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German Pages [335] Year 2012
Lehr- und Handbücher der Soziologie Herausgegeben von Dr. Arno Mohr
Soziale Netzwerke Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung
herausgegeben von
Prof. Dr. phil. Johannes Weyer Technische Universität Dortmund
2., überarbeitete und aktualisierte Auflage
Oldenbourg Verlag München
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Kristin Beck Herstellung: Constanze Müller Titelbild: thinkstockphotos.de Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik + Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-58315-1
Vorwort Als dieser Band im Jahr 2000 erstmals erschien, verfolgte er das Anliegen, einen Überblick über die disparate Landschaft der Netzwerkforschung zu bieten und zugleich – in gut der Hälfte der Beiträge – das spezifische Bielefelder Profil der Techniksoziologie zu präsentieren. Dieses Profil verknüpfte die empirische Analyse von Innovations-Prozessen in Netzwerken mit einer theoretischen Orientierung in Richtung Selbstorganisations- und Systemtheorie. Mittlerweile hat sich die Netzwerk-Gesellschaft in rasendem Tempo weiterentwickelt; neue Themen wie ‚soziale Netzwerke im Internet‘, die sich vor zehn Jahren erst am Horizont abzeichneten, haben sich in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit geschoben. Aber auch bei den Theorien und Methoden der Netzwerkforschung lassen sich erhebliche Fortschritte konstatieren. Zudem hat sich der Kreis der AutorInnen dieses Bandes verändert, so dass an der Neuauflage neben etlichen Ex-Bielefeldern nur noch ein Autor beteiligt ist, der gegenwärtig in Bielefeld tätig ist. Die Neuauflage zeigt wiederum das breite Spektrum der Konzepte und Methoden auf, welche die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung bei der Analyse von InterorganisationsNetzwerken einsetzt. Hinzugekommen sind zwei Beiträge, die dem neuartigen Phänomen der Vernetzung in elektronischen Medien nachspüren, und zwar anhand der BeziehungsNetzwerke im Internet und der Daten-Netzwerke in der Echtzeit-Gesellschaft. Zudem ist der Methodenteil umfangreicher geworden. Der vorliegende Band versucht somit auch, das spezifische Dortmunder Profil der Techniksoziologie zu demonstrieren, das aus einer Kombination von Internet-Soziologie, Methoden der Computersimulation und handlungstheoretisch fundierter Analyse von InnovationsNetzwerken besteht. Im Zusammenspiel mit den Beiträgen, die eine organisationstheoretische, policyanalytische oder gesellschaftstheoretische Ausrichtung haben, soll so wiederum ein Überblick über die vielfältigen Facetten der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung geboten werden. Der vorliegende Band hätte ohne die Bereitschaft der Ko-AutorInnen, ihre Beiträge auf den aktuellen Stand zu bringen, nicht realisiert werden können. Aber auch die (jetzigen und ehemaligen) MitarbeiterInnen des Fachgebiets Techniksoziologie der TU Dortmund haben in den letzten Jahren durch Recherchen, Korrekturlesen und das Anfertigen der Grafiken ganz wesentlich zum Gelingen des Bandes beigetragen. Gedankt sei insbesondere Franziska Perlick, Anja Schubert, Katharina Vitt, Robin Fink, Jens Kroniger, Fabian Lücke und Marc Mölders, auch Birgit Peuker, die die Konzeption des Bandes in einem frühen Stadium mit entwickelt hat.
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Vorwort
Mein Dank geht auch an die Firma Nordhaus Kürten GmbH, die mir im Laufe der letzten Monate tiefe Einblicke in die Funktionsweise eines Netzwerks mittelständischer HandwerksUnternehmen gewährt hat, nicht zuletzt aber an Petra Schulze-Bramey, der ich versprochen hatte, das Manuskript vor der Fertigstellung unseres neuen Hauses abzuschließen.
Menden (Sauerland), im Dezember 2010
Johannes Weyer
Inhalt Vorwort
V
Einleitung
1
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft Johannes Weyer 1 Dimensionen der Netzwerk-Gesellschaft 2 Die Macht der Daten-Netze 3 Steuerung komplexer Systeme 4 Die Verletzlichkeit der Echtzeit-Gesellschaft 5 Fazit: Die Macht der Netzwerke 6 Literatur
3 3 6 16 29 34 35
Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften Johannes Weyer 1 Die vernetzte Gesellschaft 2 Netzwerke in der Transaktionskostenökonomie 3 Ansatzpunkte der soziologischen Netzwerkforschung 4 Beiträge zur Analyse von Interorganisations-Netzwerken 5 Soziale Netzwerke und soziologische Theorie 6 Literatur
39 39 42 48 55 60 64
Methoden der Netzwerkforschung
71
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone 1 Für eine strukturalistische Perspektive in der Soziologie 2 Soziales Kapital als Scharnier zwischen Akteuren und Strukturen 3 Operationalisierung von sozialem Kapital 4 Soziales Kapital und Exzellenz in einem Forschungsnetzwerk 5 Schlussbemerkung 6 Literatur
73 73 75 85 96 103 104
VIII
Inhalt
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse Johannes Weyer, Robin D. Fink und Tobias Liboschik 1 Einleitung 2 Formale Netzwerk-Analyse mit UCINET 3 Computersimulation sozialer Netzwerke 4 Resümee: Formale Netzwerk-Analyse und Computersimulation im Vergleich 5 Epilog: Die Macht der Netzwerk-Analyse 6 Literatur
109 110 118 128 129 130
Interorganisations-Netzwerke
133
Strategische Netzwerke Eckhard Heidling 1 Einleitung 2 Wandel von Unternehmensstrukturen und interorganisationale Netzwerke 3 Kooperation in strategischen Netzwerken 4 Strategische Kooperation im Kfz-Gewerbe 5 Interaktion in strategischen Netzwerken 6 Fazit 7 Literatur
135
Regionale Netzwerke Martin Heidenreich 1 Konzept, Merkmale und Dilemmata regionaler Netzwerke 2 Die Debatte um die Grundlagen regionaler Leistungsfähigkeit 3 Zum Stellenwert zwischenbetrieblicher Kooperationsnetzwerke 4 Zusammenfassung 5 Literatur Policy-Netzwerke Christoph Knill und Ansgar Schäfer 1 Was sind Policy-Netzwerke? 2 Eigenschaften von Policy-Netzwerken 3 Policy-Netzwerk als Metapher – die heuristische Perspektive 4 Typologie von Policy-Netzwerken – die deskriptive Perspektive 5 Policy-Netzwerke als Steuerungsform – die Governance-Perspektive 6 Kritische Anmerkungen 7 Methoden der Erforschung von Policy-Netzwerken 8 Konklusion 9 Literatur
109
135 138 142 148 152 158 160 167 168 175 182 185 186 189 189 190 195 197 200 204 211 212 213
Inhalt Innovations-Netzwerke Johannes Weyer 1 Einleitung 2 Methodische Zugänge zum Phänomen Innovations-Netzwerke 3 Zur Geschichte des Konzepts der Innovations-Netzwerke 4 Wie funktionieren Innovations-Netzwerke? 5 Empirische Befunde zu den Effekten von Netzwerken 6 Fazit: Quantitative und qualitative Analysen von Innovations-Netzwerken 7 Literatur
Interpersonale Netzwerke
IX 219 219 220 221 227 237 242 243
247
Beziehungsnetzwerke im Internet Christian Stegbauer 1 „Networking-Sites“ im Internet 2 Formale Netzwerkanalyse 3 Forschungsstrategien und die Möglichkeiten der Netzwerkanalyse 4 Beziehungsstrukturen im Internet in netzwerktheoretischer Perspektive 5 Fazit 6 Literatur 7 Glossar
249 249 253 253 263 267 268 272
Theoretische Perspektiven
275
Akteur-Netzwerk-Theorie Ingo Schulz-Schaeffer 1 Einleitung 2 Drei Beispiele für die ungewohnte Sichtweise heterogener Assoziierung 3 Konzeptuelle Grundlagen der Akteur-Netzwerk-Theorie 4 Kritische Anmerkungen zu den konzeptionellen Grundlagen 5 Ausblick: Die Akteur-Netzwerk-Theorie als allgemeine Sozialtheorie 6 Literatur
277 277 280 284 290 295 298
Verbindungen und Grenzen Jan A. Fuhse 1 Einleitung 2 Systemtheoretische Versionen des Netzwerkbegriffs 3 Systemtheoretische Beiträge zur Netzwerktheorie 4 Resümee 5 Literatur
301 301 302 315 321 322
Autorenverzeichnis
325
Einleitung
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft Johannes Weyer
1
Dimensionen der Netzwerk-Gesellschaft
Die Offline-Gesellschaft mit ihren Postämtern, Tageszeitungen und Funklöchern scheint ein Auslaufmodell zu sein.1 Binnen nur eines Jahrzehnts ist eine neue Gesellschaft entstanden, für die Manuel Castells bereits 1996 den Begriff „Netzwerk-Gesellschaft“ geprägt hat. Zwar fiel es ihm zum damaligen Zeitpunkt – eigenen Angaben zufolge – noch schwer, die Konturen dieser neuen Gesellschaft präzise zu erfassen (2010: 4, 385); er benannte jedoch eine Reihe von Trends wie Dezentralisierung, Individualisierung, Flexibilisierung, Globalisierung etc. als Kennzeichen der Netzwerk-Gesellschaft, welche sich auch in anderen Gesellschaftsdiagnosen wie beispielsweise bei Ulrich Beck (1986) finden lassen.2 Neben der technologischen Revolution des Internets, die eine Transformation vieler Bereiche der Gesellschaft angestoßen bzw. bereits laufende Prozesse beschleunigt hat, ist es vor allem das Netzwerk, das diese neue Gesellschaft prägt, sei es in Form von Unternehmens-Netzwerken, sei es in Form virtueller Gemeinschaften im Internet. Diese Diagnose wird – in unterschiedlichem Maße – auch von anderen Ansätzen geteilt, die zur Charakterisierung der Postmoderne Bezeichnungen wie Dienstleistungs-, Informations- oder Wissensgesellschaft verwenden (vgl. Weingart 2001: 11f.). Mittlerweile zeichnen sich jedoch einige Facetten der Netzwerk-Gesellschaft ab, die allerdings auf unterschiedlichen Ebenen liegen und daher in diesem Band aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden (vgl. Tabelle 1):
1
Mein Dank für Kommentare und wertvolle Hinweise geht an Robin Fink und Marc Mölders.
2
Was genau das Spezifikum der Netzwerk-Gesellschaft ist, bleibt bei Castells offen; er präsentiert zwar interessante Beschreibungen der Entwicklungen gesellschaftlicher Teilbereiche, bindet diese aber nicht zu einer Gesamt-Diagnose bzw. einem theoretischem Modell zusammen.
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Johannes Weyer
Interorganisations-Netzwerke Ein wesentliches Kennzeichen der Netzwerk-Gesellschaft sind InterorganisationsNetzwerke, die von strategisch handelnden Akteuren gebildet werden, welche ihre Handlungen koordinieren, um auf diese Weise Unsicherheiten zu bewältigen und Leistungen zu erbringen, die ohne das Netzwerk kaum möglich wären. Ein Beispiel ist die netzwerkförmige Koordination ökonomischer Aktivitäten bei der Entwicklung von Elektro-Antrieben für Pkws. Ein solches Netzwerk besteht aus einer überschaubaren Anzahl (meist) korporativer Akteure, deren Identität bekannt ist und die sich in ihren Interaktionen auf co-präsente Alteri beziehen, deren (antizipierte) Reaktionen zum Bestandteil des eigenen Handlungskalküls gemacht werden. Eine derartige strategische Interaktion ist exklusiv, d. h. sie schließt weitere Akteure aus. In dieser Perspektive ist das Netzwerk also ein neuartiger Modus der Handlungskoordination neben Markt und Hierarchie, der sich besonders eignet, um in turbulenten Umwelten zu bestehen. Die vorrangig verwendete Methode der Sozialwissenschaften zur Analyse derartiger Netzwerke sind qualitative Fallstudien.
Beziehungs-Netzwerke Die Netzwerk-Gesellschaft ist jedoch auch geprägt durch Beziehungs- beziehungsweise Freundschafts-Netzwerke, die in zunehmendem Maße über elektronische KommunikationsMedien (wie das Internet) realisiert werden und damit eine neue Qualität gegenüber sozialen Netzwerken traditioneller Prägung gewinnen, die auf Face-to-face-Kommunikation basieren. Derartige Netzwerke bestehen aus einer Vielzahl meist individueller Akteure, deren Identität nicht immer bekannt sein muss und deren Reaktionen sich nur partiell antizipieren lassen, was strategische Interaktion erschwert und neuartigen Formen der Selbst-Inszenierung Vorschub gibt. Virtuelle Communities werden typischerweise mit Hilfe der formalen NetzwerkAnalyse, aber auch mit ethnografischen Methoden erforscht.
Daten-Netzwerke Schließlich hat die Netzwerkgesellschaft ein neuartiges Phänomen hervorgebracht: das Daten-Netzwerk, das als unsichtbares ‚Spinnennetz‘ im Hintergrund existiert und in zunehmendem Maße nicht nur die Infrastruktur unseres Handelns bildet, sondern eine eigenständige Qualität gewinnt, indem es die sozialen Akteure in unterschiedlichsten Lebenslagen permanent beobachtet, analysiert und durch vielfältige Feedback-Mechanismen letztlich auch beeinflusst.3 Ein derartiges Netzwerk besteht aus latenten, oftmals erst vom externen Beobachter und Analytiker konstruierten Verbindungen zwischen Akteuren und Ereignissen. Diese Relationierung von Akteuren und Ereignissen ermöglicht die Dechiffrierung von (Netzwerk-) Strukturen, welche den beteiligten Akteuren oftmals nicht bewusst sind und von ihnen auch nicht notwendigerweise kommunikativ realisiert werden müssen. Diese Strukturen bilden
3
Der Begriff „Daten-Netzwerk“ ist zweifellos nicht mehr als ein Provisorium, mit dem das neuartige Phänomen einer Vernetzung von Daten (statt von Personen bzw. von Organisationen) in den Blick gerückt werden soll. Mit Daten-Netzwerk ist somit nicht die physische IT-Infrastruktur gemeint, die ebenfalls einen netzförmigen Charakter hat.
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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jedoch eine eigene Wirklichkeit, die eine wertvolle Ressource für die Steuerung individuellen Verhaltens, aber auch des Gesamtsystems darstellt. Mit Hilfe der Verfahren der Netzwerk-Analyse lassen sich Verbindungen zwischen Akteuren und Ereignissen herstellen und die hinter den Einzelhandlungen liegenden Muster dechiffrieren, aus denen sich die Identität des jeweiligen Akteurs ergibt. Darüber hinaus lassen sich durch derartige Analysen Verhaltensänderungen und Anomalien identifizieren, was beispielsweise für Zwecke der Verbrechensbekämpfung genutzt wird. Gene Rochlin hat die vielfältigen Gefahren, die sich aus diesen neuartigen Techniken der Datenerhebung im Netz ergeben können, bereits 1997 mit der Formel „gefangen im Netz“ (trapped in the net) beschrieben. Auch in diesem Fall kommt vor allem die Methode der formalen NetzwerkAnalyse zum Einsatz, oftmals verbunden mit fortgeschrittenen Verfahren des Data-Mining.
Große technische Netzwerke Darüber hinaus verweist der Netzwerkbegriff auch auf die großen technischen Infrastruktursysteme wie etwa das Elektrizitäts-Netzwerk – ein Punkt, der später (in Abschnitt 3) unter der Governance-Perspektive behandelt werden soll (Mayntz/Hughes 1988; Markard/Truffer 2006; Geels 2007; Mayntz 2009).
Komponenten Anzahl Realität/ Virtualität Status Mechanismus der Vernetzung
InterorganisationsNetzwerke korporative Akteure geringe Zahl real nicht anonym strategische Interaktion
BeziehungsNetzwerke Individuen große Zahl teils real, teils virtuell teils anonym Interaktion
DatenNetzwerke Daten, Datenspuren große Zahl virtuelles Konstrukt vermeintlich anonym formale NetzwerkAnalyse
Tabelle 1: Die Dimensionen der Netzwerk-Gesellschaft
Die Typisierung in Tabelle 1 ist ein erster, tastender Versuch, die drei Sichtweisen der Netzwerk-Gesellschaft miteinander zu vergleichen. Sie macht aber zugleich deutlich, dass die betrachteten Dimensionen offenkundig nicht auf einer analytischen Ebene liegen und sich daher auch nicht innerhalb eines theoretisch-konzeptionellen Ansatzes behandeln lassen. Dies ist zweifellos einer der Gründe, warum sich die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung schwer tut, die empirische Vielfalt von Netzwerk-Phänomenen kategorial zu erfassen. Dennoch zeigen die Beiträge dieses Bandes, dass es möglich ist, auch neuartige Phänomene mit dem begrifflichen, aber auch methodischen Repertoire der Soziologie in einer Weise zu bearbeiten, die zu grundlegenden Einsichten in die Struktur der NetzwerkGesellschaft führt. Denn alle beschriebenen Facetten lassen sich als neuartige Muster zur Bewältigung von Unsicherheit, zur Koordination der Handlungen heterogener Akteure sowie zur Sozialintegration in turbulenten Zeiten deuten, in denen sich das Alte auflöst und das Neue in Konturen sichtbar wird.
6
Johannes Weyer
Der Netzwerkgedanke ist in den Jahren seit der ersten Auflage dieses Bandes im Jahr 2000 zu einem wesentlichen Element der Selbstbeschreibung (post-)moderner Gesellschaften geworden. Aber die Wahrnehmung sozialer Netzwerke hat sich in den letzten zehn Jahren verschoben. Der vorliegende Band trägt dem Rechnung, indem er den Blick auf Interorganisations-Netzwerke (Beiträge von Heidling, Heidenreich, Knill/Schäfers, Weyer) ergänzt durch Analysen zu Beziehungsnetzwerken im Internet (Stegbauer) und zur formalen Netzwerk-Analyse (Jansen/Diaz-Bone) sowie durch einige knappe Ausführungen zu DatenNetzen (in den folgenden Abschnitten dieser Einleitung). Daneben bleibt die Einbettung der Netzwerk-Analyse in die soziologische Theorie ein weiteres wichtiges Anliegen (SchulzSchaeffer, Fuhse).
2
Die Macht der Daten-Netze
Vielfach steht der Begriff Netzwerk als Synonym für das Netz der Netze, das Internet; und beim Begriff soziales Netzwerk denkt man unwillkürlich an Facebook und andere, also an jene Internet-Plattformen, auf die sich ein immer größerer Anteil der sozialen Interaktion in Freundschafts-Netzwerken verlagert hat. Facebook ist jedoch mehr als eine elektronische Version des Poesiealbums, in dem man seine Freunde aus Schul- und Studienzeiten verewigte. Die Kombination der Daten, die die Nutzer sozialer Netzwerke im Internet massenweise produzieren, mit den technischen Möglichkeiten des Internets sowie den fortgeschrittenen Methoden der Datenverarbeitung und des Data-Mining erzeugt eine neuartige Qualität des Lebens im Netz, die weit über das hinausgeht, was man bislang mit dem Begriff des sozialen Netzwerks assoziierte. Denn das Internet hat sich im letzten Jahrzehnt unmerklich gewandelt: Von einer elektronischen Plattform, die jedem Nutzer das Wissen der Welt unentgeltlich zur Verfügung stellt – so die Visionen der 1990er Jahre (u.a. Negroponte 1997; Evans/Wurster 2000) –, zu einem mächtigen Werkzeug, das Firmen wie Facebook, Google und anderen unentgeltlich Daten und Informationen zur Verfügung stellt, die diese zu kommerziellen Zwecken nutzen, die ihnen zudem eine ungeheure Machtfülle verschaffen, die weit über das hinausgeht, was George Orwell in seiner Vision „1984“ beschrieben hat (Carr 2009). Die Macht von Google basiert auf: der technischen Infrastruktur des Internets (sowie den gigantischen Serverfarmen, die Google in den letzten Jahren aufgebaut hat), den sozialen Interaktionen, die wir als Nutzer tätigen, wenn wir Google-Services wie beispielsweise die kostenlose Suche oder das E-Mail-Programm nutzen, sowie den ausgeklügelten methodischen Verfahren der Netzwerk-Analyse, die Google beherrscht und seit der Erfindung des Page-Rank-Algorithmus in den 1990er Jahren fortlaufend perfektioniert und auf immer neue Bereiche ausdehnt (vgl. Surowiecki 2005: 16f.).
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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2.1 Mobiles Internet Das Internet hat sich zudem in den letzten Jahren radikal verändert, denn die Daten sind mobil geworden. Die Techniken der drahtlosen Mobilkommunikation und des World Wide Webs verschmelzen in hohem Tempo zum mobilen Internet, das es den Nutzern erlaubt, Informationen per Handy oder Smartphone an jedem beliebigen Ort abzurufen. Bei einem Museumsbesuch ist es beispielsweise möglich, zusätzliche Informationen über den Künstler zu erhalten, dessen Bild man gerade betrachtet. Wenn das Bild eine Identifikationsnummer (ID) hat, die man beispielsweise über einen Barcode einlesen kann, entfällt sogar das lästige Eintippen. Und wenn im Handy Angaben über den Nutzer hinterlegt sind (z. B. spanischer Staatsbürger, noch nicht volljährig), können die Informationen entsprechend gefiltert und personalisiert werden. Allergiker werden diese Möglichkeiten schätzen, wenn sie vor einem Supermarkt-Regal stehen und ihr Handy sie dabei unterstützt, Produkte auszuwählen, die keine allergenen Stoffe enthalten. Mit Hilfe smarter Objekte lassen sich diese Optionen noch weiter steigern. Beim „electronic ticketing“ kann beispielsweise das lästige Lösen von Fahrkarten am Fahrkartenautomat entfallen, wenn das Lesegerät in Bus und Bahn den elektronischen Fahrschein (bzw. das Handy) erkennt und der Bezahlvorgang mittels Nahfeld-Kommunikation kontaktlos und bargeldlos durchgeführt wird (Kurz/Rieger 2009: 31). Einige Technologien erlauben es sogar, das Portemonnaie mit der Chip-Karte bzw. das Handy in der Tasche zu lassen. Die Risiken derartiger Verfahren liegen in der Intransparenz der Prozesse, die für den Nutzer nur schwer durchschaubar sind, in den vielfältigen Problemen des Datenschutzes, vor allem aber in den Datenspuren, die derartige Transaktionen hinterlassen und die – in Kombination mit Daten aus anderen Quellen – zur Entwicklung individueller Profile genutzt werden können (vgl. Abschnitt 2.2). Die Satellitenortung via GPS steigert die hier beschriebenen Optionen, weil sie eine Lokalisierung von Objekten, aber auch von Subjekten ermöglicht. Google bietet beispielsweise den Dienst Google Goggles an: Man schießt per Handy ein Foto vom Brandenburger Tor, schickt dieses an Google und erhält umgehend die passenden Informationen. Dabei spielt das Bild (bislang) nur eine untergeordnete Rolle, denn Google errechnet alleine aus den Standortinformationen, die das GPS-Modul des Handys übermittelt, sowie aus der Ausrichtung des Handys, die über den Lagesensor bzw. den internen Kompass erkannt wird, auf welches Objekt das Handy gerichtet ist (Bredow et al. 2010).4 Ähnlich wie bei anderen GeodatenDiensten lokalisiert man sich mittels der Anfrage an den Daten-Dienst also selbst. Auf diese Weise werden sämtliche Informationen in Echtzeit verfügbar: In dem Moment, wo man eine Information benötigt, wird sie unverzüglich bereitgestellt, so dass der Faktor Zeit keine Rolle mehr spielt. Man muss nicht mehr langfristig im Voraus planen, d. h. Informationen vorab besorgen (z. B. in Form eines Reiseführers), sondern kann ad hoc agieren. Allerdings ist man bei dieser Ad-hoc-Planung dann auch auf die Informationen angewiesen, die
4
Siehe www.google.com/mobile/goggles (20.12.2009).
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Johannes Weyer
zu dem betreffenden Zeitpunkt zu Verfügung gestellt werden.5 Zudem fallen keine Suchkosten an, und es ist (fast) kein Know-how erforderlich, um derartige Dienste zu nutzen. Was dies bedeutet, kann man sich vor Augen führen, wenn man vergleicht, wie Suchanfragen noch vor 20 Jahren funktionierten. Man schickte beispielsweise an das Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder an das sozialwissenschaftliche Literaturinformationssystem SOLIS die schriftliche Bitte, Artikel zum einem bestimmten Thema zu recherchieren, und erhielt einige Wochen später – gegen üppige Bezahlung – die Antwort in Form eines mehr oder minder gut sortierten Papierstapels. Das Ganze brauchte Zeit, musste gut geplant werden (denn sonst hatte man wertlosen Datenmüll), brachte aber auch Phasen der Muße mit sich. Ein schrittweises Herantasten an das Suchergebnis, wie es heutige Datenbanken erlauben, war jedoch undenkbar; die Suchbegriffe mussten passen, ansonsten war das Ergebnis unbrauchbar. In der mobilen Echtzeitgesellschaft werden hingegen die Informationen über die Position und die Identität von Objekten, aber auch von Personen jederzeit für jedermann – sofern sie/er über die entsprechenden Dienste verfügt – überall verfügbar sein. Dies hat etliche Implikationen, deren Tragweite und gesellschaftspolitische Sprengkraft sich erst langsam abzeichnet.
2.2 Datenpreisgabe im Internet Indem wir Informationen mit mobilen Endgeräten aus dem Internet abrufen, geben wir zugleich Daten über uns preis, und zwar nicht nur unsere Wünsche und Absichten, sondern auch unseren Standort und die Verbindungsdaten der Personen, mit denen wir per Telefon oder per SMS kommunizieren (Bredow et al. 2010). Im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung, die in Deutschland von Januar 2008 bis zur Entscheidung des BundesverfassungsGerichts im März 2010 praktiziert wurde, wurden sämtliche Verbindungsdaten von Festnetzund Mobiltelefonaten sowie von E-Mails, ferner die IP-Adressen der Rechner, die im Netz aktiv sind, für sechs Monate gespeichert. Die Standorte, von denen aus kommuniziert wird, sind bei Festnetz-Anschlüssen bekannt; bei mobiler Kommunikation erfolgt die Lokalisierung über die Funkzellen, die wie ein dichtes Raster über der Landkarte liegen.
Verkehrsdatenanalyse Constanze Kurz und Frank Rieger haben in ihrem Gutachten zur Vorratsdatenspeicherung, das sie im Jahr 2009 für das Bundesverfassungsgericht verfasst haben, detailliert nachgewiesen, dass sich allein aus diesen wenigen Daten ein ziemlich präzises Bild einzelner Personen, ihres Beziehungs-Netzwerks sowie ihrer momentanen Aktivitäten, Probleme, Wünsche etc. generieren lässt (Kurz/Rieger 2009; vgl. auch die Kurzfassung in Rieger 2010c). Das Verfahren nennt sich Verkehrsdatenanalyse und wurde ursprünglich für Zwecke der militärischen 5
Nutzer von Navigationssystemen im Auto kennen die Situation, dass man total verwirrt und hilflos ist, wenn man sich lange Zeit vom Navigationsgerät hat leiten lassen und sich dann plötzlich – z. B. wegen einer Baustelle – in einer Situation befindet, in der man die Routenplanung wieder selbst übernehmen muss, was jedoch ad hoc nicht funktioniert, sondern ein gewisses Maß an Voraus-Planung und eigenständiger Orientierung erfordert.
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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Aufklärung entwickelt. Auf Basis der Verkehrsdaten (Ort und Zeitpunkt sowie gewählte Nummer) kann man, ohne den Inhalt der Nachrichten bzw. der Telefonate zu kennen, ein digitales Abbild des Kontakt-Netzwerks einer Person generieren, das weitreichende Schlussfolgerungen zulässt.
Hotel Ausblick 13:21 Anruf #8
12:20 Anruf #7
Beratungsstelle Kinderwunsch
12:18 Anruf #6
17:57 Anruf #11
Charité
21:00 Anruf #14 20:31 SMS #13
13:21 Anruf #8
12:18 Anruf #6
16:10 SMS #9
11:32 Anruf #5
16:32 SMS #10
Maik‘s Café Cuba 17:59 Anruf #12
11:29 SMS #4
17:57 Anruf #11 12:20 Anruf #7
11:26 Anruf #3 11:22 SMS #2
22:49 SMS #15
Dr. Wolfgang Webel
Krankenhaus Moabit
Reginalbahnhof Charlottenburg
23:11 SMS #16
17:59 Anruf #12
Markus Müller Wohnung
Markus Müller
11:26 Anruf #3
Büro 11:19 SMS #1
Funknetzzelle
Telefonverbindung
Personenbewegung
Positionsortung über Funknetzzelle oder Festanschluss möglich
1 : 20.000
Abbildung 1: Verkehrsdatenanalyse (in Anlehnung an: FAZ 20.02.2010: 33, Kurz/Rieger 2009: 59)
Im vorliegenden fiktiven Fall wendet sich eine Frau namens Bertha Muster offenkundig an die Beratungsstelle Kinderwunsch, die sie wiederum an den Arzt Dr. Wolfgang Webel in der Charité weiterverweist. Erkennbar ist zudem, dass Bertha Muster mit Markus Müller kommuniziert, mit dem sie sich nachmittags im Krankenhaus und abends in einem Lokal trifft. Zu nachtschlafener Zeit sind beide Handys in einem Hotel aktiv, wohin sich Bertha Muster nach ihrem Besuch im Krankenhaus begeben hat. Bereits diese Daten erzählen eine Geschichte, die ohne zusätzliche Erläuterungen weitreichende Interpretationen zulässt. Man muss nur die gespeicherten Verkehrsdaten mit den Aufenthaltsorten verknüpfen und zwischen den einzelnen Stationen, an denen Daten abgesetzt wurden, Verbindungslinien ziehen (vgl. Abbildung 1).
10
Johannes Weyer
Mit Hilfe der gespeicherten Daten ist es auch möglich, das Beziehungsnetzwerk der beteiligten Personen zu dechiffrieren (vgl. Abbildung 2).6
Charité Berlin Mitte
Dr. Wolfgang Webel
Beratungsstelle
@ Kinderwunsch
3
Maik’s Café Cuba
Hotel Ausblick
Berlin Mitte
Berlin Mitte
1 4
2
2
max.mustermann @xyz.de
1
@
4 13 14
Bertha Muster
Markus Müller
Gerhardt Schmidt
Leipzig
Wohnung und Büro
Büro Akropolistan Politconsult Berlin 14
14
21
12
Ulla Meier
Reinhold Riese
Simone Seitz
Leipzig
Wahlkreisbüro Neuhofen
Neuhofen
Abbildung 2: Beziehungsnetzwerk (in Anlehnung an: FAZ 20.02.2010: 35, Kurz/Rieger 2009: 58)
Man sieht nicht nur die Intensität der Kommunikation zwischen Bertha Muster und Markus Müller; es wird darüber hinaus die Struktur des Kontakt-Netzwerks dieser beiden Personen ersichtlich. Durch Verknüpfung individueller Beziehungsnetzwerke mit denen anderer Personen lassen sich zudem in einem zweiten Schritt komplexere soziale Strukturen wie auch die Position individueller Akteure innerhalb dieser Strukturen sichtbar machen, was Kurz/Rieger am Beispiel von Umweltschutzgruppen illustrieren (2009: 11; vgl. Rieger 2010c). Die „Freiheit, unbeobachtet und ungestört zu kommunizieren“ (Kurz/Rieger 2009: 51), existiert damit faktisch nicht mehr. Selbst Anonymität gewährleistet keinen Schutz vor Ausspähung. Dies gilt in ähnlicher Weise für das „usertracking“ von Google, welches es ermöglicht, Suchanfragen, die vermeintlich anonym erfolgen, nachträglich mit Suchanfragen zu verknüpfen, welche die betreffende Person mit ihrer wahren Identität durchgeführt hat.7 Die Cookies, die Google auf dem Rechner installiert, übermitteln jedes Mal ein eindeutiges Identifizierungsmerkmal, die PREF-ID, die für einen Zeitraum von drei Jahren gespeichert wird. Goog-
6
Die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen, werden in den Beiträgen von Jansen/Diaz-Bone, Stegbauer und Weyer/Fink/Liboschik vorgestellt.
7
Diese Informationen verdanke ich Robin Fink, von dem auch die Grafik (Abbildung 3) stammt.
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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le ist daher in der Lage, die Anfragen eines eingeloggten Nutzers mit Anfragen zu verknüpfen, bei denen er sich nicht eingeloggt hat, solange er denselben Rechner benutzt.8
Abbildung 3: Speicherung der PREF-ID bei anonymer Google-Suche (Quelle: Robin Fink)
Sowohl staatliche Stellen als auch Unternehmen, die netzwerkbasierte Services anbieten, sind somit in der Lage, mit Hilfe von Methoden wie der Verkehrsdatenanalyse ein immer genaueres Persönlichkeitsprofil jedes einzelnen Bürgers zu generieren (vgl. Maurer et al. 2007: 164). Aus Sicht der Algorithmen, welche die großen Mengen gespeicherter Daten durchforsten, ist jedes Individuum „nur ein mehr oder weniger häufiges Bündel von Merkmalen und Eigenschaften“; und auf diese Weise lassen sich selbst „die entlegensten Zusammenhänge aufspüren“ (Rieger 2010b).9
8
Zudem muss er einen Google-Account besitzen, der die Grundlage für die personalisierte Erhebung von Nutzerdaten ist.
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Selbst anonymisierte Daten lassen sich von Fachleuten so aufbereiten, dass einzelne Individuen – wie etwa AOL-Abonnent 4417749 – mit großer Zuverlässigkeit identifiziert werden können (Maurer et al. 2007: 164; Carr 2009: 215ff.).
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Johannes Weyer
Anomalie-Erkennung Zudem entsteht auf diese Weise ein „Normalitäts-Modell“, das genutzt werden kann, um „Abweichungen von bisher als Normalität erkannten Mustern automatisch zu erkennen“ (Rieger 2010c). Strafverfolgungsbehörden und Terroristenfahnder setzen diese Technik der Anomalie-Erkennung ebenso ein wie Kreditkarteninstitute. Wenn beispielsweise eine ECKarte, mit der bei der Sparkasse Dortmund wöchentlich regelmäßig 100 Euro abgehoben werden, plötzlich zur Abbuchung hoher Beträge in Hongkong genutzt wird, ist dies ein Hinweis auf einen möglichen Betrug (ebd.). Die Aufbereitung der Daten, die wir bei der Nutzung netzwerkgestützter Kommunikationsdienste erzeugen, ermöglicht also tiefe Einblicke in unser Leben und zugleich ein hohes Maß an sozialer Kontrolle – nicht nur in Bereichen, in denen wir diese Kontrolle als wünschenswert empfinden (vgl. Reischl 2008).
2.3 Steuerung und Manipulation von Individuen Die Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen und deren Analyse mit Hilfe fortgeschrittener Methoden des Data-Mining führt also zur Dechiffrierung von Regelmäßigkeiten und Verhaltensmustern. Ihre tiefere Bedeutung offenbaren diese Informationen, wenn man sie mit Hilfe der Netzwerk-Analyse mit der Position des Individuums in einem sozialen Netzwerk verknüpft (Reischl 2008: 74; Maurer et al. 2007: 164). Dieses Wissen über die Verhaltensmuster von Individuen und ihre Position in Netzwerken kann zur gezielten Intervention in das reale Leben der Bürger genutzt werden (vgl. Maurer et al. 2007: 161), wobei das Spektrum von passgenauer Werbung bis hin zu präventiven Eingriffen etwa zur Vermeidung von Straftaten reicht. Denn aus der genauen Kenntnis der Verhaltensweisen einer Person lassen sich Persönlichkeitsprofile entwickeln, die es wiederum möglich machen, personalisierte und individualisierte Informationen zur Verfügung zu stellen; diese können zudem kontextbezogen sein, also in Abhängigkeit von der Situation variieren, in der die jeweilige Person sich momentan befindet (im Auto, im Restaurant, in der Bibliothek …). Damit erfüllt sich der alte Traum der Werbe-Branche, zielgerichtet werben zu können, statt mit hohen Aufwand ein mehr oder minder blindes Marketing zu betreiben. Wer also gerne Pizza isst, wird die passende Werbung auf sein Handy bekommen, und im Stadtplan werden diejenigen Pizzerien eingeblendet sein, die beispielsweise auf der Werbeplattform Google AdWords registriert sind. Google AdSense und das – noch im Teststadium befindliche – „predictive behavioral targeting“ belegen, in welchem Maße die Online-Werbung immer stärker individualisiert und kontextualisiert werden wird.10 Das Internet, vor allem aber das mobile Internet, besitzt also ein enormes Potenzial zur Steuerung und Manipulation einzelner Individuen (Maurer et al. 2007: 162). Dieses Potenzial basiert aber nicht nur auf der Bildung von Persönlichkeitsprofilen, sondern in hohem Maße auch auf der Fähigkeit, große Mengen von Daten mit Hilfe statistischer Analysen aufzuberei10
Vgl. Wikipedia-Artikel AdWords, AdSense und Predictive Behavioral Targeting (14. Okt. 2010).
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ten. Die Buch-Tipps von Amazon oder von iTunes sind deshalb so wertvoll, weil sie auf dem Bestellverhalten einer großen Zahl von Individuen basieren, deren Vorlieben zu typischen Mustern verknüpft werden. Dies fördert somit die Tendenz, sich eher auf das Urteil der „crowd“ und damit auf das Gesetz der großen Zahl zu verlassen als auf das eigene Urteil (Geoffrey Miller, in FAZ 08.01.2010: 29; vgl. Surowiecki 2005). Zudem wird unsere Wahrnehmung von Realität in immer stärkerem Maße von den Informationen geprägt, die uns Suchmaschinen und andere IT-basierte Services zur Verfügung stellen; während wir ihnen – oftmals naiv – eine fairen Umgang mit Informationen unterstellen, nutzen die großen DatenUnternehmen ihre Macht zur Steuerung des öffentlichen wie auch des privaten Lebens für eigene Zwecke. Denn sie kontrollieren den Zugang zu Informationen und verfügen somit über die Fähigkeit, die „Realitätswahrnehmung von Nutzern zu beschränken und zu manipulieren“ (Maurer et al. 2007: 162) und uns eine (virtuelle) Konstruktion von Realität vorzuspielen, die unser Handeln mehr und mehr prägt.
Fraud detection Die oben geschilderten Verfahren der Diagnose von Verhaltensmustern lassen sich zudem zur Prognose abweichenden Verhaltens nutzen, beispielsweise im Rahmen der Pre-crimeAnalytik. Das US-amerikanische Unternehmen CATAPHORA bietet etwa seine Dienstleistungen an, um Risiken in Unternehmen frühzeitig zu erkennen, beispielsweise in Fällen von Betrug, Korruption, mangelnder Compliance (i.e. Einhaltung der Vorschriften), Diskriminierung, sexueller Belästigung, Datenmissbrauch etc. Es handelt sich also um verhaltensbedingte Risiken, die oftmals nur schwer zu erkennen sind. CATAPHORAs Technologie stützt sich auf Verhaltensmodelle, die auf der Analyse „großer Mengen heterogener Daten“ basieren und es ermöglichen, „Abweichungen von üblichen Arbeitsabläufen in Unternehmen“ zu erkennen. Die „unzähligen elektronischen Spuren“, die jeder Mitarbeiter bei seinen täglichen Aktivitäten hinterlässt, bilden die Grundlage für die Erkennung von „Verhaltensmustern“ und eventuellen Unregelmäßigkeiten bzw. „Abweichungen von vorgegebenen Standardprozessen“.11 Die besondere Brisanz dieses Konzepts des „fraud/risk managements“ liegt jedoch in seinem Anspruch, „Probleme schon im Vorfeld verhindern zu können, anstatt sie erst im Nachhinein zu entdecken“, also im Konzept der präventiven Risikovermeidung durch Verhaltenskontrolle, das auf Anomalien in den Daten fokussiert, um so bereits auf „die ersten Anzeichen eines Problems“ reagieren zu können. Big brother lässt grüßen … CATAPHORAs Ansatz der „pro-aktiven“ Vermeidung von Betrug und sexueller Belästigung ist faszinierend und erschreckend zugleich, dreht er doch die Beweislast regelrecht um: In Zukunft muss nicht der ‚Grapscher‘ nachträglich für seine Tat büßen, sondern er wird aufgrund von Verhaltensindizien im Stadium der Planung seiner Tat identifiziert und zur Rede gestellt, bevor er seine Tat ausführen kann. (Dies ist exakt das Szenario, das dem Film „Minority Report“ zugrunde lag.) Diese Technologie stellt die MitarbeiterInnen eines Unternehmens unter einen Generalverdacht, der eine vorbeugende Ausforschung erlaubt. Denn 11
Alle Zitate von der – mittlerweile geänderten – Homepage http://cataphora.com (27. Sept. 2010).
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man sucht ja schließlich etwas (z. B. Korruption), von dem man nicht weiß, ob es tatsächlich existiert. Allein das Wissen, dass eine derartige Technologie eingesetzt wird, fördert die Tendenz zu ‚normalem‘ Verhalten, da jede/r MitarbeiterIn sich antizipativ an eine unterstellte Normalität anpassen wird, um möglichst nicht aufzufallen. Dass derartige Verfahren der „fraud detection“ somit negative Konsequenzen für die Unternehmenskultur und das Arbeitsklima haben werden, scheint kaum von der Hand zu weisen.12 CATAPHORAs Technologie ist im Kontext dieses Buches insofern interessant, als die Erkenntnisse über mögliche Risiken im Unternehmen durch eine „umfassende Analyse der elektronischen Kommunikationsdaten“ gewonnen werden, die zu „einem Modell des sozialen Netzwerks innerhalb des Unternehmens“ (Herv. J.W.) verdichtet werden. Ohne dass Details der eingesetzten Verfahren bekannt sind, wird also deutlich, dass die Netzwerk-Analyse ein wesentlicher Bestandteil dieser Technologie ist.13 Es erscheint also möglich, durch avancierte netzwerkanalytische Verfahren der Verhaltensmodellierung und -typisierung die Wahrscheinlichkeit künftiger Handlungen einer Person zu bestimmen, um so beispielsweise potenzielle Attentäter bzw. Terroristen zu identifizieren. Google kooperiert auf dem Feld der „Open Source Intelligence“ (Osint) mittlerweile mit dem US-Geheimdienst CIA; denn die Trends und Muster, die sich aus Massendaten herauslesen lassen, welche in Echtzeit erhoben werden können, sind mittlerweile wertvoller als die Informationen, die mit traditioneller Spionagetechnik erhoben werden, wenn es beispielsweise darum geht, Terroristen auf die Spur zu kommen (FAZ 30.07.2010: 29). Auch hier geht es um „predictive analysis“, also um das Aufspüren von Gefährdungspotenzialen vor Ausübung einer konkreten Straftat. Logische Konsequenz wäre eine „präventiven Überwachung“ (Rieger 2010b) von Personen, die zwar noch nicht straffällig geworden sind, aber ein bestimmtes Merkmalbündel besitzen, das auf eine bevorstehende Straftat hinweist. Die Eingaben, die wir tagtäglich im Internet sowie bei der Telekommunikation machen, führen also dazu, dass „kleine und größere Übertretungen von moralischen und rechtlichen Normen nicht mehr verborgen bleiben“ (ebd.). Damit verschwinden jedoch die Spielräume, die man im Alltag typischerweise hat, zugunsten einer Anpassung an Normen, die letztlich von Computer-Algorithmen erzeugt und nicht mehr im gesellschaftlichen Diskurs generiert werden, wie Jürgen Habermas (1968) ihn einstmals konzipiert hatte. Die Kombination von Internet, sozialen Netzwerken und den Methoden der NetzwerkAnalyse hat also in nur wenigen Jahren eine brisante Mischung entstehen lassen, die eine bisher nie dagewesene Ausforschung und Manipulation einzelner Personen möglich ge-
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Assoziationen zu Michel Foucaults Thesen der (Selbst-)Disziplinierung in totalen Institutionen drängen sich regelrecht auf; vgl. Miebach (2007: 90)
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Auch Google nutzt derartige Techniken, um die Mitarbeiter zu identifizieren, die zu kündigen beabsichtigen (Rieger 2010b; Bredow et al. 2010: 65).
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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macht, zugleich aber auch ein ungeheures Potenzial für eine präventive Intervention in gesellschaftliche Praktiken geschaffen hat.
2.4 Trendprognosen Darüber hinaus lassen sich mittels dieser Verfahren sogar Trends extrapolieren – eine Technik, die es nicht nur erlaubt, die öffentliche Meinung zu manipulieren, sondern es den Unternehmen zudem ermöglicht, „den Erfolg von Produkten auf dem Markt zu beeinflussen“ oder „auf ungeahnte Weise mit Aktienmärkten zu spielen“ (Maurer et al. 2007: 161). Google Trends ist beispielsweise in der Lage, den Verlauf von Grippeepidemien zuverlässig vorherzusagen, indem die Suchanfragen u.a. nach ihrer regionalen Verteilung aufgeschlüsselt werden. Wie Abbildung 4 zeigt, konnte Google Trends den deutlichen Anstieg der Suchanfragen zum Thema Grippe in der Region Mid-Atlantic bereits am 28. Januar 2008 diagnostizieren, als die 14 Tage alten Daten des Center for Disease Control and Prevention (CDC) noch keinerlei Hinweise auf die bevorstehende Epidemie zuließen. Diese breitete sich dann in den folgenden Wochen aus und konnte in beiden Datenbestände auch präzise nachgewiesen werden (vgl. Ginsberg et al. 2009).
Abbildung 4: Grippe-Epidemie in den USA (Quelle: Ginsberg 2009)
Die Leistungsfähigkeit dieses Tools übertrifft damit sämtliche konventionellen Verfahren der staatlichen Gesundheitsbehörde, die nicht mit Echtzeit-Daten operieren, sondern ihr Wissen durch die Extrapolation von Daten gewinnen, die (zu) weit in der Vergangenheit erhoben
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worden sind und somit meist zu spät vorliegen, um daraus auf aktuelle Trends schließen zu können. Was im Fall einer Grippe-Epidemie noch harmlos sein mag, kann sich im Fall der Entwicklung von Aktienkursen oder der Spekulation mit Immobilien jedoch als hocheffizientes Instrument zur Manipulation von Märkten bzw. zur Realisierung von Extra-Profiten erweisen (Reischl 2008: 76f.). Denn das Unternehmen, das über aktuelle Daten verfügt und die Veränderung von Systemen in Echtzeit beobachten kann, hat einen Informationsvorsprung gegenüber Unternehmen, die gezwungen sind, Daten aus der Vergangenheit zu extrapolieren. Ähnlich wie Google Trends funktioniert Google Analytics, mit dem man große Mengen von Netzwerk-Daten durchforsten und auswerten kann. Auch diese Technik verschafft den Unternehmen, die den Trend als erstes erkennen, vor allem aber Google, „einen riesigen Wettbewerbsvorteil“; denn das Unternehmen mit dem Informationsvorsprung „könnte wie kein anderen Unternehmen den Markt beeinflussen und würde ein echtes Druckmittel gegen anderen Konzerne besitzen“ (Reischl 2008: 75).
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Steuerung komplexer Systeme
Die ungeheure Macht, die das mobile Internet einigen wenigen Firmen vermittelt, manifestiert sich jedoch nicht nur in der Möglichkeit zur Manipulation von Individuen, sondern auch in der Möglichkeit zur Steuerung komplexer Systeme. Navigationsgeräte von TomTom übermitteln – mit Einverständnis der Nutzer – beispielsweise permanent ihre Positionsdaten, die von einer Verkehrszentrale ausgewertet werden, um so „statistische Informationen über die Verkehrslage“ (FAZ 13.09.2007: A5) zu ermitteln. Hinzu kommen anonymisierte Daten aus den Mobilfunknetzen, insbesondere von Handys, die ihre Position mittels GPS präzise orten können. Der Mobilfunk-Anbieter Vodafone, der mit TomTom kooperiert, kann auf diese Weise „feststellen, auf welchen Straßen sich seine Handykunden mit normaler Geschwindigkeit fortbewegen und wo es stockt“ (FAZ 14.07.2008: 17). Das Unternehmen TomTom nutzt diese Daten, die eine Vielzahl mobiler „Datensonden“ generieren, seit 2009 für einen kommerziellen Dienst namens HD Traffic, der die Routenberechnungen unter Einbeziehung der aktuellen Durchschnittsgeschwindigkeiten sowie hinterlegter historischer Streckenprofile optimiert (TomTom o.J. (2009), 2010).14 Es werden also nicht mehr nur statische Informationen (aus den hinterlegten Kartendaten) und dynamische Informationen über die globale Verkehrslage genutzt (z. B. mittels TMC bzw. TMCpro), sondern aktuelle Echtzeit-Daten verwendet, um Routenempfehlungen an einzelne Fahrer zu geben und so das System in Echtzeit zu steuern. Da sich die aktuelle Verkehrslage permanent ändert, wird es für den einzelnen Fahrer, wenn er keine anderen Informationsquellen zur Verfügung hat, jedoch praktisch unmöglich sein, die Steuerungslogik nachzuvollziehen; ihm
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Vgl. auch www.tomtom.com/services/service.php?id=2 (07.10.2010).
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wird nichts anderes übrigbleiben, als den Anweisungen seines Navigationssystems passiv zu folgen. Die Entscheidungen, die im Rahmen der Echtzeit-Steuerung erfolgen, ergeben sich also aus einer Mischung aus dezentral generierten Daten sowie zentral hinterlegten Algorithmen. Ein derartiges Steuerungssystem hat eine enorme interne Komplexität; zudem ändert das Straßennetz, das TomTom als ein „komplexes adaptives System“ (2010: 3) beschreibt, sein ‚Verhalten‘ permanent in Abhängigkeit von der aktuellen Situation, und zwar auf eine kaum vorhersagbare Weise.15 Komplexität, Adaptivität und partielle Intransparenz (sowohl für die Operateure in der Leitstelle als auch für die Nutzer in den Pkw) sind also die Kennzeichen einer derartigen Echtzeit-Steuerung. Und dennoch wird eine derartige SteuerungsTechnologie Begehrlichkeiten wecken, das ungeheure Potenzial, das in ihr steckt, gezielt für Zwecke der Steuerung von Systemen zu nutzen.16
3.1 Beispiel Verkehrstelematik Ein anderes Beispiel ist der österreichische Anbieter von Verkehrstelematik-Produkten A1 Telekom Austria AG (FAZ 12.01.2010: 15), der unter dem Label „A1 Traffic“ aktuelle Verkehrsinformationen anbietet, die – ähnlich wie bei TomTom – auf der „Erfassung von Verkehrsströmen in Echtzeit“ basieren.17 Auch hier werden die Positionsdaten der Handys aufgezeichnet, allerdings über ihre IMSI-Nummer, die keinen Rückschluss auf die TelefonNummer zulässt und daher eine anonyme Datenerfassung ermöglicht. Aber auch auf diese Weise lassen sich wertvolle Informationen über den Verkehrsfluss auf Autobahnen gewinnt: Wenn sich in einem bestimmten Streckenabschnitt eine gewisse Zahl mobiler Geräte nicht von der Stelle bewegt, kann daraus auf das Vorliegen eines Staus geschlossen werden. Die Daten, die jedes Gerät an die Zentrale sendet, liefern also in Echtzeit ein Lagebild des Gesamtsystems, das wiederum für dessen Steuerung genutzt werden kann. A1 Traffic nennt Mobilitätsanalysen, Verkehrsprognosen, Stauerkennung, aber auch dynamisches Verkehrsmanagement als mögliche Anwendungen, die auf der Technologie aufsetzen, welche A1 Traffic zur Verfügung stellt. Auch hier ist also ein Feedback-Mechanismus angedacht, der es ermöglicht, auf Basis der vorhandenen Informationen in das System zu intervenieren, um z. B. den Schadstoff-Ausstoß zu verringern. Ein zweifellos akzeptables Ziel, das jedoch zugleich das enorme Steuerungs-Potenzial dieser Technik deutlich macht, die im Prinzip für jeden beliebigen Zweck genutzt werden kann.
