus, S. 134 u.a.
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eigenen Abhängigkeiten davon zu kontrollieren. Es liegt nahe, den Gebildeten als eine weitere Fiktion zu verstehen, deren Bedeutung den funktionalen Besonderheiten des Erziehungssystems entspricht. Dies scheint mit Luhmanns Auffassung der Bildungsidee als Kontingenzformel eines ausdifferenzierten Erziehungssystems übereinzustimmen, einer Formel, die Leistung und Funktion von Erziehung zu bestimmen beansprucht, sich allerdings, wie Luhmann meint, in Unbestimmtheit auflöst. Der Bildungsbegriff wirkt indessen nicht nur als limitierender Sinngenerator pädagogischer Kommunikation, sondern auch als Modell des gebildeten Akteurs. Es liegt nahe, darin insofern ein Pendant anderer menschlicher Korrelate gesellschaftlicher Subsysteme zu sehen: Bildung bezeichnet Bewußtseinsprozesse, die soziale Systeme irritieren, sie z.B. mit Reflexivität versorgen und umgekehrt von diesen mit Sinnangeboten versorgt werden. Die notorisch schillernde Begriffsverwendung bestätigt diese Vermutung und widerlegt sie zugleich. Einerseits vermittelt das Konstrukt des Gebildeteten zwischen den Programmen institutioneller Erziehung und der Lernbereitschaft der Edukanden. Andererseits sprengt es die Begrenztheit der bereits erwähnten homunculi und beschreibt eine Verhaltensorientierung, die nicht nur in dem Sinne holistisch ausgerichtet ist, dass sie sich auf die Welt als ganze richtet, sondern auch eine personale Identität konstituiert, die die erwähnten Partialfiktionen übergreift, reflektiert und ggf. integriert. Die Zirkularität von Weltlaufordnung und Selbstdeutung ist Kern einer jeden Bildungshermeneutik von Humboldt bis heute.35 Freilich ist der Anspruch, eine Welt, die längst in Beobachtungsperspektiven aufgebrochen ist, durch Bildungskommunikation als Zusammenhang zu erfahren, eine Fiktion, allerdings eine solche, die trotz, genauer: wegen dieses kontrafaktischen Charakters eine bestimmte Form des Lernens in Gang bringt.
V. Bildung und reflexive Modernisierung Soziologie würde sich in Präskription verfangen, wollte sie sich an der pädagogischen Rekonstruktion des Bildimgsbegriffs beteiligen. Sie kann jedoch angeben, ob und in welcher Weise Bildung die Funktion der gegenseitigen Irritation von Gesellschaft und Bildungspersonal: Lehrenden, Lernenden und Theoriekonstrukteuren, erfüllt.
35
In der Geschlossenheit dieses Zirkels sehen Luhmann und Schorr allerdings den Grund für die Diffusheit und öffentliche Kraftlosigkeit der Kontingenzformel Bildung: Luhmann/Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 83.
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In diesem Sinne ist zu prüfen, wie weit Bildung der veränderten Lage des Bildungssubjekts in der „reflexiven Moderne" 36 entspricht. Jeder Versuch der Individuen, sich „soviel Welt als möglich" anzueignen, ist zunehmend gebunden an die Bahnen individueller Lebensplanung und Selbstthematisierung. Die Bildungssubjekte identifizieren sich individuell und ohne die hilfreichen Eingrenzungen tradierter Lebenslagen durch Überlagerung multipler und wechselnder „Subjektgrenzen" als Einheit. „Die Frage: Was gehört zu mir? kann nicht länger kollektiv nach den vorgegebenen sozialen Mustern, sondern muß individuell beantwortet werden." Der Einzelne wird zum "fiktiven Entscheider, Autor seiner selbst und seiner Biographie". 37 Diese Selbstautorenschaft vollzieht sich weithin im Medium des öffentlichen Bildungsdiskurses und seiner Strukturangebote. Bildungstheorie stellt einen auf individuelles Handeln bezogenen Rahmen zur Verfügung, der die Annahmebereitschaft seiner Adressaten ermöglicht, indem er auf kulturelle Gemeinsamkeiten und Grundsätze verwissenschaftlichten Wissens rekurriert und sein Bewegungsprinzip: unabschließbare Reflexivität an Rationalitätsstandards bindet. Die Selbstsozialisation von Individuen wird durch den sozialen Kontext des Bildungsdiskurses in einer Weise angeregt, die in begründungsfähigen und teilweise auch generalisierbaren Mustern der Identitätsbildung resultiert. Die Fiktion des gebildeten Menschen versorgt das Gesellschaftssystem mit Impulsen kultureller Innovation, gleichzeitig mit einer attraktiven Formel für die Herstellung fiktiver personaler Integration multipler und divergierender kommunikativer Adressen: Gesellschaft kann nicht anders, als Personen als zurechnungsfähige Individuen zu behandeln, die für ihre Entscheidungen verantwortlich zu machen sind. Voraussetzungen für die Individuen, sich in dieser Weise „vereinnahmen" zu lassen, ist die individuelle Orientierungsleistung der Bildungsidee im Verbund mit der Erwartung positiver Selbst- und Fremdeinschätzung. Dies schließt nicht aus, dass nach dem Verblassen älterer, sowohl naturbezogener als auch religiöser und moralischer Kodierungen „humaner Perfektion" 38 überwiegend andere generalisierbare Modelle der Strukturbildung und Kontinuität „bastelbiographischer" Identitätskonstruktionen an der Kontaktstelle zwischen Gesellschaft und Person eingesetzt werden. 39
36
Vgl. Beck , Reflexive Modernisierung. Beck , Reflexive Modernisierung, S. 43. 38 Luhmann/Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, S. 63ff. 39 Hierzu sind biographische Klischees der massenmedialen Populärkultur, Traditionsfragmente und Freizeit- sowie Konsumkulturen zu zählen, ebenso wie komplex strukturierte Lebensstile. 37
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Eine Gesellschaft, die die Leistungsfähigkeit und Bereitschaft der Individuen zur Organisation der differenten und chronisch konfligierenden Sozialsystemrationalitäten anregen will, kann sich in wirksamer Weise des Instrumentes des „Bildungsakteurs" bedienen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Handlungsform konsequent individualisiert wird. Dem entspricht eine „Gegenleistung" dergestalt, dass der Selbstanspruch der Gebildeten, auf Konsenswerte, wie etwa die Rationalität von Begründungsformen verpflichtet zu sein, seinerseits einen entscheidenden Beitrag zur Verständigung und damit für die Reproduktion sozialer Systeme leistet. Bildung als Leitbild biographischer Selbstbestimmung bezeichnet eine durch Enkulturation disziplinierte Form der Bewußtseins- und Verhaltensorganisation, die die Vielzahl der teilsystemspezifischen Verhaltensmodelle sowohl zu relativieren als auch zu integrieren vermag. A u f diese Weise vermittelt Bildung, immer vorläufig und unabschließbar, im Bewusstsein die Repräsentation einer gesellschaftlich geprägten Welt, die allein im Prozess der subjektiven Aneignung ihren Zusammenhang findet, während die Gesellschaft selbst sich als soziale und kulturelle Einheit aufgelöst hat. Bildung erzeugt darüber hinaus das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Diskursgemeinschaft, die sowohl durch die askriptive Verbindung zu gemeinsamer Kultur als auch durch die Leistungsmerkmale selbständigen und vor allem selbstreflexiven Wissens konstituiert wird. Auf diese Weise werden die Bindungsfähigkeit zwischen den Bildungsakteuren selbst als auch zwischen diesen und den gesellschaftlichen Handlungsfeldern gesteigert und Identität stabilisiert. Dass Bildung auf der anderen Seite individuelle Motivation anziehen kann, hat zur Voraussetzung, dass sie in ihrer identitätsbegründenden Bedeutung erkennbar ist. Dies ist nicht mehr alleine dadurch möglich, dass Bildung, ehemals Legitimationsgrundlage der „gebildeten Stände", zur Begründung von Statusansprüchen verwendet werden kann. Was ihr in einer durch reflexive M o dernisierung bestimmten Gesellschaft jedoch zunehmend zuwächst, ist die Funktion der handlungspraktischen und biographischen Orientierung unter gewandelten Bedingungen von Subjektivität. Die Beschreibung eines Bildungswissens, das mit perspektivisch und methodisch spezialisiertem Expertenwissen nicht identisch ist, sondern auf Handlungsfähigkeit zielt, grenzt Bildung ebenso ab vom Bildungsverständnis der PISA-Studie wie von kognitivistischen und zweckrational organisierten Wissensformen. Eine auf Handlungsorientierung und Identitätskonstitution gerichtete Bildung ist in ihren Realisierungschancen allerdings unter heutigen Verhältnissen an die folgenden Rahmenbedingungen gebunden: 1. Bereits das traditionelle Ziel, vertikale Mobilität durch Bildung zu fordern, erfordert individualisiertes und damit differenziertes pädagogisches Handeln zur Herstellung gleicher Lern- und Statuschancen. Wie oben erörtert wur-
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de, ist die These, Bildung reproduziere die Klassenstruktur gerade dadurch, dass sie diese Tatsache „hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt", 40 heute zu modifizieren. Eine gravierende Herausforderung eines zur reflexiven Moderne „passenden" Bildungsverständnisses ist jedoch die Tatsache, dass gerade durch Verallgemeinerung, Institutionalisierung und Kontrolle des Lernens neue Formen der Ungleichheit entstanden sind: Eine im Zeichen ökonomischer, sozialer und politischer Krisen neu entdeckte Bildungspolitik identifiziert Bildung mit dem Erreichen verallgemeinerter, wettbewerbsorientierter und messbarer Leistungsziele. Diese Perspektive lenkt das Bildungsbewusstsein auf Fragen der Vergleichbarkeit und Steuerbarkeit von Lernprozessen, vor allem aber auf die Anerkennung neuer Abhängigkeiten von Expertenwissen und hierarchisch verwalteter Kultur. 41 Die Frage nach den Bedingungen, unter denen der Bildungsakteur „Selbstunternehmer" seiner Bildung sein kann, wird verdrängt. 2. Versteht man, wie erläutert, Bildung als wissenschaftsbasiertes Handlungswissen, so ist sie integraler Teil individueller Identitäts- und Biographiekonstruktion. Sie erfüllt die Funktion der Relativierung und Verbindung der differenten, auf gesellschaftliche Subsysteme gerichteten Personenmodelle. Sie kann nur durch die Verzahnung institutionellen, insbesondere schulischen Lernens mit lebensweltlichem Erfahrungswissen, und zwar im Zusammenhang lebenslanger Selbstsozialisation42 entstehen. 3. Bildungswissen ist nicht mehr als Kanon fassbar. Es entsteht im Selbstbezug des seine Grenzen bestimmenden und verbindenden Subjekts, das seine Aneignung von wechselnden Wissenskontexten kontinuierlich relativiert im Hinblick auf die individuelle Selektion von Methoden, Inhalten und Verknüpfungsweisen des Bildungswissens. Der Aufbau und fortlaufende Umbau der Bildungskompetenz erfolgt selbstreferentiell in der Rekonstruktion bereits vorhandenen Wissens und Könnens, andererseits auch fremdreferentiell im Hinblick auf die Anpassung an variierende Welt- und Selbstkomplexität. Das Bildungssubjekt balanciert auf einem selbstgeknüpften Seil, von dem aus Welt beobachtet wird. Ob das Subjekt sich daraufhalten kann, liegt primär an seiner eigenen Einschätzung der Qualität seiner Eigenkonstruktion. 43
40
Vgl. Bourdieu , Kulturelle Reproduktion. In der „new sociology of education" wurde im gesellschaftspolitischen Umfeld der USA und Großbritanniens seit Ende der sechziger Jahre in gesellschaftskritischer Theorieabsicht die Durchsetzung neuer technokratisch inspirierter Maßstäbe der „excellence" als Leitidee von Bildung und Pendant politischer und ökonomischer Krisenphänomene diskutiert: Vgl. Fischer/Mandel 1 (Hrsg.), Bildungspolitik. 41
42
So ist auch der Versuch unternommen worden, den Bildungsbegriff mittels systemtheoretischer Begrifflichkeit als Prozess der Selbstorganisation und Autopoiesis zu modernisieren. Vgl. Lenzen, Bildungsbegriff. 43 Vgl. Lenk/Maring , Welterfassung, S. 218.
Reflexive Modernisierung von Bildung
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4. Bildung erzeugt Handlungswissen,44 das angesichts der Optionen einer offenen Zukunft Wahlstrategien für Entscheidungen vorauswählt. Sie ist grundsätzlich individuell zu bestimmen, dennoch auch als generelle zu typisieren, je nachdem ob sie theoretisch als Kontingenzformel der Erziehung gebraucht wird oder aber als Begründungsrahmen praktischer Bildungsarbeit, wo sie dem jeweiligen institutionellen Rahmen anzupassen ist. 5. Ebenso wie der Kontrast zwischen Experten- und Alltagswissen brüchig geworden und die Grenzen zwischen Wissenschaft und NichtWissenschaft pluralisiert worden sind, so ist auch das Postulat der Wissenschaftlichkeit als exklusiver Kernbestand des Bildungswissens obsolet geworden. Individualisiertes Handeln angesichts nur begrenzt überschaubarer Zukunft bedarf der Einpassung von Aspekten nichtwissenschaftlicher Begründungformen und Orientierungsparameter in die Struktur von Handlungs- und Erlebensweisen. Damit kommen zu den herkömmlichen Bildungsinstitutionen Wissenschaft, Schule und Familie weitere „Überschneidungsbereiche" (N. Luhmann) für orientierende Bildung, vor allem massenmedial verbreitete Wissensformen sowie lebensweltliche Handlungsfelder hinzu. Bildungstheorie kann darauf nur angemessen reagieren, wenn sie auch Theorie der Sozialisation ist. 6. Eine weitere reflexivmoderne Neuformulierung der Bildungshermeneutik besteht darin, den Subjektbezug der Aneignung von Wissen zu spezifizieren als Eigentätigkeit des Lernenden, durch die die Optionen der Weltbeschreibung anwachsen. Dieser überwiegend aus konstruktivistischen Quellen gespeiste Aspekt der Bildungsidee begreift sowohl den Prozeß als auch das Ergebnis von Bildung als Suchbewegung, durch die überkommene Kategorien der Realitätsbeschreibung umstrukturiert und neue Sprachspiele zur Bearbeitung von Widersprüchlichkeit erfunden werden können. 45 Bildung ist ihrem Konstruktionsprinzip zufolge demnach auf Komplexitätserweiterung des Wissens und Erweiterung von Kompetenzen angelegt, ebenso jedoch auch auf die Erzeugung von Selektionsmustern, die Wissen im Dienste von Handlungsorientierungen kontrolliert simplifizieren. Bildung als Handlungsorientierung eines Akteurs, der seine funktionsspezifisch aufgebrochene Verkopplung mit Gesellschaft durch Bezug auf seine Selbstdefinition reintegriert, kann durch die Herstellung fördernder Rahmenbedingungen unterstützt werden. Der traditionelle Bildungsdiskurs liefert den wissensgeschichtlichen Rahmen für eine Begrifflichkeit, die der Funktionalität
44 Die Vorzüge des Begriffs Wissen vor dem der Kultur im Zusammenhang mit der Analyse von Handlungskompetenz diskutiert Stehr, Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, S. 81 ff. 45 In der pädagogischen Diskussion wird dieser Sachverhalt hervorgehoben von Marotzki, Lern- und Bildungsprozesse.
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identitätssichernden Handelns angemessen ist. Humboldts Auffassung, dass Bildungsleistung darin bestehe, die i n der Allgemeinheit wissenschaftlicher Aussagen begriffene W e l t m i t der Besonderheit individuellen Bewusstseins zu vermitteln, wäre dann kritisch zu rekonstruieren. Die meist noch verwendete Subjekt-Objekt-Unterscheidung wäre aufzulösen und zu ersetzen durch ein Konzept des Bildungshandelns, i n dem das Individuum sowohl sich selbst als auch seine Welt durch Verwendung einer Pluralität von Konstrukten der Weltaufordnung und Handlungsbegründung in eigener Verantwortung zu definieren vermag. Z u fragen wäre nach einer individuellen Form der „kommunikativen Adresse" des Gebildeteten, von der aus die Beurteilung und Steuerung der teilsystemspezifischen Akteursfiktionen zu leisten wäre.
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Reflexive Modernisierung von Bildung
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Kritische Theorie als Bezugsrahmen eines reflexiven Kulturmanagements Thomas Heinze
I. Vorbemerkung Zur theoretischen Fundierung des Konzepts eines „reflexiven" Kulturmanagements und als konstruktiv-kritisches Komplement zu den in diesem Band versammelten praxisbezogenen Beispielen sollen in diesem Beitrag Essentials der Kritischen Theorie vorgestellt und diskutiert werden. „Frankfurter Schule" und „Kritische Theorie", das löst - so Wiggershaus1 in seiner umfassenden Studie zur Geschichte, theoretischen Entwicklung und politischen Bedeutung der „Frankfurter Schule" - „die Vorstellung einer Reihe von Namen aus, allen voran Adorno, Horkheimer, Marcuse, Habermas - und Assoziationen auf der Linie: Studentenbewegung, Positivismusstreit, Kulturkritik - und vielleicht auch: Emigration, Drittes Reich, Juden, Weimar, Marxismus, Psychoanalyse".2 Die in diesem Beitrag vorgestellten Überlegungen beziehen sich sowohl auf die Analysen der älteren Kritischen Theorie 3 als auch auf die in der Tradition 4 und im Umfeld der Kritischen Theorie stehenden orthodox-marxistischen Ausführungen zur „Warenästhetik". 5 Eine Einschränkung ist an dieser Stelle zu treffen: Mit Bonß/Honneth6 bin ich der Meinung, dass sich die „Aktualität der Kritischen Theorie durch eine hermeneutische Selbstauslegung der „klassischen Texte" allein kaum retten lässt".7 Deshalb ist eine erweiterte Rekonstruktion notwendig. Diese hat die technologischen Veränderungen im Kulturbereich sowie die „Akzentverschiebungen der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrungsverarbeitung zu berücksichtigen". 8 Auf dieser (erweiterten) Grund-
1 2 3 4 5 6 7 8
Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Wiggershaus t Die Frankfurter Schule, S. 9. Adorno, Horkheimer, Benjamin. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. 1 u. 2. Haug, Kritik der Warenästhetik. Bonß/Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik. Bonß/Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik, S. 7. Bonß/Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik, S. 7.
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läge stellen die Analysen der Kritischen Theorie einen unverzichtbaren Orientierungsrahmen für ein reflexives Kulturmanagement dar.
I I . Kulturindustrie Sehr eingehend haben Horkheimer und Adorno in dem Kapitel „Kulturindustrie" aus der 1947 erstmals in Amsterdam publizierten „Dialektik der Aufklärung" die „rücksichtslose" Integration von Kultur in den Medienbetrieb thematisiert. Die Integrationstätigkeit ist eine doppelte. Zum einen zwingt die Kulturindustrie „die Jahrtausende lang getrennten Bereiche höherer und niederer Kunst zusammen, zu ihrer beiden Schaden".9 Die Zwangsgemeinschaft zerstört genau die gesellschaftstranszendierenden Momente, die den beiden Bereichen der Kultur als getrennten möglich war. Die „höhere" Kunst verliert dabei den Grad an Autonomie, der ihr kritischen Ernst gestattete; „die niedere (wird) durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende (gebracht), das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war". 10 Die Antinomie der Kultur hat das Entstehen der kulturindustriellen Kultur erst möglich gemacht. Weil die traditionelle Kultur durch die Autonomiesetzung des Geistes um der Erhaltung der Reinheit solcher Autonomie willen den Raum gesellschaftlich-geschichtlicher Praxis sich selbst hat überlassen und freigeben müssen, bringt sie aufgrund solcher Autonomiesetzung in sich selbst zugleich auch das entgegengesetzte Moment der Anpassung an die empirische Wirklichkeit hervor: Jene hat die durch die Autonomiesetzung des Geistes freigelassene Leerstelle der gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis zu besetzen, um deren Auseinanderbrechen ins „Chaotische" gegenzusteuern.11 Der von Adorno diagnostizierte Zerfall von Bildung und Kultur fuhrt - so Wiggershaus 12 - zur Zerstörung eines gesellschaftlichen Bereichs, in dem Raum für die Entstehung autonomen Denkens und Fühlens, des Widerstands gegen „die verhärteten Verhältnisse naturverfallener Naturbeherrschung" 13 war. Dieser Zerfallsprozess wurde beschleunigt, weil die Kultur auch zu einer „Angelegenheit von Großkonzernen und Verwaltungen wurde, die Kultur in Regie genommen und als in Regie Genommene in Übereinstimmung einerseits mit dem Profitmotiv, andererseits mit dem Interesse an der Stabilisierung autonomie-
9
Adorno, Ohne Leitbild, S. 60. Adorno, Ohne Leitbild, S. 60. 11 Schmucker, Adorno - Logik des Zerfalls, S. 85. 10
12 13
Wiggershaus, Theodor W. Adorno. Wiggershaus, Theodor W. Adorno, S. 85.
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feindlicher gesellschaftlicher Verhältnisse standardisiert und homogenisiert" 14 haben. Was an die Stelle der traditionellen Kultur getreten ist, bezeichnet Adorno als den „kategorischen Imperativ der Kultur industrie": „Du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart alle ohnehin denken". 15 Kulturindustrielle Kultur manifestiert sich als Synthese unterschiedlichster Erscheinungen: Sie hat sowohl Elemente der Volkskunst, der oppositionellen Subkulturen, als auch der autonomen Kunst in sich vereinigt. 16 Sie hat sich zu einer Massenkultur par excellence entwickelt, an der alle Bildungsgeschichten partizipieren. Kultur wird - so Adorno 1970 - unter den Bedingungen der kulturindustriellen Produktion und Verwertung so sehr von diesen aufgesogen, dass von ihr nichts bleibt als der ökonomisch gewinnreich verwertbare Ruf ihrer großen Vergangenheit. Der Kulturkonsument begnügt sich dabei und findet subjektive Befriedigung daran, „zu betrachten, zu bewundern, am Ende blind und beziehungslos zu verehren, was da alles einmal geschaffen und gedacht wurde, ohne Rücksicht auf dessen Wahrheitsgehalt". 17 Adorno bezeichnet als die „Physiognomik" der Kulturindustrie das „Gemisch aus stream-lining, photographischer Härte und Präzision einerseits und individualistischen Restbeständen, Stimmung zugerüsteter, ihrerseits bereits rational disponierter Romantik andererseits". 18 Die „Fusion von Kultur und Unterhaltung heute" beinhaltet eine „Deprivation der Kultur" und eine „Vergeistigung des Amüsements". 19 Es kommt nicht mehr zu Spannungen zwischen den Polen; Extreme existieren nicht mehr als solche, sondern gehen in eine „trübe Identität" über, 20 d.h. sie verlieren ihre gesellschaftskritische Aussagekraft. Nichts zeichnet sie mehr als Besondere aus. Die Opernarie wird zur Unterhaltungsmelodie, die man mitsummt. Der Schlager, als ebenso bekanntes Musikstück, kann direkt neben sie treten. In diesem Zusammenhang konstatiert Benjamin, dass der „Sinn fürs Gleichartige" gewachsen sei. 21 Das heißt, das Wiedererkennen und Zuordnen nach Quizmanier tritt an die Stelle der Reflexion von Problemzusammenhängen. Für die „Anschauung" lässt sich mühelos ein Beispiel nennen: Klassische Werke 14 15 16 17 18 19 20 21
Wiggershaus, Theodor W. Adorno, S. 85. Adorno, Ohne Leitbild, S. 67. Kühler , Zum Kulturbegriff Theodor W. Adornos. Adorno, Negative Dialektik, S. 385. Adorno, Ohne Leitbild, S. 64. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 129. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 116. Benjamin, Das Kunstwerk, S. 16.
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wie die Nofretete-Büste oder Tut-Ench-Amuns Goldmaske werden als solche identifiziert, ob sie nun einen Buchumschlag zieren oder auf einer Postkarte abgebildet sind. Die Anschauung im Sinne von gründlichem Hinsehen, um ein Werk genauer kennenzulernen, d.h. über seine oberflächliche Erscheinung hinaus zu verstehen, entfällt, da das bloße Wiedererkennen bereits hinreichende Bildung signalisiert. Für das Denken gilt bei diesem Beispiel, auf die Möglichkeit einer genaueren Bestimmung zu verzichten, also nicht zu reflektieren, welche Implikationen (wie Kulturraub etc.) dem Werk anhaften. Ein weiterer Aspekt, der von Benjamin thematisiert wird, ist der Appell an den Wunsch, einen Gegenstand zu besitzen, der von den Reproduktionen (man denke an wohlfeile Kunstdrucke) ausgeht. Besonders Kunstwerke verlangen nicht mehr eine intensive Betrachtung, wenn man sie sich einprägen möchte. Sie sind nun als Drucke gleich mit nach Hause zu nehmen. So kann die Betrachtung auf später verschoben werden, entfällt aber wahrscheinlich in den meisten Fällen ganz, wenn das Werk in seiner reproduzierten Form dauernd zugegen ist. Dass hier die innersten Schichten der Wahrnehmung betroffen sind, ist offensichtlich. Diese Phänomene sind als Folgen des Verfalls der Aura infolge der Reproduzierbarkeit von Kunstwerken zu interpretieren. Zu beobachten sind heute darüber hinaus Entwicklungen, die Anlass geben, Benjamins Ausführungen zu ergänzen und zu differenzieren. „Die Inszenierung von Kultur zielt wieder auf eine vom neuen Kulturvolk erlebte Aura, eine einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag."22 Allerdings muss man heute eher von einer „Simulation der Aura" durch die Kulturpolitik und die Kulturproduktion sprechen. Charakteristisch für unsere „Kulturgesellschaft" ist das Phänomen, dass die „Aura von den Objekten verschwindet und in das Erleben hinüberwechselt".23 Auf den Zerfall der Aura antworten Kulturpolitik und Kulturproduktion mit einer „Reauratisierung" von Mitteln und Orten, „in denen die profan gewordenen Gegenstände gezeigt werden. Damit treten die Ausstellungen immer mehr jenen Künsten zur Seite, die den Gegenpol eines Ausstellungsrealismus markieren: Theater, Oper, Film." 24
Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, ob nur noch diejenigen Kunstwerke ein aufklärerisches Mandat beanspruchen können, die sich durch ihre esoterische (auratische) Form dem Sog massenkultureller Ideologie verweigern. Die von Adorno geforderte Trennung von authentischer (höherer) Kunst und der Massenkultur 25 potentiell zurechenbarer (niederer) Kunst wäre demnach unab-
22
Wulf, Tendenzen der Kulturgesellschaft, S. 58. Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft, S. 61. 24 Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft, S. 63. 25 Massenkultur repräsentiert heute grenzüberschreitende konkrete „Kulturmuster, Lebensgewohnheiten, Produktions- und Rezeptionsmuster, Weltbilder, Lebensstile etc. Genauer: in ihr werden die Grenzen zwischen den konkreten Kulturen nicht mehr aus23
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dingbar. Aufgrund der Macht der „Bewusstseinsindustrie", der Herausforderung, die von den neuen Medien ausgeht, sieht Kluge 26 das Ausdrucksvermögen unserer Öffentlichkeit und damit die Gestalt des Selbstbewusstseins der Bevölkerung und des Einzelnen bedroht. Der Rückgang auf die Anfänge aller Öffentlichkeit sei deshalb notwendiger denn je: „Das, was an Florenz entzückte, was die Musik ausmacht, das Theater, den klassischen Film, die Zeitungen, die Erzählkunst der Bücher, die Wissenschaft, die ja nicht allein aus Populärsendungen über Sterne und Tiere besteht. Dieser Reichtum hatte einen Mangel: Er war nicht durch jedermann zu erwerben, aber es wäre eine verbrecherische Verwüstungsaktion, die Nichterreichbarkeit des reichen Ausdrucksvermögens für jeden aufrechtzuerhalten und zugleich die in den klassischen Öffentlichkeiten versteckte Utopie zu beseitigen, dass es für den einen oder anderen und möglicherweise auch für alle, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, erlangbar sei, etwas zu wissen, allseitig zu empfinden usf. Wer die klassischen Öffentlichkeiten zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher." 27
Der Reichtum der Erfahrung und das Geschichtenerzählen sind die Grundlagen der klassischen Öffentlichkeit, deren Charakteristikum eben der unmittelbare Zugang zu diesen Grundlagen ist. „Für diesen Verkehr gelten die Kriterien: Einmaligkeit und Dauer. Zertrenne ich die Dauer, ersetze ich die Einmaligkeit durch Übersprechen, so geht die Verbindung zu dieser menschlichen Wurzel verloren, und es entsteht abgeleitete, nicht aber klassische Öffentlichkeit." 28 Kluge fordert als Antwort auf die Entwicklung der neuen Medien, die „Zeitorte der klassischen Öffentlichkeit, darunter das Kino, die Buchhandlung, den Konzertsaal, die Oper, aktiv zu verteidigen. Gehen sie an einer Stelle unter, müssen wir sie an anderer Stelle neu gründen. Spontan entsteht davon nichts. Das Bedürfnis der Zuschauer äußert sich nicht, solange sie kein Angebot vorfinden und selber (mangels klassischer Öffentlichkeit) isoliert und zerstreut sind. 17 Millionen Wünsche oder Bedürfnisse sind, für sich, kein materieller Stoff. Sie brauchen Zeitorte". 29 Was bedeutet die Verteidigung von Zeitorten klassischer Öffentlichkeit wirklich? Beinhaltet die Forderung nach Aufrechterhaltung der Autonomie authentischer (höherer) Kunst tatsächlich ein aufklärerisches Mandat?
schließlich von den traditionellen Trägem - Völkern, Nationen, regional verwurzelten Gemeinschaften - beeinflusst, sondern zunehmend auch von neuen, nahezu allen westlichen Industriegemeinschaften gemeinsamen gesellschaftlichen Strukturen und von den ihnen entsprechend übernational geprägten gesellschaftlichen Gruppen: während die traditionellen Grenzen der an Völker und Räume gebundenen Einzelkulturen immer durchlässiger werden, entstehen neue Kulturgebilde und dementsprechend neue Abgrenzungen" (,Soeffner, Kultur und Alltag, S. 18). 26 Kluge, Die Macht der Bewusstseinsindustrie. 27 Kluge, Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 59. 28 Kluge, Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 73. 29 Kluge, Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 108.
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Zu fragen ist darüber hinaus, ob die Kulturindustrie den Massen nicht auch die autonome, ernste Kunst nahe brachte. Hatte Benjamin gänzlich unrecht mit seiner Hoffnung, i m Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke werde ein „nüchternes, aber eben heilsam nüchternes Verhältnis der Massen zur Kunst möglich? War es nicht besser, jemand hörte im Radio eine Star-Interpretation von Beethovens Neunter, als dass er überhaupt keine ernste Musik zu hören bekam?" 30 . Das Problem der Ausgrenzung der Massen und ihr Unverständnis gegenüber (höherer) Kunst und (ernster) Musik kann „weder durch die elitäre Rechtfertigung der Exklusivität noch durch massenmediale Popularisierung der Kunstwerke beseitigt werden. Demokratisch allein wäre es, um mit Bert Brecht zu sprechen, ,den kleinen Kreis der Kenner zu einem großen Kreis der Kenner zu machen'" 3 1 . Kenner sein bedeute, so Parmentier, die „richtige Distanz zum Werk" einnehmen zu können. „Überragt ein Werk das Rezeptionsniveau des Betrachters über eine bestimmte Schwelle hinaus, dann wird die Distanz zu groß. Der Betrachter hat keine Chance mehr. Er steht ratlos vor einem Wirrwarr von Farben und Klängen ohne Sinn und Zweck und geht deshalb früher oder später desinteressiert von dannen. Kommt ein Werk jedoch über eine bestimmte Schwelle dem Rezeptionsniveau des Betrachters zu nahe, dann wird die Distanz zu klein. Der Betrachter fühlt sich bestätigt. Er klassifiziert und ordnet ein und wendet sich dann ebenfalls aus Desinteresse ab." 3 2 Die Stimme des Kunstwerks zu vernehmen und seine Sprache zu verstehen, hänge von dem „kulturellen Kapital" 3 3 des Betrachters bzw. Hörers sowie von der Art des Werkes, seinem Formniveau, seiner Gattungszugehörigkeit, seinem historischen Ort ab.
I I I . Kritik der Warenästhetik Die „Kritik der Warenästhetik" von Haug 3 4 war die erste „wissenschaftliche Theorie über Design, Kosmetik, Mode, Werbung usw., die nicht an der Oberfläche der Erscheinungen kleben bleibt, sondern dahinterschaut, Ursachen und Bewegungsgesetze aufdeckt." 35 Sie weist, wenn man sich die Mühe macht, diese Analyse unter Verzicht auf ihre orthodox-marxistische Diktion zu lesen, verblüffende Analogien zu modernen, empirisch orientierten kultursoziologischen Studien 36 auf, ist in der theoretischen Analyse allerdings eindeutig strin30 31 32 33 34 35 36
Wiggershaus , Theodor W. Adorno, S. 87. Parmentier , Ästhetische Bildung, S. 73. Parmentier , Ästhetische Bildung, S. 73. Bourdieu , Die feinen Unterschiede. Haug, Kritik der Warenästhetik. Kerbs , Design, Kosmetik, Werbung, S. 43. Vgl. Schulze , Erlebnisgesellschaft; Warenwelt und Marketing.
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genter und somit relevanter Bezugspunkt für die Ausarbeitung einer Theorie des Kulturmanagements. Bei der Analyse der ökonomischen Grundprobleme geht Haug nicht von der Fülle der ästhetischen Erscheinungen aus, sondern von den wirtschaftlichen Grundlagen, nämlich von der Frage: Was geschieht, wenn etwas getauscht, gekauft, verkauft wird? Er versucht die unterschiedlichen Interessen der beiden Seiten, die sich i m Tausch- oder Kaufakt begegnen, transparent zu machen. „Treibendes Motiv und bestimmter Zweck für jede Seite im Tausch zweier Waren ist das Bedürfnis nach dem Gebrauchswert der Ware der jeweils anderen Seite. Zugleich ist die eigene Ware und mit ihr das fremde Bedürfnis nur Mittel zu neuem Zweck. Der Zweck eines Jeden ist dem jeweils Anderen nur Mittel, um durch Tausch zum eigenen Zweck zu kommen. Das Verhältnis ändert sich mit dem Dazwischentreten des Geldes. Wo Geld den Tausch vermittelt, zerlegt es ihn nicht nur in zwei Akte, in Verkauf und Kauf, sondern es scheidet die gegensätzlichen Standpunkte. Der Käufer steht auf dem Standpunkt des Bedürfnisses, also auf dem Gebrauchswertstandpunkt, sein Zweck ist der bestimmte Gebrauchswert; sein Mittel, diesen einzutauschen, ist der Tauschwert in Geldform. Dem Verkäufer ist derselbe Gebrauchswert bloßes Mittel, den Tauschwert seiner Ware zu Geld zu machen, also den in der Ware steckenden Tauschwert in der Gestalt des Geldes zu verselbständigen ... Vom Standpunkt des Gebrauchswertbedürfnisses ist der Zweck der Sache erreicht, wenn die gekaufte Sache brauchbar und genießbar ist. Vom Tauschwertstandpunkt ist der Zweck erfüllt, wenn der Tauschwert in Geldform herausspringt." 37 „Die Warenproduktion setzt sich nicht die Produktion bestimmter Gebrauchswerte als solche zum Ziel, sondern das Produzieren für den Verkauf. ,Gebrauchswert' spielt in der Berechnung des Warenproduzenten nur eine Rolle als vom Käufer erwarteter, worauf Rücksicht zu nehmen ist. Vom Tauschwertstandpunkt aus ist der Prozess abgeschlossen und der Zweck realisiert mit dem Akt des Verkaufs. Vom Standpunkt des Gebrauchswertbedürfnisses aus ist derselbe Akt nur der Beginn und die Voraussetzung für die Realisierung seines Zwecks in Gebrauch und Genuss. Zwischen den beiden Standpunkten ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Sobald sie erst einmal getrennt vorkommen, ist ihr Widerspruch auch schon eklatant."38 Die Auswirkungen,
die der Widerspruch zwischen Gebrauchswert
und
Tauschwert zeitigt, beschreibt Haug wie folgt: „Hinfort w i r d bei aller Warenproduktion ein Doppeltes produziert: erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswerts. Denn bis z u m Abschluss des Verkaufsaktes, womit der Tauschwertstandpunkt seinen Zweck erreicht hat, spielt der Gebrauchswert nur insofern eine Rolle, als der Käufer ihn sich von der Ware verspricht. V o m Tauschwertstandpunkt aus kommt es bis zum Schluss, nämlich dem Abschluss des Kaufvertrages, nur aufs Gebrauchswertversprechen seiner Ware a n " . 3 9 Aus diesem Grund löst sich das Ästhetische der Ware, näm-
37 38 39
Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 14f. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 16. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 16f.
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lieh sinnliche Erscheinung und Sinn ihres Gebrauchswertes, von der Sache ab. Das Ästhetische, die sinnliche Erscheinung der Ware, wird zum „Träger einer ökonomischen Funktion, zum Instrument für den Geldzweck". 40 Ein Beispiel für Gebrauchswertversprechen: „Macher. Den Trend bestimmen. Gegen hohle Phrasen und entstellende Reden. Für ehrliche Zärtlichkeit, schmeichelnden Sinn (?). Überlegt vertrauen. Lodenjoppe SISSI, aus Merino extrafein, Tuchbesatz, Rückenfalte, echte Hirschhornknöpfe". Das Versprechen appelliert, wie in den meisten Fällen der Werbung, nicht mehr an den Gebrauch im eigentlichen Sinn, berücksichtigt also nicht etwa Aspekte der Nützlichkeit. Vielmehr scheint der Gebrauchswert des Kleidungsstückes darin zu bestehen, dass es Ausdruck einer umfassenden Lebenshaltung (und auch Ausdruck von Sexualität) ist, bzw. darüber hinaus diese Haltung mit der „Joppe" erstanden werden kann. Hinzu kommt die Zuordnung zum Foto: , junge, selbstbewusst und unangepasst dreinschauende Frau". Haug konstatiert eine Entwicklung weg vom einfach scheinenden Gegenstand, der durch seine physischen Eigenschaften bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigt, in Richtung auf zunehmende Akzentuierung des Bedeutenden und Beziehungsvollen der Ware. Über das Zusammenwirken von Text und Bild gilt analog zur Nähe von Zaubersprüchen und Werbung: Wie in manchen Zauberformeln soll der berührte Gegenstand Eigenschaften des gesprochenen Wortes annehmen. In der Zauberei werden zusätzlich Pulver u.ä. benutzt. Die Reklame setzt auf Wort und Bild und auf die Beziehung, die der Leser automatisch zwischen ihnen herstellt. Sie wird sich zunehmend auch den Bedürfnissen zuwenden, die der Gegenstand seinen „physikalischen Eigenschaften" nach nicht befriedigen kann. „Die Sinnlichkeit der Käufer wird von der Ästhetik der Gegenstände gefangen gehalten". Eine wesentliche analytische Kategorie, mit der die Effekte der Kulturindustrie erklärt werden können, ist die „ästhetische Innovation". Bei steigender Produktivität entsteht für die Kulturindustrie ein besonderes Realisationsproblem. „Nun stoßen die ... Produktivkräfte nicht an die vielen konkurrierenden Anbieter als an ihre Grenze, sondern unmittelbar an die Schranke der Produktionsverhältnisse, die den gesellschaftlichen Bedarf, soweit er sich als zahlungsfähige Nachfrage geltend machen kann, definieren". 41 Das „Kapital" stößt sich an der zu großen „Haltbarkeit seiner Produkte". 42 Techniken, mit denen auf diese Situation geantwortet wird, bestehen in der Verschlechterung der Produkte: „künstliche Obsoleszenz" (Produktvergreisung) - Gebrauchsverkürzung. Die
40 41 42
Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 17. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 48. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 48.
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qualitative und quantitative Verminderung des Gebrauchswerts wird in der Regel durch Verschönerung kompensiert. Da aber selbst so die Gebrauchsdinge noch zu lange für die Verwertungsbedürfnisse der Kulturindustrie halten, setzen radikalere Techniken bei der Ästhetik der Ware an. „Durch periodische Neuinszenierung des Erscheinens einer Ware verkürzt sich die Gebrauchsdauer der in der Konsumsphäre gerade fungierenden Exemplare der betreffenden Warenart." 43 Diese Technik wird von Haug als „ästhetische Innovation" bezeichnet, die z.B. mit den Begriffen „Altes raus", „Neues rein" charakterisiert wird. „Die ästhetische Innovation als Funktionsträger der Regeneration von Nachfrage wird so zu einer Instanz von geradezu anthropologischer Macht und Auswirkung, d.h. sie verändert fortwährend das Gattungswesen Mensch in seiner sinnlichen Organisation: In seiner dinglichen Einrichtung und seiner materiellen Lebensweise ebenso wie in Wahrnehmung, Bedürfnisbefriedigung und Bedürfnisstruktur." 44 Die Frage, in welcher Weise und auf welche Gestalt hin die menschliche Sinnlichkeit von der Warenästhetik modelliert wird und ihrerseits auf sie zurückwirkt, nimmt in Haugs Buch unter dem Begriff „Technokrate der Sinnlichkeit" besonderen Raum ein. Haug untersucht, „wie Bedürfnis- und Triebstruktur sich ändern unter dem Eindruck ständiger Veränderung unterworfener Befriedigungsangebote, die die Waren machen."45 Was Haug mit „Technokrate der Sinnlichkeit" bezeichnet, meint Herrschaft über Menschen, ausgeübt auf dem Wege ihrer Faszination durch technisch-produzierte künstliche Erscheinungen. „Diese Herrschaft erscheint also nicht unmittelbar, sondern in der Faszination ästhetischer Gebilde. Faszination meint nichts anderes, als dass diese ästhetischen Gebilde die Sinnlichkeit von Menschen gefangen halten." 46 „Technokrate der Sinnlichkeit" sei keine Erfindung des Kapitalismus. Genuin kapitalistisch seien in erster Linie die Verwertungsfunktionen, die ästhetische Techniken ergreifen, umfunktionieren und weiterbilden und somit die Sinnlichkeit der Rezipienten modellieren. „Vermarktet die eine Branche die Verpackung der Menschen, die andere ihre Liebessymbolik, so eine dritte ihr leibhaftes Erscheinen, die Art, wie ihre Haut sich anfühlt und riecht, die Aufmachung des Gesichts, die Farbe, den Glanz und die Frisur des Haares." 47 Bedeutsam ist dabei die spezifische Art der Wirkung derartiger Mittel auf die menschliche Sinnlichkeit. So wird z.B. in der Kosmetikindustrie durch Suggestion eine Reinlichkeitsideologie aufgebaut, indem auf der Ebene angstdurchdrungener Übelkeit, die das Ekelige verursacht, eine panische Abwehr und Meidung bei den Rezipienten ausgebreitet wird. So entsteht eine neue
43 44 45 46 47
Haug, Haug , Haug , Haug, Haug,
Kritik Kritik Kritik Kritik Kritik
der Warenästhetik, der Warenästhetik, der Warenästhetik, der Warenästhetik, der Warenästhetik,
S. 50. S. 54. S. 55. S. 55. S. 95.
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soziale, in den Sinn des Individuums vermittelte und übermächtig verankerte Norm des Normalen, Sauberen, auf der anderen Seite des Abstoßenden, Niederen. „Der Vorgang darf Vorgang der Modellierung der Sinnlichkeit genannt werden. Er zeigt bilderbuchartig, wie blinde Mechanismen des Profitstrebens als an sich gleichgültiges Mittel zum Zweck und als Abfallprodukt des Profits die Sinnlichkeit der Menschen umzüchten." 48 Die Kulturindustrie „drängt sich in die engsten und unbefriedigten Sehnsüchte, dirigiert Aufmerksamkeit um, definiert den Körper neu, seinen Anblick, seinen Geruch, aber auch seine Selbstbetrachtung und Berührung". 49 Sie definiert Verhaltensweisen, strukturiert Wahrnehmung, Empfindung und Bewertung und modelliert Sprache. Bei der Prognose der Entwicklungstendenzen der Warenästhetik kommt Haug zu dem Ergebnis: „Ihrer Quantität und aufdringlichen Bedeutung nach werden die hier behandelten Phänomene zunehmen; ihrer Qualität nach werden sie bewirken, dass die Gebrauchswertstruktur der Waren sich weiter verschiebt in Richtung auf einen Überhang ihrer Beziehung auf Bedürfnisse fantastischer Art". 5 0 „Immer mehr Waren werden sich zunehmend in eine Richtung ändern, an deren Extrem das reine Bedeutungsding steht. Der Richtungsausdruck Bedeutungsding soll besagen, dass der Realisierungsgrad und die Designart des Warenkörpers als Gebrauchswert sich verschieben, weg vom einfach scheinenden Gegenstand, der durch seine physischen Eigenschaften bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigt, in Richtung auf zunehmende Akzentuierung des Bedeutenden und Beziehungsvollen der Ware." 5 1 Anders 52 verallgemeinert -
aus kulturphilosophischer Perspektive -
die
Überlegungen von Haug, in dem er Wirklichkeit im Sinne der „Wirtschafts-Ontologie" nur als den Teil begreift, der verwertbar ist oder verwertbar gemacht werden kann. 53 Das setzt massenhafte Reproduzierbarkeit und Verkaufbarkeit voraus. Das nur Einzelne, das Unverkäufliche existiert im strengen Sinne des Systems nicht. Die Zurichtung der Welt im Dienst der Produktion erstreckt sich prinzipiell auf alle Natur: Ziel ist es, bereits „in den Rohstoff so früh wie möglich einzugreifen, d.h.: ihm gar keine Zeit zu lassen, überhaupt ,nur Rohstoff zu sein ... und auch sein Werden schon zum ersten Stadium der Produktion zu machen ,..". 5 4
48 49 50 51 52 53 54
Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 98. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 99. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 125. Haug, Kritik der Warenästhetik, S. 127. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 u. 2. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, S. 179ff. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, S. 179ff.
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Anders zieht aus diesen Überlegungen Konsequenzen für den Umgang der Menschen untereinander: „Da wir in einer Welt leben, die ausschließlich aus Dingen besteht, die nicht nur ersetzbar sind, sondern ersetzt werden sollen (in extremen Fällen sogar gierig auf Ersetztwerden auftreten), ist es nicht nur plausibel, sondern einfach unvermeidlich, dass wir einen Umgangstypus ausbilden, der diesen prononciert sterblichen und todeswürdigen Gegenständen angemessen ist; dass wir in Griff, Gang, Sitz und Miene Achtund Achtungslosigkeit entwickeln. Und nicht nur den Dingen gegenüber. Es scheint mir undenkbar, dass Verhaltensarten, die Produkten gegenüber nicht mehr als Tugenden, umgekehrt sogar als Untugenden gelten, im Verkehr der Menschen miteinander als Tugenden aufrechterhalten werden können. Die Menschheit, die die Welt als ,Wegwerf-Welt' behandelt, behandelt auch sich selbst als ,Wegwerf-Menschheit'." 55 Die nie abreißende Ablösung der Produktmodelle sei die Geschichte von heute. 56 Was unsere Zeit so abenteuerlich macht - resümiert Anders
sei die
Tatsache, dass Apparate, „die Kraftwerke, die atomaren Raketen, die Weltraumgeräte, die industriellen Großanlagen, die für deren Herstellung benötigt werden, zusammen unsere alltägliche Welt ausmachen. Millionen leben davon, dass die Produktion dieser Geräte autonom geworden ist; die Ökonomie ganzer Kontinente würde zusammenbrechen, wenn die Erzeugung dieser Objekte plötzlich ein Ende fände - alle diese Tatsachen sind heute ja keine Ausnahme, keine Sensation, die man ... besingen könnte, wie das sensationelle Ereignis, das Goethe besungen hat". 5 7 Besonders problematisch sei die Tatsache, dass diesen Apparaten (Geräten) die Fähigkeit oder der Wille abgehe, das, was sie sind, auszudrücken, dass sie im extremen Maße „nicht sprechen", dass ihr Aussehen nicht mit ihrem Wesen koinzidiere. Solche Koinzidenz gebe es nicht nur im Bereich der lebendigen Mimik, sondern auch in dem der einfachen Geräte: „den Hämmern, Stühlen, Hosen oder Handschuhen ist es noch anzusehen, wozu sie da sind, sie ,sehen aus'. Nichts dagegen zeigen z.B. Kernreaktoren, die genau so harmlos und unscheinbar aussehen wie jede beliebige Fabrikanlage und weder etwas von ihren virtuellen Leistungen noch von den ihnen inhärierenden Drohungen verraten". 58 Die Menschheit bedroht heute den Fortbestand der Welt nicht deshalb, weil sie von Natur aus oder durch einen Fall „sündig" geworden wäre, sondern deshalb, „weil wir Zauberlehrlinge sind, d.h.: Weil wir mit bestem Gewissen nicht wissen, was wir tun, wenn wir unsere Produkte herstellen - weil wir es uns nicht klar machen, wonach diese, wenn sie erst einmal unseren Händen entglitten sind, verlangen - weil wir es uns nicht vorstellen, dass diese, wenn sie erst einmal funktionieren (und das tun sie bereits durch ihr bloßes Dasein), weiter zu
55 56 57 58
Anders , Anders , Anders , Anders ,
Die Die Die Die
Antiquiertheit Antiquiertheit Antiquiertheit Antiquiertheit
des Menschen, des Menschen, des Menschen, des Menschen,
Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2, Bd. 2,
S. 42. S. 300. S. 402. S. 35.
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funktionieren wünschen, nein, weiter funktionieren müssen und dass diese sich automatisch zusammenschließen, um ein Maximum an Macht, und eben auch über uns: ihre Erzeuger, zu gewinnen; und dass sie, wie jedes andere Erzeugnis, wie jede andere Ware, begierig darauf sind, verwendet und verbraucht zu werden, um der Produktion neuer Produkte nicht im Wege zu stehen".59
IV. Konsequenzen für ein reflexives Kulturmanagement Welche Folgerungen sind aus diesen kulturkritischen (kulturpessimistischen) Überlegungen für die Konzeptualisierung einer Theorie des (modernen) Kulturmanagements zu ziehen? Im Editorial der Zeitschrift „Ästhetik und Kommunikation" 60 zum Thema „Kulturgesellschaft" werden die Überlegungen der Kritischen Theorie als „merkwürdig veraltet" vor dem Hintergrund der „universellen Entwicklung einer industrialisierten Kultur" bezeichnet. Zu kurz gegriffen sei die „Analyse einer industriellen Dynamik von Kultur und Gesellschaft", die sich aus der „Logik des Kapitals nicht mehr zureichend" 61 beschreiben lasse. Ebenfalls entspreche die „Dialektik von autonomem Subjekt und verdinglichtem Ganzen, von authentischer ästhetischer Erfahrung und massenkulturellem Konsum" nicht mehr der heutigen Problemlage. „Die Spirale der Vergesellschaftung hat sich weitergedreht, ohne dass die Subjekte im falschen Ganzen vollends verdinglicht wären". 62 Da die Dynamik der Kultur sich entgrenzt habe und selbst zur Struktur von Gesellschaft geworden sei, sei es schwierig, die gegenwärtige Situation auf ein „kohärentes Gesellschaftsmodell" zu beziehen, wie dies in den Ansätzen der Kritischen Theorie mit Konzepten wie Massenkultur oder Kulturindustrie noch möglich gewesen wäre. Mit der Einführung des Begriffs „Kulturgesellschaft" glaubt man, der neuen Entwicklung Rechnung tragen zu können. Kulturgesellschaft ist die „Perspektive einer hochindustrialisierten Gesellschaft, die sich anschickt, ihre vorindustriellen, traditionalen Voraussetzungen abzustreifen und ihre eigenen Bedingungen selbst zu generieren. Kulturgesellschaft als These behauptet ... nicht, dass die Gesellschaft sich zu Kultur, schon gar als etwas Wertvollerem, gewandelt hätte. Aber sie besteht darauf, dass die Aneignung von Gesellschaft als Kultur zu einem strukturierenden Faktor der sozialen Entwicklung geworden ist". 63 Die Kultur übernehme immer mehr Funktionen, die früher in anderen sozialen Bereichen angelegt waren, sie sei zu einer zentralen gesellschaftlichen Ebene geworden, das einzige
59 60 61 62 63
Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, S. 409. Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft. Knödler-Bunte y Editorial Kulturgesellschaft, S. 21. Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft, S. 22. Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft, S. 22.
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Terrain, „auf dem man Identitätsentwürfe und Lebensstile noch erproben" 64 könne, so Knödler-Bunte in einer Diskussion über „Tendenzen der Kulturgesellschaft". Ohne auf einzelne Aspekte dieser Diskussion näher einzugehen, stellt sich doch die Frage, ob mit der Einführung eines „neuen" Begriffs „Kulturgesellschaft" tatsächlich die technologischen Veränderungen im Kulturbereich ebenso wie die „Akzentverschiebungen der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrungsverarbeitung" 65 angemessen berücksichtigt werden. Selbst wenn die phänomenologischen Beschreibungen über Entwicklungstendenzen der Kultur von Knödler-Bunte u.a. prinzipiell zutreffen, sind damit die substantiellen Analysen der Kritischen Theorie nicht widerlegt oder „veraltet", im Gegenteil. Ganz im Sinne der Theorie der „Kulturindustrie" kann heute z.B. eine zunehmende „ästhetische Problembewältigung vom Ladentisch" 66 diagnostiziert werden. Die „chronische Visualisierung" aller Lebensbereiche macht - so Kupffer - den Gebrauch der Vernunft und die Bildung einer eigenen Meinung äußerst schwierig. Es sei kaum noch möglich, „authentisch zu sprechen und zu empfinden, denn alle denkbaren Ausdrucksformen und Gefühle sind bereits vorgeformt und als Massenartikel vom Ladentisch zu haben". 67 Sprache und Gefühle seien standardisiert: Man wisse immer schon, wie man in bestimmten Situationen fühlen und sprechen müsse. Auch der Widerstand gegen solche „Ladentische" pflege dialektisch in neue Konformität umzuschlagen. „Immer wieder entstehen zwar Bewegungen, die sich um kritische Aufklärung bemühen und neue Formen des Handelns und Denkens etablieren wollen; aber keine von ihnen hält durch, sondern sie alle gerinnen nach kurzer Zeit in Programmen und Verbandsstrukturen. So wird alles, was gestern noch Aufruhr, Kritik und Widerstand gegen alte Ladentische war, selbst zum neuen Ladentisch. Dies zeigt sich an den sterilen, eingespielten Riten und Sprechblasen aufmüpfiger Bewegungen, sobald sie sich in der Öffentlichkeit als Gruppen konsolidieren." 68 Vor allem in der Politik werde mit solchen Ladentisch-Produkten gearbeitet. Überall - so resümiert Kupffer - lauert die Gefahr des „dialektischen Umschlags von rationaler kritischer Haltung zum ästhetischen Eintauchen in die konsumierende Masse".69 Um die eingangs formulierte Frage wieder aufzugreifen: Die systematische (theoretische und empirische) Aufklärung über die Wirkungsweise der „Kulturund Bewusstseinsindustrie" ist auch heute, in einer Zeit, in der Aufklärung und Moderne von vielen für obsolet erklärt werden, eine produktive Herausforde-
64 65 66 67 68 69
Knödler-Bunte, Editorial Kulturgesellschaft, S. 59. Bonß/Honneth (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik, S. 7. Kupffer, Ästhetik und Massenkultur, S. 121. Kupffer, Ästhetik und Massenkultur, S. 121. Kupffer, Ästhetik und Massenkultur, S. 121. Kupffer, Ästhetik und Massenkultur, S. 122f.
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rung für ein „reflexives" Kulturmanagement. „Ideen können nicht gegen materielle Produktion kämpfen, wenn diese die Bilder okkupiert." 70 Dem ist zuzustimmen. Deshalb sollte es zur „Ethik" des Kulturmanagers gehören, auf der Basis einer theoretisch und empirisch fundierten Kulturkritik - wie sie in diesem Beitrag in Ansätzen vorgetragen wurde - sein Handeln so auszurichten, dass die interessierten und involvierten (Kultur-) Rezipienten zu einem reflektierten (aktiven) Umgang mit den Projekten und Produkten von „höherer" und „niederer" (Massen-) Kultur angeleitet werden. Das Kulturmanagement steht vor einer Forschungsaufgabe, der es weder mit Stimmungen noch mit „neurotischer Nachsicht" 71 beikommen kann. Es hat sich mit der neuen „anthropologischen Situation" der „Medienzivilisation" theoretisch und empirisch auseinander zu setzen. „Innerhalb dieser Zivilisation werden alle Angehörigen der Gemeinschaft in unterschiedlichem Maße zu Adressaten einer intensiven, ununterbrochenen Produktion von Botschaften, die industriell in Serie gefertigt und in den kommerziellen Kanälen eines Konsums übermittelt werden, den das Gesetz von Angebot und Nachfrage steuert. Sind diese Produkte einmal als Botschaften definiert..., bedarf es ihrer Strukturanalyse, die nicht bei der Form der Botschaft verweilen oder innehalten darf, sondern die auch klären muss, wie stark die Form von den objektiven Bedingungen der Sendung determiniert ist (die somit auch die Bedeutung, die Informationskapazität der Botschaft bestimmen). Hat man erkannt, dass diese Botschaften sich an eine vielzählige und vielfältige Totalität von Empfängern wenden, müssen zweitens auf empirischem Weg die unterschiedlichen Rezeptionsweisen, je nach den historischen oder soziologischen Umständen und nach der Differenzierung des Publikums, erkundet werden. Drittens (und dies betrifft die Geschichtsforschung und die Formulierung politischer Hypothesen): Wenn feststeht, in welchem Grade die Sättigung mit den verschiedenen Botschaften Massenverhalten durchsetzen hilft, sind die Möglichkeiten und die Grundbedingungen kultureller Intervention in diesen Zustand zu ermitteln."72
Nicht tragfähig ist die von der „Kritischen Theorie" unterstellte strukturelle Symmetrie von Produktion und Konsumtion (Rezeption). „Die Subjektivierung, die individuelle Aneignung eines seriell hergestellten Produktes durch einen Einzelnen, wird damit systematisch übersehen: Das Individuum verschwindet hinter der Rolle des Konsumenten, und die spezielle Gleichheit der Produkte suggeriert fälschlich eine serielle Gleichheit der Aneignung und Nutzung." 73 Die Formen der „gesellschaftlichen Kulturaneignung, Selbstzuordnung, Selbstdefinition und Einpassung, durch die die Individuen sich (oft miteinander konkurrierenden) kulturellen Ausdrucksformen, und damit den diese repräsentie-
70 71 72 73
Kluge, Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 125. £co, Apokalyptiker und Integrierte, S. 32. Eco, Apokalyptiker und Integrierte, S. 33f. Soejfner, Kultur und Alltag, S. 26.
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rende ,Träger 4-Gruppen (häufig in mehrfacher Mitgliedschaft) anschließen",74 sind somit Gegenstand der Forschung eines modernen, soziologisch ausgerichteten Kulturmanagements. Zu analysieren ist nicht nur, „wie Menschen sich den Produkten", sondern „wie Menschen sich die Produkte anpassen", „wie Autos, Anzüge, Sammeltassen, venezianische Gondeln als Rauchverzehrer, italienische Sitzmöbel, Bücher, Briefbeschwerer, Szeneposter, Chefzimmer etc. den Individuen, deren Gewohnheiten, Umgebung und Kombinationsfreudigkeit angeglichen, wie sie in ein subjektiv konstituiertes Milieu eingearbeitet und mit ihm verschmolzen werden. In diesen Akten der Privatisierung des allen tendenziell zugänglichen und der Individualisierung des Kollektiven vollzieht sich an Subjekt und Objekt beobachtbar - die Übersetzung des Seriellen ins Einmalige (... das eigene Auto ...)". 75 „Serielle Produktion des verwechselbar Gleichen führt also nicht lediglich zur seriellen Rezeption und Konsumtion. In den mit Aneignungs- und Markierungshandlungen verbundenen Gefühls- und Erinnerungsbeigaben gehen die Massengüter durch den individuellen Zoll und werden dort als ,subjektiv' deklariert: Je mehr seriell produziert, angeboten und abgenommen wird, umso mehr wächst der Aufwand an Individualisierung serieller Produkte in der Aneignung, umso mehr wird Individualisierung gefordert - und problematisiert - , immer aber auch geleistet, und sei es auch nur in der gekonnten Zusammenstellung von ,Zitaten', von Bruchstücken des ,immer schon Dagewesenen'".76
Bergsdorf 77 konstatiert eine „Re-Individualisierung der Massenmedien" in unserer Informations- und Wissensgesellschaft. „Die technischen Möglichkeiten der Datenkompression, der Digitalisierung und des interaktiven Zugriffs ermöglichen dem Nutzer der Multimedia-Angebote eine enorme Steigerung seiner Souveränität als Konsument. Jeder wird sich künftig seine Information, Bildungs- und Unterhaltungsprogramme nach seinen speziellen Bedürfnissen und Interessen zusammenstellen können. Das Grundgesetz der Massenkommunikation lautet: Einer druckt oder sendet, viele lesen, hören oder sehen das Gleiche. Das neue Grundgesetz von Multimedia heißt: Jeder wird sein eigener Programmdirektor, jeder entscheidet selbst, welchen Inhalten er die knappe Ressource seiner Aufmerksamkeit zuwendet." 78 Dass es dabei Gewinner und Verlierer (Intelligente und weniger Intelligente, Jüngere und Ältere) hinsichtlich der Zuwendung zu den neuen Medien geben wird, ist evident. „Deshalb ist auf den Erwerb von Kompetenz im Umgang mit dem multimedialen Angebot besondere Aufmerksamkeit zu lenken." 79 74 75 76 77 78 79
Soeffner, Kultur und Alltag, S. 21. Soeffner, Kultur und Alltag, S. 27. Soeffner, Kultur und Alltag, S. 27f. Bergsdorf Zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Bergsdorf Zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, S. 8. Bergsdorf Zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, S. 9.