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Man kann dieses „Systemverhalten“ mit Methoden der Computersimulation anschaulich darstellen; vgl. den Beitrag von Weyer/Fink/Liboschik, in diesem Band.
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In den Computer-Simulationen, die TomTom durchgeführt hat, ergaben sich überraschende Netzwerk-Effekte, dass nämlich alle Verkehrsteilnehmer, egal ob Nutzer des Dienstes oder nicht, von ihm profitierten. Individuelle Optimierung scheint demnach einen kollektiven Nutzen zu haben und zum Gemeinwohl beizutragen, wenn die individuellen Optimierungs-Strategien von einer globalen System-Logik gesteuert werden (vgl. TomTom 2010).
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Vgl. www.a1.net/business/a1traffic (27. Sept. 2010).
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Abbildung 5: Screenshot A1 Traffic Monitor
Denn die Fahrzeuge werden auf diese Weise zum „Knoten im Netz“ (TA-Swiss 2003: 2); ihre Bordcomputer sind nicht länger isolierte, informationell geschlossene Einzelgeräte, die auf Basis intern gespeicherter Datenbestände dazu beitragen, das Verhalten des jeweiligen Fahrzeugs zu optimieren. Mit der Öffnung des Autos für die bidirektionale DatenKommunikation wird es vielmehr zu einem offenen System, das Daten innerhalb einer Client-Server-Architektur austauscht und so die Verkehrszentrale in die Lage versetzt, ein komplexes System in Echtzeit zu steuern (Vašek 2004; Grell 2003; Lorenz/Weyer 2008). Das Navigationsgerät mutiert damit vom Instrument zur lokalen Optimierung der Performance des Fahrers, die auf dessen aktuellem Informationsstand sowie dessen individuellen Präferenzen basiert, zu einem Instrument der Echtzeit-Steuerung des Verhaltens einer großen Menge von Individuen. Dabei kommt eine globale Systemlogik zum Tragen, die tief in die Entscheidungsspielräume einzelner Entscheider eingreift. Gene Rochlin hat hierfür bereits vor längerer Zeit den Begriff des „Mikro-Managements“ geprägt (1997: 148, vgl. 163), um auszudrücken, in welchem Maße die Zentrale das System nicht nur über Makro-Parameter steuert, sondern – vermittelt über die Optionen, die vernetzte informationstechnische Systeme beinhalten – bis auf die Mikro-Ebene der Einzel-Entscheidungen durchgreift. Damit unterscheidet sich dieser Steuerungs-Modus, so Rochlin weiter, von klassischen Hierarchien, die keine derart hohe Durchschlagskraft auf die Mikro-Ebene hatten, und erst recht vom Modus der dezentralen Selbstorganisation autonomer Einheiten. Die globale Systemlogik, die im Rahmen der Echtzeit-Steuerung wirksam wird, kann von – gesellschaftlich wünschenswerten – Zielen wie Stauvermeidung, Unfallvermeidung oder Umweltschutz geprägt sein. Das gewaltige Potenzial, das in einer derartigen Steuerungs-
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Architektur steckt, sowie die damit verbundenen Risiken werden jedoch sichtbar, wenn man von anders gelagerten, weniger konsensfähigen Zielen wie etwa der Umsatzsteigerung oder dem Machtzuwachs ausgeht, die lediglich einzelnen Unternehmen nützen. Und es demonstriert die gewaltigen Macht-Potenziale der Daten-Netzwerke.
3.2 Das Individuum als passives Anhängsel des Systems? Wenn sich ein Autofahrer auf die dynamischen Routenempfehlungen verlässt, die in Echtzeit generiert werden, wird sich ihm die dahinter stehende System-Logik nicht immer erschließen.18 Denn es kann durchaus sein, dass er auf dem Rückweg von der Arbeit – je nach aktueller Verkehrslage – heute links herum und morgen rechts herum geleitet wird. Er wird damit zu einem passiven Anhängsel des Systems und muss sein Verhalten ad hoc anpassen, ohne die Gründe hinterfragen zu können (Weyer 2005, 2009). Der Autofahrer der Zukunft wird sich in zunehmendem Maße einer virtuellen Wirklichkeit befinden, die von einer externen Instanz generiert wird und die „reale“ Wirklichkeit ergänzt, überlagert („augmented reality“) oder gar ersetzt („virtual reality“).19 Da es immer weniger möglich sein wird, die konstruierte Wirklichkeit mit den eigenen Erfahrungen abzustimmen, wird er/sie die Verhaltensanweisungen nur noch partiell begreifen können, was entweder zu blindem Gehorsam oder zu rebellischem Verhalten führen wird. Warum das Auto zu einem bestimmten Rastplatz geleitet wird und warum dort PizzaWerbung auf dem Bildschirm erscheint, wird dem einzelnen Individuum immer weniger begreiflich sein. Denn alternative Handlungsoptionen stehen immer weniger zur Verfügung, je mehr man sich auf Echtzeit-Informationen verlässt und darauf verzichtet, einen eigenen Plan zu entwickeln, auf den man bei Bedarf zurückgreifen kann. Die Realitätskonstruktion,20 wie sie beispielsweise Google durch seine – von außen nicht durchschaubare – Auswahl der Suchergebnisse vornimmt (Maurer et al. 2007: 161), ist das prominenteste Beispiel für diesen Mechanismus. Mittlerweile gilt: „Die Welt ist eine Google“ (ZDF 10. Juli 2008), d. h. es existiert nur noch das, was sich googlen lässt. Ein TaxiUnternehmen, das über Google nicht gefunden wird, existiert in der mobilen EchtzeitGesellschaft ebenso wenig wie eine Pizzeria ohne Internet-Auftritt, Facebook-Account u.v.a.m. Eine Konsequenz dieses Lebens in virtuell konstruierten Welten ist die wachsende Abhängigkeit von den Informationsangeboten der Daten-Unternehmen; eine andere das überzogene Vertrauen in die Daten, die uns präsentiert werden. Und dabei werden wir immer
18
Ideen für ein „real-time user modeling“ finden sich bereits bei Suchman 1987 (2007).
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Mit „augmented reality“ werden Verfahren umschrieben, welche die „wirkliche Welt“, die wir mit unseren eigenen Augen sehen, Schritt für Schritt mit zusätzlichen Informationen anreichern, die unsere Wahrnehmung lenken und Interpretationsleistungen vor(weg)nehmen. Ein Beispiel ist Google Goggles (www.google.com/mobile/goggles). Die Grenzverwischungen zwischen „realer“ und „künstlicher“ Wirklichkeit, die sich hier abzeichnen, sind ein Standard-Thema der Science-Fiction-Branche, z. B. im Spielfilm „Matrix“.
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Zum Konstruktivismus als erkenntnistheoretischem Konzept siehe u.a. Kieser (2002: Kap. 9) und Schmidt (1987).
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weniger merken, in welchem Maße unser alltägliches Verhalten in Echtzeit gesteuert wird – und zwar auf Basis der Daten, die wir selbst generieren. Mit der mobilen Echtzeitgesellschaft findet also eine Verschiebung der Zeitachse statt: Informationen über Identität und Standort einzelner Personen, aber auch über den Zustand komplexer Systeme liegen nicht erst ex post vor, also nach dem Vollzug einer Aktion, sondern sie können in Realzeit während des Betriebs dieser Systeme generiert und vor allem genutzt werden, um das Verhalten der Teilnehmer zu beeinflussen bzw. die Systeme in Echtzeit zu steuern.
3.3 Echtzeit-Steuerung als neuer Governance-Modus? Neben dem Horror-Szenario der permanenten Überwachung durch das Netz ist diese Fähigkeit zur Echtzeit-Steuerung komplexer Systeme, die mit einer wachsenden Undurchschaubarkeit des Systems für den Einzelnen einhergeht, das eigentliche Novum der mobilen Echtzeit-Gesellschaft. Um die neue Qualität dieses Governance-Modus verstehen zu können, ist ein kurzer Rückblick auf bislang existierende Praktiken sowie Theorien der Governance erforderlich. In Anlehnung an Renate Mayntz sei unter Governance „das Gesamt aller nebeneinander bestehenden Formen der kollektiven Regelung gesellschaftlicher Sachverhalte“ (Mayntz 2004: 5) verstanden. Der Begriff Governance wird hier also nicht für eine spezifische Form der Steuerung verwendet, sondern als Oberbegriff für unterschiedliche Formen der Koordination und Steuerung (vgl. Benz et al. 2007; Schneider/Bauer 2009 sowie den Beitrag von Knill/Schäfers, in diesem Band). Typischerweise werden in der Fachliteratur drei Governance-Typen unterschieden, und zwar Markt, Hierarchie und Netzwerk (vgl. auch meinen Beitrag „Zum Stand der Netzwerkforschung“, in diesem Band).
Markt Marktförmige Koordination in Reinform bedeutet, dass autonome Individuen, die ausschließlich von ihrem Eigen-Interesse getriebenen werden, punktuell Transaktionen miteinander abwickeln und sich dabei als gleichberechtigte Subjekte gegenübertreten. Derartige Austausch- und Abstimmungsprozesse finden dezentral statt, und die Koordination basiert auf der Logik der lokalen Optimierung, die nur die Interessen der Beteiligten, nicht aber das Interesse des Gesamtsystems berücksichtigt. (Man nehme als Beispiel eine Straßenkreuzung in einem fiktiven Staat, in dem es keine Straßenverkehrsordnung gibt, in dem die Verkehrsteilnehmer die Vorfahrtsregelung vielmehr stets ad hoc aushandeln müssen.) Sozialintegration findet somit bottom-up statt, d. h. aus der Vielzahl von dezentralen Koordinationsakten emergiert – allenfalls geleitet von einer „invisible hand“ – eine stabile soziale Struktur.21 Die 21
Dass dies funktionieren kann und wie dies funktioniert, lässt sich gut mit Hilfe von ComputersimulationsExperimenten darstellen (vgl. Resnick 1995; Epstein/Axtell 1996; Pyka/Scharnhorst 2009).
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Risiken der marktförmigen Koordination bestehen vor allem in der krisenhaften Zuspitzung derartiger Prozesse (Beispiel Verkehrsstau) sowie im Scheitern von Sozialintegration mit der Folge anarchischer oder anomischer Verhältnisse (Beispiel „failed states“ wie etwa Somalia). Märkte in Reinform gibt es allerdings kaum, denn Märkte benötigen für ihr Funktionieren meist eine Einbettung in institutionelle Regelsysteme wie beispielsweise das Vertragsrecht.
Hierarchie Hierarchische Koordination bedeutet hingegen zentralistische Planung, die von einer starken Instanz, sei es dem Staat, sei es der Spitze einer Organisation, im Top-down-Verfahren exekutiert wird. Bei ihren Eingriffen in die Autonomie der einzelnen Akteure orientiert sich die Zentrale dabei am – wie auch immer definierten – Gemeinwohl, also an einem globalen Optimum, dem sich die Interessen der Akteure unterzuordnen haben (z. B. durch Installation einer Ampelanlage an einer Straßenkreuzung). Formale Regeln dienen in diesem Fall dazu, das Eigeninteresse der Subjekte zu zügeln. Die bekannten Risiken der hierarchischen Koordination bestehen in der Fehlallokation von Ressourcen, in der mangelnden Flexibilität des Systems, der mangelnden Nutzung der kreativen Potenziale der Mitarbeiter beziehungsweise Bürger sowie in der Entmündigung und tendenziell totalitären Überwachung des Einzelnen.
Ein dritter Typus? Neben diesen beiden klassischen Governance-Typen gibt es einen dritten Typus gesellschaftlicher Koordination und Planung, der in der Fachliteratur auf unterschiedliche Weise erschlossen wird: Netzwerke werden als ein dritter Typus beschrieben, der zwischen beziehungsweise jenseits von Markt und Hierarchie zu verorten ist (Willke 1995, 2007; Mayntz 1993). Hier finden selbstorganisierte Abstimmungsprozesse zwischen den Beteiligten statt, die sich jedoch längerfristig aneinander binden und deren Kooperation damit eine höhere Verbindlichkeit als Transaktionen am Markt hat (vgl. ausführlich das Kapitel „Zum Stand der Netzwerkforschung“, in diesem Band). In der Entscheidungstheorie wird neben den beiden Modi der rationalen Planung und des Inkrementalismus22 ein dritter Modus identifiziert, den Amitai Etzioni mit dem Begriff des „mixed scanning“ (1967) belegt hat. Dieser beinhaltet eine Kombination der beiden Modi derart, dass inkrementelle Entscheidungen dazu beitragen, einen großen Plan praktisch umzusetzen. Uwe Schimank hat die Typologie hingegen, in Anlehnung an Dietrich Dörner (1990, 2003), um die Stufe des Sub-Inkrementalismus erweitert, weil in Situationen hoher Komplexität, so Schimank (2009), das Rationalitätsniveau noch unter das Niveau des Inkrementalismus falle, so dass nur noch Improvisation möglich sei. Die Organisationssoziologie schließlich hat die beiden Typen der bürokratischen Organisation im Sinne Max Webers und der lernenden Organisation im Sinne von Herbert Simon und James March um einen dritten Typus der High-reliability-organization ergänzt, 22
Unter Inkrementalismus versteht man ein kleinschrittiges Entscheidungsverhalten, das nicht auf ein großes Ziel ausgerichtet ist, sondern vom gerade erreichten Stand aus immer nur den nächsten Schritt vollzieht und dabei auf rationale Planung verzichtet (vgl. Schimank 2009).
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Johannes Weyer der vor allem für das Management von Hochrisikosystemen eingesetzt wird, bei denen ein Lernen aus Fehlern ausgeschlossen werden soll (LaPorte/Consolini 1991; Weick 1987; Roberts 1993).
3.4 Wohin geht der Trend? Angesichts dieser Vielfalt neuer Governance-Formen stellt sich die Frage, wohin der Trend geht, vor allem wohin der Trend bei der Steuerung komplexer Systeme geht. Folgt man Volker Schneider und Johannes Bauer, so befinden wir uns momentan in einer Phase des Experimentierens, in der nach neuen Governance-Modi gesucht wird, die in der Lage sind, widersprüchliche Anforderungen miteinander zu kombinieren (Bauer/Schneider 2009; vgl. auch Schneider/Bauer 2009). Mark de Bruijne diagnostiziert hingegen einen Trend zu dezentraler Koordination und Steuerung großer technischer Infrastruktursysteme (2006: 38) und spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Paradigmenwechsel“ (45) von vertikal integrierten, zentral kontrollierten zu disaggregierten und dezentral gesteuerten Systemen (vgl. Tabelle 2). Jeremy Rifkin geht sogar so weit, einen „dezentralen Kapitalismus“ (2010: 372) zu propagieren, und verweist dabei insbesondere auf die revolutionierende Wirkung neuer, dezentralisierter Informationstechnologien. Übergang von … vertikal integrierten Monopolen Großtechnologien (hoher Grad an Wirtschaftlichkeit) zentraler Kontrolle Besitz konzentriert auf wenige Akteure im öffentlichen Besitz
… zu entflochtenen, im Wettbewerb stehenden Systemen kleinen, intelligenten technischen Systemen
dezentralisiert, marktgetrieben Besitz verteilt auf viele Akteure im privaten oder gemischt privatöffentlichen Besitz enger Kopplung der Kernfunktionen Auflösung der Kernfunktionen regulierten Preisen Marktpreisen Quelle: de Bruijne 2006: 45 (in Anlehnung an Werle 1998) Tabelle 2: Paradigmenwechsel
In deutlicher Differenz zu de Bruijne und Rifkin steht jedoch die Position von Gene Rochlin, der bereits 1997 davor gewarnt hat, aus der dezentralen Architektur des Internets leichtfertig auf eine Dezentralisierung der Kontrolle zu schließen. Er verweist vielmehr auf den paradoxen Effekt der informationstechnischen Vernetzung. In der Phase der Großrechner in den 1950/60er Jahren war die Informationstechnik ein Instrument der zentralen Planung und hierarchischen Steuerung. Die Verbreitung des Personal Computers in den 1970/80er Jahren führte zwar zu einer „elektronischen Befreiung vom mächtigen und zentralisierten Rechenzentrum“, deren Effekte jedoch durch die Vernetzung regelrecht ins Gegenteil verkehrt wurden (1997: 8). Mittels vernetzter Rechner sei es nämlich „nunmehr möglich, Prozesse zu
Netzwerke in der mobilen Echtzeit-Gesellschaft
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kontrollieren und zu koordinieren“, ohne eine starre, mechanische Organisation aufzubauen. Rochlin fährt fort: „Die Transformation von Unternehmen und Industrie, die der Computer ausgelöst hat, hat dem Anschein nach den Trend Richtung Dezentralisierung sowie einer Reduzierung sichtbarer Hierarchien und formaler Strukturen autoritärer Kontrolle fortgesetzt, obwohl sie ihn effektiv und strukturell umgekehrt hat.“ (ebd.) Das moderne Unternehmen, so Rochlin weiter, nutzt die Informationsnetze, um ein „Spinnen-Netz der Kontrolle“ (ebd.) auszubreiten, das mindestens so effizient ist wie traditionelle Formen der hierarchischen Kontrolle. Die behauptete Demokratisierung hält er folglich für einen Mythos, der allenfalls in den 1980er Jahren eine gewisse Berechtigung gehabt haben mag. Die Besonderheit der modernen Form der netzwerkgestützten Kontrolle sieht Rochlin in der Tatsache, dass die einzelnen Einheiten des Unternehmens zwar formal unabhängig sind, aber über vertikale Kommandoketten mittels Informationstechnik so eng koordiniert werden, dass, wie bereits erwähnt, ein Mikromanagement auf allen Ebenen möglich ist (1997: 148). Der Blackberry mag als ein Symbol dieser neuen Unternehmenspolitik gelten, welche die MitarbeiterInnen an eine enge elektronische Leine nimmt und dabei negative Auswirkungen auf die Psyche und das Sozialverhalten in Kauf nimmt (Carr 2009: 234f.), die durchaus mit dem vergleichbar sind, was Arthur Miller im „Tod eines Handlungsreisenden“ beschrieben hat.
The Big Switch Nicholas Carr hat diese Rückkehr zu zentralistischen Formen der Koordination und Steuerung in seinem Buch „The Big Switch“ (2009) ausführlich analysiert. Dabei zieht er eine historische Parallele zwischen dem Elektrizitätssystem und dem Internet. Beide begannen, so Carr, in ihrem Frühstadium als dezentralisierte Systeme. So wie jedes Unternehmen vor 1900 seine eigene Elektrizitätsproduktion betrieb, so betreiben heute die meisten Unternehmen ihre eigenen IT-Infrastrukturen. Im Falle der Elektrizität setzte sich jedoch ab 1900 das „Utility-Modell“ (21) durch: Zentrale Kraftwerke produzieren hocheffizient Strom und liefern ihn über universale Stromnetze an die Endkunden, die Elektrizität als „Allzwecktechnologie“ (44) nutzen können und sich um deren Produktion nicht mehr kümmern müssen. „Dienste, die früher lokal zur Verfügung gestellt wurden, (werden) nun zentral geliefert [...]“ (32), so resümiert Carr die historische Entwicklung der Elektrizität. Auch für die Informationstechnik prognostiziert er eine ähnliche Entwicklung: „Das PCZeitalter wird durch eine neue Ära abgelöst: das Utility-Zeitalter.“ (77) Cloud-Computing oder Grid-Computing sind die Schlagworte, unter denen die Unternehmen ihre ITInfrastruktur in zunehmendem Maße an spezialisierte Dienstleister auslagern, so dass man EBusiness betreiben kann, ohne in eigene Hardware zu investieren. Das World Wide Web werde, so Carr weiter, zu „einer einzigen riesigen informationsverarbeitenden Maschine“ bzw. zum „World Wide Computer“ (27) und damit zu einer neuen „Allzwecktechnologie“ (131).
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Ähnlich wie Rochlin sieht Carr IT-Netzwerke in ihrer Doppelfunktion als „Instrument bürokratischer Kontrolle und persönlicher Befreiung“ (ebd., vgl. 223), verweist aber insbesondere auf die Konzentration des Reichtums in der Hand weniger IT-Unternehmen und die damit einhergehende „wachsende Ungleichheit“ (169). Er bestätigt zudem die von Rochlin identifizierten Entwicklungsphasen der Informationstechnik wie auch dessen These, dass der Personal Computer in den 1980er Jahren vorübergehend eine Bedrohung der „zentralisierten Macht“ dargestellt und zu einer „Kontrollkrise“ (228) geführt habe. Letztlich sei es den Bürokraten – wer sich hinter diesem Schlagwort verbirgt, lässt Carr offen – mit Hilfe der Client-Server-Technologie aber gelungen, die „Kontrolle über die Informationen und deren Verarbeitung wieder herzustellen“ (229). Der Personal Computer hängt nunmehr am Netz und kann von dort aus kontrolliert und gesteuert werden. Carr betrachtet das Internet also primär als eine Kontroll-Technologie, die es ermöglicht, „menschliches Verhalten zu überwachen und zu beeinflussen“, was „eine enorme Macht in die Hände von Individuen, aber eine noch größere Macht in die Hände von Unternehmen, Regierungen und anderen Institutionen“ legt (222). Carr hält es für einen Fehlschluss, aus der dezentralisierten Struktur des Internets auf eine Dezentralisierung der Kontrolle zu schließen, wie Rifkin (2010) es tut. Vielmehr bemüht auch er die Metapher des Spinnen-Netzes, das sich unmerklich über uns legt (Carr 2009: 242f.). Und er bestätigt Rochlins Behauptung, dass die dezentrale Struktur des Internets eine noch effektivere Kontrolle möglich macht, als es bislang der Fall war – und dass diese neuartige Form der Kontrolle viel schwerer zu erkennen ist als in der „materiellen Welt“ (231). „Obwohl das Internet immer noch kein Zentrum hat, ist es technisch gesehen möglich, heutzutage von einer beliebigen Stelle aus Kontrolle mittels Software zu erlangen.“ (ebd.) Dies ist exakt der paradoxe Effekt, den Rochlin (1997: 8) beschrieben hat. Und er stellt zugleich eine Herausforderung für die Governance-Theorie dar, ihre basalen Konzepte anders zu denken, als sie es bislang gewohnt war. Denn in politikwissenschaftlichen wie in organisationssoziologischen Analysen, aber auch in der Management-Lehre gilt oftmals die Gleichsetzung von zentralisierten Strukturen mit einem hohen Maße an Kontrolle sowie von dezentralisierten Strukturen mit einem hohen Maß an Autonomie (vgl. z. B. Brandes/Schneider 2009: 48; Surowiecki 2005: 70). Die neuartigen Governance-Modi, die derzeit in der Praxis erprobt werden, stellen diesen Denkansatz radikal in Frage. Und sie zeigen, dass die Governance-Forschung noch nicht über adäquate Konzepte verfügt, um die Herausforderungen der Praxis aufzugreifen und theoretisch zu verarbeiten.23
23
Die Formel „Working in practice, but not in theory“, die Todd LaPorte und Paula Consolini 1991 für ihre Vorstellung des Konzepts der High-reliability-organization verwendeten, scheint also auch hier zuzutreffen.
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25
3.5 Die Praxis der Governance: Das Beispiel der intelligenten Netze In der aktuellen Debatte über die Zukunft der Infrastruktursysteme ist immer wieder von intelligenten Netzen (smart grids) und von intelligenter Netz-Steuerung die Rede. Der Straßenverkehr, die Luftfahrt, aber auch die Elektrizitätsversorgung stehen demnach vor einem „Paradigmenwechsel“ (Dehen 2010: 70), der nicht nur die Netz-Strukturen, sondern auch die Steuerung dieser komplexen Systeme radikal verändern wird. Die technische Basis des angestrebten Paradigmenwechsels, der zu neuartigen Formen von Governance führen soll, ist die Ausstattung sämtlicher Systemkomponenten mit Rechnerkapazitäten, Sensorik und Kommunikationstechnik sowie deren Vernetzung in Echtzeit. Das Strom-Netz ist bislang ein zentralistisches System, das durch wenige zentrale Großkraftwerke sowie die großflächige Verteilung des Stroms an die Endkunden geprägt ist (zur Genese dieser Strukturen siehe Carr 2009). Die erneuerbaren Energien stellen dieses System nunmehr radikal in Frage, da Solaranlagen, Windkraftwerke und Biogasanlagen es ermöglichen, Strom und Wärme dezentral zu erzeugen und auch zu verbrauchen (vgl. Fuchs/ Wassermann 2008; Mautz 2007; Garud/Karnøe 2003; Markard/Truffer 2006). Dies reicht bis zur Vision regionaler Energie-Autarkie, die in einigen Regionen Europas bereits realisiert ist, so etwa auf der dänischen Insel Samsø oder im steirischen Murau (Späth/Rohracher 2010, vgl. FAZ 05.10.2010: 18).24 Allerdings ist der System-Wettstreit zwischen dem alten „fossilen Paradigma“25 und dem neuen regenerativen Paradigma zur Zeit in vollem Gange – mit ungewissem Ausgang. Das bisherige System funktioniert nach der Logik der verbrauchsorientierten Erzeugung: Wenn zusätzlicher Strom verbraucht wird, werden Kraftwerks-Kapazitäten hochgefahren, um den Bedarf zu decken. Da die erneuerbaren Energiequellen aber nicht auf Abruf zur Verfügung stehen, weil der Wind nicht konstant bläst und die Sonne nicht konstant scheint, soll das künftige System nach der Logik des erzeugungsorientierten Verbrauchs funktionieren. Im Gegensatz zur bisherigen Funktionslogik soll Energie also immer nur dann verbraucht werden, wenn sie tatsächlich zur Verfügung steht (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009). Nicht-zeitkritische Prozesse bilden dabei einen Puffer: Verbraucher, die nicht unbedingt am Netz sein müssen, wie beispielsweise Waschmaschinen müssen demnach entweder in verbrauchsarme Zeiten (z. B. nachts) ausweichen oder warten, bis genügend Energie zur Verfügung steht. Dies erfordert eine intelligente Netz-Steuerung, wie sie beispielsweise in einem Szenario der Firma Siemens enthalten ist, welches davon ausgeht, dass sich künftig der „Verbrauch an die jeweiligen Stromproduktion anzupassen“ hat und daher eine „intelligente Netzsteuerung“ erforderlich sein wird, „bei der die Nachfrage gelenkt wird“ (Dehen 2010; vgl. auch Hassenmüller 2008).
24
Vgl. die ZDF-Sendung ”Samsø: Dänemarks Energieinsel“ vom 18.12.2009 (www.zdf.de/ZDFmediathek).
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Diesen Begriff verdanke ich Guido Spelsberg.
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Das Szenario, das Siemens-Vorstand Wolfgang Dehen ausbreitet, spielt den extremen Fall einer länger anhaltenden Windstille in Nordeuropa durch. Das Netz fordert in diesem Fall „alle Verbraucher, die als Puffer klassifiziert werden, zum Abschalten auf“, beispielsweise Kühl- und Gefrierschränke, welche die Temperatur bei guter Isolierung etliche Stunden halten können, ohne dass das Aggregat laufen muss. Mit derartigen Maßnahmen wird also die Nachfrage dem Stromangebot angepasst. Zudem speisen die Akkus der Elektroautos, die sich an Ladestationen befinden, den Strom ins Netz zurück (vgl. auch Honsel 2009) – es sei denn, das „Fahrprofil zeigt, dass der Fahrer tagsüber oft kurzfristig unterwegs ist“. Ferner werden Reservekraftwerke hochgefahren und große Strommengen über sogenannte „Stromautobahnen“ quer durch Europa transferiert, um auch in den Regionen, in denen die produzierte Energie nicht ausreicht, eine stabile Stromversorgung sicherzustellen. In dem Moment, in welchem das Sturmtief naht und die Windkraftanlagen endlich anspringen, „signalisiert das Stromnetz den angeschlossenen Verbrauchern, möglichst viel Strom aus dem Netz zu ziehen“. Kühlschränke, Klimageräte und Waschmaschinen laufen in großer Zahl automatisch an, um die verfügbare – und nunmehr billige – Energie möglichst rasch zu verbrauchen. Eine zentrale Funktion in diesem Szenario übernehmen „intelligente Stromzähler“, die „ohne menschliches Zutun viele Geräte (steuern)“. Dehen spricht hier dezidiert von einem „Paradigmenwechsel“, weil „der Verbrauch … der Erzeugung folgen (wird) statt wie bisher umgekehrt“. Zudem wird im Stromnetz der Zukunft der Strom in beide Richtungen fließen: „sowohl vom zentralen Kraftwerk zum Verbraucher als auch von lokalen Stromquellen ins Netz zurück“ (alle Zitate: Dehen 2010).
3.6 Paradigmenwechsel Dieses Szenario kommt insofern einer Revolution gleich, als es die bisherige Logik der NetzSteuerung regelrecht umkehrt und die Komponenten durch informationstechnische Vernetzung nicht nur eng an das Netz ankoppelt, sondern sie in weit höherem Maße in die SystemLogik einbindet, als dies bislang der Fall war (und technisch überhaupt machbar war). Die Autonomie des einzelnen Verbrauchers, seine Waschmaschine zu jeder beliebigen Tageszeit laufen zu lassen, wird in hohem Maße beschränkt, und zwar nicht durch ‚weiche‘ Anreizsteuerung (vgl. Willke 1995), sondern durch überraschend ‚harte‘, zentralistische Steuerung – und dies, obwohl die Systemstrukturen künftig dezentraler sein werden als bisher. Der „smart meter“ fungiert in diesem Szenario also vorrangig als Agent des Netzes, der dessen Willen beim individuellen Verbraucher durchsetzt; zudem soll er dem Verbraucher den Spiegel vorhalten, damit dieser sein „Verhalten ändert“ (Clemens 2010).26
26
Auch bei der Planung des Verkehrstelematik-Dienstes ‚Ruhrpilot’ war ursprünglich das Konzept verfolgt worden, den Spielraum autonomer Entscheidungen einzelner Autofahrer partiell zu beschränken (Spehr 2004). Denn aus Sicht des Systemplaners wäre es wünschenswert, die Intentionen der einzelnen System-Komponenten (hier: die Fahrtwünsche der Autofahrer) vorab zu kennen, um entsprechend disponieren und das Netz als Ganzes optimieren zu können – z. B. mit dem Ziel der Vermeidung von Verkehrsstaus im Ruhrgebiet. Beim Ruhrpiloten wurde diese Idee zwar nicht realisiert (Gerwin 2009); aber Fahrer von Elektromobilen werden in Zukunft stärker „vorausplanen“ und „dem System ihre Pläne kundtun“ (Honsel 2009: 31) müssen; ansonsten laufen sie
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Drei Dinge sind an derartigen Szenarien bemerkenswert: Erstens fungiert, wie die zitierten Textpassagen von Dehen anschaulich belegen, das Netz als Akteur (und zwar als zentraler Akteur), der ein eigenständiges, von den Einzelinteressen der Beteiligten unterscheidbares Interesse hat, das er – mit Hilfe von IT-Systemen, vor allem aber mit Hilfe von IT-Netzwerken – gegenüber den Einzelnen durchsetzt, und zwar in Echtzeit. Zweitens ist nicht ersichtlich, wie sich die Belange des Datenschutzes in derartigen Szenarien adäquat realisieren lassen; denn das Netz übt ein hohes Maß an Kontrolle über die einzelnen Netz-Komponenten aus, deren Entscheidungs-Autonomie stark eingeschränkt wird. Zudem müssen sie umfassende Informationen nicht nur über den aktuellen Status (z. B. den momentanen Stromverbrauch), sondern auch über Wünsche und Absichten übermitteln. Die oben bereits angesprochene Gefahr der Manipulation der individuellen Komponenten (wessen Waschmaschine wird wann zu welchen Preis vom Netz freigeschaltet?) ist kaum von der Hand zu weisen. Drittens basieren die Szenarien auf der Annahme, dass die (physische) Struktur etwa des Strom-Netzes künftig wesentlich dezentraler sein wird als zum gegenwärtigen Zeitpunkt, dass jedoch die Kontroll-Struktur zentraler – man ist gar versucht zu sagen: planwirtschaftlicher – werden wird, denn die Eingriffe in die Autonomie der Beteiligten sind sehr weitgehend (und Begriffe wie Planung und Lenkung tauchen in den Szenarien immer wieder auf).27
3.7 Echtzeit-Steuerung Diese eigentümliche Mischung von Elementen bisheriger Governance-Typen rechtfertigt es, von „mixed governance“ (Weyer 2008) zu sprechen – einem neuen Modus, der zwar auf Elementen der Typen Markt, Hierarchie und Netzwerk aufsetzt, sie aber in einer Weise verknüpft, die eine neue Qualität beinhaltet.28 Diese neue Qualität besteht in der Fähigkeit zur Echtzeit-Steuerung komplexer Systeme, die zwar eine dezentrale Struktur (und damit Reste von Autonomie einzelner Entscheider) besitzen, die jedoch eine bislang unbekannte Form, vor allem aber eine bislang unbekannte Intensität von Kontrolle ermöglichen. Zudem gewinnt das Netz eine enorme Komplexität, wenn Strom-Netz, Verkehrs-Netz und IT-Netz zu einer gewaltigen Infrastruktur zusammenwachsen (Honsel 2009), die nur zu steuern ist, wenn ein hohes Maß an Steuerungs- und Koordinations-Fähigkeit im System selbst steckt. „Smart grid“ bzw. „intelligentes Netz“ sind die Formeln, mit denen die Tatsache umschrieben wird, dass ein derart komplexes System eine „intelligente und automatisierte Steuerung“ benötigt, die mit Daten operiert, welche „in Echtzeit“ zur Verfügung stehen (Clemens 2010).
Gefahr, dass der Akku ihres Fahrzeugs leer ist, weil die in ihm gespeicherte überschüssige Energie gerade für andere Zwecke benötigt wird (s.o.). 27
Im Bereich der Energienetze hat Mautz (2007: 120) bereits einen Trend zur Rezentralisierung diagnostiziert.
28
Vgl. auch die Ausführungen zu „new modes of governance“ bei Voß (2007).
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Die Intelligenz steckt in Zukunft also im Netz, nicht mehr im einzelnen Entscheider, dessen Intelligenz (im Sinne der Befähigung zur Generierung von Problemlösungen) immer geringer wird. Denn er wird immer weniger verstehen, was gerade passiert, warum also beispielsweise die Waschmaschine läuft bzw. nicht läuft oder warum der Akku des Elektroautos geladen bzw. entleert ist. Er wird sich anpassen und seine Pläne ggf. umstellen müssen. Denn all diese Prozesse werden vollautomatisch ablaufen, gesteuert von einer System-Logik, deren Algorithmen zwar bekannt sind, die jedoch je nach Lage der Dinge ein unterschiedliches Systemverhalten generieren wird, das für den Einzelnen überraschend sein kann. Denn ihm fehlt das Verständnis für das große Ganze, so dass er nur Ad-hoc-Entscheidungen treffen kann, die auf den momentanen Systemzustand rekurrieren bzw. auf die – möglicherweise gefilterten – Informationen, die ihm das System in Echtzeit vermittelt. Intelligente Netze sind ein Regelkreis, der permanent aus dem aktuellen Input den Systemzustand errechnet und unmittelbar daraus einen Output generiert, der das Verhalten einzelner Komponenten so verändert, dass der Systemzustand optimiert werden kann usw. usf. – ein endloser iterativer Prozess. Da dies alles vollautomatisch und in Echtzeit geschieht, stellt sich die Frage, ob es wenigstens den System-Steuerern gelingt, einen gewissen Überblick zu behalten und die Sicherheit und Stabilität des Netzes zu gewährleisten. Die Arbeiten von Paul Schulmann et al. (2004) verweisen darauf, dass dies in modernen Infrastruktur-Netzen immer schwieriger sein wird. Der neuartige Governance-Modus der „mixed governance“ unterscheidet sich also vom Modus der Hierarchie, der auf einer zentralen (Voraus-)Planung sämtlicher Prozesse basiert und wenig Abweichungen toleriert. Es wird zwar geplant, aber nicht rigide, und das System ist in der Lage, Abweichungen aufzufangen. Er unterscheidet sich aber auch vom Modus des Marktes, in dem die Teilnehmer sich ad hoc auf lokaler Ebene dezentral koordinieren. Vieles läuft zwar ad hoc, aber dem unterliegt eine System-Logik, die das Ganze steuert. Und er lässt sich vom Modus des Netzwerks insofern abgrenzen, als hier nicht gleichberechtigte Partner miteinander interagieren, die sich wechselseitig als autonome Subjekte anerkennen, sondern eine machtvolle Zentrale und viele Mitspieler. Der neue Modus der Echtzeit-Steuerung, der eine zentrale Steuerung komplexer dezentraler Systeme ermöglicht, basiert vielmehr auf einer eigentümlichen Mischung von planwirtschaftlichen Elementen und Ad-hoc-Entscheidungen, von zentraler Kontrolle und dezentraler Adaption sowie auf einer unmittelbaren Rückkopplung von System- und Individualebene.29 Zudem spielt sich das Ganze in Zeiträumen ab, die kaum Möglichkeiten für strategisches Handeln eröffnen. Denn das Verfolgen einer Strategie in sozialen Interaktionen erfordert die Antizipation der Rückwirkungen, die das eigene Handeln beim Gegenüber auslösen könnte. Strategische Interaktion vollzieht sich zudem in Handlungssequenzen, deren einzelne Schritte aufeinander aufbauen und daher ein gewisses Quantum Zeit benötigen. Die drei bekannten Governance-Modi haben in zeitlicher Hinsicht eine sequenzielle Struktur: Im Modus der Hierarchie findet die Planung vor ihrer Umsetzung und der Ausführung der Handlungen statt, die dann – zeitlich nachgelagert – ein Feedback bewirken, das bei späteren 29
James Surowiecki verwendet den Begriff „fast aggregation“ (2005: 77), um einen Mechanismus der Aggregation dezentral organisierter Systeme zu beschreiben, belässt es jedoch bei wenigen Hinweisen auf die „schnelle Anpassung“ (ebd.) der Systemsteuerung an die Informationen, die von lokalen Stellen generiert wurden – hier am Beispiel des US-Militärs.
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Neuplanungen berücksichtigt werden. Markt-Transaktionen vollziehen sich zwar in kurzen Zeiträumen (Brandes/Schneider 2009: 48; Rifkin 2010: 391); diese sind jedoch meist Bestandteil einer Kette von Transaktionen: Man tauscht eine Ware gegen Geld, dies wiederum gegen eine neue Ware usw. Netzwerke schließlich benötigen Zeit für Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse, die vom strategischen Kalkül der Beteiligten und der InteraktionsDynamik geprägt sind. Bei der Echtzeitplanung findet hingegen eine zeitliche Verdichtung statt, die ein sequenzielles Handeln wie auch ein interaktives Aushandeln kaum noch möglich erscheinen lässt. Da die Akteure bei ihren Entscheidungen ad hoc auf den – sich dynamisch verändernden – Systemzustand reagieren müssen, verringern sich ihre Möglichkeiten, langfristig und damit strategisch zu handeln. Im Fall intelligenter Stromnetze oder intelligenter Verkehrssysteme ist das Systemverhalten nur schwer antizipierbar; es gestaltet sich vielmehr variabel als emergentes Ergebnis der Interaktion der System-Komponenten, deren Verhalten jedoch in hohem Maße von der System-Logik gesteuert wird. Die System-Steuerung ist in ihren Grundzügen also eher planförmig-hierarchisch, das Akteur-Verhalten eher marktförmig-spontan; beide zeigen jedoch verhaltensartige Züge, weil sie sich der jeweils aktuellen Situation anpassen. Das Ganze vollzieht sich allerdings in Netzwerken, die nicht nur die technische Basis, sondern auch die Grundlage der sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren bzw. zwischen Akteur und System bilden. Eine eigentümliche Mischung, für deren Beschreibung die Soziologie bislang noch keine adäquaten Begriffe, geschweige denn ein adäquates Modell gefunden hat.
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Die Verletzlichkeit der Echtzeit-Gesellschaft
4.1 Transformation der Gesellschaft Elektronische Netzwerke haben sich also im vergangenen Jahrzehnt zu einer neuen, leistungsfähigen Technologie entwickelt, die sowohl in der Arbeitswelt als auch in der privaten Lebenswelt eine fundamentale Transformation eingeleitet bzw. zum Teil bereits vollzogen hat. Die Vision der Wissensgesellschaft ist so in nur wenigen Jahren verwirklicht worden – und wird bereits von der Vision der Echtzeit-Gesellschaft abgelöst. Von der Online-TicketBuchung bis hin zur elektronischen Abwicklung geschäftlicher Transaktionen, von der vernetzten Kriegsführung bis hin zur kreativen Kooperation in Open-Source-Communities – es gibt faktisch keinen gesellschaftlichen Bereich mehr, dessen Funktionsweise nicht auf elektronischen Netzwerken basiert (vgl. u.a. Kaufmann 2006; Taubert 2008). Ein Ausfall dieser Netzwerke würde sowohl den Zugverkehr und die Stromversorgung als auch die Exportwirtschaft und viele andere Sektoren schlagartig zusammenbrechen lassen (vgl. Kurz 2010); und ein konventionelles Backup zur Steuerung dieser Systeme mit traditionellen Mitteln steht nicht mehr zur Verfügung. Im Rahmen der Modernisierung gesellschaftlicher Sektoren und ihrer Umstellung auf E-Business wurden derartige Verfahren wie auch das damit verbundenen Know-how regelrecht entsorgt.
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Trapped in the net Aus den geschilderten Entwicklungen resultiert eine große Abhängigkeit der EchtzeitGesellschaft von vernetzten IT-Systemen sowie eine gestiegene Verletzlichkeit, auf die Gene Rochlin bereits 1997 mit der plakativen (und oben bereits zitierten) Formel „trapped in the net“ (gefangen im Netz) aufmerksam gemacht hatte. Die weit verbreitete Internet-Euphorie, die vorrangig auf die segensreichen Auswirkungen des World Wide Web verwiesen hat (vgl. u.a. Negroponte 1997), wird erst langsam durch die Wahrnehmung verdrängt, dass auch im Internet Risiken und Gefahren lauern, deren Tragweite noch immer unterschätzt wird (Carr 2009). Diese Abhängigkeit und Verletzlichkeit manifestiert sich sowohl auf der individuellen als auch auf der System-Ebene. Das Beispiel der Finanzmärkte illustriert die Risiken auf der System-Ebene besonders anschaulich. Autonome, miteinander vernetzte Börsencomputer, die Transaktionen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden vollziehen, werden für die extremen Kursschwankungen verantwortlich gemacht, die die Börse immer wieder heimsuchen. „Räuberische Algorithmen“ nennt man jene „High-Frequency-Trader“, die auf die Jagd spezialisiert sind und mit blitzschnellen Arbitrage-Geschäften hohe Gewinne einfahren, dabei aber zugleich immer wieder dafür sorgen, dass das System als Ganzes außer Kontrolle gerät, wie geschehen am 6. Mai 2010, „als der Dow-Jones-Index binnen weniger Minuten fast tausend Punkte verlor“ (Strobl 2010). Manche Systeme sind mittlerweile so komplex, dass sie selbst von den Programmierern nicht mehr richtig verstanden werden (D. Hillis, zit. n. FAZ 08.01.2010: 29). Auch in Verkehrssystemen schreitet die Computerisierung der System-Komponenten (Flugzeuge, Autos, Schienenfahrzeuge) sowie deren elektronische Vernetzung unaufhörlich voran; die Luftfahrt hat hier wie so oft eine Vorreiter-Rolle inne. Funktionen, die bislang von menschlichen Operateuren ausgeführt wurden, werden nach und nach an autonome technische Systeme delegiert, die miteinander kommunizieren und Problemlösungen aushandeln. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Kollisionswarnsystem TCAS (Traffic Alert and Collision Avoidance System), das die Piloten warnt, wenn ein anderes Flugzeug sich auf Kollisionskurs befindet (Weyer 2006). Die besondere Leistungsfähigkeit von TCAS besteht darin, dass die Bordrechner der beiden Flugzeuge eine aufeinander abgestimmte Konfliktlösung untereinander aushandeln, und zwar derart, dass eines der Flugzeuge in den Steigflug, das andere in den Sinkflug geht. TCAS gilt zwar mittlerweile als ein sicheres und ausgereiftes System; es produziert dennoch immer wieder Irritationen und Konflikte, beispielsweise in Form einer Kettenreaktion, wenn ein Ausweichmanöver den nächsten Konflikt provoziert usw. Zudem verlässt die Luftfahrt sich immer mehr auf Systeme wie TCAS, um auch Situationen zu bewältigen, die mit herkömmlicher Technologie ein zu großes Risiko beinhaltet hätten, und dehnt so die Grenzen des Machbaren immer weiter aus. Die Risiken der Vernetzung zeigen sich in besonders drastischem Maße in der Gefahr von Cyberkriegen (Rieger 2010a). So sorgte der Trojaner „stuxnet“ im Herbst 2010 für Aufregung, weil er in der Lage ist, die Steuerung von Industrieanlagen so zu manipulieren, dass sie faktisch unbrauchbar werden. Dies demonstriert die Verwundbarkeit der industriellen und technischen Infrastruktur, die in hohem Maße IT-basiert ist.
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Die Abhängigkeit und Verletzlichkeit der Echtzeit-Gesellschaft manifestiert sich auch auf der individuellen Ebene (siehe nächster Abschnitt).
4.2 Wie der Computer uns verändert (hat) Der Computer, mehr aber noch das Internet, haben unsere Kommunikationspraktiken und unseren Umgang mit Wissen nachhaltig verändert. Das Leben im Netz ist mittlerweile für große Kreise der Bevölkerung zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden: E-Mails, Fotos, Musik, Nachrichten, Freunde, Einkäufe – all das sucht und findet man im Netz, dessen (auch nur kurzfristiger) Ausfall mittlerweile kaum zu bewältigende Probleme mit sich bringt, weil ein konventionelles Backup (etwa ein Fotoalbum mit gedruckten Abzügen) oftmals nicht mehr existiert. Wenn sich die Intelligenz immer stärker ins Netz verlagert (vgl. Abschnitt 3.5), stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dies auf die menschlichen Fähigkeiten zur Problemlösung hat. War man in der Phase der Internet-Euphorie zunächst davon ausgegangen, dass das Internet zur Kompetenzerweiterung beiträgt, so rückt sein einiger Zeit der Kompetenzverlust ins Blickfeld, da gewisse menschliche Fähigkeiten verkümmern, wenn die Netze bei jedem Klick immer intelligenter werden. Die folgenden Ausführungen bieten eine knappen Überblick über die Debatte, die Anfang 2010 von der Internet-Plattform Edge (www.edge.org) angestoßen wurde und teilweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dokumentiert wurde (Schirrmacher 2010).30
Verändert das Internet unser Denken? Hirnforscher und Psychologen sind sich – auf Basis experimenteller Studien – einig, dass jede praktische und kognitive Tätigkeit die Strukturen unseres Gehirns verändert, da sich neuartige Verknüpfungen der Synapsen bilden (Korte 2010). Sie postulieren daher einen engen Zusammenhang zwischen der Nutzung einer spezifischen Technologie (Sprache, Schrift, elektronische Medien) und den korrespondierenden Hirnstrukturen. Vor allem Manfred Spitzer (2010) verweist immer wieder auf den statistisch nachweisbaren negativen Zusammenhang von Medien-Nutzung (TV, PC) und Bildung. Schüler, die einen Computer in ihrem Zimmer haben, haben durchweg schlechtere Schulleistungen als ihre Altersgenossen. Als gravierende Veränderungen, die mit der Nutzung des Internets einhergehen, werden in der Debatte insbesondere genannt:
Reizüberflutung Die Aufmerksamkeitsspannen verkürzen sich; wir sind immer weniger in der Lage, uns über einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren („selektive Aufmerksamkeit“) und 30
Alle nur mit Autorennamen gekennzeichneten Zitate und Verweise beziehen sich auf die Sammlung von Statements in Schirrmacher 2010.
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andere Dinge auszublenden (Korte 2010; Spitzer 2010). Der Grund sind das hektische, ziellose „Surfen“ im Netz, aber auch das parallele Bearbeiten mehrerer Aufgaben („Multitasking“) sowie die permanente Alarmbereitschaft, in der sich Nutzer befinden, die gewohnt sind, stets auf neu eingehende Mails oder SMS zu reagieren (Macintyre 2010). Beim Surfen im Netz folgt man einem „ungerichtetem Pfad der Links“ (Kelly), auf dem man jedoch nie zum Ausgangspunkt zurückkehrt (Spitzer 2010). Das Wissen wird nur oberflächlich angeeignet, weil das Gehirn durch rein visuelle Reize zu wenig stimuliert wird (ebd.); „unser Denken (wird) seichter“ (Carr). Damit geht ein wachsendes Unvermögen einher, angesichts des Übermaßes an Information das Wichtige vom Unwichtigem zu unterscheiden, also die Dinge zu filtern (Macintyre 2010);der permanente „information overflow“ überfordert uns schlicht und einfach. Interessant ist zudem der Befund, dass das Multi-Tasking nicht nur die Leistung verringert, sondern dass Multi-Tasker besonders schlecht abschneiden, wenn sie zwischen mehreren Aufgaben wechseln müssen (Spitzer 2010).
Internet als Kollektivgedächtnis Die Nutzung des Internets führt ferner zu einer Auslagerung von Wissen in ein „externes Gehirn“ (Baker 2010), das mit jedem Klick und mit jeder Dateneingabe, die wir tätigen, immer klüger wird.31 Das Internet wird somit zu einer Art „Kollektivgedächtnis“ (Gigerenzer), das allerdings auf den menschlichen Input angewiesen ist. Mit dieser Auslagerung geht eine nachlassende Gedächtnisleistung einher, denn die interne Speicherung von Information in (individuellen) Wissensvorräten hat im Zeitalter von Suchmaschinen wie Google an Wert verloren hat, weil man die benötigte Information in externen, maschinellen Speichern jederzeit erneut nachschlagen kann. Das Internet führt zudem zu einer Fragmentierung des Wissens; das Internet ist ein „Ozean von Fragmenten“ (Kelly), der aus MP3-Titel statt aus LP-Konzeptalben bzw. aus Informationshappen statt aus einer Zeitung als Gesamtwerk besteht.
Such-Strategien Damit geht auch die Fähigkeit verloren, systematisch zu recherchieren, und zwar mit Hilfe erlernter und erprobter Such-Strategien. Informationen sind im Zeitalter des Internets kein rares Gut mehr, und dies führt tendenziell zu einer Entwertung von Experten, deren Qualifikation unter anderem darin bestand, dass sie das Wissen eines spezifischen Wissensgebietes über einen längeren Zeitraum akkumuliert hatten und auf Grundlage ihres Wissens, aber auch ihrer Erfahrung in der Lage waren, aktuelle Entwicklungen zu bewerten (vgl. Macintyre 2010). Dazu gibt es interessante historische Parallelen: Die Schrift entwertete die Kunst des Auswendiglernens und machte den Geschichtenerzähler überflüssig (Gigerenzer, in FAZ 08.01.2010), und in ähnlicher Weise wurde die Kunst des Kopfrechnens in den Taschenrechner verlagert.
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Beim Tausch von Daten, die der Nutzer eingibt, gegen Informationen, die er von Google erhält, handelt es sich um einen asymmetrischen Tausch (vgl. Esser 2000: 385ff.), weil Google nur einen Teil der Informationen preisgibt und wichtige Details, z. B. wie das Suchergebnis zustandegekommen ist, zurückhält, dafür aber vom Nutzer wertvolle Daten erhält, die über die Suchanfrage hinaus einen hohen Wert haben.
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Kollektive Intelligenz Die kollektive Intelligenz, die beispielsweise in den Nutzerbewertungen von Amazon steckt, führt zu einer Verlagerung der Urteilsbildung auf die „crowd“ (Miller, in FAZ 08.1.2010: 29). Man macht sich das Gesetz der großen Zahl für eigene Entscheidungen zunutze (vgl. Surowiecki 2005) und verlässt sich bei der Auswahl von Musikstücken, Kinofilmen, Buchtiteln, Reisezielen etc. in zunehmendem Maße auf das Urteil des Kollektivs.
Zeitersparnis – Zeitvergeudung Die Nutzung elektronischer Medien führt zu einer denkwürdigen Mischung von Zeitersparnis (durch elektronische Kommunikation) und Zeitvergeudung (durch den Zwang zur permanenten Bearbeitung von E-Mails, digitalen Fotos, MP3-Downloads etc.) (Macintyre 2010), die per saldo nicht den Zeitgewinn mit sich gebracht hat, den man zu Beginn des Computerzeitalters erwartet hatte (ein sogenannter Rebound-Effekt). Partizipation wird so zur Last und zur Qual. Damit geht die enorme „Verdichtung von Zeit einher, die Computerarbeit so stressig macht“ und die ein Resultat der „Echtzeit-Strategie von Google und Twitter“ (Lovink 2010) ist, die längere, konzentrierte Arbeitssequenzen so gut wie unmöglich macht. Dabei sind wir niemals mehr wirklich offline – auch nicht am Wochenende, im Theater oder im Urlaub, und es wird immer mehr als irritierend empfunden, wenn man auf eine SMS oder E-Mail nicht sofort reagiert. Das Gehirn braucht aber, so sagen es die Hirnforscher, auch Phasen der Ruhe, um sich zu regenerieren und das Gelernte zu verarbeiten (Spitzer 2010).
Individuelle Allzuständigkeit Last not least hat das Internet eine „individuelle Allzuständigkeit“ (Jeff Jarvis, zit. n. FAZ 04.06.2009: 34) hervorgebracht, da wir mittlerweile alles, wofür es früher Experten gab, mittlerweile selbst machen können bzw. müssen. Früher gab es Fotostudios für die Entwicklung von Fotos, Tonstudios für die Aufnahme von Musiktiteln und Zeitungsredaktionen für die Zusammenstellung der Ereignisse des Tages. Mittlerweile machen wir das alles selbst und überfordern uns tendenziell damit.
Zwischen-Resümee Auch auf der individuellen Ebene haben sich also in einem extrem kurzen Zeitraum massive Veränderungen vollzogen, die den Vergleich mit der Renaissance des 15. Jahrhunderts bzw. der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts provozieren, als sich ebenfalls innerhalb eines historisch sehr kurzen Zeitabschnitts fundamentale gesellschaftliche Transformationen vollzogen, die einen erheblichen Wandel der gesellschaftlichen Lebensformen und individuellen Verhaltensweisen mit sich brachten. Die Transformation zur Echtzeit-Gesellschaft bringt eine wachsende Abhängigkeit vom Computer sowie von IT-Netzen mit sich und, damit einhergehend, eine massive Veränderung unserer Verhaltensweisen, Lebensstile, Kommunikationsformen und Wissensstrategien. All dies wird einem schlagartig klar, wenn man – zufällig beim Aufräumen – einen mit der Schreibmaschine getippten Brief aus dem Jahr 1985 findet. Er hat einen persönlichen Cha-
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rakter (und nicht einen quasi-öffentlichen), er ist gewissenhaft verfasst (und nicht nebenbei auf die Schnelle hingeschrieben), und er behandelt das Thema mit einer gewissen Gründlichkeit und Verbindlichkeit (und nicht oberflächlich wie die meisten E-Mails).
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Fazit: Die Macht der Netzwerke
Kombiniert man resümierend die Erkenntnisse über die Macht von Daten-Netzen (Abschnitt 2) mit den Potenzialen der Echtzeit-Steuerung komplexer Systeme (Abschnitt 3), so wird die gesellschaftspolitische Brisanz der Entwicklungen deutlich, die sich innerhalb nur eines Jahrzehnts beim Übergang von der Wissensgesellschaft zur mobilen Echtzeit-Gesellschaft vollzogen haben. Denn die Leistungsfähigkeit von Echtzeit-Systemen basiert auf der einzigartigen Verknüpfung dreier Verfahren der Vernetzung: 1. der technischen Vernetzung mittels Datenkommunikation in elektronischen Netzwerken, 2. der sozialen Vernetzung durch soziale Interaktion in (oftmals virtuellen) BeziehungsNetzwerken sowie 3. der methodischen Verfahren der Netzwerk-Analyse, die die Daten, welche in elektronischen Netzwerken prozessiert werden, mit sozialem Sinn bestücken und so zu DatenNetzwerken verdichten, welche die sozialen Strukturen des Netzwerks beschreiben bzw. konstruieren. Und es wird zugleich deutlich, welch hohen Stellenwert die formalen Verfahren der Netzwerk-Analyse (vgl. den Beitrag von Weyer, Fink und Liboschik, in diesem Band) für die „intelligente“ Steuerung von Echtzeitsystemen haben. Denn die Netzwerk-Analyse ist ein mächtiges Tool zur Analyse und Deutung sozialer Prozesse – und damit zur Konstruktion und Beherrschung von Wirklichkeit. Für Firmen wie Google und andere ist dies ein extrem profitables Geschäft. Und die Tatsache, dass IT-Firmen wie IBM, Google und andere nunmehr auch in das Geschäft mit klassischen Infrastruktursystemen wie Stromnetzen einsteigen (FAZ 14.10.2010: 18), verdeutlicht nicht nur die sich vollziehende Konvergenz der technischen Systeme, sondern auch das Macht-Potenzial, das sich aus dem Zusammenfließen unterschiedlicher Verfahren der Vernetzung ergibt. Denn wer die Netzwerk-Analyse beherrscht und über Verhaltens-Daten verfügt, die in Echtzeit erhoben werden, hat damit faktisch die Hebel zur Steuerung komplexer Systeme in der Hand. Diese Steuerung vollzieht sich zunehmend in einem neuartigen Modus der Echtzeit-Steuerung, der die zentrale Steuerung komplexer dezentraler Systeme ermöglicht. Für die Governance-Theorie stellt sich damit die Herausforderung, diese neuartige Qualität von Steuerung begrifflich-konzeptionell zu erfassen.
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Literatur
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Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften Johannes Weyer
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Die vernetzte Gesellschaft
Der Netzwerkgedanke erfreut sich seit etlichen Jahren einer ungebrochenen Popularität in der Wirtschaftspraxis, in der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Forschung wie auch in der Industriepolitik; so hat beispielsweise die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 1998 die Empfehlung an Unternehmen ausgesprochen, sich bei der Herstellung und Einführung innovativer Produkte auf InnovationsNetzwerke zu stützen, weil diese den Wissenstransfer beschleunigen, die Kosten senken und zudem dazu beitragen, Parallelentwicklungen zu vermeiden (vgl. FAZ 15.02.1999: 29).1 Die Konjunktur der Idee, dass Netzwerke Problemlösungen zustande bringen, die anderen organisatorischen Arrangements oder institutionellen Strukturen überlegen sind, lässt sich auf eine Reihe von Ursachen zurückführen, u.a.: auf die Krise der industriellen Massenproduktion mit ihren vorwiegend zentralistischen Organisationsstrukturen, auf den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, die eine flexible und verteilte Produktion ermöglichen (Stichwort: Just-in-time),2 auf einen Paradigmenwechsel in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Theorie (Nohria 1992): In geradezu modischer Manier wird nahezu jedes empirische Phänomen
1
Der folgende Text ist eine überarbeitete Version der Einleitung zur 1. Auflage des vorliegenden Bandes aus dem Jahr 2000. Auch wenn ich die eine oder die andere Passage heute anders formulieren würde, enthält der Beitrag meines Erachtens vor allem in den theorieorientierten Abschnitten diverse Argumente, die im Grundsatz auch heute noch Bestand haben. Da der Text häufig zitiert, habe ich mich entschieden, nur geringe Modifikationen vorzunehmen. Geänderte Passagen sind mit einem Stern (*) markiert.
2
Die Potenziale der Vernetzung über das Internet haben die hier angelegten Optionen mittlerweile erheblich ausgeweitet; vgl. das Kapitel „Netzwerke in der mobilen Echtzeitgesellschaft“, in diesem Band. (*)
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mittlerweile durch die ‚Netzwerk-Brille‘ betrachtet (vgl. Bommes/Tacke 2006: 36). Die heute übliche, eher metaphorische Verwendungsweise des Netzwerk-Begriffs hebt sich dabei deutlich von den stärker formal ausgerichteten Vorläufern in der Soziometrie, der Sozialanthropologie oder der Gemeindeforschung der 1950er und 1960er Jahre ab (Fischer/Gensior 1995; Brandes/Schneider 2009). Schließlich auf die Entstehung eines interdisziplinären Forschungsfeldes, der Theorie komplexer Systeme (Schneider/Bauer 2009), das vor allem in der Physik zu einer intensiven Befassung mit Phänomenen der Selbstorganisation „from the bottom up“ (Epstein/Axtell 1996) und der Emergenz von Makro-Strukturen aus den Mikro-Interaktionen der Elemente geführt hat (Pyka/Scharnhorst 2009: 2; vgl. Richter/Rost 2004). (*) Auch die Mega-Fusionen der vergangenen Jahre, aus denen global agierende Konzerne mit gewaltigen Dimensionen hervorgegangen sind, können die Diagnose einer anhaltenden Attraktivität der Netzwerkidee nicht entkräften. Denn derartige Organisationen sind mit den Methoden einer zentralistischen Unternehmensführung nicht zu steuern; intern sind sie meist als Netzwerk lose gekoppelter, autonomer Einheiten strukturiert. Zudem lässt sich der ökonomische Nutzen der Option Unternehmensübernahme nicht immer konkret beziffern; wie die 1999 vollzogene Fusion der Deutschen Bank mit Bankers Trust belegt, handelt es vielmehr oftmals um ein strategisches Spiel, dessen Zweck es ist, den Konkurrenten das Feld nicht kampflos zu überlassen, sondern ihnen zuvorzukommen und so eine günstige Position aufzubauen.3 Eine prinzipielle Überlegenheit hierarchischer gegenüber netzwerkförmiger Koordinationsmechanismen lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten.4 Wenn Unternehmen in Netzwerken kooperieren, bündeln sie ihre Ressourcen und Kompetenzen, stellen ihre Autonomie jedoch wechselseitig nicht in Frage. Sie verpflichten sich auf gemeinsame Ziele, zu deren Realisierung jeder Partner einen spezifischen Beitrag leistet. Auch wenn derartige Kooperationen vertraglich fixiert werden, spielen diskursive Prozesse eine wichtige Rolle, etwa bei der Aushandlung der Modalitäten der Kooperation oder bei der Bewältigung von Konflikten. Der Vorteil einer derartigen horizontalen Koordination besteht im Gegensatz zur vertikalen Integration in der Verbindung von Flexibilität und Effizienz. Eine gesteigerte Leistungsfähigkeit wird nicht mit erhöhtem Integrations- und Kontrollaufwand erkauft, wie dies in hierarchisch strukturierten Unternehmen der Fall ist; wesentlich für das Funktionieren eines Netzwerks ist vielmehr die schrittweise Entstehung vertrauensvoller Beziehungen zwischen den Beteiligten. Gelingt dies, können Netzwerke eine hohe Produktivität und Dynamik entfalten.
3
Auch die Übernahme von General Electric (GEC) durch British Aerospace (BAe) im Januar 1999 illustriert diesen Mechanismus, ging es BAe doch in erster Linie darum, das Eindringen amerikanischer Firmen in den britischen (und damit den europäischen) Rüstungsmarkt zu verhindern (vgl. Aviation Week and Space Technology [AWST] 25.01.1999: 30-32). Mit dieser Entscheidung für eine vertikale Integration der ElektronikFirma GEC in den Luft- und Raumfahrtkonzern BAe wurden langjährige Planungen für eine Kooperation europäischer Partner (vor allem mit der Deutschen Aerospace und Aerospatiale) hinfällig.
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Die Beispiele illustrieren vielmehr anschaulich, in welchem Maße ökonomische Prozesse von nichtökonomischen Entscheidungskalkülen geprägt sind.
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Der Erfolg des europäischen Airbus-Konsortiums, das in nur 20 Jahren zu einem ebenbürtigen Konkurrenten des einstmals unangefochtenen Boeing-Konzerns geworden ist, kann beispielsweise auf dessen Organisationsstruktur zurückgeführt werden, die dadurch geprägt ist, dass mehrere nationale Hersteller gleichberechtigt kooperieren (Bugos 1993; Schmidt 1997). Die regelmäßig auftretenden und auch in der Öffentlichkeit verhandelten Konflikte sind demnach nicht als ein Indiz für die Schwäche dieses Netzwerks zu interpretieren, sondern als Beleg für die Tatsache, dass die Beteiligten angesichts des Nichtvorhandenseins eines Steuerungszentrums die Modalitäten ihrer Zusammenarbeit in kritischen Phasen immer wieder neu aushandeln und dabei die Bereitschaft der Partner zur Kooperation auf den Prüfstand stellen müssen. Verhandelte Problemlösungen – so die soziologisch relevante Schlussfolgerung – haben demnach ein Potential, das dem autoritativ verordneter zumindest gleichwertig, zum Teil sogar überlegen ist.5 Die Konjunktur des Netzwerkgedankens lässt sich auch anhand anderer gesellschaftlicher Handlungsfelder belegen, etwa am Beispiel der Politik, wo Runde Tische in zunehmendem Maße als eine Form der politischen Planung wie auch der Konfliktbewältigung gelten. Konsensfähige Lösungen lassen sich durch Aushandlungsprozesse, in die konfligierende Positionen und Interessen einfließen, leichter und schneller erzielen als auf anderen Wegen; zudem sind sie dauerhafter und stabiler, sofern es gelingt, wechselseitige Verpflichtungen zu erzeugen (vgl. Feindt et al. 1996; Köberle et al. 1997; Abels/Bora 2004). Instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Beispiel gentechnisch veränderter Nahrungsmittel: In Deutschland, wo der verhandlungs- und konsensorientierte Weg selten beschritten wird, existiert gegenwärtig eine Innovationsblockade; in anderen Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden ist man in Fragen der gesellschaftlichen Bewältigung dieser Innovation bereits ein ganzes Stück weiter (vgl. Behrens et al. 1997). Ähnlich verhält es sich in der Arbeitsmarktpolitik: Der Pakt von Wassenaar, den die Arbeitgeber, der Staat und die Gewerkschaften 1982 geschlossen haben, hat in den Niederlanden zu einer deutlichen Senkung der Arbeitslosenzahlen geführt, weil er – anders als in Deutschland – eine hohe Verbindlichkeit derart beinhaltet, dass Lohnverzicht sich für die Arbeitnehmer tatsächlich auszahlt. Die aufgeführten Beispiele belegen, in welchem Maße Netzwerke als eine neuartige Form der Handlungskoordination in der wirtschaftlichen wie der politischen Praxis bereits erfolgreich eingesetzt werden. Zwar sind Netzwerke keine Allheilmittel für jede nur erdenkliche Problemkonstellation, aber es kann eine zunehmende Bereitschaft konstatiert werden, derartige Alternativen auszuprobieren, wenn es darum geht, konsensfähige Problemlösungen zu finden. Die Beiträge dieses Buches liefern anhand unterschiedlicher Beispiele Einblicke in die Praktiken einer vernetzten Gesellschaft. Sie bestärken die Vermutung, dass Netzwerke tendenziell eine größere Leistungsfähigkeit bei der Bewältigung der Aufgaben besitzen, denen moderne Gesellschaften in all ihren Teilbereichen (Wirtschaft, Politik etc.) gegen-
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Das Unternehmen Airbus Industries hat mittlerweile eine stärker zentralistische Struktur; dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass es seinen Aufstieg zum ebenbürtigen Konkurrenten von Boeing als internationales Unternehmens-Netzwerk vollzogen hat. Offenbar imitieren beide Unternehmen wechselseitig ihre Erfolgsrezepte: Während Airbus stärker zentralisiert und integriert, setzt Boeing verstärkt auf die Kooperation in globalen Netzwerken; vgl. FAZ 27.11.2010: 17. (*)
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überstehen, als andere Formen der Handlungskoordination wie etwa die bürokratische Organisation, der vertikal integrierte Konzern oder der interventionistische Machtstaat. Etwas unübersichtlicher verhält es sich mit der konzeptionellen Verarbeitung und der theoretischen Erfassung dieser Entwicklungen durch die Soziologie. Die Institutionen-Ökonomie besitzt mit ihrer Trias Markt/Hierarchie/Netzwerk nahezu ein Erklärungsmonopol. Trotz des Unbehagens gegenüber einer ökonomisch geprägten Erklärung sozialer Prozesse hat sich in der Soziologie noch kein Ansatz herausgebildet, der es an Einfachheit und Klarheit mit dem ökonomischen Paradigma aufnehmen kann. Da zudem viele soziologische Analysen die Trias der Transaktionskosten-Ökonomie als Ausgangspunkt nehmen, führt auch in dieser Einleitung kein Weg an deren Rekonstruktion vorbei (Abschnitt 2). Dennoch gibt es eine Reihe vielversprechender Ansätze in der soziologischen Netzwerkforschung, und zwar im Bereich der formalen Methoden der Netzwerkanalyse einerseits, im Bereich der Analyse von Interorganisations-Netzwerken als einer spezifischen Form der Handlungskoordination andererseits (Abschnitt 3). Durch die Fokussierung auf die in Netzwerken ablaufenden sozialen Prozesse kommen Aspekte in den Blick, die sonst unterbelichtet bleiben, z. B. die Machtverhältnisse in Netzwerken (Abschnitt 4.1), der Stellenwert räumlicher Nähe für die Vernetzung von Organisationen (4.2), die Rolle von Netzwerken bei der Ingangsetzung von Innovationen (4.3) sowie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (4.4). Mit einem derartigen Perspektivwechsel verbindet sich zugleich der weitergehende Anspruch, Bausteine zu einer soziologischen Theorie sozialer Netzwerke zu entwickeln und die Netzwerkanalyse stärker mit den basalen Konzepten der Disziplin zu verknüpfen (Abschnitt 5). In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Band als ein Anstoß, der Wege sowohl zur theoretischen Durchdringung als auch zur praktischen Umsetzung des Netzwerkkonzepts aufzeigen will.
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Netzwerke in der Transaktionskostenökonomie
Das theoretische Gerüst, auf das viele Netzwerkanalysen rekurrieren, stammt aus der Transaktionskostenökonomie, einem Denkansatz in den Wirtschaftswissenschaften, der nach der Problemlösungsfähigkeit institutioneller Strukturen fragt und dabei insbesondere den Markt und die Organisation als zwei fundamental unterschiedliche Formen der Abwicklung ökonomischer Transaktionen gegenüberstellt (vgl. u.a. Sydow 1992c). Die Transaktionskostenbzw. Institutionenökonomie, die sich vor allem auf Oliver Williamson (1975, 1981) beruft, versucht herauszufinden, wieso bestimmte Transaktionen auf dem Markt erfolgen, andere hingegen in Organisationen (Unternehmen) vollzogen werden, die geordnete Strukturen und Regeln für die Steuerung ihrer internen Prozesse aufbauen. Diese Suche nach institutionellen Varianten bzw. Alternativen lässt sich als eine Art Soziologisierung der Ökonomie interpretieren, der es nicht ausschließlich um den basalen Prozess des Zahlens und Nicht-Zahlens (im Sinne Luhmanns) geht, sondern um die Frage, welche institutionellen Formen diesen Prozess wirksam stützen und wie die Wahl derartiger Formen wiederum auf die Fähigkeit
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der Akteure zurückwirkt, als Wirtschaftssubjekte zu agieren (i.e. Produkte und Dienstleistungen zu erzeugen und anzubieten). Wenn ein Unternehmen ein Produkt am Markt kauft, so sprechen – aus Sicht der Transaktionskostenökonomie – gewichtige Gründe dafür, dass dies der beste (d. h. in der Regel: billigste und einfachste) Weg zur Beschaffung dieses Produkts ist. Es wäre völlig unrentabel, wenn ein Schraubenhersteller sein Kopierpapier selbst produzieren würde; zu den Preisen, die der Markt bietet, kann er eine hauseigene Papierherstellung nicht aufbauen. Bei einem Vorprodukt, beispielsweise einer speziellen Metall-Legierung, mag es hingegen sinnvoll sein, dies hausintern zu produzieren, wenn am Markt kein Anbieter existiert, der dieses Produkt zu akzeptablen Konditionen vertreibt. Akzeptabel muss aber nicht nur der Preis sein; auch weitere Aspekte wie Liefertreue, Lieferqualität, Zuverlässigkeit etc. müssen stimmen. Die schwierige Entscheidung „Make or buy?“ wird dabei von verschiedenen Faktoren abhängen, etwa der Frage, ob man im Konfliktfall auf einen anderen Zulieferer ausweichen kann, welche Auswirkungen eine potentielle Störung im Bereich der Vorprodukte auf den eigenen Produktionsprozess hat etc. Die institutionellen Varianten Markt oder Organisation werden also nicht nur nach dem Indikator Preis, sondern auch nach weiteren Gesichtspunkten beurteilt, die allesamt mit der Fähigkeit des Unternehmens zur Kontrolle seiner sozialen Umwelt und zur Bewältigung der von dieser Umwelt ausgehenden Unsicherheiten zusammenhängen. Im beschriebenen, fiktiven Fall wäre es beispielsweise eine plausible Alternative zu Markt und Organisation, mit dem Zulieferer eine Kooperation zu vereinbaren, welche die Lieferung der Vorprodukte in der gewünschten Qualität langfristig absichert. Ein derartiges netzwerkförmiges Arrangement nützt beiden Beteiligten, weil es Erwartungssicherheit produziert und damit die Kosten und Risiken verringert, die mit der Abwicklung marktförmiger oder organisierter Transaktionen verbunden wären. Eine solche Kopplung komplementärer Kompetenzen entlastet die beteiligten Akteure und schafft damit die Grundlage, durch Konzentration auf die jeweilige Spezial-Kompetenz die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern; zudem erzeugen die Beteiligten auf diese Weise ein Resultat, das mehr ist als die Summe ihrer nichtkoordinierten Aktivitäten. Die Kooperation im Netzwerk bindet die beiden Unternehmen aneinander, ohne jedoch ihre Autonomie anzutasten; ihre Verpflichtung zur Zusammenarbeit entlastet sie nicht von der Verantwortung, die Grundlagen ihrer Leistungsfähigkeit stets aufs Neue sicherzustellen. Ein anschauliches Beispiel für ein derartiges Interorganisations-Netzwerk ist die im März 1999 vereinbarte Kooperation zwischen IBM, dem weltgrößten Produzent von Informationstechnologie, und Dell, einem Hersteller von Personal Computern, der durch innovative Formen des Direktmarketing in kurzer Zeit auf den weltweit zweiten Platz hinter Compaq gerückt ist. Die Kooperation dient dem Zweck, die „jeweiligen Stärken der beiden Unternehmen zum beiderseitigen Nutzen auszubauen“ (FAZ 05.03.1999: 17) und bestehende Schwächen zu überwinden. Durch das Abkommen kann sich IBM auf die Komponentenproduktion als den Bereich konzentrieren, in dem das Unternehmen eine Spitzenposition innehat und daher entsprechende Skaleneffekte realisieren kann. Ähnlich gelagert ist die Zusammenarbeit von Volkswagen und Toyota, in der die beiden Unternehmen ihre Fähigkeiten im Bereich der Direkteinspritzung bei Dieselmotoren (VW) bzw. bei Benzinmotoren (Toyota) bündeln und auf diese Weise hohe Entwicklungskosten sparen (FAZ 26.08.1999: 24).
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Über derartige Überlegungen gelangt die Transaktionskostenökonomie zu einer Typologie, die vielfach in der Netzwerkliteratur zu finden ist und auf der Trias Markt–Hierarchie– Netzwerk basiert (vgl. Tabelle 1).
Markt In dieser Typologie erscheint der Tausch am Markt als eine Interaktionsform, bei der voneinander unabhängige Akteure, die spontan und ohne über den spezifischen Tauschakt hinausgehende Perspektive aufeinandertreffen, ihre Handlungen ausschließlich fallweise über den Preis koordinieren und Verbindlichkeit lediglich derart herstellen, dass sie ihre wechselseitigen Verpflichtungen durch (Kauf-)Verträge fixieren. Da der Zugang zum Markt für alle Teilnehmer offen ist und bei Tauschakten, die in mehreren Zügen erfolgen, ein Anreiz zur Täuschung bzw. zum Betrug besteht (Hofstadter 1983; Opp 1987), bedarf es einer institutionellen Flankierung durch das Recht, das Regelungen für den Konfliktfall (etwa bei Betrug oder bei Nicht-Erfüllung von Verträgen) enthält und darüber hinaus – je nach Stand der Zivilisation – gewisse Mindeststandards für Tauschgeschäfte festlegt, etwa mit Blick auf den Jugendschutz oder die Qualität von Produkten. Koordinationstyp
Markt
Hierarchie/ Organisation
Netzwerk
Koordinationsmittel Koordinationsform
Preise spontan, spezifisch unabhängig offen
formale Regeln geregelt, unspezifisch abhängig geregelt
Vertrauen diskursiv
Akteurbeziehungen Zugang
interdependent begrenzt, exklusiv Zeithorizont kurzfristig langfristig mittelfristig Konfliktregulierung Recht Macht Verhandlung Quellen: (Powell 1990; Mill/Weißbach 1992; Willke 1995; mit eigenen Ergänzungen) Tabelle 1: Typologie von Koordinationsformen
Ein funktionierender Markt (für Güter, Dienstleistungen, Arbeitskräfte etc) ist also sozial viel voraussetzungsvoller als der Idealtypus Markt, wie ihn die ökonomische Theorie konzipiert. Reale Märkte unterstellen erstens ein Minimum an kooperativem Verhalten seitens der Beteiligten, zweitens institutionelle Vorkehrungen (z. B. ein Vertragsrecht), in die die Interaktionen der Tauschpartner eingebettet sind, und drittens deren Bereitschaft, sich auf bestehende Regeln einzulassen. Ohne ein Vertrauen in die Institutionen wären beispielsweise Kartenzahlungen oder Online-Geschäfte undenkbar. Die von der Industrie angestoßene Debatte um eine weltweit koordinierte politische und rechtliche Regulierung des elektronischen Handels ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert; denn ohne verlässliche Regeln ließen sich die Risiken eines globalen Electronic Commerce nicht kalkulieren (FAZ 14.09.1999: 19). Soziologisch zugespitzt: Ohne Institutionen und Regeln sind Tauschgeschäfte nicht möglich;
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Markt ist ohne Einbettung in Gesellschaft nicht denkbar (vgl. Granovetter 1985; Willke 1995; Kenis/Schneider 1996).
Hierarchie Der zweite Idealtypus wird in der Literatur uneinheitlich benannt: Die Institutionenökonomie spricht meist von Hierarchie als Gegenstück zu den eher egalitären Verhältnissen am Markt bzw. von Organisation im Sinne eines in mehrere Ebenen und Abteilungen gegliederten Unternehmens; als analogen Typus der hierarchischen Koordination politischer Prozesse platziert die politikwissenschaftliche Forschung hier den Staat. Den Kern dieses Typus bilden Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sich in hierarchischen Strukturen (etwa der staatlichen Bürokratie oder der Unternehmensorganisation) und den daraus resultierenden Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen niederschlagen. Die Interaktionen der Beteiligten sind durch formale Regeln festgelegt, denen sich die einzelnen Individuen dadurch unterwerfen, dass sie Mitglied der betreffenden Organisation werden (z. B. per Arbeitsvertrag, per Staatsangehörigkeit). Dies beinhaltet allerdings – anders als am Markt – keine detaillierte Spezifizierung der zu erbringenden Leistungen, sondern eröffnet Spielräume beispielsweise für die Nutzung der Arbeitskraft angestellter Arbeitnehmer. Trotz moderner Managementkonzepte, die sich als „lean“ und mitarbeiterorientiert verstehen, können Konflikte in hierarchischen Organisationen somit im Zweifelsfall autoritär gelöst werden, d. h. durch eine entsprechende Weisung des Vorgesetzten. Der Zeithorizont von Unternehmen wie auch von Staaten ist typischerweise weiter gespannt als der ihrer Mitglieder. Obwohl sich eine Organisation nur durch das Handeln der Akteure konstituiert und reproduziert, überdauert sie doch das Ausscheiden einzelner Individuen, sei es durch Austritt, Kündigung oder Tod. Auch in diesem zweiten Fall enthält die Zuspitzung auf einen Idealtypus einige problematische Verkürzungen. Zum einen ist das Handeln in unternehmerischen Organisationen ebenfalls in ein gesellschaftliches Regelsystem eingebettet, das beispielsweise Willkür und Betrug unterbinden soll. Auch staatliche Organisationen unterliegen einer derartigen institutionellen Kontrolle durch das Recht. Zum anderen ist zu bezweifeln, ob moderne Unternehmen zutreffend als hierarchische Strukturen beschrieben werden können und ob nicht vielmehr die – teils informellen, teils strategisch angelegten – unternehmensinternen Netzwerke ein wichtiger Faktor sind, der zur Erklärung der Funktionsweise und der Leistungen derartiger Organisationen unentbehrlich ist (Hirsch-Kreinsen 1995). Insofern ist eine gewisse Skepsis angebracht, ob der Typus Organisation/Hierarchie in der von der Institutionenökonomie konzipierten Reinform überhaupt existiert bzw. wie hilfreich die Orientierung an derartigen Idealtypen bei der Interpretation sozialer Wirklichkeit ist.6
6
Die Organisationssoziologie unterscheidet schon seit langem die formale Struktur einer Organisation und die vielfältigen informellen Beziehungen, die die Organisationspraxis prägen und misstraut daher derartigen Kategorien-Schemata (vgl. u.a. Küpper/Ortmann 1992).
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Johannes Weyer
Netzwerk Der dritte Typus wird in der Literatur auf unterschiedlichen Wegen erschlossen; gemeinsam ist jedoch allen Ansätzen, dass sie Markt und Hierarchie als Referenz benutzen, um von dort aus zum Typus Netzwerk zu gelangen. Eine Gruppe von Autoren (Sydow 1992c; Schneider/Kenis 1996) begreift Markt und Hierarchie als Endpunkte eines Kontinuums, auf dem eine Reihe von Mischformen anzusiedeln ist, beispielsweise das Unternehmen, das die internen Transaktionen zwischen den Abteilungen monetär verrechnet, also marktförmige Mechanismen integriert, oder der Markt, dessen Zugang durch formale Mitgliedschaftsregeln beschränkt ist, etwa ethnisch oder religiös separierte Heiratsmärkte. Den hybriden Typus Netzwerk findet man somit in einer nach beiden Seiten offenen Zone, die in der Mitte des Kontinuums angesiedelt ist. Eine andere Gruppe (Powell 1990; Mill/Weißbach 1992; Willke 1995) versteht unter einem Netzwerk zwar gleichfalls eine Form der Koordination von Handlungen, in der sich Elemente marktförmiger wie organisierter Interaktion wiederfinden; sie ordnet diesem Typus jedoch eine eigenständige Qualität zu, die keine graduellen Übergänge in die anderen beiden Typen zulässt. Walter Powell (1990) hat dafür die Formel „weder Markt noch Hierarchie“ geprägt.7 Eine weitere Möglichkeit der Annäherung an das Phänomen Netzwerk besteht darin, diesen neuartigen Typus solidarischer Vergemeinschaftung als die Wiederkehr vormoderner, nie ganz verdrängter Formen gesellschaftlicher Integration (Clan, Gemeinschaft) zu interpretieren (vgl. Weißbach 2000). Netzwerke stellen Leistungen zur Verfügung, die sonst nur entweder per Markt oder per Hierarchie zu erhalten sind, nämlich die Flexibilität marktförmiger Interaktion und die Verlässlichkeit und Effizienz organisierter Strukturen zugleich. Sie ermöglichen es, Tauschaktionen durchzuführen, ohne sich auf Unsicherheiten und Risiken marktlicher Transaktionen einlassen zu müssen. Und sie ermöglichen koordiniertes Verhalten, ohne die Rigidität starrer, bürokratisch verkrusteter Organisationen in Kauf nehmen zu müssen. Die Autonomie der Partner bleibt dabei erhalten; ihre Lernfähigkeit wird durch die Kopplung hingegen erheblich gesteigert. Netzwerke erfüllen somit zwei Funktionen, die keine andere Form der Koordination von Handlungen in dieser Form zur Verfügung stellen kann: Sie reduzieren die Unsicherheit bezüglich des Verhaltens anderer Akteure, z. B. Konkurrenten, Partner etc. (strategische Funktion). Sie ermöglichen eine Leistungssteigerung, i.e. eine Steigerung des eigenen Outputs (instrumentelle Funktion).
7
Ein dritter Weg zum Typus „Netzwerk“, den der Systemtheoretiker Gunter Teubner (1992) beschreitet, basiert auf der Annahme eines Wiedereintretens der Unterscheidung Markt/Hierarchie in diese selbst – mit dem Ergebnis, dass Systeme höherer Ordnung entstehen, die eigenständige Qualitäten besitzen (vgl. auch den Beitrag von Fuhse, in diesem Band).
Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften
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Zum Nutzen von Typologien (*) Ob es sich beim Typus Netzwerk um einen Mix zweier Typen, um graduelle Verschiebungen auf einem Kontinuum oder um einen eigenständigen Typus jenseits von Markt und Hierarchie handelt, mag nach akademischer Haarspalterei klingen. Man sollte typologische Analysen, die auf problematischen kategorialen Grundlagen (Markt/Hierarchie) basieren, ohnehin nicht überziehen. Denn wenn man strenge Anforderungen an die Konsistenz der verwendeten Dimensionen anlegt, stellt sich beispielsweise die Frage, in welchem Sinn der Markt (als konstitutives Merkmal des Wirtschaftssystems) mit der Organisation (als in vielen gesellschaftlichen Bereichen wirksames Strukturierungsprinzip) überhaupt verglichen werden kann. Offenbar sind die Idealtypen auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln, und es ist daher wenig hilfreich, diese gegenüberzustellen; wichtiger wäre es vielmehr, „unterschiedliche Modelle der Koordination“ (Willke 1995: 89) präziser herauszuarbeiten und vergleichend zu analysieren. Zudem gibt es empirisch begründete Zweifel: Nationalstaaten sind keine hierarchischen Gebilde, und Organisationen lösen sich in Netzwerke auf, wenn man sie mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung unter die Lupe nimmt. Dasselbe gilt für Märkte: Eine empirische Befragung von Verkäufern und Käufern, mit wem sie Transaktionen durchführen, wird ein fein gesponnenes Netz vertrauensvoller, z.T. recht langfristiger Beziehungen zu Tage fördern und nicht das idealtypische Bild eines atomistischen Marktes (Powell 1990).
Grenzüberschreitungen (*) Immer wieder wird darüber diskutiert, wo Netzwerke anzusiedeln sind – auf der Intersystemebene, auf der Interorganisationsebene oder in innerorganisatorischen Prozessen – und ob man den Begriff für eines dieser Phänomene reservieren sollte; es erscheint jedoch fraglich, ob derartige klassifikatorische Versuche eine sinnvolle Annäherung an den Gegenstand darstellen. Von Netzwerken sollte immer dann gesprochen werden, wenn sich ein Phänomen nicht in Begriffen wie System, Organisation oder Interaktion fassen lässt. Immer geht es um die grenzüberschreitende Kooperation, um die Verknüpfung mit etwas Andersartigem, das sich nicht in den Kategorien des jeweiligen Bezugssystems vermessen lässt, daher nicht integriert werden kann und insofern nur über Kommunikations-Kanäle erreicht werden kann, die ein hohes Maß an Offenheit, an Fähigkeit zur Übernahme fremder Perspektiven sowie Verständigungsorientierung (im Habermas’schen Sinne) voraussetzen (Wurche 1994; Schenk et al. 1997). Beispiele sind:
die Kommunikation über Systemgrenzen hinweg (Politik und Wirtschaft), die Koordination unterschiedlicher Funktionen (Fertigung und Vertrieb), die Überbrückung kultureller Barrieren (Konzern und Bürgerinitiative) oder die Verknüpfung unterschiedlicher Interessen (Unternehmen mehrerer Branchen bzw. Stufen der Wertschöpfungskette).
All diese Phänomene können die Bezeichnung Netzwerk insofern für sich beanspruchen, als es hier um grenzüberschreitende Prozesse geht, die davon geprägt sind, dass ein Verständnis für das jeweils Andere sowie ein Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft des jeweiligen
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Gegenüber entwickelt wird, eine Kooperation auf Gegenseitigkeit einzugehen und durchzuhalten. Die radikalste dieser Sichtweisen findet sich bei einer französisch-britischen Gruppe von Wissenschaftlern, die unter dem Label Akteur-Netzwerk-Theorie ein Konzept propagieren, welches die Kooperation menschlicher und nicht-menschlicher Akteure beinhaltet (vgl. den Beitrag von Schulz-Schaeffer, in diesem Band). Ein Anliegen dieser Gruppe ist es, das tradierte anthropozentrische Weltbild zu überwinden und eine Beteiligung technischer Dinge, aber auch nicht-menschlichen Lebewesen an Netzwerken denkbar zu machen. Die damit einhergehende Forderung, unsere gewohnten Denkschablonen, beispielsweise in Form der Fixierung auf menschliche, intentional handelnde Akteure oder in Form der Trennlinie technisch/sozial, abzulegen, führt auf den – unvertrauten – Pfad einer alternativen „non-humanist sociology“ und damit möglicherweise aus der Soziologie hinaus (vgl. kritisch Friedberg 1995; Weyer 2008: 201ff.).
3
Ansatzpunkte der soziologischen Netzwerkforschung
Es war das Anliegen der ersten Auflage dieses Bandes, unter Nutzung der Erkenntnisse der Institutionenökonomie einen (tastenden) Schritt weiter zu gehen und dem soziologischen Kern sozialer Netzwerke auf die Spur zu kommen. Vermieden werden sollte insbesondere die Blickverengung, die sich aus einer Reduzierung sozialer Interaktionen auf wirtschaftliche Transaktionen und die darin enthaltene ökonomische Rationalität ergibt. Obwohl die Institutionenökonomie eine Öffnung der Ökonomie gegenüber der Soziologie beinhaltet, besteht ihr Kernargument dennoch darin, dass stets die ökonomisch günstigste Koordinationsform gewählt wird. Unter soziologischer Perspektive ist dies eine verkürzte Sichtweise, die andere Handlungstypen wie das norm- oder wertorientierte, das kommunikative, das strategische oder das solidarische Handeln nur unzureichend erfasst (Weber 1985; Habermas 1981; Münch 1995). Keiner dieser Handlungstypen kann durch ein ökonomisches Zweck-MittelKalkül hinreichend erklärt werden; am Homo oeconomicus orientierte Modelle sind zur Erfassung komplexer gesellschaftlicher Wirklichkeiten nur bedingt geeignet.8 Um die Gewinne zu berechnen, die sich beispielsweise aus sozialer Anerkennung ergeben, eignet sich eher das Konzept des sozialen Kapitals, das die sozialen Ressourcen, die einem Akteur zur Verfügung stehen, aus den vielfältigen – nicht nur den monetär verrechenbaren – Interaktionsprozessen ableitet (vgl. den Beitrag von Jansen und Diaz-Bone, in diesem Band).
8
Wie die Analysen zur begrenzten Rationalität (Brunsson 1982) oder zu Innovationsprozessen (Tushman/Rosenkopf 1992) belegen, zeichnet man ein falsches Bild selbst der Wirtschaft, wenn man allen Entscheidungen eine ökonomische Logik unterstellt.
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Definition Unter einem sozialen Netzwerk soll daher eine eigenständige Form der Koordination von Interaktionen verstanden werden, deren Kern die vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber interdependenter (wechselseitig voneinander abhängiger) Akteure ist, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten und dabei auf die Interessen des jeweiligen Partners Rücksicht nehmen, weil sie auf diese Weise ihre partikularen Ziele besser realisieren können als durch nicht-koordiniertes Handeln. Eine derartige Bündelung von Ressourcen ermöglicht Lernprozesse und damit die Durchführung innovativer Projekte, deren Risiko für jeden der Partner allein zu groß wäre (Wurche 1994; Semlinger 1998). Ein gutes Beispiel ist die bereits erwähnte Zusammenarbeit von IBM und Dell: IBM kann seinen Absatz von PC-Komponenten trotz eigener Schwächen im Vertrieb steigern, und Dell hat gute Chancen, trotz fehlender Eigenfertigung zu einem der größten Computeranbieter zu avancieren. Ein Netzwerk wird also immer dann gut funktionieren, wenn es mit Gewinn arbeitet und dieser Gewinn allen Beteiligten zufällt. Die Grundlage einer solchen gewinnbringenden Partnerschaft ist wechselseitiges Vertrauen in die Verlässlichkeit und die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers; ein solches Vertrauen kann nur langsam wachsen. Diskursive Verfahren der Aushandlung der Bedingungen der Kooperation („voice“) sind somit ein wichtiger Faktor nicht nur bei der Entstehung von Netzwerken, sondern auch bei der Regulierung von Konflikten. Derartige Mechanismen funktionieren allerdings nur bei einer begrenzten Zahl von Mitgliedern, die den Zugang zum Netzwerk zudem exklusiv kontrollieren. Der Zeithorizont ist eher mittelfristig, d. h. für einen überschaubaren Zeitraum muss das Netzwerk stabil sein und verlässlich operieren; aber die Option des Ausstiegs („exit“) und der Beendigung der Kooperation ist im Prinzip immer gegeben (vgl. Tabelle 1).
Reziprozität Um eine derartige Kooperation zustande zu bringen und aufrecht zu erhalten, ist keineswegs blindes Vertrauen erforderlich; es genügt wachsames Vertrauen (Sabel 1993), also eine Haltung, die zu Vorleistungen bereit ist und sogar Abweichungen vom Prinzip des gerechten Tausches hinzunehmen gewillt ist, solange die Reziprozität der Kooperationsbeziehung garantiert ist. Reziprozität meint einen Zustand, in dem beide Partner wechselseitig von den Handlungen des jeweiligen Gegenübers profitieren. Der Idealfall ist der Tausch äquivalenter Waren; da der Wert getauschter Informationen jedoch schwer zu beurteilen ist (Powell 1990), schwingt im Begriff Reziprozität immer die Unterstellung mit, dass die gemeinsam erzeugten Erträge einigermaßen fair verteilt werden bzw. dass man sich auf die Lieferbereitschaft des Partners, und sei es zu einem späteren Zeitpunkt, verlassen kann. Ob dabei immer eine monetär ausgeglichene Bilanz entsteht, wird dann zu einer zweitrangigen Frage. Im Fall der „Star Alliance“, eines globalen Bündnisses von Luftverkehrsgesellschaften (Lufthansa, United Airlines, Air Canada, SAS u.a.), das über ein gemeinsames Buchungssystem durchgehende Flugverbindungen aus einer Hand anbietet, haben beispielsweise alle Beteiligten von der Zusammenarbeit profitiert, und zwar in Form steigender Passagierzahlen; der Umsatzzuwachs der einzelnen Partner fiel allerdings sowohl in absoluter
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Höhe als auch in Relation zum jeweiligen Gesamtumsatz sehr unterschiedlich aus (AWST 23.08.1999: 58-60). Für die skandinavische Fluggesellschaft SAS kann es jedoch durchaus plausibel sein, einen relativ höheren Zugewinn auf Seiten der Lufthansa zu akzeptieren, wenn dies der einzige Weg zu dem angestrebten Ziel sein sollte, die eigene Position unter den Luftfahrtgesellschaften zu verbessern und nicht zu den Verlierern des globalen Wettlaufs um Allianz-Partner zu gehören – mit dem nicht unwahrscheinlichen Resultat einer Verdrängung vom Markt. Wichtig ist in erster Linie die Zuversicht, dass die Kooperation sich zumindest auf lange Sicht auszahlt und dass sie eine bessere Strategie als andere Varianten darstellt.
Begriff des Sozialen Der vorliegende Band greift somit zwar auf Erkenntnisse der Institutionen-Ökonomie zurück, versucht jedoch, Perspektiven für die Entwicklung eines genuin soziologischen Netzwerkkonzepts aufzuzeigen. Das Spezifikum der soziologischen Perspektive besteht in der Fokussierung auf gesellschaftliche Prozesse, die sich durch soziales Handeln bzw. soziale Kommunikation konstituieren, sowie gesellschaftliche Strukturen, deren Genese und deren Dynamik auf die Wechselwirkung von Handlungen bzw. Kommunikationen bezogen werden kann.9 Ein derartiger Begriff des Sozialen sollte nicht vermischt werden mit einer Sichtweise, die unter sozialem Handeln – eher alltagssprachlich – ein Handeln aus Mitmenschlichkeit bzw. Barmherzigkeit versteht. In der Literatur über Unterstützungs- und Selbsthilfenetzwerke im Bereich der Sozialarbeit und der Alternativszene (Huber 1991; Sosna 1987), die soziale Netzwerke als „Webmuster alltäglicher Beziehungen“ (Keupp/Roehrle 1987: 8)10 begreift, findet sich oftmals eine Mischung aus analytischem Begriff, Emphase und Engagement. Obwohl auch wir die Bereitschaft zur Unterstützung von Partnern als ein Element sozialer Netzwerke ansehen, steht in den Beiträgen dieses Bandes eher ein neutrales, analytisches Verständnis sozialen Handelns im Mittelpunkt, das unter Bezug auf Max Weber (1985) – bzw. systemtheoretisch gewendet, auf Niklas Luhmanns (1997) Begriff der Rekursivität – die Fähigkeit zur Entwicklung von Handlungsstrategien unter Berücksichtigung der Rückwirkungen, die diese beim Gegenüber erzeugen, zum Ausgangspunkt macht.
9
10
Wenn technische Netzwerke, z. B. das Telefon- oder das Straßennetz, aus soziologischer Perspektive thematisiert werden, stehen daher immer Aspekte der Kommunikation bzw. der technisch mediatisierten Interaktion im Mittelpunkt, nicht die pure Existenz der räumlich verteilten und miteinander „vernetzten“ apparativen Installationen; zur Kennzeichnung dieser Perspektive verwendet man daher den Begriff „sozio-technisches Netzwerk“ (vgl. Weyer 2008: 37-39). Ein (älteres) Zitat, das mittlerweile völlig neue Konnotationen birgt. (*)
Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften
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Soziale Netzwerke Koordinationsform
Methode
Formale Netzwerkanalyse
Akteur Netzwerke
InterorganisationsNetzwerk
asymmetrisch
Märkte
symmetrisch
Hierarchien BeziehungsNetzwerke
Ego-Netzwerk
PolicyNetzwerke
strategische Netzwerke
regionale Netzwerke
InnovationsNetzwerke
Gesamt-Netzwerk
Abbildung 1: Landkarte der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung
Strategien der Netzwerk-Analyse Auf Grundlage dieser begrifflichen Vorklärung kann man in der Soziologie grob zwei unterschiedliche Strategien der Annäherung an das Phänomen ‚soziales Netzwerk‘ identifizieren (vgl. Abbildung 1):11 Soziale Netzwerke werden von einer Gruppe von Netzwerkforschern (Schenk 1984; Pappi 1987; Scott 1988; Trezzini 1998) in einem eher formalen Sinne als Beziehungsgeflechte verstanden, deren Komponenten individuelle oder korporative Akteure12 sind und deren Strukturen mit Hilfe quantitativer Methoden erfasst werden können (vgl. Hollstein 2006). Eine andere Gruppe (Powell 1990; Sydow 1992c; Mayntz 1993; Willke 1995) fasst Netzwerke als planvolles Konstrukt strategisch handelnder Akteure auf, die ihre Handlungen in Erwartung konkreter Vorteile koordinieren; hier geht es eher um die Beschreibung eines qualitativ eigenständigen Typus der Handlungskoordination und der in ihm 11
Das Schaubild will als eine Art „Landkarte“ erste Orientierungen im Feld der Netzwerkforschung vermitteln; gewisse Verkürzungen und Vergröberungen sind daher unvermeidlich.
12
Ein korporativer Akteur ist typischerweise eine Organisation, ein Verband etc., dessen Mitglieder nicht in erster Linie als Individuen, sondern als Repräsentanten der jeweiligen Korporation agieren, d. h. deren Interessen vertreten.
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Johannes Weyer ablaufenden substantiellen Interaktionen – typischerweise in Interorganisations-Netzwerken (vgl. Jansen 2006: 12).
Formale Netzwerkanalyse (*) Die formale Netzwerkanalyse rückt den Akteur und dessen strukturelle Einbettung in den Mittelpunkt; ego-zentrierte Netzwerke machen beispielsweise den Grad der sozialen Verankerung einzelner Personen sichtbar. Aber auch größere Einheiten wie das Beziehungsgeflecht in einem Wohngebiet oder einem Unternehmen lassen sich auf diese Weise analysieren. So hat die Stadtsoziologie herausgefunden, dass das Netzwerk der persönlichen Beziehungen in der Stadt räumlich viel ausgedehnter ist als auf dem Lande und dass die lokale Bindung umso geringer ist, je höher der soziale Status ist (Friedrichs 1995; Scott 1988; Schenk 1995). Dabei kommt man z.T. Strukturen auf die Spur, die den Beteiligten selbst nicht bewusst sind, weil sie diese nicht intentional konstruiert, sondern – als Nebenprodukt ihres alltäglichen Verhaltens – erzeugt haben. Zitationsnetzwerke zeigen am deutlichsten den latenten Charakter derartiger Strukturen; die Co-Zitations-Analyse verknüpft beispielsweise zwei Wissenschaftler, die in ihren Werken gleichermaßen einen dritten Autor zitieren, auch wenn diese nicht direkt miteinander interagieren und sich gegenseitig (bzw. ihre jeweiligen Werke) möglicherweise gar nicht kennen (Weingart/Winterhager 1984). Dies verweist darauf, dass die Qualität der Beziehungen, die in Netzwerken abgebildet sind, sehr unterschiedlicher Natur sein kann: Eine Beziehung kann rein technisch realisiert sein. In einem Stromnetz sind beispielsweise Kunde A und Kunde B miteinander vernetzt, treten aber typischerweise auf diesem Weg nicht in Interaktion. Dieser Fall der rein technischen Vernetzung soll hier nicht weiter verfolgt werden. Eine Beziehung kann vom Beobachter konstruiert werden, z. B. mittels der Methode der bimodalen Netzwerke (vgl. den Beitrag von Stegbauer, in diesem Band). Wenn zwei Personen beispielsweise den Soziologiekongress oder ein Rock-Konzert besuchen, wird eine Verbindung zwischen ihnen konstruiert – unabhängig davon, ob sie kommunikativ realisiert worden ist. Auch wenn die beiden Personen sich nicht begegnet sind, haben sie offenbar etwas gemeinsam; und diese latente Verbindung liefert Erkenntnisse, die von hohem Wert sein können (beispielsweise in Form der Buchtipps, die Amazon auf Basis der Verknüpfung von Nutzerpräferenzen ermittelt). Schließlich kann eine Beziehung von den Teilnehmern interaktiv realisiert werden. In diesem Fall ist sie manifest, d. h. sie wird von den Beteiligten bewusst und aktiv betrieben. Die sozialen Netzwerke, die die formale Netzwerkanalyse konstruiert, sind also zunächst ein methodisches Konstrukt; sie können, müssen aber nicht durch faktische Interaktion realisiert und somit den Beteiligten präsent sein. Oftmals sind sie latente Strukturen, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten entwickeln. Aus der Einbettung der Akteure in derartige Kontexte leitet die formale Netzwerkanalyse Aussagen über deren Handlungsfähigkeit ab: Akteure, die eine zentrale Stellung oder einen Brückenkopf besetzen, verfügen über mehr Einfluss als
Zum Stand der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften
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solche, die sich in peripheren oder abhängigen Positionen befinden (vgl. den Beitrag von Jansen und Diaz-Bone, in diesem Band). Zugleich ist dieser strukturell-morphologische Ansatz jedoch offen und unvoreingenommen gegenüber dem substantiellen Resultat; Ergebnis der netzwerkanalytischen Durchleuchtung eines Bereichs kann durchaus sein, dass es sich hierbei um eine bürokratische Organisation oder um ein hierarchisch geführtes Unternehmen handelt. All diese Gebilde lassen sich mit den Methoden der formalen Netzwerkanalyse bearbeiten und entsprechend klassifizieren (vgl. Jansen 2006: 13; Schneider 1992). Die formale Netzwerkanalyse konzentriert sich zudem auf die Form und blendet damit den substantiellen Gehalt der Beziehungen weitgehend aus; als statistisches Abbild eines Zustandes kann sie zudem keine Aussagen zu den Gründen für die Entstehung bestimmter Positionen sowie deren Ressourcenausstattung machen.13 Schließlich liegt diesen Varianten der Netzwerkforschung „kein einheitlicher theoretischer Bezugsrahmen zugrunde“ (Hollstein 2006: 14), was zweierlei bedeuten kann: Zum einen haben etliche Forscher keinerlei Ambitionen, ihre formalen Analysen in theoretischer Perspektive zu vertiefen; zum anderen implizieren die formalen Verfahren nicht zwangsläufig die Wahl einer bestimmten soziologischen Theorierichtung. Oder in den Worten von Dorothea Jansen: „ … das Instrumentarium der Netzwerkanalyse (ist) theoretisch ‚neutral‘ und auch für eine vergleichende Analyse oder die Kombination verschiedener Ansätze geeignet“ (2006: 12).