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Transnationale Ruhestandsmigration Hans Nokielski
In dem Maße, wie sich die Bedeutung des Raumes als eines Behälterraums, in dem die Menschen „drin sind", der ihnen dauerhaft zum Aktions- und Lebensraum, als Heimat oder Nation aber auch zum Identifikationsraum wird, durch eine Veralltäglichung des Wanderns und Pendeins zwischen unterschiedlichen Behälterräumen relativiert, sieht sich die Soziologie zu einer theoretisch wie empirisch fundierten Beschäftigung mit den Wechselwirkungen zwischen Räumlichem und Sozialem herausgefordert. 1 I m Gegensatz zu den innerstaatlichen, vielfach kleinräumigen Wanderungen älterer Menschen handelt es sich bei der transnationalen Ruhestandsmigration (im Text kurz auch „Ruhestandsmigration") um einen relativ neuartigen, erst in der Spätphase gesellschaftlicher Modernisierung an quantitativer wie qualitativer Bedeutung gewinnenden M i grationstypus. Aufzuzeigen, worin das Neuartige besteht, ist Anliegen des ersten Abschnitts dieses Beitrags. Die klassischen Fragen der Migrationssoziologie nach dem
1
Mit diesem Beitrag möchte ich Eckart Pankoke fiir mehr als dreißig Jahre einer konstruktiven Zusammenarbeit danken. Er war es auch, der mich sehr früh bereits dazu anregte, in soziologischen Analysen die Wechselwirkungen zwischen Räumlichem und Sozialem systematisch zu berücksichtigen. Zusammen mit den Politologen Karl Rohe und Volker Lück hatten wir Mitte der 70er Jahre eine kleine Arbeitsgruppe gegründet, die sich am Beispiel des Ruhrgebiets (s. Lück et al., Industrieller Ballungsraum) mit Problemen und sozialen Folgen einer räumlichen wie sozialen Entgrenzung der Gesellschaft auseinander setzte. Ein wesentlicher Beitrag Pankokes zu dieser Kooperation bestand darin, aktuelle Entwicklungen aus seiner Beschäftigung mit der soziologischen Klassik auf den Begriff zu bringen. In einer Vielzahl von Beiträgen hat er sich dann immer wieder mit dem Räumlichen von und in Gesellschaften befasst (erwähnt sei hier nur Pankoke, Polis und Regio) und auch seine sozialpolitischen und kultursoziologischen Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die soziale Konstruktion der Raumbezüge modemer Vergesellschaftung einbeziehen (als Beispiel Pankoke, Regionale »Skyline' und lokale ,Szenen'). Während in der Anfangsfrage unserer Zusammenarbeit das Forschungsinteresse auf soziale Probleme im Maßstab von Regionen gerichtet war, verbindet uns heute ein gemeinsames Interesse an der Entstehung und Entwicklung einer „Europäischen Gesellschaft" (so auch der Titel des DFG-Graduiertenkollegs an der Universität Essen, an dem wir gemeinsam beteiligt waren; s. u.a. Pankoke, Der Dritte Sektor in den Kulturen Europas). Ohne Zweifel gehört Pankoke zu den wenigen, auf die der Befund, beim Raum handele es sich um eine „vernachlässigte Dimension" soziologischer Theoriebildung CKönau, Raum und soziales Handeln, S. 7), nicht zutrifft.
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Hans Nokielski
,Wer' und , Warum 4 der Wanderungen sollen in den beiden daran anschließenden Teilen behandelt werden, während der vierte Abschnitt skizziert, was den Ruhestandsmigranten in der „Fremde" erwartet. Dass Ruhestandsmigranten keine Auswanderer sind, dass sie auch weiterhin in ihre Herkunftsgesellschaft eingebunden bleiben, nur eben an einem anderen Ort und in einem anderen Land, dass sie sich zumindest die Rückkehroption offen halten, vielfach aber sogar saisonal zwischen den Räumen ihrer alten und neuen Heimat pendeln, wird dann im letzten Teil behandelt, mit dem auch der Begriff „transnational" präzisiert und die insbesondere von Pries 2 vorgetragene These, mit den neuen Formen der Migration bildeten sich transnationale soziale Räume heraus, auf das Phänomen der Ruhestandsmigration bezogen wird. 3
I. „Wanderungen" bei Simmel Referenz einer Auseinandersetzung mit dem Raum ist in der soziologischen Klassik das Werk Georg Simmeis4. Ein Verständnis gegenwärtiger und vor allem neuartiger Formen der Migration, wie die hier zu behandelnde Ruhestandsmigration, kann an Simmel in doppelter Hinsicht anknüpfen: Zum einen, indem die Soziologie Begriffe und Denkfiguren Simmeis - wie die des Fremden 5 aufgreift, zum anderen aber, indem sie ihren Gegenstand gerade auch im Kontrast zu der vor über hundert Jahren geschriebenen Grundlagenarbeit Simmeis bestimmt. Beginnen wir damit, dass Simmel als Grundtypen der Beziehungen zum Raum die Sesshaftigkeit und das Wandern herausarbeitet. Sesshaftigkeit erscheint ihm dabei als die entwicklungsgesellschaftlich überlegenere und für die einzelnen Menschen günstigere Form, zumal dann, wenn sie den Ort ihrer Sesshaftigkeit zeitweilig verlassen und doch immer wieder an ihn zurückkehren können.6 Wer aber sind die Wanderer? Simmeis Beispielsammlung beginnt bei Völkerwanderung und Nomadenstämmen, erwähnt die wandernden Kaufleute in 2 s. Pries, Transnationale Soziale Räume; Pries, Neue Migration im transnationalen Raum. 3 Die empirischen Aussagen dieses Beitrags basieren - neben den im Text aufgeführten Untersuchungen - auf Beobachtungen und Expertengesprächen in mehreren Zielgebieten der Ruhestandmigration sowie Archivarbeiten bei dem auf Teneriffa erscheinenden „Wochenspiegel". 4 Ich beziehe mich hier auf die als Kapitel IX. in seiner „Soziologie" enthaltenen Fassung „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft", in die auch der Exkurs zum Fremden eingebettet ist; vgl. Simmel, Soziologie, 687-790. Zu den Grundaussagen und theoretischen Implikationen der Simmelschen Raumsoziologie siehe Ziemann, Die Brücke zur Gesellschaft. 5 So bspw. Merz-Benz/Wagner, Der Fremde als sozialer Typus. 6 Simmel, Soziologie, S. 764.
Transnationale Ruhestandsmigration
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der Römerzeit und die wandernden Könige, bezieht sich dann überwiegend aber auf das Mittelalter und die frühe Neuzeit: Die Gesellenwanderungen, der Kaufmann und Händler, die Wandergewerbe und die umherziehenden Bettler und Vagabunden dienen ihm als Beispiele, unterschiedliche Formen des Wandern und des Raumbezugs menschlicher Existenz und gesellschaftlicher Strukturen deutlich zu machen. Gemeinsam ist all diesen kategorialen Gruppen der Wandernden zum einen die Notwendigkeit der Wanderschaft zur Existenzsicherung, zum anderen der hohe Grad der Institutionalisierung des Wanderns im gesellschaftlichen Gefüge. 7 Übertragen in die Terminologie der Migrationssoziologie beschäftigte sich Simmel vor allem mit erwerbsorientierter Migration, wobei er in seinem Exkurs zum Fremden auf die Problematik der Einbeziehung des Migranten in die Aufnahmegesellschaft einging. Anders als die klassische Migrationssoziologie, die sich ein Gelingen der Einbeziehung des Fremden in die Aufhahmegesellschaft nur als Resultat eines - wenn auch langen, über mehre Generationen gehenden - Assimilationsprozesses vorstellen konnte, stilisierte Simmel den Fremden als jemand, „der heute kommt und morgen bleibt - sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat." 8 Als potentieller Wanderer wird der Fremde in seiner „unorganischen Angefügtheit ... doch ein organisches Glied der Gruppe, deren einheitliches Leben die besondere Bedingtheit dieses Elementes einschließt."9 Seine Beziehung zu den „Einheimischen" 10 ist eine spezifische Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit, Nähe und Distanz. Gesellschaftstheoretisch verweist die bei Simmel am Beispiel des Händlers prägnant herausgearbeitete Sozialfigur des Fremden auf die Möglichkeit einer über Funktionen - also nicht über Zusammengehörigkeitsgefühle und/oder Herkunftsgemeinsamkeiten - bestimmten Einbindung in Gesellschaften. Die heute als Tourismus bezeichnete Form des Wanderns wird in Simmeis Raumsoziologie allenfalls am Rande thematisiert, etwa in den Bemerkungen zu Reisebekanntschaften. Dies mag damit erklärlich werden, dass ein vom Erwerbszwang „freies" Reisen zu Simmeis Zeiten noch den sehr wohlhabenden
7
Dies wird besonders deutlich sowohl am Beispiel der Gesellenwanderung als einer Passage in der Berufslaufbahn des Handwerkers als auch am Beispiel des Händlers, der die ganz wesentliche Funktion hatte, als soziale „Brücke" (Granovetter,) unterschiedliche Raumteile zu verbinden, der aber - vor allem in der Person des Juden - ein dazugehöriger Außenseiter blieb und der vielfach keine Wahl hatte, weil ihm andere wohlstandssichernde Positionen nicht zugänglich waren. 8 Simmel, Soziologie, S. 764. 9 Simmel, Soziologie, S. 771. 10 Simmel verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des Einheimischen nicht.
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Schichten vorbehalten war 11 - unterstreicht zugleich aber seine Orientierung an einer auf Erwerb und Lebenssicherung bezogenen Mobilität. Gleichwohl legte er mit seiner Analyse einer in der zeitlichen Begrenztheit von Reisebegegnungen möglichen Intimität wichtige Grundlagen für eine Analyse der sozialen Beziehungen im modernen Massentourismus. Auch ein Verständnis des Tourismus als freiwilliges, zeitweiliges Verlassen der Eingebundenheit in ein sicheres Zuhause ist bei Simmel vorgezeichnet. In seiner von der Vorstellung einer Überlegenheit der Sesshaftigkeit bestimmten Systematik wird Eingebundenheit zur Bedingung der Freiheit, sich zeitweilig aus der Bindung an bestimmte Räume zu lösen und damit neue Optionen zu erschließen. Zygmund Baumann hat dies auf die Formel gebracht, dass im Gegensatz zum Vagabunden, „der kaum eine andere Wahl hat, als sich mit dem Zustand der Heimatlosigkeit abzufinden", der Tourist „ein Zuhause" habe. Dieses „Zuhause" diene ihm auf der Suche nach Abenteuern als „Teil des Sicherheitspaketes" und beschaulicher Rückzugsort: „Damit das Vergnügen ungetrübt und wahrhaft fesselnd sein kann, muss es irgendwo einen heimatlichen und gemütlichen Ort geben, der unzweifelbar der eigene ist; wohin man sich zurückziehen kann, wenn das gegenwärtige Abenteuer vorüber ist oder wenn sich die Reise als nicht ganz so abenteuerlich erweist, wie erwartet." Das Problem besteht nach Baumann jedoch darin, „dass in demselben Maße, wie die touristischen Eskapaden einen immer größeren Anteil an Lebenszeit ausmachen ... und das touristische Verhalten [sich] zur Lebensform wandelt ...-es auch immer unklarer wird, welcher Besuchsort nun das Zuhause und welcher nur einen Touristenaufenthalt bedeutet."12 Ulrich Beck hat mit dem Begriff der „Ortspolygamie" geradezu das Gegenkonzept formuliert. Sie lebe „ortspolygam", beschreibt er am Beispiel einer alten Dame die Möglichkeit, an mehreren Orten beheimatet zu sein, und sie liebe, „was sich auszuschließen scheint, Afrika und Tutzing. Transnationale Ortspolygamie, das Verheiratetsein mit mehreren Orten, die verschiedenen Welten zugehören: das ist das Einfallstor der Globalität im eigenen Leben, führt zur Globalisierung der Biographie." 13 Heimweh habe für die alte Dame zwei Orte und zwei Stimmen: „Wohin es sie zieht, hängt nicht zuletzt von dem Ort ab, an dem sie sich vielleicht schon wieder zu lange befindet." 14 Wandern in der Form des Pendeins zwischen vertrauten Orten wird zu einer den Lebensentwurf und die Identität des Wandernden bestimmenden Lebensform. Diese Lebensform ist selbst gewählt und schwach institutionalisiert - vielleicht sogar, wie dies in Becks Be11 So kommt Keitz, Die Anfänge des modernen Massentourismus, zu dem Befund, dass der Formationsprozess des Massentourismus erst in der Weimarer Zeit einsetzte. 12 Zitate in diesem Abschnitt s. Baumann, Der Pilger und seine Nachfolger, S. 184. 13 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 129. 14 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 128.
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griff der , Ortspolygamie 4 aufscheint, einer konventionellen Moralität ein wenig anrüchig.
I I . Wer sind die Wohlstandsmigranten? Auf der Grundlage ihrer umfangreichen Studien kommen King et al. zu der Schlussfolgerung, dass Standardmodelle oder Typologien der Migrationsforschung wenig zu einer Erklärung der internationalen Ruhestandsmigration beitragen können.15 Dies hat eine wesentliche Ursache darin, dass die Migrationsforschung sich vornehmlich auf die Arbeitsmigration als „Prototyp der Wanderung in modernen Gesellschaften" 16 richtete, während andere Arten und Motive der Migration - abgesehen von Flucht und Vertreibung - als weniger verbreitete Phänomene vernachlässigt wurden. An den „Wanderungsprozessen", die hier behandelt werden sollen, sind dagegen vornehmlich ältere Menschen beteiligt und es ist gerade das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, das einen zeitweiligen oder dauerhaften Wohnortwechsel möglich macht. Die Freisetzung aus Erwerbszwängen eröffnet geradezu die Möglichkeit, mit einem Wohnortwechsel den Mittelpunkt der Lebensführung zu verlagern und in einer anderen Umgebimg ein neues Leben, oder zumindest doch einen neuen Lebensabschnitt, zu beginnen. Wie noch näher zu zeigen sein wird, entscheidet sich eine wachsende Zahl älterer Menschen für eine häufig auch über größere Distanzen und Ländergrenzen hinweg gehende Wohnortverlagerung aus der Erwartung heraus, so eine Verbesserung ihrer Lebensqualität im Alter zu erreichen. Zielgebiete dieser Wanderungsbewegungen sind vornehmlich klimatisch begünstigte Zonen - in Europa insbesondere die Mittelmeerländer und die Kanarischen Inseln, in den USA insbesondere Florida, Arizona, Nevada und Teile Kaliforniens. Da ich mich im Folgenden mit Formen des freiwilligen, zumeist ein über dem Durchschnitt liegendes materielles Auskommen und einen guten Gesundheitszustand voraussetzenden Wohnortwechsels älterer Menschen auseinander setzen werde, scheint mir der Hinweis notwendig, dass Wohnortwechsel im Alter häufig auch Folge und Ausdruck von Not und Mangel sind und keineswegs immer freiwillig erfolgen. Beispielsweise können dort, wo man seine Erwerbsphase verbracht hatte, die Lebenshaltungskosten zu hoch sein, sodass aus wirtschaftlichen Erwägungen ein Wohnortwechsel notwendig wird. Gründe und Notwendigkeiten, Wohnung und Wohnort zu verlassen, zu Kindern, anderen Verwandten oder auch in ein Altersheim zu ziehen, ergeben sich bei älteren Menschen vor allem aber auch aus einer Verschlechterung ihres gesundheitli15 16
King et al., Sunset Lives, S. 91 f. Treibet, Migration in modernen Gesellschaften, S. 20.
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chen Zustandes, bei Verlust des Lebenspartners und mit Veränderungen in ihrem sozialen Umfeld. Die hier zu behandelnden Wanderungen älterer Menschen resultieren demgegenüber nicht aus einem Mangel an Ressourcen oder einer Angewiesenheit auf andere, sondern eher aus einem Überschuss an Wohlstand und Möglichkeiten. Unter den Wohlstandsmigranten sind die Ruhestandsmigranten die zahlenmäßig größte und in vielen Zielgebieten auch „sichtbarste" Gruppe. Ein typischer Wohlstandsmigrant ist beispielsweise aber auch der Unternehmer, der sich nur noch von Zeit zu Zeit in seinem Laden sehen lässt, sein Geschäft vielmehr mit Hilfe der modernen Kommunikationsmittel vom fernen und zugleich drei Stunden nahen Mallorca aus betreibt. Vorliegende wissenschaftliche Untersuchungen beziehen sich vor allem auf die Ruhestandsmigranten; dass wohlhabende und sehr wohlhabende Personen, unter ihnen viele Prominente, ein Domizil in den auch von den Rentnern und Pensionären bevorzugten Gebieten haben, ist dagegen vor allem aus den Medien bekannt. 17 Das Ausmaß der Wohlstands-/Ruhestandsmigrationen lässt sich nur annäherungsweise angeben,18 aber bereits vorsichtige Schätzungen rechtfertigen es, hier von einem gesellschaftlich bedeutsamen Typus von Wanderungen zu sprechen.19 Möglicherweise sind die Wohl-/Ruhestandsmigranten auch Vorboten eines neuartigen Raumnutzungsverhaltens und neuartiger Raumnutzungsschemata mit scharfer Trennung zwischen einerseits Räumen mit standortgebundener Produktion und anderseits Räumen, die als Wohnsitz von denen gewählt werden, die ihre Arbeit prinzipiell an jedem Ort ausüben können oder keinerlei Erwerbszwang (mehr) unterliegen. In der industriellen Moderne waren Wanderungen im Alter vielfach eine Korrektur oder Zurücknahme vorhergehender Wanderungen, die aus Erwerbszwängen erfolgt waren. Beispielsweise musste man, um bei den Kindern oder in deren Nähe zu wohnen, seinen Wohnort wechseln, weil diese zuvor, den Mobilitätszwängen moderner Arbeitsmärkte folgend, ihren Heimatort verlassen hatten. Oder man war selbst an erwerbsbedingter Migration beteiligt gewesen und
17 So widmete der Spiegel dem Phänomen der Wohlstandsmigration zwei Titelgeschichten, vgl. Zuber, Rückkehr der Vandalen; Widmann, Sog des Südens. 18 Die Gründe daftir sind vielfältig. Da viele der Ruhestandsmigranten sich in ihren Zielgebieten nicht an- und in ihren Herkunftsländern nicht abmelden, erweisen sich insbesondere Statistiken, die auf Melderegistern basieren, als nahezu unbrauchbar; die tatsächlichen Werte müssen für viele Gebiete um mehr als das Zehnfache höher geschätzt werden. Die im Literaturverzeichnis aufgeführten Untersuchungen von Breuer, Huber und King et al enthalten zu den von ihnen jeweils untersuchten Zielgebieten und Nationalitätengruppen neben den offiziellen Daten auch Einschätzungen des tatsächlichen Anteils ausländischer Bewohnergruppen. 19 Zu diesem Befund kommt auch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Migrationsbericht 2003, S. 81 f.
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kehrte mit der Verrentung in seine Heimat zurück. 20 Daneben gab es freilich auch einige sehr wohlhabende Personen, die es vornehmlich in die Kurorte und Pensionärsstädte zog 2 1 - und es gab immer auch einige Abenteurer, deren Wanderungsmotive nicht (primär) erwerbsorientiert waren. Dass ältere Menschen ihren Wohnsitz dauerhaft oder auf Zeit in weit entfernte, klimatisch begünstigte Regionen verlegen, lässt sich nutzentheoretisch gut mit der Amenity-Theorie 22 erklären. Überwiegend weisen die Befragungen das Klima als den Hauptgrund der Wanderungen aus. 23 Ergänzt durch weitere Annehmlichkeiten wie die Schönheit der Landschaft und zuweilen auch ökonomische Vorteilhaftigkeit, etwa die Möglichkeit eines günstigeren Erwerbs von Wohneigentum als im Herkunftsland, ist es immer wieder vor allem das Klima, welches ein angenehmeres Leben zu ermöglichen verspricht: sei es, dass man sich im sonnigen Süden gesundheitlich wohler fühlt oder das Klima andere Aktivitäten ermöglicht als die kalten Winter im Herkunftsland. Der Wunsch einer solchen Übersiedlung ist weit verbreitet. Unter der Bedingung ausreichender ökonomischer Mittel, über die in den reicheren Ländern Europas nicht nur eine Minderheit ökonomisch privilegierter Personen, sondern eine breite Mittelschicht der Gesellschaft verfügt, stellt sich die Übersiedlung als eine reale Möglichkeit und nicht als unrealisierbarer Traum vom fernen Glück dar. Mehrere Urlaube in einer Region oder ein gezieltes Vergleichen mehrer Regionen führen häufig schon vor Eintritt in den Ruhestand zum Kauf eines Hauses oder einer Wohnung. Dem folgt zumeist eine Bündelung der Ferienzeiten auf Aufenthalte im eigenen „Heim". M i t Verfügen über mehr freie Zeit - insbesondere mit dem Ruhestand, aber auch als Unterbrechung des Erwerbslebens (sabbatical) - weiten sich die Aufenthalte (etwa in Form des Überwinterns) mit der Option des dauerhaften Verbleibs und der Auflösung des Wohnsitzes im Herkunftsland. Zuweilen wird auch eine Wohnung oder ein Haus gemietet - als Übergangslösung oder dauernde Bleibe. Wann und ob der Tourist zum Residenten wird, lässt sich vielfach aber kaum sagen. De jure ist ein touristischer Aufenthalt in Ländern wie Italien oder Spanien, auch für EU-Bürger, zwar auf sechs Monate begrenzt, wer länger bleiben will muss eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen und wird so zum Residenten - de facto beantragt jedoch nur ein kleiner Teil der Wohlstands-/Ruhestandsmigranten eine Aufenthaltsgenehmigung.
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Dazu Dietzel-Papakyriakou, Wanderungen alter Menschen. Für Deutschland Koch, Altenwanderung, für Großbritannien King et al., Sunset
Lives. 22 Dt. „Annehmlichkeitentheorie"; vgl. Breuer, Deutsche Rentnerresidenten auf den Kanarischen Inseln, S. 10. 23 s. bspw. King et al., Sunset Lives, S. 94.
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Dass der Traum vom Lebensglück im sonnigen Süden einer größeren Zahl von Menschen zur Option ihrer Lebensführung werden konnte, kann in einem ersten Analyseschritt, bei dem die Wanderungsbewegungen aus der Vogelperspektive gesellschaftsprägender Wandlungsprozesse beobachtet werden, aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung erklärt werden: Die gestiegene Lebenserwartung und der frühere Eintritt ins Ruhestandsalters, die gestiegenen Alterseinkommen, die Ausbreitung des Tourismus und die in Zeit- und Geldeinheiten messbare Absenkung der Kosten einer Distanzüberwindung sowie infolge politischer Veränderungen die Möglichkeiten ungehinderter Niederlassung und des Eigentumserwerbs im Ausland. Diese gleichsam notwendigen Bedingungen erklären jedoch noch nicht, warum einige Menschen ihren Wohnsitz im Alter verlagern, andere jedoch nicht. In einem zweiten Schritt könnte man die Beteiligten näher ins Auge fassen und dabei zunächst einmal nach Merkmalen der sozialen Lage analysieren. Ohne hier auf Details einzugehen, ist das Ergebnis, dass das Schichtungsniveau der Ruhestandsmigranten - gemessen an Indikatoren wie Einkommen, Bildung und Stellung im Beruf - höher ist als das der in ihrem Heimatland bleibenden Gleichaltrigen. Damit bestätigt sich aber nur, dass an der Ruhestandsmigration vor allem die mittleren und höheren Schichten der Gesellschaft beteiligt sind. 24 Aber auch bei diesen steht der Minorität der Wandernden eine Majorität der Bleibenden gegenüber. Die beste Verhaltenserklärung für Ruhestandsmigration gehe, konkludieren King et al., 25 auf zwei Charakteristika der beteiligten Menschen zurück: ihre Ressourcen und ihre Wünsche. Veränderungen in den Lebensstilpräferenzen seien in dieser Lebensphase nicht allein ökonomisch erklärbar, sie wurzelten vielmehr in Modifikationen im Selbstkonzept der Menschen, in ihrer Identität und ihren egozentrischen Motivationen. Und an anderer Stelle heißt es: „The 'behaviour' is highly selective of individuals, and our best chance of identifying who migrates is to identify the personal and life course traits that are 'risk factors' or antecedents."26
I I I . Ruhestandsmigranten als Raumpioniere Lebenslauf und Lebensstil machen demnach den Unterschied aus, der bei gleicher Lebenslage eine Entscheidung zur Ruhestandsmigration begünstigt. Soweit es um den Lebenslauf geht, deuten die Untersuchungen darauf hin, dass 24 25 26
Vgl. King et al., Sunset Lives, S. 75ff. Vgl. King et al., Sunset Lives, S. 20If. Vgl. King et al., Sunset Lives, S. 200.
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viele der Ruhestandsmigranten bereits in ihrer Erwerbsphase mobiler waren als die Bleibenden. So war ein hoher Anteil der Engländer, die in Spanien ihren Altersruhesitz genommen haben, zuvor beruflich im Ausland tätig 27 - andere waren zuvor eifrige Touristen. Mit der zentralen Bedeutung von Lebenslauf und Lebensstil wird es möglich, die zunächst auf der Individualebene geführte Analyse der Wanderungsentscheidungen mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen zu verbinden und Befunde der soziologischen Lebensstilforschung einzubeziehen. Dabei interessieren insbesondere jene Lebensstilmuster, bei denen ein Verfügen über Zeit und Raum zu einem wesentlichen Gestaltungsmittel der Lebensführung wird. Grundannahme soziologischer Lebensstilforschung ist die Entkoppelung des Lebensstils von der Lebenslage28 und damit die Herausbildung von „subjektiven" Lebensstilen, die einen Freiraum zu einer Lebensgestaltung jenseits der Zwänge und Notwendigkeiten eines der sozialen Lage standesgemäß angemessenen „Überlebens" eröffnen. Dies wird einer größeren Zahl von Menschen erst in weit entwickelten industriellen sowie in nachindustriellen Gesellschaften möglich. Zum einen wird erst in dieser verhältnismäßig späten Phase des Modernisierungsprozesses für größere Bevölkerungsteile ein hohes Niveau materieller und sozialer Sicherheit erreicht. Zum anderen kommt es - teilweise als Folge des hohen Wohlstandsniveaus - erst in der Spätphase des Modernisierungsprozesses zu einem Wertewandel, mit dem die „Selbstentfaltungswerte" bedeutsamer werden als die „Pflicht- und Akzeptanzwerte". 29 Freilich sind auch hier die Übergänge fließend, wie sich am Beispiel des Verfügens über Zeit verdeutlichen lässt. Bereits in der industriellen Moderne entwickelte sich die Freizeit - und mit ihr der Tourismus - zu einer, der von Zwängen bestimmten Arbeitswelt nebengelagerten ,Welt der Freiheit' individuellen Entscheidens und Gestaltens. Gestiegener Wohlstand und die neuen Transportmittel erlaubten es nun, dass man sich, zumindest für die überschaubare Zeit des Urlaubs, an auch weit entfernte Orte begab, aber doch immer wieder an den Ausgangspunkt und damit in die Arbeitswelt zurückkehrte. Die Zeit- und Raumordnung der industriellen Moderne blieb damit im Kern jedoch unangetastet. Über wie viel „freie" Zeit man verfügen konnte, war weitgehend noch kollektives Schicksal, abhängig von der Steigerung der Arbeitsproduktivität und vom Ausgang der Verhandlungen der Tarifpartner. Von einem neuen Muster des Umgangs mit Zeit ist erst dann zu sprechen, wenn auch die für Arbeit verwandte Zeit disponibel wird und die Individuen sich die Zeitsouveränität aneignen, gemäß ihrer Lebenskonzepte und -pläne, 27 28 29
Vgl. King et al., Sunset Lives, S. 85ff. Vgl. Hradil, Alte Begriffe und neue Strukturen. Begriffe nach Klages, Wertedynamik.
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über das Verhältnis von Arbeitszeit und arbeitsfreier Zeit selbst zu entscheiden. Zumeist wird dabei der Gewinn an Zeit mit einem Verlust an (materiellem) Wohlstand erkauft - und schon deshalb realisieren nur wenige den Wunsch, mehr Zeit für sich zu haben und freier über Zeit verfügen zu können. Hinzu kommt, dass mit dem Ausscheren aus den standardisierten Mustern gesellschaftlicher Zeitvorgaben nicht unerhebliche Risiken und Beeinträchtigungen verbunden sind. Grundvoraussetzung der Selbstaneignung von Zeitsouveränität aber ist „eine ins Lebensarrangement eingelassene Bewusstheit gegenüber sozialen Zeitbezügen". Karl H. Hörning und Matthias Michailow sprechen ausdrücklich vom „Lebensstil der Zeitpioniere", der abziele „auf den Ausbau disponibler und flexibler Zeitstrukturen sowie auf die Schaffung von Zeitwohlstand" und der in seiner „Zuspitzung auf eine eigenwillige Zeitstrukturierung ... eine spezifische und eigenständige Form der Erwerbsbeteiligung und der Haushaltsproduktion" hervorbringe. Zeitsouveränität steht dabei in bewusster Opposition zum Zeitdiktat der industriellen Moderne. Die in die Untersuchung als „Zeitpioniere" einbezogenen Personen sind überwiegend in gehobenen Berufen des Dienstleistungssektors tätig. Sie sind inhaltlich durchaus auf ihre Berufsarbeit hin motiviert, wollen zugleich jedoch für sich mehr Zeit haben. Genau dies aber, arbeitsinhaltlich engagiert zu sein und zugleich Zeitsouveränität, mithin die Möglichkeit einer zeitweiligen „Distanzierung von der Arbeitssphäre", zu beanspruchen, führt in einer vom „Denkschema des Normalarbeitszeitstandards" bestimmten Arbeitswelt zu „Irritationen" und Problemen der Einschätzung der Engagementbereitschaft, weshalb die Zeitpioniere nicht selten zu „Außenseitern des Betriebsgeschehens" werden. 30 Wegen der in ihrem Lebensstil angelegten Abweichung von der Normalität industriegesellschaftlicher Raumnutzungsschemata könnte man Ruhestands-/ Wohlstandsmigranten in Analogie zu den Zeitpionieren als ,Raumpioniere' bezeichnen. In diesen Zusammenhang gehören auch Vorstellungen vom Heim als Fixpunkt des Lebens und der Heimat als einem räumlichen und sozialen Umfeld, in das der Mensch „eingebettet" ist. Beheimatet zu sein, Freunde, Nachbarn und Familie zu haben, gilt als hohes Gut. Genau dieses Gut der eingelebten , Ligaturen' (Dahrendorf) aber setzt der Ruhestandsmigrant scheinbar aufs Spiel, indem er seinen Wohnsitz an einen fernen Ort verlegt und sich dem Risiko aussetzt, in einer ihm fremden Umgebung Vertrauen und Vertrautheit, Reziprozität und Solidarität neu aufbauen zu müssen. Wie der Zeit- hat auch der Raumpionier damit zu rechnen, dass sein Verhalten Irritationen verursacht: Soziale Eingebundenheit zugunsten der Annehmlichkeiten eines milden Klimas und der Möglichkeiten, die sich damit ergeben (vom Spaziergang bis zu Golf), aufzugeben, erscheint im Denkschema der industriellen Moderne geradezu als unver-
30 Zitate in diesem Abschnitt Hörning/'Michailow, tungsform, S. 513.
Lebensstil als Vergesellschaf-
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nünftig, zumal das Älterwerden mit einer zunehmenden Angewiesenheit auf Hilfeleistungen anderer verbunden sein kann. Der Ruhestandsmigrant wird somit leicht als jemand wahrgenommen, der zugunsten von Annehmlichkeiten, die er in der Phase seines „aktiven" Alters genießen will, die Risiken von Krankheit, Gebrechlichkeit und Verwitwung vernachlässigt. 31
IV. Wie fremd ist die „Fremde"? Verlässt der Wohlstandsmigrant seine „Heimat", um Glück und Annehmlichkeiten in der „Fremde" zu suchen? Der Einfachheit halber werde ich mich hier nur mit dem zweiten Teil der Frage auseinander setzen, wie fremd den Wohlstandsmigranten die Situation in den Zielgebieten ihrer Wahl ist. 32 In Europa handelt es sich bei den Zielgebieten der Ruhestandsmigration überwiegend um touristische Regionen mit vom Tourismus durchprägten Orten. Ausgesprochene „Retirement Settlements" wie in den USA, die als „gated communities" gegenüber ihrer sozialen und räumlichen Welt abgeschlossen sind, 33 sind in Europa nicht verbreitet. In einigen der Zielgebiete überwiegt die disperse Siedlungswiese mit ländlichen Wohnsitzen, so z.B. in der Toskana, während in anderen Gebieten, so u.a. an der spanischen Festlandsküste, die konzentrierte Siedlungswiese der „urbanización " vorherrscht. Vereinzelt werden auch Häuser in vornehmlich von Einheimischen bewohnten Ortskernen erworben. Bei der Urbanisation handelt es sich um ein neu erschlossenes Wohngebiet, das von einem Bauträger vornehmlich auf die Zielgruppe ausländischer Immobilieninvestoren hin entwickelt wurde. Typisch für die Urbanisation ist, dass Teile der Ver- und Entsorgung ebenso wie die Erschließung und Instandhaltung der „öffentlichen" Räume nicht durch die Gemeinden, sondern die Urbanisation selbst erfolgen. Je nach Lage und Bebauungsweise unterscheiden sich die Urbanisationen erheblich in der Art ihrer Nutzung und der Sozialstruktur ihrer teils dauerhaften, teils zeitweiligen „Bewohner". Unter anderem weil die Häuser zu-
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Auf der Grundlage der von ihm durchgeführten narrativen Interviews kommt Breuer, Deutsche Rentnerresidenten auf den Kanarischen Inseln, S. 50, zu dem Schluss, „dass psychologische Barrieren auf Seiten der Senioren eine vorausschauend planende Auseinandersetzung mit dem Gedanken an die eigene Pflegebedürftigkeit verhindern." 32 Zum ersten Teil gibt es auch zu wenig empirische Informationen. Wohl lässt sich vermuten, dass - insbesondere infolge des demographischen Wandels, sozialer wie räumlicher Mobilität und fortschreitender Individualisierung - die Bindewirkung von Heimat nachlässt. 33 Zu den Unterschieden zwischen den Urbanisationen in Spanien und den ,gated communities' in den USA s. Huber, Sog des Südens, S. 61 ff.; zu einer sozialpolitischen Analyse und positiven Würdigung der bei ihr als „Insulation" beschriebenen Wohn- und Lebenssituation in amerikanischen Altenwohnstädten wie Sun City s. Schulz, Soziale Beziehungen.
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meist zu einem Zeitpunkt gekauft werden, da die Eigentümer noch erwerbstätig sind, dienen in den meisten Urbanisationen zumindest einige Häuser der Vermietung an Touristen; auch die Eigentümer nutzen sie lediglich zu Ferienaufenthalten. Schon aus diesem Grunde handelt es sich hier nicht um Altersghettos. 34 In vielen Urbanisationen dominieren Bewohner aus bestimmten Herkunftsländern, einige haben eine stärker deutsche, andere eine englische Prägimg. Aber die ethnisch homogene Urbanisation ist eher der Ausnahmefall; überwiegend setzen sich aktueller Nutzerkreis und Eigentümergemeinschaft aus Angehörigen mehrerer europäischer Nationen zusammen. Zusammenhänge zwischen Siedlungsweise, Gemeinschaftsleben und nachbarschaftlichen Umgangsformen gibt es in den Urbanisationen ebenso wie in den Wohngebieten der Herkunftsländer, aus denen die Nutzer und Eigentümer stammen. In einigen Urbanisationen reduziert sich das Nachbarschaftsverhältnis auf bloße Grußrituale, während in anderen ein intensives Gemeinschaftsleben gepflegt wird. 35 Aber ohnehin ist mit der Einbindung in das soziale Leben der Urbanisation nur ein Teilbereich der Integrationsproblematik angesprochen, da Aktionsraum und Verkehrskreis der Nutzer und Eigentümer - unter diesen als größere Gruppe die Ruhestandsmigranten - sowohl über die Urbanisation hinausgehen als teilweise auch räumlich und sozial enger geschnitten sind. Beispielsweise erhalten viele der dort dauerhaft oder über längere Zeiträume lebenden „Ausländer" nicht selten (auch längere) Besuche von Familienangehörigen und Bekannten aus ihrem Herkunftsland, so dass Teile der alten Verkehrskreise gleichsam mitgenommen werden. Ruhestandsmigranten leben einerseits in einer eigenen, von der der „Einheimischen" 36 deutlich getrennten Welt. Teil dieser Welt sind die engeren Sozialkontakte zu Verwandten, Freunden und Bekannten. Teil dieser Welt ist ferner das soziale Leben in der Urbanisation und in deren Umgebung. Dort, wo der Umfang der Ruhestandsmigration die kritische Schwelle von Pionierwanderun-
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Dies hat Vor- und Nachteile. So können sich im räumlichen Nahbereich zwischen Ruheständlern und Touristen aufgrund anderer Gewohnheiten und Bedürfnisse erhebliche Konflikte ergeben. 35 Nach Huber, Sog des Südens, S. 69f., kann „das Nachbarschaftsleben in vielen Urbanisationen nicht gerade als überbordend und lebendig bezeichnet werden. Obschon keine automatische Wechselwirkung zwischen öffentlichem Raum und öffentlichem Leben nachgewiesen werden kann ..., ist es eine Tatsache, dass in den Urbanisationen praktisch kein öffentliches Leben stattfindet, nicht zuletzt deshalb, weil in der Regel die dafür nötigen Orte (vor allem Plätze und Pärke) fehlen." Seine unter der Überschrift „Urbanisationen als Nicht-Orte" geführte Kritik (vgl. S. 65ff.) ließe sich aber auch auf eine Vielzahl städtebaulicher Situationen in den Herkunftsländern der Bewohner/Eigentümer übertragen (Neubaugebiete, künstliche Vorstädte und Neuerschließungen im ländlichen Raum). 36 Dabei stellt sich insbesondere in den vom Tourismus durchprägten Gebieten Spaniens an vielen Orten die Frage: Wer sind überhaupt die Einheimischen?
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gen überschritten hat, gibt es auch ein Vereinswesen und geselliges Leben der Ruhestandsmigranten - zumeist in nach nationaler Herkunft und/oder Sprachen segmentierter Form. 37 Ruhestandsmigranten leben anderseits zugleich aber - wie auch die Einheimischen - in einer Welt der Funktionssysteme einer funktional differenzierten Gesellschaft. 38 Insbesondere nehmen sie als Konsumenten am Wirtschaftleben teil. Hier aber gilt die Sprache des Geldes und greifen die Regeln des Markttausches. Wiederum war es Simmel 39 , der die Vorarbeiten zum Verständnis der gerade im Wirtschaftssystem wirksamen „Generalisierung der Fremdheit in modernen Gesellschaften" 40 geleistet hat, indem er zeigen konnte, dass sich mit der das moderne Leben prägenden Geldwirtschaft schließlich der Sonderstatus des Fremden auflöst und die Menschen als Wirtschaftssubjekte sich generell als Fremde begegnen. Gegenseitige Fremdheit galt Simmel zudem als Bedingimg dafür, die übergroße Nähe sozialer Berührungen und Kontakte in der Dichte großstädtischen Lebens aushalten zu können. Simmeis Überlegungen lassen sich gut auf die Situation in touristischen Gebieten übertragen. Ohnehin ermöglichen die modernen Vertriebstechniken der Selbstbedienung einen nahezu „stummen Tausch" 41 , sie fordern weder besondere Sprachkompetenz noch Empathie. Zwar ist ein wenig „Supermarkt-Spanisch" 42 am Gemüsestand und an der Frischfleischtheke hilfreich, notwendig ist es jedoch nicht. Auch in den kleineren Läden mit Bedienung hat sich das Personal sprachlich zumeist auf Touristen eingestellt;43 das Angebot der Waren ist dem Touristen
37 So sieht Huber, Sog des Südens, S. 47f., in seiner Costa Bianca-Studie in der Entstehung eines regen und vielfältigen Vereinslebens eine der wichtigsten sozialen Folgen der Ruhestandsmigration. 38 Zum theoretischen Hintergrund der Argumentation siehe Luhmann, Inklusion und Exklusion. 39 Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 290. Siehe dazu auch Schroer, Fremde, wenn wir uns begegnen, S. 23f. 40 So die Formulierung bei Hahn, Die soziale Konstruktion des Fremden, S. 162; Schroer, Fremde, wenn wir uns begegnen, knüpft an die Überlegungen von Hahn an, arbeitet zugleich aber deutlicher noch die Spannungen heraus, die aus der Gleichzeitigkeit „der Universalisierung der Fremdheit und der Sehnsucht nach Gemeinschaft" (aus dem Untertitel seines Beitrags, meine Hervorhebung) resultieren. 41 Für Max Weber bringt „der stumme Tausch, Tausch unter Vermeidung persönlicher Berührung, ... den Gegensatz gegen die persönliche Verbrüderung drastisch zum Ausdruck." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.383) 42 Den Begriff entnehme ich einem meiner Expertengespräche. 43 Auch Brewer, Tourismus, Geschäftspraktiken und ethnische Kategorien, der seine Untersuchung in einem mexikanischen Touristenort mit einem hohen Anteil ausländischer Residenten durchführte, konnte zeigen, dass die Geschäftsleute zwischen den „turista" und den „visitante" keinen Unterschied machen. Mit gleichem Befund Pedregal, Tourism and Selfconsciousness.
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ohnehin vertraut, da neben einigen heimischen Produkten vor allem die ihm bekannten Markenartikel angeboten werden. Bei anderen Funktionssystemen, so insbesondere beim Gesundheitssystem und in der Beziehung zum politisch-administrativen System, wird zwar auch das Prinzip der Fremdheit als Teilhabemodus wirksam, die konkreten Interaktionen dagegen gestalten sich, u.a. weil sprachlich vermittelt, jedoch problematischer. Sprachliche Schwierigkeiten beim Arztbesuch werden von den Ruhestandsmigranten als eines der Hauptprobleme, zuweilen sogar als Grund für eine Rückkehr ins Herkunftsland genannt. Probleme der Lebensführung können sich zudem daraus ergeben, dass die soziale Sicherung nach nationalem Recht geregelt ist und die Sicherungssysteme in den Ländern Europas unterschiedlich stark ausgebaut sind. Die Wahrnehmung von Teilhaberechten sozialer Sicherung wird damit davon abhängig, ob diese in ein anderes Land transferierbar sind und ob es dort entsprechende Leistungssysteme gibt. 44 Eine ausreichende medizinische Grundversorgung ist nahezu in allen Zielgebieten der Ruhestandsmigration gegeben. Werden jedoch fachärztliche Behandlungen oder Spezialbehandlungen in Krankenhäusern notwendig, ist vor allem mit längeren Wartezeiten zu rechnen. Da in den Ernstsituationen schwerwiegender Erkrankung das Unsicherheitserleben ohnehin hoch ist und durch Kommunikationsschwierigkeiten noch gesteigert wird, kehren viele Ruhestandsmigranten unter solchen Umständen zur Behandlung oder auf Dauer in ihre Heimatländer zurück. Zudem erfolgt in den südlichen Ländern die Pflege und Versorgung alter und gebrechlicher Menschen weitgehend noch innerhalb der Familie. An einigen Orten gibt es zwar private ambulante Pflegedienste und stationäre Einrichtungen der Altenpflege/-betreuung, aber insgesamt ist eine Infrastruktur der Altenhilfe in Ländern wie Spanien oder Portugal allenfalls in Ansätzen vorhanden. 45 Ein häufiger Grund der Unzufriedenheit sind auch die Probleme im Umgang mit Behörden. Je nach Aufenthaltsdauer haben sich Ausländer bei unterschiedlichen Behörden anzumelden, womit dann auch Formalitäten wie die Ummeldung des Autos verbunden sind. Der Ausländer wird zudem steuerpflichtig; es gelten u.a. auch andere Erbschaftsregelungen und andere Bauvorschriften. Da sich auch die Üblichkeiten im Umgang mit den Behörden aufgrund anderer Verfahrensregelungen und einer anderen Verwaltungskultur vielfach gegenüber den aus den Herkunftsländern gewohnten unterscheiden, kommt es nicht selten zu Fehleinschätzungen, Erwartungsenttäuschungen und folgenschweren Fehlhandlungen. Kurzum: Die rechtlich codierten Systeme sind dem Zuwanderer
44 Vgl. dazu Seiler, Sozialpolitische Aspekte der internationalen Mobilität von Rentnern; allgemein zum Problem der sozialen Sicherung bei Wanderungen innerhalb der EU s. auch Eichenhofer (Hrsg.), Social Security. 45 s. zu einer Darstellung und Analyse der ambulanten und stationären Einrichtungen der Altenhilfe in Spanien Huber, Sog des Südens, S.243ff.
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nicht nur in sprachlicher Hinsicht fremd. Allerdings haben sich in den Zielgebieten der Ruhestandsmigration Interessengemeinschaften gebildet und Professionen, wie insbesondere Rechtsanwälte und Steuerberater, niedergelassen, die darauf spezialisiert sind, in den jeweiligen Sprachen und mit Kenntnis der rechtlichen Bestimmungen sowohl des Herkunfits- als auch des Aufnahmelandes intermediär die Vermittlungsarbeit zu übernehmen und so die Beteiligten zu entlasten. Ob Ruhestandsmigranten Einfluss auf die politischen Prozesse und Strukturen in den Gemeinden ihrer „Wahlheimat" nehmen können, hängt zunächst einmal davon ab, ob sie bereit sind, sich als Residenten einzuschreiben. 46 Dann nämlich - und nur dann - erhalten sie, sofern sie EU-Bürger sind, das aktive und passive Wahlrecht. Ob sie damit lediglich ein formales Beteiligungsrecht oder die Möglichkeit einer tatsächlichen Einflussnahme auf das politische Geschehen erlangen, hängt vor allem davon ab, wie hoch in der Gemeinde der Anteil der als Residenten registrierten EU-Ausländer ist. In einigen Gebieten Spaniens haben sich bereits Ausländer-Wählergemeinschaften herausgebildet, die teilweise auch in die Gemeinderäte gewählt wurden. Auch wenn diese Wählergemeinschaften nicht die Mehrheit erreichen, können sie durch Koalitionsbildung mit den etablierten Parteien immittelbaren Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen. Ein anderer Zugang zum politischen System besteht darin, dass EU-Ausländer einer etablierten Partei beitreten und über deren Liste kandidieren. Ob und inwieweit die Inklusion der EU-Ausländer in die Kommunalpolitik insbesondere in Gemeinden mit hohem Ausländerländeranteil oder sogar Ausländermehrheit - längerfristig zu andern Machtstrukturen und anderen Politikergebnissen führt, welche Anpassungen auf der Ebene der Verfahren notwendig werden und wie sich die politische Kultur einer bislang zumeist doch parochialen Ortspolitik verändern wird, ist derzeit kaum zu sagen.47 Wohl aber lässt sich 46 Die Gründe, sich nicht anzumelden, sind vielfältig. In das individuelle Kalkül werden dabei Fragen der sozialen Absicherung (insbesondere Krankenversicherung) ebenso einbezogen wie Probleme des Steuer- und Erbschaftsrechts. Tipps und Tricks, unter welchen Bedingungen ein Residentenstatus vorteilhaft oder nachteilig ist, vermitteln am Buchmarkt erhältliche Einwanderungshilfen, die, unter Abwägung der Risiken aufzufallen, auch Empfehlungen zu einem Handeln am Rande der Legalität geben; vgl. beispielsweise Constantin, Kanarische Inseln. Ihre zweite Heimat. 47 Dazu nur ein Detail: Anders als die Eigentümerversammlungen der Urbanisationen, die - wenn dies in der Satzung geregelt ist - in Spanien auch in einer ausländischen Sprache abgehalten werden können, verhandelt der Gemeinderat in Amtssprache. Gerade in den Zielgebieten der Ruhestandsmigration ist aber nicht Kastilianisch, sondern Katalanisch oder Valencianisch (südlicher Dialekt des Katalanischen) eine der örtlichen Amtssprachen. Von den EU-Ausländern kann zwar erwartet werden, dass sie das kastilianische „Spanisch" sprechen, nicht aber eine der Regionalsprachen. Die Verhandlungen müssen dann, wenn die Ausländer - und hier auch die „Spanier" - überhaupt eine Chance zur Beteiligung haben sollen, in das Kastilianische übersetzt werden. Sprachdis-
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beobachten, dass einzelne Ruhestandsmigranten in der Chance politischer Interessenwahrnehmung eine Herausforderung sehen, sich aktiv am politischen Leben ihrer Gemeinde zu beteiligen. Da politische Beteiligung auf der Interaktionsebene immer auch damit verbunden ist, dass man sich kennen lernt und eine Beziehung eingeht, lässt es sich gar nicht vermeiden, dass sich über die operativen Kontakte und Bündnisse hinausgehende gesellige und andere zwischenmenschliche Beziehungen ergeben. In diese Beziehungen sind zwar zunächst einmal nur die politisch engagierten Einzelpersonen beider Gruppen einbezogen, doch wirken diese zugleich als „Brücken" zwischen den Netzwerken der Einheimischen und der Ausländer. Deshalb - und weil eine ausklammernde Nichtbeachtung der Ausländer nicht mehr möglich ist, wenn diese an der politischen Verantwortung für die Gemeinde beteiligt sind oder sich auch nur darum bewerben - trägt bereits die bloße Chance politischer Beteiligung zu einem Aufweichen der strikten Trennungen der Verkehrskreise, Lebenswelten und Interessensphären von Ausländern und Einheimischen bei. Da eine aktive politische Beteiligung nicht nur ein Beherrschen der Landessprache, Empathie und die Bereitschaft zu einem auch in zeitlicher Hinsicht erheblichem Engagement voraussetzt, wird zunächst jedoch nur eine kleine Minderheit der Migranten dazu bereit und befähigt sein. Mit dem aktiven und passiven Wahlrecht der Ausländer sind aber auch Risiken verbunden. So könnte der Einflussgewinn der Ausländer - gar die Möglichkeit, von ihnen regiert zu werden - von den Einheimischen auch als Zumutung und Bedrohung wahrgenommen werden. Die bei vielen Einheimischen vorhandene Fremdendistanziertheit könnte dann leicht in latente oder sogar offene Fremdenfeindlichkeit umschlagen. Zwar sind Flächenbrände kaum zu erwarten, da nur in wenigen Gemeinden kritische Schwellen des Ausländeranteils erreicht werden und viele Residenten sich ohnehin nicht anmelden und so ihre politischen Rechte verspielen, punktuell könnte es jedoch zu erheblichen Konflikten kommen. Da eine hohe Konzentrationen von EU-Ausländern auf kommunaler Ebene bislang und wohl auch zukünftig nur in Zusammenhang mit Wohlstands-/Ruhestands- und nicht mit Erwerbsmigration zustande kommt, 48 werden es gerade die Ruhestandsmigranten sein, die, wenn und indem sie ihre
krimierung war bislang aber ein probates Mittel gegen die ungeliebten „Spanier", die nun nicht nur in Koalitionen mit den EU-Ausländern politisch an Einfluss gewinnen, sondern den Einheimischen gleichsam ihre Sprache aufzwingen. Zur politischen Geographie Spaniens siehe Kraus, Vielfalt ohne Einheit?; Gonzales, Regionalismus und Nationalismus in Spanien; speziell zur Sprachenproblematik auch Alonso, Valencianisch als Minderheitensprache. 48 Anders als die Ruhestands- erfolgt die Erwerbsmigration nicht in bestimmte Gebiete; zudem blieb der Umfang der Erwerbsmigration - wie u. a. Salt et al., Patterns and Trends in International Migration, zeigen, hinter den Erwartungen zurück, die mit dem EU-Beitritt der südlichen Länder verbunden waren. Siehe auch Werner, Wirtschaftliche Integration.
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politischen Beteiligungsrechte wahrnehmen, ein unbekanntes, möglicherweise sogar unsicheres Terrain betreten.
V. Transnationale personale Räume Anders als Erwerbsmigranten streben Ruhestandsmigranten eine Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes zumeist gar nicht erst an. Sie sind gleichwohl nicht isoliert, sondern unterhalten untereinander vielfältige soziale Beziehungen. Knotenpunkte dieser Netzwerke sind vor allem Vereine, Kirchengemeinden und Gaststätten. Eine wichtige Informationsquelle der Ruhestandsmigranten - und zugleich ein Spiegelbild ihres sozialen und kulturellen Lebens - sind die am Ort in deutscher oder englischer Sprache erscheinenden Wochenblätter und Magazine für Residenten und Touristen. Diese versorgen in ihren Beiträgen die Zielgruppen der Langzeiturlauber und Residenten mit aktuellen Nachrichten aus der Region sowie Hintergrundinformationen zu Land und Leuten - und damit mit dem Wissen, das sie benötigen, um sich zurechtzufinden und ein Basisverständnis der Kultur ihres Gastlandes zu erwerben. Insbesondere dem Anzeigenteil lässt sich aber auch entnehmen, wo man deutsches Brot in großer Auswahl erhält, welcher Handwerker Deutscher ist oder zumindest deutsch spricht, wo man sich unter Landsleuten trifft usw. Wechselseitige Besuche, Briefwechsel, E-Mail-Korrespondenz und die relativ niedrigeren Telefongebühren ermöglichen es zudem, den Kontakt mit „zu Hause" aufrecht zu halten. Und auch die kommunikative Einbindung in die Kultur des Herkunftslandes bleibt erhalten: Ausländische Zeitungen sind in Tourismusgebieten in großer Auswahl verfügbar, Kabel- und Satellitenfernsehen ermöglichen den Empfang der vertrauten Sender und Sendungen. Selbst diejenigen, die sich für einen dauerhaften Verbleib entschieden haben, leben sozial und kulturell zumeist in zwei Welten. Ein großer Teil der Ruhestandsmigranten wechselt zudem regelmäßig auch physisch derart häufig zwischen den Orten und Räumen, dass kaum noch feststellbar ist, an welchem der Orte der Schwerpunkt der Lebensführung liegt. 49 Von den Beteiligten her gesehen kommt es so zur Herausbildung transnationaler personaler Aktionsräume. Eine Untersuchung zur Ruhestandsmigration von Briten nach Spanien unterscheidet zwischen „tourists", die in der Form eines kurzen Aufenthaltes ihren Urlaub verbringen, „returners", die in Spanien ein Zweithaus haben, das sie regelmäßig aufsuchen, „seasonal visitors", die permanent in ihrem Herkunftsland leben, aber den Winter in Spanien zubringen, „re49 Die Schwierigkeiten einer amtlichen Ortsbestimmung des Schwerpunkts der Lebensführung werden am Beispiel britischer Verwaltungspraxis anschaulich dargestellt bei Adler, The „Habitual Residence Test".
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sidents", die mehr oder weniger permanent in Spanien leben, aber für 2-3 Monate nach Großbritannien zurückkehren, und schließlich „expatriates", die auf Dauer im Zielgebiet sesshaft sein wollen. 50 Aber eine solche, auf den Erhebungszeitpunkt bezogene Typologie, kann kaum das Hin und Her der Ortswechsel und die Offenheit der Perspektiven der Beteiligten erfassen. Vor allem bei den „snowbirds", die den nördlichen Wintern fliehen, weniger bei den sogenannten „sunbirds", die in ihr Herkunftsland flüchten, um die stärkste Sommerhitze und die Spitzen des Tourismussaison zu vermeiden, 51 lässt sich in der Form periodischen Pendeins zwar eine Habitualisierung des raum-zeitlichen Verhaltens beobachten, doch halten sich die Akteure - wenn und so lange wie möglich - alle Optionen offen. Insbesondere können wirtschaftliche Erwägungen zum Verkauf des Hauses im Herkunftsland und damit zur vollständigen Übersiedlung führen, während Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und den Möglichkeiten, im Alter Hilfe und Unterstützung zu erhalten, 52 es ratsam erscheinen lassen, die Brücken zum Herkunftsland nicht abzubrechen. Werden die Ruhestandsmigranten aufgrund der Transnationalität ihres aktionsräumlichen Verhaltens und ihrer Orientierungen zu „Raumpionieren" einer europäischen Gesellschaft? Sind gerade sie es, die dazu beitragen, dass sich durch „Austausch und Verflechtung zwischen den europäischen Gesellschaften" der „Weg zu einer europäischen Gesellschaft" öffnet? 53 Ohne Zweifel gewinnt Europa mit der Ruhestandsmigration auf der Ebene der Sozialintegration an Konkretheit. Aber Ruhestandsmigration führt nur schwerlich zur Entsehung ,transnationaler sozialer Räume4 in dem Sinne, dass sich über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg dichte Netzwerke sozialer Beziehungen und soziale Verflechtungen aufbauen - und schon gar nicht in dem Umfang und mit der Intensität wie Pries 54 dies am Beispiel von in den USA arbeitenden Mexikanern zeigen konnte.55 Wohl lassen sich andere Verflechtungsphänomene beobachten: 50
O'Reilly, A new trend in European migration. Vgl. King et al., Sunset Lives, S. 44. 52 Zu den wichtigsten Rückkehrgründen gehört auch der Partnerverlust, zumal dann, wenn sich mit dem Älterwerden auch die sozialen Bezüge und Kontakte ausgedünnt haben. 53 So die Formulierungen bei Kaelble, Europäische Vielfalt. Kaelble (vgl. S. 49) erwähnt „die Berufs- und Bildungsmigration, die zwischennationalen Heiratsverflechtungen, die Austauschbeziehungen durch Konsum und Kultur, als Grundlage davon sicher auch die Entwicklung der Sprachkenntnisse." 54 Mit diesem Beispiel hat Pries (vgl. Transnationale Soziale Räume) den Begriff des transnationalen sozialen Raumes in die Migrationssoziologie eingeführt. Zur Weiterführung des Ansatzes s. Pries (Hrsg.), Transnationale Migration. 55 Bei Pries, Transnationale Soziale Räume, trägt zur Konstituierung und Festigung des transnationalen sozialen Raumes wesentlich bei, dass aus einem Ort (Dorf) in Mexiko in Form einer Kettenwanderung eine größerer Zahl von Migranten in einen bestimmten Ort in den USA abwandert, durch häufige Besuche und die Aufrechthaltung sozialer Beziehungen und Verpflichtungen aber ihre soziale Einbindung in die sozialen Struk51
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Beispielsweise hat die Mitarbeit v o n Ruhestandsmigranten i n einem spanischen Karnevalsverein dazu gefuhrt, dass es zwischen diesem und einem deutschen Karnevalsverein zu einem regen Besuchs- und Austauschprogramm kam. I n einem anderen Fall organisierte ein Resident für seinen Handballverein
in
Deutschland das Trainingslager an der Costa Brava, einschließlich der Treffen und Spiele mit dem örtlichen spanischen Verein. Die Liste solcher Beispiele ließe sich fortsetzen, w o m i t deutlich wird, dass auch die Ruhestandsmigration zu transnationalen Verflechtungen und Austauschbeziehungen beiträgt, von denen einige die F o r m institutionalisierter Partnerschaften haben. Hinzu kommt, dass mit der Häufigkeit des H i n - und Herreisens der „Residenten" und deren Besucher wesentliche Voraussetzungen für weiterreichende soziale Beziehungen gegeben sind. 5 6 Während mit der Milderung der Unterschiede i m Lohn- und Wohlfahrtsniveau zwischen den europäischen Ländern ein wesentlicher Grund für erwerbsorientierte transnationale Wanderungen entfällt und trotz aller Erleichterungen bei diesen für den potentiellen Migranten die Kosten-Nutzen-Rechnung
turen des Heimatdorfes erhalten bleibt. Da zugleich am Zielort der Wanderungen ein Netzwerk der Migranten entsteht, werden über die beteiligten Personen zwei Netzwerke miteinander verschränkt. Hinzu kommt, dass infolge der Häufigkeit von Pendelwanderungen zwischen den beiden geografischen Räumen ein ständiger Austausch von Personen stattfindet. Eine derart starke Verschränkung flächenräumlich separierter Netzwerke zu einem relationalen sozialen Raum kommt mit Ruhestandsmigrationen zumeist schon deshalb nicht zustande, weil selbst dann, wenn sich in der Zielregion zwischen den Ruhestandsmigranten ein Netzwerk aufbaut, in deren Herkunftsland kein mit diesem korrespondierendes Netzwerk entsteht, da die Migranten zwar aus demselben Herkunftsland, jedoch zumeist aus unterschiedlichen Orten stammen dürften. Inwieweit es auch bei Wohlstands-/Ruhestandsmigration zu Kettenwanderungen kommt, ist allerdings auch noch nicht hinreichend untersucht. Vorstellbar wäre beispielsweise, dass die hohe Konzentration einer Art Highsociety an bestimmten Zielorten (z.B. der Cöte d' Azur oder in der Region um Marbella) dazu beträgt, die ohnehin zumeist schon bestehenden Oberschichtnetzwerke zu festigen. 56 Beim Aufbau eines Vereinigungswesens der (Ruhestands-) Migranten kommt den Dauerresidenten eine Schlüsselrolle zu. Sie können sich nicht nur kontinuierlicher engagieren, sondern sind auch eher dazu bereit. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die Investition eines Engagements in Vereine, Clubs, Initiativen bei kurzer Verweildauer nicht auszahlt. Es mag sich lohnen, von den Serviceangeboten des Clubs Gebrauch zu machen; beim darüber hinausgehenden Engagement freiwilliger Arbeit für den Verein fällt die Kosten-Nutzen-Rechnung schon ungünstiger aus. Freiwilligenarbeit kann als eine Art Seiteneinstieg in die örtlichen Verkehrskreise und Netzwerke gesehen werden. In einem Verein eine Aufgabe zu übernehmen und so Anschluss zu finden, ist leichter als in einen Freundeskreis oder eine nachbarschaftliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Gerade im Alter und in der besonderen Lebenssituation des Ruhestandsresidenten kann ,volunteering' zu einem wichtigen Integrationskanal werden, zumal wenn andere Integrationskanäle, Kinder und Beruf, nicht mehr bestehen. Die Ausschließlichkeit und gewollte Endgültigkeit seiner Lebenssituation fuhrt beim Dauerresidenten eher zum Engagement als beim Überwinterer, der daneben, freilich im raum-zeitlichen Wechsel, auch noch ganz andere Möglichkeiten, Bindungen und Beziehungen hat.