Interorganisations-Netzwerke Die Analyse von Interorganisations-Netzwerken operiert dagegen mit einem Netzwerkkonzept, das unter Vernetzung die zielgerichtete Koordination von Akteuren versteht, die miteinander kooperieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Wie in den oben beschriebenen Fällen IBM/Dell oder VW/Toyota stehen dabei soziale Gebilde im Vordergrund, die durch eine spezifische Qualität der Interaktion – die vertrauensvolle Kooperation autonomer Partner – gekennzeichnet sind. Zudem handelt es sich um manifeste Strukturen, deren Existenz den beteiligten Akteuren bekannt ist, da sie diese intentional konstruiert haben.14 Die Aufgabe des soziologischen Beobachters besteht somit weniger darin, latente Strukturen zu dechiffrieren, als vielmehr manifeste Interaktionen und die von ihnen ausgehenden Vernetzungsprozesse zu rekonstruieren und auf diese Weise die Funktionsweise des Netzwerks sowie dessen spezifische Leistung zu erklären. Damit ist zugleich eine Anwendungsorientierung angedeutet, die bis hin zur Unternehmensberatung bzw. zum Netzwerkmanagement reichen kann (Becker et al. 2005; Sydow 2010). Gefragt sind also eher qualitative als quantitative Methoden der Interaktionsanalyse (obwohl letztere durchaus ein nützliches Instrument auch zur Beschreibung von Interorgani13
14
Wie ich im Kapitel „Zum Stand der Netzwerkforschung“ (in diesem Band) zu zeigen versucht habe, ermöglicht bereits die formale Analyse der Beziehungsmuster von Akteuren, weitreichende Aussagen über die Art und den Inhalt der Beziehungen zu machen. (*) Dieser Bezug auf intentionales Handeln schließt emergente Effekte und nicht-intendierte Eigendynamiken keineswegs aus (Weyer 1993a, b).
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Johannes Weyer
sations-Netzwerken sein können). Der Netzwerkbegriff, der den substantiellen Charakter der Interaktion in den Mittelpunkt rückt, ist zudem oftmals verknüpft mit der Annahme, dass die zunehmende Bedeutung netzwerkartiger Prozesse der Handlungs-Koordination ein Indiz für gesellschaftliche Modernisierung ist und damit eine Perspektive aufzeigt, wie die Integration und Steuerung hochentwickelter, funktional differenzierter Gesellschaften zu gewährleisten sei (Mill/Weißbach 1992; Mayntz 1993; Fischer/Gensior 1995).
Komplementäre Perspektiven Wie diese kurze Skizze der beiden Ansatzpunkte der soziologischen Netzwerkforschung zeigt, handelt es sich nicht um konkurrierende, sondern um komplementäre Perspektiven, die mit unterschiedlichen Erklärungsansprüchen auftreten und daher nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten: Die formale Netzwerkanalyse versteht sich primär als universell verwendbare Methode zur Beschreibung beliebiger Strukturen der Interaktion von Individuen bzw. Akteuren (Beziehungsnetzwerke). Die Analyse von Interorganisations-Netzwerken versteht sich hingegen als ein Beitrag zur Theorie moderner Gesellschaften, der sich auf eine spezifische Form der selbstorganisierten Koordination strategisch handelnder Akteure konzentriert. Die formale Netzwerkanalyse zieht den Horizont weiter, weil sie keine Vorannahmen über die Qualität und den substantiellen Gehalt der Interaktion im Netzwerk trifft, sondern offen ist für jegliche Form der Beziehungen zwischen Akteuren. Die Analyse von Interorganisations-Netzwerken hat hingegen einen engeren Fokus, weil sie ein spezifisches Phänomen (die vertrauensvolle Kooperation) thematisiert, dessen Eigenschaften sich oftmals nur durch teilnehmende Beobachtung oder historisch-rekonstruktive, qualitative Methoden erschließen lassen.11 Auf den ersten Blick scheint sich in dieser Aufspaltung der soziologischen Netzwerkanalyse in die Beschreibung formaler Strukturen einerseits, die Rekonstruktion strategischer Interaktion andererseits das traditionelle Schisma der Soziologie zu reproduzieren, das als – scheinbar unüberbrückbare – Differenz von voluntaristischen Handlungstheorien und strukturalistischen Ansätzen beschrieben werden kann. Auf den zweiten Blick könnte jedoch gerade das Konzept des sozialen Netzwerks ein Schlüssel zur Überwindung dieser unfruchtbaren Kontroverse sein (vgl. Granovetter 1973: 1360; Schenk 1984: 118; Schneider/Kenis 1996: 37; Jansen 2006: 15; vgl. auch Abschnitt 5). Insofern verfolgte die erste Auflage dieses Buches auch die Intention, die Nähe der beiden Zugriffe auf das Phänomen ‚soziales Netzwerk‘ und ihre Kombinierbarkeit aufzuzeigen, um auf diese Weise Anstöße zu geben, wie sich struktur- und prozessorientierte Ansätze bzw. system- und handlungsorientierte Sichtweisen integrieren lassen.15
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Dieser Absatz beschreibt einen Zustand, den die Soziologie zum Glück mittlerweile überwunden hat. (*)
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Beiträge zur Analyse von InterorganisationsNetzwerken
Neben der Einteilung in formale und substantielle Konzepte enthält die Abbildung 1 zudem den Versuch, die vorliegenden (und in diesem Band vertretenen) Ansätze zur Analyse von Interorganisations-Netzwerken zu strukturieren und ihre Gemeinsamkeiten, aber auch ihre Unterschiede herauszustellen. Unter Rückgriff auf die in der Fachdebatte verwendeten Dimensionen und „labels“ ergibt sich eine Systematik, die im Folgenden erläutert werden soll.16
4.1 Symmetrische und asymmetrische Netzwerke Für die formale Netzwerkanalyse ist es eine rein empirische Frage, wie die interne Struktur eines betrachteten Netzwerks aussieht, ob es beispielsweise einen zentralen Akteur gibt, von dem viele andere abhängig sind, oder viele gleich starke Akteure. Für die eher qualitativ orientierten Ansätze, die den substantiellen Netzwerkbegriff verwenden, ist es hingegen ein grundlegendes theoretisches Problem, wo die Grenze zwischen Hierarchie/Organisation und Netzwerk zu ziehen ist. So gelten etwa Franchisingsysteme in der Fachliteratur als ein exemplarischer Fall für strategische Netzwerke, die – so die Definition von Jörg Sydow (Sydow 1992a, b) – zwar eine polyzentrische Struktur haben, typischerweise aber von einem fokalen Unternehmen geführt werden. Beispiele sind das Möbelhaus IKEA, der Modehändler Benetton oder das Einzelhandelsunternehmen Rewe. Ein Franchisingsystem ist als eine Allianz mit wechselseitigem Nutzen konzipiert, in der das Kernunternehmen zentrale Funktionen (Einkauf, Marketing, Schulung etc.) übernimmt, den Vertrieb der Produkte vor Ort jedoch selbstständigen Unternehmern überlässt, die zwar vom Markenimage profitieren, ansonsten aber auf eigenes Risiko wirtschaften. Das Stammunternehmen nutzt die Franchisingnehmer für den Aufbau dezentraler und flexibler Vertriebsstrukturen, während diese Satelliten mit dem Know-how eines großen Konzerns im Rücken eigenständig Strategien entwickeln können, die in den jeweiligen lokalen Kontext (Kundenstruktur, Konkurrenzsituation etc.) eingepasst sind.17
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Die Akteur-Netzwerk-Theorie nimmt hier eine Außenseiterstellung ein, da sie einerseits die strukturelle Einbettung als Voraussetzung für die Entstehung von Akteur-Identitäten hervorhebt, andererseits aber die Relationierung der Akteure als einen strategischen Prozess begreift; vgl. den Beitrag von Schulz-Schaeffer, in diesem Band. Gerichtsurteile über den Status von Franchisingverträgen im Falle der Tiefkühlkostfirma Eismann und des Autovermieters Sixt haben jedoch immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es sich bei derartigen Franchisenehmern um selbstständige Unternehmer oder lediglich um Scheinselbstständige handelt. Im Fall Eismann hatten die Fahrer keinerlei Ermessensspielräume: Ein voluminöses Handbuch legte ihr Verhalten so detailliert fest, dass sie faktisch einen arbeitnehmerähnlichen Status besaßen. Und im Fall Sixt war die Eigenständigkeit der Preisgestaltung durch bundesweite, von der Zentrale ausgehende „Preiskriege“ so stark eingeschränkt, dass ein Händler dagegen – mit Erfolg – klagte (FAZ 03.02.1999: 24).
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Johannes Weyer
Grenzen des Netzwerks Wenn Netzwerke wie „Quasi-Firmen“ (Sydow 1992a: 114) operieren, bleibt aus Sicht der organisationstheoretischen Netzwerkforschung offen, wo die Grenze zu anderen Koordinationsformen zu ziehen ist und ob derartige Konstellationen noch das Prädikat ‚Netzwerk‘ verdienen – zumindest wenn man darunter einen qualitativ eigenständigen Interaktionstypus verstehen will, der durch die vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber interdependenter Partner charakterisiert ist. Franchisingsysteme, aber auch vertikal organisierte HerstellerZulieferer-Netzwerke oder das Outsourcing von Abteilungen (Marketing, Vertrieb, F&E) provozieren die Frage, wie viel Machtgefälle ein kooperatives Arrangement verträgt, bevor es in einen anderen Typus, z. B. den der klassischen hierarchischen Integration, umkippt (vgl. Dolata 2001; Hirsch-Kreinsen 2002). An dieser Problematik der Symmetrie bzw. Asymmetrie von Netzwerken scheiden sich die Geister (vgl. den Beitrag von Heidling, in diesem Band). Die bereits erwähnten Beispiele VW/Toyota, IBM/Dell und Star Alliance zeigen allerdings, dass die Praxis einen Typus von Kooperation kennt, der ohne Zentrum auskommt und zudem wenig formalisiert bzw. institutionalisiert ist. Die Forschung über strategische Netzwerke klammert diese strategischen Allianzen oftmals aus und konzentriert sich auf asymmetrische Konstellationen, in deren Zentrum ein fokales Unternehmen steht, das die Entstehung eines Netzwerks angestoßen hat (etwa durch Ausgliederung vormals intern erbrachter Funktionen) und dessen Entwicklung maßgeblich steuert (Sydow 1992a, b). In diesem Sinne ist die Reorganisation von Unternehmensfunktionen und die Abkehr vom starren Prinzip der vertikalen Integration bereits ein Netzwerk, auch wenn die Subunternehmen nur auf dem Papier selbstständig sind, ihre Ausgliederung in erster Linie dem Zweck dient, gewisse Risiken zu externalisieren, und zudem die faktisch ablaufenden Interaktionsprozesse nur in Ansätzen dem Kriterium ‚vertrauensvolle Zusammenarbeit gleichberechtigter Partner‘ genügen. Andere Autoren (Powell 1990; Weyer 1997) behaupten hingegen, dass der Mechanismus der vertrauensvollen Kooperation in Netzwerken nur dann funktionieren kann, wenn – unabhängig vom ökonomischen Potential oder der politischen Macht der Beteiligten – eine gewisse Gleichrangigkeit der Akteure garantiert ist, so dass auch der schwächere Partner seine Interessen artikulieren und durchsetzen kann (vgl. Jansen 2006: 12). Nur dann ist es möglich, das spezifische Lern- und Innovations-Potential zu nutzen, das soziale Netzwerke im Gegensatz zu anderen Formen der Handlungskoordination bieten. Die machtförmige Durchsetzung von Entscheidungen legt diesen Prozess hingegen still und verhindert, dass alle Beteiligten ihre kreativen Fähigkeiten bei der Suche nach konstruktiven Lösungen einbringen.
4.2 Regionale und strategische Netzwerke Die beiden grundlegenden Perspektiven der soziologischen Netzwerkforschung – Netzwerke als formale Struktur bzw. als spezifischer Koordinationsmechanismus (vgl. Abschnitt 3) – finden sich auch in der Unterscheidung regionaler und strategischer Netzwerke wieder. Die von Michael Piore und Charles Sabel (1989) maßgeblich angestoßene Forschung über industrielle Distrikte und regionale Innovationssysteme hat herausgefunden, dass die Veranke-
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rung in einem dichten regionalen Beziehungsgeflecht ein wichtiger Faktor für den Erfolg der dort beheimateten Unternehmen ist. Die – überwiegend klein- und mittelständisch organisierte – Textilindustrie Norditaliens verdankt ihre Weltgeltung ebenso wie die metallverarbeitende Industrie Baden-Württembergs der Einbettung in ein regionales Netzwerk, dessen Kern die überbetriebliche Kooperation hochspezialisierter Unternehmen ist. Der Zusammenhalt und die Stärke derartiger Systeme flexibler Spezialisierung ergibt sich nicht nur aus vertraglicher Bindung, sondern auch aus persönlichen, z.T. verwandtschaftlichen Kontakten, aus dem in der Region kultivierten Gemeinschaftsgefühl sowie aus flankierenden politischen Maßnahmen, die den internen Wettbewerbsdruck verringern (beispielsweise durch die Errichtung von Forschungsinstituten oder den Erlass von Arbeitsschutzvorschriften). In derartigen regionalen Netzwerken spielen persönliche, informelle Kontakte eine wichtige Rolle, über die die beteiligten Firmen sich mit Informationen versorgen und die sie nutzen, um Kontrakte zu schließen, aber auch um Unterstützung zu mobilisieren, etwa wenn ein Lieferant ausgefallen ist. Auf diese Weise können Netzwerke entstehen, in denen die beteiligten Unternehmen durch flexible Spezialisierung ganze Wertschöpfungsketten realisieren, die keiner der Beteiligten allein beherrschen würde (vgl. den Beitrag von Heidenreich, in diesem Band). Räumliche Nähe und persönlicher Kontakt sind also wichtige Merkmale regionaler Netzwerke, nicht aber die exklusive, strategisch angelegte Kooperation weniger Firmen, welche das zentrale Charakteristikum strategischer Netzwerke ist. Regionale Netzwerke sind vielmehr eine Art Infrastruktur: Eine Software-Firma, die sich im Silicon Valley ansiedelt, kann sich darauf verlassen, dass informelle Gespräche (z. B. im Tennisclub) wichtige Informationen generieren und dass zudem im Zweifelsfall immer ein Experte ansprechbar ist, der bei schwierigen Problemen weiterhelfen kann (z. B. als Komponentenlieferant). Strategische Netzwerke benötigen diese räumliche Nähe nicht unbedingt; ein Netzwerk, das einen Hersteller und seine Zulieferer verknüpft, kann regional sehr breit – im Prinzip weltweit – gestreut sein (Hirsch-Kreinsen/Wannöffel 2003). Wichtig ist nur, dass die persönliche Kommunikation funktioniert; denn diese ist ein unentbehrliches Fundament von InterorganisationsNetzwerken, weil Vertrauen sich nur über persönliche Kontakte und das Informelle, das in ihnen mitschwingt, aufbauen und langfristig stabilisieren kann. Allein per E-Mail und Videokonferenzen wird ein global agierendes Unternehmensnetzwerk nicht funktionieren (vgl. Nohria/Eccles 1992; Kirner 2005).
4.3 Innovations- und Diffusions-Netzwerke Die Frage nach der Rolle, die Netzwerke bei der Entstehung von Neuem (Innovation) bzw. dessen Verbreitung (Diffusion) spielen, wird in der Literatur recht unterschiedlich beantwortet. Unter Bezug auf Mark Granovetters Aufsatz „The strength of weak ties“ (1973) argumentiert eine Reihe von Autoren, dass es nicht die festen Bande (etwa familiärer Art), sondern gerade die lockeren, informellen Beziehungen sind, die für den Import neuartiger Informationen verantwortlich sind und somit Veränderungen anstoßen können (Fischer/Gensior 1995; Schenk 1995). Immer wieder die gleichen Leute nach einem Job zu fragen ist weniger aussichtsreich als zufällig jemandem zu begegnen, der einen ‚heißen Tipp‘ hat. Wer sich in derartigen schwach ausgeprägten Beziehungen bewegt, wird eine größere Chance haben, der
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Arbeitslosigkeit zu entgehen als jemand, der in starke Beziehungen eingebunden ist – so die These Granovetters. Auch Diffusionsprozesse werden durch informelle Kontakte erheblich beschleunigt, wie Michael Schenks (1997) Analysen zur Verbreitung neuer Kommunikationstechniken belegen. In nur scheinbarem Gegensatz zu dieser These der Stärke schwacher Beziehungen, die vor allem im Kontext der formalen Netzwerkanalyse zu finden ist, behaupten Studien über Interorganisations-Netzwerke, dass gerade die enge, exklusive Bindung mehrerer Partner die Grundlage für die Entstehung und die Durchsetzung von Innovationen legt, weil nur derartige Formen der sozialen Schließung es den beteiligten Partnern ermöglichen, sich auf ihre jeweiligen Spezial-Kompetenzen zu konzentrieren (vgl. meinen Beitrag zu InnovationsNetzwerken, in diesem Band).18 Die bereits erwähnte Star Alliance mag hier als Beispiel genügen. Solche Konstellationen, in denen die Akteure sich wechselseitig absichern und so das Risiko des Scheiterns kalkulierbar machen, seien in besonderem Maße geeignet, Neues zu schaffen. In dieser Perspektive sind es also gerade die starken Beziehungen, die Innovationen ermöglichen (Elzen et al. 1996; Rammert 1997; Weyer et al. 1997; Kowol 1998; Semlinger 1998). Bei genauerer Betrachtung lassen sich diese beiden Sichtweisen durchaus miteinander verknüpfen. Denn strategische Netzwerke sind zwar geschlossene Gemeinschaften; ihre besondere Produktivität basiert jedoch nicht nur auf der exklusiven Kopplung von HandlungsStrategien, sondern auch auf dem Import von Ressourcen, Know-how, Informationen etc., die jeder der beteiligten Akteure aus Bereichen mitbringt (nämlich der Organisation, die er repräsentiert), zu denen seine Partner ansonsten keinen Zugang hätten. Die Stärke der strategischen Vernetzung basiert also nicht nur auf der Kopplung von Ressourcen, sondern zum Teil auch auf der Stärke der mit eingebrachten schwachen Beziehungen.
4.4 Policy-Netzwerke Die oben bereits thematisierte Problematik der internen Machtbalance von Netzwerken findet sich auch in der Debatte über Policy-Netzwerke (vgl. Schneider et al. 2009); denn hier geht es unter anderem um die Bestimmung der Rolle staatlicher Akteure und den Formwechsel von Staatlichkeit in modernen Gesellschaften, also den Übergang vom klassischen Obrigkeitsstaat zum modernen „interaktiven Staat“ (Simonis 1995). System- und differenzierungstheoretische Modelle postulieren, dass funktional differenzierte Gesellschaften über kein Steuerungsmedium verfügen, welches universelle Geltung beanspruchen kann (Schimank 1996). Ökonomische Probleme lassen sich nicht auf politischem Wege lösen (wenngleich politische Kriterien die Wahl der Lösung beeinflussen können), und Fragen der wissenschaftlichen Wahrheit lassen sich nicht durch Geldzahlungen klären (wenngleich die Möglichkeit der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit in immer stärkerem Maße von der Verfügbarkeit entsprechender Mittel abhängt). Wenn es in diesem Sinne kein Zentrum von 18
Dies steht im Widerspruch zu Jörg Sydows und Günter Ortmanns These der Offenheit und Durchlässigkeit von Netzwerkgrenzen (vgl. Sydow 1992a, b; Ortmann/Sydow 1998).
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Gesellschaft mehr gibt, über das Entscheidungen autoritativ verbindlich gemacht werden können, wenn vielmehr jedes Teilsystem (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft etc.) nur eine beschränkte Reichweite hat, stellt dies eine Herausforderung für die politische Theorie dar, nicht nur mit Blick auf die Konzipierung von Staatlichkeit, sondern auch auf das Verständnis von Politikformulierung und Politikgestaltung (vgl. den Beitrag von Knill und Schäfers, in diesem Band). Man kann daher in Anlehnung an Helmut Willke (1989, 1995) Netzwerke als Instanzen der intersystemischen Kommunikation konzipieren, die einen systemübergreifenden Diskurs und somit eine Abstimmung der jeweiligen Teilrationalitäten im Interesse des gemeinsamen Ganzen (der Gesellschaft) ermöglichen. Willke schlägt vor, dem Staat die Rolle des Moderators derartiger Diskurse zu übertragen, hebt ihn damit jedoch wiederum in eine privilegierte Rolle, ohne die Frage zu beantworten, woher der Staat in funktional differenzierten Gesellschaften die Fähigkeit nehmen soll, eine derartige Meta-Funktion auszuüben (vgl. Weyer 1993a). Policy-Netzwerke, wie sie etwa Renate Mayntz (1993) und Fritz Scharpf (1993) konzipieren, erheben zwar nicht diesen hohen Anspruch eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses; doch sind auch sie im Kern asymmetrische Arrangements, in denen der Staat eine privilegierte Rolle gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren einnimmt (Atkinson/Coleman 1989; Schneider 1992; Dunn/Perl 1994; dazu kritisch: Pappi 1993; Weyer 1997). Policy-Netzwerke sind in dieser Perspektive neuartige Instrumente der staatlichen Steuerung (mittels Einbindung der Interessenverbände), auf die der Staat zurückgreifen muss, weil traditionelle, interventionistische Formen der Politikgestaltung in modernen Gesellschaften nicht mehr greifen. Als Rückfallebene und als Drohpotential steht dem Staat in derartigen Verhandlungssystemen jedoch oftmals die Option einer autoritativen Durchsetzung seiner Position in Form der Regulierung per Gesetz – statt per ausgehandeltem Konsens und Selbstverpflichtung der Verbände – zur Verfügung. Die Atom-Konsensgespräche der rot-grünen Bundesregierung mit der Atomindustrie, die im Frühjahr 1999 schleppend in Gang kamen, sind ein illustratives Beispiel für derartige Verhandlungen im Schatten der Macht, bei denen es in der Regel darum geht, staatliche Ziele mit anderen, weniger konfliktbelasteten Mitteln durchzusetzen. Eine Alternative zu dieser Konzeption von Policy-Netzwerken als quasi-hierarchischen Verhandlungssystemen findet sich in der Idee der runden Tische bzw. im Gedanken der Partizipation. Die Beteiligung von Interessengruppen bei der Planung konfliktbehafteter Infrastrukturprojekte basiert beispielsweise auf der Idee, dass sich Politikprozesse optimieren und die teuren und zeitaufwändigen Gerichtsprozesse vermeiden lassen, wenn alle Akteure (Konzerne, Bürgerinitiativen, Verwaltungen) sich als gleichberechtigte Verhandlungspartner anerkennen und bestrebt sind, einen Konsens zu erzielen, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt (Prittwitz 1996; Feindt et al. 1996; Abels/Bora 2004). Zwar sind die Akteure mit unterschiedlichen Macht- und Drohpotentialen ausgestattet; ihre Ressourcen lassen sich jedoch nicht gegeneinander aufrechnen: Die ökonomische Macht eines globalen Konzerns kann sich als wirkungslos gegenüber der öffentlichen Meinung bzw. gegenüber juristischen Einwänden erweisen. Ein Konsens lässt sich nicht erzwingen. Gelingt es hingegen in einem selbstorganisierten, ergebnisoffenen Prozess, intelligente, angepasste Lösungen zu finden, so
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können sich diese als stabiler und als langlebiger erweisen als solche, die autoritativ durchgesetzt werden. Somit stellt sich nochmals die Frage nach der Rolle des Staates in einer modernen Gesellschaft, die über hochentwickelte Fähigkeiten der Selbststeuerung verfügt. Aus organisations-, aber auch aus systemtheoretischer Perspektive wären staatliche Akteure im Prinzip gleichrangige Spieler unter vielen anderen, die primär ihre eigenen Interessen durchzusetzen suchen und deshalb die Vorteile nutzen, die sich aus netzwerkförmigen Verhandlungs- und Kooperationsprozessen ergeben. Soziale Netzwerke (auch unter Beteiligung staatlicher Instanzen) sind in dieser Perspektive eine zukunftsweisende Form der gesellschaftlichen Selbstregulierung, weil sie zur Entwicklung dynamischer und flexibler Problemlösungskapazitäten beitragen, die für die Bewältigung der Herausforderungen unentbehrlich sind, denen moderne Gesellschaften gegenüberstehen. Die konkurrierende Sichtweise von Politik, die den Staat als Hüter des Gemeinwohls betrachtet und ihm deshalb die Funktion der Meta-Steuerung von Gesellschaft zuordnet, verweist demgegenüber auch auf die dysfunktionalen bzw. pathologischen Effekte von Netzwerken, die etwa darin bestehen, dass die Interaktion nutzenmaximierender Akteure keineswegs aus sich heraus zu optimalen Lösungen, sondern vielmehr zu Dilemma-Situationen mit suboptimalen Ergebnissen führt, dass Netzwerke ihre Gewinne zu Lasten Dritter erzeugen und schließlich dass Netzwerke eine Dynamik entfalten können, die außer Kontrolle zu geraten droht und sich den Eingriffen regulativer Politik tendenziell entzieht (Scharpf 1988, 1993; Teubner 1992; Mayntz 1993; Semlinger 1998). Für den letztgenannten Punkt ist die bereits erwähnte Star Alliance ein gutes Beispiel: Durch die enge Zusammenarbeit der Luftverkehrsgesellschaften könnte das gesamte, noch stark von nationalstaatlichen Interessen geprägte Luftverkehrsregime aus den Fugen geraten. Die Macht der Allianzen ist mittlerweile so groß, dass sie industrie-, wettbewerbs- oder verkehrspolitische Maßnahmen unterlaufen. (Neben der Star Alliance gibt es drei weitere global agierende Bündnisse.) Ein mögliches Szenario, auf das diese Entwicklung zusteuern könnte, wäre ein nahezu rechtsfreier Raum in der Zivilluftfahrt, in dem es keine Instanz mehr für die Durchsetzung von Sicherheitsstandards oder Verbraucherschutzinteressen gäbe (vgl. AWST 23.08.1999: 52f., 72). In netzwerktheoretischer Perspektive bleibt es somit eine offene und noch zu beantwortende Frage, wie derartige Folgen netzwerkgestützter Modernisierung zu bewerten sind und welche Steuerungsinstrumente einer vernetzten Gesellschaft zur Bewältigung dieser Dynamiken zur Verfügung stehen.
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Soziale Netzwerke und soziologische Theorie
Als letzter Punkt soll die Frage diskutiert werden, wo Netzwerke sozialtheoretisch zu verorten sind und wie man dieses Konzept für die Entwicklung einer Theorie moderner Gesellschaften nutzen kann. Lange Jahre gehörte es zum Ritual der Netzwerkforschung, eine Theo-
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rielücke zu identifizieren bzw. ein Theoriedefizit zu beklagen (Schenk 1984; Nohria 1992; Wurche 1994; Schneider/Kenis 1996; Fischer/Gensior 1995). Aber es gibt mittlerweile auch Versuche, die Netzwerkanalyse in ein breiteres theoretisches Fundament einzubetten, beispielsweise durch eine Anbindung an die Strukturationstheorie von Anthony Giddens (Ortmann/Sydow 1998; Sydow/Windeler 1998; Ortmann 1997) oder durch die Anbindung an die Theorie des Sozialkapitals (Jansen 2006: 26ff.; vgl. auch den Beitrag von Jansen/Diaz-Bone, in diesem Band). Immer mehr setzt sich die Auffassung durch, dass das soziologische Potential der Netzwerkanalyse nur in Ansätzen genutzt wird, wenn Netzwerke lediglich als ein Typus der Koordination ökonomischer Prozesse eingestuft werden (vgl. Abschnitt 2); gefordert wird daher ein Perspektivwechsel von der Ökonomie zur Soziologie. Die damit einhergehende Annäherung von Netzwerkforschung und Soziologie bedeutet allerdings aus folgenden Gründen für beide Seiten eine Herausforderung: Die Netzwerkanalyse muss sich darum bemühen, ihre oftmals am Einzelfall orientierten und ad hoc entwickelten Theorien sozialer Kooperation stärker in den soziologischen Fachdiskurs einzubetten, d. h. Anschlüsse an soziologische Großtheorien zu suchen. Die Soziologie muss sich ihrerseits intensiver darum kümmern, ihre Akteur- und Kooperations-Konzepte derart auszuarbeiten, dass sie für eine empirisch orientierte Netzwerkforschung nutzbar werden; dabei besteht die größte Lücke bei der Erklärung und Modellierung von Emergenz-Prozessen.19 Wenn die Vernetzung eine immer wichtigere Form der Koordination sozialer Prozesse darstellt, so wird dies zweifellos Auswirkungen auf unser Verständnis gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken haben. Insofern können die Ergebnisse der Netzwerkforschung eine Herausforderung, aber auch eine Anreicherung der bestehenden soziologischen Theorien sein; denn die Netzwerkanalyse besitzt das Potential, zentrale Probleme der soziologischen Theorie (Mikro-Makro, Handlung-Struktur) in einer Weise zu reformulieren, die zu ihrer tieferen Durchdringung beitragen kann.
Die Mikro-Makro-Debatte in der Soziologie Eine mögliche Strategie zum Einbau des Netzwerkkonzepts in sozialtheoretische Konzepte besteht also darin, die Mikro-Makro-Debatte als Bezugspunkt zu wählen, in die sich die Soziologie in Form einer Pendelbewegung hineinbewegt hat: Der Funktionalismus als das dominante Paradigma der 1950er und 1960er Jahre hatte den Akzent vor allem auf die gesellschaftlichen Institutionen und deren Funktion für die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung gelegt. In dieser strukturorientierten Perspektive sind Akteure primär Rollenträger, die die gesellschaftlichen Normen erfüllen und so zur Reproduktion von Gesellschaft beitragen. In den 1970er und 1980er Jahre entwickelten sich parallel zur marxistischen Theorie und zur Systemtheorie (beide eher strukturtheoretisch angelegt) handlungsorientierte Ansätze, deren
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Unter Emergenz versteht man die Entstehung eines neuen Gebildes, das mehr ist als die Summe seiner Teile und eigenständige, sich gegenüber den Ausgangspunkten tendenziell verselbstständigende Qualitäten besitzt.
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prominentester mittlerweile der Rational-Choice-Ansatz ist. Dieser beschreibt die Wahlhandlungen (choices) eines Akteurs als Resultat eines rationalen Entscheidungsprozesses, dessen Kern das Streben nach Nutzenmaximierung ist. Die Reduktion sozialer Handlungen auf opportunistische ökonomische Kalküle ist zu Recht als einer der Schwachpunkte dieses Ansatzes kritisiert worden. Allerdings verstummte die Kritik auch dann nicht, als Protagonisten der RC-Theorie zeigten, dass man keineswegs beim Homo oeconomicus stehen bleiben muss, sondern diesen Ansatz zu einem komplexen Modell sozialen Handelns ausbauen kann, das sich als Mikro-Makro-Modell eignet (Esser 1991; Miller 1994; Esser 1994; Kappelhoff 1997). In den 1990er Jahren ist das Pendel wieder zurückgeschwungen: Angestoßen durch die Arbeiten von James Coleman (1995), Anthony Giddens (1988), Hartmut Esser (1993), Renate Mayntz und Fritz Scharpf (1995), Günter Ortmann und Jörg Sydow (Ortmann et al. 1997) und anderen hat eine Suche nach einem ‚Dritten Weg‘ in der Soziologie begonnen, der die Einseitigkeiten struktur- und handlungstheoretischer Betrachtungen zu überwinden versucht. Ein derartiger Versuch muss mehrere Perspektiven integrieren, d. h. zeigen, wie gesellschaftliche Strukturen, etwa in Form institutionalisierter Verhaltenserwartungen, den Möglichkeitsraum fixieren, der den Akteuren offen steht – im positiven Sinne als Eröffnung von Chancen, im negativen als Beschränkung von Möglichkeiten (MakroMikro-Beziehung), wie strategisch handelnde Akteure auf Grundlage der jeweils gegebenen Randbedingungen ihre Handlungsoptionen bewerten und sich für eine Alternative entscheiden (Mikro-Prozess) und wie schließlich durch die Interaktion der Akteure wiederum Strukturen entstehen, die sich im Laufe der Zeit verfestigen und ihrerseits zu Institutionen werden (Mikro-MakroBeziehung); dieser Prozess der Emergenz sozialer Ordnung beinhaltet sowohl intentionale als auch spontane Momente, nämlich die intentionale Koordination der Handlung von Akteuren (in Organisationen oder Netzwerken) einerseits, die spontane Durchsetzung von Resultaten – teils hinter dem Rücken der Beteiligten – andererseits (am Markt oder als nicht-intentionale Folgen intentionalen Handelns).
Netzwerke als Phänomene der Meso-Ebene (*) Netzwerke sind eine Form der selbstorganisierten Koordination strategisch handelnder Akteure und bilden somit ein Element, das die Sozialtheorie zum Bau empirisch reichhaltiger Mikro-Makro-Modelle benötigt (vgl. Jansen 2006: 11). Netzwerk wäre in dieser Perspektive eine intermediäre Kategorie auf der Meso-Ebene, mit deren Hilfe man in der Lage ist, die Übergänge zwischen der Handlungs- und der Strukturebene zu beschreiben und so die Einseitigkeiten handlungs- bzw. strukturorientierter Ansätze zu überwinden (vgl. Hollstein 2006: 11f., 21). Der Übergang von der Mikro- zur Makro-Ebene sollte also in (mindestens) zwei Teilprozesse zerlegt werden, und zwar: Die Entstehung sozialer Gebilde auf der Meso-Ebene (Familie, Netzwerk, Organisation u.a.m.) und die Reproduktion bzw. Transformation gesellschaftlicher Institutionen auf der Makro-Ebene, die von diesen Gebilden und nicht von den einzelnen
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Akteuren geleistet wird (vgl. Abbildung 2). Und umgekehrt lässt sich der Übergang von der Makro- zur Mikro-Ebene auch als ein zweistufiger Prozess konzipieren, in dem die Gesellschaft ihre Steuerungsanforderungen primär an die sozialen Gebilde auf der Meso-Ebene adressiert, die diese wiederum – durchaus in gefilterter bzw. abgemilderter Form – an die einzelnen Akteure weitergeben (Schimank 2007). Strukturebene (Makro)
Handlungsebene (Mikro)
Emergenz
Netzwerke
Akteure
Netzwerke
Einbettung
Mesoebene
Institutionen
Akteure
Abbildung 2: Netzwerke als Mikro-Makro-Scharnier
Als ein Scharnier, das diese beiden Teilprozesse verknüpft, können, wie bereits angedeutet, u.a. soziale Netzwerke fungieren (vgl. ausführlich Weyer 2000). Vernetzung ist in modernen Gesellschaften ein prominenter Mechanismus der Entstehung emergenter Strukturen; denn durch die Kooperation heterogener Akteure können neue Wirklichkeiten geschaffen werden, die eigenständige Qualitäten besitzen, sich also nicht auf die Eigenschaften der Bestandteile des Netzwerks reduzieren lassen. Die temporäre Stabilisierung derartiger (oftmals vorerst lokaler) Strukturen und Praktiken durch soziale Netzwerke bildet zugleich eine Voraussetzung für die (konservative oder innovative) Reproduktion der gesellschaftlichen Institutionen. Das innovative Potential besteht vor allem darin, dass neuartige Strukturen und Praktiken Konsequenzen haben können, die über das Netzwerk hinausgreifen und in die gesamte Gesellschaft (bzw. in relevante Teilbereiche) ausstrahlen. Dann kann es über Prozesse der Diffusion, der Adaption, der Imitation oder der Folgenbewältigung zu strukturellen Innovationen beispielsweise in der Wirtschaft oder der Politik und deren dauerhafter Institutionalisierung kommen – natürlich verbunden mit der Perspektive, dass einmal geschaffene Institutionen zu einem späteren Zeitpunkt durch innovative Praktiken wieder in Frage gestellt werden können.
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Netzwerke sind in dieser Perspektive also ein wichtiger Mechanismus der Sozialintegration, der die Bildung emergenter gesellschaftlicher Strukturen leistet („bottom-up“) und den Akteuren zugleich Handlungsorientierungen vermittelt („top-down“). Methodisch eröffnet die Netzwerkanalyse somit die Option, die strukturelle Einbettung des Individuums zu analysieren und individuelles Handeln durch Rekurs auf die „Handlungsmöglichkeiten und Handlungszwänge“ (Jansen 2006: 22) zu erklären, die sich aus den spezifischen Strukturen des Netzwerks ergeben. Allerdings läuft ein derartiger Ansatz Gefahr, vorrangig auf die determinierenden und handlungsprägenden Wirkungen sozialer Strukturen zu fokussieren und den zweiten Teil des Mikro-Makro-Problems, die Emergenz sozialer Strukturen aus den Interaktionen der Individuen, nicht angemessen zu berücksichtigen. Hier sind Ansätze gefragt wie beispielsweise die agenten-basierte Modellierung sozialer Prozesse, die in der Lage sind, Netzwerkdynamiken, vor allem aber die Entstehung und Veränderung sozialer Strukturen unter Bezug auf die strategische Interaktion der handelnden Akteure (bzw. Agenten) abzubilden (Pyka et al. 2009: 103f.; vgl. den Beitrag von Weyer, Fink und Liboschik, in diesem Band). Denn die Strukturen auf der Meso-Ebene des Netzwerks entstehen aus den Interaktionen auf der Mikro-Ebene, wobei die einzelnen Handlungen der Akteure stets durch eine situationale und eine strategische Komponente geprägt sind (Beckenbach et al. 2009: 97; Esser 1991). Soziale Akteure sind in ihren Handlungswahlen zwar durch die Situation, in der sie sich befinden, geprägt; aber sie haben immer eine Wahl mit möglichen Alternativen, die sie auf Grundlage ihrer subjektiven Präferenzen treffen. Die Modellierung sozialer Netzwerke benötigt also eine Mikrofundierung durch ein Modell des (individuellen) strategischen Handelns sowie der sozialen Interaktion, um die MikroMakro-Verknüpfungen in beiden Richtungen adäquat abbilden zu können.
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Methoden der Netzwerkforschung
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital Konzepte und Methoden zur Analyse struktureller Einbettung Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
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Für eine strukturalistische Perspektive in der Soziologie
James Coleman (1986) hat in einem Aufsatz zu Sozialtheorie und Sozialforschung beklagt, dass mit dem Durchbruch der Umfrageforschung in der Soziologie ein Wechsel der Theorieperspektive von makrosoziologischen hin zu individualistisch-behavioristischen Fragestellungen verbunden war. Die zentrale Aufgabe der Soziologie sei aber nicht die Erklärung individuellen Verhaltens, sondern des Verhaltens von zusammengesetzten Einheiten wie Gemeinden, Organisationen oder Gesamtgesellschaften. Diese Diagnose eines gewissen Verlusts des Blicks für Strukturen und Makro-Entitäten in der empirisch orientierten Sozialforschung muss man wohl teilen. Gleichzeitig ist aber zu sehen, dass sich mit der zunehmenden Rezeption des Netzwerkkonzepts in den Sozialwissenschaften eine Wende abzeichnet. Die theoretischen Entwicklungsmöglichkeiten von Disziplinen werden nämlich durch das dort etablierte methodische Instrumentarium geprägt und auch begrenzt. Makro-Sachverhalte oder die sozialen Tatsachen im Sinne Emile Durkheims können erst dann in den Blick geraten, wenn ein entsprechendes Instrumentarium zu ihrer Beschreibung verfügbar ist. Das Problem liegt daher in der Suche nach einem theoretischen Design, das in der Lage ist, die Probleme der „embeddedness“ (Granovetter 1985), das heißt der Kontexteingebundenheit menschlichen Handelns, und der Modellierung der aus diesem Handeln erwachsenden emergenten Effekte zu berücksichtigen.
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Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
Wir möchten mit diesem Beitrag das Potential der Netzwerkanalyse für ein solches Design aufzeigen, das auf die Integration von Struktur- und Akteur-Perspektive als das zentrale Problem der Soziologie abstellt. Die Methoden der Netzwerkanalyse weisen eine natürliche Affinität zu Makroexplananda auf, d. h. zu Eigenschaften und Dynamiken auf der Ebene zusammengesetzter Einheiten. Sie erlauben es gleichzeitig, diese Phänomene mit den Aktionen der Primäreinheiten – Individuen oder korporativen Akteuren – zu verbinden. Und sie leisten eine intersubjektiv nachvollziehbare und auch quantifizierbare Beschreibung von systemischen oder emergenten Eigenschaften von Makro-Einheiten. Dabei sind Netzwerkanalysen durchaus mit Fallstudien und qualitativen Methoden kombinierbar. Da vor allem die Relationen oder Beziehungen zwischen den Elementen interessieren, werden in der Regel relativ kleine und abgegrenzte Einheiten untersucht, z. B. Branchennetzwerke, Politiknetzwerke, Manager- oder Elitenetzwerke, für die parallel eine Vielzahl von Kontextdaten erhoben werden können. Im Unterschied zu institutionenökonomischen (Williamson 1985/2000) und neoinstitutionalistischen Ansätzen (Powell/DiMaggio 1991) verbindet die soziologische Netzwerkanalyse mit dem Begriff des Netzwerks nicht einen spezifischen Typ von Struktur bzw. einen Typ institutionellen Arrangements (z. B. Netzwerke als Gegensatz zu Organisationen). Netzwerke werden vielmehr ganz allgemein definiert als ein abgegrenztes Set von Akteuren (Personen, Organisationen oder andere) und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen (Relationen). Netzwerke können grafisch oder formal dargestellt werden. Grafisch können Akteure als Knoten und Beziehungen als gerichtete oder ungerichtete Linien in einem Soziogramm dargestellt werden. Formal können Netzwerke in Matrixform dargestellt werden, wobei in den Zellen der Matrix jeweils die Information enthalten ist, ob zwischen je zwei Akteuren eine Beziehung vorliegt oder nicht. Damit kann jedes System von Beziehungen als Netzwerk betrachtet und analysiert werden. Auch eine hierarchische Struktur (Organisation) kann so dargestellt werden und ist in diesem Sinne ein Netzwerk. Der Begriff impliziert also in diesem Verwendungszusammenhang keine Annahmen über die Rangordnung, Machtverhältnisse und Autonomiegrade der Akteure innerhalb des Netzwerks. Diese werden vielmehr mit spezifischen Strukturmerkmalen der Netzwerke erfasst. Im Zentrum der Analyse stehen nicht die Eigenschaften isolierter Akteure, sondern vielmehr die Beziehungen der Akteure untereinander. Nicht der Akteur als solches, sondern seine Einbettung in eine reale Struktur interessiert (Granovetter 1985; Wellman 1988; Krippner/ Alvarez 2007). Die einzelnen Akteure werden gerade nicht als unabhängig voneinander begriffen, wie dies die konventionelle Variablensoziologie annimmt (Esser 1987). Eine Struktur wird hierbei nicht als die Aggregation individueller Merkmale (z. B. Einkommen und deren Verteilung in einer Population) verstanden, sondern sie wird als das Muster der Beziehungen zwischen den Akteuren aufgefasst. Ein wichtiges Konzept für die Erfassung von strukturabhängigen Eigenschaften von Akteuren sowie von Eigenschaften auf der Ebene der Meso- (z. B. Gruppen oder Organisationen) und Makrostrukturen (Gesamtgesellschaften) ist dabei der Begriff des sozialen Kapitals. Im Folgenden wird in Abschnitt 2 zunächst dieser Begriff des sozialen Kapitals als ein Instrument zur Analyse sozialer Strukturen und sozialer Einbettung von Akteuren eingeführt. Verschiedene Formen des Sozialkapitals und die ihnen zugrundeliegenden Sozialstrukturen
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital
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werden diskutiert. Abschnitt 3 widmet sich dann den Möglichkeiten einer Operationalisierung der verschiedenen Spielarten des Sozialkapitals durch das netzwerkanalytische Instrumentarium. Abschnitt 4 schließlich liefert eine beispielhafte Analyse des Sozialkapitals in einem Wissenschaftlernetzwerk. Abschnitt 5 zieht ein Resümee.
2
Soziales Kapital als Scharnier zwischen Akteuren und Strukturen
Der Zusammenhang zwischen den Strukturen und dem Handeln einzelner Akteure im Netzwerk lässt sich mit dem Begriff des sozialen Kapitals erfassen (Bourdieu 1983; Coleman 1988; Burt 1992).1 Unter sozialem Kapital versteht man einen vorteilhaften Effekt der Netzwerkstruktur, der darin besteht, individuellen oder korporativen Akteuren breitere Handlungsmöglichkeiten oder Zugang zu Ressourcen zu eröffnen. Ein Beispiel: Soziales Kapital ermöglicht einem Akteur, der ansonsten voneinander isolierte Tauschpartner vernetzt, unternehmerische Profite zu erzielen, die er ohne seine spezifische Position im Netzwerk nicht erzielt hätte. Ein weiteres Beispiel: Soziales Kapital kann die Koordination der Handlungsabsichten von vielen Akteuren zu kollektiver Aktion erleichtern, weil sie eng untereinander vernetzt sind. Ein weiterer vorteilhafter Effekt von Netzwerkstrukturen kann darin bestehen, dass ein Akteur mit einer zentralen Stellung in einem dichten Netzwerk mehr Einfluss auf andere ausüben kann als andere, die eine marginale Stellung innehaben. Auch hier spricht man von sozialem Kapital. Netzwerkstrukturen können auch nachteilige Effekte haben, zum Beispiel indem enge Netzwerke eher soziale Kontrolle auf einzelne Akteure ausüben und deren Handlungsfreiheiten einschränken. Bei diesem nachteiligen Effekt spricht man zumeist auch nicht mehr von sozialem Kapital – obwohl man diese ‚Kehrseite‘ des sozialen Kapitals berücksichtigen muss (Uehara 1990). Der strukturelle Charakter des Sozialkapitals bedingt, dass der Prozess seiner Produktion meist nicht bewusst ist. Es wird eher beiläufig gemeinsam mit anderen Handlungen produziert, auf denen der bewusste Fokus der Beteiligten ruht. Soziales Kapital hat im Vergleich zu ökonomischem und Humankapital außerdem die Eigenart, nicht völlig im Besitz eines Akteurs zu sein: Es ist abhängig von den direkten und indirekten Beziehungen, die ein Akteur zu anderen Akteuren in einem Netzwerk unterhält. Diese anderen Akteure, die unter Umständen mit dem Akteur nur indirekt verbunden sind, haben ebenfalls Einfluss auf dessen soziales Kapital. Auch ist das Sozialkapital nur sehr bedingt frei übertragbar. Insofern sind die Eigentumsrechte an seinem Sozialkapital für den einzelnen Akteur stets beschränkt. 1
Das Konzept des sozialen Kapitals hat in den letzten zehn Jahren eine enorme Rezeption erfahren. Allerdings hat dies eher zu einer Pluralisierung der Verwendungsweisen dieses Konzeptes geführt. Die wichtigsten Monographien und Überblickdarstellungen sind Lin (2001); Lin et al. (2001); Burt (2005); Franzen/Freitag (2007); Lin/Erickson (2008); Castiglione et al. (2008). Innerhalb der Netzwerkanalyse hat die Forschung zum sozialen Kapital mit den Studien zur sozialen Unterstützung einen inhaltlichen Vorläufer (Diaz-Bone 1997).
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Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
Dennoch können Akteure versuchen, strategisch ihr soziales Kapital zu optimieren (Burt 1992, 2005). Soziales Kapital kann daher gleichzeitig sowohl in seiner Eigenschaft als privates Gut mit privatem Nutzen als auch auf der Ebene von Gruppen oder Gesamtnetzwerken als Kollektivgut mit Nutzen für die Gruppen- oder Netzwerkmitglieder untersucht werden. Wie in jedem Kapitalkreislauf verwertet sich auch das soziale Kapital, indem es in andere Kapitalien, Güter oder Leistungen umgesetzt wird, die dann ihrerseits unter Umständen wieder eingesetzt werden, um das Beziehungskapital zu vermehren. Es lassen sich im Wesentlichen sechs Leistungen oder Werte unterscheiden, die soziales Kapital vermitteln kann (Coleman 1988, 1990; Burt 1982, 1992, 1998, 2005; Portes/Sensenbrenner 1993; Portes 1998; Putnam 1993a, 1993b, 1995; Sandefur/Laumann 1998): 1. Familien- und Gruppensolidaritäten (die auf sozialen Schließungsprozessen gegenüber anderen und der dichten Vernetzung innerhalb der Familien bzw. Gruppen beruhen), 2. Selbstorganisationsfähigkeit von Gruppen auf der Grundlage der Stratifizierung in Netzwerken, 3. Vertrauen in die Geltung allgemeiner sozialer Normen, 4. Informationszugang und Informationsvorteile, 5. Profitchancen, die sich für Akteure als Makler in Netzwerken ergeben, weil sie als einzige zwischen unverbundenen Akteuren vermitteln (d. h. strukturelle Löcher überbrücken) und nicht durch den Netzwerkkontext eingeschränkt sind (d. h. hohe strukturelle Autonomie haben), 6. sozialer Einfluss. Bei den drei ersten Typen steht eher der Kollektivgutcharakter im Vordergrund, bei den drei letzteren der individuelle Nutzen. Unterschiedliche Sozialstrukturen leisten dabei unterschiedliche Dienste. Was für den einen Wert – z. B. kollektive Solidarität – nützlich ist, kann für einen anderen Zweck – z. B. möglichst weitreichende Information – durchaus schädlich sein. Außerdem unterscheiden sich die Positionen der einzelnen Akteure in derselben Sozialstruktur: Die gleiche Struktur kann dem einen hohe Profite ermöglichen, die der andere zu bezahlen hat. Im Folgenden sollen die sozialstrukturellen Grundlagen von sozialem Kapital, das Informationszugang, strukturelle Autonomie, Selbstorganisationsfähigkeit von Gruppen, Gruppensolidarität und sozialen Einfluss vermittelt, an Forschungsfragen und -beispielen aus der Netzwerkforschung vorgestellt werden.2
„Weak ties“, „strong ties“ und strukturelle Löcher Die Idee des Sozialkapitals kann man auf die von Mark Granovetter (1973, 1974/1995) eingeführte Unterscheidung zwischen zwei Beziehungsarten, der „strong ties“ und „weak ties“,
2
Auch allgemeines Normvertrauen hat sozialstrukturelle Ursachen, wie Putnam (1993a, 1993b, 1995) in seiner Analyse der demokratietheoretischen Bedeutung der Beteiligung an Vereinen und Verbänden gezeigt hat. Durch diese Mitgliedschaften werden „weak ties“ geschaffen, die häufig ethnische und Statusgrenzen überschreiten und so die Integration der Gesellschaft und eine Moral der universalistischen Normbefolgung unterstützen. Vgl. hierzu auch Lindenbergs (1989, 1992) Konzept eines Entscheidungsrahmens der „weak solidarity“.