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leicht zu ungunsten einer Wanderung ausfällt, erweisen sich die Ruhestandsmigranten als mobiler. Das bedeutet freilich nicht, dass sie nicht mit Problemen und Schwierigkeiten zu rechnen hätten. Weil die europäische Integration auf der Ebene der Systemintegration 57 sehr weit fortgeschritten ist, im Reiseverkehr ein Grenzüberschritt kaum mehr erlebbar ist, mit der Unionsbürgerschaft und den mit ihr verbundenen Rechten weitere Erwartungen geweckt wurden, neigen viele Ruhestandsmigranten dazu, die Europäische Gesellschaft bereits heute als eine Realität zu sehen. Da ihr Bild davon, was eine Gesellschaft ist, geprägt wurde durch ihre Erfahrungen mit einer in den Grenzen des Behälterraums entwickelten, nationalstaatlich verfassten Gesellschaft, fällt es ihnen schwer sich darauf einzustellen, dass die Unionsbürgerschaft ihnen zwar in einem Teilbereich Teilnahmerechte und damit den ,status activus' verleiht, während die Teilhaberechte des ,status positivus' nach wie vor überwiegend in die Zuständigkeit der Nationalstaaten fallen. 58 Das Politikfeld der Sozialpolitik steht eben nicht auf der Agenda des europäischen Einigungsprozesses. Wie dargestellt, ergeben sich gerade für die Ruhestandsmigranten Probleme der Lebensführung sowohl aus Schwierigkeiten, mit dem Wohnsitzwechsel ihre aus sozialen Rechten ihres Herkunftslandes resultierende Ansprüche ins Ausland zu transferieren, als auch infolge der Unterschiede zwischen den nationalen Systemen sozialer Daseinsvorsorge 59, die insbesondere bei den sozialen und gesundheitsbezogenen Dienstleistungen erheblich sein können. Soweit es um den Transfer von Ansprüchen auf Geldleistungen geht, haben sich - u.a. mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, wie bei der Pflegeversicherung bereits erste Veränderungen ergeben. Vor allem aber trägt die hohe Zahl der Ruhestandsmigranten dazu bei, dass auf europäischer Ebene und zwischen den Staaten Regelungen getroffen werden, mit denen die Systeme kompatibler und die Abwicklung der Transfers administrativ zur Routine wird. Andererseits führt die Europäisierung zumindest für einige der Ruhestandsmigranten auch zu Nachteilen. Beispielsweise wird es durch die Zusammenarbeit der Finanzbehörden der europäischen Staaten immer schwieriger, sich mit einem ausländischen Wohnsitz steuerlicher Verpflichtungen zu entziehen.
57
Insbesondere beim Wirtschaftssystem vgl. Münch, Das Projekt Europa. Dass solche Verständnisschwierigkeiten durchaus begründet sind, zeigt die neuere Bürgerrechtsdiskussion; grundlegend dazu Bauböck, Transnational Citizenship; zu einer knappen Darstellung Fijalkowski, Nationalstaatliche Schranken des Bürgerrechtsstatus. Mit der weitgehenden Ausklammerung der Sozialpolitik dürfte das Projekt der Unionsbürgerschaft allerdings auch in absehbar Zukunft unvollendet bleiben, u.a. weil - wie Man (Wohlfahrtspolitischer Verantwortungstransfer nach Europa?) unlängst zeigen konnte - eine europäische Sozialpolitik in weiten Teilen der Bevölkerung keine Unterstützung findet. 58
59
Ein Begriff, der sich kaum in andere Sprachen, geschweige denn in das Staatsverständnis anderer Länder übertragen lässt. Siehe dazu Observatorium für die Entwicklung der sozialen Dienste in Europa 2001.
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Ruhestandsmigranten verlassen den Behälterraum ihrer nationalstaatlich verfassten Herkunftsgesellschaft, können und wollen sich zumeist aber nicht gänzlich von dieser lösen. Ihr Leben ist - ähnlich wie beim Zeitpionier - bestimmt durch ein ,sowohl als auch', das in dem vielfachen ,Hin und Her' sichtbar wird. Der Ruhestandsmigrant wird so, wie man mit Simmel sagen möchte, zu einem Wanderer, der heute kommt, morgen bleibt, übermorgen geht und vielleicht doch wieder zurückkehrt - dem ein Wechseln zwischen unterschiedlichen Welten zum Lebensinhalt wird. Wie die bei Simmel erwähnten wandernden Könige früherer Zeiten, die, weil „die Naturalabgaben an sie mangels von Transportmitteln an Ort und Stelle verzehrt werden mussten"60, ständig oder periodisch in ihrem Reich herumreisten, begibt der Ruhestandsmigrant sich dauerhaft oder periodisch an einen fernen Ort, um die Früchte seines Wohlstandes zu ernten. Während aber der König, wenn er durch Reisen „die einzelnen Teile des Reiches persönlich in seinen Besitz" nahm, seine feudalen Rechte geltend machen konnte, bleibt der Ruhestandsmigrant in den Augen der Einheimischen ein willkommener Gast, der sein Recht, zu kommen und zu bleiben, aus dem erwirbt, was er in der Form von Konsumausgaben und Steuerabgaben an Wohlstand ins Land bringt. Kann er seinen Verpflichtungen, zu zahlen und für sich selbst zu sorgen, jedoch nicht mehr nachkommen, verletzt er gleichsam die Reziprozitätsregel eines auch in der Sicht der Einheimischen fairen Tauschs. Zwar kann er aufgrund rechtlicher Regelungen noch Hilfe und Unterstützung von Staat und Kommune erwarten; er wird aber zumeist ein Fremder bleiben, dem gegenüber der Einheimische sich zu nichts verpflichtet fühlt. Wie der kluge König Land und Leute nicht bis zur Verelendung ausbeutete, sondern beizeiten weiterzog, könnte es dem umsichtigen Ruhestandsmigranten ratsam erscheinen, heimzukehren, wenn seine Mittel und Kräfte erschöpft sind.
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Herausforderungen im Globalisierungsschub - das Individuum als Verantwortungs- und Risikoträger Helmut Klages
I. Der Wandel der Anforderungen an Organisationsmitglieder Für die industrielle Unternehmenslehre war die Entdeckung der „Ungewissheit", wie auch der zunehmenden Bedeutung der Fähigkeiten zum Umgang mit ihr, einer der entscheidenden Wendepunkte der letzten Jahrzehnte. Typischerweise gehörte aber zu den Konzepten des Umgangs mit Ungewissheit, die seitdem entstanden, frühzeitig auch die Definition neuartiger Anforderungen an die „Organisationsmitglieder", d.h. also an alle diejenigen Menschen, die in Organisationszusammenhängen tätig sind. Wenden wir uns z.B. Tom Peters' Buch „Thriving on Chaos"1 zu, dann können wir entdecken, dass für ihn, wie auch für zahlreiche weitere Forscher und Berater, die sich mit der Thematik beschäftigt haben, diese Anforderungen sogar von erstrangiger Bedeutung für die Überlebens- und Erfolgsstrategie des Unternehmens sind. Die Richtung, in die hierbei gedacht wird, ist eindeutig. Es geht im Kern überall darum, die Flexibilitätsanforderungen, denen Organisationen unterliegen, auf die Menschen zu übertragen, die in ihnen tätig sind. In der Tat scheint dies unvermeidlich zu sein, denn in Organisationen, die ständigem Wandel unterworfen sind, befinden sich die Menschen in „Umwelten", in denen auf längere Sicht nichts mehr feststeht und in denen konsequenterweise nicht mehr mit feststehenden Rollen-Definitionen und Anforderungsprofilen, mit unveränderlichen Spielregeln, wie auch z.B. mit der Aufrechterhaltung etablierter sozialer Kommunikationsfelder gerechnet werden kann. Vielmehr müssen in solchen Umwelten die Menschen, schon um überleben zu können, in einem Maße über Fähigkeiten zur Ungewissheitsbewältigung und zum Umgang mit Wandel verfügen, welches das früher übliche Maß bei weitem überschreitet. Die von zahlreichen Autoren als Referenzmodell verwendete „Zeltorganisation" oder „Adhocratie" bildet gewissermaßen eine ständig in Be-
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wegung befindliche, im Grenzfall „chaotische" Kulisse von Rahmenbedingungen, an die sich die Menschen anpassen müssen, wobei sie sich aber nurmehr in einem abnehmenden Maße auf „erworbenes Wissen und Können", wie auch auf überkommene Verhaltensweisen, Gewohnheiten und soziale Beziehungssysteme verlassen können. Menschen, die in herkömmlicher Weise auf Sicherheit, Stetigkeit und Verlässlichkeit programmiert sind, müssen von einer solchen Umwelt eher verwirrt und frustriert werden und fallen mit Sicherheit schnell „durch die Roste". Schon David Riesman hatte in seinem frühen Bestseller „The Lonely Crowd" 2 darauf hingewiesen, dass Menschen mit traditioneller „Innenlenkung" den modernen schnelllebigen Verhältnissen nicht mehr gewachsen seien. Es gibt, mit anderen Worten, unter den heraufdämmernden Bedingungen einen fundamentalen, auf die Individualebene durchschlagenden Anpassungsund Wandlungsdruck. Eine Umwälzung herkömmlicher Grundorientierungen des Personsystems liegt schon von daher als objektive Herausforderung in der Luft. Typischerweise erwartet die auf Innovation und Anpassung getrimmte flexible Organisation von den Menschen jedoch nicht nur Anpassungsflexibilität, sondern auch einen aktiv und selbständig erbrachten persönlichen „Input". Die Menschen können sich in der flexiblen Organisation nicht mehr darauf verlassen, dass Verhaltensänderungen auf dem Anordnungswege befohlen und anschließend zuverlässig eintrainiert werden, so dass sie sich auf die Exekutierung vorgegebener Verhaltensschablonen beschränken können. Es wird von ihnen vielmehr erwartet, den auf der Organisation lastenden Anpassungsdruck in einem erheblichen Maße zu verinnerlichen, um aus eigenem Antrieb, mit „Kreativität" und „Eigeninitiative", Beiträge zu Problemlösungen zu erbringen. Außerdem wird zunehmend von ihnen erwartet, dass sie in einem beweglichen Umfeld, in welchem ständig neuartige Tätigkeiten entstehen, im Rahmen von „Mobilitätsprogrammen", die ihnen selbst die Initiative zuschieben, aus eigenem Antrieb diejenigen Tätigkeitsrollen auffinden, die ihren Neigungen und Fähigkeiten am meisten entgegenkommen. Es wird ihnen darüber hinaus aber auch die Verantwortung - oder zumindest die Mitverantwortung - für die erforderlich werdende permanente Weiterqualifizierung und für die laufende Umstellung ihrer individuellen Qualifikationsprofile zugeschoben. „Lebenslanges Lernen" ist heute längst zu einer Devise geworden, die sich nicht mehr primär an Arbeitgeber oder sonstige Instanzen, sondern vielmehr vorrangig auch an die Menschen selbst richtet. Und in der Tat - an wen sollte sich eine solche Devise sonst richten, wenn nicht letztlich an die Menschen selbst? Wie die relative Erfolglosigkeit fremd gesteuerter Umschulungsprogramme erweist, gibt es angesichts einer zuneh2
Hier zugrunde gelegt die unter dem Titel „Die einsame Masse" erschienene deutsche Fassung.
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menden Dynamik, Unberechenbarkeit und Unplanbarkeit der Verhältnisse bereits heute kaum jemanden mehr, der die im Spiele befindlichen unübersichtlich vielfältigen Erfolgsfaktoren der „Fort- und Weiterbildung" zuverlässig überschauen und zu individuell brauchbaren Synthesen zusammenzufügen vermöchte, welche den jeweiligen Situationen, in denen sich die Menschen befinden, wie auch ihren individuellen Persönlichkeitsstrukturen mitsamt ihren weitgehend unbekannten Determinanten in einem ausreichendem Maße gerecht werden könnten.
II. Individualisierungschancen für Wagemutige Bei der Abschätzung der gesellschaftlichen Folgen der Heraufkunft der flexiblen Organisation kann nicht übersehen werden, dass sie - zumindest dann, wenn man eine fernere Zukunft ins Auge fasst, in der alle Übergangsprobleme gelöst sind - faszinierende Chancen für flexible, wagemutige, zu selbständigem Handeln und Entscheiden fähige Menschen mit sich bringt. Man gelangt zu noch weiterreichenden Folgerungen, sobald man einen weiteren gedanklichen Radikalisierungsschritt vollzieht und einsieht, dass in der konsequent zu Ende gedachten flexiblen Organisation nicht nur die festen „Mitarbeiter", sondern auch diejenigen „Arbeitgeber", „Direktoren", „Vorgesetzten" und „Manager", von denen sie bisher noch beschäftigt und eingesetzt werden, tendenziell überflüssig werden, so dass sich die Bedingungen einer neuen Gleichheit der Lebens- und Arbeitsbedingungen abzeichnen. Der Zugang zu dieser Perspektive eröffnet sich am eindringlichsten über dasjenige Konzept des virtuellen Unternehmens (der „virtual corporation"), das von den Amerikanern William H. Davidow und Michael S. Mallone vorgelegt worden ist.3 Der wesentliche Unterschied zwischen der Arbeitsweise eines typischen herkömmlichen Unternehmens und einer Virtual Corporation besteht, nach Davidow und Mallone, darin, dass erstere einen festen Mitarbeiterstamm und ein mehrstufiges Management hat, das die Mitarbeiter einsetzt und die Ergebnisse ihrer Arbeit überwacht. Kunden sind dort ein Teil der betrieblichen Außenwelt, und es gibt eine deutliche Trennung zwischen dem Unternehmen und dieser Außenwelt. Dagegen ist die Virtual Corporation ein zeitweiliger Zusammenschluss von unabhängigen Mitwirkenden, der nur eine minimale hierarchische Strukturierung aufweist. Die Kunden spielen als Teil dieser Organisation eine zentrale Rolle.
3 Davidow/Mallone , Das virtuelle Unternehmen; vgl. z.B. auch Bühl, Die virtuelle Gesellschaft, S. 39-59; Konradi , Strategie und Planung, S. 103-107; Picot (Hrsg.), Die grenzenlose Unternehmung.
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Die Betonung liegt hier auf der gegenseitigen Unabhängigkeit von Kooperationspartnern, die sich auf freiwilliger Grundlage mit begrenzter Verbindlichkeit zusammenschließen, um gemeinsam Projekte zu bearbeiten, wobei einer der Beteiligten die Rolle eines Organisators oder Koordinators übernehmen kann, ohne aber daraus einen Superioritäts- oder Verfugungsanspruch abzuleiten. Es ist gewissermaßen das Modell des selbst organisierten Teams, das bei Peters noch als internes Strukturprinzip einer Arbeitsplätze anbietenden Unternehmung interpretiert wird, die gewissermaßen als eine integrierende äußere Hülle vorausgesetzt wird. Eben diese äußere Hülle wird hier als überflüssig entdeckt und gerät in Wegfall, so dass Team und Unternehmung zusammenfallen. Ein wichtiger weiterer Schritt, der ein nochmaliges Fortdenken dieser Organisationsperspektive ermöglicht, ergibt sich dadurch, dass man der virtuellen Unternehmung nicht das Modell des „Teams", sondern das eines „Netzwerks" zugrunde legt. Auf dieser Grundlage besteht die Möglichkeit, von den Erfahrungssachverhalten des Internets her zu denken und die virtuelle Organisation als ein temporäres Netzwerk unabhängiger Unternehmen in den Blick zu bekommen, die durch informationelle Links miteinander verbunden sind. Man kann auf dieser Grundlage an „Unternehmen" denken, die u.a. auch mit Teams als Elementen arbeiten. Die virtuelle Unternehmung wird als eine u.U. nur kurzfristige, ad hoc gebildete Organisation erkennbar, die aus Teams oder Einzelpersonen besteht und bei der es sich um ein Konstrukt im Cyberspace handelt, das letztlich durch die Verknüpfung von EDV-Elementen entsteht. Mit anderen Worten haben die Individuen, denen der Zugang zu Unternehmen konventionellen Typs zunehmend verbaut wird, unter diesen heute bereits als „konkrete Utopie" formulierbaren Bedingungen rapide anwachsende Chancen, sich von „Arbeitgebern", „Direktoren", „Vorgesetzten" und „Managern" unabhängig zu machen und auf eigene Verantwortung autonom und selbstgesteuert tätig zu werden. Eine besondere Rolle spielt hierbei, dass die Nutzung des Internets eine technologische Grundlage liefert, die nur minimale Investitionen erfordert und die jedem - gewissermaßen als ein neuartiges, relativ frei zugängliches Allgemeingut - unbegrenzte Marktzugänge ermöglicht. Das Internet erscheint in dieser Perspektive nicht nur als ein Medium, das die Utopie universeller Wissensaneignung und Interaktion in greifbare Verwirklichungsnähe rückt. Es ist vielmehr - weit darüber hinausreichend - auch geeignet, sowohl von der Investitionsseite her, wie auch von der Seite der Marktzugänge her als eine demokratisierende Kraft der modernen Arbeitswelt zu wirken. Die angesichts der Tendenzen des modernen Unternehmungswandels am LangfristHorizont erscheinende Schreckensvision einer arbeitslosen Gesellschaft enthüllt sich in dieser Perspektive letztlich als eine Scheinproblematik, die ihre Entstehung der Unfähigkeit verdankt, die historische Bedingtheit und den transitorischen Charakter der herrschaftlichen Sozialfiguren des „Unternehmers" und „Arbeitsgebers", wie auch des „Direktors", des „Vorgesetzten" und des „Mana-
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gers" zu erkennen und beim Blick auf die fernere Zukunft entschlossen von diesen Sozialfiguren zu abstrahieren.
I I I . Risikoaspekte der Individualverantwortung Aufgrund der Logik der neuen Verhältnisse kristallisiert sich mit einer gewissen Unvermeidlichkeit das Einzelindividuum als neuer Verantwortungsträger und „Selbstunternehmer" heraus, wobei sowohl (Mit-)Verantwortung für das erfolgreiche Überdauern der Organisation im „Chaos" ihrer Rahmenbedingungen, wie auch Selbstverantwortung für das eigene Überdauern im selbst „chaotisch" werdenden Umfeld der Organisation und letztlich sogar der Verzicht auf organisatorische Hüllstrukturen überhaupt gefragt sind. Dasselbe gilt aber auch hinsichtlich der im Spiele befindlichen Risiken, die ihrerseits individualisiert werden. Vorstehend war nur im Nebensatz darauf hingewiesen worden, dass die moderne Wirtschaftsunternehmung bemüht ist, die mit hoher Ungewissheit verbundenen Verlust- und Misserfolgsrisiken auf andere Schultern abzuwälzen. Zu diesen „anderen Schultern" gehören aber, wie inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit unterstellt wird, auch und insbesondere die Menschen, die sich als Arbeitskräfte im Verfügungsbereich einer Organisation befinden, d.h. also die Mitarbeiter/innen. Das „fitte" moderne Unternehmen ist zwar logischerweise daran interessiert, dass die Menschen, die zu seinem Erfolg beitragen, möglichst qualifiziert sind und möglichst viel in es „einbringen" können, weshalb „Human Resource Programme", d.h. insbesondere „Qualifizierungs"- und „Motivierungs"-Programme, zunehmend zu den selbstverständlichen Soll-Bestandteilen des Management-Repertoire zählen. Dieses Unternehmen ist aber nicht im mindesten an einer Unterstützung traditioneller menschlicher Bedürfnisse nach Stetigkeit und nach Aufrechterhaltung psychischer Gleichgewichtszustände interessiert. Aufgrund der für es selbst maßgeblichen, durch Ungewissheit bestimmten Situationslogik kann es dies auch gar nicht sein, weshalb im Konzept desjenigen „psychologischen Kontrakts", den das Unternehmen nach Meinung führender Organisationsfachleute mit seinen Mitarbeiter/innen abschließen soll, entsprechende Garantien typischerweise auch nicht vorgesehen sind. Viel eher ist genau das Gegenteil der Fall. Bei Tom Peters können wir zwar nachlesen, dass er von der modernen Firma erwartet, ihren Mitarbeitern „eine gewisse Sicherheitsgarantie" („some guaranty of security") zu geben. Diese soll aber letztlich dazu bestimmt sein, die Mitarbeiter dazu zu befähigen und zu motivieren, auf einem Hintergrund von Stabilität „(1) ständig neue Risiken zu übernehmen (d.h. Dinge zu verbessern und neue Fähigkeiten zu erwerben) und (2) flexibel genug zu sein, um mit ständigem Wandel umzugehen",4 d.h. sich 4
Peters , Thriving on Chaos, S. 416.
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also als anpassungsfähige, mobile, vielseitig einsetzbare Aktionspartner zu bewähren, die dem Flexibilitätsbedarf der Firma möglichst keinen Widerstand entgegensetzen. Wo Peters konkreter wird, können wir darüber hinaus entdecken, dass die von ihm angesprochene Sicherheitsgarantie mit herkömmlichen Sicherheitsvorstellungen nicht mehr viel gemein hat. Er schreibt - unter Bezugnahme auf das „Work in America Institute" - wie folgt: „»Garantie4 wird allerdings als ein elastischer Begriff zu verstehen sein. ... Erstens werden verschiedene Gruppen von Leuten unterschiedliche Grade von Beschäftigungssicherheit genießen. So z.B. werden Manager normalerweise eine höhere Sicherheit haben als Arbeiter und Angestellte. ... Weiter werden bestimmte Arten von beschäftigungsgefährdenden Wandlungen durch die Garantie abgedeckt werden können, andere aber nicht. So z.B. werden Mitarbeiter gegen technologische Wandlungen, jedoch nicht unbedingt gegen die Schließung von Betrieben absicherbar sein. Mitarbeiter werden es ggf. hinzunehmen haben, dass ihnen eine ähnliche Beschäftigung an einem anderen Ort angeboten wird. Ein überflüssig gewordener Mitarbeiter wird möglicherweise aber auch einen gänzlich andersartigen Arbeitsplatz am Ort bei einem anderen Arbeitgeber anzunehmen haben, zu dem sein Job „ausgesourct" worden ist. ... Die Beschäftigungssicherung mag auch davon abhängen, dass veränderte Tätigkeitsbedingungen, so z.B. die pflichtgemäße Ableistung unbezahlter Mehrarbeit, eine besondere Bereitschaft zur jederzeitigen Befolgung von Weisungen der Firmenleitung, wie auch der Verzicht auf rechtlich abgesicherte Ansprüche erfüllt werden. Die Absicherung wird sich endlich auch auf eine begrenzte Zeitperiode beschränken können ..." 5 Peters votiert zwar selbst für eine möglichst weitgehende Absicherung. Er sieht jedoch sehr deutlich und akzeptiert ohne Einspruch, dass einem solchen Wunsch in der Realität nicht immer Rechnung zu tragen sein wird. Erstaunlicherweise erkennt er nicht, dass die von ihm vorausgesetzte Interessenidentität zwischen dem Arbeitnehmer und der Firma - auch dann, wenn der Arbeitnehmer die Herausforderung der Firma zur Mit- und Selbstverantwortlichkeit, zur Flexibilität und Kreativität nach Kräften übernimmt und verinnerlicht - angesichts dessen grundsätzlich spannungsgeladen und fragil ist. Diese Spannung wird dagegen z.B. bei J. Rifkins thematisiert, der darauf hinweist, dass die Durchsetzung der Interessenlage der unter Ungewissheitsbedingungen operierenden Firma Maßnahmen einschließt, die auf eine möglichst weitgehende Reduzierung der mit dem Vorhandensein ständiger Arbeitskräfte verbundenen Kosten und Risiken zielen. Rifkin kann in diesen Zusammenhang auf eine Reihe von Praktiken US-amerikanischer Unternehmen verweisen, die ihren eigenen Interessen nachkommen, indem sie sich möglichst weitgehend
5
Peters, Thriving on Chaos, S. 418.
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von ständigen Arbeitskräften unabhängig machen. Hierbei spielt die Umwandlung von Vollzeitstellen in Teilzeitstellen eine Rolle, welche die Arbeitnehmer u.U. belastet und schädigt, für die Unternehmen aber nachweisliche Flexibilitätsgewinne mit sich bringt. Rifkin entdeckt in diesem Zusammenhang eine Neigung US-amerikanischer Unternehmen, „ihre Belegschaft in ein ZweiStufen-System einzugliedern. Eine Stammbelegschaft von Dauer- und Vollzeitbeschäftigten wird" hierbei „verstärkt durch Teilzeit- oder Zeitbeschäftigte, die u.U. wesentlich weniger Geld bekommen, so dass sich zu dem Flexibilitätsgewinn, den die jederzeitige Ein- und Ausgliederbarkeit dieser Gruppe mit sich bringt, noch ein ansehnlicher Kostengewinn hinzugesellt. Rifkins entdeckt in diesem Zusammenhang weiterhin die Entstehung eines neuen ErsatzArbeitsmarkts, der von „Zeitarbeits"-Firmen beherrscht wird, die die frei werdenden Arbeitskräfte einsammeln, um sie bei Bedarf an Firmen zu vermieten, die ihre Belegschaft befristet aufstocken wollen, oder die durch die Anmietung von Arbeitskräften vielleicht auch nur Ausfälle wegen Urlaub oder Krankheit ausgleichen wollen. 6 Auf umfassendere Weise denkt in derselben Richtung der britische Organisations-Guru Charles Handy, wenn er das Bild eines dreiblättrigen Kleeblatts gebraucht, um die Belegschaftselemente des Unternehmens der Zukunft zu kennzeichnen.7 Das erste Blatt steht dabei für einen „professionellen Kern" ständiger Arbeitskräfte, das zweite für sog. „Kontingentarbeiter", d.h. also für die eben schon erwähnten Zeitarbeiter und Teilzeitarbeiter, das dritte aber für externe Vertragspartner, die Dienste anbieten, die bisher von firmeninternen Abteilungen erbracht wurden und die vielleicht bis vor einiger Zeit noch „Mitarbeiter" des Unternehmens waren, die aber inzwischen in die Selbständigkeit entlassen wurden und als „neue Selbständige" agieren. Zusammengenommen lassen die Wege, die Unternehmen benutzen können, um sich von festen Arbeitskräften zu lösen, neuartige Flexibilisierungsstrategien erkennen. Während Peters noch davon ausgeht, dass bei der voll auf Ungewissheit eingestellten Organisation eine hochgradige Unfestgelegtheit und Flexibilität der internen Struktur eintritt, die als solche aber bestehen bleibt, relativiert sich in der Kleeblatt-Vision Handys bereits die Grenzlinie zwischen der strukturellen Innenwelt der Unternehmung und ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Ein besonders weittragender Schritt in dieser Richtung findet sich beim dritten Kleeblatt, bei dem nochmals das Bild der virtuellen Organisation ins Spiel kommt. Es geht hier um diejenigen Fälle, in denen sich das nach Erfolg unter Ungewissheitsbedingungen strebende Unternehmen von Mitarbeitern oder ganzen Funktionsbereichen löst, um sie nach außen, d.h. also in seine Umwelt, zu
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Rifkin, Ende der Arbeit, S. 134ff. Vgl. zuletzt Handy, The Elephant and the Flea.
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verlagern. Diese oft als „outsourcing" oder „franchising" bezeichnete Praxis bringt für das Unternehmen den augenfälligen Vorteil mit sich, dass Risiken, die es bisher selbst zu tragen hatte, „externalisiert" und damit auf die unverbindlichere Ebene der Marktbeziehung verschoben werden. Lässt der Auftragseingang in einem bestimmten Bereich nach, dann fallen keine Personalkosten mehr an, die man aus der eigenen Tasche bezahlen muss. Vielmehr kann man dann einfach die Auftragserteilung an einen externen „Partner" abstoppen und dadurch die eigenen Arbeitskosten gegen Null reduzieren. Der Idealfall der virtuellen Organisation ist das kleine, überschaubare, mit dem erforderlichen Wissen, Kommunikationsvermögen und strategischen Sachverstand ausgestattete Konzernverwaltungsbüro, von dem aus - unter Einräumung hoher Grade von Selbständigkeit - große Massen wirtschaftlicher Aktivitäten an jedem Punkt der Welt, wie auch von jedem zu jedem beliebigen Punkt der Welt gesteuert werden können. Konsequenterweise erscheint am Ende selbst ein fester Standort des Zentrums verzichtbar. William Bridges zitiert an einer Stelle den Vizepräsidenten einer Firma für Möbeldesign in Ohio mit der Aussage „Wie sehen keinen Sinn mehr darin, Büroräume zu unterhalten." Er fügt erläuternd hinzu: „Büroräume werden heute eher als unnützer Kostenfaktor angesehen und weniger als eine Einrichtung, die einer Firma hilft, das geistige Potential zu fördern." Die perfekte virtuelle Organisation scheint aber auch kaum noch Arbeitskräfte zu besitzen. Anstelle dessen kooperiert sie - im Grenzfall ohne feste Vertragsbindung - mit Zeitarbeiterfirmen, die im Bedarfsfall „Leute rüberschicken", wie auch mit Vertragspartnern, die keine „Mitarbeiter", sondern im Grenzfall selbständige Auftragnehmer von Fall zu Fall sind, mit denen Beziehungen bestehen, die sich der jeweiligen Marktlage elastisch anpassen lassen. Für Menschen, die auf Arbeit angewiesen sind, scheint sich bei alledem eine zunehmend schwierige Lage zu ergeben, die ihnen Annäherungen an ein quasiunternehmerisches Verhalten abfordert, das die Übernahme zusätzlicher Risiken einschließt. Die „Sicherheit des Arbeitsplatzes", eines der selbstverständlichsten Grundziele der Sozial- und Wohlfahrtspolitik des gesamten 20. Jahrhunderts, scheint in dieser Perspektive für einen großen, möglicherweise sogar für den weit überwiegenden Teil der Menschen auf Nimmerwiedersehen zu entschwinden. Zwar wird man davon auszugehen haben, dass auch in fernerer Zukunft noch große Produktionsanlagen bestehen werden. Die Zahl der Menschen, die dort beschäftigt werden, wird jedoch angesichts der technologischen Entwicklungen, die z.B. das CAP (Computer Assisted Production) zur Selbstverständlichkeit werden lassen, in den kommenden Jahrzehnten mehr und mehr schrumpfen. Man gehe einmal durch eine modernsten Standards entsprechende Produktionsanlage der chemischen Grundindustrie, um sich die heute schon erkennbaren Anfänge eines langfristigen Trends zur „menschenleeren Fabrik" anschaulich vor Augen zu führen. Hier ist das, was als Gesamttendenz wahrscheinlich erst in zahlreichen Jahren Wirklichkeit sein wird, bereits zur greifba-
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ren Realität geworden. Hier hat, mit Robert Jungk gesprochen, in der Tat die „Zukunft schon begonnen". Aktuell bewegen sich angesichts dieser Tendenzen zahlreiche Kommentare, öffentliche Stellungnahmen und Gesetzesformulierungen exakt auf der Linie einer Sichtweise, welche die fortschreitende Verknappung der Arbeit und die aus ihr resultierende Arbeitslosigkeit oder auch die permanente Suche nach Arbeit als ein Zukunftsschicksal eines zunehmenden Teils der Menschen in der entwickelten Welt im Auge hat.
IV. Ein Rückblick: Der Aufstieg kollektiver sozialer Sicherungen Von der „Vormoderne" zu einer „ersten" und „zweiten" Moderne Einen Zwang zur individuellen Daseinsbewältigung und Risikoabsicherung wird aber auch die gegenwärtig bereits beobachtbare, in Zukunft mit Gewissheit weiter fortschreitende Rückläufigkeit bisheriger kollektiver Daseinssicherungen durch den „Sozialstaat" mit sich bringen. Blicken wir einen Augenblick lang auf den Vorraum der Entstehung des europäischen „Sozialstaats" zurück, dann stoßen wir auf das „ganze Haus" des Mittelalters, das bis ins 19. Jahrhundert fortbestand, dann aber - zumindest als vorherrschender Typus der Lebensorganisation - relativ schnell zugrunde ging. Im „ganzen Haus" waren Arbeit und Risikoabsicherung unter dem einen Dach des - überwiegend landwirtschaftlichen - Kleinunternehmens vereinigt. Hier galt das Grundprinzip, dass jeder, der unter diesem Dach lebte und arbeitete, der „Familie" angehörte, die aber nicht nur aus Verwandten, sondern auch aus den Knechten und Mägden bestand, die nur teilweise Verwandte waren. Wer krank wurde, wurde im Haus gepflegt, wer alt wurde, kam aufs „Altenteil" oder erhielt ein „Gnadenbrot". Arbeitslosigkeit gab es nicht oder nur in den seltenen Ausnahmefällen der sog. „Altgesellen". 8 Dieser Typus der Lebensorganisation war nicht mehr durchhaltbar, als die industrielle Revolution einsetzte, die man als den Kernprozess einer wohlverstandenen „ersten Moderne" anzusehen haben wird. Nunmehr wurden Familie und Arbeitsstätte getrennt. Außerdem galt das Prinzip des „freien Arbeitsvertrags". Wer krank oder alt wurde, dem wurde gekündigt. Er fiel dann auf die Familie zurück, die aber im Grenzfall nurmehr aus einer versorgungsunfähigen Ehefrau und unmündigen Kindern bestand und dann keine ökonomische Tragfähigkeit mehr besaß. Gekündigt wurde aber auch, wenn das Unternehmen weniger Aufträge hatte oder technologisch umrüstete. Auch in diesem Fall geriet der Arbeitnehmer mit seiner Familie in ein Elend, für dessen Linderung oder
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Vgl. Klages y Eigentum und Arbeit, S. 13-30; vgl. auch Schraepler , Handwerkerbünde, S. 18ff.
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Behebung niemand zuständig war. Die frühindustrielle Gesellschaft war somit eine „Risikogesellschaft" gefährlichster Art. Allerdings waren die Risiken höchst einseitig verteilt. Die Wirtschaft konnte von dem „Elend der Massen" sogar profitieren, da dieses die Lohnforderungen der Arbeiter niedrig hielt. Die nachweisliche Existenz dessen, was Karl Marx mit einer Anleihe an die militärische Terminologie die „industrielle Reservearmee" nannte, demonstrierte auf eine sehr eindringliche Weise sowohl das vorherrschende Risiko, wie auch seine Einseitigkeit und das Interesse an seiner Aufrechterhaltung. Bei der Nachverfolgung der gesellschaftlichen Reaktionen auf diese Problemlage, in der sich - wiederum im wohlverstandenen Sinne - eine „zweite Moderne" konstituierte, wird man nicht darüber hinweggehen können, dass sich in der Arbeiterschaft zunächst genossenschaftliche Initiativen bildeten, die auf die Schaffung von Solidargemeinschaften zum Zweck der Verteilung individueller Risiken auf zahlreichere Schultern abstellten. Die „soziale Frage" und ihre Folgen, die sich in der Entstehung einer „Klassengesellschaft" abzeichneten, riefen jedoch - in einem besonderen Maße in Deutschland - den Staat auf den Plan. In der bismarckschen Sozialgesetzgebung fand die Überzeugung ihren Ausdruck, dass der im Aufschwung befindliche Wirtschaftsliberalismus und der nationalstaatliche Gedanke nur bei Verhinderung einer sich bedrohlich anbahnenden „Proletarisierung" breiter Bevölkerungskreise lebensfähig sein würden. Es ist für die weitere Entwicklung der staatlichen Sozialpolitik in Deutschland und in anderen Ländern kennzeichnend, dass ihr auf der Grundlage dieser historischen Ausgangssituation nachfolgend immer neue Motive und Anlässe zuwuchsen. Zwar scheint es nicht möglich zu sein, die weitere Entwicklung ausschließlich auf sozio-ökonomische Herausforderungen zurückzuführen. Wie die Sozialpolitikforschung herausgefunden hat, ist eine befriedigende Erklärung der stürmischen Wachstumsdynamik, welche der Sozialstaat entfaltete, vielmehr nur bei der Berücksichtigung immer neu einfließender politischer Interessen an ihrer forcierten Förderung möglich. 9 Nichtsdestoweniger lässt sich - für Deutschland - eine Phasenabfolge in der Entwicklung der Sozialstaatspolitik feststellen, in welcher die Beantwortung sozialökonomischer Wandlungen eine entscheidende Rolle spielt. In einer stark vereinfachenden Weise lassen sich die folgenden Entwicklungsphasen der deutschen Sozialstaatspolitik unterscheiden: 1. Phase: Schutz besonders gefährdeter gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der Industriearbeiter, vor akuter Verelendung. 2. Phase: Weiter ausgreifende „Daseinsvorsorge" (W. Forsthoff im Anschluss an K. Jaspers) im Sinne staatlich organisierter kollektiver Absicherung
9
Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, S. 73ff.
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möglichst aller Gesellschaftsmitglieder gegen alle „großen Risiken" im Gefolge der industriellen Revolution. 3. Phase: Einbeziehung positiver Ziele wie Sicherung von „Chancengleichheit", „gleichberechtigte Teilhabe" aller am anwachsenden gesellschaftlichen Wohlstand und Mehrung der „Lebensqualität" im Sinne von § 1 des Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland. Als Ziel der Sozialpolitik wurde hier definiert, „allen Bürgern ein menschenwürdiges Dasein zu sichern" und „gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu sichern". 10 Zusammengefasst spiegelt sich in dieser Phasenabfolge eine Expansionsdynamik, die vor allem in Deutschland eine erstaunliche Kraft entfaltete und sich - unter permanenter Ausweitung ihrer Zielsetzungen - immer mehr von einer defensiven in eine offensive Bewegung verwandelte. In dieser fortschreitenden Bewegung ging es von einem bestimmten Augenblick an gar nicht mehr primär um kollektive Risikoabsicherung, sondern um die Realisierung ideeller Grundvorstellungen einer humanisierten Gesellschaft mit den Mitteln der staatlichen Politik. Der hierin vor sich gehende Funktionswandel der Sozialstaatspolitik, der in Deutschland in der Zeit vom Ende der 60er bis zum Beginn der 80er Jahre vom politischen Idealismus der sozialliberalen Koalition getragen wurde, kommt mit großer Klarheit in der im Jahr 1971 stammenden Auffassung von Klaus Lompe zum Ausdruck, der Staat habe nicht nur als Protektor, Verteiler sozialer Leistungen, Unternehmer, Kontrolleur der Wirtschaft und Schiedsrichter zu fungieren, sondern u.a. Vollbeschäftigung herbeizuführen, wachstumsfördernde Infrastrukturpolitik zu betreiben, gesellschaftsgestaltend tätig zu werden, die Gleichheit der Lebenschancen zu gewährleisten, neue Chancen der Persönlichkeitsgestaltung zu eröffnen und zu diesem Zweck „umfassende politische Planung" zu betreiben. 11
V. Stufenweiser Abschied von der Sozialstaatsidee: die „dritte Moderne" Kritiker hatten die expansive Entwicklung des Sozialstaats schon seit längerem von zwei Seiten her mit Skepsis betrachtet. So schrieben - von sozialistischer Seite her - G. Bäcker u.a. im Jahr 1980 in ihrer „Sozialpolitik": „Die finanziellen Mittel, die für den staatlichen Sozialfonds ... aufgebracht werden, stellen ... einen Abzug vom Gewinneinkommen ... dar und geraten ... mit den Gewinninteressen des Kapitals in Konflikt. Sie stehen zudem auf der Ebene der Staatsausgaben in Konflikt mit Mittelzuwendungen in andere Politikbereiche, 10 11
Zu Vorstehendem Klages , Beurteilung der Sozialpolitik, S. 35-83. Lompe, Gesellschaftspolitik und Planung, S. 62ff.
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die ... dem Kapital unmittelbar zufließen. So wird verständlich, warum Kosten und Ausgaben der Sozialpolitik aus einzelwirtschaftlicher Perspektive dem Produktions- und Wachstumsprozess hinderlich angesehen werden." 12 Von einer strikt neoliberalen Position her trat insbesondere der „Kronberger Kreis" mit grundsätzlichen Attacken gegen die Sozialstaatsexpansion hervor, wobei er - in voller Übereinstimmung mit G. Bäcker u.a., wenn auch mit entgegengesetztem ideologischen Vorzeichen - auf zunehmende Konflikte zwischen einer wachsende Anteile des Sozialprodukts verschlingenden Sozialpolitik und den Bedingungen weiteren wirtschaftlichen Wachstums verwies. In der Tat konnte in Deutschland seit Anfang der 80er Jahre unwidersprochen von einer „Krise des Sozialstaats" gesprochen werden, 13 in welcher sich, wenn man so will, der Übergang zu einer „dritten Moderne" abzeichnete. Dieses innenpolitische Thema beherrschte die Intellektuellenzirkel und trat in der öffentlichen Diskussion immer mehr in den Vordergrund. Letzten Endes stand die sich ausbreitende Überzeugung, dass der Sozialstaatspolitik grundlegende Fehler anhafteten, hinter dem Ende der sozialliberalen Koalition, gegen die der nachfolgende Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem Programm einer grundsätzlichen „Wende" antrat. Die Kritik konzentrierte sich zum einen darauf, dass die ausufernde Programmatik der Sozialstaatspolitik ein finanzielles „overload", d.h. eine tendenziell immer weiter ansteigende Überlastung des Gemeinwesens mit sich zu bringen schien, das auf die Dauer zwangsläufig ins „Aus" fuhren musste. Das Sozialstaatsprojekt erschien von daher im Ganzen als verfehlt und zumindest tiefgreifend revisionsbedürftig. Es wurde aber auch eindringlich auf diejenigen „Kostenexplosionen" hingewiesen, die sich z.B. im Gesundheitswesen eingestellt hatten und auf ansteigende Mehrbelastungen des Gemeinwesens schließen ließen, welche von der Sache her eigentlich überflüssig waren. Theoretiker wie Ph. Herder-Dorneich glaubten, von der Existenz solcher Erscheinungen her auf grundsätzliche „ordnungspolitische" Defizite im Bereich der Sozialstaatspolitik schließen zu können. Von hier aus öffnete sich der Blick auf Korrekturmöglichkeiten, die zwar das Denken in Alternativen zum Sozialstaatsprojekt erübrigten, die aber doch zu einem grundsätzlichen Umdenken Anlass gaben.14 Zum dritten wurde endlich auf sozialpsychologische Folgeerscheinungen der Sozialstaatsentwicklung hingewiesen, so insbesondere auf eine Anspruchsinflation, deren Diagnose sich allerdings mit stark divergierenden Erklärungsmustern verknüpfte, indem sie entweder einem wohlfahrtsstaatlicher Verwöhnung entstammenden
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Bäcker et al., Sozialpolitik, S. 24. Vgl. anstelle von vielen Herder-Dorneich/Klages/Schlotter (Hrsg.), Überwindung der Sozialstaatskrise. 14 Herder-Dorneich, Soziale Ordnungspolitik, S. 13-68. 13
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Wertewandel in der Bevölkerung 15 oder aber einer die kollektiven Wünsche künstlich anheizenden und überzogen darstellenden expansionistischen Interessenrepräsentation durch Verbände und politische Parteien zugeschrieben wurden. 16 Die Sozialstaatskritik trat in Deutschland in der zweiten Hälfte der 80er Jahre etwas in den Hintergrund. Seit dem Jahr 1990 lässt sich jedoch vom Beginn einer zweiten Phase der Sozialstaatsdebatte mit neuen Akzenten sprechen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich diese zweite Phase der Sozialstaatsdiskussion in Deutschland mit einer vergrößerten Bereitschaft zur grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Sozialstaatspolitik und zur Übernahme der Substanz der neoliberalen Botschaft verbindet, die auf eine Zurückschneidung staatlicher Ziele und Programme in Verbindung mit einer Aufwertung spontaner gesellschaftlicher Selbstentwicklungsfähigkeiten und ökonomischer Marktkräfte abstellt.
VI. Persistenzchancen des neoliberalen Trends Ungeachtet erwartbarer Schwankungen und möglicher Rückfälle auf kürzere Sicht ist auf längere Sicht nicht damit zu rechnen, dass es zu einer Wiederumkehrung des neoliberalen Trends kommen wird. Bei dieser Prognose wird von den nachfolgenden Annahmen ausgegangen: 1. In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine Standortdebatte, in der es um die Frage nach den Wettbewerbsvorteilen und -nachteilen des „Standorts Deutschlands" ging und an der sich praktisch alle verfügbaren intellektuellen Kapazitäten beteiligten. Diese Debatte wurde zwar sehr kontrovers geführt. Es kam aber dennoch zu Erkenntnissen, bezüglich derer ein tendenzieller Konsens angenommen werden kann. Hierzu gehört mit unmissverständlicher Eindeutigkeit die ernüchternde Einsicht, dass die staatliche Entwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten überzogen war und dazu beitrug, gesellschaftliche Potenziale der Eigenleistung und Selbsthilfe beiseite zu schieben oder stillzulegen. Symptomatisch ist, dass das ursprünglich im Rahmen der katholischen Soziallehre entwickelte Prinzip der „Subsidiarität" heute zunehmend - wenngleich meist unter anderen Bezeichnungen - als ein Grundprinzip der zukünftigen Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft Anerkennung findet. Dies heißt aber nichts anderes, als dass der Eigenleistung und Selbstverantwortung des Einzelnen oder kleinerer Verbände, Organisationen und Gruppierungen der
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Vgl. hierzu Jungblut (Hrsg.), Krise im Wunderland. Klages y Gesellschaftliche Probleme, S. 101 ff.; weiter Klages, Häutungen der Demokratie, S. 85ff. 16
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Vorrang vor der großorganisatorischen kollektiven Daseinssicherung gegeben werden soll. 2. In den USA, denen in den bevorstehenden Jahrzehnten eine eher noch vergrößerte Rolle als „Pathmaker" politischer Ideen und Programme zukommen wird, scheint seit dem durchschlagenden Erfolg der „Reagonomics" in den 80er Jahren der Vorrat an grundsätzlichen Gegenpositionen zum Neoliberalismus erschöpft zu sein. Wenngleich von allen Seiten mit Eifer betont wird, dass eine direkte Übernahme amerikanischer Rezepte auf Europa nicht machbar ist, hat sich die dringliche Frage, wie es den USA möglich war, in einer Zeit, in der man in Europa mit dem Gespenst der Massenarbeitslosigkeit kämpfte, zu einer anhaltenden Prosperität mit beginnender Überbeschäftigung zu gelangen, unabweisbar in den Köpfen eingenistet. In den USA selbst ist auf diesem Hintergrund der seit Th. Roosevelts „New Deal" bestehende Grundsatzkonflikt zwischen Wohlfahrttheoretikern und Marktwirtschaftlern praktisch abgestorben. Im Jahr 1999 kämpfte der Demokrat B. Clinton angesichts gewaltiger erwartbarer Haushaltsüberschüsse zwar energisch für die Durchhaltung oder Ausweitung bestimmter sozialstaatlicher Programme, ohne dies allerdings mit Ideen einer Abwendung vom Neoliberalismus und mit einer Rückkehr zum New Deal vergangener Zeiten zu verbinden, von dem er sich im Gegenteil - selbst im Wahlkampf des Jahres 2000 - abzusetzen bemühte. 3. Das traditionelle Ideengut der Sozialdemokratie ist verbraucht. Im Hintergrund dessen steht das Fehlschlagen sozialistischer Experimente in Großbritannien, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Kennzeichnend für die Entwicklung ist erstens die Tatsache, dass sich in Großbritannien die „Labour Party" zu „New Labour" gemausert und das Ideengut des von ihr bei den Wahlen geschlagenen konservativ-liberalen „Thatcherismus" mit geringen Korrekturen in ihr eigenes Konzept übernommen hat. Kennzeichnend für die Entwicklung ist zweitens aber auch die Tatsache, dass sich eine über die überlieferten „weltanschaulichen" Grenzen zwischen den Parteien hinwegreichende Allianz „moderner" Politiker abzeichnet, die sich u.a. der Übernahme neoliberalen Ideenguts in ihre politischen Vorstellungen verschrieben haben. Dem „Schröder-Blair-Papier" des Jahres 1999 kann in diesem Zusammenhang eine symptomatische Bedeutung zugeschrieben werden. Die aktuelle „Agenda 2010" G. Schröders ist nichts anderes als eine auf die Gleitschiene der operativen Umsetzungsorientierung geschobene (teils aber auch für die Lösung aktueller Haushaltsprobleme instrumentalisierte) Version dieser Grundsatzfestlegung.
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V I I . Eine „neue Sozialpolitik" (und damit eine weitere Entwicklungsstufe der Moderne)? Es soll und kann dies nicht bedeuten, dass den Bemühungen von „Traditionalisten" sozialistischen Denkens, wie Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, in der Bevölkerung Anhängerschaft zu gewinnen, keine Chancen einzuräumen wären. Angesichts verbreiteter „Ungerechtigkeits"-Erfahrungen und „No Future"Gefühle wäre eine solche Absage sicherlich übereilt. Die Meinungsumfragen in West- und vor allem Ostdeutschland enthüllen, dass sich in Teilen der Bevölkerung gegenwärtig ein „Verlierer-Syndrom" herausbildet, dem Ausbreitungschancen und Politisierungspotentiale zuzurechnen sind. Empirisch gesehen zeichnet sich - nicht nur in Deutschland - eine verbreitete Misstrauenshaltung gegenüber den politischen Parteien und zentralen Institutionen des öffentlichen Lebens ab, die mit „Verdrossenheits"-Neigungen gepaart ist. 17 In diesem Zusammenhang wird es darauf ankommen, dass in den Konzepten der Politiker nicht einfach ein „Umkippen" in einen „Kapitalismus pur" stattfindet, sondern dass in der neo-liberalen Wende zentrale Leitziele einer humanen Gesellschaftsentwicklung durchgehalten werden. In dem Gelingen einer solchen Synthese kann sich letzten Endes auch die Chance einer Versöhnung der gegenwärtig aufeinander prallenden Gegensätze zwischen den Sozialstaats-Tradionalisten und den Liquidierern der herkömmlichen Sozialstaatspolitik in beiden großen Volksparteien abzeichnen. Eine solche Synthese scheint sich heute allerdings tatsächlich in der Konvergenz der aus verschiedenen Lagern entspringenden Entwicklungslinien neuer Gedankenbildungen abzuzeichnen. Zeichnet man die Umrisslinien einer sich aktuell herauskristallisierenden „neuen Sozialpolitik" unter Konzentration auf das Wesentliche mit kräftiger analytischer Strichführung nach, dann erkennt man einen Wandel vom Konzept des „betreuten Menschen" hin zum konträren Konzept eines „selbständigen Menschen" mit hoher Eigenverantwortlichkeit als „Zielgruppe" förderungsfähiger sozialer Verhaltensmuster. 18 Die Divergenzen im Umkreis dieser zentralen Konvergenzzone betreffen die durchaus brisante Frage, in wieweit neben einem Zentralwert eigenverantwortlicher individueller Selbständigkeit, über den es praktisch keinen Dissens mehr gibt, den Leitwerten der „Solidarität" und der „sozialen Gerechtigkeit" Gewicht zuzuschreiben ist. Wenn nicht alles täuscht, dann kristallisiert sich hier allerdings - hinter dem Schleier heftiger Konkurrenzkämpfe, bei denen es allerdings oftmals nur um die Positionierung von Personen geht - eine Trias eng verknüpfter Leitwerte heraus. In dieser zeichnet sich einerseits die Abwendung von einem auf „Kapitalismus pur" hinauslaufenden extremen Neoliberalismus, andererseits aber auch die
17 18
Inglehart , Modernisierung und Postmodernisierung, S. 406ff. Vgl. hierzu bereits Schelsky , Der selbständige und der betreute Mensch, S. 13ff.
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Helmut Klages
Abwendung von einem neo-sozialistischen Sozialstaatsdenken ab, das nach wie vor dem Leitbild eines durch den Staat von allen Lebensrisiken entlasteten individuellen Lebens anhängt. Die auf den ersten Blick weit voneinander entfernten Sondierungen im Bereich der Organisationslehre und der im Wandel befindlichen Vorstellungen von „Sozialpolitik" fuhren somit überraschenderweise zu einem gemeinsamen Ergebnis. Es lautet, dass in der durch Globalisierung bestimmten Zukunft in einem zunehmenden Maße das Individuum als Verantwortungsträger in Anspruch genommen wird - sei es, weil Organisationen, die im wirtschaftlichen Bereich tätig sind, den auf ihnen lastenden Druck zur Innovativität und Flexibilität an ihre Mitarbeiter oder Mitglieder weitergeben, oder sei es, weil sich der Staat vom Leitziel einer sozialen Totalverantwortung verabschiedet. Diese Entwicklung schließt, wie von beiden Seiten her sichtbar wird, eine zunehmende Herausforderung der Menschen zur Mitbeteiligung an Risiken ein, die bisher von sozialen Gebilden übernommen wurden. Ebenso schließt diese Entwicklung aber auch eine Neuverteilung von Verantwortungen und Risikozurechnungen im Verhältnis von „Mensch und Gesellschaft" ein. In diesem Zusammenhang wird heute manchmal festgestellt, dass ein „neuer Gesellschaftsvertrag" erforderlich ist. Diese Feststellung mag etwas vollmundig klingen. Sie ist jedoch in Anbetracht der fundamentalen Änderungen, die im Gange sind, keinesfalls übertrieben. Es wäre nicht nur inhuman, sondern vor allem auch kontrafaktisch und somit ideologieverdächtig, wenn die in Anbetracht der Systemwandlungen auf die Menschen zukommenden neuartigen Herausforderungen schlicht als „Sachzwänge" interpretiert und mit einer Haltung sozialer Indifferenz als hinnahmebedürftig deklariert würden. Vielmehr bedarf es einer Neudefinition sozialer Verantwortung mit der Zielsetzung der Gewährleistung realer Selbstverantwortungschancen für diejenigen Menschen, denen normativ ein erhöhtes Maß von Selbstverantwortlichkeit abgefordert wird. Öffentliches Handeln ist hierbei auch in Zukunft vonnöten. Es kann dementsprechend auch nicht um einen „Abbau", sondern nur um eine Neudefinition staatlicher Verantwortung gehen, die inzwischen in der Tat in den Mittelpunkt internationaler Diskussionen zu rücken beginnt. Folgt man einer von den USA her kommenden Begriffsbildung, dann geht es heute darum, dem traditionellen sozialstaatlichen „provider" den Staat als „enabler" („enabling State") gegenüberzustellen, dessen Leistung nichi mehr primär in der Versorgung der Bevölkerung mit Dienstleistungen, sondern in einer Befähigung der Individuen und gesellschaftlicher Organisationen, Verbände und Gruppierungen zum erfolgreichen Umgang mit Risiken besteht, die ein „empowerment" einschließt. In Deutschland hat sich im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel von der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition zu „Rot-Grün" der Terminus „aktivierender Staat" in den Vordergrund geschoben, der für sich in Anspruch nimmt, diese Entwicklung erstmals zu kennzeichnen.
Herausforderungen im Globalisierungsschub
353
Bei näherer Betrachtung kann es allerdings nicht verborgen bleiben, dass die Zielsetzung, um die es substanziell geht, letztlich überparteilicher Natur ist. Sie war als unterschwelliger
Trend bereits in dem Konzept eines „schlanken
Staates" enthalten, mit dem die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition das sich abzeichnende neue Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft - mit einem der V o r läufigkeit
geschuldeten
Mangel
an analytischer
Durchdringungskraft
und
sprachschöpferischer Gestaltungsenergie - einzufangen versuchte. Es ist offenkundig: Die Moderne wechselt in einen neuen Aggregatzustand über und bedient sich der miteinander streitenden und nach Möglichkeiten gegenseitiger Absetzung suchenden politischen Akteure als ihrer willentlichen oder u n w i l l lentlichen Agenten. Ob diese Entwicklung als Fortsetzung der aktuellen Modernisierungsphase betrachtet oder m i t einer neuen Ziffer versehen werden soll, kann dem Ergebnis des Kampfes zwischen dem nach dem Beharren i m Wandel suchenden Konservatismus und dem Neuigkeitsbedarf der Medien anheim gestellt werden.
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Elitenzirkulation in Organisationen Vorarbeiten zu einer politischen Theorie organisationalen Wandels Werner Nienhüser
I. Einleitung In einer doppelseitigen Werbeanzeige für die Zeitschrift „manager magazin"1 sind drei wichtig anmutende Männer in Geschäftsanzügen abgebildet, die gemeinsam in einem Aufzug fahren. Offenbar handelt es sich um Börsenhändler. Zu jeder Person gibt es einen kommentierenden Text: Das Bild des einen Mannes trägt die Untertitelung „Chefhändler", das des zweiten: „Wenn der Kurs fällt, wird er Chefhändler", und das des dritten: „Wenn der Kurs steigt, wird er Chefhändler". Dieser Anzeige liegt offenbar eine Alltagstheorie der Elitenzirkulation, des Aufstiegs und des „Falls" von Führungskräften zugrunde, die man so rekonstruieren kann: Erstens sind sowohl Aufstieg und Abstieg von hochrangigen Fach- und Führungskräften - im Folgenden spreche ich von organisationalen Eliten - durch Umweltveränderungen (in der Anzeige: Kursänderungen) beeinflusst. Zweitens haben Aufstieg und Abstieg etwas mit den Fähigkeiten und dem erfolgreichen Handeln der (potenziellen) Eliten zu tun, hier u.a. mit der Fähigkeit, Kursentwicklungen richtig und rechtzeitig prognostizieren zu können. Drittens besteht eine Konkurrenz, eine Art Machtkampf um knappe Positionen. In der Anzeige wird die Konkurrenzsituation durch den wachsamen Gesichtsausdruck der sich misstrauisch beäugenden drei Männer zum Ausdruck gebracht. Wissenschaftliche Parallelen zu solchen alltagstheoretischen Vorstellungen haben in der soziologischen Diskussion eine lange Tradition. So findet man bereits bei Mosca2 und Pareto3 die Idee, dass sich Gesellschaften vor allem durch den Wechsel der Eliten verändern. Eigenartigerweise kommen in der betriebswirtschaftlichen, aber auch soziologischen Organisationsforschung explizit elitenorientierte Ansätze kaum zur Anwendung.4 Im merkwürdigen Wider-
1
Im „Stern" vom 23.06.1999, S. 188-189. Mosca, Die herrschende Klasse. 3 Pareto, Allgemeine Soziologie. 4 Wie immer gibt es Ausnahmen, etwa Pettigrew, Circulation of Corporate Control. 2
Managerial Elites; Ocasio/Kim
356
Werner Nienhiiser
spruch hierzu steht, dass nur wenige Organisationswissenschaftler, zumal Betriebswirte, einen Zusammenhang zwischen Eliten- oder spezieller: Führungskräftewechsel und Unternehmensverhalten bestreiten dürften. Ebenso wenig wird man bezweifeln, dass organisationale Eliten über Macht verfügen, die sie nicht nur einsetzen, um den Erfolg von Unternehmen entscheidend zu beeinflussen, und dass Erfolg wiederum ihre Machtposition stärkt. Nur ist strittig und wenig klar, wie genau Erfolg, Wandel, Macht und Führungskräftewechsel zusammenhängen. Organisationswissenschaftler sollten sich nicht mit einer personalisierenden, ad hoc argumentierenden Eliten-Alltagstheorie ä la „manager magazin" begnügen dürfen. Wir benötigen, so meine ich, theoretische (und empirische) Aussagen, die uns Hinweise liefern über (a) die Bestimmungsgründe der sozialen Struktur und der Macht organisationaler Eliten, (b) den Einfluss dieser Elitenstruktur auf das Unternehmensverhalten und (c) die Rückwirkungen des Unternehmensverhaltens auf die sozial- und machtstrukturelle Zusammensetzung und den Wandel der organisationalen Elite. Ich werde im Folgenden entsprechende Aussagen zusammentragen und theoretisch gestützt systematisieren und weiterentwickeln. Die Analyse konzentriert sich in erster Linie auf das Management von Unternehmen; allerdings sollen die Überlegungen auf andere Organisationen und andere Eliten übertragbar sein. Es wird folgendermaßen vorgegangen: Zunächst werde ich in Abschnitt 2 den von mir verwendeten Begriff der organisationalen Elite näher klären. Zudem werde ich einige Argumente für eine elitenzentrierte Erklärung entwickeln. Abschnitt 3 widmet sich den frühen Theorien der Elitenzirkulation, den Arbeiten von Mosca und Pareto. In Abschnitt 4 werde ich dann die für Gesellschaften formulierten Grundüberlegungen dieser frühen Theoretiker auf die Organisationsebene (speziell die Unternehmensebene) übertragen und neuere Theorien und Befunde der Organisationsforschung heranziehen. Dabei greife ich vor allem auf die machtorientierte Resource-Dependence-Theorie von Pfeffer/ Salancik5 und auf diesen Sinnkontext beziehbare empirische Arbeiten zurück. Zum Schluss (Abschnitt 5) skizziere ich einige Schlussfolgerungen für eine Theorie organisationalen Verhaltens und Wandels.
5
Pfejfer/Salancik,
Resource Dependence.
Elitenzirkulation in Organisationen
357
II. Klarstellung des Elitenbegriffs und einige Argumente für die Plausibilität elitentheoretischer Erklärungen 1. Klärung des Elitenbegriffs Mit dem Begriff der organisational Elite bezeichne ich diejenigen, die aufgrund ihrer Position dazu autorisiert sind, wichtige Entscheidungen zu treffen, 6 und zweitens diejenigen, die potenziell für derartige Positionen in Frage kommen. Die erste Gruppe nenne ich herrschende organisational, die zweite Gruppe nicht-herrschende organisationale Elite. Keineswegs sind damit notwendigerweise Personen gemeint, die sich durch besondere Fähigkeiten, Eigenschaften oder Leistungen auszeichnen. Eine solche „elitäre" Sichtweise wird beispielsweise von Pareto7 vertreten, dessen Theorie noch zu behandeln sein wird. Der hier verwendete Elitenbegriff sollte dagegen frei sein von normativen Assoziationen. Organisationale Elite meint sozusagen die „Regierung" einer Organisation und diejenigen Personen, die diese übernehmen könnten - unabhängig davon, ob die jeweiligen Personen Eigenschaften aufweisen, aufgrund derer man sie als geeignet und daher als „auserwählt" betrachtet oder betrachten könnte. Im empirischen Sinne und stärker operational auf den Organisationstyp der Unternehmung ausgerichtet, zählen insbesondere die Mitglieder von Vorständen und Aufsichtsräten, aber auch solche Kapitaleigner, die wesentliche Kapitalanteile halten, zur Elite. Weiterhin muss man diejenigen in den jeweils untersuchten Organisationen hinzurechnen, die potenziell Kandidaten für entsprechende Positionen sind (damit auch Betriebsräte, die Mitglieder der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat großer Kapitalgesellschaften werden können). Natürlich zählen nicht nur die Mitglieder der Organe von Kapitalgesellschaften, sondern auch die Inhaber von Personengesellschaften zu den organisational Eliten. Es ist eine hier nicht zu klärende Zweckmäßigkeitsfrage, die sich insbesondere bei konkreten, empirischen Analysen stellt, wer darüber hinaus zur organisationalen Elite zählen soll. Ich werde mich hier vorrangig auf die Vorstände bzw. Geschäftsleitungen von Unternehmen sowie die potenziellen Kandidaten für derartige Positionen konzentrieren, obwohl meine Ausführungen auf andere organisationale Eliten übertragbar sein dürften. Der Begriff der organisationalen Elite ist anderen Bezeichnungen wie Top Management, obere Führungskräfte oder Vorstände aus mehreren Gründen vorzuziehen. Der Elitenbegriff abstrahiert von spezifischen Organisationen, er gilt für Profit- wie für Non-Profit-Unternehmen, für Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände, für Sozialverbände ebenso wie für das organisierte Verbrechen. Der Elitenbegriff schafft zudem Anschlussfähigkeit; er ermöglicht es, die breite
6 7
Vgl. ähnlich Higley¡Burton, The Elite Variable, S. 18; Pettigrew, Pareto, Allgemeine Soziologie.