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beziehen. Granovetter stieß in einer der ersten Netzwerkstudien zur beruflichen Mobilität auf die sogenannte „Stärke schwacher Beziehungen“. Relevante Informationen über eine offene Stelle erhielten Personen seltener von engen Freunden als vielmehr von flüchtigen Bekannten.3 Auch führten Weak-tie-Informationen häufiger zu gut bezahlten Jobs. „Strong ties“ sind in Abbildung 1 als durchgezogene Linien dargestellt, „weak ties“ als gestrichelte Linien. (Die betrachtete Person wird in der Netzwerkanalyse „ego“ genannt.) „Strong ties“ schaffen Solidarität und Vertrauen und sind eine Grundlage für sozialen Einfluss. Die Zahl der „strong ties“, die ein Akteur unterhalten kann, ist aber recht begrenzt, denn „strong ties“ verlangen viel Zeit und Aufmerksamkeit. Mehrere „strong ties“ führen oft zu einer Gruppe untereinander ohnehin vernetzter Akteure. Das hat zwei Ursachen. Erstens tendieren Strong-tie-Beziehungen aufgrund der Mechanismen kognitiver Balance zu sozialer Schließung: Freunde meiner Freunde werde ich über kurz oder lang kennen lernen und vermutlich in meinen eigenen Freundeskreis aufnehmen. Zweitens pflegen Akteure ihre „strong ties“ in ökonomischer Art und Weise. Mit der Teilnahme an einem Ereignis, z. B. einer Familienfeier, lassen sich gleichzeitig mehrere „ties“ bedienen.
A
EGO
B
nach Burt 1992: 27
Abbildung 1: Strukturelle Löcher und „weak ties“
3
Die Stärke einer Beziehung wird in der Netzwerkanalyse unterschiedlich operationalisiert. Granovetter nutzte hierzu die Rollenbeziehung zwischen den Akteuren, wobei er private Beziehungen (Familie, Freunde) als stark klassifizierte, berufliche Beziehungen hingegen als schwach. Eine zweite Operationalisierung benutzt die Kontakthäufigkeit. Marsden (1990) schlägt dagegen vor, die Enge der persönlichen Beziehung als Indikator zu benutzen, da die bloße Kontakthäufigkeit zu einer Überschätzung der Intensität sozialstrukturell vorgegebener Kontakte in Arbeit und Nachbarschaft führe (vgl. auch Wegener 1991).
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„Weak ties“ dagegen sind weniger redundant, sie liefern neue Informationen. Sie sind in der Lage, auch große Distanzen in Netzwerken zu überbrücken. Sie sind für alle Mobilitäts-, Modernisierungs-, Innovations- und Diffusionsprozesse von großer Bedeutung, denn sie vermitteln verschiedenartige und oft auch neue Informationen und Normen. Sie sind die Basis für Individualisierungsprozesse und strukturelle Autonomie (Burt 1992: 2004). Ronald Burt hat darauf hingewiesen, dass es eigentlich nicht die „weak ties“ sind, die soziales Kapital im Sinne von struktureller Autonomie liefern. Wichtig ist vielmehr die Position eines Akteurs als Brücke zwischen verschiedenen ansonsten nicht vernetzten Clustern. Zwischen diesen Clustern liegen dann sogenannte strukturelle Löcher vor, die der Akteur überbrückt. Diese Brückenverbindungen sind allerdings oft auch „weak ties“. Als Makler zwischen den durch ihn verbundenen Clustern kann der Akteur nun Gewinne erzielen. Diese Gewinne ergeben sich erstens aus einer strategisch guten Position für den Informationsprozess. Akteure, die strukturelle Löcher in der Sozialstruktur überbrücken, erfahren über ihre direkten Kontakte viele, nicht redundante Informationen schneller als andere. Außerdem werden sie eher von anderen, nicht direkt mit ihnen verbundenen Akteuren angesprochen, die über weit verzweigte Wege von ihnen erfahren haben. Burt (2004) hat gezeigt, wie Manager, die über ihre Abteilung hinaus informelle Beziehungen im Unternehmen pflegen und unternehmensinterne strukturelle Löcher überbrücken, Ideen, die in einer Abteilung nicht als wertvoll betrachtet werden, an andere Abteilungen weitervermitteln können. Dabei erzielen sie durch das strategische Vermitteln, das ‚Makeln‘ von Ideen einen ‚Mehrwert‘, wenn diese Ideen dort als innovativ betrachtet werden und gewinnbringend aufgegriffen werden. In einer aktuellen Studie kommen Sai Yayavaram und Gautam Ahuja (2008) zu einem ähnlichen Ergebnis in Bezug auf die Wissensbasen von Unternehmen: Eine modularisierte Struktur mit dichten Clustern, zwischen denen einige wenige Verbindungen bestehen, unterstützt Innovation und Kreativität besser als stark vernetzte Strukturen oder einzelne Wissenscluster ohne Vernetzungen. Strukturelle Löcher erschließen den Akteuren aber nicht nur Informationen, sondern auch unternehmerische Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Position des ‚lachenden Dritten‘ ergeben. Sie können verschiedene Akteure ‚gegeneinander ausspielen‘. Akteure genießen eine Position struktureller Autonomie. Das heißt, dass sie in solchen Positionen weitgehend frei sind vom Einfluss und von Zwängen, die andere auf sie ausüben könnten.4
4
Hier zeigt sich, dass ein Sachverhalt wie die Autonomie, der – netzwerkanalytisch gesehen – strukturell begründet ist, sich im ersten Moment anders als ein herkömmlicher Kapitaleffekt – nämlich indirekt – auswirken kann: zunächst als höherer Freiheitsgrad für das Handeln, der dann aber wiederum Voraussetzung sein kann für bessere Profitchancen. Für Burt stellt die Netzwerkposition eines Cutpoints (siehe Ego in Abbildung 1) zwischen zwei oder mehr untereinander vernetzten Cliquen mehr strukturelle Autonomie bereit als die völlige Vereinnahmung durch nur eine Gruppe. Hier widerspricht ihm Krackhardt (1999) mit seiner These der „Simmelian ties“. Der zwischen zwei Cliquen stehende Akteur ist für ihn gleichzeitig zwei u.U. unterschiedlichen Erwartungsstrukturen unterworfen. Dies stelle für ihn eine noch größere Einschränkung seiner Handlungsoptionen dar als die Mitgliedschaft in nur einer Gruppe und könne sogar in Double-bind-Situationen der Handlungsblockade führen. Eine Systematisierung der möglichen Vermittlungsstrukturen zwischen Triaden, die auch die Art der Einbindung des Maklers in die über ihn verbundenen Cliquen berücksichtigt, findet sich bei Gould/ Fernandez 1989.
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Auf den Weak-tie-Charakter von Netzwerken, in denen Akteure aus unterschiedlichsten Kreisen zusammengeführt werden, gründen sich viele Modernisierungs- und Leistungshoffnungen, die mit dem Netzwerkbegriff verbunden werden. Aber Weak-tie-Netzwerke verteilen ihren Nutzen asymmetrisch. Die Profite, die sich aus der Überbrückung der Löcher zwischen den Clustern ergeben, fallen zunächst nur beim Maklerakteur an. Wegen der nicht völligen Aneigenbarkeit des sozialen Kapitals können die restlichen Netzwerkakteure allerdings versuchen, sich zur Wehr zu setzen und ihren Anteil zu verlangen. Weak-tie-Netzwerke sind eher schwache Solidaritätsgrundlagen und sie sind deshalb schwach in der intentionalen Koordination von Handlungen, insbesondere bei hoher Unsicherheit. Hier sind ihnen umgekehrt die Strong-tie-Netzwerke überlegen. Auch sie bilden insofern eine Basis für soziales Kapital. Ein Beispiel sind private Kreditsysteme, die ethnisch homogene Einwanderergemeinden in den USA organisieren. Hiermit werden Existenzgründungen aus der eigenen Ethnie unterstützt. Diese Kreditsysteme funktionieren – sowohl was die Bereitschaft zur Einzahlung durch die Gemeindemitglieder als auch was die Rückzahlungsmoral anbetrifft – auf der Basis sozialer Schließung. Ethnisch spezifische Normen können innerhalb der kleinen und nach außen abgegrenzten Gemeinschaft durchgesetzt werden. Die häufigen und engen Beziehungen unter den Gemeindemitgliedern sichern die unmittelbare Beobachtbarkeit und Sanktionierbarkeit von Abweichlern (Coleman 1988, Portes/Sensenbrenner 1993). Auch in einer Studie von Burt (1992, 1998) zum sozialen Kapital von Managern scheint die Bedeutung von „strong ties“ und lokal geknüpften Netzwerken auf. Grundsätzlich erwiesen sich für die meisten Manager unternehmerische Netzwerke mit vielen weit ausgreifenden Beziehungen zu untereinander nicht oder nur schwach verbundenen Kontaktpersonen als vorteilhaft für die eigene berufliche Entwicklung. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen. Das sind Jung-Manager und Frauen. Für sie sind hierarchische Netzwerke mit starken Beziehungen zu hochrangigen und einflussreichen Personen im Unternehmen günstiger. Während für Manager in der Regel ein chancenorientiertes Netzwerk mit vielen Kontakten außerhalb der eigenen Abteilung vorteilhaft ist, ist es für Frauen und Jung-Manager im Gegenteil besser, viele Kontakte aufgabenorientiert in der eigenen Abteilung aufzubauen. Hintergrund ist die problematische Legitimität von Neulingen und Frauen. Für die Absicherung von Loyalitäten und den Aufbau kollektiver Identitäten werden andere Netzwerkstrukturen gebraucht als für die Nutzung unternehmerischer Chancen. 5
5
Dies zeigt auch eine aktuelle Simulationsstudie von Ray Reagans und Ezra Zuckerman (2008). Sie geht der Frage nach einem „trade-off“ zwischen redundanten und nicht-redundanten Beziehungen und dem Zusammenhang zum zugrundeliegenden Tauschmechanismus und den getauschten Ressourcen nach. Vgl. auch Jansen et al. 2008, die für Forschungskooperationsnetzwerke in den Disziplinen Astrophysik und Nanotechnologie eine gegensätzliche Wirkung struktureller Löcher finden. In der Astrophysik als einer hochgradig durch klare, paradigmatisch vorgegebene Forschungslinien und eine starke Abhängigkeit vom Zugang zu kollektiv verwalteten Großgeräten geprägten Disziplin wirkt das Ausmaß der Schließung der Kooperationsnetzwerke (network constraints, vgl. Kap. 3.2.) positiv auf die Produktivität von Forschungsgruppen. Hier wird ähnliches, paradigmatisch anschließbares Wissen hoch bewertet. Nanotechnologie ist dagegen eine sehr viel schneller wachsende Disziplin mit vielen auseinander driftenden Forschungslinien. Was wichtig oder unwichtig ist, ist wesentlich weniger klar und es gibt eine Vielzahl denkbarer Fragen, experimenteller Herangehensweisen und Messinstrumente. Hier wirkt die Schließung des Kooperationsnetzwerks negativ auf den Forschungsoutput. Produktiv sind
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Was Frauen und Jung-Manager für ihren beruflichen Aufstieg im Unternehmen brauchen, ist nicht strukturelle Autonomie, also Freiheit von Zwängen, die andere für sie setzen, sondern sozialen Einfluss. Sozialen Einfluss gewinnt man aber nicht durch schwach verbundene Weak-tie-Netzwerke, sondern durch gute Beziehungen zu Akteuren, die selbst wieder über gute Beziehungen und ein hohes Ansehen im Netzwerk verfügen.
Strukturelle Autonomie und sozialer Einfluss Die Mechanismen der Handlungskoordination und der Interdependenz im Netzwerk sind für die beiden Sozialkapital-Formen „strukturelle Autonomie“ und „sozialer Einfluss“ sehr verschieden. Strukturelle Autonomie ist hilfreich in negativ verbundenen Netzwerken. Dort besteht eine Konkurrenzsituation zwischen den potenziellen Partnern von Ego, er kann nur den einen oder anderen heiraten, bei ihm kaufen oder ihn befördern. Der Prototyp des negativ verbundenen Netzes ist das Tauschnetzwerk. In positiv verbundenen Einfluss- und Informationsnetzwerken sind die Beziehungen zwischen Ego und verschiedenen Kontaktpersonen dagegen komplementär und additiv.6 Die Information, die Ego von einem Akteur bekommen hat, gibt er an andere Akteure weiter. Je mehr Informationen oder Ansehensbekundungen Ego von anderen erhält, um so größer ist seine Informiertheit bzw. sein eigenes Ansehen. Einflussreich ist der, der Einfluss auf andere einflussreiche Akteure hat. Strukturell autonom ist dagegen, wer mit möglichst schwachen Partnern interagiert (vgl. hierzu Jansen 2006: Kap. 7; Sandefur/Laumann 1998; Emirbayer/Goodwin 1994). Soziales Kapital in Form von „strong ties“ unterstützt konsentierte und durchsetzbare Normen, senkt Transaktionskosten, ermöglicht Lernen trotz Unsicherheit und erlaubt den Aufbau kollektiver Identitäten. Die hiermit verbundene soziale Schließung hat aber auch Kehrseiten. Die preiswerte Monitoring- und Solidaritätsfunktion des Strong-tie-Netzwerkes ist mit Abgrenzung und Misstrauen nach außen, und das heißt auch mit Diskriminierungen anderer verbunden. Und sie impliziert erheblichen sozialen Druck, unter Umständen ein Nicht-Aussteigen-Können. Das kann auch negative Konsequenzen für den Akteur haben. Im Extrem können eng begrenzte und nach außen geschlossene Netzwerke Modernisierungsprozesse verschlafen (Grabher 1990; Werle 1990) oder Mafiastrukturen aufbauen (Gambetta 1988). Andererseits ist der Aufbau personaler und kollektiver Identitäten ohne „strong ties“ wohl kaum denkbar. Sowohl die Mechanismen der kognitiven Balance als auch der begrenzte Zeit- und Ressourcenhaushalt von Akteuren machen es unmöglich, Sozialstrukturen als reine Weak-tie-Netzwerke zu denken. In einer den Werten der Aufklärung verpflichteten normativen Perspektive wird es daher darauf ankommen, hier eine brauchbare Balance zwischen sozialer Schließung und Einbettung einerseits und Modernisierung, Individualisierung und struktureller Autonomie andererseits zu finden.
hier offene und flexible Netzwerke, die divergentes Wissen, verschiedene Materialien und Messzugänge kombinieren. 6
Die positive bzw. negative Verbundenheit in Netzwerken hat per se nichts mit der Stärke der betrachteten Beziehung zu tun. Allerdings sind Konkurrenzphänomene, die konstitutiv für negativ verbundene Netzwerke sind, bei sehr starken Beziehungen aufgrund der begrenzten Beziehungskapazität von Individuen wahrscheinlich.
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Untereinbettung und Übereinbettung Brian Uzzi hat das soziale Kapital von Unternehmen in der Textilbranche analysiert (1996, 1997). Er hat wie Granovetter zwischen zwei Arten von Beziehungen zwischen Unternehmen unterschieden: Zum einen Marktbeziehungen („arm-length ties“), die kurzfristige Transaktionen sind und sich lediglich am Preis orientieren; sie entsprechen der etablierten wirtschaftswissenschaftlichen (neoklassischen) Auffassung vom eigennützigen und ‚kalkulierenden‘ Marktverhalten und entsprechen Granovetters „weak ties“. Zum anderen eingebettete Beziehungen („embedded ties“), die dauerhafte und durch Kooperation charakterisierte Geschäftsbeziehungen sind; sie entsprechen Granovetters „strong ties“. Aus Sicht eines Unternehmens stiften eingebettete Beziehungen Vertrauen, sie liefern detaillierte und umfassende produktionsrelevante Informationen und sie ermöglichen gemeinsame Problemlösungsstrategien. Diese Beziehungen sanktionieren opportunistisches Verhalten und reduzieren damit die Kosten für die Entscheidungsfindung sowie die gelingende Kooperation. Die Vorteile dieser Beziehungen bestehen für Unternehmen darin, dass Unternehmen durch schnellere und koordinierte Kooperation Wettbewerbsvorteile erzielen können – insbesondere dann, wenn das Netz durch ein zentrales Unternehmen integriert wird. Eine solche Integration von Netzwerken oder Gruppen in Netzwerken, wie Uzzi sie beschrieben hat, ist um so wahrscheinlicher, je ausgeprägter die Stratifizierung im Netzwerk ist. Der Besitz von hoch bewerteten Ressourcen (z. B. Entscheidungsmacht, Informationen, materiellen Ressourcen) führt zunächst zu asymmetrischen Beziehungsmustern, die sich auf Akteursebene im unterschiedlichen netzwerkanalytischen Status oder Prestige niederschlagen (zur Operationalisierung siehe Abschnitt 3). Geringfügige Unterschiede im Prestige sind dann die Grundlage für eine bessere Sichtbarkeit und dann auch höhere Attraktivität der herausgehobenen Akteure. Netzwerkpositionen mit hohem Prestige und hoher Zentralität werden dabei um ihrer selbst Willen zum Ziel von positiven Kooperations- und Tauschangeboten anderer Akteure. Es setzt ein sich selbst verstärkender Prozess ein, der zu einer Stratifizierung der Akteure führt. Die Position in einer Netzwerkstruktur bekommt einen Informations- und Signalwert eigener Art und dies kann Such- und Verhandlungskosten senken. Ferner übernehmen Akteure mit herausgehobener Netzwerkposition häufig Koordinationsaufgaben in Netzwerken (vgl. Jansen 1995; Darr/Talmud 2003; Obstfeld 2005). Wie Krackhardt (1999) und Gould/Fernandez (1989) aufzeigen, bedeutet die häufig von zentralen Akteuren eingenommene Maklerposition jedoch nicht notwendig völlige Freiheit zur Ausbeutung der Partner. Makler sind oft zugehörig zu mehreren Bezugsgruppen, die sie als ehrliche Makler zu integrieren suchen. Uzzi zeigt in seiner Studie weiter, dass erfolgreiche Unternehmen eine Kombination von „arm-length-ties“ und „embedded-ties“ eingehen. Unternehmen, die einseitig nur eine Beziehungsform zu anderen Unternehmen eingehen, sind untereingebettet (nur „arm-length ties“) oder übereingebettet (nur „embedded-ties“). Die Vorteile der „embedded ties“ können sich zu Nachteilen wenden, wenn die starke Einbettung eine Anpassung an neue Situationen erschwert. Uzzi benennt drei solcher Situationen:
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1. Wenn ein zentrales, das Netzwerk integrierendes Unternehmen wegfällt, 2. wenn ein Markt so rationalisiert wird, dass „embedded ties“ ihren Vorteil verlieren (z. B. weil die Art der Interorganisationsbeziehung gesetzlich reguliert wird) oder 3. wenn Unternehmen in einem dichten Netzwerk sich nur aneinander orientieren, so dass wenig Kontakt zum weiteren Markt besteht. In diesem Fall werden Informationen über neue Trends kaum wahrgenommen.
Einbettung und Statusordnung Dass die Einbettung von Unternehmen in ihr Netzwerk insbesondere dann Vorteile einbringt, wenn diese mit anderen statushohen Unternehmen kooperieren, zeigen die Untersuchungen von Joel Podolny (1993, 2005). Unternehmen suchen die Kooperation mit anderen Unternehmen, die nach Möglichkeit einen höheren wahrgenommenen Status im Markt haben, um damit aus dieser Vernetzung Vorteile für die eigene Statusposition im Markt zu erhalten. Denn der wahrgenommene Status kann sich durch die Vernetzung mit statushöheren (als Signal für den eigenen Status) verbessern. Der höhere Status der Kooperationspartner ‚färbt‘ auf das Unternehmen ab. Umgekehrt können statushohe Unternehmen Vorteile erzielen, da der wahrgenommene höhere Status sich in Form von Kostenvorteilen in der Konkurrenz gegenüber statusniedrigeren Unternehmen auswirkt. Denn die Produkte von statushohen Unternehmen werden (bei gleichen Produktionskosten) als von höherer Qualität beurteilt (Status als Qualitätssignal). Statushohe Unternehmen haben geringere Transaktionskosten, da andere die Kooperation mit ihnen anstreben und beibehalten wollen. Zudem können statushohe Unternehmen in Kooperationen häufig höhere Profite durchsetzen. Märkte werden bei Podolny als hierarchische Statusordnungen konzipiert, in denen die wahrgenommene Vernetzung mit anderen Unternehmen die eigene Statusposition beeinflusst. Das wahrgenommene soziale Kapital eines Unternehmens – als Einbettung in ein Kooperationsnetzwerk mit anderen statushohen Unternehmen – entfaltet damit seine kognitive Wirkungsweise als Wettbewerbsvorteil im Markt: wahrgenommenes soziales Kapital ‚zahlt sich als symbolisches Kapital aus‘.7
Clusterung, Volatilität und Innovation in Netzwerken Bereits die Studien von Uzzi zeigen, dass Einbettung kein eindimensionales Konzept ist und auch problematisch werden kann, je nach Art und Qualität der Einbettung. Uzzi hat hierbei verschiedene Beziehungstypen für eine differenzierte Analyse der Einbettungseffekte herangezogen. Aber auch die Analyse der Differenzierung eines Netzwerks in Regionen mit unterschiedlichen Dichten (Clusterung) kann bedeutsam werden.8 In modernen Organisations-
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Auch das prominente Marktmodell von Harrison White rekonzipiert Märkte als Netzwerke und betrachtet die Einbettung der Unternehmen in Zulieferer-Produzenten-Abnehmer-Netzwerke. Unternehmen bilden dann einen Markt, wenn ihre Einbettung strukturell äquivalent ist (White/Godart 2007). Siehe für einen Überblick verschiedener netzwerkanalytischer Ansätze, die „Märkte als Netzwerke“ konzipieren, Diaz-Bone (2009).
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Die Berechnung der Dichte von Netzwerken wird im folgenden Abschnitt erläutert.
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netzwerken stehen den Mechanismen der Einforderung und Durchsetzung von Solidarität und Vertrauen innerhalb enger Cluster die Mechanismen des Tauschs und Transfers zwischen Clustern gegenüber.9 Dies zeigt sich in der Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Effekten von Netzwerkdichte (vgl. Abschnitt 3.2). So kommen Ian Talmud und Gustavo S. Mesch (1997) zu dem Ergebnis, dass die Stabilität von Branchen sowohl von der Existenz struktureller Löcher als auch von der Existenz kohäsiver Subgruppen positiv beeinflusst wird. Eine Zunahme der Gesamtdichte des Netzwerks führt hingegen zu erhöhter Turbulenz. Dahinter steht der aus der Populationsökologie bekannte Effekt zunehmender Dichte einer Nische, also erhöhter Konkurrenz (Stuart 1998). Strukturelle Löcher wirken hier im Sinne einer losen Kopplung, die den Grad der Rückwirkungen von Störungen im Netz begrenzen. Ähnliche Ergebnisse liefern Simulationen, die sich mit dem Zusammenhang von Marktvolatilität und Marktstrukturen befassen. Netzwerkgröße und Netzwerkdichte erhöhen die Interdependenzen und damit auch die Volatilität. Je größer die Netzwerke werden, desto mehr Strukturierung und Differenzierung entsteht aufgrund der begrenzten kognitiven Kapazitäten von Menschen. Diese Strukturierungen stellen sich als dichte Subgruppen und dazwischen liegende strukturelle Löcher dar. Austauschbeziehungen in Cliquen versprechen Sicherheit und Kooperationsgewinne. Die in großen Netzwerken jedoch unvermeidlichen strukturellen Löcher produzieren Volatilität und Innovationsdruck (Baker 1984; Baker und Iyer 1992; Arthur 1995; Watts 1999; Kogut/Walker 2001). Dabei entsteht ein Wechselspiel, das aus der Innovationsforschung bekannt ist: Es kommt zu schöpferischer Zerstörung und einer zunehmenden Turbulenz durch die Aktivitäten von Innovatoren, die etablierte Grenzen überschreiten. Aber die Umsetzung der Innovationen verlangt Diffusion und Legitimation, also erneuten Aufbau von Strukturen und Erwartungssicherheiten.
Small-world-Netzwerke Die netzwerkinterne Differenzierung in Cluster und die Intensität der Verbundenheit der Akteure im Netzwerk werden als Kohäsion beschrieben. Diffusion (z. B. von Krankheiten oder Innovationen) sind ein typischer Untersuchungsgegenstand von Kohäsionsstudien (Coleman et al 1966, Bearman et al 1994). Ein anderer klassischer Zugang sind die sogenannten Small-world-studies. Netzwerke, die gleichzeitig durch Regionen hoher Verdichtung, eine insgesamt niedrige Netzwerkdichte und wenige kurze Pfade zwischen den weitgehend getrennten Clustern gekennzeichnet sind, werden als Small-world-Netzwerke bezeichnet. Der Name entstand im Kontext eines netzwerkanalytischen Experiments, in dem sich herausstellte, dass der Transfer eines Dokuments zu einem unbekannten Empfänger innerhalb der USA trotz der Anforderung, nur persönliche Bekannte um Hilfe zu bitten, im Mittel (Median) nur sechs Schritte benötigte (Milgram 1967; Travers/Milgram 1969). Ursache für dieses Phänomen sind die wenigen Kosmopoliten mit weit ausgreifenden Netzwerken, die in den regionalen dichten Netzwerken bekannt sind und für den Transfer angesprochen werden. Die Unter9
Vgl. Frank und Yasumoto 1998 mit einer Analyse der Subgruppenstruktur der französischen Elite und der durch diese Struktur geprägten Unterlassung von feindlichen Ausbeutungsakten innerhalb der Gruppen und der Konzentration von unterstützenden Aktionen nach dem Muster des reziproken Tauschs zwischen Dyaden aus verschiedenen Gruppen. Ähnliche Ergebnisse eines gleichzeitigen positiven Effektes sowohl von struktureller Autonomie als auch von sozialer Einbindung liegen auch für Manager vor (Gabbay 1997).
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suchung der zugrunde liegenden Strukturen und Mechanismen ist in letzter Zeit von Mathematikern und Naturwissenschaftlern aufgegriffen worden, die so verschiedene Netzwerke wie das Internet, Kopublikationsnetzwerke, Stromverbundnetzwerke, neuronale Netzwerke oder Nahrungsketten untersuchen (Watts/Strogatz 1998; Watts 1999; Milo et al. 2002 und 2004; Barabási 2002). Diese verschiedenen Netzwerktypen werden auf der Ebene von Dyaden, Triaden oder Tetraden mit Zufallsnetzwerken gleicher Netzwerkdichte verglichen, um signifikant überzufällige Netzwerkstrukturen zu identifizieren. Als ein möglicher Mechanismus für das Small-world-Phänomen kristallisiert sich dabei eine Netzwerkstruktur heraus, in der sich die Beziehungen in den Dyaden auf wenige Knoten/Akteure konzentrieren, während das Gros der Akteure (Knoten) keine Beziehungen oder nur wenige Beziehungen aufweist. Diese sogenannte Degree-Verteilung ist also hochgradig schief. Sie folgt auch nicht annähernd einer Normalverteilung, sondern einem sogenannten Power-law- oder Potenzgesetz (vgl. auch den Beitrag von Stegbauer in diesem Band). Solche Power-law-Verteilungen sind in der Wissenschaftsforschung bekannt. Alfred J. Lotka (1926) beschrieb sie bereits für die Verteilung von wissenschaftlichen Publikationen auf Autoren. Der Mechanismus für das Entstehen von Power-law-Verteilungen ist ein Prozess des Netzwerkwachstums, in dem sich anfänglich geringe Zentralitätsunterschiede aufgrund von Signaleffekten immer weiter verstärken. Der Zuwachs an „ties“ innerhalb eines Netzwerks wird nicht gleichmäßig oder zufällig verteilt, sondern so, dass vor allem die Akteure mit vielen „ties“ weitere Beziehungen hinzu gewinnen. Dieser Mechanismus entspricht dem schon von Merton (1968) sogenannten Matthäuseffekt: wer hat, dem wird gegeben. Ein solcher Prozess kann zu sogenannten Scale-free-Netzwerken führen. Dies sind Netzwerke, deren Degree-Verteilung in logarithmischer Darstellung einer von links oben nach rechts unten fallenden Geraden entspricht. Caroline Wagner und Loet Leydesdorff (2005) haben solche Verteilungen zum Beispiel für wissenschaftliche Ko-Publikationsnetzwerke nachgewiesen, weisen aber auch auf Abweichungen von der Power-law-Verteilung hin, die die Begrenzungen von menschlichen Kapazitäten widerspiegeln. Solche Matthäuseffekte werden durch Mechanismen wie Sichtbarkeit und Legitimitätssuche verursacht, die zu „increasing returns“ führen. Für die Auswahl von Netzwerkpartnern kommt es dann weniger auf deren ,materiellen‘ Wert und den Zugang zu Ressourcen an als vielmehr auf ihren Status im Netzwerk und den Zuwachs an Sichtbarkeit und Akzeptanz, die man durch die bloße Tatsache der Kooperation gewinnt. Netzwerkanalytische Matthäuseffekte können insgesamt als Eigendynamiken konzipiert werden, bei denen eine bestimmte Qualität der Einbettung eigendynamische Netzwerkprozesse in Gang bringt oder verstärkt. So konnte verschiedentlich gezeigt werden, dass in Interorganisationsnetzwerken diejenigen Unternehmen immer attraktiver für Kooperationen erscheinen, die bereits zentrale Positionen im Netzwerk haben, weil sich diese Stellung als Auswahlkriterium im Netzwerk durchsetzt (Jansen 2007). Allerdings ist für soziale Netzwerke, die letztlich auch Ressourcen beanspruchen, die sich durch die Netzwerkerträge rechtfertigen müssen, nicht davon auszugehen, dass solche Prozesse unbegrenzt möglich sind.
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Operationalisierung von sozialem Kapital
Durch netzwerkanalytische Maßzahlen lassen sich verschiedene soziologische Konzepte operationalisieren. Dazu zählen die strukturellen Positionen einzelner Akteure, ihr Zugang zu Information, ihre Chancen für die Ausübung sozialen Einflusses oder die Gelegenheitsstrukturen für unternehmerisches Handeln. Ein Netzwerk besteht aus einer abgegrenzten Zahl von Knoten, in der Regel Akteuren, und den zwischen ihnen verlaufenden Kanten, d. h. Beziehungen. Im Minimalfall handelt es sich um nur einen Beziehungstyp. Meist werden aber parallel mehrere Beziehungen untersucht. Während strenge Strukturalisten dem Inhalt der Beziehung wenig Aufmerksamkeit schenken, ist es für die Bewertung von Sozialkapital schon bedeutsam, ob es um berufliche Hilfesuche, gemeinsame Freizeitaktivitäten oder aber um Animositäten unter Kollegen geht.
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Tabelle 1: Binäre Soziomatrix der Hilfesuche im „bank wiring room“ (nach Homans 1960)
Das Netzwerk für jede Beziehung (Relation) wird durch eine Matrix dargestellt (vgl. Tabelle 1). Im einfachsten Fall wird nur zwischen Existenz oder Nichtexistenz einer Beziehung unterschieden und dies durch eine Null oder Eins an der entsprechenden Stelle in der sogenannten Berührungsmatrix dargestellt. Bei gerichteten Beziehungen werden ausgehende Beziehungen in den Zeilen, eingehende in den Spalten dargestellt. Sofern die Beziehung nicht reflexiv ist, weist die Hauptdiagonale von oben links nach unten rechts (Beziehung des Akteurs zu sich selbst) keine validen Werte auf (hier durch Striche indiziert). Mehrere Beziehungen für das gleiche Akteurset können durch mehrere Matrizen dargestellt werden.
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Die Verfahren der Netzwerkanalyse beziehen sich im Wesentlichen auf drei verschiedene Analyseebenen. Eine erste Gruppe von Maßzahlen charakterisiert einzelne Akteure in ihrer Netzwerkeinbindung, z. B. durch ihre Zentralität, ihr Prestige oder ihre Macht. Diese Maßzahlen können zur Messung des Sozialkapitals einzelner Akteure herangezogen werden, also z. B. den Informationszugang, die strukturelle Autonomie oder den sozialen Einfluss eines Akteurs quantifizieren (Abschnitt 3.1). Zweitens gibt es Verfahren, die auf das gesamte Netzwerk abzielen, es also in seiner Dichte, Kohäsion oder dem Grad seiner Hierarchisierung kennzeichnen. Diese Maßzahlen messen soziales Kapital als Kollektivgut, z. B. das Solidaritäts- und Normdurchsetzungspotential (Abschnitt 3.2). Drittens gibt es die Möglichkeit, Akteurgruppen in Netzwerken zu identifizieren und diese zu beschreiben, z. B. durch ihr Verhältnis zu anderen Akteurgruppen oder durch ihre interne Koordinationsfähigkeit. Hierdurch können z. B. eng untereinander verbundene Cluster aufgefunden und ihr Verhältnis zu anderen Clustern untersucht werden, z. B. auf das Vorhandensein und die Länge von Pfaden zu anderen Clustern im Netz (Abschnitt 3.3). In diesen verschiedenen Analyseebenen spiegelt sich die Scharnierfunktion des sozialen Kapitals zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene10 und seine Dualität: Einerseits gehört das Sozialkapital dem Akteur und kann von ihm eingesetzt und aufgebaut werden, andererseits ist es aber zum Teil auch unverfügbar und liegt in der Gesamtstruktur des Netzes und seinen Untergruppen, auf die ein Einzelner keinen durchschlagenden Einfluss hat. Alle Analyseprozeduren setzen an den Daten der Soziomatrix an, d. h. sie stehen in definierter Beziehung zu den Beziehungsdaten der untersuchten Akteure.
3.1 Akteurbezogene Maßzahlen Der einfachste Indikator für das soziale Kapital eines Akteurs ist sein sogenannter Degree („degree of connection“), der die Zahl seiner Beziehungen im Netzwerk angibt. Einen positiven Beziehungstyp vorausgesetzt, ist sein soziales Kapital um so größer, je größer die Anzahl der mit ihm verbundenen Personen ist. Um eine Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlich großen Netzwerken zu erreichen, wird die Anzahl der Beziehungen, die ein Akteur besitzt, auf die Zahl der möglichen Beziehungen im Netzwerk bezogen (Degree-Zentralität). Sofern die betrachtete Relation asymmetrisch ist, muss zwischen dem Indegree und dem Outdegree unterschieden werden. Sie ergeben sich als die Spalten- bzw. Zeilensummen des betrachteten Akteurs in der Soziomatrix. Für Akteur 2 in der Soziomatrix zum Hilfesuchenetz beträgt sein Outdegree 1, bezogen auf (n–1) = 13 Akteure außer ihm selbst, also 1/13. Sein Indegree ist höher, er wird von drei anderen Akteuren um Hilfe gebeten, also 3/13. Er verfügt damit über eine bessere Netzwerkeinbettung und ein höheres Sozialkapital als etwa Akteur 11, der einen Outdegree von 0 und einen Indegree von 1/13 aufweist. 10
Mikroebene: einzelner Akteur; Mesoebene: Gruppen, soziale Positionen in Netzwerken; Makroebene: Gesamtnetzwerk und seine Eigenschaften.
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Asymmetrien in Netzwerken sind wesentlich, um Status- und Einflussunterschiede zu erkennen. Prestigemaßzahlen setzen daher anders als Zentralitätsmaßzahlen asymmetrische Netzwerke voraus. Der Indegree eines Akteurs ist die einfachste Maßzahl für das Prestige eines Akteurs. Hoher Degree bzw. Outdegree eines Akteurs indiziert seine starke Einbindung in ein Netzwerk, hoher Indegree indiziert seine hohe Wertschätzung im Netzwerk. Die Differenz der beiden Maßzahlen lässt sich leicht an einem Zitationsnetzwerk ersehen. Wer andere Forscher zitiert, zeigt damit, dass er in seinem Forschungsgebiet auf dem Laufenden ist, er hat Zugang zu vielen Informationen. Hohen eigenen Status und Einfluss im Wissenschaftlernetzwerk gewinnt er aber erst, wenn er selbst häufig zitiert wird. Komplexere Maßzahlen für die Zentralität oder das Prestige eines Akteurs berücksichtigen auch die indirekten Beziehungen im Netzwerk. Es wird also untersucht, ob man über zwei oder drei Schritte Hilfe mobilisieren kann, oder ob die Wissenschaftler, von denen man zitiert wird, selbst über hohes Prestige verfügen (vgl. hierzu Jansen 2006: Kap. 6). Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Prestigemaßzahlen messen das Sozialkapital, das ein Akteur über seinen Einfluss und seine Wertschätzung im Netzwerk mobilisieren kann. Es ist ein gewisser Konsens im Netzwerk über den Status und die Legitimität des Akteurs erforderlich. Auch die wählenden Akteure sollten über einen hohen Status und eine gute Netzwerkeinbettung verfügen. Zentralitätsmaßzahlen setzen dagegen an den ausgehenden Beziehungen an und kennzeichnen eher die Informations- und Maklereigenschaften der Netzwerkposition des Akteurs. Die Effektivität des Kontaktnetzes eines Akteurs lässt sich als die Zahl der direkt und darüber indirekt erreichten Akteure errechnen. Hierzu berechnet man die Erreichbarkeitsmatrix. Sie gibt für jeden Akteur an, welche anderen Akteure erreicht werden können. Man kann zudem berücksichtigen, wie viele Schritte ein Akteur auf dem Weg zu einem anderen Akteur zurücklegen muss. Diese Information enthält die sogenannte Pfaddistanzmatrix.11 Die Effizienz des Kontaktnetzes eines Akteurs kann dann als Quotient aus der Zahl der erreichbaren Akteure, ggf. gewichtet mit ihrer Nähe, und der Zahl der direkten Kontakte gemessen werden. Je mehr Personen ein Akteur mit seiner grundsätzlich begrenzten und im Unterhalt aufwändigen Zahl von direkten Beziehungen indirekt erreicht, desto höher ist die Effizienz seines Kontaktnetzwerks. Dieses Effizienzmaß misst den Informationszugang im Netzwerk. Kommt es dagegen auf starke soziale Unterstützung, Vertrauen und Legitimität oder aber auch auf die Übertragung von vertraulichem Wissen oder „implizitem Wissen“ (Polanyi 1958) an, so können indirekte Beziehungen unter Umständen wenig hilfreich sein. Eine weitergehende Einordnung des Typus des Sozialkapitals ist letztlich jedoch nur möglich, wenn die umliegende Netzwerkstruktur genauer betrachtet wird (vgl. Abschnitte 3.2 und 3.3).
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Sowohl die Erreichbarkeitsmatrix als auch die Pfaddistanzmatrix ergeben sich aus den Potenzen der Berührungsmatrix (binäre Soziomatrix). Vgl. hierzu im einzelnen Jansen 2006: Kap. 5.
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3.2 Netzwerkbezogene Maßzahlen Die Maßzahlen des zweiten Typs beziehen sich auf das gesamte Netzwerk. Sie liefern Material für die Beantwortung der Frage nach dem Solidaritäts- und Koordinationspotential von Sozialstrukturen. Es werden entweder Gesamtnetzwerke untersucht oder aber sogenannte ego-zentrierte Netzwerke, die aus dem fokalen Akteur und dessen Kontaktpersonen und deren Beziehungen untereinander bestehen.
Netzwerkdichte Die Netzwerkdichte ist bereits angesprochen worden. Sie ist der Quotient aus der Anzahl der im Netzwerk realisierten Beziehungen (i.e. der Summe der Einsen in der Berührungsmatrix) und der Anzahl der grundsätzlich möglichen Beziehungen [n * (n–1)]. Im Hilfesuchenetzwerk beträgt die Zahl der realisierten Beziehungen 24, bezogen auf 14 * 13 = 127 mögliche Beziehungen ergibt 24 : 127 = 0,132. Netzwerkdichten nahe dem Maximalwert 1 sind sehr selten und nur in kleinen Gruppen überhaupt denkbar. Familien- und Freundschaftsnetzwerke weisen dabei eher höhere Dichten auf als berufliche Netzwerke. Eine hohe Netzwerkdichte (ca. 0,4 und höher) ist ein grober Indikator dafür, dass es sich um ein Netzwerk mit eher hohem Solidaritätspotential handelt, niedrige Dichte indiziert eher geringe Solidaritätspotentiale.12 Für ego-zentrierte Netzwerke hat Burt (2004: 362) ein Maß entwickelt, das das Ausmaß struktureller Löcher negativ über den sogenannten „network constraint“ misst. Gemessen wird das Ausmaß, in dem Ego in die Beziehung zu den direkt mit ihm verbundenen Alteri investiert. Dabei wird berücksichtigt, dass Ego jeweils auch auf Umwegen in die Beziehung zu seinen Alteri investiert, da er über Dritte indirekt mit seinen Alteri verbunden sein kann. Der „network constraint“ erfasst also den Aufwand, den Ego direkt oder indirekt in seine Beziehungen zu den ihn direkt umgebenden Alteri investiert. Je stärker Ego seine direkten Beziehungen auf wenige Alteri konzentriert und je häufiger und stärker er über sein Netz auch indirekt die gleichen Akteure erreicht, desto höher ist der „network constraint“ seines Ego-Netzwerks.13 Das Maß variiert zwischen 0 und 1, wobei der maximale Wert 1 ein stark redundantes, dichtes Netzwerk mit hoher sozialer Kontrolle und ohne Brokerchancen für den
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Bei ego-zentrierten Netzwerken wird teilweise statt der Dichte des Gesamtnetzes nur die Dichte des Netzwerks unter den Kontaktpersonen verwendet, da zwischen dem Ego-Akteur und den Kontaktpersonen, über die Erhebungsmethode verursacht, notwendig eine Beziehung bestehen muss. Denn ego-zentrierte Netzwerke werden mit Namensgeneratoren erhoben. Das sind Fragen, mit denen von Ego Auskünfte erfragt werden über die Personen in seinem direktem Umfeld und die Beziehungen, die Ego zu ihnen unterhält (Diaz-Bone 1997; Wolf 2004, Jansen 2006).
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„Network constraint“ wird berechnet mit C = ∑j Cij = ∑j [pij + piq · pqi]2, mit q ≠ i, j. Die direkte Beziehungsintensität pij ist definiert als Existenz oder Intensität der Beziehung von Akteur i zu Akteur j und bezogen auf die gesamte Beziehungskapazität von Akteur i (Stärke aller direkten Beziehungen aufsummiert). Der zweite Term misst, ob Akteur i den Akteur j auch auf indirektem Wege erreicht. Damit macht er sein Netzwerk redundant und verliert außerdem an struktureller Autonomie – die Akteure j und q können ihr Handeln gegenüber Akteur i koordinieren.
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Ego-Akteur bedeutet, ein Wert von 0 dagegen ein maximal effizientes Netzwerk mit vielen Brokerchancen.
Multiplexität Ein komplexerer Indikator für das Solidaritätspotential eines Netzwerkes ist seine Multiplexität. Die Analyse von Multiplexität setzt die gleichzeitige Betrachtung von mindestens zwei Beziehungstypen für die gleiche Akteurgruppe voraus, z. B. Forschungskooperation und Mitgliedschaft in der gleichen wissenschaftlichen Gesellschaft. Multiplexität bedeutet, dass eine Relation zwischen zwei Akteuren nicht nur in einer, sondern in mehreren Beziehungsdimensionen vorliegt. Sie misst also Beziehungsüberlappung oder Redundanz. Ähnlich wie im Fall der Netzwerkdichte steht hinter dem Konzept der Multiplexität die theoretische Idee, dass Netzwerke Reputationseffekte generieren. Im obigen Beispiel könnte sich etwa ungebührliches Verhalten in einer Forschungskooperation nicht nur unter den Kooperationsmitgliedern, sondern unter allen Mitgliedern der wissenschaftlichen Gesellschaft schnell herumsprechen und entsprechende Sanktions- und Vermeidungsstrategien auslösen. Technisch berechnet man den Multiplexitätsgrad, indem man die Soziomatrizen der betrachteten Relationen elementweise addiert. Eine 2 in der zweiten Zeile und der dritten Spalte bedeutet dann, dass Akteur 2 zum Akteur 3 zwei Beziehungen unterhält, eine 3 entsprechend drei Beziehungen usw. Man wählt einen Schwellenwert aus, ab dem eine Beziehung als multiplex gelten soll. Nach einer Dichotomisierung der zusammengefassten Matrix an diesem Wert ergibt sich wieder eine binäre Matrix (0-1-Matrix). Die Dichte dieser Matrix entspricht dem Multiplexitätswert des Netzwerks.14
Kohäsionsgrad Ein dritter Indikator für das Solidaritätspotential ist der Kohäsionsgrad eines Netzwerkes. Kohäsion setzt einen asymmetrischen positiven Beziehungstyp voraus (z. B. Freundschaftswahlen) und untersucht das Ausmaß gegenseitiger Wahlen. Technisch wird die Matrix exklusiv symmetrisiert, d. h. nur wenn Akteur 2 den Akteur 3 wählt und Akteur 3 den Akteur 2 wählt, steht an diesen beiden Positionen der Matrix eine 1. Ist die Beziehung aber nur einseitig, wird der Wert an beiden Positionen auf 0 gesetzt. Die Dichte der so symmetrisierten Matrix ergibt den Kohäsionsgrad des Netzwerks. Die genannten Maßzahlen messen die Sozialisations- und Sanktionsfähigkeit des Netzwerkes, die Chancen für Ausbildung und Überwachung gruppenspezifischer Normen und Solidaritäten. Dabei gibt es jedoch durchaus ,preiswertere‘ Kontrollstrukturen als das total verbundene Netzwerk. Deren Stärke liegt eher darin, dass Kontrolle und Sanktion eher nebenbei im Vollzug anderer Handlungen abfällt und starke Gruppenidentitäten ausgebildet
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Nach dem gleichen Muster kann man auch einen Multiplexitätswert für die Akteure berechnen, indem man in dieser Matrix die Zeilen- bzw. Spaltensummen für die Akteure bildet. Hohe Multiplexitätswerte eines Akteurs bedeuten, dass er auf ein hohes Unterstützungspotential zugreifen kann, aber auch, dass er einer hohen sozialen Kontrolle unterliegt.
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werden. Stratifizierte Strukturen erreichen mit einer wesentlich geringeren Netzwerkdichte einen guten Informationsfluss, hohes Selbstorganisationspotential von Gruppen sowie soziale Kontrolle.
Stratifizierung Der Grad der Stratifizierung eines Netzwerks lässt sich an seiner Zentralisierung bzw. Hierarchisierung erkennen. Gemessen wird er auf der Basis der Zentralitäts- bzw. Prestigewerte der einzelnen Akteure. Das Netzwerk mit der niedrigst-möglichen Zentralisierung ist ein Kreis. Keiner der Akteure ist in herausgehobener Weise in das Netzwerk eingebunden, alle Akteure haben genau zwei Außenbeziehungen. Musterbeispiel für ein maximal zentralisiertes Netzwerk ist ein Stern. Hier richten sich alle (n–1) Beziehungen auf den Star in der Mitte, der die Rolle des Maklers übernimmt. Die im Stern außen stehenden Akteure haben jeweils nur eine Außenbeziehung. Zentralisierungsmaßzahlen für ein Netzwerk messen anhand der Differenzen zwischen dem zentralsten Akteur und allen anderen Akteuren, ob dieser Akteur im Netzwerk hervorgehoben ist.15 Sie beziehen diese Abweichungssumme zur Standardisierung auf die maximal mögliche Abweichung. Ein Wert von Null indiziert also eine fehlende Zentralisierung, ein Wert von Eins eine maximal mögliche Zentralisierung. Nach dem gleichen Muster sind Hierarchiemaße auf der Basis des Prestiges der Akteure aufgebaut. Sie messen anhand der Differenzen zwischen dem prestigereichsten Akteur und allen anderen Akteuren, ob es in dem Netzwerk ausgeprägte Statusunterschiede gibt. Geringe Dichten, Multiplexitäten, Kohäsionsgrade, Fragmentierungen und niedriger „network constraint“ messen das Ausmaß an potenziell unterschiedlichen Informationen und Weltsichten innerhalb eines Netzwerkes. Dabei wird unterstellt, dass Akteure, die nicht oder nur indirekt und schwach verbunden sind, sich auch in ihren Ressourcen, Informationen und Ansichten unterscheiden werden. Netzwerkheterogenität oder -homogenität ist vor allem für ego-zentrierte Netzwerke auch mit Blick auf attributionale (personenbezogene) Merkmale der Alteri, z. B. Bildung oder politische Präferenzen mit konventionellen Streuungsmaßen oder Heterogenitätsmaßen untersucht worden (Diaz-Bone 1997). Für die Wirtschafts- sowie die Wissenschafts- und Technikforschung sind Strukturmaße bzgl. der Disziplin- oder Branchenheterogenität, der geographischen Streuung oder der Einbeziehung unterschiedlicher Organisationstypen von Interesse (vgl. Abschnitt 4). Im Zuge der Entdeckung von Small-world-Strukturen (vgl. Abschnitt 2) in einer Vielzahl von Gegenstandsbereichen sind weitere Maßzahlen zur Charakterisierung von Netzwerken entwickelt worden. „Cliquishness“ ist ein weiteres Maß, das die Clusterung in kleinen Regionen beschreibt. Die „cliquishness“ kann auch bei niedriger Gesamtdichte vorliegen, und sie ist – neben der kurzen mittleren Pfaddistanz – ein Definitionsmerkmal eines Small-worldNetzwerks. Duncan J. Watts und Steven H. Strogatz (1998) haben das Grundkonzept zu ihrer Messung, den sogenannten Cluster-Koeffizienten, definiert. Hierfür wird die lokale Umge15
Da hier die Zentralisierung sich nicht allein auf einen Akteur im Netz, sondern auf dessen Position in Relation zu den anderen bezieht, handelt es sich nicht um akteurbezogene, sondern um netzwerkbezogene Maßzahlen, die damit eine Netzwerkeigenschaft abbilden.