Managerial Elites.
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Werner Nienhser
soziologische und politikwissenschaftliche Elitenforschung, teilweise im Analogieschluss, für die Organisationsforschung nutzbar zu machen. Beispielsweise befasst sich die soziologische, auf Gesellschaftssysteme bezogene Elitenforschung schon seit langem damit, welche Zusammenhänge zwischen der Stabilität sozialer Systeme und dem Elitenwechsel bestehen.8 Es ist sinnvoll, zu prüfen, ob und inwieweit Anleihen bei dieser Diskussion fruchtbar sind. Ein erster, selbstverständlich überhaupt nicht ausreichender Schritt ist die begriffliche Analogie, d.h. die Übertragung des Elitenbegriffs, ein zweiter die Übertragung theoretischer Ideen von der Gesellschafts- auf die Organisationsebene.
2. Warum eine elitenzentrierte
Erklärung?
Eine Prämisse elitenzentrierter Erklärungen besteht darin, dass Eliten tatsächlich „etwas bewegen". Zwar gibt es eine ganze Reihe von organisationstheoretischen Ansätzen, die die Entscheider gleichsam in die Black Box sperren, wie z.B. die meisten Varianten der Kontingenztheorie 9 oder populationsökologische Ansätze10. Ignoriert man organisationale Eliten und die Bedeutung ihres Handelns, blendet man einen zentralen Mechanismus aus, der zwischen Umwelt und Organisation vermittelt. Die Umwelt wirkt aber eben nicht hinter dem Rücken der zentralen Entscheider und an ihnen vorbei. Dafür sprechen theoriebegründete Argumente, aber auch empirische Analysen. Hage/Dewar 11 zeigen in einer empirischen Untersuchung, dass die Präferenzen der jeweiligen organisationalen Elite den Wandel von Organisationen besser erklären können als strukturelle Variablen oder gar die Präferenzen der Organisationsmitglieder insgesamt. Darüber hinaus spielen Eliten für die Wahrnehmung der Situation einer Organisation eine Rolle. 12 Je nach Wert-Wissens-Hintergrund und sozialer Zusammensetzung der Elite wird ein und dieselbe Umwelt ganz unterschiedlich interpretiert, 13 und es kann unter bestimmten elitenstrukturellen Bedingungen zu Fehlinterpretationen und Fehlentscheidungen kommen. 14 Wenn man Organisationsverhalten erklären will, muss man dies berücksichtigen. Ein weiterer Grund für eine elitenzentrierte Erklärung hat eher methodologischen Charakter: Ich bevorzuge eine handlungs- bzw. akteurszentrierte Erklä-
8
Vgl. im Überblick Hradil/Imbusch, Oberschichten. Donaldson, The Contingency Theory. 10 Z.B. Hannan/Freeman, The Population Ecology Approach. 11 Hage/Dewar, Elite Values. 12 Deutsch, Handlungs- und Lernfähigkeit politischer Systeme. 13 Dearborn/Simon, Selective Perception. 14 Janis, I. R , Victims of Groupthink und Janis, I. L., Error in Strategie Decision Making. 9
Elitenzirkulation in Organisationen
359
rung organisationalen Verhaltens. Dabei muss man keineswegs in einen Reduktionismus und Voluntarismus verfallen, der isolierte Individuen in einem sozialen Vakuum betrachtet und organisationale Veränderungen dem Wollen und Handeln Einzelner zuschreibt. Im Folgenden werde ich zum einen ältere Theorien der Elitenreproduktion (von Mosca und Pareto) skizzieren und anschließend neuere organisationstheoretische Konzepte heranziehen, um wichtige Gedanken der älteren Elitentheorie systematischer zu verorten und auf den Kontext von Organisationen zu übertragen.
I I I . Gesellschaftlicher Wandel und Elitenreproduktion (Ansätze von Mosca und Pareto) Bereits Mosca 15 als auch Pareto 16 versuchten Antworten auf die Frage zu geben, was gesellschaftlichen Wandel hervorruft. Dabei griffen sie auf den Mechanismus der Elitenzirkulation zurück. Auch neuere Analysen knüpfen an die Grundgedanken dieser Arbeiten an. 17 Skizzieren wir zunächst die Überlegungen der beiden „Klassiker". Ich unterstelle dabei, dass Theorien gesellschaftlichen Wandels im Analogieschluss auf den Wandel von Organisationen bzw. Unternehmen übertragen werden können, weil Organisationen nach ähnlichen Prinzipien wie Gesellschaftssysteme funktionieren. 18 Die Kernidee sowohl von Mosca als auch von Pareto besteht darin, dass sich die Gesellschaft durch die Abfolge der Eliten wandelt. Bei Mosca findet sich folgende Aussage, die seine Theorie recht treffend zusammenfaßt: „Man könnte die ganze Geschichte der Kulturmenschheit auf den Konflikt zwischen dem Bestreben der Herrschenden nach Monopolisierung und Vererbung der politischen Macht und dem Bestreben neuer Kräfte nach einer Änderung der Machtverhältnisse erklären. ... Politische Klassen sinken unweigerlich herab, wenn für die Eigenschaften, durch die sie zur Macht kamen, kein Platz mehr ist, wenn sie ihre frühere soziale Bedeutung für die Allgemeinheit verlieren und Leistungen in einer sozialen Umgebung an Bedeutung verlieren." 19 Pareto vertritt nahezu identische Ideen (die er vermutlich zum Teil von Mosca übernahm): Er entwickelt eine Theorie gesellschaftlichen Gleichgewichts, in 15
Mosca, Die herrschende Klasse; Erstveröffentlichung 1896. Pareto, Allgemeine Soziologie; Erstveröffentlichung 1916. 17 Vgl. z.B. Higley Burton, The Elite Variable; Ocasio, Polical Dynamics; Ocasio/Kim, Circulation of Corporate Control. 18 Vgl. Presthus, Individuum und Organisation, S. 10; Zald/Berger, Social Movements. 19 Mosca, Die herrschende Klasse, S. 64f. 16
360
Werner Nienhser
der der „Kreislauf der Eliten" eine zentrale regulierende Größe darstellt. 20 Die jeweils Herrschenden streben immer nach Monopolisierung, Erhaltung und Ausweitung der Macht. Das soziale System (die Gesellschaft) erstarrt durch die Machtmonopolisierung und -Verfestigung. Nun gibt es aber andere „Kräfte", sozusagen Konkurrenten, die die Machtverhältnisse in ihrem Sinne ändern wollen. Dies erzeugt notwendigen Wandel bzw. neue Gleichgewichtszustände. Pareto unterscheidet die Gesellschaft in drei Klassen: erstens eine nicht „ausgewählte", eliteferne Klasse, die Masse, zweitens eine nicht-herrschende Elite und drittens die herrschende Elite. 21 Darüber hinaus entwickelt Pareto eine Art Persönlichkeitstypologie. Er geht von zwei Typen aus, den „Löwen" und den „Füchsen". Die „Löwen" sind aufgrund ihrer überragenden Fähigkeiten in der Lage, die Elitenpositionen einzunehmen. Mit „Füchsen" meint Pareto solche Menschen, die zwar nicht die Fähigkeiten der „Löwen", wie Aggressivität, mitbringen, wohl aber Schlauheit und die Kompetenz zur klugen Verhandlungsführung. Im Laufe ihrer Amtszeit verlieren nun die „Löwen" die Fähigkeiten zur Erhaltung ihrer Position - sie werden „dekadent" 22 - bzw. die Fähigkeiten werden obsolet aufgrund von Veränderungen der Umwelt. „Löwen", die an der Macht bleiben wollen, täten daher - so Pareto - gut daran, kontrolliert „Füchse" in die Elitenpositionen aufrücken zu lassen. Gleichzeitig drängt aber schon eine neue Generation von „Löwen" nach und löst die alte herrschende Elite ab: „Die Geschichte ist ein Friedhof der Eliten". 23 Pareto ist der Auffassung, dass ein gesellschaftliches Gleichgewicht durch eine mittlere Geschwindigkeit des Elitenkreislaufs zustande kommt. Revolutionäre, destabilisierende Veränderungen könnten verhindert werden, indem nachdrängende „Löwen" individuell absorbiert würden, ansonsten drängten sie auf kollektive, rasche und radikale Machtveränderung. 24 Pareto ist in der Soziologie umstritten, weil einige normative Wendungen seiner Ideen von den italienischen Faschisten aufgegriffen wurden. 25 Ob er selbst auch eine gewisse Nähe zum faschistischen Gedankengut zeigte 26 oder ob er sich sogar ausdrücklich vom Faschismus distanzierte, 27 kann und muss hier nicht geklärt werden. Es geht mir lediglich um die deskriptiv-theoretischen Überlegungen Paretos und Moscas zur Elitenzirkulation. Diese werden auch in
20
Klages, Geschichte der Soziologie, S. 136. Pareto, Allgemeine Soziologie, § 2032. 22 Pareto, Allgemeine Soziologie, § 2057. 23 Pareto, Allgemeine Soziologie, § 2053. 24 Pareto, Allgemeine Soziologie, S. 230; § 2054 - 2057; Klages, Geschichte der Soziologie, S. 136;Aron, Hauptströmungen, S. 148. 25 Klages, Geschichte der Soziologie, S. 137 26 Wie Eisermann, Paretos System, S. 1 und Aron, Hauptströmungen, S. 167 meinen. 27 Vgl. Tamayo, Entdeckung der Eliten, S. 70. 21
Elitenzirkulation in Organisationen
361
etlichen anerkannten soziologischen Untersuchungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer Hintergründe durchaus positiv rezipiert. 28 Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass vor allem Mosca, aber auch Pareto, eine elitistisches Menschenbild vertraten. So meinte Mosca, dass die Mitglieder der herrschenden Klasse, der Elite also, den Beherrschten in „materieller, intellektueller, sogar in moralischer Hinsicht überlegen" oder „... wenigstens Nachkommen von Individuen, die solche Vorzüge besaßen"29, seien. Solche und andere krypto-normativen Aussagen lassen sich aber durchaus von den Ideen der Elitenzirkulation trennen. Für die Erklärung organisationalen Wandels bieten die Überlegungen von Mosca und Pareto wichtige Ansatzpunkte. So liefern sie Hinweise für die Beantwortung der Frage, durch welche Mechanismen eine Ablösung der herrschenden Eliten zustande kommt. Man kann bei den Klassikern drei miteinander zusammenhängende Mechanismen unterscheiden. Erstens: Das Problemlösungspotenzial der Eliten kann sich dadurch verändern, dass die Eliten „altern", ihre Aufmerksamkeit lässt nach, Probleme werden ignoriert. Diesen Prozess kann man als Degeneration bezeichnen. Davon ist zweitens Obsoleszenz zu unterscheiden: Nicht die Problemlösungsfähigkeiten ändern sich, wohl aber die zu lösenden Probleme, etwa durch veränderte Marktbedingungen, daher werden die Fähigkeiten bedeutungslos. In beiden Fällen sind die Eliten nicht mehr in der Lage, die anstehenden Probleme zu bewältigen, die Wahrscheinlichkeit der Ablösung steigt. Und drittens gibt es noch den latenten Konflikt und u.U. manifesten Machtkampf zwischen den herrschenden und nicht-herrschenden Eliten, der zum Elitenwechsel führt. Insbesondere dann, wenn Degeneration oder Obsoleszenz vorliegen, kann die nicht-herrschende Elite ihre Chance nutzen und die herrschende ablösen. Auf diese Elemente werde ich an späterer Stelle zurückgreifen. Nach der Lektüre der „Klassiker" bleiben jedoch wesentliche Fragen unbeantwortet. (1) Die erste Frage bezieht sich im Kern auf das Verhältnis zwischen funktionaler und dysfunktionaler Macht sowie zwischen Ablösung und Beharrung der Eliten. Einerseits, so Pareto und Mosca, gelangen Eliten wegen ihrer Leistungsfähigkeit an die Macht, und sie verlieren ihre Macht, wenn ihre Fähigkeiten obsolet werden oder degenerieren. Wenn wir dies auf Organisationen übertragen, dann hätte jede Organisation die „richtige" Elite, vorausgesetzt, die Ablösung der jeweils Herrschenden vollzöge sich rasch. Genau diese rasche Ablösung ist aber fraglich, auch Pareto und Mosca weisen darauf hin, dass Eliten ihre Macht ausnutzen und verfestigen. Ihre Machtbasis könnte deshalb über die Fähigkeiten, die für die jeweilige Organisation wichtig und funktional 28 Z. B. Jaeggi, Die gesellschaftliche Elite; Stahl, Elitekreislauf; Higley/Burton, Elite Variable. 29 Mosca, Die herrschende Klasse, S. 55
The
362
Werner Nienhser
sind, hinausreichen und dazu fuhren, dass sich auch nicht mehr funktionale Eliten sehr lange in ihren Positionen halten. Darüber hinaus bleibt sowohl bei Mosca als auch bei Pareto offen, worauf Macht genau beruht. 30 Beide behaupten, Eliten verfügten über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten. Die Argumentation reduziert sich aber letztlich auf die tautologische Aussage: Wer die Macht hat, muss bestimmte Fähigkeiten haben, sonst hätte er ja nicht die Macht. Es ist also wichtig, die Bestimmungsgründe der Macht, das Verhältnis zwischen der funktionalen und dysfunktionalen Macht der Eliten und den Bedingungen ihrer Ablösung näher zu klären. (2) Die zweite Frage hängt mit der ersten zusammen und zielt auf das Verhältnis zwischen Kontextdeterminiertheit der Elitenstruktur und dem „freien Willen" der Eliten. Entscheidungen von organis a t i o n a l Eliten spielen bei Pareto und Mosca keine ausgeprägte Rolle. Wichtiger sind der Kontext, der Fähigkeiten obsolet macht, und die ebenfalls willensund entscheidungsunabhängigen Degenerationsprozesse. Kontext und Degeneration wirken quasi hinter dem Rücken der Akteure. Die Schlussfolgerung ist ähnlich wie bei der ersten Frage - entweder genügen die Eliten den Anforderungen oder sie gehen (in einer Art von Wettbewerb oder Machtkampf) unter. Organisationale Eliten vollzögen demnach nur, was „die Umwelt" fordert, sonst wäre sie nicht (mehr) die herrschende Elite. Dies wäre aber eine wohl allzu naive und implizit normative Auffassung (die vermutlich gar nicht so selten vorzufinden ist). Daher ist es notwendig, das Kontinuum zwischen einer rein voluntaristischen und einer rein deterministischen Sicht näher auszuleuchten und eine realistischere Verortung vorzunehmen. Insgesamt ist zu klären, wie man die wichtigen Gedanken von Pareto und Mosca mit neueren organisationstheoretischen Überlegungen verknüpfen und nutzbringend auf das Problem der Erklärung organisationalen Wandels anwenden kann. Ansatzpunkte liefert uns hier erstens die Resource DependenceTheorie 31. Diese Theorie besagt sehr vereinfacht, dass sich das Handeln von Organisationen an den mächtigen Akteuren orientiert. Mächtig sind diejenigen Akteure, die für die Organisation wesentliche Ressourcen kontrollieren. Diese Ressourcen können sich von Organisation zu Organisation unterscheiden, und ihr Angebot und die Nachfrage nach ihnen können sich im Laufe der Zeit verändern. Zu den Entscheidungsorganen bzw. Eliten der Organisation erlangen dann diejenigen Zugang, die Ressourcen direkt einbringen (z.B. Kapitaleigner) oder durch bestimmtes Wissen oder Fähigkeiten zur Ressourcensicherung beitragen (z.B. Topmanager) und dadurch mächtig werden. Wandel wird aus dieser Perspektive ausgelöst durch Veränderungen in der Nachfrage, im Angebot und in der Kontrolle kritischer Ressourcen, aber auch durch Machtkämpfe der Eliten. Zweitens liefern die Organizational Demography- und die Topmanage-
30 31
Tamayo, Entdeckung der Eliten, S. 66. Pfeffer/Salancik, Resource Dependence.
Elitenzirkulation in Organisationen
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ment-Demographie-Forschung wichtige Hinweise: Hier findet man vor allem Aussagen darüber, welche sozialen Strukturen des Topmanagements (z.B. Qualifikations- und Altersstruktur) funktional oder dysfunktional für den Erfolg, für das Überleben, für die Stabilität und den Wandel von Organisationen sind. Die Resource Dependence-Theorie hebt also Prozesse der Obsoleszenz und des Machtkampfes hervor, während die Topmanagement-Demographie-Forschung stärker auf Prozesse der Degeneration (z.B. „Überalterung") abhebt. Ich will im Folgenden diese theoretischen Ansätze nicht isoliert skizzieren, sondern die wichtigsten Basisannahmen darstellen und die Theorien auf die Zusammenhänge zwischen organisationalem Wandel und Elitenwandel anwenden.
IV. Organisationswandel und Elitenreproduktion 1. Basisannahmen über Akteure und soziale Prozesse Die folgenden Annahmen über die Akteure und soziale Prozesse bilden die Grundlage der von mir herangezogenen organisationstheoretischen Konzepte und die Basis für das Verständnis des Prozesses der Elitenreproduktion und des organisationalen Wandels. 1. Akteure handeln intendiert rational, aber beschränkt rational 32 Sie versuchen ihre Eigeninteressen, nicht notwendigerweise Organisationsinteressen, vor dem Hintergrund kognitiver Beschränkungen zu realisieren. Entscheiden und Handeln vollzieht sich damit unter Unsicherheit über gegenwärtige und erst recht über künftige Umweltzustände. Dies heißt auch, dass Wahrnehmungsprozesse eine große Rolle spielen: Die Umwelt, eigene und fremde Machtressourcen können unter bestimmten noch zu klärenden Strukturbedingungen unzutreffend wahrgenommen werden. 2. Die Präferenzen bzw. Interessen der organisationalen Elite sind nicht homogen; Präferenzunterschiede und Interessenwidersprüche sind der Normalfall und treiben den Wandel voran: Innerhalb der Elite und zwischen Eliten und Nicht-Eliten sind Auseinandersetzungen zu erwarten. Diese Konflikte und Widersprüche „brechen" gleichsam die ursprünglichen Interessen und geben ihnen ihre handlungsrelevante Richtung. 3. Macht über einen anderen Akteur beruht auf der Kontrolle der für diesen Akteur wichtigen Ressourcen. Akteure setzen Macht ein, um ihre Eigeninteressen zu realisieren. Annahmen über Machtausübung sind nur unter den Bedingungen beschränkter Rationalität und Umweltunsicherheit sinnvoll und notwendig: Der homo oeconomicus, ein Akteur, der - gäbe es ihn - alles wüsste, würde
32
Pfeffer/Salancik,
Resource Dependence.
364
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auch die Machtressourcen seines Gegners kennen, außerdem hätte er keinerlei Zweifel über seine absolute und relative eigene Stärke. In einer solchen künstlichen Situation wäre Machtausübung überflüssig. Kampf würde durch Kalkulation über Gewinn und Verlust ersetzt. Tatsächlich kennt man aber weder die eigene Machtbasis noch die des Gegners genau. Machteinsatz wird von Vermutungen geleitet und erscheint gelegentlich lohnend, auch wenn er es gar nicht ist. 4. Wenn nun Macht und Wahrnehmungsprozesse von Bedeutung sind und Wahrnehmung auch beeinflusst werden kann, dann spielt in Unternehmen nicht nur materielle Politik, das heißt die tatsächliche Erfüllung der Forderungen derjenigen, die wichtige Ressourcen kontrollieren, eine wichtige Rolle, sondern auch symbolische Politik 33. Oftmals versuchen organisationale Eliten nur den Schein der Forderungserfüllung zu erzeugen. Bestrebungen der Forderungserfüllung werden z.B. nicht selten auch durch den materiell wenig ändernden Austausch von Topmanagern signalisiert. Wir werden noch sehen, dass symbolische Handlungen und die Legitimation von Entscheidungen eine wesentliche Aufgabe organisationaler Eliten bilden. 5. Begrifflich ist festzuhalten, was hier mit Unternehmensverhalten und Unternehmenswandel oder Organisationswandel gemeint ist. Unternehmensverhalten bezeichnet jede Handlung, die die Kerntechnologie 34 des Unternehmens, ihre Strukturen und Prozesse in stärkerem Ausmaß verändert. Das Ergebnis bezeichne ich als organisationalen Wandel. Auch der Wandel der Elite, eine Veränderung ihrer qualitativen oder quantitativen Zusammensetzung, könnte grundsätzlich als eine Dimension des organisationalen Wandels betrachtet werden. Hier unterscheide ich jedoch zwischen Wandel der Elite einerseits und dem Wandel der zentralen organisationalen Kerntechnologien, Strukturen und Prozesse andererseits. Auf diese Annahmen über das Handeln von organisationalen Eliten werde ich im Folgenden zurückgreifen, um die Zusammenhänge zwischen organisationalem Wandel und Elitenwandel zu skizzieren.
2. Eliten und Ressourcenkontrolle
- Besetzung von Elitenpositionen
Die zentrale These der Resource Dependence-Theorie lautet: „... to understand the behavior of an organization you must understand the context of that behavior - that is, the ecology of the organization". 35 Die Umwelt stellt die von
33 34 35
Pfeffer , Management as Symbolic Action; Edelmann , Politik als Ritual. Thompson , Organizations in Action. Pfeffer/Salancik , Resource Dependence, S. 1.
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der Organisation benötigten „kritischen" Ressourcen bereit. Nach der Ressourcenabhängigkeitstheorie gelangen diejenigen in Elitenpositionen, die in der Lage sind, für die Organisation wichtige Ressourcen bereitzustellen. Eine Ressource ist um so wichtiger, je mehr ihr Fehlen das Funktionieren der Organisation gefährdet. 36 Ressourcensichernde Eliten treffen Entscheidungen, die das Handeln der Organisation beeinflussen und lenken. Zentral ist der Kontext, die Abhängigkeitssituation der Organisation. Nur vor dem Hintergrund des Kontextes ist die Fähigkeit zur Ressourcenbereitstellung relevant. Wer Ressourcen kontrolliert, die die Organisation benötigt, hat Macht in der bzw. über die Organisation. Macht wird hier ausgehend von austauschtheoretischen Überlegungen als Unabhängigkeit von anderen Akteuren verstanden. 37 Die Abhängigkeit einer Organisation (allgemeiner: eines Akteurs) A von einem anderen Akteur B ist um so größer, (1) je wichtiger A bestimmte Objekte sind, die B kontrolliert, und (2) je weniger A die Möglichkeit hat, diese Objekte außerhalb der A-B-Beziehung zu erlangen. (Das gleiche gilt entsprechend fur B.) Macht ist also eine Eigenschaft einer Abhängigkeits- und Austauschbeziehung; sie ist also nicht mit der Ressourcenausstattung eines Akteurs gleichzusetzen.38 Es wird angenommen, dass Akteure ihre Abhängigkeit reduzieren, also ihre Macht vergrößern wollen. Diese Grundüberlegungen sind von Pfeffer/ Salancik auf den Austausch zwischen inner- und außerorganisationalen Akteuren, aber auch auf die Austauschbeziehungen zwischen Akteuren innerhalb der Organisation angewandt worden. Sowohl Abteilungen als auch Individuen tauschen jeweils für sie wichtige Ressourcen; je nach Ressourcenkontrolle etc. haben sie mehr oder weniger Macht und können Entscheidungen in ihrem Interesse beeinflussen. „To say that organizations are externally controlled or constrained ... does not specify how. ... The mechanism is that of executive succession ...". 3 9 Interne und externe, durch Ressourcenkontrolle mächtige Anspruchsgruppen nehmen Einfluss auf die Besetzung wichtiger Positionen in der Elite der Unternehmung. Diejenigen, die über große Macht verfügen, werden bei Entscheidungen über Stellenbesetzungen jemanden bevorzugen, der nach ihrer Meinung geeignet ist, ihre Macht zu erhalten und auszubauen, also die kritischen Ressourcen in ihrem Sinne zu sichern. Neben der Machtsicherung kommt ein psychologischer Effekt zum Tragen: Menschen neigen dazu, solche Personen vorzuziehen, die ihrer
36
Pfeffer/Salancik, Resource Dependence , S. 46. Pfeffer/Salancik , Resource Dependence, S. 44; im Anschluss an Emerson, PowerDependence Relations. 38 s. ausführlicher Nienhüsen Macht. 37
39
Pfeffer/Salancik,
Resource Dependence, S. 225.
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eigenen Person in Bezug auf die Sozialisation ähnlich sind, 40 dies reduziert Unsicherheit. Die Untersuchungen von Hartmann 41 zeigen, dass vor allem die Ähnlichkeit im Habitus einen Einfluss bei der Besetzung von Spitzenpositionen der Wirtschaft hat. Leistung - in der Theoriesprache der Ressourcenabhängigkeitstheorie: die Resultate der Fähigkeit zur Sicherstellung von für die Organisation wichtiger Ressourcen - spielt durchaus nicht die Rolle, die ihr von den Eliten selber zugewiesen wird. 4 2 Bei der Besetzung von Führungskräftepositionen ist die Realisierung der Organisationsziele nur eine Nebenbedingung. Im Vordergrund stehen für die Mächtigen ihre Interessen und die Reproduktion ihrer eigenen Macht. Die Machterhaltungsbestrebungen können, müssen aber nicht zum Überleben der Organisation beitragen. Vor allem, wenn sich wesentliche Änderungen in der Umwelt ergeben, dürften „Machtverkrustungen" den notwendigen Wandel gefährden.
3. Funktionen von Eliten Worin bestehen die Funktionen von organisationalen Eliten, im Fall von Unternehmen: des Managements? Aus einer funktionalistisch verkürzten Sicht bestünde sie darin, Entscheidungen so zu treffen, dass für die Organisation kritische Ressourcen immer in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden. Die Funktionen des Managements gehen aber darüber hinaus. Dabei ist erneut der Gedanke der beschränkten Rationalität, unterschiedlicher Deutungsmuster und Interessen zur Anwendung zu bringen. Das Management interpretiert zum einen Umwelten. Zum anderen trifft es Entscheidungen darüber, wie die Anforderungen der Umwelt (und auch der internen Akteure) gehandhabt werden können. Entscheidungen müssen dabei nicht nur getroffen, sondern auch in den Augen anderer als legitim und rational erscheinen und gegen widerstrebende Interessen durchgesetzt werden. In beiden, nachfolgend erläuterten Bereichen spielt die soziale Konstruktion der Realität eine große Rolle. Eine erste wichtige Funktion von organisationalen Eliten besteht in der Wahrnehmung, Interpretation und sozialen Konstruktion von Veränderungen bzw. Zuständen der internen und externen Umwelt. „Die Globalisierung", „der zunehmende Wettbewerbsdruck", „die steigenden Personalkosten" - all dies sind Resultate solcher Deutungs- und Konstruktionsprozesse. Die subjektiven Repräsentationen existieren neben den objektiven Gegebenheiten der Umwelt. (Dies sagt im Übrigen nichts darüber, ob die Repräsentationen zutreffend sind
40 Pfeffer/Salancik, Resource Dependence, S. 236; siehe zur empirischen Bestätigung auch Westphal/Zajac, Substance and Symbolism. 41 Z.B. Hartmann, Topmanager und ders., Mythos. 42 Hartmann, Mythos.
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oder nicht.) Zwar stellt die Ressourcenabhängigkeitstheorie die objektive Ressourcenlage in den Vordergrund. Es wäre jedoch nicht der Theorie gemäß, wenn man behaupten wollte, dass sich Entscheidungen und Handeln von Organisationen allein aus der objektiven Abhängigkeit von wichtigen Ressourcen und damit den sie kontrollierenden Akteuren erklären ließen. Wenn man den Gedanken der beschränkten Rationalität ernst nimmt, dann hat neben der objektiven Situation die subjektive Wahrnehmung dieser Situation einen wesentlichen, in etlichen Rezeptionen der Ressourcenabhängigkeitstheorie übersehenen Einfluss. Damit ist die objektive Situation nicht bedeutungslos. Handlungen der Elite und der Organisation werden objektiv beschränkt, wenn und weil die Umwelt bestimmte Ressourcen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Daher lässt sich auch der Erfolg von Organisationen niemals vollständig durch die Unterschiede in den Leistungen von Organisationsmitgliedern erklären - ihre Handlungen mögen noch so vernünftig sein, sie stoßen häufig schlicht an die Grenzen der verfügbaren Ressourcen. Empirische Studien43 bestätigen dies; sie zeigen, dass die Varianz in der Politik, die durch individuelle Unterschiede (durch den Wechsel von Managern oder Bürgermeistern) erklärt wird, marginal ist im Vergleich zu der Varianz, die auf Unterschiede in der Umwelt der Organisationen rückführbar ist. Umwelten sind aber nicht nur objektiv handlungsbeschränkend, sondern sie bilden auch die Quelle subjektiver Unsicherheit und damit von Spielräumen. Umwelten müssen wahrgenommen und interpretiert werden: „Organizational environments are not given realities; they are created through a process of attention and interprétation. ... Since there is no way of knowing about the environment except by interpreting ambiguous events, it is important to understand how organizations come to construct perceptions of reality." 44 Die Umwelt kognitiv zu „konstruieren" - darin besteht eine wichtige Funktion der organisationalen Elite. Es sind damit die individuellen Fähigkeiten bzw. deren Summe, aber auch die Struktur der organisationalen Elite, die die Wahrnehmung und damit den Wandel oder Stabilität der Organisation mit beeinflussen. Wenn man den Gedanken der beschränkten Rationalität weiterdenkt, dann ist auch Macht nicht (nur) objektiv gegeben.45 Die Interessen, die Werte und Einschätzungen der Akteure, aber auch die Ressourcen und die Ressourcenalternativen sind kognitiv repräsentiert und von sozialen Prozessen geprägt - eben „sozial konstruiert". Man muss deshalb diejenigen sozialen Prozesse und Strukturen berücksichtigen, die dafür sorgen, dass die Akteure bestimmte Vorstellun-
43
Lieberson/O 'Connor, Leadership and Organizational Performance; Salancik/Pfejfer, Administrator Discretion; Pfeffer/Salancik, Resource Dependence, S. 10. 44 Pfeffer/Salancik, Resource Dependence, S. 13. 45 Clegg/Rura-Polley, Pfeffer, Salancik, S. 541; vgl. zu den Möglichkeiten einer materialistischen Deutung Nienhüser, Macht bestimmt die Personalpolitik.
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gen davon haben, welche Ressourcen und Alternativen existieren und was sie als wertvoll oder wertlos ansehen. Dies gilt für die eigenen Ressourcen, aber auch für die der Tauschpartner, ebenso für die alternativen Ressourcenquellen beider Parteien. Und diese Einschätzungen und Bewertungen beeinflussen wiederum das Machtverhältnis. 46 Unterschätzungen der eigenen und Überschätzung der fremden Ressourcen führen zu erhöhter wahrgenommener Abhängigkeit und damit zu Machtvorteilen für andere. 47 Wenn wir nun annehmen, dass zum einen Wahrnehmungsprozesse und soziale Konstruktionen durch Eliten stattfinden und zum anderen Eliten danach streben, ihre Machtposition zu erhalten und auszubauen, dann muss man vermuten, dass Umweltwahrnehmung und -interpretation durch Eigennutz und Machtstreben geprägt sind: Organisationalen Eliten sind vermutlich nicht daran interessiert, die Aufmerksamkeit auf Umweltveränderungen zu richten, falls das Reagieren auf diesen Wandel die bestehende Machtstruktur gefährden würde. 48 Organisationale Eliten versuchen daher auch Einfluss auf die Kriterien der Informationssuche zu nehmen: Diese Kriterien lenken die Wahrnehmung auf solche Umweltsegmente, die für die Eliten insofern günstig sind, als sie zur Bewältigung der aus diesen Segmenten resultierenden Unsicherheit Beiträge leisten können und hierfür Anreize erhalten. Zugleich haben Eliten ein Interesse daran, ihre Relevanz für das Unternehmen, für dessen Mitarbeiter, für die Gesellschaft usw. herauszustellen und die Bedeutung anderer Akteure herunterzuspielen. Gleichzeitig liegt es in ihrem Interesse, ihre Macht, soweit sie nicht als funktional begründet werden kann, nicht ins Blickfeld rücken zu lassen - Diskussionen über dysfunktionale Macht oder über Machtmissbrauch werden damit weniger wahrscheinlich. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Annahme beschränkter Rationalität impliziert, dass auch das Management nicht vollständig machtbewusst und machtrational zu handeln in der Lage ist. Ein zweiter wichtiger Funktionsbereich organisationaler Eliten besteht im Management der Ressourcen- bzw. Austauschbeziehungen mit der Umwelt.* 9 Eine offensichtliche Handhabungsmöglichkeit besteht in der Anpassung im Sinne einer Forderungserfüllung: Man entspricht den Forderungen des jeweiligen sozialen Akteurs. Allerdings ist diese Strategie nicht unproblematisch. Man gibt bei Forderungserfüllung nicht nur Handlungsspielraum auf, sondern man erhöht damit auch die Wahrscheinlichkeit vermehrter Forderungen und Beeinflussungsversuche, denn andere Akteure werten (aufgrund ihrer beschränkten
46
s. Bacharach/Lawler, The Perception of Power. Emerson, Power-Dependence Relations; Walton/McKersie, Behavioral Theory of Labor Negotiations; Kirsch, Entscheidungsprozesse, S. 184-239; Salancik/Cooper Brindle, Social Ideologies of Power, S. 116. 47
48 49
Pfeffer/Salancik Pfeffer/Salancik
, Resource Dependence, S. 234. , Resource Dependence, S. 92ff.
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Rationalität) den Erfolg früherer - eigener oder beobachteter - Beeinflussungsversuche als Indikator für künftigen Erfolg. Daher fordern „nachgiebige" Organisationen weitere Dominanzversuche heraus. Eine zweite Handlungsstrategie besteht in einer Vermeidung von Beeinflussungsversuchen bzw. Forderungen aus der Umwelt. Hierzu gehört symbolische Politik, die mehrere Facetten umfasst. Forderungen vermeidet man, indem man die Illusion erzeugt, dass die Forderung bereits erfüllt ist. Zum Beispiel kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Universitäten den Forderungen nach Einführung neuer Bachelor-Studiengänge zum Teil nur symbolisch nachkommen, indem sie die alten Diplomstudiengänge verkürzen, bereits bestehende Kombinationen von Lehrveranstaltungen als Module umtitulieren, sonst aber wenig ändern. Ein weiteres Beispiel: Mitarbeiterbefragungen werden gelegentlich auch und vor allem deshalb eingesetzt, um zu zeigen, dass man die Bedürfhisse und Forderungen der Mitarbeiter ernst nimmt. Zur Vermeidung von Beeinflussungsversuchen gehört auch, dass bestimmte Informationen, die Forderungen bewirken können, kontrolliert oder unterdrückt werden. Man kann auch ansetzen bei der Definition von Kriterien, an denen man festmacht, ob eine Forderung erfüllt wurde oder nicht, man kann Informationen selbst gestalten durch den Einsatz eigener „Experten", man kann Öffentlichkeitsarbeit betreiben usw. So bildet die Kommunikation mit Anspruchsgruppen einen bedeutsamen Aufgabenbereich der Führungskräfte. 50 Ein nicht unwichtiger Teil symbolischer Politik kann unter den Begriff Sündenbockfunktion des Managements gefasst werden. Diese Strategie richtet sich sowohl auf externe als auch interne Akteure. Man suggeriert eine Erfüllung von Forderungen oder ein Bemühen darum dadurch, dass man Mitglieder der organisationalen Elite austauscht und damit einen Politikwechsel markiert, der letztlich aber materiell nicht stattfindet. (Allerdings erhöht sich zumindest im Fall des Austausches mächtiger Einzelpersonen die Wahrscheinlichkeit eines Politikwechsels.) Die psychologische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme lässt sich attributionstheoretisch begründen: Menschen weisen organisationsinternen Prozessen mehr Bedeutung und Individuen mehr Einfluss auf organisational Entscheidungen zu, als diese faktisch haben. Die Ursache solcher Attributionen besteht darin, dass interne Prozesse eher sichtbar sind und Menschen deswegen dazu neigen, das Handeln von Individuen als Grund für organisationale Phänomene anzunehmen, weil so eher das Gefühl der Situationskontrolle aufrecht erhalten werden kann. 51 Manager bzw. Führungskräfte dienen als Symbol, denen man Erfolg oder Misserfolg zuschreiben kann. Diese Personifizierung bewirkt ein Gefühl der Vorhersehbarkeit, Kontrolle und Handlungsorientierung. 52 Die Entlassung eines Managers mag auf der materiellen
50 51 52
Scheuch/Scheuch, Bürokraten in den Chefetagen. Pfeffer/Salancik, Resource Dependence, S. 6-10. Pfeffer/Salancik,
Resource Dependence, S. 16.
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Ebene wenig ändern, dennoch kann auf der - ebenso realen- symbolischen Ebene die Entlassung zu einer Lockerung der Handlungsbeschränkungen führen, wenn man durch diese Aktion glaubhaft machen kann, dass man den Anforderungen wichtiger externer, Ressourcen kontrollierender Akteure nachgekommen ist oder nachkommen wird. Wenn etwa ein Vorstandsmitglied, dem man eine falsche Ausrichtung der Unternehmensstrategie zuweisen kann, entlassen wird, dann signalisiert dies den potenziellen und aktuellen Kapitalgebern, dass das Management handlungsfähig und reformfreudig ist und dass sie eine bessere Verwertung ihres Kapitals erwarten können. Dies kann Kapitalgeber dazu bewegen, der Organisation vermehrt die von ihr benötigten Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Eine dritte Strategie richtet sich auf die Vermeidung von Ressourcenabhängigkeit. Im Wesentlichen ist hiermit die Schaffung alternativer Ressourcenquellen für die Organisation gemeint. Die vierte Strategie richtet sich auf die Dominierung der Kontrolleure: Man kann die Kontrolleure selbst zu dominieren oder deren Dominanz zu reduzieren versuchen. Pfeffer/Salancik interpretieren eine Vielzahl von konkreten organisational Aktionen, bei der die organisationale Elite wichtig ist, vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen: Eine Möglichkeit der Unsicherheitsreduktion und Ressourcenkontrolle sind Unternehmenszusammenschlüsse. Vertikale Integration wird als Ausweitung der eigenen Kontrolle über Ressourcen interpretiert, horizontale Integration als Ausweitung der Dominanz über andere Ressourcenkontrolleure. Eine weitere, empirisch zu beobachtende Strategie besteht in personellen Verflechtungen über Personen in Entscheidungs- und Aufsichtsorganen (board of directors) und in der Kooptation von Mitgliedern einflussreicher Organisationen in diese Organe. Beispielsweise kooptieren Organisationen Vorstände bzw. Aufsichtsräte von Banken, um mit deren Hilfe finanzielle Unsicherheiten besser bewältigen zu können. Daher - so die RDT - reflektiert die Zusammensetzung der Entscheidungs- und Kontrollorgane die Komposition der kritischen Ressourcen, die die Organisation für ihr langfristiges Überleben benötigt. 53 Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich der Einsatz „richtiger" Strategien positiv auf den Organisationserfolg auswirkt. 54
4. Struktur der organisationalen Elite Welche Zusammensetzung der Elite ist funktional? „Erzeugt" die Umwelt eine funktionale Struktur der Eliten; entstehen nicht Machtverkrustungen, und
53 Pfeffer, Corporate Board of Directors und Hospital Board of Directors; Lang/Lockhart, Environmental Uncertainty; Schreyögg/Papenheim-Tockhorn, Personelle Verflechtungen. 54 Pfeffer , Corporate Board of Directors; Boyd, Corporate Linkages; Sheppard, A Resource Dependence Approach.
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kann sich nichtfunktionale Macht überhaupt in dem Wettbewerb ausgesetzten Unternehmen bilden und halten? Mehrere Kräfte bewirken gemeinsam, dass zwar die Zusammensetzung der Eliten ein „gewisses" (theoretisch und empirisch wenig geklärtes) Ausmaß an Funktionalität aufweist, diese Funktionalität aber aus mehreren Gründen nur selten „perfekt" und häufig sogar problematisch ist. Zwar bilden die Umwelt und die Notwendigkeit der Ressourcensicherung eine Art Handlungskorridor für die Besetzung von Elitepositionen. Man sollte deshalb, so die Vermutung auf Grundlage der Resource Dependence-Theorie, ein (schwer bestimmbares) Mindestmaß an Funktionalität der Eliten vorfinden, anderenfalls dürfte die Organisation nicht überlebensfähig sein. Allerdings gibt es hier Gegenkräfte: Nicht immer stehen Kandidaten mit genau denjenigen Qualifikationen zur Verfügung, die man zur Ressourcensicherung benötigt. Darüber hinaus ist aufgrund der beschränkten Rationalität bei Personalentscheidungen keineswegs klar, ob eine bestimmte Person genau über diese Qualifikationen verfügt und ob diese Qualifikationen funktional sind zur Ressourcensicherung. Hinzu kommt, dass mächtige Eliten ihre Macht nicht ohne weiteres abgeben wollen; sie werden sich gegen die Obsoleszenz ihrer Qualifikationen wehren. Nun könnte man argumentieren, dass Organisationen mit weniger funktionalen Eliten im Wettbewerb nicht bestehen können, also der Markt dieses Problem quasi natürlich regelt. Dies ist nicht zu erwarten: Die Handlungsschwäche einer Organisation ist aufgrund der beschränkten Rationalität aller Akteure eben nicht ohne weiteres zu erkennen, sie wird daher möglicherweise weiter mit Ressourcen, z.B. Krediten, versorgt, weil die Anzeichen dafür übersehen werden, dass diese Kredite nicht zurückgezahlt werden können. Beschränkte Rationalität in Verbindung mit Machtstreben und der Verfolgung von Eigeninteressen muss also dazu führen, dass Organisationen nur in Ausnahmefällen genau die Eliten haben, die sie zur Sicherung der Ressourcen benötigen. Außerdem ist eine bestimmte Zusammensetzung von organisationalen Eliten nicht unter allen Bedingungen gleichermaßen funktional oder dysfunktional. Die folgenden Überlegungen zu den Situationen, in denen bestimmte Elitenstrukturen funktional sind, verstehe ich als Hypothesen, die ich theoretisch begründen und mit empirischen Befunden stützen will. 5 5 Die Hypothesen lauten vereinfachend gesagt: In stabilen Umwelten sind homogene Eliten mit langer durchschnittlicher Zugehörigkeitsdauer, d.h. geringer Erneuerungsrate, funktional. In dynamischen Umwelten sind dagegen heterogene Eliten mit kurzer Zugehörigkeitsdauer, d.h. hoher Erneuerungsrate, dem Unternehmenserfolg zuträglicher. Man sollte vermuten, dass diese Umwelt-Eliten-Kombinationen wenigstens geringfügig häufiger vorkommen, als man aufgrund zufälliger Verteilung erwarten darf. Denn wenn kein „Fit" zwischen Umwelt und Elitenstruk-
55 S.a. Gusfield, Problem of Generations; Stinchcombe/McDill/Walker, of Organizations; McNeil/Thompson, Regeneration of Social Organizations.
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tur vorliegt, sollte dies einen negativen Effekt auf die Unternehmensleistung haben. In stabilen Umwelten dürfte sich demnach eine Gruppe mit relativ langer Zugehörigkeitsdauer zur Führungsspitze und vermutlich auch zum Unternehmen herausbilden. Erfahrungen im Unternehmen stellen hier eine wichtige Ressource dar, da es darum geht, das angestammte Geschäft zu intensivieren und zu optimieren. Die innerhalb der dominanten Koalition mächtigen Führungspersonen werden bei Neubesetzungen ihnen ähnliche Führungskräfte bevorzugen; dabei spielen vor allem die Ausbildung und das Alter eine wichtige Rolle. Daraus ergibt sich im Laufe der Zeit eine Homogenisierung der Führungsgruppe - Kanter 56 spricht von homosozialer Reproduktion - mit bestimmten Konsequenzen für Entscheidungsprozesse. Pareto würde das Homogenisierungsphänomen als Degeneration bezeichnet haben: Die Wert-Wissens-Strukturen gleichen sich einander an; die Spannweite der Problemlösungspotenziale nimmt ab, da die Mitglieder der Elite Probleme ähnlich wahrnehmen und interpretieren. In dynamischen Umwelten und bei anderen Strategien zählen Erfahrungen im eigenen Unternehmen dagegen weniger. Es ist häufig neues Wissen notwendig, das über neue Mitglieder von außen hereingebracht werden kann und muss. Man sollte erwarten, dass in solchen Situationen Besetzungen von außen häufiger vorkommen als in stabilen Situationen. Die Palette an Problemlösungspotenzialen ist bei Besetzungen von extern tendenziell breiter, die soziale Homogenität geringer und die Dauer der Zugehörigkeit durchschnittlich kürzer. Für diese Hypothesen lassen sich empirische Bestätigungen finden. Untersuchungen von Miles/Snow 57 deuten darauf hin, dass Unternehmensleitungen in unterschiedlichen Umwelten und bei unterschiedlichen Marktstrategien eine jeweils andere Zusammensetzung der Fähigkeiten und eine unterschiedliche Machtverteilung aufweisen. Unternehmen, die als Verteidiger bezeichnet werden und die eine Strategie der Marktdurchdringung auf relativ stabilen Märkten verfolgen, haben ein Management mit einer eher langen Betriebszugehörigkeitsdauer. Von der Qualifikation her dominieren Manager aus den Bereichen Finanzen und Produktion, dies sind für Unternehmen mit einer Verteidigerstrategie die Ressourcen zur Sicherung kritischer Ressourcen. Unternehmen, die Miles/Snow Prospektoren nennen und die neue Produkte auf den Markt bringen oder neue Märkte erschließen, die also eher flexibel sein müssen, haben öfter eine Führungselite, die heterogener ist und eine kürzere Zugehörigkeitsdauer aufweist. Von der Qualifikation dominieren Personen, die aus den Bereichen Forschung und Entwicklung oder Marketing kommen. Die Untersuchungen von
56 57
Kanter, Men and Women of the Corporation. Miles/Snow, Unternehmensstrategien.
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Hambrick 58 und Chaganti/Sambharya 59 konnten diese Hypothesen im Wesentlichen bestätigen. Sehr interessant ist die Arbeit des Soziologen Fligstein: Auch er konnte eine Funktionalität von Elitestrukturen und eine Art „losen Fit" mit den Anforderungen der Unternehmensstrategie und der Umwelt beobachten. Fligstein 60 hat für den Zeitraum von 1919 bis 1979 bei den 100 größten USUnternehmen untersucht, warum u.a. der Anteil der Präsidenten gestiegen ist, die aus dem Finanzbereich kommen und aus diesem Bereich Erfahrungen mitbringen. Generell, so Fligstein unter Rückgriff auf die Resource DependenceTheorie, werden solche Personen Präsidenten, die kritische Ressourcen kontrollieren. 61 Welche Ressourcen aber kritisch sind, verändert sich im Laufe der Zeit. Auf der Ebene des Unternehmens sind es die Strategien und Strukturen des Unternehmens, die bestimmtes Wissen erfordern. Personen, die über dieses Wissen verfügen, steigen entsprechend im Unternehmen auf. Allerdings sind es auch die institutionalisierten Vorstellungen, die unabhängig von den „wissensfordernden" Strategien und Strukturen einen Einfluss haben: Je mehr Unternehmen meinen, man „müsse" einen Präsidenten haben, dessen beruflicher Hintergrund der Finanzbereich ist, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit für die Besetzung der Präsidentenposition mit einer solchen Person. Hier zeigt sich erneut, dass kognitive Konstruktionen neben und im Verbund mit objektiven Ressourcenlagen einen Effekt auf das Organisationsverhalten haben. Wie sind solche Funktionalitäten aber mit dem in Bezug auf die Organisationsziele häufig dysfunktionalen Machtbestrebungen und der Neigung, bei Personalentscheidungen ähnliche und nicht immer geeignete Bewerber zu bevorzugen, zu vereinbaren? Solche egoistischen Verhaltensweisen werden nicht einfach durch die Umwelt außer Kraft gesetzt. Nur weil eine dynamische Umwelt oder eine Unternehmensstrategie eine bestimmte Sozialstruktur der Führungsgruppe erfordern, ergibt sich diese nicht automatisch. Gerade in dynamischen Umwelten können aus einer zu geringen Erneuerung der Elite problematische Folgen für die Fähigkeit zur Sicherung kritischer Ressourcen für die Organisation entstehen.62 In einer Untersuchung über 65 US-Unternehmen 63 zeigte sich folgender Befund: Je länger die durchschnittliche Zugehörigkeitsdauer und je größer die soziale Homogenität der Führungsgruppe, desto stärker kommt es zu Abweichungen zwischen der objektiven Umweltsituation und der Wahrnehmung der Umwelt durch das Management. Solche elitestrukturell bedingten
58
Hambrick, Environment, Strategy and Power. Chaganti/Sambharya, Strategie Orientation. 60 Fligstein, The Intraorganizational Power Struggle; zu ähnlichen Ergebnissen auch Ocasio/Kim, Circulation of Corporate Control. 61 Ebenso Hambrick, Environment, Strategy and Power. 62 Für Gesellschaften Nagle, Soviet Elite. 63 Sutcliffe, What Executives Notice. 59
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Wahrnehmungsverzerrungen können den Organisationserfolg gefährden. In einer anderen empirischen Studie auf der Basis von 95 zufällig ausgewählten kleineren und mittleren Unternehmen in Kanada kam Miller 6 4 zu dem Ergebnis, dass Manager mit langer Betriebszugehörigkeitsdauer eher als solche mit kürzerer Zugehörigkeitsdauer dazu neigen, Umweltveränderungen zu ignorieren. Als Begründung wird angeführt, dass sie mit zunehmender Dauer verstärkt ihresgleichen befördern, ihre eigene Macht ausbauen und meinen, dem Druck von außen durch andere Personen nicht nachgeben zu müssen. Betriebszugehörigkeitsdauer ist hier also ein Indikator für das Ausmaß an akkumulierter Macht. Der Autor der Arbeit weist darüber hinaus auf eine interessante Paradoxie hin: Gerade bei erfolgreichen Unternehmen haben die Manager eine längere Unternehmenszugehörigkeitsdauer - genau diese Wirkung des Erfolges stellt dann eine immanente Gefahr dar. 65 Empirische Befunde zum Strategiewechsel von Unternehmen besagen ganz ähnlich: Wer an der Macht ist, neigt dazu, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, der Homogenisierungsprozess über die Rekrutierung Ähnlicher verstärkt die Orientierung an der gewählten Strategie. 66 Damit stellt sich eine weitere Frage: Weist ein Unternehmen eine schlechtere Unternehmensleistung auf, weil es eine bestimmte Elitestruktur hat; oder wird die Elitestruktur nicht auch durch die Unternehmensleistung beeinflusst? Nach den hier zugrunde liegenden theoretischen Überlegungen müssten im Zeitverlauf beide Prozesse zu beobachten sein. Dies lässt sich empirisch bestätigen: Hambrick/D'Aveni 67 haben 57 in Konkurs gegangene und 57 „überlebende" Unternehmen untersucht und die Zusammenhänge zwischen Unternehmensleistung, Managementstruktur und Rückwirkungen über einen Zeitraum von fünf Jahren vor dem Konkurs analysiert. Es zeigte sich, dass bei den in Konkurs gegangenen Unternehmen eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale zu beobachten war. Bei zurückgehender Unternehmensleistung waren bei den in Konkurs gegangenen Unternehmen häufiger autokratische, mächtige Führungspersönlichkeiten festzustellen, die stark an ihren Entscheidungen festhielten. Damit einher ging eine hohe Fluktuation bei den anderen Mitgliedern, was zu einer Reduzierung der Elitenzugehörigkeitsdauer und einer extrem hohen oder extrem geringen sozialen Heterogenität führte. Man kann dies so interpretieren, dass Qualifikationen „abfließen" und die notwendige Qualifikationsbreite nicht mehr vorhanden ist. Dies, so sagen die Verfasser der Studie weiter, beschleunigt die Abwärtsbewegungen. Die Unternehmensleistung sinkt weiter, mit weiteren
64
Miller, Stale in the Saddle. Miller, Stale in the Saddle, S. 35 66 Finkelstein/Hambrick , Top-Management-Team Tenure; Wiersema/Bantel , Top Managment Team Demography; anders O'Reilly/Snyder/Boothe , Executive Team Demography. 67 Hambrick/D'Aveni, Top Management Team Deterioration. 65
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Folgen für die Führungsstruktur: Die Anzahl der Führungskräfte geht zurück, und das Gehalt der Manager nimmt ab. Die Steuerleute verlassen das sinkende Schiff, es kommt zu Kündigungen und Entlassungen. Wissenspotenzial fließt weiter ab. Dieser Prozess endet schließlich im Konkurs. Man wird wohl nicht sagen können, dass die Struktur der Elite der Hauptgrund der Konkurse war, schließlich ging die Leistung ja schon vorher zurück, aber sie trägt doch dazu bei.
5. Funktionalität
und/oder Beharrung durch Macht?
Nun stellt sich folgende Frage: Warum, also unter welchen Bedingungen, gelingt es den mächtigen Führungspersonen, sich -möglicherweise über ihre Fähigkeiten zur Ressourcensicherung hinaus - in ihren Positionen zu halten? Nach der Ressourcenabhängigkeitstheorie müssten mächtige Akteure ihre Macht zu ihrem Vorteil nutzen und über die Ressourcenkontrolle hinaus ausdehnen. Macht verfestigt sich möglicherweise und sie wird vielleicht nicht ohne weiteres durch Ressourcenveränderungen wieder abgebaut. Für diese Verfestigungsthese finden sich in etlichen Untersuchungen Bestätigungen. Befunde, dass mächtige betriebliche Akteure eine längere Betriebszugehörigkeitsdauer aufweisen als weniger mächtige,68 sind natürlich kein Beleg für diese These. Denn man kann zu Recht einwenden, dass sie wegen der Funktionalität der von ihnen kontrollierten Ressourcen benötigt werden und deswegen und nicht wegen ihrer über die Funktionalität hinausreichendenden Macht länger in der Organisation bleiben. Allerdings ist es nicht nur nach der Ressourcenabhängigkeitstheorie wahrscheinlich, dass Mächtige sich besser gegen Veränderungen wehren und sich - ü b e r ihre Fähigkeiten zur Ressourcensicherung hinauslänger in ihren Positionen halten können. Eine Untersuchung von Boeker 69 deutet darauf hin, dass es sowohl einen ressourcenbedingten als auch einen darüber hinaus gehenden Machtstabilisierungseffekt gibt, der zu einer überdurchschnittlich langen Betriebszugehörigkeitsdauer führt. Boeker analysierte den Zusammenhang zwischen schlechter Leistung und der Ablösung der obersten Führungskräfte in insgesamt 67 Unternehmen über einen Zeitraum von 22 Jahren. Zwar konnte er feststellen, dass schlechte Leistung die Wahrscheinlichkeit eines Führungswechsels erhöhte, dass es aber mächtigen Führungspersonen eher gelang, ihre Position dennoch zu halten. Es werden bei Boeker auch die Bedingungen benannt, unter denen dies der Fall ist: Führungskräfte bleiben um so wahrscheinlicher im Amt, je mehr Kapitalanteile sie am Unternehmen besitzen, je mehr die sonstigen Eigentumsanteile streuen, je geringer der Anteil der 68
Salancik/Pfeffer , Effects of Ownership and Performance; Allen/Panian , Power, Performance and Succession. 69 Boeker , Power and Managerial Dismissal.
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unternehmensexternen Mitglieder des board of directors und je größer der Anteil der Mitglieder der Geschäftsleitung ist, die der Geschäftsführer selbst eingestellt hat. Allgemeiner gesagt: Eine Management-Elite, der es gelingt, über ihre Managementfähigkeiten hinaus auch andere Ressourcen zu requirieren (z.B. Finanzkapital), die Sozialkapital aufbauen können (z.B. Vertraute als Mitarbeiter einstellen) und die geringer Gegenmacht und Kontrolle unterliegen, werden sich auch dann noch „im Amt" halten können, wenn ihre eigentlichen Ressourcen (Managementfähigkeiten) obsolet geworden sind.
V. Schlussfolgerungen für die Erklärung des Wandels von Organisationen - Konfigurationshypothesen Ich will zum Schluss knapp die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen und ihre Implikationen für eine politische, auf Macht und Ressourcenkontrolle basierende Theorie organisationalen Wandels verdeutlichen. Zu diesem Zweck formuliere ich einige Konfigurationshypothesen. Was sind wesentliche Bedingungen, die organisationalen Wandel auslösen? Zum einen sind dies Umweltveränderungen, zum anderen Machtkämpfe zwischen der herrschenden Elite und der auf Zugang zu Elitenpositionen drängenden nichtherrschenden Elite. Allerdings interagieren diese beiden Bedingungsfaktoren miteinander. 1. Umweltveränderungen. Eine erste, aber weder notwendige noch hinreichende Bedingung für organisationalen Wandel sind Umweltveränderungen. Nach der traditionellen Sicht der Betriebswirtschaftslehre führen Umweltveränderungen nur dann zum Wandel der Organisation, wenn die Führungselite Ressourcenveränderungen wahrnimmt und entsprechende Aktionen einleitet. Diese traditionelle, objektivistisch-funktional istische Sicht ist nicht völlig falsch. Allerdings sind Umweltveränderungen - entgegen dieser Sichtweise - weder hinreichend noch notwendig, damit ein organisationaler Wandel zustande kommt. Umweltveränderungen können auch dann wahrgenommen oder behauptet werden, wenn keine vorhanden sind und so Handlungen motivieren, die zum Organisationswandel führen. Zudem kann eine Veränderung der Umwelt bewusst oder unbewusst ignoriert werden, so dass trotz des Wandels der Umwelt kein organisationaler Wandel ausgelöst wird. Dabei ist zu beachten, dass die objektive Ressourcensituation beschränkend, allerdings nicht determinierend wirkt. 2. Machtwechsel Eine zweite, mit der ersten eng zusammenhängende Bedingung besteht in einem Machtwechsel in der organisationalen Elite. Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden.
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(2a) Machtwechsel ohne Konkurrenz- und Konfliktsituation. Machtwechsel kann durchaus das Resultat eines relativ konfliktlosen Austausches von Mitgliedern der Elite sein: Jemand scheidet aus seinem Amt aus, und man rekrutiert eine andere Person, von der man annimmt, dass ihre Fähigkeiten bzw. Ressourcen besser geeignet sind, die veränderte Umweltsituation zu bewältigen. Nehmen wir ein Beispiel: Die Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 und des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 führte dazu, dass im Personalmanagement von Unternehmen die Ressource „Juristische Kenntnisse" relativ wichtiger wurde. Dies bewirkte, dass die Nachfrage nach Juristen auch in den Personalabteilungen und im Management insgesamt Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre zunahm. Man ersetzte freiwerdende Positionen mit Juristen statt wie bisher mit Personen mit stärker technischem oder kaufmännischem Bildungshintergrund. Ein solcher Machtwechsel kann prinzipiell frei sein von Interessengegensätzen. Dies ist aus Sicht der traditionellen Betriebswirtschaftslehre der Normalfall. Dass Machtwechsel jedoch häufig durch massive Interessengegensätze ausgelöst werden, ignoriert sie dagegen weitgehend und beschneidet sich damit in ihrer Realitätsnähe. (2b) Machtwechsel als Machtkampf in einer Konkurrenz- und Konfliktsituation. Machwechsel kann anders als im vorherigen Fall wesentlich stärker von Interessengegensätzen und Konflikten geprägt sein. So gibt es nicht selten Bestrebungen, bisherige Stelleninhaber aus ihrem Amt zu verdrängen oder konkurrierende Mitbewerber abzuschrecken. Ein Machtwechsel gegen die Interessen der herrschenden Elite ist voraussetzungsvoll: Möglich ist er vor allem dann, wenn die Mitglieder dieser Elitegruppe ihre Macht verlieren, weil ihre Fähigkeiten, ihre Ressourcen umweltbedingt obsolet werden oder degenerieren. Obsoleszenz bietet politische Gelegenheiten. Um beim letzten Beispiel zu bleiben: Die Bedeutung der Mitbestimmungsgesetze für die personalwirtschaftliche Praxis bot Juristen damit häufiger Gelegenheiten, die bisherigen, ihre Positionen nicht immer kampflos aufgebenden Inhaber zu verdrängen. Degeneration - eine Reduktion in der Menge und Qualität der vorhandenen Fähigkeiten bezieht sich weniger auf die Individualebene, sondern mehr auf die Kollektivebene. Vor allem bei Führungsgruppen, deren Mitglieder zu einem Zeitpunkt gemeinsam in die organisationale Elite eingetreten sind und sie geprägt haben, die ähnliche Bildungshintergründe haben, eine lange, gemeinsame Amtsdauer aufweisen, entsteht Degeneration, es tritt eine Art Politbüro-Effekt auf: Die soziale Struktur, gepaart mit Macht, führt dazu, dass man sich gegenseitig in seinen Auffassungen bestätigt, dass Kritiker ignoriert werden und notwendiges Lernen und Verlernen unterbleibt, dass Umweltveränderungen übersehen und im Lichte der schon lange nicht mehr überprüften Wert-Wissens-Strukturen fehlinterpretiert werden. Eine solche Degeneration ist umso problematischer für die Adaption an Umweltveränderungen, je größer die Machtdistanz zwischen der herrschenden Elite und den in diese Elite drängenden Personen bzw.
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Gruppen sind. Dann vollzieht sich der Wandel „revolutionär" durch komplette Ablösung der im Amt befindlichen Elitenmitglieder. Ist die Machtdistanz geringer, wird es der nachdrängenden Gruppe sukzessive gelingen, die eine oder andere Position zu besetzen und den Wandel der Elite und die Anpassung an die Umwelt damit schrittweise und eher kontinuierlich, ohne vollständigen Personenwechsel zu vollziehen. Wenn wir diese Überlegungen weiterführen, können wir Konfigurationen des Wandels von Organisationen unterscheiden. Die Dimensionen dieser Konfigurationen sind: Tatsächliche oder behauptete Umweltveränderungen, wahrgenommene versus nicht wahrgenommene Umweltveränderungen, die Struktur von herrschender und nichtherrschender Elite, vor allem die Interessengegensätze und Machtverhältnisse zwischen diesen beiden Gruppen, sowie schließlich die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Veränderung in Bezug auf die Anpassung der Organisation an die Umwelt. Konfiguration 1: Nicht-Wandel. Die Bedingungskonstellation für NichtWandel kann darin bestehen, dass erstens entweder keine Umweltveränderung gegeben ist und auch nicht behauptet wird, oder dass zweitens eine solche existiert, Elite und Nicht-Elite diese jedoch ignorieren. Der letzte Fall führt in etlichen Fällen langfristig zu einem „Untergang" der Organisation. Konfiguration 2: Nichtumkämpfter Wandel. Umweltveränderungen sind vorhanden und werden zutreffend wahrgenommen. Die Adaption der Organisation liegt im Interesse der herrschenden und der nichtherrschenden Elite bzw. die nichtherrschende Elite verfügt deswegen über relativ wenig Macht, weil sie keine Ressourcen kontrolliert, die zu der Adaption besser beitragen als die Ressourcen der Elite. Dieser Fall führt tendenziell zu einem erfolgreichen Wandel der Organisation und fordert das langfristige Überleben. Konfiguration 3: Umkämpfter Wandel. Umweltveränderungen sind vorhanden, Adaptionen widersprechen aber den Interessen der herrschenden Elite, weil diese befürchtet, dass sie aufgrund ihrer obsoleten Ressourcen ihre Positionen verliert. Wandel wird wahrscheinlich, wenn die Adaption der Organisation im Interesse der nichtherrschenden Elite liegt und diese über relativ viel Macht verfügt, indem sie Ressourcen kontrolliert, die zur Adaption besser beitragen als die Ressourcen der „alten" Elite. Dieser Fall führt dann zu einem erfolgreichen Wandel der Organisation, wenn die Ablösung nicht (relativ zu den Umweltveränderungen) zu langsam verläuft und die Machtkämpfe nicht zuviel Ressourcen (Zeit, Kraft) verbrauchen. Konfiguration 4: Wandel der Organisation ohne Umweltveränderung Wandel als machtpolitisches Instrument. Es ist zumindest analytisch denkbar und - wie ich meine - auch empirisch auffindbar, dass Umweltveränderungen nicht vorhanden sind, jedoch von der Elite behauptet oder aber im Ausmaß übertrieben dargestellt und als Grund für Anpassungen der Organisation heran-
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gezogen werden. Wenn es gelingt, die nichtherrschenden Eliten und andere relevante Gruppen davon zu überzeugen, dass gerade die im Amt befindliche Elite über diejenigen Fähigkeiten verfugt, die Organisation durch das gefährliche Fahrwasser der Umweltveränderungen (hier kann z.B. eingesetzt werden: der zunehmende Wettbewerb, die Globalisierung usw.) steuern zu können und dass die Entscheidungen der Elite genau die von ihr selbst kognitiv konstruierten Gefahren abwenden können, dann stärkt dies die Stellung der im Amt befindlichen Elite und schwächt die in die Positionen drängenden nicht herrschenden Eliten. Die Adaptionen werden dann bestimmt von den vorhandenen Ressourcen der Elite und dienen gleichzeitig der Akkumulation von Macht und Einkommen. Zum Beispiel institutionalisiert man Anreizsysteme, die genau im Einkommensinteresse derer sind, die sie etablieren, man strukturiert die Organisation so, dass Aufstieg gerade für die Mitglieder der herrschenden Elite und ihnen ähnlicher Bewerber möglich ist usw. Begründet werden die Reformen dann jeweils mit „Umweltveränderungen". Entsprechende Adaptionen widersprechen den Interessen der nichtherrschenden Elite, sofern und weil sie ihre Ressourcen nicht zur Geltung bringen kann. Solche Sozialkonstruktionen gelingen der herrschenden Elite um so leichter und sie sind wahrscheinlicher, wenn die Umwelt schwer interpretierbar ist und die Elite über eine Art Interpretationsmonopol verfügt, das sie durch Expertenmeinungen (Sachverständigenräte etc.) absichern kann. Eine derart machtmotivierte Adaption dürfte sich langfristig allerdings als Problem für das Überleben der Organisation herausstellen, da sie Organisation und Umwelt zu stark entkoppelt. Diese Konfigurationshypothesen könnten und sollten in empirischen Fallstudien überprüft werden.
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Modernisierung durch oder gegen die organisierten Interessen? Zur Reformfahigkeit des korporatistischen deutschen Sozialmodells Rolf G. Heinze I. Einführung Schaut man sich die Debatten der letzten Jahre um die Reformfähigkeit westlicher Wohlfahrtsstaaten an, dann gibt es einen Konsens in der Frage, dass nach leistungsfähigeren Ergänzungen und Alternativen zu den überbelasteten obrigkeitsstaatlichen Formen zu suchen ist. Der Staat ist in dieser Perspektive auf die Kooperation und Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure angewiesen, um seinen Steuerungs- und Ordnungsleistungen effizient nachzukommen. Eckart Pankoke hat es treffend kurz und prägnant so formuliert: „Netzwerkstrategien sind auch gefragt im Bereich politischer Steuerung". 1 Gesellschaftliche Organisationen (von klassischen Verbänden und Gewerkschaften bis hin zu den Organisationen des „dritten Sektors") werden gerade in den neueren theoretischen Debatten als Ressourcen einer aktiven Zivilgesellschaft verstanden. Während in anderen westeuropäischen Ländern diese Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung schon länger zum Alltag gehörten, war die Regierungspolitik in der Bundesrepublik in dieser Frage lange blockiert. Organisationsnetzwerke mit starker verbandlicher Prägung fristeten offiziell eine „konstitutionelle Nichtexistenz",2 obgleich deren Ordnungsleistungen im Rahmen gesellschaftlicher Selbstregelungen empirisch unbestritten sind und gerade im Feld der Sozialund Wohlfahrtspolitik ohnehin schon seit Jahrzehnten zum bewährten Alltag gehören. Ein Funktionswandel vom hierarchischen zum moderierenden Staat ist einerseits schon länger zu beobachten und andererseits werden durch die Einbeziehung gesellschaftlicher Institutionen auch neue Ressourcen, Informationen und damit Handlungsoptionen erschlossen. Die „Räterepublik" 3 zeigt sich zudem nicht nur auf Bundesebene, auch in den Bundesländern haben sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Bündnis- und Konsensrunden, Regierungskommissionen, Expertenräten, Zukunftsinitiativen, Offensiven und runden Tischen 1 2 3
Pankoke, Netzwerke und Lernprozesse, S. 135f. Schneider, Organisationsstaat, S. 252. Heinze , Die Berliner Räterepublik.
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gebildet, die neben dem Parlament angesiedelt sind und die klassischen Willensbildungsorgane temporär und themenspezifisch ergänzen sollen. Generell hat die Einbeziehung gesellschaftlicher Organisationen und Expertengremien zum Ziel, die große und wachsende Zahl von Problemen (sei es auf dem Arbeitsmarkt, bei der Zuwanderung, der Nutzung der Gentechnologie oder energiepolitischer Risiken und Konflikte), welche über die traditionelle Form der Konsensbildung (durch Parteien und Parlamente) kaum noch zu lösen sind, in den Griff zu bekommen. Erkennbar ist ein grundlegendes Dilemma der politischen Steuerung durch Parteien und Parlamente, die den Steuerungs- und Integrationsbedarf funktional differenzierter Gesellschaften allein nicht mehr bewältigen können und deshalb Zusatzeinrichtungen für die Konsensbildung und Systemintegration benötigen.4 In der Debatte um den Staat wird folgerichtig die Bedeutung zentraler, hierarchischer Institutionen relativiert; Akteure und Verhandlungssysteme unterhalb oder neben der „offiziellen" Staatsebene geraten nun ins Blickfeld. Ein Weg aus diesen verkrusteten Strukturen sollten nach Willen der rot-grünen Bundesregierung die inszenierten Konsensrunden (beispielhaft das „Bündnis für Arbeit") sein, die die politische Willensbildung beschleunigen und - vom Anspruch her - besser in der Gesellschaft verankert sein sollten als die traditionellen politischen Entscheidungsstrukturen. Im Folgenden möchte ich zunächst einmal exemplarisch das Bündnis für Arbeit als ursprünglich angedachten „Reformmotor" thematisieren, um daran anschließend ein anderes zentrales Feld sozialpolitischer Regulierungen hinsichtlich der Stärken und Schwächen einer kooperativ angelegten Politik zu diskutieren: die korporatistisch organisierte Wohlfahrtspflege.
II. Vom „Bündnis für Arbeit" zum „Kartell ohne Arbeit"? In dem 1998 initiierten „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" (wie es offiziell heißt) sind neben der Bundesregierung nur die Repräsentanten der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften vertreten. Die formelle Federführung hat das Bundeskanzleramt, die Vorbereitung und Koordination läuft über eine Steuerungsgruppe, an der die jeweils ministeriell tangierten Regierungsinstitutionen sowie die Geschäftsführer/Generalsekretäre der beteiligen Spitzenverbände teilnehmen. In dieser Steuerungsgruppe fallen die zentralen Entscheidungen darüber, welches Thema wann in welcher Form behandelt wird. Im Unterschied zur „alten" Konzertierten Aktion zeigt sich an dem Vorhandensein einer Benchmarking-Gruppe, dass es nicht mehr das allseits akzeptierte und handlungsleitende „Modell Deutschland" gibt, das zudem als 4 Vgl. die Beiträge in Mayntz/Scharpf, Gesellschaftliche Selbstregelung und Werle/Schimank (Hrsg.), Gesellschaftliche Komplexität.
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Vorbild für andere Länder gilt. Vielmehr soll auch im „Bündnis für Arbeit" ein systematischer Vergleich mit anderen vergleichbaren Ländern durchgeführt werden, um daraus Anregungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu gewinnen. Von der Gruppe ist auch ein umfassender Bericht zum Wirtschafts- und Sozialstandort Deutschland erarbeitet worden, 5 der im Herbst 2001 publiziert wurde. Um den Reformstau in der Bundesrepublik durch eine „neue" Dialogkultur aufzulösen, bemühte die Regierung Schröder von Anfang an explizit das Politikziel „Gemeinwohl", um jenseits der klassischen Konfliktlinien einen „innovativen Konsens" (beispielsweise in einem „Bündnis für Arbeit") zu begründen. Die Regierung machte es sich zur Aufgabe, nicht nur die einzelnen Forderungen der Interessenverbände zu addieren, sondern zielte auf die Organisierung des Gemeinwohls in Deutschland. Betrachtet man die ursprüngliche Zielsetzung des „Bündnis für Arbeit" aus dem Herbst 1998, dann sollte in diesem Sozialpakt ein breites Spektrum von Themen behandelt werden (von Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik bis hin zu Arbeitszeitpolitik, Ausbildungsfragen, Rentenpolitik und Betriebsverfassungsfragen). Dieses inhaltliche Spektrum orientierte sich konzeptionell an den Beispielen gelungener Bündnisse für Arbeit in anderen westlichen Ländern. 6 Konzeptionell war im Bundeskanzleramt im Herbst 1998 ein Tausch zwischen den verschiedenen Elementen einer Beschäftigungspolitik (etwa steuerpolitische Maßnahmen zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mit Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung etc.) angedacht worden. Durch eine solche politische Tauschlogik sollten integrierte Lösungen entwickelt werden, die insgesamt die Steuerungs- und Handlungsfähigkeit von Regierungen dadurch erhöhen könnten, dass Prozesse der Konsensbildung durch Interessenausgleich an zentraler Stelle der Regierungspolitik institutionalisiert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die analytische Unterscheidung zwischen Kooperation und politischen Tauschgeschäften, die oft übersehen wird. „Von Kooperation wäre dann zu sprechen, wenn Akteure zusammenwirken, um gemeinsame Ziele arbeitsteilig zu realisieren. Tausch bezeichnet demgegenüber eine Transaktion, bei der unterschiedliche Ziele und Präferenzen wechselseitig befriedigt werden. Verhandlungsdemokratische Arrangements enthalten beide Varianten des politischen Zusammenwirkens ... Verhandlungen führen aber nicht notwendigerweise auch zur Kooperation. Ob und in welcher Weise sie zustande kommt, hängt unter anderem von der formalen Veto-Struktur und den
5 6
Eichhorst et al., Benchmarking Deutsch. Vgl. die Beiträge in Arlt/Nehls (Hrsg.), Bündnis für Arbeit.
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sozialen Bindekräften beziehungsweise Exit-Optionen in einem Verhandlungssystem ab". 7 Das „Bündnis für Arbeit" tritt gegenüber den anderen Beiräten und Expertenkommissionen durch seinen nicht-temporären Charakter deutlich hervor und sollte in der ursprünglichen Zielsetzung explizit einen neuen Aufbruch aus den in den 90er Jahren oft diskutierten Blockaden in Deutschland repräsentieren. Mit diesem Instrument der Zusammenarbeit sollte nach dem Willen der Bundesregierung ein „innovativer Konsens" erzielt werden. „Anders als andere Konsensgremien ist es zeitlich nicht befristet. Das hat einen einfachen Grund: Solange es nicht gelungen ist, den Durchbruch im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit zu erzielen, solange das Bündnis der Vertrauensbildung dient und zu konkreten Ergebnissen führt, wäre es politisch nicht verantwortbar, die gemeinsamen Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften einzustellen".8 In der ersten Phase, die vom Herbst 1998 bis zum Sommer 1999 angesetzt werden kann, gab es zunächst eine Phase des institutionellen Aufbaus der komplexen Strukturen des „Bündnis für Arbeit". Dadurch dass verschiedene Politikfelder und Akteurskonstellationen angesprochen wurden, zog sich diese Formierungsphase etwas länger als geplant hin. Da es zudem kein isoliertes „Bündnis für Arbeit" auf Bundesebene geben sollte, sondern vielmehr auch die bereits entstandenen Bündnisse auf regionaler und auf Bundesländerebene miteinbezogen werden sollten, ergab sich auch noch die Notwendigkeit, die föderalistischen Strukturen der Bundesrepublik mit dem Bündnisgedanken und dessen Umsetzung zu verbinden. Im nachhinein ist es sicherlich gelungen, alle wesentlichen Akteure sowohl im politisch-administrativen System als auch im Verbandssystem am „Bündnis für Arbeit" zu beteiligen. Betrachtet man allerdings eine zentrale Voraussetzung aller erfolgreichen sozialen Pakte in vergleichbaren Ländern, nämlich eine gemeinsame Problemwahrnehmung, dann fallen gerade hinsichtlich der Situationseinschätzung bei den zentralen Tarifverbänden erhebliche Unterschiede auf. „Voraussetzung konsensueller Problemlösungen sind jedoch nicht nur gemeinsame Wertüberzeugungen, sondern auch gemeinsame Problembestimmungen und Situationseinschätzungen".9 Schon in der Frühphase des deutschen „Bündnis für Arbeit" gab es allerdings deutlich unterschiedliche Wahrnehmungen über die Situation des „Standort Deutschland". Diese für konsensorientierte Abstimmungsprozesse nicht gerade förderliche Diagnose sollte durch die Erstellung der Benchmarking-Studie zum Wirtschafts- und Sozialstandort Deutschland, an der auch Wissenschaftler aus den Spitzenverbänden mitwirken, verändert werden, um über gemeinsame Deutungsprozesse auch die Problemlösungsressourcen zu erhöhen. Die wissen7 8 9
Czada, Konkordanz , S. 40. Steinmeier, Konsens und Führung, S. 266. Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, S. 194.
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schaftlich fundierten Einschätzungen, die nicht nur in der Studie dokumentiert sind, sondern auch in anderen Thesenpapieren und längeren Abhandlungen der Benchmarking-Gruppe präsentiert wurden, haben trotz intensiver Diskussionen und auch Teilannäherungen in der Analyse eine gemeinsame Situationseinschätzung des Wirtschafts- und Sozialstandortes Deutschland nicht erbracht. Konflikte in der Standorteinschätzung traten aber weniger in der analytischen Diskussion, sondern in dem Moment auf, wenn die Gewerkschaften und die Spitzenverbände der Wirtschaft die „Arena" betraten und dann die wissenschaftlich abgesicherten Ergebnisse in ihre Organisationsstrategien und -taktiken einbauen wollten. Gerade weil manche der Situationseinschätzungen nicht in das klassische Argumentationsreservoir oder lieb gewordene „Schablonen" passte, was wiederum durchaus nicht im Widerspruch zu den Zielen der Bundesregierung und speziell des Bundeskanzleramtes steht, sperrte man sich in vielen Einzelfragen beziehungsweise forderte „Gegengutachten", alternative Formulierungen etc. ein. So wurde der Deutungsprozess auf jeden Fall „künstlich" verlängert und hat teilweise die bestehenden „Gräben" nur oberflächlich verdeckt. Nach wie vor kann - im Gegensatz zu Ländern wie den Niederlanden oder den skandinavischen Staaten - nicht von einer gemeinsamen Argumentationslinie bei den Spitzenverbänden der Wirtschaft und den Gewerkschaften gesprochen werden; dominant sind eher auch im eigenen „Lager" deutliche Unterschiede. Nicht Homogenität prägt etwa die Gewerkschaftsbewegung, sondern gerade in Einzelfragen heterogene Situationsdeutungen und Handlungsstrategien, wobei starke Einzelgewerkschaften wie die IG Metall auch im Bündnis umfassende Entscheidungskompetenzen beanspruchten. Die These, derzufolge die Spitzenverbände auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zwar Koordinationsfunktionen wahrnehmen, aber kaum reale Entscheidungskompetenzen haben, bestätigt sich auch in den Bündnisberatungen. Zudem müssen die jeweiligen nationalspezifischen Funktionalitätsbedingungen beschäftigungspolitischer Konsensrunden mit beachtet werden. Für das „Bündnis für Arbeit" heißt dies konkret: „In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine gesetzlich verankerten Möglichkeiten, aus dem Regierungssystem direkt in die verbandlich selbstregulierten Arbeitsbeziehungen zu intervenieren. Damit kann die Dysfunktionalität der Arbeitsbeziehungen, die durch die machtpolitische Pattsituation zwischen den Tarifparteien bei konfliktorischem Politikstil bedingt ist und eine Ursache der arbeitsmarktpolitischen Wandlungsunfähigkeit darstellt, nicht durch Staatseingriffe behoben werden. Aufgrund der streng zu wahrenden Tarifautonomie darf und kann auch im Rahmen übergangsweiser Konzertierung - wie im ,Bündnis für Arbeit' - zumindest nicht der Eindruck entstehen, die Rolle des Staates ginge über die des Moderators oder allenfalls Katalysators hinaus". 1 0
10 Zaiser, Arbeitsmarktpolitische Wandlungsfähigkeit, S. 34; vgl. grundlegend zu dieser Debatte die Beiträge in Streeck (Hrsg.), Staat und Verbände.
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Die Formierungsphase des Bündnisses wurde zudem im Herbst/Winter 1998/1999 noch durch die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der großen Regierungspartei negativ beeinflusst, die in einem zentralen Punkt (nämlich der Frage der Haushaltskonsolidierung und mittelfristigen Finanzpolitik) nicht an einem Strang zog, sondern sowohl in der Problemwahrnehmung als auch in den Politikempfehlungen durchaus unterschiedliche Wege anvisierte. Vergleichbare Bündnisse (etwa in den Niederlanden) demonstrieren aber nachhaltig, dass eine strikte Haushaltsdisziplin zu den zentralen Voraussetzungen eines erfolgreichen Sozialpakts gehört. Eine Wende zeigte sich hier erst mit der Installierung eines neuen Finanzministers. Im Sommer 1999 spitzten sich auch die Auseinandersetzungen in der Steuerungsgruppe des „Bündnis für Arbeit" zu; hier prallten unterschiedliche Problemdeutungen aufeinander, die sich letztlich an den klassischen Leitbildern der Spitzenorganisationen manifestierten, und auch hinsichtlich der zu behandelnden Themen bestand Uneinigkeit. Durch die Neubesetzung des Koordinators im Bundeskanzleramt wurde für das „Bündnis für Arbeit" eine neue Phase eingeleitet, die sich dadurch auszeichnet, dass die institutionellen Strukturen stärker beachtet und konsolidiert wurden. Gleichzeitig betrieb das Kanzleramt eine diskrete Vermittlungs- und Abstimmungspolitik. Diese Vermittlungsprozesse führten dann auch zu ersten Ergebnissen (etwa hinsichtlich der Möglichkeiten zur Verbesserung der Beschäftigungschancen gering qualifizierter Arbeitnehmer). Dieses durchaus strittige Thema wurde im Sommer 1999 „abgearbeitet" in der Form, dass es zwar nicht zu einem grundlegenden Wandel der Beschäftigungspolitik in diesem Feld gekommen ist, allerdings auf Länderebene Modellversuche durchgeführt werden. 11 Gerade an diesem Beispiel zeigt sich aber wieder einmal ein grundlegendes Problem von institutionellen Reformen in der Bundesrepublik: die Geschwindigkeit der Umsetzung und die überall lauernden „Konsensfallen". Nachdem im Sommer 1999 im Wesentlichen die Eckpunkte für Modellprojekte zur Verbesserung der Beschäftigungschancen geringqualifizierter Arbeitnehmer beschlossen waren, dauerte es bis zum Herbst 2000, bis diese Modellprojekte (in Rheinland-Pfalz, im Saarland, in Sachsen und Brandenburg) gestartet wurden. Gerade weil die föderalistischen Strukturen und prozeduralen Mechanismen beachtet werden mussten, zudem viele Positionen von Vetospielern noch abgearbeitet werden, sind politisch verwertbare Ergebnisse aus diesen Modellprojekten erst in zwei bis drei Jahren zu erwarten. Kurzfristig hat sich deshalb die Beschäftigungssituation dieser Gruppierungen nicht verändert, zumal es auch keine großangelegten politischen Experimente sind, sondern eher klassische Modellversu-
11
Vgl. Heinze/Streeck, Arbeitsmarkt.
Institutionelle Modernisierung; sowie dies., Einstieg in den
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che. Diese kleinen Schritte zur Reform der deutschen Arbeitsmarktpolitik sind aber auch erst realisiert worden, nachdem Ende 1999 das „Bündnis für Arbeit" fast vor dem Aus stand und nur durch informelle Spitzengespräche und das Engagement des Kanzlers es gelungen ist, auf formaler Ebene das „Bündnis für Arbeit" beizubehalten. Im Laufe des Jahres 2000 hat sich die Bündnisarbeit in den verschiedenen Arbeits- und Expertengruppen weiter stabilisiert (allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen), ohne allerdings wesentliche Impulse für eine Veränderung der Arbeitsmarktlage auszulösen. Bedingt aber auch durch die moderaten Lohnabschlüsse im Frühjahr 2000, und damit der Fortsetzung einer beschäftigungsfreundlichen Tariflohnpolitik in Deutschland, konnte auch das Bündnis - allerdings auf einem inhaltlich weiter begrenzten Niveau - institutionell stabilisiert werden. Das „Bündnis für Arbeit" markiert so gesehen keinen Bruch mit der traditionellen Tarif- und Beschäftigungspolitik in Deutschland, sondern vielmehr bestätigt sich die Kontinuitätsthese. Ein markanter Wandel in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist demnach nicht zu verzeichnen, was sicherlich auf die Rahmenbedingungen und den Politikstil zurückzuführen ist. Im Bündnis agieren noch immer viele Vetospieler und der Bundesregierung ist es - anders als in den Niederlanden - nicht gelungen, einen gemeinsamen „Geist" in diese korporatistische Institution einzupflanzen. Dies hat sicherlich historische Hintergründe - institutionelle Verklammerungen zwischen dem Staat und den Verbänden, so wie bspw. in den Niederlanden, gibt es in Deutschland nur in einzelnen, voneinander abgeschotteten Politikarenen - liegt aber auch generell an der politisch-institutionellen Struktur („halbsouveräner" Staat). Trotz aller Appelle an Gemeinwohl und „Führung im Konsens" ist es der rotgrünen Bundesregierung nicht gelungen, die programmatisch verkündeten Kooperationsstrukturen aufzubauen. Der bisherige Verlauf des Bündnisses (von einer aktiven Kooperation im Bündnis kann eigentlich nur bis Anfang 2002 gesprochen werden) markiert zwar in einzelnen Themenbereichen eine Auflockerung klassisch-konträrer Positionen, allerdings gibt es keine grundlegende institutionelle Reform, die auf das „Bündnis für Arbeit" zurückgeführt werden könnte. Das große Ziel, nämlich der Abbau von Arbeitslosigkeit und der Aufbau neuer Beschäftigung, wurde nicht erreicht. Politische Austauschprozesse, wie sie in den Zielvorstellungen des „Bündnis für Arbeit" zentral genannt wurden, sind anscheinend aufgrund der Routinen und Logiken der abgeschotteten Arenen in einzelnen Politikfeldern kaum zu überwinden. Eine sektorübergreifende Politik ist in der Bundesrepublik bislang nicht gelungen; man muss in dieser Frage Gerhard Lehmbruch folgen, der schon früh das „Bündnis für Arbeit" kritisch eingeschätzt hat und folgerte, „dass angesichts der institutionellen Segmentierung des deutschen Korporatismus eine erfolgreiche sektorübergreifende Konsensbildung über eine Neudefinition wohlfahrtsstaatlicher Ansprüche, mit
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der die Sozialsysteme funktionsfähig erhalten werden können, mit dem tripartistischen Ansatz des Bündnisses für Arbeit nicht geleistet werden kann". 12 Das deutsche „Bündnis für Arbeit" leidet also nicht nur darunter, dass sich die zentralen Großorganisationen nur eng begrenzt von ihren inhaltlichen Leitbildern lösen können und auch nicht nur daran, dass die Bundesregierung kaum harte Sanktionen im Falle eines Scheiterns androhen kann, sondern auch an der institutionellen Eigenlogik der ausdifferenzierten themenspezifischen politischen Arenen. Es zeigt sich auch anhand der Rentenreform in der ersten Legislaturperiode, wie schwierig es ist, im semisouveränen Staat der Bundesrepublik zu kleinen institutionellen Reformen zu gelangen. Noch schwieriger wird es, wenn ein Tausch zwischen verschiedenen Politikfeldern organisiert werden muss. Dass institutionelle Veränderungen so schwer zu realisieren sind, liegt aber nicht nur an der Eigenlogik der themenspezifischen Arenen, sondern zudem an den strukturell vorgegebenen Möglichkeiten für die politischen Oppositionsparteien, Lösungsvorschläge der Regierung zu konterkarieren. Überwinden könnte man diese institutionelle Segmentierung in verschiedene politische Arenen, die kennzeichnend für den deutschen Wohlfahrtsstaat sind, durch einen verhandlungsdemokratischen Konsens vor allem zwischen den beiden großen Parteien: „Dem Parteiensystem kommt in den europäischen Demokratien eine Schlüsselfunktion bei der Aushandlung von Sozialpakten zu, und unter den spezifischen institutionellen Bedingungen deutscher Staatlichkeit muss ein Gleichgewicht zwischen Wettbewerbsdemokratie und Verhandlungsdemokratie gefunden werden". 13 Es stellt sich deshalb aus heutiger Sicht die Frage, ob es nicht zu Beginn des Bündnisses im Herbst 1998 sinnvoll gewesen wäre, wenn die Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt eine akzentuierte Problemanalyse des Standortes Deutschland vorgenommen und diese Diagnose dann in einem relativ markierten Diskurs mit den zentralen Institutionen und Großorganisationen zur Grundlage der Bündnispolitik gemacht hätte. In anderen Ländern (vor allem in den Niederlanden) gab es eine solche deutliche Problemdiagnose, um hierüber auch eine entschiedene und mit Sanktionsdrohungen unterstützte Regierungspolitik im Zusammenhang mit dem Sozialpakt umzusetzen. Die „neue" Bundesregierung hat demgegenüber im Herbst 1998 (wohl aus wahltaktischen Gründen) im ersten Schritt sogar sozialpolitische „Bonbons" (bspw. für die Gewerkschaften) verteilt, ohne diese Zugeständnisse in eine umfassende Bündnispolitik einzubringen. Diese nicht gerade langfristig zu nennende Strategie kann über parteipolitische Konstellationen durchaus erklärt werden, zumal auch die insti-
12 13
Lehmbruch, Institutionelle Schranken, S. 111. Lehmbruch, Institutionelle Schranken, S. 111; vgl. auch Czada, Konkordanz.
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tutionelle Architektur des Bündnisses noch nicht stand, allerdings hat eine solche situative, „nachgiebige" Politik zu Beginn eines Bündnisses den Nachteil, dass sich gewisse Verhaltensroutinen der politischen Großorganisationen eingeschliffen haben und die Blockaden institutioneller Reformen nicht weggeräumt wurden. Betrachtet man die deutschen Erfahrungen aus einer international vergleichenden Perspektive, dann kann man sagen: das Fenster einer Reform eines deutschen Sozialstaates wurde durch das „Bündnis für Arbeit" ein wenig geöffnet, allerdings hat man gerade zu Beginn es versäumt, eine gemeinsame Problemdiagnose und darauf aufbauende Handlungsschritte zu vereinbaren. Dennoch gibt es durch die vom Bündnis ausgelösten Verhandlungsrunden in verschiedenen strategischen Arbeitsmarktfragen eine gewisse Annäherung der Positionen, die auch von den zentralen Akteuren registriert werden und die in der Summe zu einem Paradigmenwandel (etwa hinsichtlich der Beschäftigung Älterer) durchaus beigetragen haben. So ist die „Rente mit 60", obwohl von den Gewerkschaften noch 1998/99 massiv gefordert, inzwischen relativ lautlos von der beschäftigungspolitischen Agenda verschwunden. Zwei ungelöste Problembereiche drängen sich trotzdem unmittelbar auf: Erstens dominiert auch weiterhin eine strukturell und historisch verfestigte Selektivität von Interessen in diesen Verhandlungssystemen (viele Wissenschaftler, aber auch neuerdings die breite Öffentlichkeit, sprechen deshalb auch von einem „Kartell"). Es ist bislang nicht gelungen, das jahrzehntelang entwickelte defensive Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu überwinden, und konsequent eine Politik der Erhöhung des Beschäftigungsniveaus und den Abbau der Beschäftigungskrise umzusetzen. Nach den bisherigen Erfahrungen bedarf es zweitens externer Interventionen (sei es eine sensibilisierte Öffentlichkeit oder vor allem eine mutige staatliche Politik, die sich mit den fest etablierten Interessen auch anlegt), um diese Konsensrunden oder Bündnisse zu lernfähigen politischen Einheiten zu entwickeln. Insgesamt zeigen sich auch in den „neuen" Politiknetzwerken keinesfalls automatisch wachsende Gestaltungs- und Problemlösungsmöglichkeiten. Jeder nur kleine reformpolitische Einschnitt in das etablierte InstitutionengefÜge der deutschen Arbeitsmarktpolitik mit all seinen sorgsam austarierten paritätischen Einflussmöglichkeiten verursacht Konflikte, da wir es nicht nur mit politischen Gestaltungsoptionen auf den verschiedenen Ebenen und Subsystemen, sondern auch mit Besitzständen zu tun haben, die von den klassischen staatlichen Regulierungen profitieren. Um die dort sich über Jahrzehnte aufgebauten Erstarrungen und Verkrustungen schrittweise zu lockern, braucht es - wie auch die Erfahrungen in anderen vergleichbaren Ländern nachhaltig demonstrieren politische Führungsstärke und Mut zu einer experimentellen Politik, die sich aus
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dem Fahrwasser der traditionellen, und - international vergleichend - nicht gerade erfolgreichen deutschen Beschäftigungspolitik löst. 14 Ein anschauliches Beispiel, wie labil auch die etablierten Institutionen der deutschen Arbeitsmarktpolitik sein können und welche Rolle die Medien in der Politik spielen, lieferte 2002 der Skandal um falsche Vermittlungsstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit, der als relativ „kleines" Effizienzproblem einer Großbürokratie startete und dann in eine allgemeinere kritische Systemdebatte mündete, die zu einer echten Herausforderung für die Regierungspolitik wurde. Gerade weil der Stillstand auf dem Arbeitsmarkt die erste Regierungsperiode von Schröder überstrahlte, andererseits auch kein Aufbruch in der Arbeitsmarktpolitik gelungen war, kumulierte sich der Streit um die Bundesanstalt in einer allgemeinen Kritik am „korporatistischen Versuch, Probleme auf einem riesigen Markt, nämlich auf dem Arbeitsmarkt, mit dem Instrument einer riesigen Bürokratie zu kompensieren. Die Frage, die sich jenseits des aktuellen Skandals stellt, lautet: Hat sich nicht längst ein ,Marktversagen 4 fortgesetzt in ein ,Bürokratieversagen 4? Und die Pointe der Frage zielt auf folgenden Punkt: Für das Versagen des Arbeitsmarktes ist letztlich dasselbe korporatistische Bündnis verantwortlich, das für die Bundesanstalt für Arbeit Verantwortung trägt. Nämlich das Kartell aus Arbeitgebern und Gewerkschaften (plus öffentliche Hand und Politik). Es handelt sich dabei um die gleiche Allianz, die unter dem Titel Bündnis für Arbeit in den vergangenen Jahren so herzlich wenig zustande gebracht hat". 15 Von den ineffizienten Strukturen in der Großbehörde, die von den Medien nachdem die Öffentlichkeit sensibilisiert war - anhand einzelner Beispiele vorgeführt wurden, was innerhalb kurzer Zeit das Vertrauen in eine der zentralen Säulen unseres Sozialstaats massiv erschütterte, bis hin zum Vorwurf des Versagens der Politik und der Dominanz eines „korporatistischen Kartells", das entgegen den Versprechungen eher ein „Kartell gegen Arbeit" sei, war der Weg nicht weit. So geriet auch das konsenspolitische Vorzeigeprojekt der Bundesregierung, das „Bündnis für Arbeit", in die öffentliche Kontroverse und in eine Schieflage. Die von der Bundesregierung beschworene „Führung im Konsens" wurde hartnäckig bestritten, der Glanz der Berliner „Räterepublik" verblasste im Frühjahr 2002: Nicht die positiven Wirkungen eines neuen steuerungspolitischen Instruments sorgten, wie erhofft, sowohl für Schlagzeilen als auch reduzierte Arbeitslosenzahlen, vielmehr wurde das Bündnis als „institutionelle Sklerose" thematisiert und verurteilt. Die Vorbehalte gegen ein „Kartell" organisier-
14
Vgl. ausführlich Schmid, Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Leicht, Kartell gegen Arbeit, S. 6; für eine differenzierte Analyse der deutschen Arbeitsverwaltung vgl. aus jüngster Zeit Mosley et al., Effizienz der Arbeitsämter; sowie aus international vergleichender Perspektive die Beiträge in Frick (Hrsg.), Arbeitsverwaltung. 15
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ter Interessen wurden parallel zur Organisationskrise der Bundesanstalt für Arbeit immer lauter. Dies liegt auch darin begründet, dass es sich bei der Bundesanstalt um einen Nerv des bundesrepublikanischen Sozialstaats mit starken Mitwirkungsrechten für die Sozialpartner, also die Großverbände der Arbeitgeber und Gewerkschaften, handelt und offensichtliche Ineffizienzen und Fehlsteuerungen als Versagen des korporatistischen Systems insgesamt interpretiert wird. „Der Korporatismus ist die Verschwörung der Insider gegen die Outsider, der wenigen Starken (sprich: Gutorganisierten) gegen die vielen Schwachen (die Verbraucher oder Steuerzahler). Das Ziel ist die Umlenkung der Ressourcen von ,denen zu uns4. Die Wohltaten sind materieller Art: ,Staatsknete', Steuemachlässe, Lohnabschlüsse, Zugangsbeschränkungen. Und symbolischer: Anerkennung, Vorrang, Verfügungsmacht ... Die prächtigste Ausgeburt der Konsensideologie ist das ,Bündnis für Arbeit', in dem Arbeitgeber und Gewerkschaften unter der scheinbar neutralen Obhut der Regierung tagen. Tatsächlich ist es aber ein Bündnis gegen Arbeit. Die Bosse hätten am liebsten freie Hand beim Abschmelzen ihrer Lohnquote, weil Arbeit (die hiesigen Löhne-plus-Abgaben sind die höchsten der Welt) zumal in schlechten Zeiten zu teuer ist. Die Gewerkschaftsbosse aber wollen noch höhere Löhne sowie Jobgarantien für alle, die einen Job schon haben. Und die Regierung wünscht den sozialen Frieden', dies umso heftiger, je näher der Wahltag rückt. Jeder für sich handelt rational, aber auf Kosten zweier Gruppen, die am Tisch nicht dabei sind. Einmal das stumme Heer der Arbeitslosen, die aus dem Markt ,herausgepreist' werden. Zum Zweiten das ganze Volk der Steuerzahler, das dieses Heer alimentiert". 16
Die Skandalmeldungen über die Bundesanstalt brachten im Jahr 2002 endlich Bewegimg in die deutsche Arbeitsmarktpolitik. Hinsichtlich der Strategie der Bundesregierung ist festzustellen, dass man nicht mehr den Bündnisrunden einen innovativen Aufbruch zutraute und stattdessen auf die Einsetzung einer neuen Kommission setzte, deren Akteure nicht nur vorwiegend aus dem System organisierter Interessen stammen: die „Hartz-Kommission". 17 Festzuhalten bleibt, dass über eine kooperativ angelegte Bündnispolitik jedenfalls kein Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland - das vorrangige Ziel bei der Initiierung im Herbst 1998 - erzielt wurde. Auch im Jahr 2003 hat sich allerdings die Situation auf dem Arbeitsmarkt strukturell kaum verändert. Wir haben weiterhin ein massives Beschäftigungsdefizit und können uns nur langsam von dem institutionell fest verankerten Repertoire traditioneller und weitgehend gescheiterter Methoden zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit lösen. Der angekündigten Senkung der Arbeitslosenzahlen zum Trotz waren 2003 wiederum über vier Millionen arbeitslos gemeldet, rund eine Million Personen verweilen in Weiterbildungs- und anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Bereits ohne die „stille Reserve" (die auf rd. 1,9 Millionen geschätzt wird) sind damit in Deutschland über fünf Millionen Arbeitssuchende zu registrieren, wobei nicht
16 Joffe, Klüngelland, S. 3; vgl. auch Steger, Globalisierung; sowie die Beiträge in Bollmann (Hrsg.), Patient Deutschland. 17 Vgl. Schmid, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.
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alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen betroffen und auch massive regionale Differenzen unübersehbar sind. Die strukturell verfestigte Massenarbeitslosigkeit lähmt nach wie vor die Kräfte, die zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nötig gebraucht werden. Der Vorsitzende der in der Öffentlichkeit heftig diskutierten Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", Peter Hartz, schreibt zu Recht im Vorwort zum Abschlußbericht: „Arbeitslosigkeit raubt den Menschen die Fähigkeiten und ist damit Verschwendung von schöpferischem Potenzial. Der Schaden trifft die Arbeitslosen und unser Land. Arbeitslosigkeit fordert die Spaltung der Gesellschaft. Über deren Gräben verstehen sich die Menschen nicht mehr, sie sprechen eine andere Sprache, Zeitperspektiven verschieben sich. Denk- und Verhaltensweisen haben nur noch wenig miteinander zu tun. Die Angst, durch Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschaftlichen Ganzen vertrieben zu werden, durchdringt alle Lebenszusammenhänge".
So richtig diese Hinweise sind, so wenig originell ist die Botschaft. Schon seit der Marienthalstudie ist klar, welch fundamentale Bedeutung der Arbeitsplatz für die soziale Anerkennung und die Selbstachtung hat. 18 Nach einigen Jahren einer rot-grünen Regierungskoalition, die mit dem Anspruch angetreten ist, die Blockaden in Deutschland durch eine kooperative Politik und einen innovativen Konsens aufzulösen, stellt sich schon die Frage, warum die Beschäftigungskrise nicht reduziert wurde und welche Kräfte für die Politik der Nichtentscheidungen bzw. Klientelentscheidungen verantwortlich sind. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat auf den Reformstau, aber auch auf die verantwortlichen Akteure hingewiesen, die weiterhin an dem deutschen Pfad der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik mit hohen Sozialbeiträgen und Sozialausgaben festhalten und damit eine Lösung der Beschäftigungskrise behindern, in der Problemdiagnose vieler Politiker jedoch explizit nicht benannt werden: „Vielen Politikern fehlt es auf diesem Felde an Mut zur Wahrheit. Sie fürchten die Agitation des Machtkartells aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und die negative Reaktion der Betroffenen. Den beiden größten Gewerkschaften sollte deutlich gesagt werden: Ihr vertretet im Ergebnis eurer Politik zwar die kurzfristigen Interessen der aktiven Arbeitnehmer, aber zur Überwindung der Arbeitslosigkeit trägt eure Politik nichts bei. Der Arbeitgeberorganisation sollte vorgehalten werden: Ihr vertretet zwar die kurzsichtigen Interessen eurer Unternehmen, aber die finanziellen Folgen eurer Politik schiebt ihr auf den Staat ab, das heißt: auf den Steuerzahler". 19
Wenngleich diese Aussage seit dem Frühjahr 2003 zu korrigieren wäre, weil der Bundeskanzler mit der Agenda 2010 einen Reformprozess eingeleitet hat, der sich auch mit etablierten organisierten Interessen (auch innerhalb der eigenen Partei) anlegt, so gilt sie doch für die erste Legislaturperiode und auch zu Beginn der zweiten Amtszeit der Bundesregierung. Die Beschleunigung und 18 19
Vgl. etwa Morgenroth, Arbeitsidentität und Arbeitslosigkeit. Schmidt, Unkraut, S. 10.
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Intensivierung der Reformvorhaben ist natürlich auch ein Ergebnis der enttäuschenden Bündnisrunden; ein innovativer Konsens ist jedoch nicht erzielt worden. Nach wie vor besteht die eigentliche Krise des deutschen Beschäftigungssystems in einer langfristig stabilen Koinzidenz von hoher Arbeitslosigkeit mit einer niedrigen Erwerbsquote. Nur mit einer Erhöhung der Aktivitätsrate ließe sich auch die mit der Arbeitsmarktkrise zusammenhängende Krise der sozialen Sicherungssysteme beheben. Die deutschen Beschäftigungsquoten unterscheiden sich sowohl allgemein als auch nach Beschäftigungsgruppen deutlich von denen in anderen vergleichbaren Ländern. Während die Beschäftigungsquote der Frauen in Deutschland bei 57,8 % liegt, ist sie in den Niederlanden 63,4 %, in Großbritannien 64,5 %, in Schweden sogar 69,7 % und in Dänemark 72,1 %. Man braucht keine gewagten und politisch umstrittenen Vergleiche mit dem amerikanischen Arbeitsmarkt vorzunehmen, sondern der Verweis auf andere europäische Länder mit einem vergleichbaren sozialen Sicherungsniveau reicht aus, um die Richtung für einen erfolgreichen Beschäftigungsaufbau anzuzeigen. Generell gilt, dass Länder mit einer hohen Erwerbsbeteiligung der Frauen, die zumeist im Dienstleistungssektor tätig sind, gleichzeitig gute Arbeitsmarktdaten vorweisen. 20 Während die meisten westeuropäischen Länder in den letzten Jahren beschäftigungspolitische Fortschritte gemacht haben, die zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit geführt haben (in Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden oder Norwegen herrscht inzwischen Vollbeschäftigung), verharrt Deutschland in internationalen Beschäftigungsrankings auf den letzten Plätzen.21 Besonders negativ ragt das hohe Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit (vor allem bei gering qualifizierten und älteren Arbeitskräften) heraus. Möglichkeiten für eine neue Beschäftigungsdynamik in Deutschland bietet, wie auch in den vergleichbaren Ländern, allein der Dienstleistungssektor (insbesondere bei den einfachen, personenbezogenen und geringproduktiven Dienstleistungen). „In Deutschland ist ein erhebliches Potential an Dienstleistungen aller Lohngruppen in verschiedenen Berufen unerschlossen. Private Dienstleistungen werden in größerem Umfang und legaler Form jedoch nur nachgefragt, wenn die Kosten in einem verträglichen Verhältnis zu dem verfugbaren Einkommen stehen. Dies ist heute oftmals nicht der Fall. Als Folge entstehen die Beschäftigungsverhältnisse in der Schattenwirtschaft". 22 Eine niedrige allgemeine Erwerbsquote, und insbesondere ein niedriges Beschäftigungsniveau im Bereich der Dienstleistungen, führt zum Ausschluss ge-
20
Vgl. Eichhorst et al., Benchmarking Deutschland. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Beschäftigungs - Ranking 2002 und Jüngere Arbeitsmarktentwicklungen; sowie Schmid, Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. 22 Kommmission, Moderne Dienstleistungen, S. 41. 21
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ring qualifizierter Arbeitnehmer nicht nur aus Beschäftigung, sondern tendenziell aus der Gesellschaft insgesamt. Soziale Desintegrationserscheinungen mehren sich auf allen Ebenen. Über das „Bündnis für Arbeit" wurde dieser Prozess der gesellschaftlichen Zersplitterung nicht aufgehalten. Diese Erkenntnis zeigt sich auch in der Regierungspolitik, die nun - auf Basis verschiedener Regierungskommissionen - die Initiative für Reformen wieder stärker selbst in die Hand nimmt.
I I I . Wohlfahrtsverbändekorporatismus in Deutschland: Potentiale und Grenzen Aufgrund der herausragenden Stellung, die die Wohlfahrtsverbände im System sozialer Dienste in Deutschland einnehmen, kommt ihnen ein „öffentlicher Status" zu, was sich auch im Selbstverständnis widerspiegelt: Sie sehen sich neben den Verbänden von Kapital und Arbeit als „dritte Sozialpartner" an, die umfangreich an der Gestaltung des Soziallebens beteiligt sind, und zwar nicht primär als Interessenvertretungen, sondern als Anbieter und „freie" Träger sozialer Dienste sowie als Anwälte sozial Schwacher. Diese Merkmale prägen auch zentral die institutionelle Struktur des deutschen Sozialstaatsmodells, das sich gerade durch die Arbeitsteilung mit Wohlfahrtsverbänden von anderen westeuropäischen „Wohlfahrtsstaatstypen" abhebt und auf einen besonderen historischen Entwicklungspfad bzw. auf eine spezifische Koevolution von Verbänden und (christdemokratischem) Wohlfahrtsstaat schließen lässt.23 Der beeindruckende Beschäftigungsanteil der freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege ist natürlich vor dem Hintergrund der allgemein positiv verlaufenden Beschäftigungsentwicklung bei sozialen Diensten zu interpretieren. Mit über 1,1 Millionen hauptamtlich Beschäftigten ist die freie Wohlfahrtspflege der größte private Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland, was oft verkannt wird (hinzu kommen noch gut 2,5 Millionen ehrenamtlich und freiwillig engagierte Mitarbeiterinnen, wenngleich sich auch Probleme bei der Rekrutierung und ein Strukturwandel des Ehrenamtes zeigen). Bundesweit waren am 1.1. 2000 in der Freien Wohlfahrtspflege gut 93.500 Einrichtungen und Dienste organisiert, wobei sich die Zahl der angeschlossenen Organisationen gegenüber 1996 um fast 3 Prozent erhöht hat (die Zahl der Beschäftigten ist in diesem Zeitraum um knapp 4 Prozent angestiegen). Der quantitative Stellenwert der verbandlichen Wohlfahrtspflege kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich über 57 Prozent aller Alten- und Behindertenheime und annähernd 75 Prozent
23
Vgl. Schmid, J., Wohlfahrtsverbände; Bauer, Soziale Dienstleistungen, bes. S. 164ff.; sowie Kaufmann, Sozialpolitik.
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der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in freigemeinnütziger Trägerschaft befinden. 24 Seit Anfang der 90er Jahre erfährt die verbandliche Modernisierung durch die Einführung neuer Steuerungsmodelle in der öffentlichen Verwaltung eine zusätzliche Dynamik. Die neuen Steuerungsmodelle zielen auf eine betriebswirtschaftliche Modernisierung der öffentlichen Verwaltung - insbesondere in den Kommunen - ab. Hierbei geht es vor allem um die Einführung von Wettbewerbs- und Wirtschaftlichkeitskriterien, die Dezentralisierung von Kompetenzen und Verantwortung und die Entwicklung von Controlling-Instrumenten. So findet inzwischen auch in vielen Verbandsgliederungen eine betriebswirtschaftliche Rationalisierung statt, indem etwa kostspielige Aufgaben ausgelagert (outsourcing) oder kostengünstige Verbundstrukturen zwischen den stationären Einrichtungen, ambulanten Diensten und offenen Angeboten eines Verbandes geschaffen werden. Diejenigen Geschäftsbereiche der freien Wohlfahrtspflege, die als besonders lukrativ bzw. marktfähig gelten, wurden in den letzten Jahren zunehmend in eigenen Rechtsformen ausgegründet. Die betriebswirtschaftliche Rationalisierung hat darüber hinaus auch zu einer entsprechenden ReOrganisation von Führungs- und Entscheidungsstrukturen geführt, indem etwa Geschäftsführungen weitreichende Entscheidungskompetenzen gegenüber ehrenamtlichen Vorständen und Mitgliederversammlungen eingeräumt wurden. Ein erster ausschlaggebender Faktor, der eine Wendemarke in den Beziehungen zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden signalisiert, ist der Wandel der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen. So sehen beispielsweise das Pflegeversicherungsgesetz, die Novellierung im Bundessozialhilfegesetz und das Kinder- und Jugendgesetz eine Gleichstellung privatgewerblicher und freigemeinnütziger Anbieter vor, die die privilegierte Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände formal verringert. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Pluralisierung der Trägerlandschaft: Zu den etablierten wohlfahrtlichen Trägern treten privatwirtschaftliche und neue, stärker informell organisierte Akteure wie z.B. Selbsthilfegruppen oder Nachbarschaftsinitiativen. Doch kann die einfache Tatsache, dass vermehrt privatgewerbliche Anbieter etwa im Pflegebereich existieren und das Pflegegesetz und andere sozialrechtlichen Novellierungen direkt oder indirekt Wettbewerb vorsehen, nicht auch schon einen grundlegenden Richtungswandel andeuten. Hier kommen weitere Tendenzen ins Spiel, die das Beziehungsgeflecht zwischen privaten, öffentlichen und wohlfahrtlichen Trägern auf eine neue Grundlage stellen und eine neue „Vernetzungsdebatte" entfacht haben. „Auch im Bereich der Sozialpolitik und sozialen Arbeit wird zunehmend Netzwerksteuerung betrieben, wobei der Staat meist als aktivierende Instanz und die Träger öffentlicher Verwaltung als verhandelnde Prozessteilnehmer auftreten und dabei versuchen, ihre gemeinwohl24
Vgl. BAG 2000; sowie Ottnad et al., Markt und Mildtätigkeit.
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orientierten Interessen mit den Partikularinteressen der anderen Netzwerkmitglieder zu koordinieren". 25 So gehen die jüngsten sozialpolitischen Reformbemühungen bekanntlich mit der Forderung nach mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der sozialen Leistungen einher; zudem müssen die sozialen Einrichtungen vermehrt mit Budgets arbeiten. Dies wird besonders deutlich im Pflegesektor, der derzeit den größten Wachstumsmarkt der sozialen Dienste darstellt und durch die Einführung der Pflegeversicherung institutionell neu eingebettet worden ist. Es ist unübersehbar, „dass das Pflegeversicherungsgesetz eine klare Abkehr von den traditionellen Prinzipien der Erbringung sozialer Dienste bedeutet, indem es erstmals explizit die Gleichbehandlung von kommerziellen und gemeinnützigen Leistungsanbietern vorsieht, auf die traditionelle Einbindung der Wohlfahrtsverbände in die Politikformulierung verzichtet und die Wohlfahrtsverbände zu massiven organisatorischen Reformen zwingt". 26 Der Status der Wohlfahrtsverbände wird hier am sichtbarsten dadurch geschwächt, dass sie ihre Vorrangstellung nun mit privaten Trägern teilen müssen; dahinter verbirgt sich der Wettbewerbsgedanke der Pflegeversicherung. Gleichzeitig bekommt das Instrument des Kontrakts eine neue Qualität. Die zunehmende Umstellung auf Kontraktbasis hat bei oberflächlicher Betrachtung erstens die Konsequenz, dass sich die deutsche Wohlfahrtslandschaft zunehmend ökonomisiert. Ökonomisierung als deskriptiv-analytische Kategorie kann verstanden werden als ein Prozess, in dem institutionell etablierte Standards abgelöst werden durch eine stärkere Monetarisierung, d.h. Festlegung von Output-Zielen, Controlling, Vergleichbarkeit von Produkten und Betonung von Effizienz als Kontrollkriterien. Hiermit korrespondiert der Trend zur Vermarktlichung sozialer Dienste, wie sie insbesondere durch das Pflegeversicherungsgesetz katalysiert wird. Die Wahlmöglichkeiten zwischen Geld- und Sachleistung und die Gleichstellung privatgewerblicher und freigemeinnütziger Anbieter sollen den Klienten als Steuerungsinstanz stärken. „Die Etablierung netzwerkorganisatorischer Beziehungen zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Trägern kann nicht ohne Rückwirkung auf die Binnenstruktur sozialer Dienstleistungsanbieter bleiben. Diese geraten zunehmend unter Modernisierungsdruck und müssen im Zuge der Rationalisierung von Versorgungssystemen ihre eigenen Geschäftsfelder und ihre Leistungstiefe überprüfen, ihren Betrieb selbst rationalisieren (ebenso wie die Verwaltung eine make-or-buy-Debatte führen). Die Tendenz ist schon beobachtbar, dass die großen verbandlich organisierten
25 Dahme, Kooperative Steuerung, S. 93; vgl. bereits Nokielski/Pankoke, Postkorporative Partikularität; sowie die Beiträge in Dahme/Wohlfahrt (Hrsg.), Netzwerkökonomie. 26 Bönker/Wollmann, Sozialstaatlichkeit im Übergang, S. 534; vgl. auch die Beiträge in Dahme/Wohlfahrt (Hrsg.), Netzwerkökonomie.
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sozialen Dienstleistungsanbieter selbst netzwerkartige Organisationsstrukturen entwickeln, indem Outsourcing betrieben wird oder neue zwischenbetriebliche Beziehungen zu anderen Anbietern aufgebaut werden". 27 Diese Umorientierung ist eingebettet in Rahmenbedingungen, die den Wandel direkt oder indirekt beeinflussen. Hierzu zählen fiskalische Engpässe, vor allem die öffentlichen Finanzkrisen und der Rückgang von Subventionen, die die Verbände zwingen, ihren Organisationsstandard mit Hilfe neuer Organisationsmodelle zu halten bzw. möglichst konfliktarm zu senken. Zudem wächst die öffentliche Kritik an mangelnder Transparenz, Effizienz und Flexibilität der Verbände. Einzelne Finanzskandale in sozialen Hilfsorganisationen schüren diese öffentliche Kritik weiter an. Auch wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass „eine beachtliche Zahl von Einrichtungen betriebswirtschaftlich suboptimal" arbeitet. 28 Aufschlussreich ist, dass sich in den 90er Jahren im Vergleich zu den 80er Jahren der Druck von der Legitimation hin zur Organisation der Wohlfahrtsverbände und den Produktionscharakteristika sozialer Dienstleistungen verschoben hat. Forderte in den 80er Jahren die Selbsthilfebewegung das sozialpolitische Selbstverständnis und das Mobilisierungspotential der Wohlfahrtsverbände heraus, so müssen sich die Verbände inzwischen vorwiegend ökonomisch motivierter Kritik an ihrer Position und Leistungsfähigkeit stellen. Zudem hat die Monopolkommission 1998 die korporatistische Lenkung des Gesundheitswesens kritisiert und auf eine marktkonforme Ausrichtung gedrängt. Die Einforderung einer Nichtdiskriminierung anderer Leistungserbringer und ein ungehinderter Marktzugang haben natürlich auch die Wohlfahrtsverbände empfindlich getroffen und zu scharfen Reaktionen seitens der Verbände geführt. Wenngleich die Regierungspolitik bislang keine strukturellen Veränderungen in diesem Feld anstrebt, so dürfte die Debatte weiterlaufen. Die Wohlfahrtsverbände haben sich allerdings in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr von öffentlichen Geldern abhängig gemacht und damit ihre „Verbandskonjunktur" und großteils auch ihr Leistungspotential an die allgemeine Konjunktur angekoppelt: Sinken die Steuereinnahmen, dann sinken automatisch auch die Spielräume zur Gestaltung von verbandlichen Prioritäten in der Sozialpolitik, weil die Spendeneinnahmen im Vergleich dazu weitaus geringer sind. Darunter leidet der Anspruch der Wohlfahrtsverbände, das eigene Profil auch in eigene Schwerpunkte der Tätigkeit umzusetzen. Die schrumpfenden öffentlichen Zuschüsse können aber gerade in einer Zeit, in der sich das Spen-
27
Dahme, Kooperation und Vernetzung, S. 62; vgl. auch Pankoke, Wert- und Wissensmanagement. 28 Ottnad et al., Markt und Mildtätigkeit, S. 176; vgl. auch die Beiträge in Gabriel (Hrsg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände.
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denaufkommen stärker auf viele spezifische Organisationen und Initiativen verteilt, nur begrenzt durch Eigenmittel kompensiert werden (hier zeigt sich allerdings eine große Spannbreite bei den Einrichtungen). Aus knapperen Ressourcen, öffentlichen Kontrollbedürfnissen und der wachsenden Zahl privat-gewerblicher Anbieter leiten sich die aktuellen Forderungen nach mehr Effizienz und Transparenz des verbandlichen Handelns ab. Auch aus der Innensicht der Verbände steigt der Druck an, betrachtet man z.B. Rechnungen, nach denen den Wohlfahrtsverbänden durch Managementfehler jährlich einige Milliarden Mark verloren gehen sollen. Hinzu kommt die wachsende öffentliche Kritik an mangelnder Transparenz und Effizienz vieler Großeinrichtungen der Wohlfahrtsverbände, die durchaus ernst zu nehmen ist. Parallel zur Ökonomisierung des sozialen Sektors lässt sich zweitens aber auch eine stärkere Politisierung der Wohlfahrtslandschaft beobachten. Unter Politisierung ist ein Prozess zu verstehen, in dem administrative Regularien oder ökonomische Tauschprinzipien teilweise durch konflikthafte Aushandlung und politischen Tausch ersetzt oder ergänzt werden. Das Kontraktmanagement und die damit einhergehende Lockerung des bislang stark administrativen Systems machen die beteiligten Organisationen als Akteure mit ihren spezifischen Interessen stärker kenntlich. Ökonomisierung und Politisierung schließen also einander keineswegs aus - im Gegenteil: Gerade weil sie stärker als vorher an der Produktion von sozialen Diensten gemessen wird, bekommt Politik in den Wohlfahrtsorganisationen wieder eine größere Bedeutung. Beispielsweise kann die Finanzierung über Budgets, aus organisationssoziologischer Perspektive, das Verhältnis der Verbände zu ihren Einrichtungen nicht unberührt lassen. Sowohl die Verteilung eines Gesamtbudgets durch den Verband als auch die umgekehrte Version eines Budgets für einzelne Einrichtungen werden die Wohlfahrtsverbände langfristig politisieren, indem sie Verteilungs- und Konkurrenzkämpfe und Legitimationsprobleme auslösen. „Unter dem Druck der privaten Konkurrenz und dem Zwang zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltungen und ihres Verhaltens gegenüber den Wohlfahrtsverbänden (Pflegesatzpolitik) veränderten sich Politik, Identität und Stellung der Wohlfahrtsverbände. Die Rede von ,Dienstleistungsunternehmen', zunächst noch ungewohnt und als mögliche, aber auch problematische Perspektivbenennung verstanden, prägt heute immer mehr das Selbstverständnis dieser traditionsreichen Einrichtungen. Entweder sind die Wohlfahrts verbände gezwungen, sich einer unternehmerischen und managerialen Handlungsweise zu bedienen, um sich am Markt zu halten, oder die unternehmerische Option ist in Zeiten enger finanzieller Handlungsspielräume so attraktiv, dass Teile der Wohlfahrtsverbände sie aus Überzeugung wählen. Das geschieht etwa durch die Ausgründung einzelner marktfähiger und monetär aussichtsreicher Dienstleistungsbereiche in gemeinnützige oder sogar gewerbliche GmbHs. Zum anderen wird die innere Organisation der Wohlfahrtsverbände ihnen selbst zum Problem. Will man am Markt agieren können, ist die alte Vereinsstruktur und ein auf ehrenamtliches innerorganisatorisches Engagement zielendes Funktionärstum in den Vereinsvorständen hinderlich. Die Wohlfahrtsverbände stellen sich seit den neunzi-
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ger Jahren darauf ein, unternehmerisch auf Wohlfahrtsmärkten für soziale Dienstleistungen zu agieren."29
Auch der Versuch, jenseits der klassischen weltanschaulichen Orientierung der Wohlfahrtsverbände neue ökonomisch-orientierte Leitbilder zu implementieren, erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur als funktionales Erfordernis, weil die gesellschaftliche Säkularisierung die normativen Grundlagen der Verbände abschmilzt. Es ist zugleich ein wichtiges Instrument, Reorganisationsprozesse normativ neu abzusichern und zu stabilisieren. Angesicht der zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft, aber auch generell, reflektieren viele Theorien des Wohlfahrtsstaates nicht hinreichend die enorme Vielfalt der Orte der Wohlfahrtsproduktion. Soziale Sicherung wird weder allein vom Staat noch allein von privaten oder gesellschaftlichen Institutionen gewährleistet, hinzu kommt ganz zentral in letzter Zeit die Tendenz zu Dienstleistungs- oder Wohlfahrtsmärkten. Auf diesen Sozialmärkten wird allerdings aus dem traditionellen Klienten in wachsendem Maße ein Verbraucher oder Kunde, was auch weitgehende Veränderungen für die staatliche Sozialpolitik impliziert. „So stehen die ehemaligen Sozialstaatsklienten nunmehr in der Rolle der Verbraucher auf Wohlfahrtsmärkten großen Organisationen und Unternehmensgruppen gegenüber. Um ihre Interessen zu wahren, bedarf es der Verbraucherorganisation und/oder des Verbraucherschutzes. Sozialpolitik wird mit der grundlegenden Strukturänderung der neunziger Jahre zu einem Neuansatz auch als Verbraucherschutzpolitik gezwungen. Sozialpolitik wird - jenseits der traditionellen Politik der Fortführung der alten und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzenden Sozialleistungssysteme - zum einen zur Marktschaffungs-, Marktförderungs- und Regulationspolitik. Im Sinne der Sozialstaatsbürger kann sich Sozialpolitik aber nur legitimieren, wenn sie zum anderen als Verbraucherpolitik auftritt, die die Konsumenteninteressen auf Wohlfahrtsmärkten schützt. Entscheidend ist dabei zunächst die Schaffung von Markttransparenz und die Sicherstellung von qualitäts- und kostenorientierten Vergleichsübersichten zum Marktangebot."