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bung jedes Akteurs (Knotens) im Netz betrachtet, d. h. die direkt erreichbaren Akteure (Knoten). Die Zahl der in diesem Subnetzwerk vorhandenen Beziehungen setzt man in Beziehung zu den möglichen Beziehungen (wie bei der Dichteberechnung). Der Mittelwert dieser lokalen Dichtewerte für alle Subnetze ist der Cluster-Koeffizient. Mit dem von Vladimir Bagatelj und Andrej Mrvar (2008: 28) entwickelten Netzwerkanalyseprogramm PAJEK kann man mittlerweile die lokale Umgebung eines Akteurs (Knoten) auch auf die von ihm in zwei Schritten erreichbaren Akteure hin analysieren.16 In Netzwerken, in denen viele Akteure nicht oder nur über lange Pfade erreichbar sind, oder in denen sich polarisierte kohäsive Gruppen voneinander abschotten, werden sich Informationen und Innovationen nur langsam, selektiv oder gar nicht ausbreiten. Akteure, die die Brücken zwischen weit voneinander entfernten Clustern darstellen, können u.U. als Unternehmer und Makler von ihren Netzwerkpositionen profitieren. Je geringer die Dichten und Multiplexitäten, je länger die Pfaddistanzen und je mehr Fragmentierungen zwischen verschiedenen Clustern im Netzwerk gegeben sind, desto anfälliger ist der Transport von Informationen, Normen und Ressourcen für den Zusammenbruch einzelner Beziehungen oder strategische Aktionen einzelner. Umgekehrt tragen Netzwerke des Small-world-Typus mit lokal dichten Cliquen, niedrigen Gesamtdichten und dennoch niedriger durchschnittlicher Pfaddistanz zur Diffusion von Innovationen und Modernisierung bei.
3.3 Maßzahlen zu Teilgruppen in Netzwerken Das Auffinden von Gruppen in Netzwerken ist ein weiteres Ziel der Netzwerkanalyse. Für die Frage der Bewertung des Sozialkapitals eines Akteurs ist es nämlich wichtig, ob er Beziehungen nur zu der eigenen oder auch zu anderen Gruppen hat. Des Weiteren liefern Maßzahlen zur Abgrenzung und internen Struktur von Gruppen Anhaltspunkte für ihre Koordinations- und Durchsetzungsfähigkeit im Gesamtnetzwerk. Schließlich kann man auch auf der Ebene der Beziehungen von Gruppen zueinander Aussagen über die Zentralität und das Prestige einzelner Gruppen im Netzwerk treffen. Das in Abschnitt 3.1 skizzierte Maß für die Effizienz des Kontaktnetzwerks eines einzelnen Akteurs berücksichtigt z. B. bisher nicht, ob die erreichten Akteure redundante Informationen liefern oder nicht. Informationsredundanz von Akteuren kann man an ihrer Gruppenzugehörigkeit oder strukturellen Position festmachen. Dabei wird unterstellt, dass Akteure aus der gleichen Gruppe auch in ihrem Informationswert ähnlich sind. Für die Kontakteffizienz kommt es dann darauf an, dass ein Akteur möglichst Akteure aus verschiedenen Gruppen erreicht. Die Gruppenkonzepte sind schließlich auch wesentlich für die Bewertung der strukturellen Autonomie eines Akteurs. Lachender Dritter kann ein Akteur nur im Verhältnis zu Akteuren sein, die für ihn strukturell äquivalent (d. h. hinsichtlich der Netzwerkeinbindung gleich oder vergleichbar) sind. Nur dann kann er die über die Beziehung laufende Leistung sowohl von dem einen wie von dem anderen beziehen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass er den einen gegen den anderen ausspielen kann. Ob dies gelingt, hängt seinerseits von der 16
Wie beim Network-constraint-Maß gibt es auch hier verschiedene Möglichkeiten, die Intensität der Beziehungen in dem lokalen Subnetzwerk zu berücksichtigen (vgl. Saramäki et al. 2007).
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Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
Koordinationsfähigkeit der ihm gegenüberstehenden konkurrierenden Akteure ab. Sind diese Akteure miteinander verbunden, so ist seine Handlungsfähigkeit strukturell eingeschränkt. Bestehen jedoch strukturelle Löcher zwischen den konkurrierenden Akteuren, die Kommunikation und Koordination zwischen ihnen verhindern, so ergeben sich Profitmöglichkeiten. Für die Identifikation von Gruppen in Netzwerken gibt es zwei verschiedene Ansätze. Im Cliquenkonzept zeichnet sich die Teilgruppe durch starke interne Verbundenheit im Vergleich zum Gesamtnetz aus. Im Konzept der strukturellen Äquivalenz werden dagegen diejenigen Akteure zusammengefasst, die ähnliche Außenbeziehungen zu allen anderen Akteuren haben. Untereinander müssen diese Akteure nicht verbunden sein, auch wenn dies nicht ausgeschlossen ist. Eine Clique im netzwerkanalytischen Sinne ist im Wesentlichen das, was man auch umgangssprachlich darunter versteht. Es ist eine Zone relativ dichter Beziehungen im Netzwerk, die sich nach außen durch einen Mangel an Einbindungen abgrenzen lässt. Cliquen haben hohe interne Dichten, multiplexe Beziehungen und eine hohe Kohäsion. Die drei Cluster in Abbildung 1 (auf Seite 77) sind Cliquen, die nur über den Ego-Akteur miteinander verbunden sind. Nach innen sind sie stark verbunden, nach außen deutlich abgegrenzt. Abbildung 2 verdeutlicht das Konzept der strukturellen Äquivalenz. Die Akteure 1 bis 4 sind strukturell äquivalent und besetzen die erste strukturelle Position. Sie erhalten von niemandem Wahlen und suchen alle Rat bei demselben Akteur 5. Sie sind untereinander nicht direkt verbunden. Ihre interne Nicht-Verbundenheit ist ebenfalls ein gemeinsames Merkmal ihrer Position. Da sie aber strukturell äquivalent sind (z. B. Sachbearbeiter mit der gleichen Aufgabe und dem jeweils gleichen Kenntnisstand über ihre eigene Arbeit), ist ihr Informationswert für Akteur 5 ziemlich gleich. Neben der Cliquenzugehörigkeit ist deshalb strukturelle NichtÄquivalenz ein zweites Kriterium zur Einschätzung der Effizienz eines Kontaktnetzwerks.
6 1 7 2
8 5 9
3 10 4 Pos. 1
Pos. 2
Pos. 4
Pos. 3
nach Burt 1982: 25
Abbildung 2: Ein (ideales) Netzwerk der Ratsuche
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Die zweite strukturelle Position bildet Akteur 5 (z. B. der Bürovorsteher) mit eingehenden Wahlen von Position 1 und ausgehenden Wahlen an Position 3. Das sind die Akteure 7 bis 10. Sie wählen sich jeweils gegenseitig und erhalten Wahlen von Position 2 (Akteur 5). Des Weiteren bildet der isolierte Akteur 6 eine eigene strukturelle Position. Akteur 5 befindet sich hier in einer ausnehmend guten Position. Er ist der einzige Makler zwischen den Positionen 1 und 3, die jeweils von mehreren strukturell äquivalenten Akteuren besetzt sind. Die Akteure 1 bis 4 spielen die gleiche Rolle für Akteur 5. Das ist zwar ungünstig für ihren Informationswert, aber günstig für die Handlungsmöglichkeiten von Akteur 5. Er kann den einen gegen den anderen ausspielen und so z. B. das Arbeitstempo seiner Untergebenen steigern. Position 3 ist allerdings nicht so schwach wie Position 1, da ihre internen Koordinationsmöglichkeiten aufgrund der internen Verbundenheit besser sind. Außerdem erkennt man an der Richtung der Beziehungen, dass Position 3 an der Spitze der Hierarchie steht. Diese könnte ihre Position gegenüber Akteur 5 wesentlich verbessern, wenn sie einen zweiten Bürovorsteher einstellen würde und somit Konkurrenz zwischen diesen beiden stimulieren würde. Bei diesem einfachen Beispiel kann man die verschiedenen Positionen bereits leicht in der Grafik visuell identifizieren (in der Regel wird – insbesondere bei größeren Netzwerken – dafür das Verfahren der Blockmodellanalyse eingesetzt, das in Abschnitt 4.2 eingeführt wird.) Wenn man die verschiedenen Positionen identifiziert hat, ist es möglich, die Netzwerkstruktur auf eine einfachere Struktur, die sogenannte Bildmatrix (Tabelle 2) abzubilden. Die Bildmatrix stellt nicht mehr die Beziehungen zwischen einzelnen Akteuren in den Zeilen und Spalten dar, sondern die Beziehungen zwischen strukturellen Positionen (die nun von mehreren Akteuren gemeinsam besetzt sein können.) Die Einträge in der Matrix stellen dar, ob zwischen den Positionen Beziehungen vorliegen oder nicht. Die Entwicklung derartiger Bildmatrizen, in denen die Zahl der Akteure und die Zahl der Beziehungen kleiner sind als in der Ausgangsmatrix, ist das Ziel von Verfahren zur Analyse struktureller Äquivalenz. Sie zeigen deutlicher als die oft sehr großen Ausgangsmatrizen die Struktur des Gesamtnetzwerks auf. Dabei gilt die Konvention, dass die Positionen nach ihrem Prestige, also nach der Anzahl der Einträge in ihrer Spalte, angeordnet werden. Dadurch werden Hierarchien wie in dieser Bildstruktur schnell sichtbar. Position 3
Position 2
Position 1
Position 4
Position 3
1
0
0
0
Position 2
1
-
0
0
Position 1
0
1
0
0
Position 4
0
0
0
-
Tabelle 2: Bildmatrix zum Ratsuche-Netzwerk mit Umordnung der Positionen
Strenge Hierarchien (nur Verbindungen zwischen benachbarten Hierarchieebenen) erkennt man an einem unterhalb der Hauptdiagonale verlaufenden Einser-Muster. Hier folgen die Blöcke 3, 2 und 1 einem solchen Muster. Möglich sind aber auch andere Muster, etwa eine
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Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
Zentrum-Peripherie-Struktur, in der prestigereiche Positionen in den Spalten und in den Zeilen viele Einträge aufweisen. Dies zeigt ihre starke Rolle für die Integration auch der peripheren Positionen in das Netzwerk an. Die Hauptdiagonale von oben links nach unten rechts lässt sich als Indikator für das Koordinationspotential in den einzelnen Positionen interpretieren. Eine Eins lässt auf starke interne Verbundenheit innerhalb der Position und gute Koordinationsmöglichkeiten schließen, eine Null indiziert fehlende interne Verbindungen. Hier erkennt man die gute interne Verbundenheit für Position 3 und die mangelnde Verbundenheit für Position 1. Über die jeweils nur aus einer Person bestehenden Positionen 2 und 4 lässt sich hinsichtlich ihrer internen Verbundenheit nichts sagen. Ob es überhaupt Beziehungen zwischen den verschiedenen Positionen im Netzwerk gibt, lässt sich an der Bildmatrix auf einen Blick erkennen. Netzwerke ohne solche Beziehungen haben nur Einträge in der Hauptdiagonale. Sie sind polarisiert und damit anfällig für Konflikte, sobald eine Kooperation zwischen verschiedenen Positionen erforderlich wird. In realen und größeren Netzwerken sind die verschiedenen Positionen und die Beziehungen der Positionen zueinander nicht so einfach und auch nicht mit bloßem Auge zu erkennen. Natürlich gehören auch nicht – wie in Tabelle 3 – die im Netzwerk benachbarten Akteure zu derselben Position. Es kann durchaus sein, dass strukturell ähnliche Akteure weit auseinander liegende Plätze in der Soziomatrix einnehmen. Erst die nach der gefundenen Gruppeneinteilung umgeordnete Soziomatrix (permutierte Matrix) weist ein annähernd so ordentliches Muster auf wie hier Tabelle 3. Noch verbleibende Musterabweichungen liegen daran, dass sich in aller Regel keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen dem Beziehungsmuster in der Ausgangsmatrix (mit den einzelnen Akteuren und den Beziehungen zwischen ihnen) und einer Bildmatrix (mit den Positionen und den Beziehungen zwischen ihnen) finden lässt. Wenn dies nicht möglich ist, dann definieren Positionen und Beziehungen einander wechselseitig. Es kommt darauf an, welche Akteure in der Umwelt einer potenziellen Akteurgruppe wieder als zu einer Position zusammengehörig begriffen werden, um die Frage zu beantworten, ob zu dieser Akteurgruppe eine Beziehung besteht oder nicht. Sobald die Akteure in ihren Beziehungsprofilen nicht völlig übereinstimmen, was empirisch so gut wie nie der Fall ist, gibt es hier mehrere Möglichkeiten der Zuordnung. 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
-
0
0
0
1
0
0
0
0
0
2
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-
0
0
1
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0
0
0
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0
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0
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0
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0
-
0
1
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0
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0
0
-
0
0
0
0
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0
0
0
0
0
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1
1
1
8
0
0
0
0
0
0
1
-
1
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0
0
0
0
0
1
1
-
1
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0
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0
0
0
0
1
1
1
-
Tabelle 3: Soziomatrix des Netzwerks der Ratsuche mit eingezeichneten Blöcken
◄ Nullblock
◄ Einsblock
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Für das entstehende Optimierungsproblem gibt es im Wesentlichen zwei Standardlösungsmöglichkeiten. Das Verfahren der Blockmodellanalyse entscheidet die Frage, welche Akteure einander ähnlich sind, anhand der Korrelationen zwischen den Beziehungsprofilen aller Akteure untereinander. Die Beziehungsprofile sind die Konstellationen von Beziehungen, die ein Akteur zu anderen Akteuren aufweist. Die Akteure, die gleiche (oder ähnliche) Konstellationen von Beziehungen aufweisen, werden in Gruppen zusammengefasst, die man Blöcke nennt. Dabei müssen Akteure in einem Block nicht direkt miteinander verbunden sein.17 Sind die Akteure ‚geblockt‘ worden, kann man nach den Beziehungen zwischen den Blöcken fragen. Die Blockmodellanalyse geht davon aus, dass vor allem das Fehlen von Beziehungen zwischen Gruppen aufschlussreich für die Identifikation von Sozialstrukturen ist (White et al. 1976). Dementsprechend hat die Blockmodellanalyse zunächst die idealtypische Strategie gewählt, die Unverbundenheit von Blöcken zum Ausgangspunkt zu nehmen. Umgekehrt und praktisch heißt dies, dass immer dann eine Beziehung zwischen zwei Blöcken vorliegt, wenn auch zwischen vielen Paaren aus Akteuren, die aus je einem der beiden Blöcke stammen, eine Beziehung vorliegt. Zwischen zwei Blöcken liegt nur dann keine Beziehung vor, wenn zwischen keinem Akteurspaar (oder nur ganz wenigen Akteurspaaren) mit Akteuren aus je einem der beiden Blöcke eine Beziehung vorliegt. Das ist das sogenannte Nullblockkriterium (White et al. 1976: 739). Nun kann man so eine Bildmatrix bilden, die in den Zeilen und Spalten die Blöcke abträgt. In den Zellen der Bildmatrix steht dann eine 1, wenn zwischen dem Block in der Spalte und dem in der Zeile eine Beziehung besteht, sonst steht eine 0.18 Eine ‚Aufweichung‘ des Nullblockkriteriums erfolgt, wenn man sich an der mittleren Dichte der Beziehungen zwischen je zwei Blöcken orientiert. Die Dichotomisierung in 0- oder 1Beziehungen wird dabei so mit dem Kriterium der mittleren Netzwerkdichte durchgeführt, dass Dichten unterhalb der mittleren Dichte zu einer 0, höhere Dichten zu einer 1 in der Bildmatrix führen.19 Das zweite Verfahren zur Analyse struktureller Äquivalenz ist die von Burt (1982) entwickelte Clusteranalyse von Beziehungsprofilen. Sie basiert ebenfalls auf dem Vergleich der Beziehungsprofile aller Akteure. Entscheidend sind hier aber nicht die Korrelationen zwischen den Profilen, sondern ihre Distanzen in einer euklidischen Metrik. Anhand dieser Distanzen wird eine Clusteranalyse durchgeführt, in der ähnliche Akteure sukzessive zu
17
Das Verfahren der Gruppierung von Akteuren in Blöcke hat der Blockmodellanalyse ihren Namen gegeben.
18
Verwirrend ist, dass nicht nur die gruppierten Akteure „Blöcke“ heißen, sondern auch die Felder in den permutierten Ausgangsmatrizen, in denen die Spalten und Zeilen so vertauscht wurden, dass Akteure eines Blocks zusammenstehen.
19
Wichtig ist noch der Hinweis, dass – je nach Beziehungsart – auch die Beziehung eines Blocks mit sich selbst bedeutsam sein kann. Wenn beispielsweise viele Akteure in einem Block sich untereinander wählen – also untereinander hinsichtlich dieser Beziehungsart direkt verbunden sind – dann gibt die 1 in der Diagonalen der Bildmatrix das an. Wenn die Akteure sich in einem Block untereinander nicht wählen, dann steht entsprechend in der Diagonalen der Bildmatrix für den Block eine 0.
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Dorothea Jansen und Rainer Diaz-Bone
Gruppen zusammengefügt werden. Weitere Vorannahmen wie das Nullblockkriterium gibt es bei diesem Verfahren nicht (vgl. hierzu ausführlicher Jansen 2006: Kap. 8).20
4
Soziales Kapital und Exzellenz in einem Forschungsnetzwerk
Die Einbindung in ein Forschungsnetzwerk stellt einen wichtigen Faktor für die Qualität und Innovativität von Forschung dar. Dies zeigte sich z. B. bei der Analyse eines britischen Forschungsnetzwerks zu einem Teilgebiet der Physik, der Supraleitung. Die Entdeckung der Hochtemperatursupraleitung (HTS) durch Georg Bednorz und Alex Müller (1986), für den sie 1987 den Nobelpreis erhielten, bewirkte in dieser Forschungsgemeinschaft einen Umbruch und eröffnete neue Perspektiven. Durch HTS, ein auch technologisch bedeutsames Phänomen, entstanden neuartige Interdependenzen zwischen Disziplinen (insbesondere Physik und Chemie/Materialforschung), zwischen Organisationen (insbesondere Universitäten und Industrie) und zwischen Branchen (Energietechnik, Elektronik, Chemie). In einer Studie zur Entwicklung der HTS-Forschung in Großbritannien (Jansen 1995, 1998) wurde der Vermutung nachgegangen, dass sich soziales Kapital, welches aus der Zusammenführung von Expertise und Anwendungschancen sowie aus der Einbindung in ein Forschungsnetzwerk resultiert, positiv auf die Forschungsqualität auswirkt.
4.1 Erhebung der Netzwerkdaten Die Forschungsqualität von 36 Forschungsgruppen wurde über eine schriftlich durchgeführte Reputationsmessung ermittelt. Die wissenschaftlich-technische Reputation einer Forschungsgruppe wurde durch die Frage nach den fünf nationalen Forschungsgruppen operationalisiert, die nach der Entdeckung der Hochtemperatursupraleitung die bedeutsamsten wissenschaftlichen oder technischen Beiträge geleistet hatten. Dabei waren Rangplätze von 1 bis 5 zu vergeben. Die Rangplätze wurden in Punkte umcodiert und eine Punktesumme pro genanntem Akteur gebildet. Die maximal erreichte Punktesumme betrug 138 Punkte, die minimale betrug 0. Ebenso wurde nach den hoch reputierten Forschungsgruppen im Bereich der Supraleitung vor Entdeckung der HTS gefragt. Hier war die maximal erreichte Punktzahl 88.
20
Beide Verfahren der Analyse struktureller Äquivalenz unterscheiden sich von den verbundenheitsorientierten Cliquenanalysen auch dadurch, dass parallel mehrere Beziehungen für das gleiche Akteurset untersucht werden. Die gefundene Block- oder Positionseinteilung der Akteure spiegelt also die Struktur nicht nur in einer Beziehungsdimension, sondern in mehreren Beziehungen wider. Anders als die Cliquenanalyse liefern die Verfahren der Analyse struktureller Äquivalenz auch nicht nur Informationen über die bloßen Gruppenzugehörigkeiten, sondern auch über das Verhältnis der Gruppen zueinander, das sich durch die Analyse der Bildmatrix erschließen lässt.
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital
97
Zur Erhebung der sozialen Einbettung der Forschungsgruppen wurden vier Beziehungen mit einem Raster ermittelt, in dem alle beteiligten Forschungsgruppen aufgeführt waren: Kontakt, Forschungskooperation, Einfluss in der Forschungspolitik und wahrgenommene Ähnlichkeit der wissenschaftlichen und forschungspolitischen Positionen.
4.2 Blockmodellanalyse Für die vorliegende Fragestellung stehen die beiden ersten Beziehungsformen Kontakte und Forschungskooperation im Mittelpunkt, so dass sich die folgende Analyse wesentlich auf das Kontaktnetzwerk und das Kooperationsnetzwerk bezieht. Dabei wird soziales Kapital auf zwei Analyseebenen betrachtet: Im ersten Schritt wird eine Zerlegung des Netzwerks in strukturell äquivalente Teilgruppen oder Blöcke auf der Basis aller vier Relationen vorgenommen. Die oben in Abschnitt 3.3 beschriebene Gruppierung der Akteure wird technisch als schrittweise Zerlegung zunächst der Gesamtheit der Akteure in zwei Blöcke durchgeführt. Anschließend werden in den Zwischenschritten jeweils existierende Blöcke weiter aufgespalten, bis man ein endgültiges Resultat erhält, das sich gut interpretieren lässt. Danach wird die relative Position der Blöcke zueinander untersucht und mit der Heterogenität der Blöcke in anderen Merkmalen (Disziplinen, Organisationstypen) und ihrer durchschnittlichen Forschungsqualität verglichen. In einem weiteren Schritt wird die Forschungsqualität der Akteure auf der Mikroebene untersucht. Als Prädiktoren werden dabei verschiedene Zentralitäts-, Prestige- und Machtindikatoren eingesetzt. Das beste und aussagekräftigste Modell war eine Aufgliederung in fünf Teilgruppen. Tabelle 4 zeigt die Blockaufteilung und die Bildmatrizen für die hier wesentlichen Relationen „Kontakt“ und „Kooperation“.21
21
Es handelt sich um eine Blockmodellanalyse, in die die Spaltenbeziehungen in allen vier Relationen unter Einbeziehung der Hauptdiagonale eingegangen sind. Die Berechnung wurde mit dem Programm SONIS durchgeführt. Vgl. ausführlicher Jansen 1995.
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a) Blockaufteilung Block 1
Universitäre und industrielle Spitzenforschungsgruppen (n=9)
Block 2
Magnet- und Energietechnikindustrie inklusive Vorprodukte (n=7)
Block 3
Elektronikforscher aus Government-Labs und Industrie (n=7)
Block 4
Periphere akademische Akteure (n=11)
Block 5
Forschungsförderer und forschungspolitische Akteure (n=11)
b) Bildmatrix des Kontaktnetzwerks Block 1
Block 2
Block 3
Block 4
Block 5
Block 1
1
1
1
1
1
Block 2
1
1
0
0
1
Block 3
1
1
1
0
1
Block 4
1
0
0
0
0
Block 5
0
0
0
0
0
Mittlere Dichte =0,3081; b-fit=0,2482 c) Bildmatrix des Forschungskooperationsnetzwerks Block 1
Block 2
Block 3
Block 4
Block 5
Block 1
1
1
1
1
0
Block 2
1
1
0
0
0
Block 3
1
0
1
0
0
Block 4
1
0
0
0
0
Block 5
0
0
0
0
0
Mittlere Dichte ohne Berücksichtigung des forschungspolitischen Blocks =0,23; b-fit=0,508
Tabelle 4: Kontakt- und Forschungskooperationsnetzwerk
Man erkennt eine für Wissenschaftlernetzwerke typische sogenannte Zentrum-PeripherieStruktur. Der erste Block wird von allen anderen Blöcken gewählt und unterhält auch selbst Beziehungen zu allen anderen Blöcken. Das gilt für alle Relationen. Instruktiv für das Verhältnis zwischen den Blöcken ist auch der iterative Prozess der Ermittlung der Teilgruppen. Er zeigt, wo die klarsten Differenzen in den Beziehungsprofilen liegen. Im ersten Schritt teilt sich das Netzwerk in ein übergeordnetes Machtzentrum und die peripheren akademischen Forschungsgruppen (Block 4). Aus dem Machtzentrum spaltet sich sodann eine Gruppe der staatlichen bzw. forschungspolitischen Akteure (Block 5) ab, die keine Beziehungen zur akademischen Peripherie unterhalten. Hierdurch unterscheiden sie sich vom Zentrum der Struktur. In den nächsten beiden Schritten differenzieren sich aus dem Zentrum zwei Gruppen von Forschungsakteuren heraus: eine Gruppe von Elektronikforschern aus Industrie und
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außeruniversitärer Forschung (Block 3) und eine von der Industrie dominierte Gruppe von Energietechnikforschern (Block 2). Im Binnenverhältnis zwischen diesen beiden Gruppen sieht man im Kontaktnetzwerk ein sogenanntes Deferenzmuster. Die Elektronikforscher halten Kontakt zu den Energietechnikforschern, von diesen wird der Kontakt aber nicht erwidert. Block 1 der Spitzenforscher ist der einzige Block, der sowohl im Kontaktnetz als auch im Forschungsnetz die von den anderen Forschungsblöcken ausgehenden Beziehungen erwidert (Zentrum-Peripherie-Muster). In der Forschungskooperation (Tabelle 4c) zeigt sich für das Verhältnis von Block 2 und 3 ein Polarisationsmuster: Beide Gruppen sind intern gut verbunden, kooperieren aber nicht miteinander. Bis auf die akademische Peripherie weisen alle Blöcke intern starke Kooperationsintensitäten auf. Die Null in der Hauptdiagonale zeigt die Schwäche des Blocks 4 an. Die Spitzengruppe (Block 1) ist das akademische Zentrum des Netzwerks: alle anderen Blöcke kooperieren mit Block 1, nicht zuletzt um vom hohen Status dieses Blocks zu profitieren. Die vier Blöcke aus Forschungsakteuren unterscheiden sich nicht nur in ihrer Einbettung in das Netzwerk, sondern auch in der organisatorischen Heterogenität in den Blöcken und der disziplinären Heterogenität in den Forschungsgruppen. Die disziplinäre Heterogenität in den Forschungsgruppen wurde gemessen über eine Zählvariable, die über neun verschiedene Disziplinen lief (Spalte Disziplin, Tabelle 5). Die Organisationsheterogenität (Spalte Organisationstyp, Tabelle 5) wurde anhand der Zusammensetzung nach den drei großen Organisationstypen (Universitäten, außeruniversitäre staatlich finanzierte Forschungsinstitute, Industrieforschung) mit Simpsons normierten D gemessen, wobei D=1 maximale Heterogenität und D=0 maximale Homogenität indiziert. Sowohl die mittlere Anzahl der in den einzelnen Forschungsgruppen vertretenen Disziplinen als auch die Heterogenität in der Organisationszugehörigkeit ist im Block 1, der Spitzenforschungsgruppe im Zentrum der Sozialstruktur, deutlich größer als in der akademischen Peripherie. Während der Elektronikblock 3 ebenfalls eine sehr heterogene Zusammensetzung aufweist, ist der Energietechnikblock 2 hinsichtlich der Organisationsformen völlig homogen: In ihm sind nur Industrieunternehmen vertreten. Dieser Block weist dann aber im Vergleich auch die geringere Forschungsqualität auf (s. die letzten beiden Spalten, Tabelle 5). Block
Disziplin
Organisationstyp
Mittlere Punktsumme vor HTS
nach HTS
1
4,00
0,85
25,56
37,44
2
2,43
0,00
4,17
0,50
3
1,71
0,92
7,00
6,14
4
1,54
0,20
1,92
1,83
Tabelle 5: Blöcke nach Heterogenität in Disziplin, Organisationstyp und Forschungsqualität (vor und nach HTS)
Tabelle 5 zeigt die mittlere Punktsumme der vier Blöcke für die Forschungsqualität vor und nach der Entdeckung der HTS. Die Blockzugehörigkeit hängt in hohem Maße mit der For-
100
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schungsqualität zusammen. Forschungsgruppen aus Block 1 im Zentrum der Sozialstruktur und mit hoher disziplinärer und organisationstypbezogener Heterogenität haben die höchsten Punktzahlen. Von den neun Forschungsgruppen in Block 1 belegen acht die ersten acht Plätze in der Forschungsqualität (nach HTS). Die akademischen peripheren Gruppen erreichen vor HTS die geringste mittlere Punktzahl. Block 2 und 3 liegen vor HTS im Mittelfeld. Offenbar hatte nach HTS der Elektronikblock die besseren wissenschaftlichen Chancen und konnte diese auch in beachtete Forschung und Reputation umsetzen. Block 2 rutschte dagegen auf den letzten Platz noch hinter die akademische Peripherie ab.22
4.3 Analyse von Zentralität und Prestige Auch auf der Mikro-Ebene der Akteure ergibt sich ein starker Zusammenhang zwischen der sozialstrukturellen Einbettung der Forschungsgruppen und der Qualität, die ihren Forschungsarbeiten zu HTS von der Scientific community zugemessen wird. Zwar ist die Forschungsqualität vor und nach der Entdeckung von HTS in hohem Maße korreliert (r = 0,67). Die Varianz in der Forschungsqualität zu HTS lässt sich jedoch zu 55% nicht durch die frühere Forschungsqualität erklären. Die Hinzunahme der sozialstrukturellen Einbettung führt in allen Fällen zu einer Verbesserung des Modells. Wie kann man nun den Einfluss der Netzwerkstruktur auf die Forschungsqualität einzelner Akteure im Netzwerk analysieren? Anhand von Regressionsanalysen wird dies versucht, indem die Forschungsqualität als abhängige Variable zurückgeführt wird auf netzwerkanalytische Indikatoren wie Zentralität und Prestige als unabhängige Variablen. Diese Analysen werden zudem für zwei der vier erhobenen Beziehungsformen gesondert durchgeführt: für das Netzwerk der Kontakte und das Netzwerk der Forschungskooperationen. Diese Art der Analyse zeigt, dass man netzwerkanalytische Maßzahlen heranziehen kann, um diese in die in der Sozialforschung üblichen multivariaten Analyseverfahren (wie die multiple Regressionsanalyse) als Variablen eingehen zu lassen. Die Tabelle 6 zeigt die standardisierten Regressionskoeffizienten (jeweils Spalte Beta)23 verschiedener Zentralitäts- und Prestigekennziffern für die Akteure, die jeweils mit Hilfe einer linearen Regression auf die Forschungsqualität ermittelt wurden. Neben dem bivariaten Modell (nur eine unabhängige Variable) ist jeweils ein Modell unter Einbezug der Forschungsqualität vor HTS gerechnet worden und die mit beiden Variablen erreichte erklärte Varianz angegeben (jeweils Spalte Erklärte Varianz).
22
23
Hohe Forschungsqualität hängt allerdings nicht notwendig mit politischem Einfluss zusammen. Ihre politischen Ziele konnten weder der erste noch der dritte Block durchsetzen, sondern Block 2 – trotz niedrigster Forschungsqualität. Seine interne Homogenität und eine im Vergleich zu Block 1 höhere Hierarchisierung in den internen Beziehungen waren für die bessere Position gegenüber der Forschungspolitik ausschlaggebend (vgl. Jansen 1995). Die Standardisierung von Regressionskoeffizienten erfolgt, um die Auswirkung unterschiedlicher Messeinheiten, in denen Regressionskoeffizienten vorliegen, zu normieren und damit die Regressionskoeffizienten untereinander vergleichbar zu machen.
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101
im Kontaktnetzwerk
im Forschungskooperationsnetzwerk
Beta
r2
Erklärte Varianz*
Beta
r2
Erklärte Varianz*
Indegree-Prestige
0.65
0.43
0.75
0.73
0.54
0.61
Outdegree-Zentralität
0.40
0.16
0.69
0.42
0.18
0.72
Betweenness-Zentralität
0.51
0.26
0.71
0.86
0.73
0.74
Degree-Zentralität im symmetrisierten Netz
0.54
0.29
0.71
0.58
0.34
0.54
0.52
0.27
0.71
0.52
0.27
0.71
0.56
0.32
0.51
0.70
0.49
0.59
Bonacich-Zentralität Bonacich-Macht im negativ verbundenen Netz
* mit Drittvariable Forschungsqualität vor HTS Tabelle 6: Forschungsqualität in Abhängigkeit von Zentralität und Prestige
Indegree und Outdegree werden als einfachste Maßzahlen für Prestige und Zentralität verwendet. Indegrees messen den Status, den sozialen Einfluss und die Wertschätzung im Netzwerk, Outdegrees messen den Informationszugang und die unternehmerischen Chancen (vgl. Abschnitt 3.1). Beide Variablen beziehen sich nur auf die direkten Beziehungen von Ego. Weiter wird Freemans Betweenness-Maß verwendet. Es misst, wie oft ein Akteur als Makler auf dem kürzesten Weg zwischen anderen Akteurpärchen liegt. Je öfter dies der Fall ist, desto größer sollten seine unternehmerischen Chancen sein. Daneben werden zwei weitere Maßzahlen verwendet, die neben den direkten auch die indirekten Beziehungen von Ego berücksichtigen. Weiter erfassen diese Maßzahlen, welches Gewicht bzw. welche Macht die mit Ego direkt und indirekt verbundenen Akteure haben. In Bonacichs Zentralitätsmaß ist ein Akteur um so zentraler, je häufiger er mit anderen zentralen Akteuren zu tun hat. Das Maß ist leider nur für symmetrische Netzwerke berechenbar. Zum Vergleich ist deshalb die einfache Degree-Zentralität für das symmetrisierte Netz, die nur die direkten Beziehungen von Ego verwertet, mit aufgeführt. Das Maß bezieht sich auf positiv verbundene Netzwerke. Auf negativ verbundene Netzwerke bezieht sich Bonacichs Machtmaß. Es impliziert, dass die Macht eines Akteurs sinkt, wenn er es mit mächtigen anderen Akteuren zu tun hat. Auch dieses Maß lässt sich nur für symmetrische Netzwerke berechnen.24 Erwartungsgemäß beeinflussen alle Zentralitäts- und Prestigevariablen die Forschungsqualität der Akteure positiv, wobei die Position im Forschungskooperationsnetz deutlich wichtiger für die Vorhersage der Forschungsqualität ist als die im Kontaktnetzwerk. Das IndegreeMaß ist zwar eine simple Konstruktion, da es nur die direkt eingehenden Beziehungen misst; 24
Alle Maßzahlen wurden mit dem Programm UCINET IV berechnet. Obwohl Maße des sozialen Einflusses und Maße für unternehmerische Chancen und strukturelle Autonomie Unterschiedliches messen, ist ihre Interkorrelation selbst für die beiden verschiedenen Netzwerke noch so hoch, dass die gleichzeitige Schätzung von Koeffizienten für beide Maßzahltypen wegen hoher Kollinearität nicht möglich ist.
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dennoch eignet es sich erstaunlich gut als Prädiktor für die Forschungsqualität. Es korreliert in beiden Netzwerken höher mit der Forschungsqualität als die Outdegree-Zentralität oder die Degree-Zentralität im inklusiv symmetrisierten Netzwerk (wenn man die Beta-Werte oder die r2-Werte betrachtet) und wird auch weniger durch die Drittvariable „Forschungsqualität vor HTS“ überlagert. Während die Forschungsqualität vor HTS alleine nur 45% der Varianz der HTS-Forschungsqualität erklären kann, führt die Hinzunahme des IndegreePrestiges im Kooperationsnetz zu einer besseren Varianzaufklärung (61%) und im Kontaktnetz zu 75%. Dies deutet wie schon die Zentrum-Peripherie-Struktur des Blockmodells darauf hin, dass soziale Anerkennung und Einfluss wichtiger für die Vorhersage von Forschungsqualität sind als die bloße Netzwerkeinbindung.25 In die gleiche Richtung deutet ein nicht in die Tabelle aufgenommener Befund: Maßzahlen wie die Closeness-Zentralität und das Proximity-Prestige, die neben den direkten Beziehungen auch die indirekten (mit ihrer Nähe gewichteten) Beziehungen berücksichtigen, tragen sehr wenig zur Erklärung der Forschungsqualität bei. Die Effizienz von Kontakt- und Kooperationsnetzwerken ist offenbar auf direkte Beziehungen angewiesen, Informationen über ‚Hörensagen‘ sind nicht brauchbar. Auch bei diesen Maßzahlen sind die Prestigevariablen erklärungskräftiger als die Zentralitätsvariablen.
4.4 Folgerungen Während das Kontaktnetzwerk offenbar überwiegend ein positiv verbundenes Netzwerk darstellt – die Vorhersagekraft (r2-Werte) sowohl des Betweenness-Maßes als auch des Bonacich-Machtmaßes sind relativ gering –, ist der Wettbewerb um attraktive Partner durchaus ein wichtiger Aspekt des Forschungskooperationsnetzwerks. Beide Maßzahlen operationalisieren die Chancen, als Makler tätig werden zu können. Beide Indikatoren (genauer: die damit operationalisierten Sachverhalte) haben einen starken Einfluss auf die beurteile Forschungsqualität (vgl. hohe Beta-Koeffizienten in Tabelle 6). Der Unterschied in der Qualität der beiden Netzwerke deutet sich auch in den unterschiedlichen Dichten an. Die durchschnittliche Kapazität einer Forschungsgruppe für Kontakte ist deutlich höher als die für Kooperationen, die wesentlich mehr Personal- und Zeitressourcen in Anspruch nehmen (mittlere Dichte 0,31 vs. 0,23). Je begrenzter die Beziehungskapazitäten sind, desto intensiver wird der Wettbewerb, desto eher dominieren negative Verbindungen (wie Konkurrenz, Macht) das Netzwerk. Anders als bei den Einflussmaßzahlen (Indegree, BonacichZentralität), kommt es für die Messung von Positionsmacht in den negativ verbundenen Netzwerken erheblich auf die Berücksichtigung der indirekten Beziehungen an. Dies lässt sich an der besseren Vorhersageleistung (höhere r2-Werte) sowohl der BetweennessZentralität als auch der Macht im Vergleich zu dem einfachen Outdegree-Maß ersehen. Für die Position im Forschungsnetzwerk, das in höherem Maße unternehmerische Möglichkeiten eröffnet, gilt dies stärker als für das Kontaktnetz.
25
Hier mag dies jedoch auch durch die Art der Messung von Forschungsqualität über die Reputation bei den Akteuren des Netzwerkes bedingt sein.
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital
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Als Ergebnis dieser Analyse lässt sich somit festhalten: Soziales Kapital in Form der strukturellen Einbettung von Forschungsgruppen in soziale Netzwerke wirkt sich positiv auf ihre Forschungsmöglichkeiten und ihre Forschungsqualität aus. Hohe Wertschätzung durch andere als Informationslieferanten und Gesprächspartner (Indegree-Prestige im Kontaktnetz) und hoher Status im Forschungskooperationsnetz (Indegree-Prestige im Kooperationsnetz) gehen einher mit hoch reputierten Forschungsarbeiten nach der Entdeckung der HTS. Während sich Maklerpositionen einer Forschungsgruppe im Kontaktnetzwerk nur wenig in bessere Forschungsbedingungen und höhere Forschungsqualität umsetzen lassen, ist diese Tendenz im Kooperationsnetzwerk stark ausgeprägt. Statushohe Forschungspartner sind begehrt und umkämpft. Solche Positionen eröffnen ertragreiche Kooperationsmöglichkeiten, die sich dann in anerkannten Forschungsarbeiten auszahlen.
5
Schlussbemerkung
Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse stellt eine aktuelle Position der strukturalistischen Soziologie dar. Im Gegensatz zu häufigen Rezeptionen der Netzwerkanalyse haben wir versucht deutlich zu machen, dass es sich nicht nur um einen methodischen ‚Werkzeugkasten‘ handelt, sondern dass die Netzwerkanalyse soziologische Konzepte anhand von netzwerkanalytischen Maßzahlen und Verfahren operationalisiert. Zugleich hat die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse in den letzten Jahren einige neue Impulse erfahren – ein zunächst außerwissenschaftlicher Grund dürfte das gestiegene Bewusstsein um die Vernetztheit sein, die sich aufgrund der weltweiten Etablierung des Internets und der Netzwerkmetaphorik eingestellt hat. Wissenschaftsinterne Gründe sind die parallel laufenden Entwicklungen von soziologischer Netzwerktheorie einerseits und neuen Techniken der Netzwerkanalyse andererseits – hier insbesondere für die Visualisierung von Netzwerkstrukturen und die Analyse von Netzwerkdynamiken (vgl. Jansen 2007, Snijders 2005). Spätestens mit der komplett neuen Version des Theorieentwurfs von Harrison White (2008) kann man von einer eigenständigen strukturalistischen Netzwerktheorie sprechen (vgl. hierzu einführend Holzer 2006). Zu einem weiteren Anstoß hat sicherlich die Rezeption des Smallworld-Ansatzes außerhalb der Soziologie geführt. Hier wurden neue Strategien der Modellierung (insbesondere mit Hilfe zufallsgenerierter Netzwerke und spezifischer Verteilungsformen) eingeführt. Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse hat sich mit den Arbeiten von White und seinen Schülern seit den 1970er Jahren nach und nach als ein einflussreiches sozialwissenschaftliche Paradigma im angloamerikanischen Raum etablieren können (Freeman 2004). Im deutschsprachigen Raum hat es immer wieder einzelne Forscherinnen und Forscher gegeben, die (häufig in kleinen Teams) eine Etablierung dieses Ansatzes versucht haben. Nun scheint eine solche Etablierung erst in den Jahren ab 2000 erfolgreich gelungen zu sein. Heute kann
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man von einem wahrnehmbaren Feld der Netzwerkforschung auch im deutschsprachigen Raum sprechen.26
6
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Was man leicht anhand einiger Indikatoren belegen kann: In der Deutschen Gesellschaft für Soziologie wird eine AG Netzwerkforschung eingerichtet. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von deutschsprachigen Einführungstexten. Im VS Verlag ist eine Reihe „Netzwerkforschung“ eingerichtet worden. Die Zahl der Lehrveranstaltungen, Workshops und Summerschools zur Netzwerkanalyse nimmt kontinuierlich zu.
Netzwerkstrukturen als soziales Kapital
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Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse Johannes Weyer, Robin D. Fink und Tobias Liboschik
1
Einleitung
Die Netzwerkforschung hat sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt und ausdifferenziert. Das kürzlich erschienene und von Christian Stegbauer und Roger Häußling herausgegebene „Handbuch Netzwerkforschung“ (Stegbauer/Häußling 2011) dokumentiert mit seinen fast 1000 Seiten die vielfältigen Facetten dieser Forschungsrichtung. Es gibt mittlerweile eine kaum noch überschaubare Anzahl qualitativer Fallstudien, und auch die Versuche einer Verknüpfung von Netzwerk-Analyse und soziologischer Theorie schreiten sichtbar voran. Die deutlichsten Fortschritte der Netzwerkforschung lassen sich jedoch zweifellos im Bereich der Methoden diagnostizieren. Der von Volker Schneider et al. herausgegebene Sammelband „Politiknetzwerke“ (Schneider et al. 2009) belegt dies anschaulich, versammelt er doch Beiträge, die Visualisierungs-Techniken, diskursanalytische Verfahren oder KoZitationsanalysen als Methoden zur Erforschung und Analyse von Netzwerken einsetzen. Dass Dorothea Jansens „Einführung in die Netzwerkanalyse“ (2006), die Methodenorientierung mit theoretischem Anspruch verbindet, innerhalb weniger Jahre in drei Auflagen erschienen ist, rundet das Bild ab. Und schließlich sei auf den Sammelband „Innovation Networks“ von Andreas Pyka und Andrea Scharnhorst (2009) verwiesen, der Netzwerk-Analyse und Computersimulation miteinander verknüpft. Der folgende Beitrag präsentiert zwei softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse in einer Weise, die es Studierenden ermöglicht, diese Techniken für eigene Arbeiten einzusetzen. Es handelt sich um das Software-Programm UCINET, mit dem klassische Verfahren der Netzwerk-Analyse wie etwa die Berechnung der Degree-Zentralität am Computer durchgeführt werden können (Abschnitt 2), sowie um die Methode der agentenbasierten Modellierung und Simulation (ABMS) sozialer Systeme, die sich vor allem für die dynamische Modellierung von Netzwerken eignet (Abschnitt 3). Ein kurzes Resümee (Abschnitt 4) ver-
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Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
gleicht die beiden Methoden, und der Epilog (Abschnitt 5) verknüpft schließlich die hier entwickelten Thesen mit der Macht der Datennetze, die das Thema des Kapitels „Netzwerke in der mobilen Echtzeitgesellschaft“ dieses Bandes sind.
2
Formale Netzwerk-Analyse mit UCINET
UCINET ist ein Software-Programm zur Analyse sozialer Netzwerke (www.analytictech.com/ ucinet; vgl. Borgatti et al. 2002). Mit seiner Hilfe lassen sich große Datenmengen bearbeiten und die betreffenden Netzwerke z. B. im Hinblick auf die Zentralität der Akteure analysieren. UCINET ermöglicht zudem, Affiliations-Netzwerke in verschiedenen Dimensionen zu analysieren. Zu Demonstrationszwecken verwenden wir hier einen Datensatz mit den Daten der Aufsichtsräte der DAX-30-Unternehmen (Stand 2002), den wir der Einfachheit halber der (halbseriösen) Internet-Seite www.miprox.de entnehmen.1 Wir verwenden hier die reduzierte Liste der Personen, die mindestens zwei Aufsichtsratsmandate innehaben; damit verkleinert sich die Liste der ursprünglich 29 Unternehmen (MLP fehlt mangels verfügbarer Daten), auf nur 25 Unternehmen. Denn unser Ziel ist es, anhand dieser Daten herauszufinden, wer die zentralen Akteure der deutschen Wirtschaft sind und wie die DAX-30-Unternehmen über Doppel- bzw. Mehrfachmitgliedschaften in Aufsichtsräten miteinander verflochten sind. Es handelt sich also um die Analyse eines bimodalen Netzwerks, das zwei Typen von Knoten enthält: Akteure (Personen) und Ereignisse (Unternehmen). Ein derartiges bimodales oder Affiliations-Netzwerk ermöglicht es, Beziehungen zwischen den Akteuren herzustellen, die an einem Ereignis gemeinsam teilnehmen (z. B. wenn sie Mitglieder eines Aufsichtsrats sind). Er ermöglicht aber auch, Beziehungen zwischen den Unternehmen herzustellen, die sich über die Personen konstruieren lassen, die in den Aufsichtsräten zweier oder mehrerer Unternehmen sitzen (Hanneman/Riddle 2005).2 Technisch geht man folgendermaßen vor: Zunächst werden die Rohdaten der Aufsichtsräte der DAX-30-Unternehmen von unnötigem ‚Ballast‘ befreit und auf die wesentlichen Merkmale reduziert, die hier von Interesse sind, und zwar den Nachnamen der Person (z. B. Ackermann) sowie die geläufige Kurzbezeichnung des Unternehmens (z. B. Bayer). Im nächsten Schritt wird mit Hilfe eines Tabellenkalkulationsprogramms eine Pivot-Tabelle angelegt, die die Daten verdichtet und zusammenfasst:
1
www.miprox.de/Wirtschaft_allgemein/Herren_der_Aufsichtsraete/Aufsichtsraete_Namensortiert.htm. Die Liste enthält drei Angaben: 1. das Unternehmen, in dessen Aufsichtsrat die betreffende Person sitzt, 2. den vollständigen Namen der Person und 3. Angaben zu deren beruflicher Position bzw. Funktion. Es handelt sich um eine private Kompilation der verstreuten Daten, die wir nicht weiter auf ihre Stimmigkeit hin überprüft haben. Dies schränkt den Wert und die Aussagekraft späterer inhaltlicher Schlussfolgerungen ein.
2
Studien zu „interlocking directorates“ und Unternehmensverflechtungen haben eine lange Tradition. Martin Höpner und Lothar Krempel (2004) haben in umfangreichen Untersuchungen zu Kapitalverflechtungen deutscher Unternehmen mit Hilfe netzwerkanalytischer Verfahren eine Auflösung der „Deutschland-AG“ im Zeitraum von 1996 bis 2002 diagnostiziert.
0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0
0 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
Summe
1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
…
BMW
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Linde
Bayer
0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0
…
BASF
Achleitner Ackermann Baumann Boehm-Bezing Breipohl Breuer Bsirske Cartellieri Cromme Doppelfeld Gaul Hartmann Henning Holzer …
Allianz
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
3 2 6 2 2 5 2 2 5 2 2 2 2 2
Tabelle 1: Aufsichtsräte der DAX-30-Unternehmen 2002 (Ausschnitt der Pivot-Tabelle)
Diese Tabelle zeigt, welche Person (Zeilen) in welchem Aufsichtsrat (Spalten) vertreten ist; die Summe gibt die Gesamtzahl der Aufsichtsrats-Mandate der betreffenden Person an. Josef Ackermann ist beispielsweise in zwei Aufsichtsräten vertreten, nämlich bei Bayer und Linde.
2.1 Akteur-Netzwerk Danach werden die Daten über den SPREADSHEET EDITOR von UCINET importiert und als „UCINET dataset“ gespeichert.3 Im nächsten Schritt wird dann die bimodale Matrix (Tabelle 1) in eine unimodale Akteur-Akteur-Matrix (Tabelle 2) konvertiert, um die Beziehungen (Affiliationen) zwischen den Akteuren zu analysieren, die sich über die gemeinsame Tätigkeit in den Aufsichtsräten der DAX-30-Unternehmen konstituieren. Über DATA > AFFILIATIONS öffnet man die zuvor angelegte UCINET-Datei und generiert mit der StandardEinstellung „row“ die Affiliationsdatei der Personen.4 Wie man der Tabelle 2 entnehmen 3
Wenn man die Pivot-Tabelle mit dem SPREADSHEET EDITOR öffnet, enthält sie auch die Zeilen- und Spaltensummen, die dann bei späteren Rechenoperationen stören. Es empfiehlt sich daher, die Daten vorher in ein leeres Tabellen-Blatt zu kopieren und die Summen zu löschen.
4
UCINET generiert zusätzlich ein Output-Log-File im TXT-Format, das mit einem Text-Editor geöffnet und gelesen werden kann. Will man die Ergebnisse in einer Textverarbeitung weiterverwenden, empfiehlt sich der etwas umständliche Weg über den Import in ein Tabellenkalkulationsprogramm („EXTERNE DATEN IMPORTIEREN“), von wo aus man dann die Tabelle in den Text kopieren kann.
112
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
Ackermann
Baumann
Boehm-Bezing
Breipohl
Breuer
Bsirske
Cartellieri
Cromme
Doppelfeld
∑ Beziehungen
∑ Personen
Achleitner Ackermann Baumann Boehm-Bezing Breipohl Breuer Bsirske Cartellieri Cromme Doppelfeld
Achleitner
kann, sitzen Karl-Hermann Baumann und Rolf-E. Breuer gemeinsam in drei Aufsichtsräten. Die Zeilensumme für Ackermann gibt zudem an, dass er zwölf Beziehungen zu Personen hat, mit denen er in unterschiedlichen Aufsichtsräten zusammentrifft, u.a. zu Achleitner und Baumann. Da er jedoch mit zwei Personen, nämlich Kohlhausen und Schneider (in der Tabelle nicht sichtbar), in zwei Aufsichtsräten gemeinsam tätig ist, reduziert sich die Zahl seiner Beziehungen zu anderen Personen auf zehn.