Das Zusammenspiel von formeller und informeller sozialer Hilfe und Solidarität war im Feld der sozialen Dienste immer zentral. Vor diesem Hintergrund konnten auch die Wohlfahrtsverbände als Scharnierorganisationen geortet werden, die eine wichtige intermediäre Stellung einnahmen. Der Wandel hin zu Wohlfahrtsmärkten und einer Kontraktkultur hat aber schrumpfende Organisationskapazitäten und Defizite in der Interessenwahrnehmung auf der steuerungspolitischen Ebene zur Folge, die sicherlich zu einer Erosion der verbandlichen Selbstregulierungskapazitäten führen werden. Dies sollte aber nicht eindimensional in Richtung Steuerungsverlust betrachtet werden. Denn die durch den
29 30
Nullmeier, Wohlfahrtsmärkte, S. 274; vgl. auch Strünck, Pflegeversicherung. Nullmeier, Wohlfahrtsmärkte, S. 279; vgl. auch ders., Anerkennung.
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Funktionswandel des Staates an Bedeutung gewinnenden kooperativen Steuerungsformen und neue Netzwerke können potentiell auch ein Nährboden für Innovationen sein. Der Staat gibt in den neuen Steuerungsmodellen zumeist Steuerungskapazitäten ab, schwächt dadurch seine Position auch bei der Produktion sozialer Dienstleistungen, nutzt aber gleichzeitig die Steuerungsfähigkeit der Verbände. Die verbandliche Selbstregulierung nimmt dementsprechend zu, trotz schrumpfender finanzieller Spielräume. Die Delegation von staatlichen Aufgaben wird durch Kontrakte also noch stärker betont, gleichzeitig werden aber auch die Kontrollen verfeinert und der Effizienzdruck erhöht. Bereits hier wird deutlich, dass die plakative Gegenüberstellung von Deregulierung versus Regulierung oder Privatisierung versus Verstaatlichung subtilere Entwicklungen verdeckt. Eine Wendemarke in den korporatistischen Strukturen der Wohlfahrtspflege ist zwar noch nicht erreicht, von einer Modernisierung des Korporatismus kann zumindest in einigen Bereichen gesprochen werden. Insgesamt sind die Auswirkungen neuer Steuerungsmodelle jedoch eher widersprüchlich: Auf der einen Seite erhöht sich der Ökonomisierungsdruck auf die Einzelorganisationen der Wohlfahrtsverbände, ohne jedoch Raum für neue Organisationen und Träger zu schaffen. Auf der anderen Seite führt dies jedoch nicht unbedingt zu einer tatsächlichen marktlichen Regulierung des wohlfahrtsstaatlichen Systems. Ökonomisierung bedeutet also nicht automatisch mehr Wettbewerb, sei es zwischen privat-gewerblichen und frei-gemeinnützigen Anbietern oder großen und kleinen Trägern oder der einzelnen Träger untereinander. Entgegen den Etiketten werden das korporatistische System und die Funktionslogiken der Wohlfahrtsverbände auf niedrigem finanziellem Niveau stabilisiert, gleichzeitig diversifizieren und verbetrieblichen sich allerdings viele größere Wohlfahrtsverbände. Deutlich wird außerdem, dass der Staat in „gemischten Sphären" wie dem Sozialsektor weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird, aber eher als Aktivator und Regulator, der zudem die Infrastruktur zur Nutzung von mehr eigeninitiierten und selbstorganisierten „Spielräumen" bereithält. Gesellschaftspolitisches Ziel ist eine Aktivierung der Bürger und der traditionellen sozialen Organisationen der Bürger und Verbände. In Zukunft wird die Frage nach Kooperation, Vernetzung und mehr Wettbewerb und Management sozialer Dienstleistungen auf kommunaler Ebene eine der Schlüsselfragen im Bereich der Sozialpolitik sein. Vor dem Hintergrund des Übergangs zu „Wohlfahrtsmärkten" müssen die bisher separaten, nebeneinander stehenden Einrichtungen so vernetzt werden, das Reibungsverluste verhindert und Ressourcen gebündelt werden können. Sowohl die Koordination der „formellen" sozialen Dienste (derzeit etwa pointiert diskutiert im Altenpflegesektor) als auch die Ausschöpfung des Potentials bürgerschaftlichen Engagements ist ein Kernproblem der sozialen Sicherung in allen westeuropäischen Ländern. 31
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Innerhalb eines neu gestalteten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements muss gewährleistet werden, dass sich die Stärken und Schwächen der verschiedenen Träger sozialer Dienstleistungen optimal ergänzen, anstatt sich nieder zu konkurrieren. Der zukünftige Sozialstaat kann dementsprechend nicht alternativ als Frage des Etatismus oder der Privatisierung diskutiert, sondern müssen als Problem der innovativen Vermischung aufgefasst und politisch gesteuert werden. In diesem Prozess müssen die öffentlichen Institutionen (also auch massiv die Wohlfahrtsverbände) im Sinne eines neuen Managements sozialer Sicherheit einen Paradigmenwechsel von bürokratischer Organisation und Planung hin zu einer Rolle als Vernetzungsinstanz und Koordinatoren vollziehen. 32 Eine „Resozialisierung" der sozialpolitischen Großorganisationen, die gerade in Deutschland lange Tradition haben, ist angesagt. Der erste Schritt innerhalb einer experimentellen Innovationsstrategie ist die Entwicklung entsprechender dialogischer Diskussions- und Planungsformen, um ausgehend von einer Bestandsaufnahme der Potentiale eine Bündelung der Ressourcen der lokalen Akteure voranzutreiben. Durch die Vernetzung würden Synergieeffekte angestoßen und darüber könnten neue innovative Projekte in verschiedenen Sozialfeldern generiert werden. Nur so kann m.E. verhindert werden, dass der Sozialstaat Deutschland zum Auslaufmodell wird; noch haben wir es in der Hand, mit einer institutionellen Reformstrategie den Kern des Sozialstaats zu erhalten und ihn produktiv weiterzuentwickeln.
I V . Schlussbemerkungen Trotz der offensichtlichen Krise des Korporatismus wird der Staat auch in Zukunft auf Kooperation setzen müssen, weil nur dadurch neue Steuerungsressourcen erschlossen werden können. „Der Staat verfügt über kein Wissen, das die Gesellschaft - die Bürger wie ihre Wirtschaft - nicht längst besser verfügt und nutzt. Auf diese Ressourcen wird er in einer Wissensgesellschaft zurückgreifen, d.h. auf die Bürger, die sich längst in den modernen Welten bewegen, die er nicht mehr steuern kann. Er wird sie - in einer Wissensgesellschaft - als Gutachter ihrer eigenen Lebenswelten stärker heranziehen und integrieren müssen. Aber er kann den Bürgern Formen erhöhter Selbstorganisation anbieten, neue Kooperationsdesigns - mit dem Staat, und untereinander. Die Zivi lgesellschaft ist kein Demokratieromantikprojekt, sondern ein Name für die koope-
31
Vgl. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtstaates und Schmid, J., Wohlfahrtsstaaten im Vergleich; sowie die Beiträge in Evers/Olk (Hrsg.), Wohlfahrtspluralismu; Olk et al. (Hrsg.), Baustelle Sozialstaat und Schmidt (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Politik. 32 Vgl. auch Pankoke, Wert- und Wissensmanagement.
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rative Organisation der Zukunftsfähigkeit eines Staates, dessen Steuerungsressourcen schwinden."33
Gerade heute stellt sich aber zentral die Frage nach der demokratischen Legitimation und Transparenz sowie nach der Zukunft der klassischen korporatistischen Regulierungen und den dort dominierenden politischen Organisationen. Die Akzeptanz- und Repräsentationsprobleme dieser Apparate, die eben nur einen, zudem stark schrumpfenden Teil des „Sozialkapitals" darstellen, sind nicht zu übersehen, worauf nicht nur die aktuellen Pannen bei der Bundesanstalt für Arbeit, sondern auch die wachsende Distanz zwischen großen Teilen der Bevölkerung und den politischen Institutionen hinweisen. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass solche Verkrustungen eines „Kartells" das politische System weiter in eine „Art Halbschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit" 3 4 geraten lässt und das Vertrauen in die Institutionen des „rheinischen Kapitalismus" weiter zurückgeht. Eine Mobilisierung „nicht-staatlicher" Potentiale und die Bildung von Netzwerken sind in den letzten Jahren in allen westlichen Ländern in diversen Politikfeldern zur Anwendung gekommen. Es ist allerdings schon darauf hingewiesen worden, dass die großen gesellschaftlichen Organisationen (allen voran auch die Tarifpartner) schon seit Mitte der 90er Jahre wachsende Organisationsund Handlungsprobleme haben. Diese organisatorischen Probleme sind für die gesellschaftliche Stabilität von hoher Bedeutung, weil die intermediären Akteure zentral das Gesicht des „rheinischen Kapitalismus" prägen. Gerade den Tarifparteien ist nach dem Zweiten Weltkrieg eine zentrale Funktion für die Bewältigung des Strukturwandels und ökonomischer Krisen sowie die Steigerung des Lebensstandards zugekommen. Es ist wohl noch zu früh von einem Ende des Verbändestaates und des Korporatismus zu sprechen, allerdings treten offensichtliche Probleme in den korporatistischen Arrangements auf, die durch die Globalisierung noch weiter vorangetrieben werden. Die Erfolgsstory des „Modell Deutschland" nähert sich vor allem dann ihrem Ende, wenn nicht relativ schnell eine grundlegende institutionelle Reorganisierung stattfindet. Die organisatorischen Erosionsprozesse werden gespeist und vorangetrieben durch die zunehmenden Fragmentierungen auf dem Arbeitsmarkt, 35 dem rapiden wirtschaftsstrukturellen Wandel mit all seinen Implikationen (mehr Kleinbetriebe, neue Branchen, veränderte Managementstrategien) aber auch durch soziokulturelle Wandlungsprozesse. 36 Kollektive soziale Milieus, die Grundlage für starke und steuerungsfähige Verbände, lösen sich immer 33 Priddat, Zivilgesellschaft, S. 205f; vgl. auch Kaufmann, Sozialpolitik; sowie die Beiträge in Werle/Schimank (Hrsg.), Gesellschaftliche Komplexität. 34 Zolo, Fürstenherrschaft, S. 173. 35 Vgl. Strünck, Mit Sicherheit flexibel? 36 Vgl. Hradil, Sozialstrukturentwicklung.
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mehr auf. Nicht nur Soziologen fragen angesichts der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen danach, ob wir nicht schon eine „Gesellschaft der Egoisten" geworden sind, in der Solidarität und damit gesellschaftliche Orientierung praktisch an Bedeutung verlieren. Die sozioökonomischen und sozialstrukturellen Zersplitterungen fuhren aber nicht nur zu einer Auszehrung der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Auch außerhalb des ökonomischen Bereichs scheinen Menschen zunehmend „Bastelbiographien" zu entwickeln, 37 die zu einem Rückgang des Engagements in allen gesellschaftlichen Organisationen führen. Damit laufen sie allerdings Gefahr, ihre Steuerungsfähigkeit mehr und mehr zu verlieren, weil es ihnen nur unzureichend gelingt, die verschiedenen und oft widersprüchlichen Leistungsanforderungen auszutarieren. Deshalb sollte die Politik sich davor hüten, vorschnell auf die „alten" und „neuen" bürgerschaftlichen Potentiale (auch der die „alte" Bundesrepublik prägenden Großverbände) zu vertrauen und zu glauben, damit ein neues Instrument zur Erhöhung der Steuerungsfähigkeit des politischen Systems gefunden zu haben. Das aktuelle politische Interesse sowohl am konkreten Bürgerengagement als auch generell an Gemeinwohlorientierungen der korporativen Akteure ist also ambivalent einzuschätzen. Gerade weil eine Rückkehr zum traditionellen Wohlfahrtsstaat aufgrund der tief greifenden Umwälzungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt nicht zu realisieren ist, schauen viele Politiker inzwischen auch in andere Länder, um deren „Erfolge" zu kopieren. Generell muss man zunächst aber vor der Adaption ausländischer Modelle warnen, da sie immer nur im jeweiligen historischen Kontext zu verstehen sind und ihre Attraktivität zumeist von begrenzter Dauer ist. Dennoch kann ein Blick in andere Länder hilfreich sein, gerade dann, wenn man im eigenen Land mit den Problemen (z.B. der hohen Arbeitslosigkeit) nicht fertig wird. Die „große" Bundesrepublik sollte genauer hinsehen, wie „kleine" Nachbarstaaten im Westen und im Norden die Krise auf dem Arbeitsmarkt regulieren, ohne allerdings gleich ein neues ideologisches Modell zu feiern. Die politische Regulierung der Wirtschafts- und Finanzkrise wird nur bedingt durch die Regierungszusammensetzung gesteuert, genauso zentral sind kulturelle Grundlagen, eingeübte Konfliktregulierungsmechanismen, klare und gemeinsam geteilte Problemdiagnosen und innovative Akteure, die ausgehandelte Vereinbarungen auch politisch umsetzen. Politisches Steuern in durchaus gefährlichen Fahrrinnen ist gefordert, das normale Rudern reicht nicht mehr aus. Gerade weil sich die Probleme auf der Zeitschiene nicht lösen lassen und sich ein Reformstau in Deutschland aufgebaut hat, ist eine aktive Politik bzw. ein „aktivierender" Staat gefragt, der durchaus seine Grenzen, aber auch seine Steuerungspotentiale hat. Es verbleiben trotz der Globalisierungsaspekte noch immer Spiel37
Vgl. Gross, Multioptionsgesellschaft.
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räume für die Politik, wenngleich die zwischen den Institutionen aufgebauten Interaktionsblockaden erst langsam aufbrechen. Dies liegt auch ganz allgemein an dem hohen Maß der Fragmentierung: „Wir in Deutschland neigen immer sehr stark zur Spezialisierung und zur vertikalen Vertiefung. Es gibt wohl kaum ein anderes Land auf der Welt, in dem alles so perfekt reguliert ist wie hier. Und wo sich die Funktionseliten um jede dieser Regulierungen scharen: 50 Jahre haben wir alles vertieft und verfeinert. Nun stellen wir fest, dass die eigentlichen Probleme, die wir haben, gar nicht mehr innerhalb dieser spezialisierten Säulen zu lösen sind. Ein damit verbundenes Problem ist die funktionale und kommunikative Abschottung jener Eliten, die diese Bereiche managen. Sie können die Problemlösung nicht mehr organisieren. Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltschutz oder die Probleme einer vergreisenden Gesellschaft lassen sich nicht dadurch lösen, dass man die Feuerschutzordnung in diesem Land noch weiter optimiert. Das, was man in bester Absicht geschaffen hat, wird plötzlich unter neuen Konstellationen kontraproduktiv". 38
Viele Großorganisationen scheinen nur noch begrenzt zu konstruktiven Kooperationsbeziehungen fähig zu sein, weil ihnen die eigene Organisationskrise kurzfristige Bestandserhaltungsstrategien aufdrängt. Ideologien als Mittel der Verdrängung oder der Selbststabilisierung nach innen sind derzeit eher aktuell. Dieser Trend zeigt sich in allen politischen Großverbänden, wenngleich auch immer organisationspolitische Risse zu beobachten sind, die darauf hinweisen, dass die klassischen Wahrnehmungsblockaden nicht von allen Führungsgruppen hingenommen werden. Gefragt ist von einer Bundesregierung gerade in turbulenten Zeiten politische Führung und der Mut zu einer neuen, experimentellen Politik, die sich auch mit strategischen Kooperationsverweigerungsstrategien anlegt, wie sie schon traditionell von privilegierten Interessenverbänden gepflegt werden. Wenn die Reformen im Gestrüpp organisierter Interessen hängen bleiben, wäre dies ein weiterer Beleg für die These, Deutschland sei ein „einig Klüngelland" und unfähig strukturelle Reformen umzusetzen. Auch wenn sicherlich nicht der große Wurf für einen „neuen" Wohlfahrtsstaat zu erwarten ist, gibt es doch innovative Elemente, die in einer Reformstrategie verknüpft werden können. Die Erfahrungen der letzten Monate machen aber deutlich, dass dieser Erneuerungsprozess starke und innovationsfreudige politische Akteure erfordert, die sich auch von traditionellen Leitbildern lösen und organisatorische Lernprozesse durchfechten müssen.
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Vereine - Organisationen des Dritten Sektors und Akteure der Zivilgesellschaft Annette Zimmer
I. Einleitung Obgleich Max Weber bereits auf dem ersten deutschen Soziologentag gefordert hatte, die Vereinsforschung ganz oben auf die Agenda der Gesellschaftswissenschaften zu setzen,1 fristeten Vereine als bürgerschaftliche Vereinigungen und Produzenten semi-öffentlicher Güter lange Zeit eher ein Schattendasein am Randbereich der sozialwissenschaftlichen Disziplinen. 2 Hier scheint sich aktuell jedoch eine nachhaltige Veränderung abzuzeichnen. Inzwischen genießen Vereine als zivilgesellschaftliche Vereinigungen sowie als Produzenten wohlfahrtsrelevanter Leistungen und Dienste unter sehr unterschiedlichen Fragestellungen wachsende Aufmerksamkeit. So wird auf Vereine als bürgerschaftliche Vereinigungen insbesondere im Kontext eines zu beobachtenden Formwandels politischer Partizipation Bezug genommen. Im Geleitzug der Zivilgesellschafts- und der Sozialkapitaldebatte geraten sie als Orte politischer Sozialisation, demokratischer Kultur und gesellschaftlicher Integration und Innovation zunehmend ins Blickfeld. 3 Doch auch im Kontext der Debatte über den Wandel von Wohlfahrtsstaatlichkeit wird auf Vereine, und zwar unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Relevanz und besonderen Funktionsweise als Alternative sowohl zur staatlichen wie zur privat-kommerziellen Wohlfahrtsproduktion, zunehmend rekurriert. 4 Gebündelt werden beide Perspektiven - Vereine als Wohlfahrtsproduzenten einerseits und als zivilgesellschaftliche Akteure andererseits - unter der „Klammer" des Dritten Sektors. Hiermit wird weniger eine terminologische, sondern eher eine heuristische Zuordnung vorgenommen. Zum Dritten Sektor zählen all jene Organisationen, die aufgrund des „Non-distribution Constraint" wie infolge 1
Weber , Gesammelte Aufsätze. Siewert , Zur Thematisierung des Vereinswesens; Zimmer , Vereine. 3 Vgl. Putnam , Making Democracy Work; Benhabib, Political Theory; Kocka , Zivilgesellschaft. 4 Vgl. Salamon, The Voluntary Sector; Evers/Olk (Hrsg.j, Wohlfahrtspluralismus; Priller/Zimmer , Wohin geht der Dritte Sektor? 2
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ihrer Handlungslogiken - Solidarität und Demokratie - Zuordnungsprobleme zu den Konkurrenzsektoren „Markt" und „Staat" bereiten. In Deutschland deckt der Dritte Sektor ein breites Spektrum von Organisationen ab, das von den Wohlfahrtsverbänden, über das klassische Vereinswesen der Sport-, Kultur- und Hobbyvereine, 5 bis hin zu den international tätigen Non-Governmental Organizations reicht. 6 Da Dritte-Sektor-Organisationen in Deutschland überwiegend in der Rechtsform des eingetragenen Vereins organisiert 7 sind, ist Dritte-SektorForschung hierzulande nahezu deckungsgleich mit Vereinsforschung. 8 Sowohl im Zuge der Zivilgesellschaftsdebatte wie auch im Umfeld der Diskussion zur Reform wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungserstellung werden mit Vereinen als Dritte-Sektor-Organisationen weitreichende Hoffnungen verbunden. Auf dem Weg zur Wohlfahrtsgesellschaft gelten sie als Alternative zur klassisch staatlichen Wohlfahrtsproduktion. Gleichzeitig zählen sie angesichts des Vertrauensverlustes in politische Institutionen und Parteien als bürgernahe Vereinigungen zur Avantgarde im Dienst der Erneuerung, Vertiefung und Weiterentwicklung der Demokratie. Vor dem Hintergrund dieses vergleichsweise umfassenden Erwartungshorizontes stellt sich die Frage, ob Vereine die in sie gesetzten Erwartungen auch tatsächlich erfüllen können. Im Folgenden wird versucht, dieser Frage ein Stück weit nachzugehen, wobei insbesondere auf die zivilgesellschaftliche Kompetenz von Vereinen als DritteSektor-Organisationen abgehoben wird. M i t Zivilgesellschaft wird in diesem Kontext kritisches Selbstverständnis in Verbindung gebracht bzw. auf das Potential der Organisationen Bezug genommen, einen Gegenentwurf zum gesellschaftlich-politischen Status quo zu entwickeln.9 Vorgestellt werden ausgewählte Ergebnisse der Organisationsbefragung „Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel", die Ende der 1990iger Jahre im Rahmen der deutschen Teilstudie des international vergleichenden Johns-Hopkins-Projektes durchgeführt wurde, 10 und deren Ergebnisse einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Vereinsrealität in Deutschland vermitteln. Behandelt werden Entwicklungstendenzen und Problemhorizonte von Vereinen in den Bereichen Kultur, Sport, Umwelt- und Naturschutz, internationale Aktivitäten, Gesundheitswesen 5
Best (Hrsg.), Vereine in Deutschland. Frantz/Zimmer (Hrsg.), Zivilgesellschaft international. 7 Zimmer, Vereine. 8 Zimmer, Vereine; Anheier et al. (Hrsg.,), Dritte Sektor in Deutschland; Zimmer/ Friller, Gemeinnützige Organisationen. 9 Vgl. Sachße, Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements, S. 23. 10 Eine detaillierte Beschreibung der methodischen Vorgehensweise und Darstellung der Ergebnisse der Deutschlandstudie des Johns-Hopkins-Projektes finden sich in Priller/Zimmer, Wohin geht der Dritte Sektor? und Zimmer/Priiier, Gemeinnützige Organisationen. Die Organisationsbefragung wurde dankenswerterweise durch Mittel der Hans Böckler Stiftung unterstützt. 6
Vereine
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und soziale Dienste. Da die Frage nach dem zivilgesellschaftlichen Potential von Vereinen im Vordergrund steht, wird im Besonderen das Verhältnis Staat Vereine fokussiert.
I I . Zur Organisationsbefragung: „Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel" Um ein differenziertes Bild von der Meso-Ebene der Dritte-SektorOrganisationen zu gewinnen, wurde im Rahmen der deutschen Teilstudie des Johns-Hopkins-Projektes, dessen Zielsetzung primär in der Erfassung des Sektors auf der Makro-Ebene im Sinne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bestand,11 eine postalische Befragung von Dritte-Sektor-Organisationen durchgeführt, wobei explizit zur aktuellen Problemperzeption sowie nach der Einschätzung der gegenwärtigen und künftigen Situation gefragt wurde. 12 Der Befragung wurde die im Rahmen des Hopkins-Projektes entwickelte operationale Definition der Dritte-Sektor-Organisationen 13 sowie die International Classification of Nonprofit Organizations (ICNPO) 14 als differenzierte Taxonomie der Tätigkeitsbereiche der Organisationen zugrundegelegt. 15 Die postalische Befragung „Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel" wurde im Frühjahr/Sommer 1998 durchgeführt. Die Adressenermittlung der Organisationen erfolgte durch ein mehrstufiges Verfahren. Mit Hilfe einschlägiger Adressverzeichnisse, wie etwa des Handbuchs des öffentlichen Lebens (Oeckl) oder des Hoppenstedt, sowie dank der Unterstützung der Dach- und Spitzenverbände des deutschen Dritten Sektors (angefangen bei den Wohlfahrtsverbänden über den Sportbund bis hin zum Naturschutzbund), wurden die Adressen der Mitgliederorganisationen auf Länder- sowie Ortsebene ermittelt. Abgesehen von einigen wenigen Bereichen, für die Gesamtverzeichnisse aller Organisationen zur Verfügung standen, wurden pro Bereich die Adressen
11 Zimmer/Priller, Der Dritte Sektor; Friller et al., Entwicklungen, Potentiale, Erwartungen. 12 Zimmer/Priller, Gemeinnützige Organisationen. 13 Priller/Zimmer, Wohin geht der Dritte Sektor? S. 13. 14 Salamon/Anheier, The question of Definitions; Salamon/Anheier, The problem of Classification. 15 Priller/Zimmer, Wohin geht der Dritte Sektor? S. 14. Folgende Tätigkeitsbereiche wurden gebildet: Kultur und Erholung, Bildung und Forschung, Gesundheitswesen, Soziale Dienste, Umwelt- und Naturschutz, Wohnungswesen und Beschäftigung, Vertretung von Bürger- und Verbraucherinteressen, Stiftungen, Internationale Aktivitäten, Wirtschafts- und Berufsverbände inkl. Gewerkschaften. Ferner wurde für jeden Bereich eine Untergliederung nach Tätigkeitsfeldern - hier konnten sich die Organisationen einem oder mehreren zuordnen - entwickelt.
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jeweils von einem ost- und zwei westdeutschen Landes- bzw. Regionalverbänden berücksichtigt. Auf der Grundlage dieser Informationen wurde eine Adressdatenbank erstellt. Insgesamt wurden über 8.000 Fragebögen verschickt. Mit 2.240 verwertbaren Fragebögen konnte eine für diese Erhebungsform akzeptable Rücklaufquote von 28 Prozent erreicht werden. Von den 2.240 befragten Organisationen war die überwiegende Mehrheit (knapp 90%) in der Rechtsform des Vereins organisiert. Die folgenden Betrachtungen basieren auf den Ergebnissen der Organisationsbefragung, wobei unterschiedliche Arbeitsfelder von DritteSektor-Organisationen in den Blick genommen werden. Während es sich bei Kultur und Sport um eher klassische Bereiche von Vereinstätigkeit handelt, haben der Natur- und Umweltschutz sowie die Internationalen Aktivitäten erst in jüngster Zeit im Zuge der neuen sozialen Bewegungen an Bedeutung gewonnen, während das Gesundheitswesen und Soziale Dienste sehr traditionsreiche Arbeitsbereiche von Vereinen darstellen, die als Mitgliederorganisationen der Wohlfahrtsverbände heute in hohem Maße in die sozialstaatliche Dienstleistungserstellung eingebunden sind.
I I I . Vielfalt und Dynamik - Vereine in ausgewählten Bereichen Die Ergebnisse der Organisationsbefragung zeichnen ein facettenreiches Bild der Vereine als Dritte-Sektor-Organisationen in Deutschland. Wie im Folgenden gezeigt wird, unterscheiden sich die Vereine bereichspezifisch hinsichtlich Größe, Professionalisierungsgrad, Finanzierungsstruktur und zum Teil auch Problemperzeption.
1. „ Kultur hat Konjunktur " Dieses Bonmot wurde durch die Ergebnisse der Organisationsbefragung mit Blick auf die Kulturvereine bestätigt. Bei den befragten Organisationen handelte es sich mehrheitlich um junge Vereine, die überwiegend (57%) erst nach 1979 entstanden waren. Zum Bild eines Kulturbereichs, der sich im Aufwärtstrend befindet, passt auch, dass die Kulturvereine über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügten. Gemäß den Ergebnissen der Befragung waren diese mehrheitlich (82%) der Meinung, dass ihre Bedeutung für die Gesellschaft in Zukunft zunehmen oder zumindest gleich bleiben wird. Nachhaltig bestätigen die Ergebnisse der Organisationsbefragung den Öffentlichkeitsbezug der Kulturvereine. Eindeutig stimmten die befragten Organisationen der Einschätzung zu, dass gemeinnützige Organisationen die Garantie einer offenen Gesellschaft darstellen und diese Organisationen auch Minderheiten und Andersdenkenden
Vereine
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eine Stimme geben. Der nichtstaatliche Kulturbetrieb - also die Kulturvereine zeichnet sich durch einen vergleichsweise geringen Verberuflichungsgrad aus (vgl. Abb. 1). Vollzeitbeschäftigung ist hier eher die Ausnahme. Demgegenüber kommt Teilzeitarbeit sowie Honorarkräften wie auch geringfügig Beschäftigten und ABM-Kräften ein beachtlicher Stellenwert zu. Gefragt nach ihrer Einschätzung der Beschäftigungsentwicklung äußerten sich die Kulturvereine retrospektiv wie auch prospektiv zwar verhalten, aber dennoch überwiegend positiv. Insgesamt gingen die Kulturvereine von einer stabilen Beschäftigungssituation aus (vgl. Abb. 1).
Honorarkräfte
%
0
10
20
30
40
50
60
Quelle: WWU Münster / WZB - Organisationserhebung 1998 Abbildung 1: Beschäftigungsstruktur im Kulturbereich
Dies ist erstaunlich, da die Kulturvereine gleichzeitig in hohem Maße über finanzielle Probleme klagten. Eine deutliche Mehrheit von 59 Prozent der Kulturorganisationen gab an, gegenwärtig oder in den letzten Jahren in finanziellen Schwierigkeiten gewesen zu sein. Auf die Frage nach den Ursachen der finanziellen Schwierigkeiten wurde von den Vereinen schwerpunktmäßig auf den Abbau der kommunalen Förderung verwiesen. Die Ergebnisse der Organisationsbefragung bestätigen ferner, dass der Bereich Kultur in Deutschland maßgeblich von den Kommunen geprägt wird. Von den befragten Kulturvereinen war die überwiegende Mehrheit (78%) nur lokal tätig. Zweifellos stellt die problematische Entwicklung der kommunalen Haushalte die Organisationen vor gravierende Probleme. Vor diesem Hintergrund ist leicht nachzuvollziehen,
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dass das Verhältnis zum Staat bzw. zu den öffentlichen Händen von den Vereinen als problematisch und reformbedürftig angesehen wurde. Gefragt, mit welchen Problemen sie sich gegenwärtig konfrontiert sehen, wurde zum einen auf finanzielle Engpässe verwiesen, zum anderen aber der Mangel an politischen Konzepten herausgestellt, die „keine Möglichkeit(en) zusätzlicher Finanzierung" eröffnen, sondern sich vielmehr durch „zu starke(n) Verrechtlichung" auszeichnen und damit nichts tun, um „fehlende steuerliche Anreize für Spenden" sowie den „Mangel an Kontakten zu potentiellen Geldgebern" zu beseitigen. Aus der Sicht der Kulturvereine ist die Kritik an der Politik zu übersetzen in die klare Forderung nach einer Überprüfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen.
2. „ Sport ist im Verein am schönsten " Dieses Motto des Deutschen Sportbundes, des Dachverbandes des organisierten Sports in Deutschland, hat statistisch betrachtet einen wahren Kern. Sportvereine sind der Vereinstyp, der in der Gunst der Bundesbürger ganz oben rangiert. Mit 27 Millionen Mitgliedschaften in 87.000 Vereinen zählt der Deutsche Sportbund zu den größten deutschen Mitgliederorganisationen. 16 Die Ergebnisse der Organisationsbefragung zeichnen ein facettenreiches Bild der Sportvereine. So weist die Stichprobe von 260 in der Organisationsbefragung erfassten Sportvereine eine breite Streuung hinsichtlich des Alters und der Größe der Vereine auf. Etwas vereinfacht kann man unterscheiden zwischen älteren, eher großen Mehrspartenvereinen und jüngeren, eher kleinen Vereinen, die sich nicht selten auf eine Sparte des Sporttreibens, wie etwa Fußball oder Jogging, konzentrieren. Gemäß den Ergebnissen der Organisationsbefragung sind sich Sportvereine ihrer gesellschaftlichen Bedeutung durchaus bewusst. Bezug genommen wird hierbei insbesondere auf die integrativen Qualitäten der Vereine. So erhielt die Aussage „Gemeinnützige Organisationen sind der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält" und „Organisationen wie die unsere schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das staatliche Einrichtungen nicht erbringen können" von den Sportvereinen 90-prozentige Zustimmungswerte. Bestätigt wurde ferner der enge lokale Bezug der Sportvereine. Fast alle befragten Sportvereine sahen ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf lokaler und regionaler Ebene (94%). Auch das hohe ehrenamtliche Engagement, das Sportvereine bündeln, spiegelt sich in den Ergebnissen. 58 Prozent von den 260 befragten Sportvereinen beschäftigten keinerlei Hauptamtliche, die übrigen zum deutlich überwiegenden Teil Honorarkräfte. Insofern ist berufliche Arbeit im Sportverein mehrheitlich eine nebenberufliche oder quasi freiberufliche Tätig16
Vgl. Emrich et al, Die Sportvereine.
Vereine
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keit und nimmt nur selten die Form eines klassischen Angestelltenverhältnisses an (vgl. Abb. 2).
Honorarkräfte
geringfügig
Datenbasis: WWU Münster / WZB - Organisationserhebung 1998 Abbildung 2: Beschäftigungsverhältnisse im Sportbereich
Vor diesem Hintergrund wird einerseits verständlich, warum die befragten Sportvereine von einer eher positiven Beschäftigungsentwicklung ausgingen, wobei sich diese positive Einschätzung auch auf das Segment der Vollzeitbeschäftigung bezog, andererseits die Gewinnung und der reibungslose Einsatz Ehrenamtlicher von den Sportvereinen als problematisch und krisenbelastet wahrgenommen wurde. Deutlich mehr als die Hälfte der befragten Sportvereine sahen sich mit „Schwierigkeiten bei der Anwerbung Ehrenamtlicher/Freiwilliger" konfrontiert. Fast jede dritte Organisation klagte über „Probleme beim Einsatz Ehrenamtlicher und freiwilliger Mitarbeiter". Diese Problemsicht lässt darauf schließen, dass im Segment der ehrenamtlichen und freiwilligen Arbeit in Sportvereinen durchaus Defizite bestehen, wenn auch die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, wie durch den Freiwilligensurvey nachgewiesen, insgesamt in der Bevölkerung eher zugenommen hat. 17 Doch Sportvereine sind nicht nur aufgrund der Ausprägung des ehrenamtlichen Segments in hohem Maße mitgliederorientiert, auch die Finanzierung der Sportvereine wird zu einem großen Teil durch die Mitgliedschaft sichergestellt. Gemäß den Ergebnissen der Organisationsbefragung bestritten die Vereine rund die Hälfte ihrer Etats aus Mitgliedsbeiträgen, weitere 15 Prozent aus eigener wirtschaftlicher Tätigkeit und ein weiteres Zehntel aus Spenden. Öffentliche
17
Rosenbladt, Große Vielfalt; Klages, Die Deutschen.
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Mittel machten etwa 10 Prozent der Finanzierung aus, wobei diese Zuschüsse breit auf die Vereine verteilt waren. Typisch für Sportvereine ist daher eine Mischfinanzierung aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Zuschüssen und eigenerwirtschafteten Mitteln, wobei jedoch den Mitgliedsbeiträgen zweifellos der zentrale Stellenwert zukommt. Trotz hoher Relevanz von Mitgliedsbeiträgen war auch bei den Sportvereinen die „unzureichende und/oder abnehmende staatliche Finanzierung" das am häufigsten wahrgenommene Problem. Demgegenüber fiel die Problematik einer „zu starken Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung" weit weniger ins Gewicht. Gleichwohl nahmen analog zu den Kulturvereinen auch die Sportvereine gegenüber dem Staat eine eher kritische Position ein. In Bezug auf die Rahmenbedingungen von Vereinstätigkeit wurde angemerkt, dass „keine Möglichkeit zusätzlicher Finanzierung" bestehe, und der Staat die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht zufriedenstellend gestalte. Auch die Sportvereine beklagten den „Mangel an politischen Konzepten für den gemeinnützigen Sektor". Besonders bemängelt wurde von den Sportvereinen die „zu starke Verrechtlichung/Bürokratisierung" sowie die „fehlenden Anreize für Spenden und Zuwendungen". Zusammen mit einem „geringen Spendenaufkommen" hat die steuerliche Behandlung von Spenden in der Problemwahrnehmung der Sportvereine einen zentralen Stellenwert.
3. Wachstumsbranchen: Umwelt - und Naturschutz, Entwicklungs- und Menschenrechtsarbeit Der Bereich Umwelt und Naturschutz gehört, ähnlich den Bereichen Kultur und Sport, an sich zu den eher klassischen Feldern von Vereinstätigkeit. Eine ganze Reihe von Vereinen, wie z.B. der bereits 1899 als Bund für Vogelschutz gegründete Naturschutzbund Deutschlands (NABU), können bereits auf eine beachtliche Tradition zurückblicken. Gleichwohl ist die Attraktivität dieses Bereichs in engem Zusammenhang zum Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen, insbesondere der Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung, ab den 1970er Jahren zu sehen. Entsprechend zeigen die Ergebnisse der Organisationsbefragung, dass es sich bei der Mehrheit der Umwelt- und Naturschutzvereine um recht junge Organisationen handelt: 40 Prozent und damit fast jeder zweite der befragten Umweltvereine war zwischen 1976 und 1989 entstanden. Ähnlich wie im Sport und in der Kultur sind Umweltvereine vorrangig „local players". Gemäß den Ergebnissen der Organisationsumfrage waren sechs von zehn Umweltvereinen (62%) auf der lokalen und fast jeder zweite (46%) auf der regionalen Ebene aktiv, obgleich in den Medien vor allem die „global players" der Umweltbewegung präsent sind.
Vereine
419
Trotz ausgeprägter lokaler Bezüge unterscheiden sich Umwelt- und Naturschutzvereine von ihren Pendants im Bereich Kultur und Sport deutlich im Hinblick auf ihre Beschäftigungsstruktur. Im Vergleich zu Sport und Kultur ist das professionelle Segment und damit die Vollzeitbeschäftigung hier deutlich stärker ausgeprägt.
Vollzeit
Teilzeit
geringfügig
ABM
Honorarkräfte
sonstige
%
0
10
20
30
40
50
60
Datenbasis: WWU MünsterAVZB - Organisationserhebung 1998 (n = 2.240) Abbildung 3: Beschäftigungsformen im Umweltbereich 1997
Der beachtliche Anteil an Vollzeitstellen ist ein Indiz für die zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung des Umweltbereichs. 18 Gleichzeitig kam kurzzeitigen und flexiblen Beschäftigungsverhältnissen und geringfügiger Beschäftigung eine wichtige Bedeutung zu. Durch die zunehmende Professionalisierung wird jedoch das Ehrenamt nicht aus den Umweltvereinen verdrängt. Der Bereich bindet nach wie vor in beachtlichem Umfang ehrenamtliches bzw. bürgerschaftliches Engagement. So verfügte die Hälfte der befragten Umweltvereine über kein bezahltes Personal, wobei es sich hierbei mehrheitlich um kleinere Organisationen handelte, während größere Organisationen (mit einem Jahresbudget über 50.000) in der Regel mit Hauptamtlichen arbeiteten. Auch zeichnet sich der Umweltbereich durchaus durch Mitgliederbasierung aus. Neben hochprofessionell arbeitenden Organisationen existieren vor Ort viele kleinere Umwelt- und Naturschutzvereine und -initiativen, die ihren Be-
18
Rucht/Roose , Zur Institutionalisierung von Bewegungen.
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wegungscharakter nicht eingebüßt haben und sich primär als Mitgliedervereinigungen sehen. Auch bei den Umwelt- und Naturschutzvereinen sind es Finanzierungsfragen, die als die zentralen Probleme betrachtet werden. Zwar wird auch hier die „unzureichende Finanzierung durch die öffentliche Hand" als markantes Problem benannt, doch deutlich häufiger wird von Umwelt- und Naturschutzvereinen das „zu geringe Spendenaufkommen" als zentrale Problemquelle angegeben. Als zweiter Problembereich werden „Schwierigkeiten bei der Anwerbung Ehrenamtlicher" genannt. Die Problemwahrnehmung der Umwelt- und Naturschutzvereine ist ein Indiz dafür, dass sich dieser Bereich nicht primär auf eine staatlich/öffentliche Finanzierung hin orientiert. Von den Umwelt- und Naturschutzvereinen wurden die Problemkomplexe „geringe Wahrnehmung der Organisation in der Öffentlichkeit", „der Mangel an Kontakten zu potentiellen Geldgebern" sowie mangelnde Erfahrung im Fundraising wesentlich häufiger angegeben als jene Problembereiche, die direkt politikindiziert sind. In dieser Problemwahrnehmung spiegelt sich die Finanzierungsstruktur des Umweltbereichs wider, der zu einem sehr beachtlichem Umfang (62%) auf selbsterwirtschaftete Mittel und Spenden rekurriert. Dennoch wird die Politik auch von den Umwelt- und Naturschutzvereinen kritisiert. Immerhin beklagte etwa jede dritte befragte Organisation den Mangel an politischen Konzepten, mehr als jede zweite sah im geringen Spendenaufkommen ein zentrales Problem. Das Spendenaufkommen wird jedoch in einem beachtlichen Umfang auch von den betreffenden Rahmenbedingungen, sprich dem Steuerrecht und seinen Anreizen zum Spenden und zum Stiften, bestimmt. Analog zum Bereich Umwelt- und Naturschutz zählt auch der Bereich „Internationale Aktivitäten" gemäß den Ergebnissen des Johns-Hopkins-Projektes 19 zu den Wachstumsbranchen der Vereinstätigkeit. Die gemeinnützigen Organisationen, meist als NGOs bezeichnet, genießen in den Arbeitsfeldern Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, Förderung von Menschenrechten, Völkerverständigung und internationaler Zusammenarbeit zunehmende Relevanz. Insgesamt handelt es sich bei den im Bereich Internationales tätigen Vereinen hinsichtlich der Zahl der Organisationen, Mitarbeiterinnen sowie der Finanzkraft jedoch um ein vergleichsweise kleines Segment des Dritten Sektors, 20 das sich aber durch eine sehr positive Zukunftssicht auszeichnet. So erwarten die hier tätigen Vereine, wobei die befragten Organisationen stark professionalisiert waren und fast alle mit Hauptamtlichen arbeiteten, für die Zukunft häufiger ein steigendes (26%) als ein sinkendes (21%) Beschäftigungsniveau. Dies, obgleich auch die im Bereich Internationales tätigen Vereine eher von fallenden (38%)
19 20
Zimmer/Priller, Zimmer/Priller,
Der Dritte Sektor. Der Dritte Sektor, S. 134.
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als von steigenden (15%) öffentlichen Zuschüssen ausgingen. Allerdings sah es beim prognostizierten Spendenaufkommen in etwa umgekehrt aus. Hier wurde zum Zeitpunkt der Befragung von weiteren Zunahmen ausgegangen. Doch auch die international tätigen Vereine sind nicht frei von Sorgen. Im Vordergrund steht das Problem der geringen öffentlichen Wahrnehmung (48%), ein unbefriedigendes Spendenaufkommen (46%) sowie mangelnde Erfahrung in der Mitteleinwerbung (37%). Den Bereich der internationalen Aktivitäten kennzeichnet allerdings eine weniger staatsfokussierte Sichtweise des Problemhorizontes und insbesondere der finanziellen Schwierigkeiten. Nicht der Staat, sondern vielmehr die allgemeine Öffentlichkeit ist der erste Adressat der Vereine, wenn es darum geht, Finanzlücken zu schließen. Insofern kommt der „geringen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit" bei der Problemsicht der Organisationen auch eine pointierte Position zu. Gleichwohl wird auch hier in puncto Staat der „Mangel an politischen Konzepten" sowie die „zu starke Verrechtlichung/ Bürokratisierung" als problematisch eingeschätzt. Insgesamt nahm in diesem Bereich mehr als jede dritte der befragten Organisationen eine kritische Position gegenüber der Politik und den staatlichen Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit ein.
4. Säulen des Sozialstaates: Die Bereiche Gesundheit und Soziales Die Bereiche Gesundheit und Soziales sind gekennzeichnet vom spezifisch deutschen Sozialstaatsmodell mit seinem Subsidiaritätsprinzip, dem System der Sozialversicherungen und der Indienstnahme der sozialen Vereine, sprich der Wohlfahrtsverbände, für die staatlich organisierte soziale Versorgung. Dennoch zeichnen sich auch diese Bereiche durch Heterogenität aus. Neben hoch professionalisierten, finanziell überwiegend von öffentlichen Leistungen getragenen Großorganisationen einerseits, findet man andererseits kleinere und lokal eingebundene Vereine, die im Wesentlichen auf die Ressourcen freiwillige Leistungen ihrer Mitglieder, eigenerwirtschaftete Mittel und bürgerschaftliches Engagement rekurrieren. Vor dem Hintergrund der Krise des Sozialstaates und der Infragestellung vieler überkommener Strukturen sieht sich der Sozial- und Gesundheitsbereich aktuell vor umfassenden Umbrüchen. Die Krise des Sozialstaates sowie die von der Politik initiierten Änderungen treffen die in diesem Bereich tätigen großen Dienstleister ebenso wie die kleineren Organisationen, die in der Regel alle in mehr oder weniger starkem Umfang auf kommunale Förderung rekurrieren. Dass die Vereine des Sozial- und Gesundheitsbereichs sich mit gravierenden Herausforderungen konfrontiert sehen, wird durch die Ergebnisse der Organisationsbefragung bestätigt.
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11111111 II II 11111 II 111111111 IT^TOT Vollzeit
•
Teilzeit
geringfügig IQ Gesundheitswesen Honorarkräfte
H Soziale Dienste • NPOs insgesamt
sonstige
%
0
10
20
30
40
50
60
70
Datenbasis: WWU Münster / WZB - Organisationserhebung 1998 (n = 2.240) Abbildung 4: Beschäftigungsstruktur Sozial- und Gesundheitsbereich
Eine knappe Mehrheit der befragten Organisationen im Gesundheitsbereich erwartete einen Umbruch in der Struktur der Beschäftigung, von denen eine große Mehrheit einen Abbau von Vollzeitstellen zugunsten von Teilzeitbeschäftigung prognostizierte. Etwas abgeschwächt ergab sich dieses Bild auch im Bereich Soziale Dienste. Insgesamt erwarteten hier über 60 Prozent gleich bleibende und 18 Prozent sinkende Beschäftigtenzahlen; im Gesundheitswesen gingen sogar 40 Prozent von sinkenden und 40 Prozent von gleichbleibenden Mitarbeiterzahlen aus. Mit dieser pessimistischen Einschätzung geht die Erwartung gravierender Änderungen der Finanzierungsgrundlagen einher. Jeweils über 60 Prozent gingen von sinkenden öffentlichen Zuschüssen aus. Über die Entwicklung der kassengetragenen Leistungsentgelte waren die Meinungen gespalten, jedoch überwogen im Gesundheitsbereich die Pessimisten, die auch hier Rückgänge erwarteten. Ein Drittel der befragten Organisationen ging immerhin von steigenden eigenerwirtschafteten Mitteln aus. Demgegenüber waren andere Finanzquellen, wie Spenden oder Sponsoring, von geringer Bedeutung, wenn sie auch für viele kleinere Organisationen durchaus überlebenswichtig sein dürften. Im Bereich Soziale Dienste waren von öffentlichen Mitteln vor allem die überwiegend mit hauptamtlichen Kräften arbeitenden Vereine abhängig, während diejenigen, die ohne hauptamtliche Kräfte tätig sind, auf einen Finanzierungs-
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mix rekurrierten, in dem öffentlichen Mitteln ein eher nachgeordneter Stellenwert zukam. 21 Ein eindeutiges Bild von den besonderen Herausforderungen, die im Bereich der professionalisierten sozialen Dienstleistungen und gemeinnützigen Gesundheitsversorgung bestehen, zeigt der Vergleich von Organisationen mit hauptamtlicher Beschäftigimg aus diesen beiden Bereichen mit eben solchen aus allen anderen Bereichen des deutschen Dritten Sektors (vgl. Abb. 5). Dominierend sind in den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheit wie auch beim Querschnitt der anderen mit Hauptamtlichen arbeitenden Organisationen diejenigen Probleme, die unzureichender oder zurückgehender staatlicher Finanzierung, der starken Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln sowie den staatlich gesetzten Rahmenbedingungen geschuldet sind. Diese Kernprobleme treten im Sozial- und Gesundheitsbereich noch klarer hervor als in den anderen Bereichen, während diejenigen Probleme, die sich auf finanzielle oder personelle Freiwilligenleistungen, das Verhältnis zur Öffentlichkeit oder Schwierigkeiten der Arbeitsorganisation beziehen, nicht deutlich überdurchschnittlich von den Vereinen des Gesundheits- und Sozialbereichs genannt wurden. Zwar lassen sich bei den mit professionellem Personal arbeitenden Organisationen kaum Unterschiede in der Problemperzeption erkennen, allerdings sehen sich die in den Bereichen Gesundheit und Soziales tätigen Vereine jeweils in stärkerem Umfang von den genannten Problemen betroffen. Insgesamt ist hinsichtlich der Problemperzeption der in den Bereichen Gesundheit und soziale Dienste arbeitenden Vereine festzuhalten, dass, je staatsnäher die Organisation agiert, desto problembelasteter das Verhältnis zu Staat und Politik eingeschätzt wird. So wurden von den Vereinen des Gesundheitsbereichs beispielsweise auch die „Unsicherheit der Rechtslage" (22%) sowie die „Einschränkung verbandlicher Interessenvertretung" (16%) als problemrelevant eingeschätzt. Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die „Nähe zum Staat", und zwar als Garant sicherer Finanzierung und Unterpfand einer positiven Organisationsentwicklung, sich inzwischen für die Organisationen nur noch bedingt auszahlt. Doch auch insgesamt lassen die Ergebnisse der Organisationsbefragung darauf schließen, dass das Verhältnis der Dritten-Sektor-Organisationen zum Staat in Deutschland der Revision bedarf. Die Problemsicht der befragten Vereine zeichnete sich durchgängig durch eine kritische Einschätzung der staatlichen Rahmenbedingungen aus. Der Staat, einerseits Förderer von Vereinsaktivitäten,
21 Der Finanzierungsmix der Organisationen setzte sich wie folgt zusammen: 14% öffentliche Mittel, gegenüber 38% Spenden, 18% Mitgliedsbeiträge und 25% eigenerwirtschaftete Mittel.
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zeigt sich andererseits als wenig verlässlicher Partner und Garant geeigneter Rahmenbedingungen.
Unzureichende und/oder abnehmende Finanzierung durch die öffentliche Hand Zu starke Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung Zu starke Verrechtlichung/Bürokratisierung Mangel an politischen Konzepten für den gemeinnützigen Sektor Geringes Spendenaufkommen Keine Möglichkeit zusätzlicher Finanzierung Schwierigkeiten bei der Anwerbung Ehrenamtlicher/Freiwilliger Mangelnde Erfahrung in der Mitteleinwerbung (Fundraising) Mangel an Kontakten zu potentiellen Geldgebern Geringe Wahrnehmung der Organisation in der Öffentlichkeit stark/sehr stark betroffen in %
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Datenbasis: WWU Münster / WZB - Organisationserhebung 1998 Abbildung 5: Problemwahrnehmung von mit hauptamtlichem Personal arbeitenden Organisationen
Trotz bereichsspezifischer Unterschiede hinsichtlich Größe, Finanzierungsstruktur oder Professionalisierungsgrad waren sich die befragten Vereine in einem Punkt einig: Alle identifizierten Staat und aktuelle Rahmenbedingungen als zentrale Problemquellen. Folglich stehen Vereine heute vor der politischen Herausforderung, einen Gegenentwurf zum Status quo zu entwickeln und ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu definieren. Ob und inwiefern die Vereine je-
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doch über das entsprechende Selbstbewusstsein verfugen, eine positiv-kritische Position gegenüber Staat und Politik einzunehmen und eigenaktiv zu werden, wird auf der Basis der Ergebnisse der Organisationsbefragung im Folgenden diskutiert.
IV. Vereine in der Selbstwahrnehmung: Stärken, Schwächen, Abgrenzungskriterien Gemäß den Ergebnissen der Organisationsbefragung sehen sich DritteSektor-Organisationen als dynamische gesellschaftliche Kraft. Diese Selbsteinschätzung lässt zunächst auf eine positive Zukunftssicht der Vereine schließen. Die überwiegende Mehrheit, beinahe 90 Prozent der befragten Vereine, kam auf die Frage, welche Bedeutung die gemeinnützigen Organisationen in der Zukunft haben werden, zu einem sehr optimistischen Urteil. Danach wird die Bedeutung der gemeinnützigen Organisationen als Infrastruktur der Zivilgesellschaft in Zukunft eindeutig zunehmen. Am ausgeprägtesten war die positive Zukunftssicht bei Vereinen der Bereiche Internationale Aktivitäten sowie Umwelt- und Naturschutz. Und trotz angespannter Finanzlage überwog auch bei den Vereinen der Bereiche Soziale Dienste und Gesundheit der Optimismus in Bezug auf die Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Dieser optimistische Blick in die Zukunft geht einher mit dem Selbstbewusstsein einer überwältigenden Mehrheit der Organisationen als gesellschaftlich integrierende, progressive und innovative Kraft, die sowohl kommerziellen Akteuren als auch und insbesondere dem Staat in den jeweils abgedeckten Aufgabenfeldern haushoch überlegen ist: Der Aussage „Ohne gemeinnützige Organisationen würde es viele soziale und politische Errungenschaften nicht geben - Wir bringen die Entwicklung in diesem Land voran" stimmten 90 Prozent der befragten Organisationen „voll" oder „eher" zu. Lediglich drei Prozent der Organisationen vertraten eine entgegengesetzte Meinung, sieben Prozent enthielten sich der Antwort. Mit 96 Prozent war die Zustimmung im Bereich „Internationale Aktivitäten" am größten; doch auch die Bereiche Umweltschutz, Soziale Dienste und Gesundheitswesen wiesen Zustimmungswerte von über neunzig Prozent auf. Vereine sehen sich als wichtige Akteure im Kampf für Toleranz, Gerechtigkeit und Pluralismus: Der Aussage „Gemeinnützige Organisationen sind die Garantie einer offenen Gesellschaft. Wir geben auch Minderheiten und Andersdenkenden eine Stimme" stimmten 83 Prozent zu, sogar 98 Prozent der Entwicklungshilfe» und Menschenrechtsorganisationen und 87 Prozent der Vereine im Bereich Soziale Dienste. In ihrem Selbstverständnis sehen sich die Organisationen als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und als vorrangig an den Bedürfnissen der Menschen orientiertes soziales Korrektiv. Dass Vereine eine
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Vorreiterrolle innehaben, wenn es darum geht, neue soziale Probleme anzugehen, dieser Meinung waren 84 Prozent der befragten Organisationen. Auch hier lag der Bereich Internationale Aktivitäten vorn, doch auch die Zustimmung aus den Bereichen Soziale Dienste und Gesundheitswesen wies Werte von über 90 Prozent auf. Befragt, wie sie sich gegenüber den Konkurrenzsektoren „Markt" und „Staat" definieren, fällt das Ergebnis ebenso eindeutig aus: Während der „Markt" als klare Konkurrenz empfunden wurde, blickte man auf den „Staat" als primär durch Bürokratie gekennzeichnetes Gebilde deutlich herab. So grenzten sich Vereine als gemeinnützige Organisationen gegenüber Firmen und Unternehmen unter Hinweis auf ihre besondere soziale Verantwortung, ihre Kostengünstigkeit und allgemeine Zugänglichkeit sowie ihre besondere Mitgliederbzw. Klientenorientierung ab. Der Aussage „die Leistungen gemeinnütziger Organisationen sind für jeden zugänglich, von hoher Qualität und dennoch kostengünstig, ganz im Gegensatz zu den Angeboten öffentlicher Einrichtungen oder gar kommerzieller Anbieter" stimmten 74 Prozent der Befragten voll oder eher zu. Lediglich 13 Prozent hielten diese Einschätzung für nicht zutreffend. Dem Anspruch, „sich nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht nach ihrem Geldbeutel zu richten, wie es kommerzielle Anbieter tun", werden Vereine nach Meinung einer Mehrheit von 84 Prozent gerecht. „Wir sind stets auf der Suche nach neuen Wegen, unsere Klienten/Mitglieder zufriedenzustellen" traf nach Ansicht von 85 Prozent voll oder eher zu. Während sich hinsichtlich der sozialen Kompetenz und Verantwortung zwischen den Vereinen der betrachteten Bereiche keine gravierenden Unterschiede zeigten, trifft dies hinsichtlich der Einschätzung der eigenen Innovationskraft im Vergleich zu Unternehmen nicht zu. Insgesamt waren 41 Prozent der Befragten der Meinung, innovativer zu sein als die kommerzielle Konkurrenz; ein gutes Viertel vertrat die Gegenposition. Im Bereich Internationales war dagegen eine satte Mehrheit der Meinung, innovativer als kommerzielle Unternehmen zu sein, während im Bereich Gesundheit eine eher skeptische Einschätzung der eigenen Innovationskraft im Vergleich zur kommerziellen Konkurrenz vorherrschte. Doch nicht nur hinsichtlich der Fähigkeit, innovativ tätig zu werden, räumten die Organisationen im Vergleich zu Firmen und Unternehmen Schwachstellen ein. Entsprechendes gilt auch für die Betriebsabläufe und im Hinblick auf ein effizientes Management. Der in der Literatur prominent vertretenen These von den defizitären Dritten-Sektor-Organisationen 22 stimmten die befragten Vereine begrenzt zu. Ein knappes Viertel hielt die These, dass Vereine im Vergleich zur Privatwirtschaft amateurhaft oder dilettantisch arbeiten, für zutreffend. Im stark
22
Seibel , Funktionaler Dilettantismus.
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durch kleinere Mitgliederorganisationen geprägten Bereich Umwelt war diese Meinung besonders verbreitet, doch auch in dem hoch professionalisierten und überwiegend mit Vollzeitbeschäftigten arbeitenden und von sehr großen Organisationen (insbesondere Krankenhäusern) geprägten Bereich des Gesundheitswesens stimmte fast jede fünfte Organisation dieser Einschätzung zu. Gleichzeitig sehen sich die Vereine durch eine stärkere Verbetriebswirtschaftlichung daran gehindert, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Mehr als jede dritte Organisation beobachtete eine zunehmende Ähnlichkeit mit erwerbswirtschaftlichen Unternehmen. Dieser Einschätzung stimmten besonders deutlich mit 80 Prozent die Organisationen im Bereich Gesundheitswesen zu. Im Bereich Soziale Dienste waren 43 Prozent dieser Meinung. Weniger betroffen von der Profilveränderung waren nach eigener Einschätzung die in den Bereichen Umweltschutz und Internationales tätigen Vereine. Hier stimmte nur jede vierte bzw. fünfte der befragten Organisation der Einschätzung zu, dass sie einem erwerbswirtschaftlichen Unternehmen immer ähnlicher würden. Somit lässt sich festhalten, dass sich Vereine für sozial gerechter, kostengünstiger und bedürfiiisorientierter halten, sich jedoch in punkto Innovationskraft sowie im Hinblick auf ein effizientes Management im Vergleich zum Markt häufig eher in der Defensive sehen. Die sicherlich notwendige Abgrenzung zum Markt wird dadurch noch erschwert, dass in der Einschätzung der Organisationen die derzeitige Verbetriebwirtschaftlichung ihrer Organisationsstrukturen mit einer Verschiebung ihres Profils einhergeht und damit letztendlich identitätsgefährdend ist. Im Hinblick auf Innovations- und Integrationsfähigkeit grenzten sich die befragten Vereine klar gegenüber dem Staat ab. Sehr hohe Zustimmungswerte erhielten Aussagen, die gemeinnützigen Organisationen im Vergleich zum Staat besondere Leistungsfähigkeit zuschreiben. Von dieser insgesamt sehr selbstbewussten und positiven Eigeneinschätzung lassen sich nur leichte Abweichungen feststellen. Insgesamt erhielt die Einschätzung „In unserem Bereich sind wir innovativer als öffentliche Einrichtungen" sehr hohe Zustimmungswerte. Gerade auch hinsichtlich der Positionierung gegenüber dem Staat spielt soziale Kompetenz und Integrationsfähigkeit der Vereine eine wichtige Rolle. Besonders nachdrücklich wird die Meinung vertreten, dass die eigene Organisation „viel näher an den Bedürfnissen der Menschen ist als der Staat" und Vereine für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sorgen, das der Staat den Menschen nicht vermitteln kann. Im Durchschnitt stimmten gut 75 Prozent der Organisationen sogar der Aussage zu „Ohne gemeinnützige Organisationen wären Bedürftige ganz auf sich allein gestellt". Im Unterschied zum Markt erscheint die Positionsbestimmung gegenüber dem Staat den Organisationen auf den ersten Blick wesentlich einfacher zu fallen. Der Staat ist für Vereine die zentrale negative Abgrenzungsfolie.
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In unserem Bereich sind wir innovativer als öffentliche Einrichtungen.
Ohne gemeinnützige Organisationen wären Bedürftige ganz auf sich allein
mmmmmmmssm TOjS
gestellt.
I
• Umwelt Organisationen wie die unsere schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das staatliche Einrichtungen nicht erbringen können.
H Soziale Dienste • Gesundheitswesen • I Internationale Aktivitäten • alle Organisationen
Wir sind viel näher an den Bedürfnissen der Menschen als der Staat.
stimme voll/eher zu in %
Datenbasis: WWU Münster / WZB - Organisationserhebung 1998 (n = 2.240) Abbildung 6: Gemeinnützige Organisationen im Vergleich zum Staat
Allerdings basiert die klare Abgrenzung und das Selbstbewusstsein gegenüber dem Staat mitnichten auf einer Position der Stärke. Vielmehr ist das Verhältnis Vereine - Staat insofern hoch problematisch, als einerseits der Staat primär als Problemerzeuger eingeschätzt wird, andererseits sich die Organisationen nicht in der Lage sehen, effektiv etwas zur Verbesserung ihrer Situation bzw. zur Veränderung der Rahmenbedingungen beizutragen. Gefragt nach ihren aktuellen Schwierigkeiten, erhielten die direkt mit Staatstätigkeit in Verbindung stehenden Probleme die höchsten Zustimmungswerte. Vier der sechs meistgenannten Probleme - neben Spenden- und Ehrenamtlichenmangel - aus einer Auswahl von 31 Items wiesen einen direkten Staatsbezug auf: Das eindeutige Top-Problem ist „unzureichende Finanzierung durch die öffentliche Hand"
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(59%), ebenfalls zur Spitzengruppe gehören „zu starke Abhängigkeit von öffentlicher Finanzierung" (39%), „zu starke Verrechtlichung" (42%) sowie „Mangel an politischen Konzepten für den gemeinnützigen Sektor" (36%, Platz
6). Diese Problemperzeption der Vereine lässt ein offensives Lobbying in Richtung Staat als naheliegend erscheinen, doch gerade in dieser Hinsicht, im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, Politik zu beeinflussen, sehen sich die Organisationen eher in einer Position der Schwäche. Insgesamt sahen 40 Prozent der befragten Organisationen ihren politischen Einfluss schwinden. Für die Sozialvereine traf dies sogar für fast jede zweite Organisation zu. Nur die Vereine des Bereichs Internationales schätzten ihre Möglichkeiten, nach wie vor politisch Einfluss nehmen zu können, optimistischer ein. Nun steht die Einschätzung der politischen Einflussmöglichkeiten in einem beinah schon als makaber zu charakterisierenden Verhältnis zur Staatsnähe bzw. Staatsferne der Organisationen. Je staatsnäher die Vereine agieren, desto weniger sehen sie sich in der Lage, politisch Einfluss nehmen zu können. Je weniger eingebunden sie in die sozialstaatliche Dienstleistungserstellung sind, desto positiver schätzen sie ihre Chancen im Hinblick auf ein effektives Lobbying ein. Bezeichnend für die Selbsteinschätzung im Hinblick auf die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit vom Staat waren daher die Antworten auf die Frage, welche Maßnahmen der Verein in einer aktuellen finanziellen Notsituation ergreifen würde. Hier nannten die Vereine des Gesundheitswesens sowie des Sozialbereichs vorrangig die eher klassisch zu nennenden Strategien einer Kontaktaufnahme auf geeigneter politischer Ebene sowie Information des Dachverbandes, während die im Bereich Internationales tätigen Vereine Spendenaufrufen die erste Priorität einräumten und im Bereich Umweltschutz Mitgliederwerbung eine zentrale Rolle spielte. Was bedeutet diese Problemsicht für die zivilgesellschaftliche Rolle der Vereine? Und was lässt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Organisationsbefragung zu ihrer Rolle und Funktion als institutionelle Alternative gegenüber sozialstaatlichen Dienstleistungserstellern sagen?