1 0 1 0 0 1 0 0 0
1 1 0 0 0 0 0 0 0
0 1 1 0 3 0 1 2 0
1 0 1 0 0 1 0 1 0
0 0 0 0 0 0 0 1 1
0 0 3 0 0 1 1 2 0
1 0 0 1 0 1 0 1 0
0 0 1 0 0 1 0 0 0
0 0 2 1 1 2 1 0 0
0 0 0 0 1 0 0 0 0 -
17 12 36 14 11 33 11 8 35 10
16 10 26 13 10 24 10 7 28 10
Tabelle 2: Affiliations-Matrix der Akteur-Beziehungen (Ausschnitt)
Aufschluss über die Struktur des Netzwerks der deutschen DAX-30-Aufsichtsräte gibt die Analyse der Degree-Zentralität, das durch Division der Anzahl der Beziehungen (Degree) eines Akteurs durch die Gesamtzahl aller möglichen Beziehungen im Netzwerk errechnet wird (vgl. den Beitrag von Jansen und Diaz-Bone, in diesem Band). Um diese Berechnung durchführen zu können, müssen die Daten jedoch zunächst dichotomisiert werden,5 weil sonst die unterschiedliche Stärke der Beziehungen die Berechnungen verzerrt.6 Im Hauptfenster von UCINET wird über NETWORK > CENTRALITY > DEGREE die dichotomisierte unimodale Affiliationsdatei der Personen aufgerufen; die Diagonalwerte, welche die Beziehungen der Personen zu sich selbst anzeigen, werden nicht berücksichtigt. 5
Die Dichotomisierung transformiert die numerischen Werte einer Matrix in eine binäre Form (1/0), indem sie die Stärke der Beziehungen eliminiert und – je nach vorgegebenem Schwellenwert – nur nach bestehender Beziehung (in den Feldern steht dann eine Eins) und nicht-bestehender Beziehung (Null) unterscheidet. Im SPREADSHEET EDITOR von UCINET gibt man ein: TRANSFORM > DICHOTOMIZE. Im vorliegenden Fall wurde als Schwellenwert 1 genommen, d. h. alle Werte, die größer oder gleich eins waren, wurden in eine Eins transformiert.
6
Man kann die Berechnung der Degree-Zentralität selbstverständlich auch mit der nicht-dichotomisierten Matrix durchführen, erhält dann aber völlig andere Werte, weil die Gesamtzahl der Beziehungen höher ist, wenn deren Stärke mit in die Berechnung einfließt. Für Schulte-Noelle ergeben sich z. B. folgende Werte: Degree 38.000, NrmDegree 19.792, Share 0.051.
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
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Die Daten werden jedoch als symmetrisch behandelt, weil jede Relation zwischen Akteur A und Akteur B zugleich eine Relation zwischen B und A darstellt. Das Ergebnis sieht wie folgt aus: 38 9 34 3 6 22 20 15 46 2
Schulte-Noelle Cromme Schneider Baumann Breuer Liesen Kohlhaussen Hubertus Voss … Ackermann
Degree 29.000 28.000 26.000 26.000 24.000 21.000 19.000 19.000 18.000
NrmDegree 60.417 58.333 54.167 54.167 50.000 43.750 39.583 39.583 37.500
Share 0.044 0.043 0.040 0.040 0.037 0.032 0.029 0.029 0.028
10.000
20.833
0.015
Tabelle 3: Degree-Zentralität der Akteure (Ausschnitt)
Wie man Tabelle 3 entnehmen kann, war Henning Schulte-Noelle im Jahr 2002 der zentralste Akteur im Netzwerk der DAX-30-Unternehmen: Er hatte rein quantitativ die meisten Beziehungen zu anderen Personen im Netzwerk, nämlich 29 (Spalte „Degree“), dicht gefolgt von Gerhard Cromme mit 28. Normiert auf die Gesamtzahl von 49 Personen, die dem Netzwerk angehörten und zu denen damit Beziehungen möglich gewesen wären, entsprach dies einem Anteil von 60,4 Prozent (Spalte „NrmDegree“). Bezieht man diese Zahl wiederum auf die Summe der Zentralitätsmaße aller Akteure (also die Spaltensumme der Spalte NrmDegree), so ergibt sich ein Anteil von 4,4 Prozent (Spalte „Share“). Die Tabelle zeigt auch, dass Ackermann damals noch keine zentrale Stellung im Netzwerk hatte; er besaß Beziehungen zu lediglich 10 anderen Akteuren (entspricht 20,8 Prozent der möglichen Beziehungen im Netzwerk).7 Damit lassen sich – bei allem Vorbehalt gegenüber der Qualität der Rohdaten – Aussagen über die Struktur des Netzwerks und die Position der Akteure im Netzwerk treffen, die sich auch grafisch visualisieren lassen.
7
Diese Interpretation gilt allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass alle Personen mit nur einem AufsichtsratsMandat aus dem Datensatz entfernt wurden (vgl. Fußnote 1). Wären sie enthalten, würde sich die Gesamtzahl der möglichen Beziehungen vergrößern und die Maßzahl NrmDegree entsprechend verringern.
114
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik Kley Schrempp
Breipohl Viermetz Holzer
Doppelfeld
Scholl Voss
Kahmann
Mönig-Raane Leysen
Kelly
Liesen Markl
Schulte-Noelle
Schulz Milberg
Strube
Woeste
Vogelsang
Cromme
Hubertus
Baumann Cartellieri
Breuer
Schneider
Walter Neuber Henning
Kohlhaussen
Jung
Pierer Strenger
Ackermann
Winkhaus
Achleitner
Boehm-Bezing
Schmidt
Schulte
Schinzler
Hartmann
Bsirske Titzrath
Miert
Oetker Pischetsrieder Gaul
Schipporeit Vita
Abbildung 1: Netzwerk der Aufsichtsräte der DAX-30-Unternehmen (2002)
Die zentralen Akteure Schulte-Noelle, Baumann, Cromme und andere sind hier deutlich als Zentrum des Netzwerks erkennbar, dessen Mitglieder untereinander stark verflochten sind und das zudem Beziehungen zu vielen peripheren Akteuren unterhält, die ihrerseits jedoch nur schwach vernetzt sind. Derartige Analysen erlauben erste Aussagen a) über die Struktur des Netzwerks und b) über die Macht und den Einfluss bestimmter Akteure innerhalb eines Netzwerks.8
2.2 Unternehmens-Netzwerk Die Struktur des Unternehmens-Netzwerks erhält man, indem man die bimodale Matrix in eine unimodale Event-Event-Matrix konvertiert, welche die Beziehungen zwischen den Unternehmen anzeigt, die über Personen (genauer: deren gemeinsame Tätigkeit im betreffenden Aufsichtsrat) konstituiert werden. Das Ergebnis sieht folgendermaßen aus:
8
Weiterführende Hinweise finden sich bei Jansen und Diaz-Bone sowie bei Stegbauer, in diesem Band.
Commerzb.
Daimler
Degussa
Dt. Bank
E.ON
Epcos
1 0 1 0 0 0 0 1 0
1 0 0 2 1 0 0 1 0
0 1 0 1 0 1 0 0 0
0 0 2 1 0 1 0 0 0
1 0 1 0 0 0 0 0 0
0 0 0 1 1 0 0 0 0
0 0 0 0 0 0 0 3 0
3 1 1 0 0 0 0 3 0
0 0 0 0 0 0 0 0 0 -
∑ Unternehmen
BMW
1 1 0 0 1 0 0 3 0
∑ Beziehungen
Bayer
ALLIANZ BASF BAYER BMW COMMERZB. DAIMLER DEGUSSA Deutsche Bank E.ON EPCOS
BASF
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
115
Allianz
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
18 7 19 10 11 9 8 13 30 1
12 7 14 10 9 9 7 8 14 1
Tabelle 4: Affiliations-Netzwerk der Unternehmen (Ausschnitt)
Zwischen den Firmen Bayer und Daimler existiert demzufolge eine Beziehung der Stärke 1, zwischen E.ON und der Allianz eine Beziehung der Stärke 3, welche die beiden Unternehmen miteinander verbindet. Dies lässt sich ebenfalls grafisch darstellen:
METRO
VW
MÜNCHNER RÜCK ALLIANZ
TUI (Preussag)
BASF RWE
BAYER
LINDE
E.ON
Deutsche Bank
MAN THYSSEN SIEMENS
LUFTHANSA
DAIMLER
EPCOS COMMERZBANK SCHERING DEGUSSA BMW INFINEON HENKEL TELEKOM
HYPO
Abbildung 2: Netzwerk der DAX-30-Unternehmen (2002)
116
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
Die zentralen Unternehmen E.ON, Linde, Allianz, Thyssen, Bayer und Lufthansa sind bereits in dieser Abbildung gut erkennbar. Wenn man nur die Kanten betrachtet, die sich über eine Beziehung mit einer Stärke größer als 1 konstituieren, die also durch mehr als ein Akteur-Pärchen miteinander verbunden sind, so wird das Bild noch deutlicher: BASF BMW DAIMLER EPCOS INFINEON MAN METRO
VW
MÜNCHNER RÜCK ALLIANZ
TUI (Preussag)
RWE
BAYER
LINDE
E.ON
Deutsche Bank
THYSSEN SIEMENS
LUFTHANSA
COMMERZBANK
SCHERING
DEGUSSA
HENKEL
HYPO TELEKOM
Abbildung 3: Netzwerk der DAX-30-Unternehmen (Relation > 1)
Dies bestätigt sich auch, wenn man (auf Basis der dichotomisierten Daten, s.o.) die Zentralität der Unternehmen im Netzwerk errechnet (vgl. Tabelle 5).9 Die Firma Thyssen war mit 18 weiteren Unternehmen vernetzt und realisierte damit einen Anteil an 75 Prozent an den möglichen Beziehungen zu den 25 Unternehmen, die in die Berechnung mit eingeflossen sind. Softwareprogramme wie UCINET eröffnen vielfältige Möglichkeiten der Auswertung von Netzwerkdaten. Somit bleibt die Frage, was man mit derartigen Verfahren sieht und was nicht.
9
Auch hier wird nochmal erkennbar, dass man für bestimmte Zwecke dichotomisierte, für andere Zwecke nichtdichotomisierte Daten verwendet.
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
23 14 3 9 1 15 18 24 4 19
THYSSEN LINDE BAYER E.ON ALLIANZ LUFTHANSA MÜNCHNER RÜCK TUI (Preussag) BMW RWE
Degree 18.000 16.000 14.000 14.000 12.000 12.000 11.000 11.000 10.000 10.000
NrmDegree 75.000 66.667 58.333 58.333 50.000 50.000 45.833 45.833 41.667 41.667
117 Share 0.077 0.068 0.060 0.060 0.051 0.051 0.047 0.047 0.043 0.043
Tabelle 5: Degree-Zentralität der Unternehmen (Ausschnitt)
2.3 Sinn und Zweck der formalen Netzwerk-Analyse Zunächst bleibt festzuhalten, dass die formale Netzwerk-Analyse ein leistungsfähiges Werkzeug ist, mit dessen Hilfe große Datenbestände auf Strukturen und typische Muster hin analysiert werden können. Zudem lassen sich die Positionen der Akteure bestimmen und nach diversen Kriterien Rangfolgen erstellen. Die Analyse der Einbettung eines individuellen Akteurs in ein Netzwerk ermöglicht es zudem, seine Identität und sein persönliches Profil zu bestimmen, aber auch Abweichungen von – wie auch immer definierten – Normalzuständen zu identifizieren (vgl. das Kapitel „Netzwerke in der mobilden Echtzeitgesellschaft“, in diesem Band). Allerdings sind die Zusammenhänge, die auf diese Weise ermittelt werden, analytische Konstrukte, die nichts darüber aussagen, ob die konstruierten Zusammenhänge von den Akteuren tatsächlich kommunikativ realisiert wurden; dies gilt insbesondere für unimodale Affiliations-Netzwerke, die aus bimodalen Netzwerken extrahiert werden (vgl. Abschnitt 2.1). Möglicherweise sind Ackermann und Baumann zwar formal Mitglieder eines Aufsichtsrats, haben aber noch nie miteinander gesprochen, weil mal der eine, mal der andere verhindert war. Eine Relation, wie sie mit Hilfe der Netzwerk-Analyse konstruiert wird, sagt nichts darüber aus, ob eine Interaktion tatsächlich stattgefunden hat, sondern nur darüber, dass die Chance dazu bestanden hat. Zudem kann die formale Netzwerk-Analyse die qualitativen Merkmale von Interaktion nicht beschreiben, weil sie die Beziehung zwischen den Akteuren rein formal aus den vorliegenden Daten konstruiert. Wollte man die realen Interaktionen beschreiben, so müsste man auf andere Verfahren der qualitativen Sozialforschung zurückgreifen, z. B. auf Interviews, ethnografische Verfahren oder teilnehmende Beobachtung. Ferner kann die formale Netzwerk-Analyse nichts darüber aussagen, ob die von ihr konstruierten Verbindungen sozial folgenreich sind, ob also aus der Tatsache, dass Ackermann und Baumann zusammen im Aufsichtsrat sitzen, irgendetwas Belangreiches folgt, z. B. die Wei-
118
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
tergabe wichtiger Informationen, eine engere Kooperation der beiden Herkunfts-Unternehmen, ein abgestimmtes Verhalten bei Vorstandswahlen usw. Auch die dargestellte Verflechtung der Unternehmen ist nur ein grober Hinweis auf mögliche Machtzentren der deutschen Industrie, die man mittels anderer empirischer Methoden genauer durchleuchten müsste, um zu aussagekräftigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Schließlich liefert die formale Netzwerk-Analyse, so wie sie hier präsentiert wurde, immer nur statische Momentaufnahmen, die eine Konstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden, der zudem meist in der Vergangenheit liegt. Man kann zwar, wie dies beispielsweise Höpner/Krempel (2004) getan haben, die Darstellung der Netzwerk-Strukturen mehrerer Jahre nebeneinander legen, um auf diese Weise Entwicklungen zu visualisieren wie beispielsweise die von ihnen diagnostizierte Auflösung der Deutschland-AG. Aber es ist kaum machbar, auf diesem Wege die Prozesse aufzuzeigen, die von der Struktur zum Zeitpunkt t0 zur Struktur zum Zeitpunkt t1 geführt haben. Und völlig unmöglich ist es, mit Hilfe der formalen Netzwerk-Analyse einen Blick in die Zukunft zu werfen. Dafür benötigt man andere Methoden, z. B. die Computersimulation, mit Hilfe derer sich dynamische Prozesse modellieren und die Entwicklung sozialer Strukturen im Zeitverlauf darstellen lassen (vgl. auch Jansen 2006: 275, 277; Schneider 2009: 20).
3
Computersimulation sozialer Netzwerke
Die agentenbasierte Modellierung und Simulation (ABMS) hat sich in den letzten Jahren als eine Methode entwickelt, die eine Lücke der soziologischen Forschung schließen könnte. Denn die bekannten soziologischen Methoden und Verfahren sind nur ansatzweise in der Lage, Prozesse der Aggregation abzubilden, wie sie sich beim Übergang von der MikroEbene der Akteur-Handlungen zur Makro-Ebene der sozialen Strukturen vollziehen (vgl. bereits Coleman 1995: 14). Der Anspruch von ABMS-Konzepten besteht darin, die basalen sozialen Mechanismen herauszufinden, die die Entstehung sozialer Ordnung erklären können; aber diese werden nicht auf der Makro-Ebene gesellschaftlicher Strukturen, sondern auf der Mikro-Ebene des Handelns von Akteuren bzw. Agenten gesucht. Innerhalb der ABMS-Community sind zwei unterschiedliche Konzepte für die Programmierung der Mikro-Ebene verbreitet:10 Das KISS-Prinzip (Keep It Simple, Stupid) basiert auf sehr einfachen Agentenmodellen und generiert damit komplexe, z.T. überraschende bzw. emergente Makro-Phänomene. Joshua M. Epstein und Robert Axtell haben mit ihrem Sugarscape-Modell eindrucksvoll gezeigt, dass durch simple Agentenregeln komplexe künstliche Gesellschaften entstehen können, in denen Strukturen auftreten, die auch in realen Gesellschaften zu finden sind (Epstein/Axtell 1996: 2; vgl. auch Sawyer 2005).
10
Vgl. die Diskussion auf der SIMSOC-Mailingliste „How intelligent are (https://www.jiscmail.ac.uk/cgi-bin/webadmin?A2=ind0806&L=SIMSOC&D=0&P=6608).
our
agents?“
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
119
Dem KISS-Prinzip stehen komplexere Agenten- und Entscheidungsmodelle, z.B intentionale BDI-Agenten (Bratman 1987) oder soziologisch fundierte SEU-Agenten (Fink/Weyer 2011) gegenüber, die bereits bei der Modellierung der Mikro-Ebene versuchen, der Komplexität des Handelns und Entscheidens realer Entscheider nahezukommen. Der Vorteil komplexer Agentenmodelle besteht in ihrem Potenzial zur Anbindung an die jeweilige Fachdisziplin: Im Falle der SEU-Agenten besteht beispielsweise eine direkte Anbindung an die soziologische Handlungstheorie und die damit verbundenen Möglichkeiten soziologischer Tiefenerklärungen.
3.1 NetLogo Agentenbasierte Simulationsprogramme wie etwa NetLogo (http://ccl.northwestern.edu/ netlogo) ermöglicht die Rekonstruktion biologischer, chemischer, mathematischer, physikalischer sowie sozialer Systeme. Die Ausbreitung von Waldbränden oder Seuchen lässt sich am Computer ebenso modellieren wie die Entwicklung künstlicher Sozialsysteme. All diese Modelle basieren auf der simplen Prämisse, dass sich ein System aus den Interaktionen seiner Komponenten konstituiert und dass es dazu keiner zentralen Steuerung bedarf, sondern die Prozesse selbstorganisiert ablaufen (Epstein/Axtell 1996; Resnick 1995; Krusch 2008). Die Komponenten sind softwarebasierte Agenten, die durch interne Zustände wie Alter, Geschlecht etc. charakterisiert sind, die spezifische Strategien verfolgen wie etwa Nahrungssuche, Informationsaustausch oder das Sammeln von Punkten in Gewinnspielen und die zudem in der Lage sind, mit ihrer Umwelt (also dem Spielfeld bzw. anderen Agenten) zu interagieren; auf diese Weise können sie lernen und ihr Verhalten optimieren. Die Technik der objektorientierten Programmierung ermöglicht es, die Eigenschaften jedes einzelnen Agenten softwaretechnisch zu kapseln, so dass jeder Agent individuelle Eigenschaften hat; zudem können mittels Parallelverarbeitung die Entscheidungsprozesse einer großen Zahl von Agenten nahezu simultan abgewickelt werden, so dass große Populationen heterogener Agenten am Bildschirm ‚gezüchtet‘ und deren Interaktionsprozesse beobachtet werden können (vgl. Epstein/Axtell 1996: 14f.; Resnick 1995: 42ff.). Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht jedoch die Dynamik des sozialen Systems, die sich aus den Interaktionen der Agenten ergibt. Die Agenten folgen dabei einer simplen Logik, nämlich der, die in ihrer Software implementiert wurde: den einen geht es ums Fressen, anderen hingegen um den Austausch komplexer Informationen, die sie benötigen, um eine Aufgabe zu lösen. Jeder Agent orientiert sich bei seinen Entscheidungen also an seinen individuellen Entscheidungsregeln (wo gibt es das meiste Futter, welche Information ist am wertvollsten) und erreicht so oftmals nur ein lokales Optimum (vgl. das Konzept des „adaptive walk“ und der Fitnesslandschaft bei Kauffman 1993; Kappelhoff 2009: 75-79; Schneider/Bauer 2009: 44-47). Er gestaltet damit aber die Randbedingungen des Handels der anderen Agenten, indem er beispielsweise Futtervorräte aufbraucht oder Informationen verbreitet. Das System ist also stets in Bewegung, aber es ist nicht von einem zentralen Steuerungs-Agenten gelenkt,
120
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
der es in Richtung eines globalen Optimums zu bewegen versucht, sondern es entwickelt sich evolutionär aufgrund der dezentralen Interaktionen der Teilnehmer.
3.2 Modellierung ABMS-Modelle bestehen in der Regel aus drei Komponenten: den Agenten, dem Spielfeld, auf dem sie sich bewegen, sowie den Regeln, denen die Interaktionen der Agenten mit anderen Agenten, aber auch mit den Feldern des Spielfelds folgen (vgl. Epstein/Axtell 1996: 4). Das Spielfeld ist meist schachbrettartig, so dass jede Zelle acht (hier grau dargestellte) Nachbarzellen hat, mit denen sie interagieren bzw. über die sich die Agenten bewegen können (vgl. Abbildung 4).
Z G G
Z
G
Z
Abbildung 4: Schachbrett-Struktur des Spielfeldes
Die generelle Regel, der alle Agenten folgen, könnte z. B. lauten, sich pro Spielzug ein Feld weiter zu bewegen, wobei die Richtung, die der jeweilige Agent einschlägt, von seinen individuellen Eigenschaften und Präferenzen abhängt. Im Modell Sugarscape, das Epstein und Axtell in den 1990er Jahren entwickelt haben, hängen die Aktionen der Agenten beispielsweise davon ab, ob sie mehr Interesse an Zucker (Z) oder an Gewürz (G) haben, wie weit ihr Sichtfeld reicht, in welcher Richtung das nächste erreichbare Gut liegt, an dem sie Interesse haben, usw. usf. (Epstein/Axtell 1996). Die Strategien zweier Agenten werden sich also in der Regel unterscheiden; es wäre reiner Zufall, wenn zwei Agenten gleich alt wären, gleich weit sehen könnten, einen gleich großen Bedarf an Zucker hätten etc. Diese Möglichkeit zur systematischen Berücksichtigung des Faktors Heterogenität ist einer der großen Vorzüge der Methode der Computersimulation gegenüber anderen Methoden der empirischen Sozialforschung, die Unterschiede typischerweise nivellieren, z. B. durch statistische Verfahren der Aggregation. Zudem lassen sich Prozesse, die sich in der Realität über Jahre bzw. Jahrzehnte erstrecken würden, im Computer binnen weniger Sekunden bzw. Minuten simulieren; ferner lassen sich die Parameter kontrolliert variieren, so dass er möglich wird, die Effekte bestimmter Variationen (wie beispielsweise unterschiedliche Grade der Kooperationsbereitschaft von Agenten) gezielt zu beobachten.
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
121
NetLogo ist einfach und lässt sich intuitiv programmieren, erlaubt aber auch die Entwicklung avancierter Programme bis hin zur objektorientierten Programmierung. Ein allererstes Programm, das selbst ungeübte Anwender innerhalb weniger Minuten schreiben können und mit dem sie bunte Muster auf den Bildschirm zaubern können, sieht folgendermaßen aus:11 to setup clear-all create turtles 100 ask turtles [ fd 10 ] end to go repeat 10 [ pen-down right 45 forward 10 pen-up forward 20 ] end
Abbildung 5: Programmcode in NetLogo
Auf diese Weise lassen sich erstaunlich komplexe Phänomene (auf der Makro-Ebene) generieren, obwohl die zugrundeliegenden Prozesse (auf der Mikro-Ebene) oft sehr einfach sind.12 Das „Game of life“ (www.bitstorm.org/gameoflife), das John Conway im Jahr 1970 programmiert hat, basiert auf dem Prinzip der zellulären Automaten, demzufolge das Verhalten einer Zelle vom Zustand der Nachbarzellen beeinflusst wird. Die Regeln sind extrem simpel, und dennoch entstehen durch Interaktion der Zellen komplexe Phänomene, die beim Betrachter den Eindruck erwecken, es handele sich um lebendige Wesen (vgl. das Programm „Life“ in der „Models Library“ von NetLogo).
3.3 Dynamische Prozesse und Mikrofundierung Die Computersimulation sozialer Prozesse hat zwei entscheidende Vorteile gegenüber der Visualisierung von Netzwerken, wie man sie beispielsweise mit Hilfe von UCINET vornehmen kann. Zum einen lassen sich dynamische Prozesse darstellen und nicht nur statistische Momentaufnahmen; die Entstehung und sukzessive Veränderung von Mustern auf der Makro-Ebene wird so erstmals einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich. Denn mit Hilfe globaler ‚Messfühler‘ lassen sich die Ergebnisse der Simulationsläufe bewerten, z. B. hinsichtlich der Frage, wie vielen Agenten es gelungen ist, die Aufgabe zu bewältigen, oder mit welcher Geschwindigkeit das Netzwerk wächst. Zum anderen ermöglicht die ABMS-Technik eine Mikrofundierung sozialer Prozesse; d. h. die Entwicklung emergenter Strukturen auf der Makro-Ebene kann systematisch auf die Prozesse der Mikro-Ebene bezogen werden. So kann man beispielsweise beobachten, was 11
Ein detailliertes Tutorial zu NetLogo mit vielfältigen Hilfestellungen und Code-Beispielen ist Bestandteil der Software.
12
Dies gilt jedoch nur für Modelle, die nach dem KISS-Prinzip konstruiert sind (s.o.).
122
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
passiert, wenn eine Gruppe egoistischer Nutzenmaximierer auf eine Gruppe kooperationswilliger Agenten trifft. Robert Axelrod hat in den 1980er Jahren Turniere durchgeführt, in denen Programme mit unterschiedlichen Strategien gegeneinander antraten – mit dem überraschenden Ergebnis, dass eine freundliche, aber provozierbare Strategie namens Tit-for-tat gewann, die nicht um jeden Preis auf Ausbeutung des Gegenübers aus war (Axelrod 1987, 1997; Hofstadter 1983). Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für einen emergenten Effekt, der sich als nichtintendiertes Ergebnis der intentionalen Handlungen einer Vielzahl autonom handelnder Akteure ergibt, ist der Verkehrsstau. Zunächst gilt, dass niemand ihn absichtlich herbeiführt, er aber trotzdem nur deshalb entsteht, weil jeder an seiner Entstehung mitwirkt. Zudem hat er unerwartete emergente Eigenschaften, die in den Regeln auf der Mikro-Ebene nicht aufzufinden sind: Die Autos bewegen sich nämlich vorwärts, der Stau als Makro-Phänomen hingegen mit einer konstanten Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung – wobei die Teilnehmer wechseln (vgl. Resnick 1995: 74, 141; Epstein/Axtell 1996: 33-35 sowie das Modell „traffic basic“ in Netlogo).
Abbildung 6: Segregations-Simulation mit NetLogo
Beispiel Segregation Zur Veranschaulichung der Leistungsfähigkeit der Computersimulation bei der Analyse von Mikro-Makro-Prozessen wählen wir hier das Simulations-Modell „Segregation“ aus der Modell-Sammlung von NetLogo, das auf den Arbeiten Thomas Schellings (1969) zur Segregation in US-amerikanischen Städten basiert (vgl. Epstein/Axtell 1996: 3; Resnick 1995:
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
123
81ff.). Schelling hatte behauptet, dass bereits eine geringe Präferenz jedes Einzelnen, zumindest einige Nachbarn der gleichen Hautfarbe (bzw. Religion, sexueller Orientierung etc.) zu haben, zu einer vollständigen Trennung der Bevölkerung in nahezu ‚gleichfarbige‘ Viertel führen würde. Zu Schellings Zeiten hatten die Computer noch nicht genug Rechnerleistung, um derartige Simulationen durchzuführen, aber der Mechanismus liegt auf der Hand: Jeder, der abwandert, weil beispielsweise fünf von acht Nachbarn eine andere Hautfarbe haben als er selbst, verändert die Balance – und zwar an zwei Stellen zugleich: Dort, wo er abwandert, verschlechtert sich die Situation für die verbleibenden Bewohner der gleichen Farbe; und dort, wo er zuwandert, verschlechtert sich die Situation für die bereits ansässigen Bewohner der anderen Farbe. Dieser Feedback-Mechanismus verändert also die Randbedingungen des Handelns aller beteiligten Agenten von Runde zu Runde, so dass das System so lange in Bewegung bleibt, bis sich alle in einem Zustand befinden, in dem sie sich, ihren Präferenzen entsprechend, wohlfühlen. Bei einem Toleranz-Level von 25 Prozent („%-similar-wanted“ 75%)13 gelangt man rasch zu einer Segregation von über 99 Prozent; d. h. 99 Prozent der Nachbarn sämtlicher Agenten haben die eigene Farbe wie diese selbst. Senkt man den Toleranz-Level auf – lebensweltlich gesprochen, recht liberale – 50 Prozent, so landet man immer noch bei ca. 87 Prozent (vgl. Abbildung 6). Und selbst wenn man es akzeptiert, dass 75 der Nachbarn (also sechs von acht – „%-similar-wanted“ 25%) eine andere Farbe haben, landet man bei ca. 60 Prozent, d. h. bei einer Verteilung, bei der sechs von zehn Nachbarn die gleiche Farbe haben. Dies bedeutet, dass Segregation – als das aggregierte Ergebnis der Wahlhandlungen autonomer Entscheider – auch dann zustandekommt, wenn niemand rassistisch denkt, sondern lediglich das Bestreben hat, von der anderen Hautfarbe, Religion, sexuellen Orientierung etc. nicht dominiert zu werden. Segregation ist als ein emergenter Effekt, der sich als nicht-intendiertes Produkt intentionaler Handlungen ergibt. Als Illustration dieses Mechanismus kann man die Verschiebung der Bevölkerungsgruppen in Bagdad in den Jahren 2003 bis 2007 heranziehen (vgl. Abbildung 7). Auch wenn eine monokausale Erklärung anhand von Toleranz-Levels sicherlich zu kurz greift und weitere Faktoren hinzugezogen werden müssen, so überrascht es doch, in welchem Maße die hier ablesbare Entwicklung mit den Ergebnissen der Segregations-Experimente übereinstimmt.
13
25 Prozent bedeutet hier, dass zwei der acht Nachbarzellen eine andere Farbe haben dürfen.
124
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
Abbildung 7: Bevölkerungsgruppen in Bagdad (FAZ 08.04.2008: 7)
Im Jahr 2003 bestand Bagdad zu großen Teilen aus gemischten Stadtvierteln, in denen Schiiten, Sunniten, Christen und andere zusammen lebten. Im Jahr 2007 bildeten diese gemischten Viertel nur noch eine verschwindende Minderheit gegenüber den Vierteln, die von einer Religionsgruppe dominiert wurde. Der Mechanismus liegt auf der Hand: Sobald Hass zwischen den Religionen gesät wird, sinkt die Tolerenz-Schwelle, das heißt, man fühlt sich nicht mehr wohl, möglicherweise sogar bedroht, wenn die Mehrheit der Nachbarn einer anderen Religion angehört. Man wandert folglich ab und setzt so eine Dynamik in Gang, die zwangsläufig zu einer starken Segregation führt. Auch in diesem Fall steckt die Komplexität, die sich auf der Makro-Ebene ergibt, nicht in den Regeln auf der Mikro-Ebene, die erstaunlich einfach sind (siehe den vollständigen Code in Abbildung 8). Die Regeln, die das Verhalten der Agenten steuern („to move-unhappyturtles“, „to find-new-spot“ und „to update-variables”), umfassen nur wenige Programmzeilen; der Rest sind der Aufbau des Spielfelds („setup“) sowie die Auswertung mittels globaler Variablen und Plots.
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
125
globals [ percent-similar percent-unhappy ] turtles-own [ happy? similar-nearby other-nearby total-nearby ] to setup clear-all if number > count patches ask n-of number patches [ sprout 1 [ set color red ] ] ask n-of (number / 2) turtles [ set color green ] update-variables do-plots end to go if all? turtles [happy?] [ stop ] move-unhappy-turtles update-variables tick do-plots end to move-unhappy-turtles ask turtles with [ not happy? ] [ find-new-spot ] end to find-new-spot rt random-float 360 fd random-float 10 if any? other turtles-here [ find-new-spot ] move-to patch-here end to update-variables update-turtles update-globals end to update-turtles ask turtles [ set similar-nearby count (turtles-on neighbors) with [color = [color] of myself] set other-nearby count (turtles-on neighbors) with [color != [color] of myself] set total-nearby similar-nearby + other-nearby set happy? similar-nearby >= ( %-similar-wanted * total-nearby / 100 ) ] end to update-globals let similar-neighbors sum [similar-nearby] of turtles let total-neighbors sum [total-nearby] of turtles set percent-similar (similar-neighbors / total-neighbors) * 100 set percent-unhappy (count turtles with [not happy?])/(count turtles)*100 end to do-plots set-current-plot „Percent Similar“ plot percent-similar set-current-plot „Percent Unhappy“ plot percent-unhappy end
Abbildung 8: Programmcode „Segregation“ (Quelle: NetLogo)
3.4 Simulation von Netzwerken Die Methode der Computersimulation ist in verschiedenen Kontexten angewendet worden: Als Verfahren zur Konstruktion künstlicher Gesellschaften durch dezentrale Interaktion autonomer Agenten („from the bottom up“, vgl. Epstein/Axtell 1996), beispielsweise im Fall von Nachbarschafts-Netzwerken (ebd.: 37ff.);
126
Johannes Weyer, Robin Fink, Tobias Liboschik
als Methode zur empirischen Rekonstruktion und Modellierung soziologischer Theorien (Malsch 1998; Kron 2002); als Instrument zur Überprüfung der Rational-Choice-Theorie, insbesondere mit Blick auf die Frage der Normentstehung (Lepperhoff 2000); als Methode zur Beschreibung und Analyse von Innovations- und Diffusionsprozessen (Pyka et al. 2009), als interaktiv angelegte Simulationsexperimente (Blikstein et al. 2006)14 sowie als Methode zur Modellierung der Interaktion menschlicher Akteure und nichtmenschlicher Aktanten. In Ergänzung und Erweiterung des Esser’schen Modells soziologischer Erklärung wurde ein komplexes Agentenmodell entwickelt, das auf einer theoretisch fundierten soziologischen Handlungstheorie basiert und auf der Mikro-Ebene situativ-überlegte Entscheidungen beinhaltet (Fink/Weyer 2011). ABMS-Techniken eignen sich besonders gut zur Analyse von Mikro-Makro-Verknüpfungen. Denn der Systemzustand ist stets das emergente Ergebnis der Interaktionen autonomer Agenten, deren Handlungsoptionen wiederum vom jeweiligen Systemzustand geprägt werden, der sich dynamisch verändert. Insofern eignet sich die Methode der Computersimulation auch zur Analyse der Entstehung und dynamischen Entwicklung von Netzwerken. Das NetLogo-Modell „Preferential Attachment“ ermöglicht beispielsweise, das Wachstum von Netzwerken zu beobachten, das durch das Hinzukommen neuer Knoten gespeist wird, die sich bei der Wahl ihrer Verknüpfung allerdings am Degree der bereits existierenden Knoten orientieren und Knoten mit einem hohen Degree präferieren (vgl. Abbildung 9). Man sieht hier, dass sich etliche Verfahren der formalen Netzwerk-Analyse wie etwa die Berechnung von Degrees auch in NetLogo durchführen lassen; da die Modelle frei programmiert werden können, sind der Fantasie zudem keine Grenzen gesetzt. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise die Veränderungen eines regionalen InnovationsNetzwerks analysieren; denn die Methode erlaubt nicht nur den Blick auf die Strukturen des Netzwerks, sondern berücksichtigt darüber hinaus auch dessen interne Dynamik, die auf den Interaktionen der Agenten beruht (vgl. Beckenbach et al. 2009). Mit Hilfe der Methode der agentenbasierten Modellierung und Simulation sozialer Systeme lässt die Entwicklung einzelner innovativer Branchen, aber auch generell die Evolution von Innovations-Netzwerken nachzeichnen und wesentlich detaillierter analysieren, als es mit anderen Methoden bislang möglich ist (Pyka et al. 2009; König et al. 2009). Diese Methode stellt daher eine wichtige Ergänzung qualitativer, fallstudienbasierter Verfahren dar.
14
Für Netlogo existiert zu diesem Zweck die Erweiterung „Hubnet“, mit der es möglich ist, partizipative agentenbasierte Simulationsexperimente durchzuführen (http://ccl.northwestern.edu/netlogo/hubnet.html). Dabei werden menschliche Akteure mit Hilfe einer speziellen Softwareschnittstelle integraler Bestandteil einer Simulation.
Softwarebasierte Methoden der Netzwerk-Analyse
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Abbildung 9: Modell „Preferential Attachment“ (NetLogo)
3.5 Zwischenfazit Die agentenbasierte Modellierung und Simulation (ABMS) sozialer Systeme hat also drei Eigenschaften, die sie von anderen Methoden der Netzwerk-Analyse unterscheidet: Sie ermöglicht eine Mikrofundierung sozialer Prozesse, indem sie die Agenten mit Eigenschaften, Präferenzen und Strategien ausstattet, die individuell verschieden sein können. Zudem sind die Interaktionen auf der Mikro-Ebene der entscheidende Motor der Netzwerk-Dynamik, welcher die Entstehung emergenter Strukturen auf der Makro-Ebene des Systems bzw. Netzwerks erklären kann (und zugleich einer wissenschaftlichen Beobachtung und Analyse zugänglich macht). Sie ermöglicht zudem eine dynamische Modellierung der Entstehung und Veränderung von Netzwerken, die es erlaubt, evolutionäre Prozesse des Wandels in und von Netzwerken zu beobachten und zu analysieren.15 Auch hier ist der Mechanismus des Wandels schlicht die Wechselwirkung von Mikro- und Makro-Ebene, und zwar derart, dass die Agenten in ihren Wahlhandlungen (choices) durch die strukturellen Bedingungen (constraints) eingeschränkt sind, die jedoch ihrerseits das Resultat vorheriger (Inter-) Aktionen eben dieser Agenten sind.
15
Die Nicht-Berücksichtigung der Dynamik von Netzwerken wird als ein Defizit der bislang verwendeten Methoden angesehen (vgl. u.a. Hollstein 2006: 12, 22).
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ABMS ist zudem eine experimentelle Methode. Sie erlaubt es also, bestimmte Parameter (wie beispielsweise die Kooperationsbereitschaft der Agenten) gezielt zu variieren und die Auswirkungen dieser Variationen zu beobachten. Sowohl einfache KISS-Modelle als auch komplexe SEU-Modelle nutzen die Computersimulation als ein Verfahren, um die Gesellschaft ins Labor zu holen, also gezielt Experimente durchzuführen, die im Realmaßstab entweder aus ethischen Gründen verboten wären oder einen viel zu hohen Zeitaufwand erfordern würden (vgl. Epstein/Axtell 1996: 4).16
4
Resümee: Formale Netzwerk-Analyse und Computersimulation im Vergleich
Die beiden dargestellten Verfahren der Netzwerk-Analyse eignen sich also auf unterschiedliche Weise für die Analyse komplexer sozialer Systeme. Die formale Netzwerk-Analyse liefert ein statisches Abbild der Netzwerk-Struktur und erlaubt eine detaillierte Analyse von Positionen und Verbindungen. Die Computersimulation ermöglicht hingegen die Modellierung dynamischer Prozesse und somit die Analyse von Entwicklungen auf der System-Ebene (unter Berücksichtigung der Mikro-Makro-Verknüpfung). Ein nicht zu vernachlässigender Unterschied der beiden Methoden besteht in ihrer Vorgehensweise: Die formale Netzwerk-Analyse erhebt Daten und bereitet diese dann analytisch in einer Weise auf, dass Strukturen und typische Muster erkennbar werden; die basalen Bausteine derartiger Modelle sind Knoten und Kanten, nicht aber soziale Mechanismen. Die Computersimulation hingegen basiert auf theoretischen Annahmen (z. B. über die Strategien von Agenten, über Interaktionsregeln etc.), die in Modellen implementiert werden; mit Hilfe von Experimenten werden dann Daten erzeugt, die anschließend analysiert und interpretiert werden (u.a. mit Verfahren der formalen Netzwerk-Analyse). Formale Netzwerk-Analyse und Computersimulation können sich also wechselseitig ergänzen; sie unterscheiden sich aber hinsichtlich der Verknüpfung von Theorie und Methode: Die formale Netzwerk-Analyse versteht sich als ein methodisches Verfahren, dass nicht notwendigerweise mit einer spezifischen theoretischen Perspektive verknüpft sein muss, sondern in gewisser Weise neutral gegenüber diversen theoretischen Anschlüssen ist. Die Computersimulation ist zwar ebenfalls offen für unterschiedliche theoretische Perspektiven, z. B. die Luhmann’sche oder die Bourdieu’sche Theorie (Malsch 1998; Kron 16
Ob die Modelle dabei die Realität korrekt abbilden, mag dahingestellt sein (vgl. Resnick 1995: 49). Ähnlich wie in den Naturwissenschaften besteht der Anspruch der Computersimulation vor allem darin, die basalen Mechanismen zu beschreiben, mit Hilfe derer komplexe Phänomene wie etwa die Segregation von Bevölkerungsgruppen beschrieben werden können (vgl. Krause et al. 2009). Das Modell muss dabei die Realität nicht hundertprozentig widerspiegeln, sondern soll, folgt man Mitchell Resnick, primär als Quelle der Inspiration dienen, um das Verhalten dezentral selbstorganisierter Systeme besser zu verstehen.
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2002; Florian/Hillebrandt 2004); bei der Konstruktion der Computer-Modelle ist jedoch eine Vorentscheidung etwa hinsichtlich der Frage nötig, ob die Agenten als nutzenmaximierende Egoisten programmiert werden oder nicht. Die Ergebnisse der Simulationsläufe – und damit auch die Möglichkeiten, theoretische Schlussfolgerungen zu ziehen – hängen entscheidend von diesen Vorannahmen ab.17
5
Epilog: Die Macht der Netzwerk-Analyse
Wer Zugang zu Daten hat und die hier skizzierten Verfahren und Methoden der NetzwerkAnalyse beherrscht, verfügt über erhebliche Macht, die sich aus dem Wissen über persönliche Identitäten einerseits, die Netzwerk-Strukturen und -Dynamiken andererseits ergibt. Dieses Wissen kann – etwa im Falle von Event-Netzwerken – weit über das hinausgehen, was den betroffenen Personen bewusst ist. Es bildet faktisch eine eigenständige zweite Realität im Hintergrund, die mit den Selbstbeschreibungen der betreffenden Netzwerk-Teilnehmer nicht übereinstimmen muss und dennoch real und wirkmächtig ist. Nur gelegentlich erfahren wir, was datenverarbeitende Unternehmen wie Amazon bereits über uns wissen, wenn wir beispielsweise eine Buchempfehlung erhalten, die auf unseren bisherigen Such- und Kaufaktionen, vor allem aber auf der Verknüpfung dieser Daten mit den Daten anderer Kunden basiert. Ob dieses gespeicherte Kundenprofil uns als Person tatsächlich so abbildet, wie wir uns selbst sehen, mag gelegentlich zweifelhaft erscheinen. Und Pressemeldungen über skandalöse Vorgänge bei der SCHUFA machen deutlich, dass die Schlussfolgerungen, die ein Datenverarbeiter aus den Daten zieht, die er über uns gespeichert hat, durchaus fehlerhaft sein können, aber reale Wirkungen im Alltag haben, wenn beispielsweise ein Kredit nicht gewährt oder eine Wohnung nicht vermietet wird. Die Verfahren, die in diesem Kapitel im Überblick dargestellt wurden, sind lediglich die Grundlagen, die man für einen ersten Einstieg in die formale Netzwerk-Analyse und die Computersimulation benötigt. Weiterführende Hinweise finden sich in den Beiträgen von Jansen und Diaz-Bone sowie Stegbauer, in diesem Band. Unternehmen wie Google, Facebook und andere beherrschen jedoch Algorithmen, die weit über das hier wie dort Geschilderte hinausgehen. Zudem verfügen sie über echte Verhaltensdaten; sie müssen also nicht spekulieren, ob Ackermann und Baumann sich tatsächlich getroffen haben. Sie haben vielmehr präzise Informationen, die sie über Eingaben in Suchmaschinen oder über Positions- und Verbindungsdaten von Handys gewinnen (vgl. dazu ausführlich das Kapitel „Netzwerke in der mobilen Echtzeitgesellschaft“, in diesem Band).
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Besonders reizvoll an der Methode der Computersimulation ist, dass sich die Vorannahmen (z. B. in punkto Egoismus/Altruismus) parametrisch variieren lassen.
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Die Verfahren der formalen Netzwerk-Analyse und der Computersimulation sind also längst keine akademische Spielerei mehr; sie sind vielmehr die technischen Grundlagen der Echtzeit-Steuerung der Netzwerk-Gesellschaft.
6
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Interorganisations-Netzwerke
Strategische Netzwerke Kooperation und Interaktion in asymmetrisch strukturierten Unternehmensnetzwerken Eckhard Heidling
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Einleitung
Seit Beginn der 1990er Jahre ist eine verstärkte Suche der Unternehmen nach neuen Organisationskonzepten zu beobachten, was auf die Grenzen fordistisch-tayloristischer Produktionsformen verweist (Di Maggio 2001; Boyer 2004). Ergebnis dieser Suche sind neue Organisationsformen mit veränderten Produktions- und Rationalisierungsstrategien, die darauf abzielen, die widersprüchlichen Anforderungen von Flexibilität und Effizienz miteinander in Einklang zu bringen. Dies führt zu grundlegend gewandelten Unternehmensstrukturen. Dominierten früher integrierte und hierarchisch gegliederte Organisationen, sind diese heute flexibel, schlank und intern häufig flach gegliedert. Im Unterschied zum fordistischtayloristischen Produktionsmodell, das auf spezialisierte und zergliederte Produktionsprozesse ausgerichtet war, konzentrieren sich die neuen Produktionsstrategien sehr viel stärker auf die Gesamtprozesse der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen. Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Entwicklung ist die beständige Restrukturierung der Unternehmensorganisation. Kennzeichnend ist eine auf Dauer gestellte Suche der Unternehmen nach dem optimalen Verhältnis von Eigen- und Fremdfertigung und einer entsprechenden Zusammensetzung ihrer Kernkompetenzen1. Ein Ende dieser Suchprozesse ist kaum abzusehen, weil die Fluktuation der Weltmarktbewegungen permanent neue Anreize zur Veränderung dieses Verhältnisses schafft. Neben der Schließung und Verlagerung von Stan-
1
Kernkompetenzen oder „Kernprozesse sind solche Geschäftsprozesse, die für eine Unternehmung eine strategische Bedeutung aufweisen, unternehmensspezifische Ressourcen nutzen, weder leicht zu imitieren noch zu substituieren sind und zudem mit einem wahrnehmbaren Kundennutzen verbunden sind“ (Sydow 2006: 435, FN 4).
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Eckhard Heidling
dorten kommt es immer wieder zu neuen Formen von Kooperationen mit anderen Unternehmen. Durch die bewusste Öffnung gegenüber ‚betriebsfremden Interessen‘ tritt neben die Organisation der innerbetrieblichen Struktur verstärkt die Anforderung, externe Austauschprozesse mit den vor- und nachgelagerten Liefer-, Distributions- und Konsumtionsstufen zu koordinieren, die mit jeweils unterschiedlichen Steuerungsmodi einhergehen. Sehr weitreichende Prognosen einiger Autoren sehen in diesem Zusammenhang die westlichen kapitalistischen Unternehmen des 21. Jahrhunderts dadurch geprägt, dass „jobs are increasingly constituted as projects, firms as networks, and industries as capabilities“ (Powell 2001: 54, vgl. auch Castells 2000). Die bisher dominierende Unternehmensform mit eindeutigen Grenzen, festen Standorten und fixierten Strukturen werde von sehr viel durchlässigeren und damit für Vernetzungen offeneren Organisationsstrukturen abgelöst, so dass „network ties become admission tickets to high-velocity races. Connectivity to an interorganisational network and competence at managing collaborations have become the drivers of the new logic of organizing.“ (Powell 2001: 60) Ganz ähnlich bezeichnen Luc Boltanski und Eve Chiapello als „cité par projets“ jenen Bereich der vernetzten Welt, der für sie den neuen Geist des Kapitalismus charakterisiert und der gegenwärtig die bisherige industrielle Welt („cité industrielle“) ablöst (1999: 189-208).2 Um die widersprüchlichen Momente von Flexibilität und Effizienz zu integrieren, richten sich die unternehmerischen Strategien verstärkt auf die Bildung interorganisationaler Netzwerke. Gegenüber den früher dominierenden Organisationsformen der vertikalen Integration können Unternehmensnetzwerke „produce a more useful and resilient design for a product or service by canvassing more alternatives in less time than a hierarchy with a like purpose“ (Sabel 2006: 108). Allgemein ist die von Netzwerken ausgehende „soziale Innovation“ in einer spezifischen Interaktionslogik zu sehen, nämlich Elemente marktlicher und hierarchischer Ordnungsmuster in einer neuen Kombination zu verkoppeln (Messner 1995: 213). In den folgenden Ausführungen geht es um eine genauere Betrachtung der Funktionsweise dieser Netzwerke. Im Zentrum steht die Frage, wie die Genese und die Reproduktion der Handlungsfähigkeit der Akteure angemessen zu fassen sind. Im Gegensatz zu vielen Ansätzen, die sich mit interorganisatorischen Netzwerken beschäftigen, richtet sich das Interesse besonders auf die Kooperations- und Interaktionsfähigkeit der schwächeren Netzwerkakteure. Diese Perspektive hängt mit der hier vertretenen Auffassung zusammen, dass sich an der Handlungsfähigkeit der stärker abhängigen Akteure entscheiden muss, ob und in welcher Form strategische Netzwerke tatsächlich neue Kombinationsmuster unternehmerischer Kooperation zwischen Markt und Hierarchie ausbilden. Anders als im Falle symmetrischer Netzwerke, in denen alle Beteiligten strukturell gleichrangig sind (vgl. Beitrag Weyer, in diesem Band), bleibt bei Austauschprozessen in strategi-
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Als empirische Grundlage dieser Untersuchung dient die Auswertung eines Vergleichs von Managementtexten aus den 1960er und den 1990er Jahren. Bezogen auf die Zahl der Nennungen der untersuchten Texte liegt die logique industrielle in beiden Zeiträumen – wenn auch mit abnehmender Tendenz – auf dem ersten Platz, während die Nennungen einer logique de réseau deutlich ansteigen und vom fünften Platz in den 1960er Jahren auf den zweiten Platz in den 1990er Jahren klettern (Boltanski/Chiapello 1999: 204, 643-662).
Strategische Netzwerke
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schen, asymmetrisch strukturierten Netzwerken zunächst offen, wie es gelingt, ein gleichgerichtetes Handeln und damit die Ausschöpfung der produktiven Potenziale im Netzwerk sicherzustellen. Um dies genauer zu bestimmen, wird der Austausch in Netzwerken auf zwei unterschiedlichen Ebenen und am Beispiel zweier unterschiedlicher Gegenstandsbereiche analysiert:
Kooperation Bei der Betrachtung der Kooperation in einem Unternehmensnetzwerk – hier am Beispiel des Netzwerks von handwerklich geprägtem Kraftfahrzeuggewerbe und Automobilindustrie – geht es um die Voraussetzungen für den Austausch von Akteuren aus der Perspektive der machtunterlegenen Netzwerkpartner. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Mittel und Instrumente die machtunterlegenen Netzwerkbeteiligten befähigen, neben gemeinsamen auch eigene Interessen zu verfolgen. Der Beobachtungsgegenstand ist hier also die Kooperationsebene zwischen kleinen und großen Unternehmen. Dies kann als Meso-Ebene von Unternehmensnetzwerken verstanden werden.