V. Zusammenfassung: Wohlfahrtsstaatliche Dienstleister versus zivilgesellschaftliche Organisationen Die Ergebnisse der Organisationsbefragung zeichnen ein facettenreiches Bild der Vereine in Deutschland, das nur noch wenige Anklänge an das eher verstaubte Image von Vereinsmeierei und Biedermanntum erkennen lässt. Im Spiegel der Ergebnisse der Organisationsbefragung zeichnet sich die Vereinslandschaft, wie nicht anders zu erwarten, durch Heterogenität aus. Die Vereine in den betrachteten Bereichen unterscheiden sich sowohl in Bezug auf
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die Größe der Organisationen, die Beschäftigungsverhältnisse und Finanzierungsstrukturen wie auch hinsichtlich der Relevanz des ehrenamtlichen Engagements beachtlich voneinander. Über die Bereiche hinweg ist jedoch die lokale Verankerung die gemeinsame Klammer des Vereinswesens. Maßgebliche Unterschiede zwischen den betrachteten Bereichen lassen sich hinsichtlich der Einschätzung der Beschäftigungsentwicklung erkennen. Vereine in den Bereichen Kultur, Sport, Umwelt- und Naturschutz sowie Internationale Aktivitäten sind in ihrer Zukunftssicht im Hinblick auf Beschäftigung wie auch Entwicklung der monetären Ressourcen eher optimistisch gestimmt. Demgegenüber kam bei Vereinen der Bereiche Gesundheitswesen und Soziale Dienste eine eher pessimistische Zukunftssicht zum Ausdruck. Dass Vereine neben der Wahrnehmung von integrativen Funktionen sich als wichtige Dienstleistungseinrichtungen verstehen, denen im Rahmen des Weifare Mix eine ganz zentrale Bedeutung zukommt, daran lassen die Ergebnisse der Organisationsbefragung und insbesondere die Einschätzungsfragen keinen Zweifel. Von ihrem Selbstverständnis her sind Vereine eine institutionelle Alternative zu Markt und Staat. Vereine verstehen sich insofern als Dritte-SektorOrganisationen, die als private Einrichtungen im öffentlichen Interesse und für das Gemeinwohl tätig sind. Versteht man Zivilgesellschaft als „countervailing power" gegenüber Staat und Bürokratie und damit als kritisches Selbstverständnis einer Gemeinschaft, 23 so lassen ferner die kritischen Aussagen der Vereine gegenüber den staatlichen Rahmenbedingungen keinen Zweifel daran aufkommen, dass Vereine die Infrastruktur von Zivilgesellschaft konstituieren. Der Staat in seiner gegenwärtigen Verfasstheit und in Gestalt der Vereinshandeln einschränkenden und/oder befördernden Rahmenbedingungen wird als der zentrale Problembereich eingeschätzt. Allerdings ist die Positionsbestimmung der Vereine gegenüber dem Staat auch in hohem Maße von Ambivalenz geprägt. Einerseits schätzen sie sich dem öffentlichen Sektor gegenüber überlegen ein. Aus ihrer Sicht sind sie innovativer und bürgernäher als öffentliche Einrichtungen. Über alle betrachteten Bereiche hinweg stellten die Vereine ganz besonders ihre Fähigkeit heraus, sich an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Nicht der Staat, sondern die Vereine als gemeinnützige Organisationen sind nach ihrer Einschätzung Garant für sozialen Zusammenhalt. Der Staat wird, besonders ausgeprägt von den im Gesundheitswesen und den Sozialen Diensten tätigen Vereinen, als der primäre Problemerzeuger betrachtet, der für die zunehmende Verrechtlichung und Bürokratisierung verant-
23
Sachße, Traditionslinien, S. 22.
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wortlich ist, nur noch eine unzureichende Finanzierung bereitstellt und sich darüber hinaus zunehmend durch Konzeptlosigkeit auszeichnet. Doch gleichzeitig sehen gerade die hoch-professionalisierten und fest in die wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungserstellung eingebundenen Vereine des Gesundheitswesens und der Sozialen Dienste kaum einen Spielraum für Veränderungen und effektives Lobbying in Richtung Staat. Dies gilt in geringerem Umfang für die Vereine der anderen Bereiche. Zumindest die Vereine im Bereich Internationale Aktivitäten sind auch in punkto Lobbying und hinsichtlich der Einschätzung ihrer Möglichkeiten, politisch Einfluss zu nehmen und lobbymäßig für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen tätig zu werden, deutlich weniger pessimistisch. Da gerade jene Vereine, die in hohem Maße subsidiär tätig sind und aufbauend auf einer langen Tradition intensiver PublicPrivate Partnership sehr eng mit Staat und Verwaltung kooperieren, in ihrer konkreten Zukunftssicht ein eher düsteres Szenario entwerfen, ist die Frage naheliegend, ob die sog. typisch-deutsche Einbettungsstruktur des Vereinswesens unter dem Leitmotiv der Subsidiarität heute noch zeitgemäß ist. Es lässt einiges darauf schließen, dass Vereine ihre Rolle als „countervailing power" und damit als unabhängige Kraft und kritisches Potential besser wahrnehmen können, wenn die Beziehung zum Staat eher auf einer vertragstheoretischbasierten Konzeption als einem konsens-orientierten Ansatz wie dem des Subsidiaritätsprinzips basiert. Während die Aufnahme und Bearbeitung dieses Gedankengangs jedoch weitergehenden theoretischen Überlegungen vorbehalten sei, ist abschließend zum Überblick der Vereinslandschaft zu konstatieren, dass die Ergebnisse der Organisationsbefragung und insbesondere die Problemperzeption der Vereine eine grundlegende Revision des Verhältnisses Staat Vereine nahe legen und insbesondere den rechtlichen Rahmen der Gemeinnützigkeit in Deutschland auf den Prüfstand stellen.
Literatur Anheier, H. et al. (Hrsg.), Der Dritte Sektor in Deutschland, Berlin 1997. Benhabib, S., Political Theory and Political Membership in a Changing World, in: I. Katzelnelson, / H. V. Milner (Hrsg.), Political Science. State of the Disciplin, New York / London 2002. Best, H. (Hrsg.), Vereine in Deutschland, Bonn 1993. Emrich, E. / Pitsch, W. / Papathanassiou, V., Die Sportvereine, Schorndorf 2001. Evers, A. / Olk, Th. (Hrsg.), Wohlfahrtspluralismus, Opladen 1996. Frantz, Ch. / Zimmer, A. (Hrsg.), Zivilgesellschaft international: Alte und neue NGOs, Opladen 2002. Klages, H., Die Deutschen - ein Volk von Ehrenmännern?, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 13, 2000, S. 33- 47.
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Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände im Umbruch des Europäischen Sozialstaatsmodells Karl Gabriel
I. Einleitung: Umriss und Selbstverständnis kirchlicher Wohlfahrtsverbände Mit dem Diakonischen Werk und dem Deutschen Caritasverband gehören die kirchlichen Wohlfahrtsverbände zu den zentralen Akteuren der Wohlfahrtsproduktion in Deutschland. Fasst man ihre getrennt geführte Statistik zusammen, so ergibt sich für das Jahr 2001/2002 folgendes Bild: Zu Caritas und Diakonie gehören zusammen 52.000 Einrichtungen mit insgesamt 2,28 Mio. Plätzen bzw. Betten. Die Zahl der hauptberuflichen Mitarbeiter wird mit zusammen 947.463 angegeben.1 Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im teilstationären und stationären Bereich der Gesundheits-, Alten- und Jugendhilfe. Etwa jedes dritte Krankenhaus in Deutschland ist in Trägerschaft von Caritas oder Diakonie. Hat man bei den genannten Zahlen zu Recht Großkonzerne wie etwa VW oder Daimler/Chrysler vor Augen, so ist zu bedenken, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in eine Vielzahl von rechtlich selbstständigen Einheiten gegliedert sind. Dies trifft für alle sechs in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege zu. Unter den sechs Spitzenverbänden - neben Caritas und Diakonie gehören die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland als Dachverband der jüdischen Gemeinden dazu - bilden die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände eindeutig die Schwergewichte. So haben Caritas und Diakonie jeweils mehr hauptamtliche Mitarbeiter als die übrigen vier Spitzenverbände zusammen. Ihrem Selbstverständnis nach zeichnen sich die Wohlfahrtsverbände in Deutschland durch eine plural geprägte Wertgebundenheit ihrer sozialen Arbeit aus. Sie sehen sich als Partner im Sozialstaat, wobei sie ihre Stellung im Sozialstaat dem Subsidiaritätsgedanken nach zu bestimmen suchen und entsprechend
1 Bangert, Wohin bei der Caritas der Trend geht, S. 19 u. 25; Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) y Einrichtungsstatistik, S. 5.
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Karl Gabriel
in der Aufgabenerfüllung für die gesellschaftlichen Selbsthilfekräfte einen Vorrang vor dem Staat beanspruchen, ohne ihn allerdings aus der verfassungsmäßigen Verpflichtung zur Daseinsvorsorge und -fürsorge entlassen zu wollen. 2 Gemeinsam beanspruchen sie „Gemeinwohl-Agenturen", „Anwalt der Betroffenen" und „soziale Dienstleistungsanbieter" in einem zu sein.3 Gleichzeitig betrachten die beiden kirchlichen Wohlfahrtverbände ihre Arbeit als „Wesensäußerungen" ihrer Kirche, d.h. als konstitutiv für das Leben ihrer Kirche und sehen sich deshalb an eine spezifische kirchliche Identität gebunden.4
II. Der religiöse Faktor in der deutschen Wohlfahrtspflege Wie kein anderes Land in Europa hat Deutschland eine duale Wohlfahrtspflege ausgebildet.5 Die vergleichende Forschung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in den Industriestaaten hat erst spät den religiös-kirchlichen Faktor in ihre Analysen einbezogen. Inzwischen wächst aber die Einsicht, dass der religiös-kirchliche Faktor für die Spezifika des deutschen Wohlfahrtsstaats eine konstitutive Rolle gespielt hat.6 In Deutschland überschneiden und überlagern sich historisch wie in keinem anderen Land zwei gegensätzliche Einflusslinien. Zum einen ist es die für die lutherische Tradition kennzeichnende Staatsnähe, die es in den vom Luthertum geprägten Regionen nicht zum Ausbruch von Kulturkämpfen hat kommen lassen und die - zusammen mit einer starken Arbeiterbewegung und sozialdemokratischen Parteien - für die Ausbildung eines universalistisch ausgerichteten, starken Wohlfahrtstaats weitgehend ohne staatsunabhängige, gesellschaftliche Kräfte in der Wohlfahrtspflege verantwortlich zeichnet. Modell steht hier das nordeuropäische Modell eines universalistisch an der Staatsbürgerrolle orientierten Wohlfahrtsstaats weitgehend ohne korporativ oder intermediär ausgeprägte Wohlfahrtsverbände. Die zweite Einflusslinie ist die auf Überordnung bzw. Eigenständigkeit gegenüber dem modernen Staat bedachte religiös-kirchliche Tradition, die wir einerseits in der calvinistischreformierten und freikirchlichen Variante wie im Katholizismus des 19. Jahrhunderts vorfinden. Der erbittert geführte Kulturkampf zwischen der katholischen Kirche und den Selbstorganisationsformen des katholischen Bevölkerungsteils mit dem preußisch-deutschen Staat und die Stilllegung bzw. Institu-
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Sachße, Subsidiarität. http://www.bagfw.de 4 http://www.diakonie.de; http://www.caritas.de; Gabriel (Hrsg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände. 5 Sachße, Verein. 6 Hierzu und zum Folgenden siehe: Heidenheimer, Secularization Patterns; van Kersbergen, Social Capitalism; Manow, The Good; Gabriel, Obsiegt das amerikanische Modell? 3
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tionalisierung dieser Konfliktlinie gehören deshalb zu den historischen Wurzeln des deutschen Wohlfahrtsstaats mit seiner ausgeprägt dualen, von Gesellschaft und Staat getragenen Wohlfahrtspflege. Zusammen mit der Konkurrenzsituation zwischen katholischer und sozialistischer Arbeiterbewegung und christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien hat diese Konstellation zur Ausprägung eines quasi-universalistischen, versicherungsstaatlich ausgeprägten Wohlfahrtsregimes mit einer starken Stellung kirchlicher Wohlfahrtsverbände in Deutschland gefuhrt. 7 Es lohnt sich, einen Blick auf die katholische Tradition in Deutschland zu werfen, in der Distanz und Nähe zum Staat sich auf charakteristische Weise verschränkten.
I I I . Der caritative Aufbruch der Katholiken und die duale Wohlfahrtspflege in Deutschland Im Aufbruch der Katholiken in der postrevolutionären Gesellschaft des 19. Jahrhunderts spielte von Anfang an das caritative Engagement eine bedeutsame Rolle. 8 Den Anfang machten die in vielen Städten des Deutschen Reiches - so etwa in Koblenz, Aachen und Paderborn - sich bildenden „Caritaskreise". Waren die Caritaskreise noch sehr locker organisiert, so nahmen in einer zweiten Welle von Neugründungen die Vinzenz- und Elisabethenvereine schon einen festeren Institutionalisierungsgrad an. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich in schneller Folge zumeist auf der Ebene der Pfarreien angesiedelte Hilfevereine als Teil des katholischen Vereinswesens. Der Typus der caritativen Vereine innerhalb des katholischen Vereinswesens nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Formen an. Es entstanden lokale Vereinigungen für Krankenpflege, Kinderbetreuung, Hospitäler, Hospize und Altersheime, oft in Verbindung mit weiblichen Orden und Kongregationen. In den Städten konnte das Geflecht caritativer Vereine mit ihren Leitfiguren des Kaplans als „Bettelgenie"9 und der Ordensschwester eine hohe Dichte annehmen und im Kampf gegen die proletarische Armut einige Wirksamkeit entfalten. Auf dem Höhepunkt des katholischen Vereinswesens im Jahr 1912 wird die Zahl der Mitglieder caritativer katholischer Vereine mit 588.000 angegeben.10 Neben Caritaskreisen und caritativen Vereinen bildeten die Schwesternkongregationen zentrale Knotenpunkte im caritativen Netzwerk des 19. Jahrhun-
7
Aust!Leitner/Lessenich, Konjunktur und Krise. Zum Folgenden siehe:. Aschoff, Von der Armen- zur Wohlfahrtspflege; Mooser, Das katholische Milieu; Frie, Zwischen Katholizismus und Wohlfahrtsstaat. Der Textabschnitt greift auf Formulierungen zurück in: Gabriel, Die religiösen Wurzeln. 9 Mooser, Das katholische Milieu, S. 68. 10 Mooser, das katholische Milieu, S. 74. 8
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derts. 11 Die Suche nach Eigenständigkeit im caritativen Katholizismus kam besonders nachdrücklich in der Errichtung von Anstalten in eigener kirchlicher Trägerschaft zum Ausdruck. Typischerweise konzentrierte sich die Errichtung eigener Anstalten auf den nordwestdeutschen Raum, wo seit den „Kölner Wirren" 1837 das caritative Engagement zu einem bevorzugten Ausdruck katholischer Selbstvergewisserung und Selbstbewusstseins gegenüber dem protestantisch geprägten preußischen Staat wurde. Da man bei Reorganisationen oder Neugründungen von Anstalten unter keinen Umständen auf Ordensschwestern verzichten wollte, blieb häufig nur der Weg über eigene Häuser. Als Initiatoren zur Errichtung kirchlich getragener Einrichtungen für Alte, Kranke und Kinder traten örtliche Caritaskreise, Vereine und Komitees, Pfarrerpersönlichkeiten und Ordensgemeinschaften hervor. Gab es im Deutschen Reich 1850 schon 43 katholische Hospitäler, so kam es bis 1870 zu 250 weiteren Gründungen. Nach mäßigem Wachstum im Jahrzehnt des Kulturkampfs schwoll die Zahl der Neugründungen zwischen 1881 bis 1910 auf 392 an. Die caritativen Vereine repräsentierten eine kirchlich gebundene private Wohltätigkeitsbewegung im Gegenüber zur öffentlichen Armenhilfe. Insbesondere in Rheinland und Westfalen pochte die Bewegung auf die Unabhängigkeit und Freiheit des kirchlichen Engagements gegenüber staatlichem Einfluß. In den 80er und 90er Jahren waren es dieselben Kräfte, die auf der einen Seite die spitzenverbandliche Organisation und Modernisierung des caritativen Katholizismus betrieben und auf der anderen Seite im Katholizismus konsequent Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit als Lösungsweg für die soziale Frage verfolgten und durchsetzten. 12 Als Plattform beider Bestrebungen kam dem Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde „Arbeiterwohl" eine strategische Bedeutung zu. 1880 vom sozialreformerischen Unternehmer Franz Brandts in Aachen gegründet, entwickelte sich der nie mitgliederstarke Verband unter seinem Generalsekretär Franz Hitze zum „brain trust" und Katalysator entscheidender Entwicklungen im Katholizismus. Auf seine Initiative ging sowohl die Gründung des deutschen Caritasverbands als auch die des Volksvereins für das katholische Deutschland als der sozialpolitischen Kaderschmiede des deutschen Katholizismus zurück. 13 Die Programmformel für die Neuorganisation des caritativen Katholizismus tauchte zum ersten Mal auf der Generalversammlung des Verbands Arbeiterwohl 1891 auf: Sie lautete „Mehr Organisation, mehr Publikation". Man sah die dringende Notwendigkeit, aus dem ungeregelten, manchmal chaotischen Nebeneinander katholischer Liebestätigkeit ein koordiniertes und organisiertes Miteinander zu machen. Nur so könne
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Gatz y Kirche und Krankenpflege; Schafferl Gatz, Sozial-caritativ tätige Orden. Lohr, „Arbeiterwohl"; Nikles, „Mehr Organisation, mehr Publikation"; Böhme, Der Verband Arbeiterwohl. 13 Kaiser, Die zeitgeschichtlichen Umstände; Kaiser, Katholischer Neuaufbruch. 12
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der caritative Katholizismus mit den Entwicklungen innerhalb der protestantischen „Inneren Mission" und der öffentlichen Wohltätigkeit Schritt halten. Darüber hinaus müsse die katholische Liebestätigkeit aus ihrer Verborgenheit heraus publizistisch an die Öffentlichkeit treten. In Lorenz Werthmann fanden die Vordenker des Verbands „Arbeiterwohl" einen Vollstrecker ihrer Ideen, der gegen viele Widerstände die schnelle Gründung des Caritasverbands für das katholische Deutschland 1897 in Köln durchsetzte. 14 War die Zentrumsfraktion in den 80er Jahren über den Reichszuschuß zu den Sozialversicherungen noch so zerstritten, dass nur eine Minderheit dem Gesetz zur Invaliden- und Alterssicherung zustimmte und ihm damit erst zur Annahme verhalf, 15 so wurde in den folgenden Jahren unter dem Einfluß Franz Hitzes und Georg von Hertlings die katholisch-soziale Bewegung bis in ihren parteipolitischen Arm hinein zum wohl kontinuierlichsten Befürworter einer sozialstaatlichen Lösung der sozialen Frage. In deutlicher Revision seiner frühen Ideen einer Art „Stände-Sozialismus" schrieb Franz Hitze 1887: „Als von Gott gesetzter , Träger der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt4 hat der Staat die persönliche Integrität des Arbeiters' zu schützen und seine »wirtschaftliche Existenz' zu sichern. ,Der Schutz der Persönlichkeit ist die Aufgabe der so genannten Arbeiterschutz-Gesetzgebung 4, die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz ist das Ziel der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung 44.16 Zu einer der Schlüsselfiguren auf dem Weg zur „dualen44 Wohlfahrtspflege in Deutschland wurde der langjährige Direktor an der Zentralstelle des Volksvereins in Mönchengladbach Heinrich Brauns. 17 Schon 1918 trat Brauns für eine bewußt überkonfessionelle, demokratisch und sozial orientierte Partei-Neugründung ein, die in eine Arbeitsgemeinschaft mit der Sozialdemokratie zur demokratischen Neuordnung Deutschlands eintreten solle. 1920 bis 1928 stand das Reichsarbeitsministerium unter seiner Leitung. In ihm wurden die Weichen zur „dualen44 Wohlfahrtspflege in Deutschland gelegt. 18 Ihren Höhepunkt erreichte die duale Wohlfahrtspflege in Deutschland während 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zu derselben Zeit, als in der Bundesrepublik ein Entkirchlichungsschub mit einem Rückgang der Kirchgangshäufigkeit, schnell anwachsenden Austrittszahlen und einem Einflußverlust der Kirchen auf die Politik einsetzte, stieg die Zahl der Mitarbeiter der Caritas exorbitant an. Für das Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980 verzeichnet die Statistik einen histo-
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Wollasch, Lorenz Werthmann. Aschoff,\ Von der Armen- zur Wohlfahrtspflege, S. 75. Stegmann, Franz Hitze, S. 34. Mockenhaupt y Weg und Wirken. Sachße, Verein, S. 132ff.
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risch einmaligen Wachstumsprozess. 19 Im Jahr 1950 waren in der verbandlichen Caritas in der Bundesrepublik insgesamt rund 106.000 Vollzeit- und Teilzeitkräfte beschäftigt. Zwischen 1950 und 1960 stieg diese Zahl auf 137.500 an; dies bedeutete einen prozentualen Zuwachs von knapp 30%. In den Jahren zwischen 1960 und 1970 erhöht sich der Personalbestand des Verbands bis auf die Zahl von 191.229, eine Zuwachsrate von 39%. Zwischen 1970 und 1980 bewegte sich die Zahl der hauptberuflichen Mitarbeiter von 191.229 auf 283.329 nach oben, was einen Rekordzuwachs von insgesamt 48% bedeutete. Zwischen 1980 und 1990 ging die Personalausweitung zwar weiter - 1990 sind es insgesamt 347.566 Mitarbeiter - die Zuwachsrate sank aber auf 23% ab, berücksichtigt man die wachsende Zahl von Teilzeitbeschäftigungen, so lag die Zuwachsrate bei 18%. Im Zeitraum zwischen 1970 und 1990 ging gleichzeitig die Zahl der Ordensangehörigen unter den in der Caritas Tätigen rapide von 54.500 auf 21.000 zurück. Prozentual bedeutet dies einen Rückgang von beinahe 30% im Jahr 1970 auf 6% im Jahr 1990. Nimmt man den Zeitraum von 1950 bis 1994 in den Blick, so reduzierte sich der Anteil der Ordensangehörigen von 57% auf 4%. Die Personalstruktur des Caritasverbands hat sich seit 1970 radikal zugunsten von Nicht-Ordensangehörigen verändert.
IV. Kirchliche Wohlfahrtsverbände zwischen Staat, Markt, Familie und Kirche In der Entwicklung der Caritas, die im Bereich der Diakonie ihre Entsprechung findet, spiegeln sich eine Reihe von Entwicklungen wider, die für das Paradox von gleichzeitiger Entkirchlichung und Expansion kirchlicher Wohlfahrtsverbände verantwortlich zeichnen. Eine erste Entwicklung ist mit der zunehmenden Verflechtung zwischen Staat und gesellschaftlichen (Interessen-)Verbänden angesprochen.20 Zur wechselseitigen Verflechtung gehört die Auslagerung staatlicher Aufgaben in den gesellschaftlichen Bereich ebenso wie die Beeinflussung der staatlichen Gesetzgebung durch das verbandliche Interessenhandeln, aber auch die öffentliche Bezuschussung und Finanzierung verbandlichen Handelns. Gleichzeitig beanspruchen die Verbände anwaltliche Funktionen ihrer Klienten und Mitglieder gegenüber der Öffentlichen Hand und in die Gesellschaft hinein wahrzunehmen. Sie wollen die Anliegen und Interessen ihrer Klienten und Mitglieder nach oben, zum Staat hin, vermitteln und durchsetzen, gleichzeitig sehen sie sich 19 Bühler, Caritas 1913-1970; ders., Die katholischen sozialen Einrichtungen; ders., Die Statistik der Caritas; Speckert, Die Statistik der Caritas; Rauschenbach/Schilling, Die Dienstleistenden. 20 Olk, Zwischen Korporatismus und Pluralismus; Gabriel, Caritas angesichts fortschreitender Säkularisierung.
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Erwartungen ausgesetzt, Vermittlungsleistungen staatlicher Interessen nach unten hin zu erbringen. Diakonie und Caritas wie auch die übrigen Wohlfahrtsverbände haben von Beginn an solche vermittelnden Funktionen zwischen Gesellschaft und Staat wahrgenommen; diese Leistungen haben zwischen 1970 und 1990 erheblich zugenommen, heute allerdings stagnieren sie eher und werden politisch gewollt und gezielt unter Marktdruck gesetzt. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände beziehen zweitens ihre gesellschaftliche Position aus ihrer spezifischen Zwischenstellung, die sie im System sozialer Dienste einnehmen. Sie gehören weder zur Sphäre öffentlich-staatlichen Handelns, noch können sie einfach den Prinzipien eines gewinnorientierten Marktanbieters folgen. Gleichzeitig überschreiten sie als organisierte Hilfe den Bereich des Helfens von Mensch zu Mensch in Familie und informellen Gruppenbezügen. Auf der einen Seite haben sie ihre konstitutiven Wurzeln in ihrer religiös-kirchlichen Identität, auf der anderen Seite reichen sie mit ihren Dienstleistungen in die Sphären von Staat und Markt hinein. Ihr spezifisches Profil gegenüber Staat und Markt gewinnen Diakonie und Caritas, indem sie, anders als öffentliche Ämter und gewerbliche Unternehmungen, Prinzipien solidarischen Helfens in das System sozialer Dienstleistungen einbringen. 21 Neuerdings kommen in horizontaler Perspektive die kirchlichen Wohlfahrtsverbände als Akteure des so genannten „Dritten Sektors" in den Blick. Organisationstheoretisch lassen sie sich zu einem dritten Typus von Organisationen rechnen, die weder öffentliche Ämter noch gewerbliche Unternehmungen darstellen.22 Ihre Identität ist gebunden an einen eigenen Stil des Handelns mit eigener Motivation und Rationalität, der sich sowohl vom staatlich-hoheitlichen Machthandeln als auch vom Nutzenkalkül kommerziellen Handelns unterscheidet. Sie agieren als so genannte Non-Profit-Organisationen mit besonderer Gemeinwohlverpflichtung in einem dritten gesellschaftlichen Sektor - neben dem Staat auf der einen Seite und dem privatwirtschaftlich organisierten Markt auf der anderen Seite. Gleichzeitig bilden sie eine Brücke zu den auf wechselseitiger Hilfe beruhenden privat-familiären Gemeinschaften und deren Logik solidarischen Handelns. In der Entwicklung der Wohlfahrtsverbände in den letzten Jahrzehnten spiegelt sich der Bedeutungszuwachs eines solchen „Dritten Sektors" wider. In ihrer spezifischen Organisationsform stehen Diakonie und Caritas vor der Aufgabe, verschiedene Handlungslogiken, Motive und Rationalitäten so miteinander zu verbinden, dass sie eine produktive Einheit bilden. Die Stellung und Unverzichtbarkeit der kirchlichen Wohlfahrtsverbände als Akteure des „Dritten Sektors" lässt sich mit Problemen eines Staatsversagens einerseits und eines Marktversagens andererseits, wie auch der engen Funktions- und Leistungsgrenzen informeller Hilfeformen begründen. 21 22
Pankoke, Organisiertes Helfen; ders„Den Menschen nahe sein." Pankoke, Subsidiäre Solidarität; Ebertz, Wohlfahrtsverbände.
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Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände sind von Anfang an nicht nur Akteure einer Wertgemeinschaft gewesen, sondern haben auch zu deren Stabilisierung beigetragen. 23 In einer Phase verschärfter Entkirchlichung erhielt ihre Stabilisierungsfunktion hinsichtlich des kirchlichen Klienteis ein verstärktes Gewicht. Ihr Ort zwischen den Kirchen im Sinne der kirchenamtlichen Struktur und der Gesellschaft hat an Bedeutung gewonnen. Über die verbandlichen Strukturen von Diakonie und Caritas stehen die Kirchen in engen Beziehungen zu Menschen, die sich in ausgesprochen kirchenfernen Milieus bewegen. Das öffentlich relevante, sichtbare soziale Engagement der Kirchen gerade im Einsatz für die nach gesellschaftlich-ökonomischen Kriterien „Nutzlosen" und bei der Bewältigung von letztlich nie glatt „lösbaren" sozialen Probleme gehört zu den wichtigsten Motivgrundlagen, eine positive Bewertung des Glaubens und die Kirchenmitgliedschaft trotz vielfältiger Erfahrungen und Gefühle der Dissonanz mit Glaube und Kirche beizubehalten. Die verbandlich wahrgenommene, diakonische Grundfunktion kirchlichen Handelns erbringt damit für die Kirchen wichtige Integrationsleistungen nach innen wie nach außen. Im Innern vermittelt sie zwischen den auseinanderstrebenden Sektoren der sich zunehmend pluralisierenden Kirchen. Nach außen stellt sie einen Bereich des öffentlichen Lebens dar, in dem Kirche und Gesellschaft neue Verflechtungsformen angenommen haben, die gegenstrukturelle Wirkungen zu Prozessen der Entkirchlichung des übrigen gesellschaftlichen Lebens entwickeln. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände erbringen so Inkulturationsleistungen für die christliche Tradition im Kontext der für moderne Gesellschaften zentralen Wohlfahrts- und Sozialkultur, wie sie gleichzeitig zu den wichtigsten institutionellen Trägern einer solchen Kultur in der Gesellschaft gehören.
V. Prekäre Balance kirchlicher Wohlfahrtsverbände Zur Stellung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände gehören - so die Konsequenz der vorgestellten Überlegungen - eine Vielfalt von Aufgaben- und Funktionsbezügen und Vermittlungsleistungen in einem Spannungsfeld, das sich nicht ohne weiteres nach einer Seite hin auflösen lässt, wollen die Verbände nicht ihren spezifischen Ort, ihre Domäne, ihre historisch gewachsene Identität aufs Spiel setzen. Dies gilt gegenüber dem Druck zur Vermarktlichung von Diakonie und Caritas als Dienstleistungsakteure auf einem mehr oder weniger (unregulierten) Markt, wie auch gegenüber dem Druck, sich den Interessen staatlich-hoheitlichen Handelns zu beugen. Auch der Rückzug auf die Ebene einer charismatisch-informellen Hilfe von Mensch zu Mensch allein würde ihrer Tradition nicht entsprechen. Auch nicht, Diakonie und Caritas von den kirchen23 Ebertz, Dampf im fünften Sektor; Gabriel, Caritas angesichts fortschreitender Säkularisierung, S. 447f.
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amtlichen Strukturen ununterscheidbar zu machen. Ein Nachgeben gegenüber dem Verkirchlichungsdruck müsste nicht nur die Handlungsfähigkeit der Verbände in ihrer Funktion als Anwalt und Dienstleister beeinträchtigen, sondern auch ihre Inkulturationsleistungen in die Gesellschaft hinein gefährden. 24 Die Spannungen, denen sich Caritas und Diakonie in ihrem Beziehungsgeflecht gegenübersehen, nehmen heute an Schärfe eher zu als ab. Vorschläge, dem Spannungsfeld durch eine stärkere innere Differenzierung und Funktionstrennung Rechnung zu tragen, werden vielfach gemacht. Das innere Auseinanderfallen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Teilsysteme, die sich jeweils auf ein Segment konzentrieren, stellt heute einen realen Trend dar. 25 In den Kirchen streben starke Kräfte eine Caritas und Diakonie an, die deren Engagement auf den Bezug zu Kirche und Gemeinde beschränkt wissen wollen und die ein möglichst klar kirchlich geprägtes Profil mit hoch kirchlich identifizierten Mitarbeitern für Caritas und Diakonie anzielen. Wo dies nicht realisierbar erscheint, wie für die katholische Kirche z.B. auf dem Feld der Beratung im Rahmen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, gilt es sich aus bisherigen Arbeitsfeldern zurückzuziehen. Unverkennbar ist in beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden auch die Herausbildung eines Segments, das sich gewissermaßen auf Marktfähigkeit konzentrieren möchte. In dessen Zentrum stehen die großen Einrichtungen insbesondere der Diakonie, die sich inzwischen zu einem QuasiArbeitgeberverband zusammengeschlossen haben. Ähnliche Entwicklungen im Bereich caritativer Einrichtungen sind unverkennbar. 26 Ein drittes Segment bedient weiterhin die staatsnahen Teile des kirchlichen Verbandshandelns mit öffentlicher 100%-Finanzierung und wehrt sich gegen die zunehmende Vermarktlichung der Arbeitsfelder. Ein viertes Teilsegment bilden die vor neuen Herausforderungen der Spezialisierung und Professionalisierung stehenden Aufgabenfelder der Wohlfahrtsverbände, die sich ausschließlich der Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit widmen. Eine solche Segmentierung, falls sie zu zwei oder mehr Diakonien und Caritasorganisationen führen würde, müßte sowohl die historisch gewachsene Identität der kirchlichen Wohlfahrtsverbände gefährden als auch ihre Handlungs- und Integrationsfähigkeit in einer komplexer werdenden Gesellschaft beeinträchtigen. Das Gegenmodell, das in den Kirchen heute noch mehrheitlich Unterstützung findet, geht davon aus, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände gerade in der produktiven Verarbeitung und Vermittlung des spannungsreichen
24 Vgl. die Kontroverse zwischen Heinrich Pompey und Rolf Zerfasß, in der es zentral um die Spannung zwischen Verkirchlichung und Inkulturation geht: Pompey, Das Profil der Caritas; Zerfasß, Das Proprium der Caritas. 25 Grunow, Organisationsdilemmata kirchlicher Wohlfahrtsverbäne, S. 110f. 26 Klos, Große Träger machen mobil.
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Beziehungsgeflechts zwischen Kirche Leitungsfähigkeit entfalten können. 27
und
Gesellschaft
ihre
besondere
VI. Das europäische Sozialmodell und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände partizipieren in besonderer Weise an zwei makrogesellschaftlichen Spezifika des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells, das es vom liberal geprägten, amerikanischen Modell deutlich unterscheidet. Es handelt sich um die Institutionalisierung gesellschaftlicher Vielfalt und sozialen Ausgleichs. 28 Wenn man die europäischen Sozialstaaten als Varianten einer Familie betrachtet, die ihren Kern im nord- und zentraleuropäischen Sozialstaatsmodell besitzen, so kommen unter den Stichworten gesellschaftliche Vielfalt und sozialer Ausgleich die folgenden Charakteristika in den Blick: Die spezifische gesellschaftliche Vielfalt findet ihren Ausdruck in einer den Wettbewerb begrenzenden, koordinierten Marktökonomie, in einer korporatistischen Einhegung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, den Formen einer möglichst viele Interessen integrierenden Verhandlungs- und Konsensdemokratie und in der Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Grundsatz der Subsidiarität im Sinne der „unterstützten Selbstbestimmung gesellschaftlicher Gruppen und sozialer Einheiten". 29 Es liegt auf der Hand, wie stark die kirchlichen Wohlfahrtsverbände gerade der vierten Dimension institutionalisierter Vielfalt des europäischen Gesellschaftsmodells ihre Existenz verdanken. Umgekehrt lassen sich aber auch die sozialethischen und sozialpolitischen Positionen der katholischen und auch der lutherischen Tradition in der spezifischen Verarbeitung gesellschaftlicher Konfliktstrukturen durch institutionalisierte Vielfalt wieder erkennen. 30 Die Institutionalisierung sozialen Ausgleichs findet ihre spezifisch Kristallisation erstens in einem über ein residuales Maß hinausgehenden, zumindest quasi-universalistisch ausgerichteten Sozialstaatsmodell; zweitens in der Marktregulierung insbesondere des Arbeitsmarkts durch staatliche und durch verbandlich-autonome Entscheidungen wie im Fall der Tarifautonomie; drittens in einem bestimmten Ausmaß von Umverteilung durch den Ausgleich der marktbedingten Einkommensdifferenzen durch eine sekundäre, sozialpolitisch herge27
Hilpert, Prinzip Anwaltschaftlichkeit; Lehner/Manderscheid (Hrsg.), Anwaltschaft und Dienstleistung. 28 Aust/Leitner/Lessenich, Konjunktur; Ostner/Leitner/Lessenich, Sozialpolitische Herausforderungen; Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, S. 324. Erstmals finden sich die folgenden Gedanken in: Gabriel, Entstaatlichung kirchlicher Wohlfahrtsverbände? 29 Aust/Leitner/Lessenich, Konjunktur, S. 278. 30 Manow, The Good; Gabriel, Obsiegt das amerikanische Modell?
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stellte Einkommensverteilung; und schließlich viertens durch die Bindung an das Leitbild sozialstaatlich vermittelter Solidarität. Wie Franz-Xaver Kaufmann betont, hat sich „das Leitbild eines Gemeinwesens, das auf Freiheit, rechtliche Gleichheit und zugleich marktwirtschaftlich wie sozialstaatlich vermittelter Solidarität seiner Bürger beruht, ... ausschließlich im Horizont der kulturell von Christentum und Aufklärung geprägten westeuropäischen Gesellschaften herausgebildet".31 Es läßt sich leicht zeigen, wie eng die Existenz und die Programmatik der kirchlichen Wohlfahrtsverbände in das Konzept der spezifisch europäischen Institutionalisierung sozialen Ausgleichs verflochten sind.
V I I . Entstaatlichung kirchlicher Wohlfahrtverbände: Auf dem Weg zum liberalen Sozialstaatsmodell in Europa? Heute und in naher Zukunft kommt der Veränderungsdruck für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände nicht zuletzt aus der Gefährdung des historisch gewachsenen europäischen Sozial- und Gesellschaftsmodells im Zuge einer neuen europäischen Integrationspolitik. Lässt sich an der europäischen Integrationspolitik unter der Kommissionspräsidentschaft Delors noch das Bemühen ablesen, den genannten Spezifika des gemeinsamen europäischen Sozial- und Gesellschaftsmodells in der politischen Programmatik Rechnung zu tragen und sie ansatzweise auf europäischer Ebene als Gegengewicht zur Marktintegration als soziales Integrationsinstrument zu realisieren, so ist seit den späten 90er Jahren eine Umstellung in der europäischen Integrationspolitik zu beobachten. Jetzt betrachtet man eine grundlegende Reform des Wohlfahrtsstaats im Sinne des skizzierten europäischen Gesellschaftsmodells als unvermeidlich. Als entscheidende Handlungsebene dafür gilt der jeweilige Nationalstaat, der im als notwendig erachteten Wettbewerb der Sozialstaaten untereinander zur Realisierung eines neuen Sozialmodells gewissermaßen gezwungen werden soll. Das neue Modell rückt von den Dimensionen sozialen Ausgleichs im klassischen europäischen Sozialmodell deutlich ab. Die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sollen „wettbewerbsorientierter, beschäftigungsfreundlicher und rationeller" 32 ausgestaltet werden. Angezielt ist ein stärker residualer Sozialstaat, der seine Leistungen nur noch jenen anbietet, die auch ,wirklich 4 Hilfe benötigen. Die sozialstaatlichen Interventionen in den Arbeitsmarkt sollen sukzessive zurückgenommen werden, um mit den Mitteln der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dem Ziel der Vollbeschäftigung näher zu kommen. Die Ungleichheit am Arbeitsmarkt gilt weniger als Belastung denn als produktivitäts- und wettbewerbsfordernd, was in der Bejahung einer stärkeren Lohnspreizung und der Ausbildung eines Niedriglohn-
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Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, S. 41. Aust/Leitner/Lessenich, Konjunktur, S. 290.
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sektors seinen Niederschlag findet. Die Elemente solidarischer Umverteilung werden auf die Gewährung von Chancengleichheit reduziert. Universalistisch orientierte Rechtsansprüche erhalten den Charakter bedingter Leistungen. Aust, Leitner und Lessenich kommen mit Blick auf das Europäische Sozialmodell und die neue europäische Integrationspolitik zu dem Schluß: „Dies bedeutet, dass das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften auf eine bestimmte Form der Konvergenz hinausläuft, die der Ausdehnung spezifischer Merkmale des amerikanischen Modells entspricht". 33 Fragt man nach den religiös-kirchlichen Wurzeln des neuen Sozialmodells, liegt folgender Gedanke nahe: Während für das europäische Kernmodell Bezüge zu Katholizismus und Luthertum konstatiert wurden, sind es die lange außer Acht gelassenen Einflüsse der freikirchlichen Strömungen des Protestantismus und des Calvinismus auf den Wohlfahrtstaat, die sich in den Tendenzen des neuen Sozialmodells widerspiegeln. 34 Für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände sind die Konsequenzen des neuen Sozialmodells widersprüchlich. Einerseits sind sie in ihrer intermediären Stellung auf einen starken Sozialstaat als Garanten von subsidiärer Vielfalt und solidarischem sozialem Ausgleich angewiesen. Andererseits könnten sie in Versuchung geraten, dem liberalen Modell eines schwach ausgebildeten Wohlfahrtsstaats mit kompensierenden kirchlichen Dritt-Sektor-Organisationen neuen Geschmack abzugewinnen. Bietet doch das liberale Modell dem sozialen Engagement von Dritt-Sektor-Organisationen denkbar viel Raum. Allerdings müssten sie damit rechnen, in eine unpolitische, auf Kompensation beschränkte Rolle hineingedrängt zu werden. Der Konflikt zwischen einer innerhalb des expandierenden Marktes von gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen agierenden Segments der kirchlichen Wohlfahrtsverbände und jenem Teil, dem die nicht marktfähigen, schmutzigen, kaum lösbaren Probleme und ihr mittelloses Klientel zufiele, müsste an Schärfe zunehmen. Schon heute ist ein Druck auf die kirchlichen Wohlfahrtsverbände unverkennbar, sich in ihrer Politik vom zentral-europäischen Wohlfahrtsmodell institutionalisierter Vielfalt und sozialen Ausgleichs zu verabschieden und sich dem Modell eines schwachen Wohlfahrtstaats anzunähern.
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33 34
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Die Grenzenlosigkeit des Managements - Organisationsund gesellschaftstheoretische Überlegungen Thomas Drepper
Der Ruf nach „Management" ist allgegenwärtig! Die moderne Gesellschaft wird mit Managementimperativen überflutet. Jeder gesellschaftliche Bereich, jedwede Organisation bis hin zur individuellen Lebensführung werden mittlerweile vom Managementdiskurs erfasst und mit Managementpostulaten konfrontiert. Auf die Revitalisierung und (Selbst-)Steuerung durch Management kann heute nichts und niemand mehr verzichten: Zeit-, Konflikt-, Informations-, Wissens-, Bildungs-, Kultur-, Sport-, Sozial-, Identitäts-, Gesundheits-, Gebäude-, Pflege-, Forschungs-, Freizeit-, Beziehungs- und Selbstmanagement. Die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Die Managementperspektive breitet sich scheinbar unaufhaltsam aus. Wie Nigsch es formuliert, wird Management „in steigendem Maße zum gemeinsamen Nenner unvermeidlicher Reorganisationsprozesse." 1 Der ManagementTalk avanciert zur Sprache der internationalen Elite in Wirtschaft und Politik: „In allen Flughäfen der Welt ist derselbe familiäre Jargon zu hören, so dass für ambitionierte junge Leute eine Business-School Education nahezu unverzichtbar geworden ist." 2 Die Anspruchssteigerung und der missionarische Eifer des „Managertums" 3 beschränken sich dabei aber nicht mehr nur auf die Organisationen der Wirtschaft: „Die Reorganisation des Managements unter der Führung kompetenter Manager ist jedoch nur die eine Hälfte der Erfolgsgeschichte des Managements. Die andere Hälfte besteht in der Übertragung dieser Perspektive auf andere Sektoren des gesellschaftlichen Lebens." 4 Die „Managementisie-
1
Nigsch, Management - ein Weg zur gesellschaftlichen Generalsanierung?, S. 417. Nigsch, Management - ein Weg zur gesellschaftlichen General Sanierung?, S. 420. Hartmann, Die Spitzenmanager der internationalen Großkonzerne, S. 205 ist hier kritischer und bezweifelt, dass es bereits eine durchgesetzte Management-Sprache gibt, die zur sozialen Schließung der Manager als (welt-)gesellschaftlicher Großgruppe und transnationaler Elite taugt. 3 Vgl. Schelsky, Berechtigung und Anmaßung in der Managerherrschaft. 4 Nigsch, Management - ein Weg zur gesellschaftlichen Generalsanierung?, S. 417. 2
450
Thomas Drepper
rung" 5 betrifft auch verstärkt Nicht-Wirtschaftsorganisationen anderer gesellschaftlicher Bereiche wie der Erziehung, der Religion, der Sozialen Hilfe, der Politik, der Wissenschaft, der Medizin, des Sports und intermediäre Organisationen (NGOs, NPOs), die mit Managementtrends, Reorganisationskonzepten und Rationalisierungswissen konfrontiert werden. Dezentralisierung, Re-Engeneering, Lean Management, Management by Objectives, Entrepreneur- und Intrapreneurship, T Q M , Zielvereinbarungen und die lernende Organisation stellen nur eine kursorische Auswahl dar. Und auch organisationsintern tauchen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit neue managementisierte Stellenbeschreibungen auf, deren Aufgaben- und Tätigkeitsprofil mitunter nebulös anmutet. Fast jede Position bekommt heute ein Management-Suffix oder -Präfix verpasst. Der aktive und rational agierende Akteur (individuell und kollektiv) bedient sich heute modernster Managementtechniken. Jeder Hausmeister wird heute ohne Beförderung zum ,facility manager 4 . Ich werde in diesem Text die Frage nach der Grenzenlosigkeit oder Begrenztheit des Managements als ein Thema im Schnittfeld von Organisationsund Gesellschaftstheorie anhand einiger Unterthemen behandeln. A l l diese Überlegungen ranken um das Thema der gesellschaftlichen Bedeutung von Management sowie der organisationalen und gesellschaftlichen Einbettung von Management. Zunächst stehen die Beiträge verschiedener Reflexionsangebote zur Frage der gesellschaftlichen Bedeutung des Managementphänomens im Zentrum (I.). Hier nehme ich die eher betriebswirtschaftlich orientierte Managementlehre sowie neuere Bestrebungen zur Konturierung einer Managementsoziologie in den Blick. Interessant ist hierbei, dass neuere Management- und Führungstheorien nicht nur den theoretischen Bedarf einer interdisziplinären Erweiterung artikulieren, sondern auch thematisch eine deutlichere Reflexion auf die gesellschaftlichen Kontextbedingungen von Organisation, Management und Unternehmung anstrengen. Das wird vor allen Dingen entlang der Begriffe Globalisierung, weltweite Vernetzung, Entgrenzung und Wissen diskutiert. Wie sich zeigt, gerät dabei auch immer mehr das Kontroll- und Steuerungsparadigma des Managements unter Legitimationsdruck. Daneben fordern neuere Ansätze in der Managementsoziologie, dass das Phänomen „Management 44 nur auf der Basis einer eigenständigen Organisationstheorie zureichend analysiert werden kann. Neben die dezidiert organisationstheoretische Verankerung tritt außerdem immer stärker auch eine gesellschaftstheoretische Bindung, die es erlaubt, verschiedene gesellschaftliche Differenzierungsbereiche zu unterscheiden und dadurch die gesellschaftlichen Kontextierungen des Managements zu verdeutlichen. Wie eine solche Verbindung einer organisations- mit einer differen-
5
Meyer, Globalization and the Expansion and Standardization of Management. Vgl. auch Hasse, Die Innovationsfähigkeit der Organisationsgesellschaft, S. 101 ff. zur Diffusion von Managementprinzipien.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
451
zierungstheoretischen Perspektive aussehen kann und wie diese Verbindung Perspektiven auf die Frage nach der flächendeckenden Diffusion von Managementtrends erschließen kann, ist Gegenstand des zweiten Abschnitts (II.). Diese gesellschafts- und differenzierungstheoretische Ergänzung leitet dann über zum dritten Abschnitt (III.), in dem es aus der kombinierten organisations- und gesellschaftstheoretischen Perspektive um die Frage nach der Übertragbarkeit der Management- und Gewinnperspektive in Nicht-Wirtschaftsorganisationen geht. Organisation und Profession werden hierbei als grenzdefinierende Erwartungsstrukturen diskutiert, die Zweifel an der einfachen Übertragbarkeit des wirtschaftlichen Kalküls in nicht-wirtschaftliche Sinnzusammenhänge nahe legen. Der Text schließt mit zwei Beispielen zum Verhältnis erzieherischer und wirtschaftlicher Kommunikation ( I V . ) , an denen sich die Plausibilität einer differenzierungstheoretischen Ergänzung zur Frage nach der Diffusion von Managementstandards zeigt. Das werde ich kurz am Beispiel von Reformbemühungen im Erziehungssystem thematisieren sowie ftir die Pädagogisierung von Wirtschaftsorganisationen.
I. Reflexionsangebote: Managementlehre und Managementsoziologie Der vielfältige und uneingeschränkte Gebrauch der Managementkategorie zeigt offenbar deren große gesellschaftliche Wertakzeptanz an. Wer Management sagt, sagt auch Rationalität, Effektivität, Effizienz, Rentabilität, Innovationsfähigkeit, Wettbewerb, Konkurrenz und Profitabilität ohne es direkt aussprechen zu müssen. „Heute ist das Management ebenso gesellschaftlich gegenwärtig wie seine gesellschaftliche Bedeutung weitgehend unbestimmt." 6 Management wird zum Allerweltsbegriff, was mitunter darauf zurückgeführt werden kann, dass eine „professionelle Etablierung von Exklusivität in der Verwendung dieser Bezeichnung nicht gelungen ist" 7 und die Managementtheorie und -lehre kein klar definierter Wissenskanon ist: „Denn weder ist das Gebiet der Managementlehre heute schon klar umrissen, noch hat der Begriff des Managements selbst bisher eine einheitliche Festlegung erfahren. In der Wirtschaftspraxis ist Management zwischenzeitlich ein »Allerweltsbegriff geworden, der für alle und jedes verwendet wird, meist jedoch mehr um seiner Signalkraft willen als seines Bedeutungsgehaltes wegen." 8
6 7 8
Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 227. Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 228. Steinmann/Schreyögg, Management, S. 5.
452
Thomas Drepper
Der Managementbegriff lässt sich als unbestimmt
überdeterminiert
bezeich-
nen. 9 Er ist dahingehend überdeterminiert, dass an Management weit reichende Erwartungen geknüpft werden, und dabei so hinreichend unbestimmt, dass er mittlerweile auf fast jeden Sachverhalt angewendet werden kann. Gerade solche Begriffe entfalten eine große Symbolträchtigkeit und dadurch bedingt auch große gesellschaftliche Diffusionskraft, die diffus genug sind, um für multiple Anschlussfähigkeit sorgen zu können. Die Unbestimmtheitslücke sorgt für kommunikative Anschlussfähigkeit. Diffusion geht scheinbar immer auch mit Diffusität einher. 10 Verschiedene Reflexionsangebote bieten die Möglichkeit, die begriffliche Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu transformieren. Wissenschaftliche Disziplinen wie die Betriebswirtschaftslehre, die Psychologie, die Industrie-, Arbeits- und Organisationssoziologie, aber auch unzählige Managementberatungslehren und Managementphilosophien bieten ihre Definitionsdienste an und treten in gewollte und/oder ungewollte Konkurrenzbeziehungen zueinander. Die Generalisierung des Managementanspruches geht insgesamt aber einher mit der durch betriebswirtschaftliche Lehren gestützten Überschätzung der Managementfunktion. 11 Baecker vermutet, dass es eine gesellschaftliche Tendenz zu geben scheint, bestimmte Leitwissenschaften zu bestimmen und diese dadurch zu überfordern: „Aber genauso wie damals (1960er und 1970er Jahre - von mir) die Soziologie und die Gesellschaft unter der Überschätzung der Soziologie gelitten haben - man erinnere sich nur daran, dass man damals aus der Einsicht, dass komplexe Phänomene nicht steuerbar sind, die Konsequenz abgeleitet hat, dann müsse man auf informiertere und indirektere Art und Weise, also trotzdem, steuern - , so leiden heute die Betriebswirtschaftlehre und die Gesellschaft unter der Überschätzung der Betriebswirtschaftslehre.
Wer
glaubt, dass ,Management' eine Führungs- und Gestaltungskunst sei, die unterschiedslos allen Organisationen, also nicht nur Unternehmen, sondern auch Behörden, Kirchen, Vereinen, Schulen, Universitäten, sozialen und kulturellen Einrichtungen sowie Armeen verschrieben werden können, weiß nicht mehr, dass dieses Management ein Produkt der Anwendung eines wirtschaftlichen Kalküls auf einen diesem Kalkül fremden Gegenstand, die Organisation, ist." 12 9
Vgl. zur Unbestimmtheitsthese der Arbeit Baecker, Die gesellschaftliche Form der Arbeit. 10 Der Begriff der Institution ist ebenfalls ein solcher Begriff aus dem weiteren sozialwissenschaftlichen Semantikfeld, für den der Zusammenhang von hinreichender Diffusität und multipler Anschlussfähigkeit angenommen werden kann. 11 Bemerkt werden muss, dass sich die disziplinar orientierte Betriebswirtschaftslehre mittlerweile in starker Konkurrenz zu Managementberatungslehren und Managementratgebern sieht, auch und gerade hinsichtlich der Beratung in operativen und strategischen Angelegenheiten. Vgl. Kieser, Wissenschaft und Beratung zum Streit um Definitions- und Beratungsmonopole zwischen disziplinar orientierten Managementwissenschaften und am Beratungsmarkt ausgerichteten Managementlehren. Vgl. auch Faust, Warum boomt die Managementberatung? 12 Baecker, Organisation und Management, S. 15.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
453
Gerade die Betriebswirtschaftslehre stellt eine Reflexionsbasis wirtschaftlicher Organisationen dar, „die die dezidierte (das heißt normativ reflektierte) Absicht verfolgt, das ökonomische Kalkül in einem Systemzusammenhang zur Geltung zu bringen, der von sich aus nicht zur ökonomischen Optimierung, sondern zum Aufbau von organizational slack' tendiert." 13 Die betriebswirtschaftliche Reflexion auf Managementfragen schließt an die Genealogie des Managements als soziale Struktur und Praxis an, die wiederum verknüpft ist mit der gesellschaftsweiten Durchsetzung großer Organisationen, vor allen Dingen in der Wirtschaft und der Politik. Management ist als soziale Praxis und Struktur ein Organisationsphänomen und deutlicher noch, ein Organisationsderivat. Ohne Organisation als differenziertes Sozialsystem kein M a nagement. Wer Management sagt, bezeichnet immer auch Organisation, implizit oder explizit. 14 Management i m heutigen Sinne hat sich im Laufe der industriellen Revolution herausgebildet, „genauer mit der Entstehung der industriellen Großunternehmung" 15 , und der Manager tritt zu diesem Zeitpunkt als Sozialkategorie auf die gesellschaftliche Bühne. 1 6 Die klassische Managementlehre ist ein Kind der Industrialisierung und setzt semantisch und programmatisch auf Linearität, Konsistenz und Transitivität. 17 Sie ist als Teil einer allgemeinen Organisationslehre 18 ein relativ spätes Reflexionsangebot, das seit dem späten 19. Jahrhundert entstand, „nachdem bis dahin - das sei hervorgehoben - die Entwicklung ein Ergebnis der Praxis gewesen war, ohne viel Anleitung durch Theorien und wissenschaftliche Ratschläge. In einer Vielzahl von Publikationen wurden jetzt Erfahrungsregeln richtigen Managements - allgemein, ohne Eingrenzung auf spezifische Branchen wissenschaftliche'
formuliert und versuchsweise in eine
Systematik gebracht . . . . " 1 9 Die frühe Managementlehre
zeichnete sich durch den Primat der Praxis aus, ihre ersten Vertreter waren 13
Baecker, Organisation und Management, S. 252. Natürlich lässt sich Management auch anders begründen und als eine soziale Praktik historisch immer dann vermuten, wenn Koordinationsprobleme arbeitsteiliger Tätigkeiten auftreten und unter Bedingungen der Unsicherheit entschieden werden muss. In diesem Sinne musste auch der Bau von Pyramiden gemanagt werden. Diese Perspektive ist mir aber für die weitere Argumentation, die sich auf das Verhältnis und die Differenz von moderner Gesellschaft und modernen Organisationen und darauf bezogenen Gestaltungs- und Reflexionsangeboten interessiert, zu weit gefasst. Vgl. zu einer solchen Herangehensweise Morin, L'art du Manager. 15 Steinmann/Schreyöggy Management, S. 29. 16 Vgl. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 232. 17 Vgl. Kocka, Management in der Industrialisierung. 18 Die Klassiker der frühen Managementlehre sind gleichzeitig auch die Klassiker einer allgemeinen Organisationslehre und -theorie: Taylor, Fayol und Weber. Vgl. hierzu Steinmann/Schreyöggy Management, S. 40ff., Schreyögg, Organisation, S. 3Iff. und Kieser y Organisationstheorien, S. 39ff. 19 Kocka y Management in der Industrialisierung, S. 44. Vgl. auch ausführlich hierzu Kockay Industrielles Management. 14
454
Thomas Drepper
Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis. 20 Wie also auch bei der Entwicklung der Organisationslehre gilt für die Managementlehre, dass die Managementpraxis vorgängig ist, und die Systematisierung und Generalisierung des Wissens nachfolgen: „During the early development of classical management theory, operating executives and consultants, such as Fayol, Mooney, Dennison, Sheldon and Urwick, made the principal contributions. The practice of management led in the development of new ideas." 21 Der „Lehre von der guten Praxis" 22 folgt erst sukzessive die Verwissenschaftlichung und die Institutionalisierung in Business Schools, Universitäten und MBA-Ausbildungen. Der praktische Bezug und die Problemlösungsorientierung sind trotz Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung aber dominant geblieben. Die Managementlehre bleibt eine Lehre der „systematischen Erörterung von betrieblichen Steuerungsproblemen. Ihr Paradigma ist nicht ein abstraktes Identitätsprinzip - wie etwa das Knappheitsprinzip - , sondern es ist das praktische Problem. Genauer gesagt, sind es die Probleme, die sich beim Aufbau und der Steuerung einer Unternehmung oder Leistungsorganisation ganz konkret stellen." 23 A n den Steuerungsgedanken und den dominanten Praxis- und Gestaltungsaspekt schließen die gewohnten Funktionsdefmitionen von Management und Managern an. Wie Reed es formuliert: „The public rhetoric of technocratic ideology conveys a Platonic image of the manager as a rational planner and controller of an organizational machine that is infinitely adaptable to rapidly changing conditions." 24 Dieses an dem mechanistischen Bild der Organisation als Maschine orientierte Management- und Managerbild wird mittlerweile in vielerlei Hinsicht in Frage gestellt und erscheint als Zerrbild der klassischen Modernisierung und Rationalisierung, an dem sich sowohl Protagonisten wie auch Kritiker zu lange orientieren konnten: „Die Managementlehre und zahlreiche Ansätze der Managementforschung profitieren zu lange vom Zerrbild der ,klassischen Modernisierung 4 der Organisation. In diesem erschienen die Manager als Kopf eines korporativen Akteurs, der mittels zielgerichteter Anweisungen die Bewegungen des Akteurs bis ins letzte Glied hinein bestimmen konnte. Die Managementlehre erschien als Lehre davon, wie der „ K o p f ' seine „Glieder" am besten und erfolgreichsten ins Spiel bringt." 25 Das typische, technisch-funktionale Managerbild transportiert dabei immer auch eine Überschätzung der Durchgriffschancen des
20
Eckart Pankoke hat die Grenzgänger-Figur für unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche untersucht. Vgl. Pankoke, Anstifter und Grenzgänger und Pankoke, Grenzgänger des Glaubens. 21 Massie, Management Theory, S. 393. Vgl. auch Steinmann/Schreyögg, Management, S. 29ff. 22 Kieser, Organisationstheorien, S. 65 ff. 23 Steinmann/Schreyögg, Management, S. 37f. 24 Reed , The Sociology of Management, S. 27. 25 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 231.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
455
Managers, „der mittels zielgerichteter Anweisungen die Bewegungen des Akteurs bis ins letzte Glied hinein bestimmen konnte". 26 Die Standard-Tätigkeitsbeschreibung von Managern in der Managementliteratur - „Manager planen, führen, motivieren und kontrollieren" 27 - steht mittlerweile aber deutlich auf dem Prüfstand, gerade wenn die Außengrenzen und die Umweltkontextierung der Unternehmung, das Organisation/Umwelt-Problem, mit reflektiert werden. In den Organisations- und Managementtheorien werden seit geraumer Zeit Alternativen zu klassischen Ansätzen diskutiert, um den gesteigerten Umweltansprüchen, die sich den modernen Organisationen stellen, auch theoretisch gerecht werden zu können. Globalisierung, IuK-Technologien, Entgrenzung und Wissensrevolutionen sind nur einige wenige der Zeitdiagnosen, Unsicherheit und Komplexität die Problemformeln, mit denen Renovierungen auf der Theorieebene zu fordern sind. Deutschmann bringt die gängige Zeitdiagnose plakativ auf den Punkt: „Die Dezentralisierung der Organisation, die Zunahme der Eigentümermacht, das Hineinregieren der Berater in die Unternehmenspolitik signalisieren eine fortschreitende Erosion der Außengrenzen der Unternehmen. Das Management als Herrschaftsträger wird durch diese Entwicklungen zwar keineswegs in toto demontiert. Aber seine bisherige soziale Homogenität und seine bis weit in das mittlere Management hinein relativ geschlossene kollektive Identität erodiert." 28 Neuere Managementtheorien konstatieren einen „Funktionswandel im Management" (Schreyögg) und die Aufgabe des Ideals der rationalen Ordnung. Angesichts geänderter gesellschaftlicher Bedingungen, denen sich moderne Unternehmen gegenübersehen, lässt sich die klassische Managementfünktion „Steuerung durch Ordnung (Planung, Organisation, Personaleinsatz, Führung, Kontrolle)", die Management als eine übergreifende Aktivität sieht, „die in alle Sachfunktionen steuernd eindringt und sie in einem komplexen Verknüpfungsgeschehen miteinander wie Kette und Schuss zu einem Ganzen verwebt" 29 nicht mehr halten: „An der Tagesordnung sind Antinomien und Dilemmata, statt Klarheit und Eindeutigkeit." 30 Das traditionelle Organisationsund Managementideal ist brüchig geworden und hat an Plausibilität eingebüßt. Beschleunigte Kommunikationsbedingungen, die Tendenz zur Immaterialität, höhere Durchlässigkeiten von Organisationsgrenzen und eine Tendenz zur weltweiten Vernetzung provozieren Zeitdiagnosen, die vom Ende der Stabilität, vom Ende der Eindeutigkeit und vom Ende der Gewissheit sprechen lassen und statt dessen einen permanenten Wandel, Ambiguität und Kontingenz konstatieren. 31 Die Dezentralisierung und die Außengrenzen der Unternehmen verwi-
26 27 28 29 30 31
Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 231. Walgenbach/Tempel, Management als soziale Praxis, S. 170. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 240. Schreyögg, Funktionswandel im Management. Problemaufriss und Thesen, S. 17. Schreyögg, Funktionswandel im Management, S. 1. Schreyögg, Funktionswandel im Management, Problemaufriss und Thesen, S. 26ff.
456
Thomas Drepper
sehende Netzwerkbildung führen laut Kocka dazu, dass sich neue Standards eines post-industriellen Managements entwickeln, „zuerst in der Praxis, jetzt auch in der Theorie." 3 2 Schreyögg sieht ebenfalls weit reichende Änderungsimpulse: „Die Managementlehre wird sich ... weg von einer Wissenschaft der guten Ordnung hin zu einer Wissenschaft der fragilen
Performanz
entwickeln
oder - wie es Lyotard nennt - zu einer „Wissenschaft der Erforschung von Instabilitäten". Die Managementpraxis wird an die Stelle des Leitbildes stabiler Perfektion und maschineller Konstruktion die Kunst der dynamischen
Unord-
nung bis an den Rand des Chaos treten lassen müssen." 33 Einige Managementtheorien gehen dazu über, die gesellschaftliche Einbettung und Abhängigkeit wirtschaftlicher Organisationen mit in Betracht zu ziehen und als Kontextvariable eines modernen Managements mit zu reflektieren. Gesellschaft - und mit ihr die nicht-organisationalen Bedingungen organisational Entscheidungen und Handlungen - ragen mehr und deutlicher in die Organisation hinein als ein lineares, binnenorientiertes Steuerungs- und Managementkonzept das fassen kann. A n diesem Punkt der gesellschaftlichen Einbettung und Irritation des Organisationsmanagements lässt sich gerade nach der Rolle der Soziologie, genauer noch: einer Soziologie des Managements, fragen, die doch per se den Gesellschaftsaspekt klarer zu definieren und zu analysieren beanspruchen können müsste als betriebswirtschaftliche Managementkonzepte. Das Reflexionsangebot ist hier allerdings nicht wirklich reichhaltig. Management gehört zu den vernachlässigten Themen der Soziologie. Die Soziologie ist - wie Baecker es formuliert - bislang „nicht durch eine elaborierte Managementforschung aufgefallen. Auch gehört das Management zu den wenigen Themen, zu denen sich bei den soziologischen Klassikern kaum etwas findet und zu denen auch die neuere soziologische Theorie, mit der wichtigen Ausnahme der Netzwerktheorie, nur selten gearbeitet hat". 3 4 Wenn sich in der Soziologie etwas Themenaffines finden lässt, dann hinter Begriffen wie Führung, Verwaltung und Organisation. Eine eigenständige Soziologie des Managements ist bislang aber nicht darunter. Die Zurückhaltung der Soziologie ließe sich darin vermuten, dass Management bislang zwischen Industrie- und Betriebssoziologie, Organisations- und Wirtschaftssoziologie hin- und herpendelt und dort von den jeweils
32 Kocka, Management in der Industrialisierung, S. 48. Auch Deutschmann et al. y Veränderungen der Rolle des Managements sowie Faust et al, Reorganisation des Managements, gehen im Sinne des Theorems reflexiver Modernisierung von einer sich zunehmend reflexivierenden Rolle des Managements aus, in dem die blinden Flecken der klassischen Rationalisierung abgearbeitet werden. Das Management ist in diesem Verständnis sowohl Subjekt wie Objekt der Reorganisationsprozesse. 33 Schreyögg, Funktionswandel im Management. Problemaufriß und Thesen, S. 23. 34 Baecker, Organisation und Management, S. 218. Vgl. auch Deutschmann et al., Veränderungen der Rolle des Managements, S. 436.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
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herrschenden Theorieparadigmen dominiert wird: „Fast hat man den Eindruck, dass das Management jene Agentur einer kapitalistischen Gesellschaft ist, die die Soziologie nicht sehen will, weil sie sich zu schnell dafür entschieden hat, diese Gesellschaft nicht als riskante Praxis, sondern als bereits entschiedene Struktur und sinnstiftende Semantik zu untersuchen." 35 V o n einem methodologischen Standpunkt aus ließe sich auch vermuten, dass der häufige Vorwurf der fehlenden Distanz und übertriebenen Gegenstandsnähe der Managementlehre sie bleibe zu sehr den Attributionsroutinen ihres Gegenstandes verhaftet und orientiere sich zu stark an den bestehenden Selbstbeschreibungen - , sich bedingt auch an die Soziologie adressieren lässt. Die Soziologie bietet der Gesellschaft Einheits- und Identitäts-Selbstbeschreibungen wie kapitalistische Gesellschaft, Industrie- oder Klassengesellschaft an, vor allen Dingen im krisenhaften sozialen Wandel hin zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, die natürlich auch ihre eigene Sicht konditioniert 36 : „Die Soziologie ist als Kind der Industriegesellschaft immer Industriesoziologie -
selbst wenn sie das nicht
wahrhaben will. Deswegen hat sie sich immer die Auseinandersetzung mit Karl Marx auf ihre Fahnen geschrieben und war deswegen auch immer schon von genau dem infiziert, wogegen sie sich abgrenzt, nämlich von Marx, und konnte deswegen nicht über die Differenz von Kapital und Arbeit, Herrschaft und Ausbeutung - weder konzeptionell noch stimmungs- und temperamentmäßig hinausdenken." 37 Wie Pohlmann ausführt, haben zwar „die von Weber, Sombart, Schumpeter u.a. betriebenen Kernpunkte klassischer Modernisierung für ihre bis heute charakteristische doppelte Verankerung gesorgt, die sowohl für die Analyse sachlicher als auch sozialer Rationalisierung unter besonderer Bezugnahme auf die organisational und gesellschaftliche Rolle der Manager und des Managements zuständig ist. Aus der soziologischen Klassik heraus erhielt sie eine organisations- und herrschaftssoziologische Konturierung ihrer Fragestellung." 38 Schließt man dann noch in der Logik einer ,downward causation 4 von gesellschaftlichen Kapital- und Herrschaftsverhältnissen auf „Herrschaft durch Organisation" 39 , dann verschwindet Organisation als eigenständig
35
Baecker, Organisation und Management, S. 219. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 2, S. 1055ff. zu Klassengesellschaft als Selbstbeschreibung. 37 Baecker, Vom Kultivieren des Managements durch die Organisation - und umgekehrt, S. 50. 38 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 227. 39 Vgl. Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 254 zum Begriff der ,downward causation' im Verhältnis von Organisation und gesellschaftlichen Funktionssystemen. Vgl. Türk, „Die Organisation der Welt" zum Topos „Herrschaft durch Organisation". 36
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zu beachtender Gegenstand und mit ihr auch Management im blinden Fleck der Unterscheidung von Kapital und Arbeit. 4 0 Seit einiger Zeit mehren sich die Versuche zur Neukonturierung einer Managementsoziologie, die sich selbst als alternatives Reflexionsangebot zu den üblichen Managementkonzepten verstehen und auch das ideologische Erbe der eigenen Disziplin hinter sich lassen will. Pohlmann etwa fordert für eine aktuelle Managementsoziologie, dass heute deutlicher als das Management die Organisation in den Mittelpunkt der Beschäftigung rücken sollte, „auf deren Basis erst der Strukturierungsbeitrag des Managements erkennbar wird. Ohne eine ausgeführte Organisationssoziologie bleibt ein Phänomen wie das moderne Management unbestimmt und zu sehr den Fiktionen der klassischen Moderne verhaftet." 41 Das Profil einer Managementsoziologie könnte darin bestehen, jenseits der Fokussierung auf eine Akteursgruppe und der alltäglichen Mystifizierung auf die hintergründigen gesellschaftlichen Strukturen hinzuweisen, „die den Personen auf diesen Positionen besondere Macht-, Einflusschancen und glänzende Kriterien eröffnen - und sie anderen verschließen. Sie versucht heute, die Frage des Managements auf den gesellschafts- und organisationsstrukturellen Wandel zu beziehen und gewinnt daraus ihr Profil." 4 2 Eine so geartete Managementsoziologie kann nicht mehr „die Intentionen und Ziele der Manager in den Mittelpunkt stellen, sondern den reflexiven Umgang der Organisation mit diesen. ( . . . ) Ziele und Intentionen sind selbst wiederum nur - wie die daraus abgeleiteten formalen Entscheidungsstrukturen auch - Elemente, die in den evolutionären Entwicklungsprozess mit seinen Aushandlungs- und Machtspielen eingebracht werden. ... Die Managementsoziologie kann und muss heute also ein Bild von Management und Organisation entwerfen, in dem hinter den Fiktionen der klassischen Moderne die Konturen einer organisationssoziologischen Sichtweise stärker aufscheinen. Das Management ist nicht so sehr ein entscheidender Faktor für eine vorprogrammierte Zielerreichung, sondern für die Zielorientierung und Zielinterpretation in der Organisation." 43 Der Ausgangspunkt einer solchen soziologischen Beschäftigung mit Management liegt darin, Organisation deutlicher als einen eigenständigen sozialen Systemzusammenhang zu betrachten. A u f diese Weise lassen sich auch die blinden Flecken bisheriger
betriebswirtschaftlicher
und managementphilosophischer
Lehren
ausleuchten. Während die Betriebswirtschaftslehre primär auf den Versuch ausgerichtet ist, „rationale
Formen der Unternehmensführung zu finden und zu
40 Vgl. Baecker, Vom Kultivieren des Managements durch die Organisation - und umgekehrt, S. 50. Politikökonomische Konzepte scheinen heute aber immer unbrauchbarer, um das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft zu erfassen. Vgl. Deutschmanny Postindustrielle Industriesoziologie, S. 26. 41 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 235. 42 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 227f. 43 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 233.
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459
optimieren, und die Managementphilosophie auf den Versuch, das dabei übersehene Motivationsproblem
zum Fokus der Unternehmensführung zu machen,
so startet die soziologische Managementlehre mit der Einsicht, dass sowohl rationale Optimierung als auch Motivation im Kontext eines organisierten Sozialsystems stattfinden und somit die Eigentypik dieses Sozialsystems zur Kenntnis genommen werden muss." 44 Einer derart ausgerichteten Managementsoziologie geht es also darum, die gesellschaftliche Bedeutung des Gegenstandes deutlicher zu machen und sie gleichzeitig von psychologischen und betriebswirtschaftlichen Thematisierungen abzugrenzen, um so eine gesellschaftstheoretische und sozialstrukturelle
Entfaltung,
Profilierung
und Konturierung
zu
ermöglichen. Es geht um die doppelte Verankerung des Managements in der Perspektive von Organisation und Gesellschaft: „Ein Phänomen wie das moderne Management lässt sich nur durch eine ausgeführte Theorie der Organisation bestimmen - und genau diese ließ die traditionelle Managementlehre im Regelfall vermissen." 45 U m diese doppelte Verankerung noch einmal plakativ zusammenzufassen: Management ist ohne Organisation undenkbar. Die Referenz auf Organisation ist unabdingbar, denn jedes „Management lebt davon, Teil eines organisierten Sozialsystems zu sein, das heißt im Kontext von Entscheidung, Zwecksetzimg, Mitgliedschaft und Vernetzung arbeiten zu können." 46 Management ist aber auch ohne Gesellschaft nicht möglich, denn Management findet immer auch in einer Gesellschaft statt und ist als eine Form der gesellschaftlichen Kommunikation durch die Gesellschaft konditioniert, in der es operiert. Ohne ein Verständnis dafür, „was Gesellschaft heißt, wird das Management seinen Steuerungsaufgaben in Organisationen nicht gerecht werden können, denn als reiner officer und Funktionär macht man sich zunehmend verdächtig, einer Maschine in die Hände zu spielen, deren treffendste Beschreibung die eines runaway systems ist.
47
I I . Organisations- und Differenzierungstheorie Durch die Kombination einer organisations- mit einer gesellschaftstheoretischen Position lässt sich die Frage nach der flächendeckenden und sektorüber-
44 Baecker, Organisation und Management, S. 224. Baecker macht in seinem Ansatz sogar den Schritt, nicht nur von einer Managementsoziologie zu sprechen, sondern darüber hinaus auch eine soziologische Managementlehre zu fordern. Das klingt in vielerlei Hinsicht sehr programmatisch, was ich hier nicht aufgreifen und verfolgen möchte. 45 Pohlmann, Management, Organisation und Sozialstruktur, S. 231. 46 Baecker, Organisation und Management, S. 234. 47 Baecker, Organisation und Management, S. 255.
460
Thomas Drepper
greifenden Diffusion von Management- und Reorganisationstrends differenziert und differenzierungstheoretisch angehen. Bevor ich auf eine differenzierungstheoretisch grundierte Konzeptualisierung dieser Frage eingehe, skizziere ich zunächst zwei Positionen, die sich in der Frage der Bewertung der gesellschaftlichen Relevanz von Managementtrends und -moden holzschnittartig unterscheiden lassen. Es lassen sich eine technologisch-instrumentelle, tionalistische
Perspektive
von einer eher Ideologie-
klassisch-ra-
und kulturkritischen
Perspektive unterscheiden. Für eine modernisierungsfreundliche Position ist unumstritten, dass heutzutage auch Schulen, Krankenhäuser,
Kindergärten,
Universitäten, Bistümer, Altersheime und Caritas-Stationen, Parteien, Pfarrgemeinden und Verwaltungen nicht mehr bestands- und konkurrenzfähig sind, wenn sie ohne das Komplettpaket modernen Managements und Reorganisierens antreten. Die Management- und Reorganisationsinstrumente werden zu überlebenskritischen Größen, deren Fehlen und Vernachlässigung nicht kompensierbare Innovationshemmnisse erzeugen. Organisation, egal welcher Couleur, ist ohne umfassende
Managementprogramme
und dementsprechend geschulte
Managementprofessionals, am liebsten MBA-Absolventen, kaum noch denkbar. Das betriebswirtschaftliche
Kalkül dominiert die
Organisationsperspektive.
Peter F. Drucker, einer der Vorderen und Ältesten in der Riege der Managementgurus, untermauert in diesem Sinne den gesellschaftsweiten Managementanspruch: „The center of a modern society, economy, and community is not technology. It is not information. It is not productivity. It is the managed institution as the organ of society to produce results. And management is the specific tool, the specific function, the specific instrument to make institutions capable of producing results." 48 Auch der Vater der deutschen Betriebswirtschaftslehre Erich Gutenberg setzte seine (relativ) ungetrübte Hoffnung in die Problemlösungskraft von Management, sah dabei aber immerhin noch die Beschränkung auf die Grenze von Unternehmen: „Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass, wie die Erfahrung zeigt, die Probleme der Unternehmensführung selbst bei Betrieben, die mehrere hunderttausend Menschen beschäftigen, weitgehend lösbar sind, wenn von den Möglichkeiten des modernen top-management Gebrauch gemacht wird. Aber selbstverständlich gibt es eine Grenze, die auch das modernste Management nicht überschreiten kann. Diese Grenze ist nicht genau festzulegen. Es scheint jedoch, dass sie für die Mehrzahl der Unternehmen noch nicht erreicht ist." 49 I m Verständnis der zweiten Perspektive, im eher kultur- und ideologiekritischen Sinne, erscheint die Durchdringung verschiedenster Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit Managementideologien und -praktiken und deren zweckrationaler Kausalitätsschemata als die konsequente Umsetzung des neoliberalen Projekts der Ökonomisierung des Sozialen. Das neoliberale Dispositiv 48 49
Drucker , Management Challenges for the 21st century, S. 39. Gutenberg , Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, S. 53.
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sorgt mit seinen Managementlehren und -praktiken für die flächendeckende „Ökonomisierung des Sozialen". I m Konzept einer modernen Gouvernementalität erscheinen die Managementpraktiken als neue sozialtechnologische Governanceformen des Regierens über soziale Strukturen wie über das moderne Subjekt. 5 0 Das „Enterprising S e l f erfährt die totale Mobilmachung und erlebt dabei die radikale Individualisierung von Chancen und Risiken. 51 Erfolg oder Scheitern, Sieg oder Niederlage liegen schließlich an der Organisation oder dem Individuum und deren Einsatzwillen selbst. Der Einzelne muss sich in dieser Selbstverwertungskultur durchökonomisieren, durchrationalisieren und durchdisziplinieren wie ein Unternehmen. Das „Ich" wird zur Ressource. Das Konzept des unternehmerischeren Individualismus wird derzeit scheinbar „unterschiedslos auf alle Bereiche und Schichten der Gesellschaft übertragen. Es ist die neue Norm." 5 2 Der unternehmerische Individualismus setzt die „Hoffnung auf den unternehmerischen Unternehmer". 53 Der neue Menschentypus, „der den Geist des Kapitalismus verkörpert, wie kein anderer, (ist) der des Unternehmers." 54 Er ist kreativ und autonom, nimmt die Dinge in die Hand und unterscheidet sich dadurch radikal von einer Bürokraten- und Angestelltenmentalität. Die richtige Person ist beileibe wichtiger als jede noch so optimierte Struktur. Erneut kommt hier Erich Gutenberg zu Wort: „Wichtiger jedoch als die Organisation der Führungsspitze ist das Format der Personen, denen die Führung der Unternehmen überantwortet wird. Fehlt es ihnen an Initiative, Spannkraft, Schwung, Phantasie und Ausdauer, bleibt also die Führung kraftlos und ohne Einfälle, dann hilft auch die beste organisatorische oder rechtliche Gestaltung nicht weiter." 55 Ein Gegenmodell dieses neuen Menschentypus und seiner verschiedenen Facetten 56 scheint nicht in Sicht, die integrierende Kraft konkurrenzlos zu sein: „Der Manager eines globalen Großkonzerns wird sich mit jedem Globalisierungsgegner aus der Subkultur darauf einigen können, Individualist zu sein, weltoffen, flexibel und mobil zu leben, sich mithilfe des Internets zu informieren und organisieren, etc." 5 7 Mein Argument ist, dass beide Perspektiven vor dem Hintergrund neuerer organisations- und gesellschaftstheoretischer Forschungen gleichzeitig über- und unterdeterminiert sind, sowohl der Ratio-Optimismus der instrumentalistischen Perspektive als auch die Kultur-Skepsis der kritischen Perspektive. Beide Posi-
50 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke, Gouvernementalität der Gegenwart. Vgl. Bröckling, Totale Mobilmachung. Verwoert, Die Ich-Ressource, Einleitung, S. 13. Bude, Die Hoffnung auf den unternehmerischen Unternehmer. Verwoert, Die Ich-Ressource, Einleitung, S. 7. Gutenberg, Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, S. 42. Vgl. Hondrich, Der neue Mensch. Verwoert, Die Ich-Ressource, Einleitung, S. 8.
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tionen beachten zu wenig zwei in diesem Kontext relevante Stellgrößen, und zwar einerseits die Eigensinnigkeit und Eigenlogik der Organisation als soziales System sowie andererseits die Eigensinnigkeit und Eigenlogik gesellschaftlicher Teilsysteme mit ihren bestimmten Sinnkonfigurationen in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension. Hinzu kommt dann noch das spezifische Steigerungsverhältnis zwischen Organisation und gesellschaftlichen Teilsystemen dahingehend, dass Organisationen gleichzeitig abhängig und unabhängig von den sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen sind. Das möchte ich im Folgenden skizzieren. Zunächst zum ersten Punkt. Die Widerspenstigkeit, Kreativität und Eigensinnigkeit, schlicht die Autonomie von Organisationen nach innen wie im Umgang mit normativen Vorgaben der Herrschaft und Verwertung, ist eine wesentliche Erkenntnis der Organisationsforschung der letzten fünfzig Jahre. Organisationen, das wurde seit der Entdeckung der informalen Organisation immer wieder herausgestellt, sind widerborstiger und eigensinniger als sowohl ein instrumentalistisch-zweckrationales als auch ein ideologie- und herrschaftskritisches Organisationsmodell es sich vorstellen können und wollen. Informale tion (Roethlisberger/Dickson), begrenzte Rationalität eimer
(Cyert/March), lose Kopplungen
(Weick), der Mythosbegriff der Angemessenheit
Organisa-
(Simon/March), der Müll-
(Weick), retrospective
(Meyer/Rowan), Irrationalität
sensemaking
(Brunsson),
Logik
(March/Olson), die Trennung von talk und action (Bruns-
son), Spiele (Crozier/Friedberg), Dilemmata mann, Baecker) und Rekursivität
(Neuberger) und Paradoxien
(Luh-
(Ortmann) sind Begriffe und Konzepte, mit
denen die organisationalen „Grenzen der Entscheidungsrationalität" aufgezeigt und „Revisionen
der
Rationalität" 58
begründet
werden.
Diese
Konzepte
beschreiben aus unterschiedlichen Perspektiven die in Organisations- und Entscheidungsprozessen zu beobachtende Entkopplung zwischen dem Leitbildanspruch instrumenteller Rationalität und faktisch stattfindenden Entscheidungsprozessen. Statt die Entscheidungsrationalität normativer Entscheidungstheorien und -modelle zu bestätigen und damit auch der Ideologiekritik Futter zu geben, machen diese Ansätze auf Ambiguität, Legitimation
und Attribution
Ungewissheit ,
Unsicherheit,
des organisationalen Entscheidens und Handelns
aufmerksam. Die „Subversionen der Rationalität" 59 und die Infragestellung der organisationalen Integration qua Rationalität stehen damit auf der organisationswissenschaftlichen Agenda. Entscheidungsprozesse in Organisationen gestalten sich nicht so, „dass sie der regulativen Idee einer zielgerichtet herbeiführbahren Veränderung von Organisationen einfach folgen. ... Viele Ziele entwickeln sich erst im Entscheidungsprozess oder finden sich im Nachhinein. Entscheidungsprozesse sind im Regelfall nicht zieldeterminiert, sondern bestenfalls zielorien-
58 59
Becker et al, Revisionen der Rationalität. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 450.
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463
tiert. Sie sind von o r g a n i s a t i o n a l und gesellschaftlichen Sinnsystemen und Wertvorstellungen abhängig." 60 Zwei Einsichten gilt es miteinander zu verbinden. Einerseits ist die erwartungsförmige Konfrontation und partiell auch strukturelle Angleichung von verschiedenen Organisationstypen durch dominante Management- und Reorganisationskonzepte kaum zu leugnen. Es scheint in diesem Prozess ein -
im
Durkheimschen Sinne - massiver sozialer Zwang am Werk zu sein. Andererseits stehen die organisationswissenschaftlichen Ergebnisse zu begrenzter Rationalität zu Buche, die die Unabhängigkeit und Autonomie organisationaler Prozesse betonen. W i e lassen sich diese zwei Einsichten nun miteinander verbinden? Ein Ansatz, der in dieser Frage häufig zu Rate gezogen wird, ist der bereits erwähnte Neoinstitutionalismus in der Organisationsforschung. Er stellt eine makrotheoretisch ambitionierte Perspektive innerhalb der Organisationsforschung dar. Organisationen sind immer gesellschaftlich eingebettet, sie sind institutionell gerahmt, was über verschiedene Institutionalisierungsformen (mimetic, coercive, normative) aus Legitimationsgründen und sozialer Erwünschtheit und weniger aus Rationalitätsgesichtspunkten zur Formenhomologie und Isomorphic von Organisationen führt. Prozesse gesellschaftlicher Institutionalisierung dienen als Hintergrundserfüllung für organisationsinterne Institutionalisierungen, und gesellschaftlich vorkonstruierte Wissenselemente werden von Organisationen übernommen. 61 Die Erweiterung der Organisationsforschung hin zu gesellschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Fragen ist dabei ein nicht zu unterschätzender Zugewinn des Neoinstitutionalismus, allerdings mangelt es ihm an differenzierungstheoretischen Impulsen. Differenzen, Heterogenitäten und Ambivalenzen in den institutionellen Wissenselementen und Erwartungsstrukturen werden zu wenig berücksichtigt und auf diese Weise ein zu geradliniges Modell gesellschaftlicher Rationalisierung transportiert. Das neoinstitutionalistische Argument, dass „keine Organisation ihre eigenen Werte unabhängig von entsprechenden Wertungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt setzen kann" 6 2 ist unstrittig, gesagt ist damit aber noch nichts darüber, wie generalisierte Wert-, Wissens- und Normbezüge organisational umgesetzt und respezifiziert werden und zwischen „empirischer Realität" und „rationaler Projektion" unterschieden wird. 6 3
60
Pohlmann, Management, Organisation und Sozial struktur, S. 232. Vgl. Hasse/Krücken, Neoinstitutionalismus und Hasse, Die Innovationsfahigkeit der Organisationsgesellschaft. 62 Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 159. 63 Vgl. Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 156. 61
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Wenn man nun die Organisationstheorie konsequenter an differenzierungstheoretische Überlegungen koppelt, lassen sich sowohl die Abhängigkeit der Organisationen von gesellschaftlichen Bereichen und deren höher generalisierten Sinnschemata als andererseits auch die Unabhängigkeit der Organisation als eigenständiges soziales System in der Interpretation dieser Vorlagen denken. A u f diese Weise kann die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in der Relation von umfassenderen institutionellen Kontexten und Organisationen aufgezeigt werden. Einerseits sind Organisationen natürlich abhängig von den sie umgebenden institutionellen Kontexten, weil diese das Entscheidbare bereits vorselektieren. Andererseits sind Organisationen aber auch nicht einfach institutionelle Blaupausen. Und gesellschaftliche Teilbereiche sind ebenfalls hochgradig auf die Leistungserstellung durch Organisationen angewiesen, aber auch nicht einfach darauf reduzierbar. In dieser Perspektive macht es keinen Sinn, eine asymmetrische Relation von Gesellschaft und Organisation anzunehmen, sondern man kann stattdessen von der These der „zirkulären Beziehung im Verhältnis von Organisationssystemen und gesellschaftlicher U m w e l t " 6 4 ausgehen.
I I I . Grenzen der Diffusion - Organisation und Profession Ich möchte im Folgenden die Perspektive einer gesellschaftstheoretisch orientierten Organisationsanalyse auf die Frage nach der Diffusion von Managementstandards weiter ausbauen und an einigen Punkten diskutieren. Ich werde das zunächst am Beispiel der differenzierungstheoretischen Reflexion der Forderung der Einfuhrung des ökonomischen Gewinnkalküls auch in Nicht-Wirtschaftsorganisationen tun. Die Leitthese ist hier, dass mit der flächendeckenden Einführung von Managementmodellen und -techniken die Überschätzung einer betriebswirtschaftlichen Reflexions- und Wissensbasis einhergeht und damit auch die Überschätzung des Gewinnkalküls. Geht man stärker aus einer auf die Beobachtung von (System-)Differenzen und (System-)Differenzierungen achtenden Perspektive vor, legt sich die Unterscheidung von betriebswirtschaftlichem Kalkül und der Organisationsebene nahe. Diese Perspektive schärft den Blick für die Differenz von organisationaler Systemebene und der Ebene des gesellschaftlichen Bezugssystems sowie für die Differenz bzw. Inkonsistenz von organisationalen und wirtschaftlichen Erwartungen, die mit einem Verständnis von Organisation als Mittel zur Zweckerreichung - das immer noch das standardmäßige Verständnis der Betriebswirtschaftslehre ist 6 5 - nicht ausgedrückt
64
Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 449. Es gibt natürlich mittlerweile einige Ansätze innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, Organisation als eigenständigen und eigendynamischen Gegenstand zu werten und ihm so auch theoretisch Rechnung zu tragen. Vgl. z.B. Steinmann/Schreyögg , Manage65
Die Grenzenlosigkeit des Managements
465
werden kann. Es besteht eine Inkonsistenz zwischen der sozialen Eigendynamik der Organisation und dem ökonomischen Kalkül. Die „Perspektive der ökonomischen Knappheitskalküle ist „nicht mit der Perspektive der Organisation, die an ihren Leuten, an ihren Produkten, an ihren Beziehungen hängt" 66 identisch. Deutlicher, aber dabei etwas verkürzt ausgedrückt, gewichtet das Gewinnkalkül mit dem Fokus auf Knappheits- und Ressourcenfragen primär die Sach- und Zeitebene, belichtet dabei aber tendenziell die Sozialdimension unter. Die Plausibilität und Wirkmacht dieser Zentrierung auf Sach- und Zeitfragen des Kalküls ist aber so stark, dass der Sozialaspekt jeder wirtschaftlichen Kommunikation und Organisation zunächst ausgeblendet und erst später mühsam durch Führungs-, Personal- und Motivationsthemen wieder eingeschlossen wird: „Die Durchsetzungskraft des betriebswirtschaftlichen Kalküls liegt darin, dass es innerhalb der Organisation einen Funktionssystembezug vertritt, der innerhalb der Organisation solange sie wirtschaftet, also unter Knappheitsgesichtspunkten (knappe Kunden, knappe Mitarbeiter, knappe Kapitalressourcen, knappe Vorleistungen usw.) operiert, schlechterdings nicht bestritten werden kann. Dass sich ein privatwirtschaftliches Unternehmen auf den Märkten einer Wirtschaft bewähren muss, die nicht nur Wahlmöglichkeiten gegenüber den angebotenen Produkten hat, sondern auch mit konkurrierenden Zugriffen auf die beanspruchten Personal-, Material- und Kapitalressourcen aufwartet und nicht zuletzt eine Vielzahl von stake- und shareholdern in Position setzt, die miteinander um die wirtschaftlichen Ergebnisse der unternehmerischen Wertschöpfung konkurrieren, gilt in diesem Unternehmen als so selbstverständlich, dass die prinzipielle Inkonsistenz dieser Funktionssystemzugriffe mit der andersartigen Eigenlogik der Organisation vielfach keine Berücksichtigung findet." 67 Dieser differenz- und differenzierungsbasierte Ansatz macht darauf aufmerksam, dass bereits zwischen Wirtschaftsorganisationen und wirtschaftlichen Erwartungen Inkonsistenzen und strukturelle Spannungen auftreten und auftreten können, z.B. zwischen längerfristigen Produkt-, Struktur- und Personalfragen und kürzerfristigen Kapitalperspektiven. Die Orientierung am Gewinnkriterium entledigt keineswegs von Organisationsfragen. Das liegt daran, dass das Gewinnkriterium nicht festlegt, sondern einen Problemgesichtspunkt liefert, der grundsätzlich verschiedene funktional äquivalente Lösungen stimuliert und vergleichbar macht. Das abstrakte Identitätsprinzip enthält keine konkreten Richtlinien, wie ein Organisationsdesign auszusehen hat. Wie man die Organisation zu organisieren hat, wird durch das Gewinnkriterium nicht schon direkt mitgeliefert. Dafür ist es als generalisierte Orientierung zu abstrakt formuliert
ment und Schreyögg, Organisation. Das sind m.E. aber noch immer - im juristischen Sinne - Mindermeinungen. 66 Baecker, Organisation und Management, S. 268. 67 Baecker, Organisation und Management, S. 268.
466
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und muss jeweils auf der Organisationsebene respezifiziert werden. Wenn nicht einmal die Organisationen der Wirtschaft einfach als Umsetzungsagenturen des ökonomischen Kalküls begriffen werden können, und wenn bereits zwischen Wirtschaft und Wirtschaftsorganisationen Inkonsistenzen und Erwartungsspannungen auftreten, wie sieht es dann erst mit nicht-gewinnorientierten Organisationen aus, die mit dem ökonomischen Kalkül konfrontiert werden? An dieser Stelle sind einige theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Organisationssystemen und gesellschaftlichen Funktionssystemen für ein genaueres Verständnis angezeigt. Organisationen ist es prinzipiell möglich, „sich auf der Grundlage selbstgewählter Programmwerte an diesem oder jenen Funktionssystem zu orientieren und auf der Grundlage der eigenen Programmwerte die Codewerte des Funktionssystems zu rekonstruieren." 68 Die meisten Organisationen bilden sich mit Bezug auf Funktionssysteme der Gesellschaft und orientieren sich an deren Funktionsprimat, positiv oder negierend: Wirtschaftsorganisationen in der Wirtschaft, Staatsorganisationen und Parteien im politischen System, Gerichte und Anwaltskammern im Recht, Schulen, Kindergärten und Hochschulen im Erziehungssystem, Krankenhäuser in der Medizin, N P O ' S und N G O ' S in Bezug auf Wirtschaft und Politik, um nur einige Beispiele zu nennen. Den Funktionssystemen der Gesellschaft assoziieren sich unzählige Organisationen, die sich an den binären Codes der funktionssystemspezifischen Kommunikationen orientieren, dabei aber ihre eigene entscheidungsförmige Selbstreproduktion und -strukturierung vornehmen. Organisationen respezifizieren und konkretisieren die Sinnkontexte der Medien und ihrer Erwartungsprogramme. Die funktionale Differenzierung der Teilsysteme selektiert Sinn- und Wertbezüge so vor, dass Organisationen spezifische Ziele und Zwecke im Rahmen bestimmter oder in Bezug auf verschiedene Funktionen definieren können. Organisationen sorgen ihrerseits dann für die Spezifikation und Diversifikation (interne Differenzierung) von teilsystemischen Sinnkontexten oder sie nutzen die durch die Funktionen ausgesparten und nicht exklusiv disziplinierten Wertbezüge. Wirtschaftliche, politische, religiöse, wissenschaftliche und künstlerische, ehrenamtliche Zwecke und Zielvorstellungen, hehre genauso wie fragwürdige Zwecke und Ziele können in die Form der Organisation gebracht werden. Theoretisch erklären kann man das erneut mit dem Verhältnis von generalisierter Sinnvorlage (teilsystemische Erwartungskontexte) und konkretisierenden Respezifikationen, die auf der Ebene von Organisationen vorgenommen werden. Das heißt, dass in Organisationen die teilsystemischen Erwartungsstrukturen der gesellschaftlichen
Funktionssysteme
stabilisiert und respezifiziert
werden. Der symbolische Leitcode (Medienbezug), teilsystemische Programmatiken (Kognitions- und Normmuster), Rollen- und Professionserwartungen sowie Personen- und Menschenbilder bilden den Selektionshorizont und die vor-
68
Baecker, Organisation als System, S. 263.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
467
selektierten Erwartungskontexte, an denen sich Organisationen orientieren und die dann in den Entscheidungsprämissen (Entscheidungsprogramme, Personal, Kommunikationswege) von Organisationen umgesetzt werden. Aus dieser differenzierungslogischen Einbettung organisationaler Entscheidungsstrukturen in verschiedene gesellschaftliche Kontexte sowie der spezifischen Selektivität, die Organisationen durch ihre jeweiligen ReSpezifizierungen (Ziele/Zwecke, Personal- und Kommunikationsstruktur) gesellschaftlicher Werte (Codes) und Normen (Programme) vornehmen, ergeben sich auch spezifische Konsequenzen für das Verhältnis von Organisation und Management, die eine reine Orientierung am Gewinnkriterium als eine Verkürzung erscheinen lässt. Je nach Bezugssystempriorität einer Organisation ergeben sich unterschiedliche Basisorientierungen, die dem Organisationsmanagement zugleich als Möglichkeits- und Einschränkungskontexte dienen: „In politischen Parteien stellt das Management die Machtfrage, in Schulen die Frage nach dem Selektionserfolg der Kinder, in Universitäten die Frage nach dem Geschick des Umgangs mit Wissen und Nicht-Wissen, in Kirchen die Frage nach der Transzendenztauglichkeit der Rituale, in Krankenhäusern die Frage nach Gesundheitszielen, in Sportvereinen die Frage nach Sieg und Niederlage, in Gerichten und Anwaltskanzleien die Frage nach der Attraktivität der Konfliktregulierung und in Galerien, Theatern und Orchestern die Frage nach der kulturellen Distinktion der Werke." 6 9 Die Einführung von Managementtechniken in nicht-privatwirtschaftlichen Organisationen, die mit der Einführung die Priorität des Bezugs auf das Funktionssystem Wirtschaft stärkt, wird immer auch die potentielle Abschwächung des Bezugs auf andere Funktionssysteme zu reflektieren haben. 70 Ich komme damit zur Rolle von Professionen in diesem Kontext. Die eben angeführten gesellschaftlichen Systemkontexte verfügen darüber hinaus fast alle über ausdifferenzierte Professions- oder immerhin Semiprofessionsrollen, die als weitere Spannungsquelle sowohl zu den wirtschaftlichen Erwartungen, aber auch zur Organisationsebene treten können. Nicht-gewinnorientierte Organisationen werden in der Regel von Professionen oder Semi-Professionen verwaltet, sie werden selten gemanagt. Professionen bedienen vorrangig gesellschaftliche Funktionen (Erziehung, Gesundheit, Recht, Soziale Hilfe, Religion) und bringen diese in gesellschaftlich etablierten Interaktionssituationen mit klaren Rollenkonfigurationen und Situationsdefinitionen (Funktions- und Publikumsrollen) zur Geltung. Dabei stehen zu allererst die Positivwerte für das erwartende Publikum im Vordergrund, über die die gesellschaftliche Funktion (Erziehung, Gesundheit, Hilfe etc.) ausgedrückt wird: Schüler und Schülerinnen sollen nach pädagogischen Standards beschult werden, Patienten geheilt werden, Klienten soll geholfen und Mandanten zu ihrem Recht gebracht werden. Die Negativwer69 70
Baecker, Organisation als System, S. 264. Vgl. Baecker, Organisation und Management, S. 270.
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te der Professionsfunktion müssen als Reflexionswerte aber mit beachtet werden. Der immer mögliche Enttäuschungsfall muss mit erwartet werden. Kinder können auch „missraten" und sich als unbelehrbar und schwer erziehbar herausstellen, Patienten nicht gesund werden oder gar sterben, Verfahren verloren werden und Klienten die angebotene Hilfe abweisen und sich als therapieresistent erweisen. Aufgrund dieser zweiseitigen Erwartungslage mit möglichem Enttäuschungsfall, der immer eingerechnet werden muss, resultiert die professionstypische Unsicherheit des Erfolgs, die die Professionen dazu veranlasst, ihren eigenen Arbeitsbereich abzuschirmen. 71 Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, wie schwierig es ist, die für die Professionen relevanten Leitunterscheidungen und daran gekoppelte kognitive und normative Verhaltensprogramme ihrer primären Bezugssysteme einfach durch die Gewinn/Kosten-Unterscheidung des ökonomischen Kalküls und daran aufgehängte Verhaltens- und Entscheidungsroutinen zu ersetzen und „die Managementperspektive innerhalb von nichtprivatwirtschaftlichen Organisationen überhaupt zur Geltung zu bringen". 7 2 Die normative (abschirmende) und kognitive (orientierende) Funktion von Professionswissen in primär nicht-gewinnorientierten Organisationen ist vergleichbar mit der Rolle der Betriebswirtschaftslehre als Reflexionstheorie in privatwirtschaftlichen Unternehmen. Gerade „professionell verwaltete Organisationen wie Behörden, Armeen, Krankenhäuser, Opernhäuser, Redaktionen, Schulen und Universitäten verzichten meist auf Führung und verlassen sich statt dessen auf die immer neue Inszenierung des professionellen Selbstbildes." 73 Professionelle Routinen und Selbstverständnisse werden dabei gerade als nicht entscheidungsförmig und entscheidungsabhängig angesehen. Sie werden in einem häufig lange dauernden Ausbildungs- und Sozialisationsprozess erworben und sollen dann als stabile Identitäts- und Autoritätskerne fungieren. Professionelle Selbstbeschreibungen und Erwartungsstrukturen basieren eher auf funktionaler denn formaler Autorität 74 : „Eine Profession markiert Autoritätsquellen systematisch nicht-organisationaler Art, die über Berufsvorstellungen
71
Vgl. Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 148. Baecker, Organisation und Management, S. 272f. Das liegt auch daran, dass Professionen die wichtige Funktion der Vermittlung zwischen den Code-Werten der Sinnmedien bestimmter gesellschaftlicher Teilsysteme zukommt. Vgl. z.B. Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 149. 73 Baecker, Organisation und Management, S. 285. 74 Hartmann, Funktionale Autorität, behandelt die Differenz von Organisation und Profession anhand der Unterscheidung von formaler und funktionaler Autorität und sieht eine große Spannungsquelle zwischen Professionen in Organisationen im Widerstreit und der Unverträglichkeit von professionstypischen Normen und Werten und den formalen Regeln der Organisation. Vgl. hierzu auch Scott, Konflikte zwischen Spezialisten und bürokratischen Organisationen und Scott, Institutions and Organizations, S. 95 ff. 72
Die Grenzenlosigkeit des Managements
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mit organisationaler Art gekoppelt werden. So gesehen ist ein Beruf ein für die Organisation unvermeidbarer Widerspruch innerhalb der Organisation gegen die Autorität der Organisation." 75
IV. Jenseits der Linearität - Erziehungssemantiken in der Wirtschaft und Wirtschaftssemantiken in der Erziehung An zwei Beispielen lässt sich die Plausibilität der Kombination von Organisations- und Differenzierungstheorie verdeutlichen. Es geht hier um das Wechselverhältnis von erzieherischer und wirtschaftlicher Kommunikation, das auf der Ebene von Organisationen zu Erwartungsdilemmata, Inkonsistenzen und Widersprüchen führt, wenn generalisierte Erwartungen in konkrete Rollen und Verhaltensregeln umgesetzt werden sollen. (1) Seit einiger Zeit lässt sich das verstärkte Eindringen sozialwissenschaftlicher, pädagogischer, psychologischer und auch sportsemantischer Begriffe und Argumentationen in den Sprachgebrauch der Management- und Organisationslehren konstatieren. Begriffe wie Wertewandel, Selbstverwirklichung, Organisationskultur, Individualisierung, Gruppenarbeit, Spontaneität, Kreativität, Teamfähigkeit und Coaching sind hier natürlich ohne Vollständigkeitsanspruch zu nennen. 76 Ich beschränke mich im Weiteren auf pädagogische Einflüsse und die Erziehungssemantik in Organisationen. Diese zeigt sich in Wertbezügen wie Eigenverantwortung, Eigenständigkeit, soziale Kompetenz, selbstaktives Arbeiten, Lern- und Anstrengungsbereitschaft sowie mitarbeiterzentrierte Betreuung und Förderung. I m Bereich der Personalwirtschaft und Personalentwicklung lässt sich bspw. beobachten, wie Stellenbeschreibungen und Karrierewege verstärkt durch die pädagogische Semantik als Lern- und Erfahrungsprozesse definiert werden. Arbeitsaufgaben und Ablaufprogramme werden als Lernfelder und Karrierewege als Entwicklungspfade verstanden. In Bezug auf den Begriff des Lernens sieht
75 Baecker, Organisation als System, S. 253. Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive lässt sich zu diesem Konflikt sagen, dass Organisationen und Professionen funktional äquivalente Strukturen der Respezifikation symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien sind. Sie sind „Respezifikationen von gesamtgesellschaftlich einleuchtenden, aber zu allgemein geratenen Kriterien (...). Rationalitätsurteile werden damit abhängig von Mitgliedschaften in Einrichtungen der Respezifikation von Kriterien, und das sind, gesellschaftsweit gesehen, Organisationen und Professionen." Lühmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, S. 143. Im Hintergrund steht das auf Talcott Parsons zurückgehende Schema von Generalisierung und Respezifikation. Hochgeneralisierte Sinnbezüge moderner Kommunikation (Werte, Codeunterscheidungen) müssen spezifiziert werden, d.h. in konkretere Normen und Rollen übersetzt werden, damit sie verhaltenswirksam werden können. 76 Vgl. auch Deutschmann, Die Mythenspirale, S. 55.
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die pädagogische Ausgestaltung der Zeit- und Sozialdimension vor, dass wer lernt und sich entwickeln darf und soll (!), dafür auch Zeit, Übung und Schonräume braucht. Lernen erfordert Zeit, vorbildhafte Lehrer und die Möglichkeit, Fehler machen zu dürfen. Lernen bedeutet Anreicherung mit Komplexität und Kontingenz. Wenn Aufgaben in Organisationen Lernfelder sind, und jeder Mitarbeiter sich heutzutage lernbereit zeigen will und muss (!), dann kann praktisch keine Aufgabe abgelehnt werden. Auch wenn es nicht geklappt hat, ist es j a nicht so tragisch, denn wer lernt, macht auch Fehler. Nur, so die nüchterne Gegenfrage, welche Fehlerquote darf man sich im Organisationsalltag erlauben? Kann man sich, wenn man kritisiert wird, darauf zurückziehen, dass man j a schließlich in der Lernphase ist, und die endet beim lebenslangen Lernen schließlich nie! Der neoliberale ,homo oeconomicus', der Unternehmer seiner selbst, muss hingegen seine Ziele und Interessen kennen und schnell entscheiden können, wobei die Fehlertoleranz der relevanten Umwelt eher gering ausfällt. Hier kollidieren Zeit- und Sozialschemata zweier gesellschaftlicher Felder im Organisations- und Stellenkontext. Die Knappheit des Befristeten und der Zeitdruck aus dem ökonomischen System prallen auf das Entwicklungsideal aus dem Erziehungssystem. Der Titel „Führen oder Wachsenlassen" von Theodor Litt drückt diese Spannung paradigmatisch aus. 77 In Organisationen der Wirtschaft wird diese Frage zur Paradoxie, da zum Wachsen geführt werden soll. Ein selbstselektiver Prozess (das Lernen) eines nicht-trivialen Systems (der Lernende) soll gesteuert und damit trivialisiert werden. I m Organisationsalltag trifft der ,homo pädagogicus' auf den homo oeconomicus und wird zum dilemmatischen ,homo oecopädicus'. Die folgenden Beispiele stellen in Kürze weitere Spannungsfelder dar, die in Organisationen durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erwartungsmuster verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme entstehen, und dort immer wieder vermittelt werden müssen, z.B. in Rollenoder Programmmustern. Führungsrollen
und leadership:
Die klassischen Rollenbeschreibungen und
Funktionsangaben von Führungskräften stehen auf dem Prüfstand. Die Standard-Tätigkeitsbeschreibung von Managern, „planen, führen, motivieren und kontrollieren" 78 reicht scheinbar heute nicht mehr aus. Der Manager hat abgedankt, es lebe der Leader. Traditionelles Management wird gleichgesetzt „mit der Sicherung effizienter Abläufe, der Vorgabe und Kontrolle von Budgets, der sorgfältigen Planung von Projekten, der klaren Abgrenzung von Aufgaben, der Überwachung von Terminen und ähnlichen Funktionen. Kurzum, Management wird mit genau dem gleichgesetzt, was man eigentlich Jahrzehnte darunter verstanden hat, nämlich der Schaffung eines durchdachten, klar strukturierten Leistungsprozesses, der eine möglichst perfekte Erreichung der gesteckten Ziele er-
77 78
Litt, Führen oder Wachsenlassen. Walgenbach/Tempel, Management als soziale Praxis, S. 170.
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möglicht. M i t Führung oder ,true leadership' wird im Unterschied dazu auf ein ganz anderes Funktionsspektrum verwiesen. Leadership soll... Visionen schaffen, vernetzen, inspirieren, Neues wagen usw. M i t anderen Worten, Leadership soll für Aufbruch, Kreativität und Wagnis sorgen." 79 Diesem verstärkten Ruf nach Leadership und Führung geht historisch gesehen die Verdrängung des Unternehmers durch angestellte Manager und Bürokraten voraus, die die unternehmerischen Tugenden sukzessive ersetzt hatten: „Die traditionellen unternehmerischen Tugenden von Wagnis und individueller Initiative traten zugunsten der Logik rationaler Verwaltung und Effizienzsteigerung zurück." 80 Moderne Unternehmen, deren Personalabteilungen sowie nicht mehr zählbare Drittdienstleister und Managementphilosophen machen sich permanent Gedanken über die Aufgaben und das Profil von Führungskräften angesichts sich ständig verschiebender Ansprüche an den Arbeitsalltag. Könnte man sich die perfekte Führungskraft per Wunschliste bestellen, so würde die in drei Hinsichten integrierte Persönlichkeit erscheinen. Sie verbände die Qualitäten einer integren, vertrauenswürdigen Person mit dem Sachverstand eines spezialisierten Experten, also funktionale mit extrafünktionaler Autorität. A u f der Sachebene zeichnete sie sich durch professionelles Fachwissen und einen profunden Sachverstand aus, die klares und rationales Entscheiden ermöglichen. A u f der Sozialebene wäre sie der einfühlsame und verstehende „Kollege", Begleiter, Berater, Motivator, Freund und Förderer, der seine Mitarbeiter in ihren Stärken und Schwächen kennt und sie deshalb angemessen zu motivieren und zu korrigieren weiß. In Zeitfragen wäre die Führungskraft weitsichtig im Entwerfen von Visionen, Plänen und Strategien, dem Formulieren von Zielen und dem Mobilisieren von Leuten und Interessen für Zukunftsprojekte. Und bei all diesen Fähigkeiten ist die Führungskraft nicht gewissenlos und machtorientiert, sondern nutzt ihr Wissen wertbezogen und zur Nachhaltigkeitssteigerung. Die Führungskraft ist Fachmensch mit Herz, Experte mit Charisma! Neuere Führungslehren bündeln diese Tugenden in Vorstellungen von der Führungskraft als Coach, Mentor, Entwickler, Designer, Networker, Visionär und Change Agent. Hier tritt der emphatische, sensible, sozialkompetente, teamfähige und empfindsame Begleiter, der immer ein Auge und Ohr offen hat für die Belange der anderen Mitarbeiter in Spannung zum zielstrebigen, entscheidungsfreudigen, macht- und interessenbewussten und strategischen Akteur, der zuallererst das ökonomische Kalkül realisieren w i l l . 8 1 360°-Feedback:
Die unter dem Etikett der umfassenden Partizipation auftre-
tende Rumdumbewertung des 360°-Feedback koppelt die erzieherisch gemeinte Entwicklungs- und Potentialsemantik mit der Selektions- und Kontrolllogik von 79 80 81
Schreyögg, Funktionswandel im Management. Problemaufriss und Thesen, S. 15. Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, S. 234. Vgl. hierzu auch Neuberger, Dilemmata und Paradoxa im Managementprozess.
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notenäquivalenten Bewertungen und der Negativsanktionsmöglichkeit der Exklusion aus Mitgliedschaftsverhältnissen. Die weichen Sozialdaten werden in die Sachlogik von Messskalen gebracht, in der Hoffnung sich auf die Validität und Objektivität von Kennzahlen verlassen zu können. Einschätzungen werden zu Maßzahlen umgerechnet. Das 360°-Feedback legitimiert sich durch ein pädagogisches LeistungsVerständnis. Die Leistungsbewertung wird an das Argument individueller Förderung gebunden. Das pädagogische Prinzip liegt in der Verknüpfung von Leistungsbewertung und Potentialforderung. 360°-Feedback soll zu einer positiven und realistischen Selbsteinschätzung führen. 82 Coaching :
Die Rede vom Coaching und Training vermittelt die Idee, dass
soziale Kompetenzen trainierbar sind. Wer fleißig übt, kommt auch an sein Ziel. M a n braucht nur die richtigen Seminare und seinerseits den richtigen ,personal coach'. Dass die Sportlogik aber nicht nur Sieger, sondern konstitutiv auch immer Verlierer vorsieht, um Sinn zu machen, wird dabei ausgeblendet. (2) M i t dem zweiten Beispiel möchte ich den komplementären Prozess beschreiben, dass während in Organisationen der Wirtschaft
mittlerweile
scheinbar mehr gelernt als gearbeitet, in Schulen mehr gearbeitet als unterrichtet und gelernt wird. Dieses Bild entsteht auf der semantischen Ebene. Seit einigen Jahren wird in der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion verstärkt die Schule als Organisation entdeckt und problematisiert. Das Feld, an dem sich das hervorragend zeigen lässt, ist die Diskussion um Schulentwicklung, Qualitätsmanagement und -Sicherung sowie zur Schulprogrammarbeit. Was zuvor noch „Förderung des Bildungswesens" hieß, wird jetzt unter dem Titel der organ i s a t i o n a l Schulentwicklung neu gefasst. Ein kursorischer Blick in Veröffentlichungen seit 2000 stützt den Eindruck. Es lassen sich Titel wie die folgenden konstatieren: „Effektive Schulführung - Chancen und Risiken des Public Managements im Bildungswesen", „Qualitätsentwicklung von Schule", „Personalführung in der Schule", „Von der Schulentwicklung zur Corporate Identity", „Organisationsentwicklung und organisational Lernen von Schulen", „Konflikt- und Motivationsmanagement in der Schule", „Zielvereinbahrung im Personalmanagement der Schule", „Produktdefinition und Kundenorientierung an der Schule". Dieser Trend zeigt sich dabei nicht nur in den als Beratungsliteratur zu bezeichnenden Publikationen, sondern auch in den bildungspolitischen Richtlinien und Empfehlungen sowie in der erziehungswissenschaftlichen Begleitforschung und Reflexion. Unter dem Namen „Arbeit" wird Organisation zu einer Schlüsselkategorie zur Verbesserung und Innovationsfähigkeit des Erziehungssystems. Während der Arbeitsbegriff in älterer pädagogischer Semantik kaum zur Beschreibung der professionellen Tätigkeit der Lehrer eingesetzt wird, lässt sich in neueren Richtlinien und Handreichungen zur Qualitätsentwicklung von Schule ein nahezu inflationärer Gebrauch des Arbeitsbegriffes 82
Vgl. ausführlich hierzu Neuberger , Das 360°-Feedback.
Die Grenzenlosigkeit des Managements
473
feststellen. 83 Schulentwicklung wird als Qualitätsentwicklung verstanden, die der Qualitätssicherung der schulischen Arbeit verpflichtet ist. Die semantischen Verschiebungen zum Verständnis der Schule als managementfähige Organisation lassen sich wie folgt zusammenfassen: Dezentralisierung:
Schulische Qualität kann auf der Ebene der einzelnen
Schule besser geleistet werden. Daraus erwachsen an die Binnenorganisation der einzelnen Schule Anforderungen wie klare Leistungsorientierung und Zielklarheit, wirksame Führung. Schulprogramme,
Leitbilder
und Corporate
Identity : Schulen müssen sich
stellen und eine Corporate Identity ausbilden, die einerseits die allgemeinen pädagogischen Ziele des gesamten Schulsystems repräsentiert, aber gleichzeitig das besondere Profil der Schule ausdrückt. Leitbilder sollen für Konsens und die Bindung aller Beteiligten der Schule sorgen. Lehrer, Schüler und Eltern gehen Hand in Hand! Teamgeist
Die entwickelten Schulprogramme führen zum Teamgedanken,
wodurch die Kooperation der ansonsten vereinzelten Lehrer ermöglicht werden soll. Selbstverantwortung'.
Schulprogramme und die Corporate Identity verpflich-
ten. Die Schule muss die eigenen Wertmaßstäbe im ständigen Wandel reflektieren. Planung
und Evaluation:
Zur Organisation schulischer Arbeit gehört Pla-
nung und Evaluation bis hinunter auf die Ebene der einzelnen Schule. Kollektivakteurstatus'.
Die einzelne Schule sieht sich verstärkt im Fokus ver-
schiedener Interessengruppen. Lehrer, Eltern, Hochschulen, die Wirtschaft und die Schüler als Leistungsempfänger selbst fragen nach der Qualität schulischer Arbeit. Die einzelne Schule wird zur eigenständigen Adresse und bestimmt sich in Netzwerken mit anderen Schulen, wirtschaftlichen Partnern und Sponsoren etc. Wettbewerb und Konkurrenz:
Die einzelnen Schulen treten immer mehr in
Konkurrenz um knappe Ressourcen zueinander. A n diesem Beispiel aus dem Erziehungssystem lässt sich die Relevanz der Verbindung von Differenzierungstheorie und Organisationstheorie reflektieren. Einerseits sind die Bemühungen, auch bei und in Organisationen der Erziehung, an den vermeintlich neuesten und rationalsten Stand des Management- und Organisationswissens von Wirtschaftorganisationen anzuschließen. Andererseits prallen dann wieder die Sinnentwürfe zweier Welten aufeinander. Der Schulleiter, der sich selbst auf einmal als Manager beschreiben, seine Kollegen motivie-
83
Vgl. Schriftenreihe
Schule in NRW, Qualität als gemeinsame Aufgabe.
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ren, ein Budget handhaben und die Schule zu „Exzellenz" fuhren soll, versteht seine gewohnte pädagogische Welt nicht mehr. Manager und Lehrer sind zunächst zwei ziemlich unterschiedliche Rollen. Während die erste Rolle um die Verankerung in einen professionellen Wissenszusammenhang kämpft, weiß der Lehrer sich einer Profession oder immerhin Semiprofession zugehörig, von der jetzt eine grundlegende Neuorientierung der Selbstbeschreibung gefordert wird.
V. Schlussnotiz Der Text hat versucht, auf verschiedenen Ebenen den Bedarf einer organisations- und differenzierungstheoretischen Fundierung des Problems der Grenzenlosigkeit des modernen Managementanspruchs anzuzeigen. Unzweifelhaft sind - in der Sprache des Neoinstitutionalismus gesprochen - die globalen und weltgesellschaftlichen Prozesse der kulturellen Homogenisierung und Konvergenz von Rationalitätsmustern, in denen Organisationen als Diffusionsagenten und als Adressaten fur Diffusionsprozesse auftreten. 84 Gleichzeitig kann eine differenzierungstheoretische Erweiterung dieser Frage darüber hinaus aber dafür sensibilisieren, neben Konvergenzen und Homogenitäten auch Differenzen, Inkonsistenzen und Dissonanzen zu analysieren, die auf die Differenzierung verschiedener Sinnkonfigurationen unterschiedlicher gesellschaftlicher Systemkontexte beruhen. So kann im besten Fall die Gleichzeitigkeit verschiedener Prozesse beobachtet werden.
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84
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Bibliographie Eckart Pankoke
Qualität im Spannungsfeld von Anbietern und Nutzer/innen sozialer Dienste, in: Observatorium soziale Dienste in Europa (Hrsg.), „Indikatoren und Qualität sozialer Dienste im europäischen Kontext" (Berlin Oktober 2002), in: Frankfurt a. M. 2003, S. 75-86. Solidarität und Sekurität in der Risikogesellschaft. Modernisierungsschwellen und Modernisierungskrisen sozialer Sicherung, in: G. Scholtz / T. Trappe (Hrsg.), Sicherheit - Grundprobleme modemer Gesellschaften, Würzburg 2003, S. 37-56. Stiftung und Ehrenamt, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Handbuch Stiftungen, neu bearbeitete 2. Auflage, Gütersloh 2003, S. 593-626. Transformazija economici i ismenenije zanjatosti truda. Problemi I potenzialo v nemzkom prozesse Transformatzii, in: Soziologiha sozialnih transformatzij, Nisznij Novgorod 2003, S. 144-152. Wohlfahrt. Zwischen Daseinsvorsorge und Selbststeuerung, in: K. Deufel / M. Wolf (Hrsg. im Auftrag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge), Ende der Solidarität? Die Zukunft des Sozialstaats, Freiburg 2003, S. 304-309. Akteurstypen, Kompetenzproflle und Motivationsmuster aktiven Gemeinsinns. Personale Prämissen institutionellen Engagements, in: H. Anheier / V. Then (Hrsg.), Zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. Neue Formen und Wege der Gemeinnützigkeit, Gütersloh 2004, S. 147-173. Beton und Bambus. Globalisierungsdruck und nachhaltige Entwicklung, in: F. Fürstenberg / G. W. Oesterdiekhoff (Hrsg.), Globalisierung ohne Grenzen. Soziologische Beiträge zum Entgrenzungsdiskurs, Hamburg 2004. „Praktische Künste" und „kulturelle Praxis". Kulturwissenschaftliche Reflexionen modemer Sinn-Bildung, in: F. Jäger / J. Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften II: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, S. 16-33. Voluntary Associations and Civic Engagement: European Traditions, Discourses and Perspectives for Voluntary and Intermediary Networks, in: A. Zimmer / E. Priller (eds.), Future of Civil Society. Making Central European Nonprofit-Organizations Work, Wiesbaden 2004, S. 57-76.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Dirk Blasius, Universität Essen, Fb 1 / Geschichtswissenschaft Prof. Dr. Alois Brandenburg, Universität Essen, Fb 1 / Soziologie Dr. Thomas Drepper, Universität Essen, Fb 1 / Soziologie Prof. Dr. Peter Fuchs, 23847 Meddewade Prof. Dr. Karl Gabriel, Universität Münster, Institut für Christliche Sozialwissenschaften PD Dr. Helmut Geller, 48165 Münster Dr. Andreas Göbel, Universität Essen, Fb 1 / Soziologie Prof. Dr. Äo/f G. Heinze, Fakultät für Sozialwissenschaft, Lehrstuhl für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Thomas Heinze, Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Fernuniversität Hagen Prof. Dr. Helmut Klages, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Prof. Dr. Franz-Xaver
Kaufmann, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie
Prof. Dr. Wolf gang Lipp, 97297 Waldbüttelbrunn Prof. Dr. Werner Nienhüser, Universität Essen, Fb 5 / Wirtschaftswissenschaften Prof. Dr. Hans Nokiels/ci,
Universität Essen, Fb 1 / Soziologie
Prof. Dr. Detlef Pollack, Europa Universität Viadrina, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Frankfurt a. d. Oder Prof. Dr. Karl-Siegbert
Rehberg, Technische Universität Dresden, Institut für Soziolo-
gie Prof. Dr. Justin Stagl, Universität Salzburg, Institut für Kultursoziologie Prof. Dr. Johannes Weiß, Universität Kassel, Fb 5 / Gesellschaftswissenschaften Prof. Dr. Annette Zimmer, Institut für Politikwissenschaft, Westfälische WilhelmsUniversität Münster Prof. Dr. Arnold Zingerle, Universität Bayreuth, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für allgemeine Soziologie, Bayreuth