Interaktion Die Frage nach der Handlungssituation rückt hingegen die Arbeitsebene in Netzwerken in den Mittelpunkt, die insbesondere durch unternehmensübergreifende Projekte gebildet wird. Aufgrund der zunehmenden räumlichen Verteilung von Arbeit zwischen fokalen Unternehmen und kooperierenden Akteuren, die sich auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette befinden (z. B. Zulieferer unterschiedlicher Art und Größe, technische und nichttechnische Dienstleister), kommt den unternehmensübergreifenden Projekten eine besondere Bedeutung zu. Diese bilden einen wichtigen Teil der inneren Struktur der Vernetzungsprozesse und übernehmen eine Brückenfunktion, weil in den unternehmensübergreifenden Projekten die im Netz verteilten Akteure temporär zusammentreffen. Deshalb soll genauer bestimmt werden, wie die Interaktion der mit unterschiedlichen Ressourcen ausgestatteten Akteuren in diesen Projekten verläuft. Der Beobachtungsgegenstand ist hier also die Handlungsebene der Akteure in einem wichtigen Ausschnitt von Unternehmensnetzen. Dieser zweite Fragenkomplex richtet sich auf die Mikro-Ebene der Vernetzung. In den folgenden Ausführungen wird, ausgehend von den veränderten Rationalisierungsstrategien der Unternehmen, die seit etwa 25 Jahren zu beobachteten sind, zunächst auf die Entwicklung und die Rahmenbedingungen von interorganisationalen Netzwerken eingegangen (Kap. 2). Daran anschließend geht es um strategische Netzwerke, wobei insbesondere die Voraussetzungen für die Kooperation der machtunterlegenen Netzwerkbeteiligten herausgearbeitet werden (Kap. 3). Eine genauere Darstellung der Formen einer solchen Kooperation folgt dann am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Automobilherstellern und KfzGewerbe (Kap. 4). Mit der Interaktion in unternehmensübergreifenden Projekten der strategischen Netzwerke beschäftigen sich die daran anschließenden Überlegungen (Kap. 5). In einem abschließenden Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst (Kap. 6).
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Eckhard Heidling
Wandel von Unternehmensstrukturen und interorganisationale Netzwerke
Um sowohl flexibler als auch effizienter zu agieren, öffnen insbesondere große Unternehmen ihre Grenzen mit dem Ziel, auf Leistungen und Potenziale anderer, häufig kleinerer, Unternehmen zuzugreifen, ohne sie zu integrieren. Aus der Perspektive betrieblicher Rationalisierung ist diese Tendenz in der Figur eines „neuen Rationalisierungstyps“ gefasst worden (Altmann et al. 1986). Im Mittelpunkt steht die Vermutung, dass Rationalisierungsreserven „heute offensichtlich nicht mehr ausschließlich in betriebsinternen Prozessen, sondern ebenso in der Gestaltung der Beziehungen zwischen Betrieben und Unternehmen“ liegen (Sauer/Döhl 1994: 260). Dieser Prozess der „systemischen Rationalisierung“ zeichnet sich durch eine doppelte Wirkung aus: Innerhalb der Unternehmen kommt es zu einer Reorganisation des Verhältnisses der Produktions- und der dienstleistenden Bereiche, wobei einzelne betriebliche Funktionen aus- bzw. eingegliedert werden; gleichzeitig ändert sich die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Betrieben, es kommt zu einem Formwandel zwischenbetrieblicher Beziehungen. Damit wird das ehemals als Einheit konzipierte Konstrukt von betrieblicher Autonomiesteigerung, die durch die Integration aller notwendigen ökonomischen, technischen und sozialen Strukturen zur Organisation von Produktionsprozessen möglich wird, und gleichzeitiger Schließung gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt (Altmann/Bechtle 1971: 30) aufgebrochen. „Die Differenz von Kern und Gewährleistung lässt sich organisatorisch nicht mehr stabilisieren, wenn Unsicherheit nicht mehr vom Kern ferngehalten werden kann und die Kerntechnologien unter Flexibilisierungsdruck geraten.“ (Tacke 1997: 15) Generell ist eine Öffnung oder Verflüssigung der Unternehmensgrenzen mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen zu beobachten. Einerseits weisen insbesondere transnationale Unternehmensfusionen auf eine Tendenz zur Konzentration in der Wirtschaft hin, andererseits findet eine Zergliederung ehemals großer Unternehmen in kleine Unternehmenseinheiten statt, was eher in Richtung einer dezentralen Ökonomie weist (Piore/Sabel 1985). Begreift man die Tendenzen der Zentralisierung und der Dezentralisierung als zwei Pole eines Kontinuums, so ist seit etwa fünfzehn Jahren die verstärkte Suche der Unternehmen nach neuen Organisationsformen zwischen diesen beiden Polen zu beobachten. Die Suche nach solchen neuen Formen der Unternehmensorganisation werden typischerweise zwischen den beiden Polen „Markt“ und „Hierarchie“ verortet. Jörg Sydow bietet hierzu folgende Typologie an: „Hierarchien sind eine auf Stabilität und Kontinuität angelegte Organisationsform ökonomischer Aktivitäten, in der Verhalten technokratisch, etwa mittels Plänen und Programmen, und persönlich mittels Anweisungen und Selbstabstimmung koordiniert wird. Märkte sind – idealtypisch – ein institutionelles Arrangement mit freiem Zugang und freiem Austritt, in dem Transaktionen kurzfristig über den Preismechanismus koordiniert werden.“ (1992a: 246)
Strategische Netzwerke
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Diese Gegenüberstellung bezieht sich auf die im Rahmen der Transaktionskostentheorie zentral diskutierte Frage, welche Austauschorganisation für die Unternehmen mit den jeweils niedrigsten Kosten verbunden ist. „The limit to the size of the firm is set where its costs of organizing a transaction become equal to the cost of carrying it out through the market. This determines what the firm buys, produces, and sells“. (Coase 1988: 7) Grundlegend ist die Ausgangsüberlegung, dass die Höhe der Transaktionskosten mit unterschiedlichen Systemen der Beherrschung und Überwachung zusammenhängt. Notwendig sind diese Systeme wegen der den Entscheidungsträgern unterstellten Verhaltenseigenschaften, die u.a. in begrenzter Rationalität und einer Tendenz zu opportunistischem Handeln bestehen. Unter Berücksichtigung dieser individuellen Verhaltensannahmen wird mit der Transaktionskostenanalyse eine vergleichende Beurteilung einzelner institutioneller Alternativen durchgeführt. Dabei steht der klassische Markttausch am einen Ende der Skala, die zentralisierte hierarchische Organisation am anderen und Mischformen von Markt und Organisation dazwischen. Je größer dabei die Faktorspezifität,3 desto schwieriger ist es, Investitionen umzuschichten, d. h. ohne Verluste eine Geschäftsbeziehung abzubrechen und eine neue aufzubauen. Daher wird es bei wachsender Faktorspezifität um so plausibler, das Konkurrenz- durch das Kontrollmodell und damit Markt durch Hierarchie zu ersetzen (Williamson 1990: 48). Ausgehend von diesem Ansatz entwickelte sich eine breite Diskussion, deren Kritik auf folgende Punkte abstellt: auf die unklare Grenzziehung zwischen Markt und Hierarchie, auf eine zu einseitige Orientierung am Effizienzkonzept – mit der Gefahr eines ökonomischen Determinismus, auf eine ungenaue Abgrenzung zwischen Transaktionskosten und anderen Kostenarten, auf eine unzulängliche Formalisierung sowie auf die Ausblendung historisch-gesellschaftlicher Prozesse – insbesondere des Stellenwerts von Macht zur Erklärung der Organisationsentwicklung (Sydow 1992: 145ff., Mildenberger 1998: 60ff.).4 Ein wichtiges Ergebnis der sich an diese kritischen Einwände anschließenden Auseinandersetzung bestand darin, die neuartigen Kooperationsformen von Unternehmen als „Unternehmensnetzwerke“ zu fassen. Dabei geht die eine Position davon aus, dass die netzwerkförmige Zusammenarbeit zwischen Unternehmen zwar neuartige Elemente enthält, diese jedoch weiterhin im Rahmen der Pole Markt und Hierarchie zu verorten sind (Mildenberger 1998; Krebs 1998; Balling 1997; Sydow 1997). Eine Reihe anderer Autoren betrachtet dagegen die in Netzwerken wirksamen Steuerungsmodi als eine eigenständige, dritte Koordinationsform neben Markt und Hierarchie (Windeler 2001: 237ff.; Teubner 1992; Messner 1995; Scharpf 3
Die Faktorspezifität zeigt an, „wie leicht ein Potentialfaktor ohne Wertverlust anderen Verwendungszwecken und anderen Verwendern zugeführt werden kann“ (Williamson 1991: 16).
4
Vgl. weiterführend Granovetter 1985, Deutschmann 1988, Semlinger 1993 sowie Krebs 1998: 225ff. (zum verengten Menschenbild und zum Objektivismus des Transaktionskostenansatzes), Kowol 1998: 88ff., 307ff. (zum geringen Aussagewert bei Innovationsprozessen), Ebers 1994: 26ff. (zu einer Erweiterung transaktionskostentheoretischer Argumente zur Erklärung der Funktionsweise interorganisationaler Informationssysteme).
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1996; Powell 1990/1996; Krebs/Rock 1994: 322ff.).5 Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass für Netzwerkbeziehungen grundlegend ist, „that one party is dependent on resources controlled by another, and there are gains to be had by the pooling of resources“ (Powell 1990: 303). Netzwerke versprechen Vorteile für die Akteure durch drei zentrale Verbindungsmechanismen: „Ties can facilitate access to parties that provide information and/or resources. Linkages that generate access in an expeditious manner afford advantage over those who lack comparable connections. Referrals offer the opportunity to bypass formal, impersonal channels.“ (Smith-Doerr/Powell 2005: 379) Unternehmensnetzwerke sind meist in den Bereichen der Zulieferung, des Absatzes sowie der Forschung und Entwicklung angesiedelt. Im Unterschied zum reinen, ausschließlich über den Preis gesteuerten Konkurrenzmodell werden Unternehmensnetzwerke als „Ergebnis einer Unternehmensgrenzen übergreifenden Differenzierung und Integration ökonomischer Aktivitäten“ gekennzeichnet, die durch „komplex-reziproke, eher kooperative denn kompetitive und relativ stabile Beziehungen zwischen rechtlich selbständigen, wirtschaftlich jedoch zumeist abhängigen Unternehmungen“ geprägt sind (Sydow 1992: 79). Durch den engen Zusammenhang zwischen rechtlicher Eigenständigkeit und wirtschaftlicher Verflechtung der beteiligten Unternehmen entwickelt sich eine Netzwerkstruktur mit einem polyzentrischen System und den damit verbundenen Handlungs- und Entscheidungszentren. Um die Gleichzeitigkeit von Eigenständigkeit und Verbundenheit angemessen zu fassen, umfasst die Definition von Netzwerken sowohl die relative Autonomie seiner Teilnehmer als auch deren Zusammenhalt. „A social network can be defined as a set of nodes or actors (persons or organiszations) linked by social relationship or ties of a specified actor.“ (Castilla et al. 2000: 219) Wirtschaftliche Transaktionen werden dadurch „doppelt zugerechnet – dem individuellen Akteur als einem Knoten im Netzwerk und dem umfassenden Netzwerk selbst. Durch Doppelattribution gewinnen hybride Netzwerke eine deutliche Verbesserung ihrer Umweltbeziehungen“, die es ihnen erlaubt, „in Umwelten zu agieren, die ihnen nicht zugänglich wären, wenn sie entweder bloße Vertragsbeziehung oder Kollektiv wären“ (Teubner 2004: 210). Diese Sichtweise schließt sowohl gleichrangige als auch hierarchische Beziehungen zwischen diesen Knoten oder Verbindungspunkten ein (Mayntz 1996: 491). Offen ist dabei die Qualität der Beziehungsstruktur, die sowohl konfliktuell als auch kooperativ angelegt sein kann (Powell 1990: 305). Für die besondere Effizienz von Netzwerken entscheidend ist die „Doppelorientierung des Handelns“ der Beteiligten.
5
Für eine Konzeptualisierung von „Kooperation“ als eigenständiger Koordinationsform zwischen Markt und Hierarchie vgl. hingegen Semlinger 1993: 312ff., 2000: 127-130.
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„Wirtschaftlich betrachtet werden alle Transaktionen gleichzeitig auf den Profit des Netzwerks und den Profit des individuellen Akteurs ausgerichtet.“ (Teubner 1992: 200) Die zentrale Aufgabe des Netzwerkmanagements besteht darin, die Spannungsverhältnisse zwischen Autonomie und Bindung sowie Flexibilität und Stabilität zwischen den kooperierenden Unternehmen in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten (Sydow/Möllering 2004: 224-228). Ein dynamisches Gleichgewicht als Grundlage für funktionierende Netzwerke entsteht dann, so eine häufige Argumentation, wenn sich die beteiligten Akteure kooperativ verhalten und vertrauensvoll interagieren. Der Bedarf nach Vertrauen resultiert aus zwei grundlegenden Eigenarten, die für soziale Beziehungen typisch sind: „Soziale Beziehungen, soweit es sich nicht um reine ‚Spot-Transaktionen‘ handelt, haben zum einen ein Zeitproblem und zum anderen ein mit dem Zeitproblem zusammenhängendes Informationsproblem […] Abstellend auf diese beiden Probleme lässt sich Vertrauen als ein Mechanismus sehen, der das Zeitproblem überwindet und die Informationsunsicherheit überbrückt, und zwar dergestalt, dass ein Akteur, nämlich derjenige, der Vertrauen schenkt, eine einseitige Vorleistung erbringt.“ (Preisendörfer 1995: 264) Für interorganisationale Netzwerke ist ein gegenseitig vertrauensvolles Verhalten mit der Erwartung verbunden, „dass sich dieses Verhalten auf längere Sicht für alle Beteiligten auszahlen wird, geradezu die raison d’être“ (Bachmann 2000: 112). Daraus ergeben sich Eigenschaften, die konstitutiv für Vertrauensbeziehungen sind:
ein einseitiger Vertrauensvorschuss des Vertrauenden, eine Erwartungsreziprozität von Vorleistung und Gegenleistung, das Fehlen einer festen Vereinbarung von Leistung und Gegenleistung, eine zeitliche Distanz zwischen Vertrauensvorschuss und Gegenleistung sowie ein besonderes Risiko auf Seiten des Vertrauenden (Zündorf 1986: 40 f.).
Vertrauensvolle und kooperative Beziehungen stellen somit den entscheidenden Unterschied zu den zentralen Funktionsmechanismen des Marktes, der wesentlich auf dem Wettbewerb zwischen den Akteuren beruht, und der Hierarchie mit den typischen Elementen von Autorität und Gehorsam dar. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, insbesondere beim Austausch ‚erfolgsrelevanter‘ Informationen, reduziert sowohl den Kosten- als auch den Zeitaufwand von Geschäftsprozessen, weil die Geschäftspartner auf eine Absicherung möglicher Gefährdungen ihrer ökonomischen Transaktionen verzichten können.6 So gesehen tragen vertrauensvolle Beziehungen zwischen Unternehmen in Netzwerken zur Senkung von Transaktionskosten bei. Dieser Effekt tritt allerdings meist erst in mittel- oder langfristiger Sicht ein, da die Herstellung vertrauensvoller Verhältnisse einen längeren Pro-
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Vgl. dazu u.a. Granovetter 1985; Powell 1996: 224; Siebert 1991: 296; Krebs 1998: 276ff.; Maillat et al. 1994: 34; Richter 1995: 33, 68ff.
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zess voraussetzt und damit höchst voraussetzungsvoll ist. Zu den zentralen Bedingungen für vertrauenfördernde Strukturen in Unternehmensnetzwerken zählen: ein möglichst enger und intensiver Austausch zwischen den Netzwerkteilnehmern (hohe Netzwerkdichte), eine eher geringe Zahl kooperierender Akteure mit – bezogen auf vertikale Netzwerkbeziehungen – möglichst gleichartigen Strukturmerkmalen (Unternehmensgröße, Eigentumsverhältnisse, Unternehmensphilosophie u.a.), ein hohes Maß unterschiedlicher Inhalte, die im Netzwerk ausgetauscht werden („Multiplexität der Netzwerkbeziehungen“), ein tendenziell ausgewogenes Verhältnis zwischen Autonomie und Abhängigkeit (Loose/Sydow 1994: 184ff.). Insgesamt zeigt diese Diskussion, dass die Netzwerktheorie noch stärker als die Transaktionskostentheorie auf die Handlungsdimension der ökonomischen Akteure zurückgreift. Funktionierende Netzwerkbeziehungen beruhen in dieser Perspektive in hohem Maße auf intakten Vertrauensverhältnissen zwischen den beteiligten Akteuren. Unterstellt wird darüber hinaus eine gleichmäßige Ressourcenausstattung der Beteiligten. Diese beiden Elemente sind zentral für die Annahme einer vergleichsweise großen Unabhängigkeit aller Netzwerkteilnehmer. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, bleibt unklar, auf welcher Grundlage die Austauschverhältnisse in Netzwerken gründen und wie stabil sie sind. Deshalb beschäftigen sich die folgenden Überlegungen mit der Frage, wie Netzwerke trotz einer ungleichen Ressourcenausstattung der Akteure entstehen und über längere Zeiträume feste Strukturen ausbilden.
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Kooperation in strategischen Netzwerken
Zunächst geht es in diesem Abschnitt um die Beschreibung und Analyse des spezifischen Typus strategischer Netzwerke, weil dort die Kooperation von Unternehmen mit unterschiedlicher Ressourcenausstattung im Mittelpunkt steht. Allerdings werden Unternehmensnetzwerke dabei ganz überwiegend aus der Perspektive der fokalen Unternehmen betrachtet. Deshalb ist es notwendig, in einem weiteren Schritt die Rolle der machtunterlegenen Akteure genauer herauszuarbeiten. Es werden besonders solche Elemente herausgearbeitet, die die Kooperationsfähigkeit der mit geringerer Macht ausgestatteten Akteure gewährleisten, da dies eine zentrale Voraussetzung ist, um sinnvoll von einem Netzwerk sprechen zu können.
3.1 Strategische Netzwerke als spezifische Form interorganisationaler Netzwerke Von eher egalitär organisierten Kooperationen zwischen Unternehmen zu unterscheiden sind „strategische Netzwerke, […] die von einer oder mehreren fokalen Unternehmung(en) strategisch geführt werden“ (Sydow 1992: 81). Zwar bleiben die beteiligten Unternehmen rechtlich selbständig – was auch bedeutet, dass der polyzentrische Charakter des Netzwerks prin-
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zipiell erhalten bleibt. Art und Inhalt der Strategie, mit der ein bestimmter Markt bearbeitet wird, sowie die Definition und Kontrolle der Interorganisationsbeziehungen im Netzwerk werden jedoch wesentlich von dem fokalen Unternehmen vorgegeben. Diesem Unternehmen fällt die Aufgabe einer „Art strategischer Metakoordination der ökonomischen Aktivitäten“ zu (Sydow 1992a: 251; Berghoff/Sydow 2007: 16). Diese strategische Metakoordination ist seit Mitte der 1990er Jahre durch die zunehmende Auslagerung vormals integrierter Unternehmensaktivitäten in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Branchen zu beobachten. Dadurch sind breit verzweigte Netzwerke zwischen fokalen Unternehmen und ihren Zulieferern unterschiedlicher Stufen entstanden, die häufig die Form einer Pyramide annehmen (Hirsch-Kreinsen 2003: 19f.). Inhaltlich besteht die mit der Metakoordination verbundene Arbeit fokaler Unternehmen darin, die große Zahl ausgelagerter Aktivitäten zu steuern, zu koordinieren, zusammenzuführen und in die eigenen Arbeitsabläufe zu reintegrieren. Detaillierte empirische Untersuchungen liegen insbesondere für den Automobilbau vor, wo die an der Spitze pyramidialer Strukturen stehenden und das Netzwerk koordinierenden Hersteller „einen Teil der Koordinationsfunktionen auf die Systemlieferanten (übertragen), die ihrerseits das mehr oder weniger netzwerkförmig ausgelegte System ihrer Komponenten- bzw. Teilelieferanten organisieren. Das Management von Systemlieferanten, obwohl selbst strategisch geführt, hat entsprechende Führungsfähigkeiten zu entwickeln und die dafür erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren, um sich als Systemlieferant gegenüber dem Hersteller sowie gegenüber den Komponentenlieferanten zu behaupten. Besondere Fähigkeiten sind von der fokalen Unternehmung, hier dem Automobilhersteller, verlangt, wenn sie im Sinne eines umfassenden Netzwerkmanagements auch auf die Gestaltung der indirekten Beziehungen, also beispielsweise jenen zwischen Systemzulieferer und Komponentenlieferanten oder zwischen zwei Komponentenlieferanten, Einfluss nimmt.“ (Sydow 2006: 397) Wie diese Beschreibung zeigt, haben sich die Abnehmer-Zulieferstrukturen gegenüber den 1990er Jahren wesentlich ausdifferenziert. Es geht nicht mehr nur um die Kooperation zwischen fokalem Unternehmen und den diesem untergeordneten Zulieferern. Vielmehr ist jetzt die Gründung, Gestaltung, Steuerung und Koordination von Teilen des Netzwerks vom fokalen Unternehmen auf sogenannte Systemlieferanten übergegangen. Diese treten gegenüber den Komponentenlieferanten untergeordneter Stufen im Netzwerk quasi als „fokale Unternehmen 2. Stufe“ auf, verbleiben gegenüber dem „fokalen Unternehmen 1. Stufe“ jedoch in einer abhängigen Rolle.7 Eine ähnliche Entwicklung ist seit etwa Mitte der 1990er Jahre auch in der Luftfahrtindustrie zu beobachten. Im Unterschied zur früher dominanten Rolle als Teilelieferant werden von den Zulieferern jetzt umfangreiche Entwicklungsleistungen und die Integration von Systemen verlangt (Meil et al. 2004: 186; Mazaud 2007: 244ff.). Als Folge dieser sich weiter verzweigenden Vernetzungen sind die Kooperationsbeziehungen zwischen Herstellern und Zulieferern in wachsendem Umfang bestimmt durch einen „hybrid collaborative mode of 7
MacDuffie/Helper unterscheiden in diesem Sinn „first-tier suppliers“ und „lower-tier suppliers“ (2006: 427).
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exchange in relation to ‚exit‘ and ‚voice‘“ (MacDuffie/Helper 2006: 429). Aufgrund ihrer empirischen Untersuchungen sehen sie „an increasing degree of collaboration in automotive supply chains over the past ten to fifteen years“ und verweisen darauf, dass „automakers found the pursuit of quality took a form that required more coordination and collaboration on design and production with financially independent first-tier suppliers“ (MacDuffie/Helper 2006: 428). Die wachsende Bedeutung von Koordination und Kooperation hängt in erster Linie damit zusammen, dass die fokalen Unternehmen aufgrund der teilweise sehr umfangreichen ausgelagerten Leistungspakete in hohem Maß auf die Systemzulieferer angewiesen sind. Denn diese verfügen über spezifisches Know-how, sowohl bezogen auf die Erstellung von Gütern und Leistungen als auch bezogen auf das Management der mit ihnen kooperierenden Zulieferer untergeordneter Stufen im Netz. Selbst wenn sie wollten, könnten die fokalen Unternehmen diese Herstellungsprozesse nur mit hohem Aufwand und erst in einer längeren Perspektive in ihre eigenen Organisationen vollständig zurückverlagern. Aufgrund der meist spezifischen Produktanforderungen (spezielle Konstruktionen, hohe Qualität) sind dem Wechsel eines Zulieferers zugunsten eines Wettbewerbers ebenfalls Grenzen gesetzt. Insofern verfügen insbesondere die großen Zulieferer über Machtpotenziale, die das asymmetrische Verhältnis zugunsten der fokalen Unternehmen nicht aufheben, aber relativieren. Trotz dieser Einschränkungen ist die strategische Metasteuerung für die fokalen Unternehmen attraktiv, da sie eine Verbindung von wirtschaftlichen Effizienzzielen, die durch marktliche Koordination realisiert werden, und Kontrollbeziehungen, die durch hierarchische Elemente bestimmt sind, ermöglicht. Strategische Vorteile der Vernetzung ergeben sich für die beteiligten Unternehmen durch den Zugriff auf die Ressourcen der jeweils anderen Unternehmen, der zwar ungleich verteilt ist, der jedoch nicht dazu führt, dass diese Unternehmen faktisch zusammengefasst bzw. integriert werden (Sydow et al. 1995: 457). Über die Senkung von Transaktionskosten hinaus besteht die Möglichkeit, auf besondere Kompetenzen der Netzwerkpartner zuzugreifen und sich somit durch die Kooperation eine günstigere Position gegenüber Wettbewerbern zu verschaffen (Powell 1990: 322). Durch die Ausnutzung bestehender Machtasymmetrien in Netzwerkbeziehungen entstehen somit strategische Vorteile für die fokalen Unternehmen, die eine ungleiche Verteilung von Produktions- und Transaktionskosten ermöglichen.8 Dies kann für das fokale Unternehmen zweierlei zur Folge haben, nämlich einen „Zugewinn an numerischer und funktionaler Flexibilität, bei gleichzeitig weitgehender Bewahrung der Kontrolle über die Planung und Ausführung der Aktivitäten im Netzwerk“ (Sydow 1992a: 287). Damit bleibt der Verweis auf reziprokes Verhalten und gegenseitiges Vertrauen zur Begründung kooperativen Verhaltens in strategischen, asymmetrisch strukturierten Netzwerken unzureichend. Dies liegt daran, dass eine zentrale Minimalbedingung für Kooperationen zwischen „rationalen Egoisten“ – die Zusammenarbeit mit „defektierenden Spielern“ kann sofort abgebrochen werden (Wurche 1994: 150) – in strategischen Netzwerken nicht umstandslos unterstellt, sondern im Gegenteil die Übervorteilung des einen durch den anderen 8
In den Ansätzen zur systemischen Rationalisierung wird davon ausgegangen, dass die Zusammenarbeit in Produktionsnetzwerken mit spezifischen Produktivitätssteigerungen verbunden ist, an deren Verteilung die fokalen Unternehmen i.S. eines „Profittransfers“ überproportional partizipieren (Bieber/Sauer 1991: 233f., Bieber 1992: 283f.).
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Partner einkalkuliert werden muss.9 Angemessener erscheint deshalb die Kennzeichnung der Austauschbeziehungen in strategischen Netzwerken als „antagonistische Kooperation“ (Pohlmann 1994: 270). Eine solche Tauschbeziehung umfasst sowohl die Verfolgung des jeweiligen Eigeninteresses – u.U. auf Kosten des Partners – als auch das Interesse an gemeinsamen Zielen der beteiligten Akteure. „Es gilt das Prinzip der einseitigen Vorteilnahme soweit wie möglich und der Orientierung am gemeinsamen Nutzen soweit wie nötig.“ (Pohlmann 1995: 149) Insgesamt bedeutet dies, „that institutional elements constitute an interrelated network of mutually supportive or antagonistic parts“ (DiMaggio/Powell 1991: 29). Gleichwohl ist davon auszugehen, dass auch in asymmetrisch strukturierten Netzwerken die Dimension der Verhandlung als zentrale Interaktionsform dominiert. Gerade bei ungleicher Ressourcenausstattung ist eine grundsätzliche Kompromissbereitschaft erforderlich, welche die Ziele und Interessen aller Interaktionspartner berücksichtigt und damit die Grundlagen für ein Einverständnishandeln aller Akteure absichert. Erfolgreiche Verhandlungsprozesse etablieren die von allen Akteuren in Netzwerken getragene Überzeugung, dass die Erreichung eines gemeinsamen Ergebnisses einen eigenen Wert darstellt, der über „die Verwirklichung der Eigeninteressen hinausgeht“ (Mayntz 1992: 26, vgl. Amin/Dietrich 1991: 69). Nicht geklärt ist damit allerdings die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit als Grundlage für die Kooperation aller beteiligten Akteure. Dies gilt insbesondere für die Teilnehmer, die sich in einer eher abhängigen Position befinden. Verhandlungsfähigkeit zeigt sich daran, ob und in welchem Umfang die einzelnen Netzwerkakteure eigene Beiträge, z. B. in Form von Problemlösungsstrategien, im Netzwerk leisten können. Daraus resultiert einmal die Anforderung, dass die Akteure in der Lage sein müssen, ihre Eigeninteressen genau zu bestimmen und entsprechend zu vertreten. Außerdem müssen sie „zu strategischer Interaktion und zu Kompromissen fähig sein“ (Messner 1995: 206). Dies gilt ganz besonders für die Verhandlungsfähigkeit der schwächeren gegenüber den stärkeren Netzwerkpartnern. Wie diese Verhandlungsfähigkeit hergestellt und auch über längere Zeiträume gesichert werden kann, steht im Mittelpunkt des nächsten Abschnitts.
3.2 Machtunterlegene Akteure und strategische Kooperation Allgemein gefasst, ist die Verfügung über Autonomiespielräume das entscheidende Moment für die Strukturierung der Austauschverhältnisse zwischen den fokal dominierenden und den eher abhängigen Netzwerkakteuren. Dabei zeigt sich die Autonomie eines Akteurs darin, „die bestehenden Strukturen so beeinflussen und absichern zu können, dass die übrigen Netzwerkakteure die für ihn vorteilhaften Strukturen in ihrem Tun rekursiv verfestigen“ (Sydow et al. 1995: 55).10 Erklärt wird damit allerdings noch nicht, „why some interactions 9
Dies gilt etwa für die Chance bzw. das Risiko, dass „defektive Verhaltensweisen“ über einen unbestimmten Zeitraum hinweg unentdeckt bleiben oder für den Fall, dass einer der Partner die Zusammenarbeit zu einem Zeitpunkt vorzeitig beendet, der für ihn, jedoch nicht für den anderen günstig ist (Wurche 1994: 152f.).
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Um den Zusammenhang von institutioneller Struktur und Akteurshandeln, der sich in den interorganisationalen Praktiken von Netzwerken zeigt, genauer zu bestimmen, rekurriert der Sydowsche Ansatz auf den
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go better than others or why routines create particular stable patterns“ (DiMaggio/Powell 1991: 23). Obwohl Sydow et al. einräumen, dass die Bestimmung von Autonomie und Abhängigkeit ein potenziell umkämpftes Terrain ist, verweisen sie nur allgemein darauf, dass die abhängigen Akteure ihre Situation vielfach akzeptieren und damit zugleich die entsprechenden Praktiken reproduzieren. Sie merken lediglich an, dass die konkrete „Ausgestaltung der Netzwerkbeziehungen vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses von Autonomie und Abhängigkeit […] nicht notwendig konfliktär sein (muss), es kann auch eine konsensgestützte Ausprägung dieses Verhältnisses vorliegen“ (Krebs 1998: 276, vgl. Sydow et al. 1995: 54). Da dieses Spannungsverhältnis selbst jedoch nicht näher analysiert wird, bleibt in diesen Ansätzen offen, in welcher Form die Basis des Einverständnishandelns insbesondere der machtunterlegenen Netzwerkpartner produziert und reproduziert wird. Der Ausgangspunkt einer präziseren Fassung besteht darin, Macht als Gelegenheit zu definieren, „den Alternativenspielraum anderer zu beeinflussen, sich (dadurch) selbst einer Anpassungsanforderung zu verweigern und den Anpassungsdruck auf andere zu verlagern“ (Semlinger 1993: 335).11 Damit werden Austauschbeziehungen begrifflich angemessen erfasst, die einen auch strukturell und damit dauerhaft ungleichen Tausch berücksichtigen. Entscheidend für die dauerhafte Einwilligung machtunterlegener Partner in solche ungleichen Tauschverhältnisse ist ihr vergleichsweise sehr viel geringeres Alternativenspektrum, was damit zusammenhängt, dass ihnen der Zugang zu besseren Tauschverhältnissen versperrt ist. Daraus ergibt sich das höhere Interesse des weniger autonomen Akteurs an möglichst stabilen Kooperationsverhältnissen, „während die Partei mit der größten Autonomie in der Lage ist, die Bedingungen des Tausches zu ihren Gunsten zu verändern oder sich selbst einer Anpassung zu entziehen“ (334). Der Vorteil dieses Erklärungsansatzes besteht in der Konzeption eines ungleichen Tauschverhältnisses, das nicht grundsätzlich auf konsensuelles Einvernehmen aufsetzt, sondern an die unterschiedliche Verfügbarkeit über Autonomiespielräume anknüpft. Festgehalten wird damit am Reziprozitätsprinzip insofern, als weiterhin von interdependenten Teilen ausgegangen wird, die in wechselseitigem Austausch stehen. Im Anschluss an Alvin W. Gouldner (1984: 49ff.) muss dieser Austausch jedoch keineswegs symmetrisch gestaltet sein, wenn die Annahme kompensatorischer Mechanismen eingeführt wird, die einen Mangel an Reziprozität auffangen. Dauerhafte Kooperationsverhältnisse auf Grundlage ungleichen Tausches können entstehen, wenn eine geringere Gegenleistung im
Strukturationsansatz von Giddens und die darin enthaltenen Momente der Dualität und Rekursivität von Struktur. Die Dualität umfasst drei Strukturdimensionen, die sich zusammensetzen aus der Signifikation (Sinn, Bedeutung), der Domination (Herrschaft) und der Legitimation (Giddens 1988: 81-84, vgl. auch Windeler 2001: 124-200). Damit ist jede Handlung der Netzwerkakteure in jeweils unterschiedlicher Ausprägung gekennzeichnet durch Kommunikation, Normen und Macht. Mit dem Rückgriff interagierender Akteure auf diese Ressourcen und Regeln entsteht ein rekursiver Prozess sozialer Praxis, in dem fortlaufend der Zusammenhang zwischen Handeln und Strukturen hergestellt wird (Windeler 2001: 245). 11
Diese Definition weist enge Bezüge zu der Kennzeichnung von Crozier/Friedberg auf, die Macht nicht als Attribut einer Person, sondern als eine Beziehung zwischen Akteuren betrachten. Macht wird hier verstanden „als das immer kontingente Ergebnis der Mobilisierung der von den Akteuren in einer gegebenen Spielstruktur kontrollierten Ungewissheitszonen für ihre Beziehungen und Verhandlungen mit anderen Teilnehmern an diesem Spiel“ (1979: 17).
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Verhältnis zur eigenen Vorleistung mit der Einschätzung verbunden ist, dass die „gewünschte oder benötigte Gegenleistung anderweitig nicht günstiger zu bekommen ist“ (Semlinger 2003: 82, vgl. auch Möllering 2005: 25). Auf dieser Grundlage kann dann eine Spirale wachsenden Vertrauens entstehen, „in deren Verlauf es zu ‚emergenten‘ sozialen Phänomenen kommt, die mehr und anderes darstellen als Tauschbeziehungen zwischen Individuen“ (Mahnkopf 1994: 72). In unternehmensbezogenen Netzwerken wird so „‚Kooperation‘ zum strategischen Spiel (strategic contracting), bei dem es nicht allein um die rationale Wahl zwischen gegebenen Entscheidungsalternativen […], sondern auch und gerade um die Verteilung von Entscheidungsoptionen“ (Semlinger 1993: 335) geht. Um die längerfristige Kooperationsfähigkeit der machtunterlegenen Akteure in Netzwerkbeziehungen sicherzustellen, kommt offensichtlich institutionellen Mechanismen eine wichtige Rolle zu. Dazu zählen neben rechtlichen Normen beispielsweise Wirtschaftsverbände, die beim Aufbau zwischenbetrieblicher Austauschbeziehungen eine absichernde und vertrauenfördernde Funktion haben. Wirtschaftsverbände wirken als „eine institutionelle Form kollektiven Wissens, auf das die Akteure in ihren individuellen Handlungsweisen Bezug nehmen. Über solche institutionellen Ordnungsmechanismen werden die sozialen Regeln des Umgangs miteinander entwickelt und fortgesetzt in ihrer Geltung bestätigt. Das Risiko, das mit der Entscheidung einhergeht, seinem Geschäftspartner Vertrauen entgegenzubringen, statt sich z. B. auf die eigenen Machtressourcen zur Durchsetzung von Interessen zu verlassen, wird auf diese Weise beträchtlich reduziert.“ (Bachmann/Lane 1997: 86) Verbandliche Ordnungen, die besonders in Deutschland eine hohe Bedeutung für die Funktionsweise gesellschaftlicher Subsysteme haben12, zeichnen sich durch die Abstimmung von Interessen innerhalb der eigenen Mitgliedschaft und nach außen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen aus. Durch diese Aushandlungsprozesse sind sie in der Lage, kollektive Handlungsstrategien zu definieren und relativ stabile Kompromisse zu erreichen. Entscheidend für die Mitgliedschaft ist die Einschätzung der Akteure, dass sie im Gegenzug für die teilweise Aufgabe individueller Autonomie davon ausgehen können, „einen proportional ‚gerechten‘ Anteil von dem zu erhalten, was jeweils zum Gegenstand der Verhandlung wird“ (Streeck/Schmitter 1996: 139). Umgekehrt bedeutet dies für die einzelnen Unternehmen, dass sie sich in ihrer Mitgliedschaftsrolle auf den Verband als Mittel zur Durchsetzung übergeordneter Ziele, z. B. bei der Festlegung technischer Normen, beziehen können. In dieser Perspektive kann man Verbände als institutionell geronnene „Formen von Macht und Vertrauen“ bezeichnen, die sich „in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit gegenüberstehen“ (Bachmann/Lane 1997: 93).
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Wie der internationale Vergleich zeigt, variiert die Bedeutung institutioneller Ordnungen für das Handeln von Wirtschaftssubjekten mit den unterschiedlichen nationalen Kontexten. So heben Bachmann/Lane hervor, „dass das Niveau institutionell generierten Vertrauens in Deutschland vergleichsweise hoch ist, und das Vorhandensein einer umfassenden und konsistenten Rechtsordnung eine sehr wichtige Rolle dabei spielt. In Großbritannien findet der Rekurs auf rechtliche Formen der Regulierung zwischenbetrieblicher Beziehungen in einer weit unsystematischeren und eher opportunistischen Weise statt“ (1997: 98; vgl. auch Carnevali 2007: 225; Streeck 1988).
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Eine institutionalisierte Form der Interessenorganisierung in Form von Verbänden kann somit für die machtunterlegenen Akteure eine Basis für wenig formalisierte, vertrauensvolle Kooperationsformen mit den jeweiligen fokalen Unternehmen bilden. Diese institutionalisierte Struktur der Interessenvertretung der abhängigen Partner im Netz ist dann die Voraussetzung für eine effiziente Zusammenarbeit und die Ausschöpfung der produktiven Potenziale dieses Kooperationsmodells. Besonders wichtig wird die Nutzung in konfliktuellen Situationen, da die Verfügbarkeit solcher Strukturen die Grundlage für eine gemeinsame Auseinandersetzung mit Problemursachen und die Suche nach Problemlösungen darstellt, also eine Orientierung auf Voice-Optionen gegenüber der Exit-Variante stärkt, die die Zusammenarbeit beenden würde (Hirschmann 1974). Eine solche Konstellation wird im folgenden Abschnitt am Beispiel der Kooperation zwischen den großen Unternehmen der Automobilproduktion und den kleinen Kfz-Unternehmen betrachtet.
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Strategische Kooperation im Kfz-Gewerbe
Der gesamte Komplex der Fahrzeugherstellung umfasst neben der Automobilproduktion die ‚vorgelagerte‘ Seite der Zulieferung sowie die ‚nachgelagerte‘ Seite des Kfz-Gewerbes. Das Kfz-Gewerbe ist handwerklich organisiert, beschäftigt gegenwärtig etwa 470.000 Personen und besteht aus knapp 40.000 Betrieben mit durchschnittlich zwölf Beschäftigten. Die Betriebe sind etwa je zur Hälfte fabrikatsgebunden und markenfrei (ZDK 2008). Geprägt wird die Struktur des Kfz-Gewerbes in Deutschland durch ein „selektives Vertriebssystem“, dessen zentrales Merkmal die Markenexklusivität beim Verkauf von Neuwagen ist.13 Grundlage ist eine seit 1985 geltende Gruppenfreistellungsverordnung (GVO), die eine Ausnahmeregelung für das grundsätzlich geltende nationale und EU-weite Kartellverbot definiert.14 Diese GVO ist jeweils befristet, durch die EU-Kommission mehrfach verlängert worden (1995, 2002) und gilt derzeit bis Mitte 2010.15 Im Rahmen des selektiven Vertriebs-
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Allgemein basieren solche vertikal gebundenen Vertriebsstrukturen „auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf unterschiedlichen Marktstufen, mittels denen sich die Vertragsparteien zu weiter reichenden Leistungen verpflichten als zum bloßen Austausch von Waren und Dienstleistungen zu einem bestimmten Preis, wie dies auf Spotmärkten üblich ist. Hauptzweck solcher Vereinbarungen ist […] die Senkung der Transaktionskosten.“ (Dietrich/Sauer 2001: 595)
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Dieses selektive Vertriebssystem wirkt in seiner Substanz seit Mitte der 1980er Jahre unverändert. Durch die aktuell geltende GVO 1400/2002 verbesserte sich die Wettbewerbssituation des Kfz-Gewerbes vor allem in drei Punkten: Erstens können die Kfz-Händler, wenn auch unter eingeschränkten Bedingungen, mehrere Automarken anbieten, was ihre Abhängigkeit von einem Hersteller reduziert; zweitens müssen die Hersteller allen KfzWerkstätten einen Zugang zu allen technischen Informationen ihrer Produkte verschaffen, was insbesondere die Wettbewerbsposition der markenfreien Kfz-Werkstätten verbessert; und drittens sind die Kfz-Werkstätten nicht mehr gezwungen, Originalersatzteile von den Herstellern zu beziehen, sondern können diese direkt bei den Zulieferern einkaufen, so dass sie ihre Service- und Reparaturleistungen günstiger anbieten können (FIGIEFA 2002; ZDK 2008a).
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Gegenwärtig deutet sich an, dass die Kfz-spezifische GVO nicht mehr verlängert wird, was aus Sicht des KfzGewerbes das bestehende Machtungleichgewicht zugunsten der Automobilhersteller deutlich verstärken würde. Begründet wird dies damit, „dass die heutigen Regelungen zum Schutz von markengebundenen Autohäusern (z. B. Regelungen zu Kündigungsfristen) ebenso wie Regelungen zur Gewährung gewisser unternehmerischer Frei-
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systems sind die markengebundenen Kfz-Betriebe verpflichtet, das Fabrikat eines bzw. einiger weniger Hersteller zu vertreiben. Damit soll eine qualitativ hochwertige Vertriebs- und Serviceorganisation den kontinuierlichen Absatz des Markenartikels „Automobil“ sicherstellen, was die zentrale Voraussetzung für die Auslastung der Produktionskapazitäten der Hersteller ist. Als Konsequenz des selektiven Vertriebssystems ergibt sich eine Zweiteilung des Kfz-Gewerbes in markengebundene und markenfreie Kfz-Betriebe. Die Markenbetriebe, um die es hier geht, sind formal selbständig, faktisch unterliegen sie jedoch in vielen Bereichen den Vorgaben der Hersteller. Kennzeichnend für die Zusammenarbeit sind bestandssichernde und unterstützende Maßnahmen seitens der Automobilindustrie, was im Gegenzug mit der teilweisen Aufgabe der unternehmerischen Autonomie seitens des markengebundenen KfzGewerbes verbunden ist (Heidling 1997: 62-71): Die wichtigste bestandssichernde Maßnahme durch die Hersteller besteht in einem Gebietsschutz. Dem markengebundenen Kfz-Handel wird die alleinige Verantwortung für die Organisation und die Durchführung des Absatzes von neuen Fahrzeugen in einem abgegrenzten regionalen Gebiet, dem jeweiligen Vertragsgebiet, gegeben. Die unterstützenden Leistungen umfassen regelmäßig aktualisierte Informationen zu den technischen Änderungen der Fahrzeuge, die Bereitstellung der technischen Ausstattung der Kfz-Betriebe sowie umfangreiche Fortbildungsmaßnahmen für alle Beschäftigten. Im Gegenzug müssen die Kfz-Betriebe weitreichende, vertraglich festgeschriebene Eingriffe in ihre Handlungsautonomie hinnehmen. Entsprechend der Markenexklusivität sind die Kfz-Betriebe verpflichtet, umfangreiche Investitionen zu tätigen, die sich jeweils an der Modellpalette der Hersteller orientieren (spezielle Werkstattausrüstungen, Ersatzteile und Materialien). Daneben verfügen die Hersteller über umfangreiche Kontrollmöglichkeiten, was den Zugang zu den Geschäftsräumen, die Einsicht in geschäftliche Vorgänge und speziell die Kontrolle des Rechnungswesens und der Bilanz umfasst. Ein zentrales Steuerungselement sind die Arbeitswertvorgaben, die von den Herstellern jeweils für neue Fahrzeuge auf Basis von Arbeitsstudien festgelegt werden und die auch die Grundlage für die Preisgestaltung der Werkstattleistungen gegenüber den Kunden sind. Ein Mindestmaß an Selbständigkeit und damit eine von den Herstellern unabhängige Handlungsressource bilden für die Kfz-Betriebe der Handel mit Gebrauchtwagen und die Qualität der Wartungsarbeiten. Davon hängt in hohem Maß der Zugang zu den Kunden ab. Ein großer Kundenstamm bildet wiederum die Basis für den Verkauf von Fahrzeugen, was den größten Teil des Umsatzes ausmacht. Gekennzeichnet ist das Verhältnis zwischen großen und kleinen Unternehmen also durch einen ungleichen Tausch, der von den Kfz-Betrieben auf Dauer geduldet wird, weil der Zugang zu besseren Tauschverhältnissen faktisch versperrt ist. Eine Vertragsauflösung stellt für die Mehrzahl der Kfz-Betriebe keine realistische Handlungsoption dar, weil sie dann praktisch nur die Wahl hätten, als markenfreie Betriebe weiterzuarbeiten. Mit dem Neuwagenverkauf würde damit jedoch der umsatzstärkste Teil ihrer ökonomischen Aktivitäten entfallen, was die ökonomische Überlebensfähigkeit vieler Betriebe in Frage stellen würde räume für Händler und Werkstätten […] entfallen. […] Als Konsequenz wäre damit zu rechnen, dass getätigte Investitionen […] nicht mehr amortisiert werden könnten und durchaus gesunde Händler oder Werkstätten vom Markt verschwänden.“ (ZDK 2008a. 3)
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(Heidling 1999: 58f.). Die starke strategische Stellung des fokalen Unternehmens beruht also darauf, dass sie „diejenigen Ressourcen kontrolliert, zu denen die anderen selbst keinen Zugang hätten, die sie zur Nutzung ihrer eigenen Ressourcen aber unbedingt benötigen“ (Sydow/van Well 1996: 204). Eine zentrale Rolle für die Austauschprozesse zwischen dem markengebundenen KfzGewerbe und den Herstellern spielen die institutionalisierten Interessenvertretungsstrukturen im Kfz-Gewerbe (Heidling 1997: 75-81). Der Zentralverband des Kfz-Gewerbes (ZDK) erfüllt zwei zentrale Funktionen: Erstens kann er als kollektiver Akteur eine – wenn auch begrenzte – Gegenmacht der Kfz-Betriebe gegenüber den Herstellern bilden. Konflikte zwischen einzelnen Kfz-Betrieben und den jeweiligen Herstellern kann der Verband dadurch entschärfen, dass er als Konfliktgegner der Automobilunternehmen auftritt. Zweitens besitzt er für seine Mitglieder Koordinations- und Vereinheitlichungsfunktionen, die er durch Informationssammlung, Informationsaufbereitung und Informationsverbreitung (z. B. durch die Sammlung und Weitergabe von Händlerverträgen, von einschlägigen Urteilen u.a.) sowie durch Lobbyarbeit erfüllt. Dabei lassen sich eher konfliktuelle von stärker kompromissfähigen Verhandlungsfeldern unterscheiden.
Margen Zwischen Kfz-Gewerbe und Automobilherstellern am stärksten umstritten ist die Festlegung der Margen – dies ist der Prozentsatz, den die Kfz-Betriebe beim Verkauf von Neuwagen erhalten. Exemplarisch zeigte sich dies an einem Konflikt aus den 1990er Jahren. Zu Beginn der 1990er Jahre kürzte ein Hersteller einseitig die vertraglich festgelegte Handelsmarge für die Kfz-Betriebe seines Netzes. Ein Teil des Rabattes sollte abhängig von der Übernahme einer Reihe zusätzlicher, im Händlervertrag ursprünglich nicht festgelegter, Verpflichtungen vergeben werden. Der vom ZDK unterbreitete Vermittlungsvorschlag beinhaltete die grundsätzliche Akzeptanz des neuen Rabattsystems, allerdings erst nach einer zweijährigen Übergangszeit. Nachdem dieser Vermittlungsvorschlag gescheitert war, unterstützte der ZDK eine Klage der betroffenen Händler gegen den Hersteller. Dabei wurde gerichtlich festgestellt, dass keine Rechtsgrundlage für die einseitige Einführung des neuen Rabattsystems vorhanden war. Aus Sicht des Verbandes war dieses Urteil „von historischer Bedeutung“ (ZDK 1992: 30). Zum ersten Mal stellte ein deutsches Gericht fest, dass der ZDK berechtigt war, für einen Händler gegen dessen Hersteller zu klagen. Anschließend verharrten die Parteien beider Seiten keineswegs in einem konfrontativen Zustand. Vielmehr einigte man sich nach Verkündung des Urteilsspruchs auf den vom ZDK ursprünglich eingebrachten Vermittlungsvorschlag.
Qualifikationsentwicklung Im Unterschied zum Verhandlungsfeld der Margen ist das Verhandlungsfeld der Qualifikationsentwicklung der Beschäftigten in den Kfz-Betrieben sehr viel stärker kompromissfähig. Dies lässt sich an der Einführung einer neuen Weiterbildungsstufe für die Beschäftigten im Kfz-Gewerbe ablesen, die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre realisiert wurde.
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Ausgehend von der hohen technischen Entwicklungsdynamik haben sich die Arbeitsanforderungen im Kfz-Gewerbe in den letzten Jahren stark verändert. Aufgrund des wachsenden Umfangs elektrisch und elektronisch gesteuerter Aggregate in den Fahrzeugen gewinnen die Fehlersuche, Diagnose sowie der Umgang mit entsprechenden Geräten eine immer größere Bedeutung. Deshalb führten ab Ende der 1980er Jahre viele Hersteller spezielle Weiterbildungsgänge im Elektronikbereich ein. Ein erfolgreicher Abschluss dieser Lehrgänge wurde den Arbeitskräften häufig mit einem Zertifikat bestätigt, was allerdings jeweils auf die Fahrzeuge eines Herstellers begrenzt blieb (markenspezifische Zertifizierung). Parallel dazu entwickelte der ZDK ein entsprechendes markenübergreifendes Weiterbildungsprogramm. 1993 mündeten diese Aktivitäten in eine gemeinsam von Herstellern und Kfz-Gewerbe getragene Initiative zur Einführung einer mittleren Qualifikationsstufe, den Kraftfahrzeug-Servicetechniker. Der ZDK drängte, gemeinsam mit der an diesem Verfahren beteiligten IG Metall als Vertreterin der Arbeitskräfte, erfolgreich auf die Umsetzung einer bundesweit gültigen Verordnung.16 Während dieses Feld für die Hersteller keine überragende Bedeutung hatte, stellte sich dies aus Sicht des Kfz-Gewerbes anders dar. Für die Kfz-Betriebe erhöht die bundesweite Verordnung die Attraktivität der Weiterbildungsstufe und trägt zudem dazu bei, ihrer Nachfrage nach dringend benötigten Fachkräften zu entsprechen. Außerdem ist mit der Verordnung die Chance gestiegen, dass Fachkräfte nicht aus der Branche abwandern, da sie bei einem Betriebswechsel ein arbeitsmarktgängiges Zertifikat vorweisen können, was ihnen eine Aufstiegsoption innerhalb des Kfz-Gewerbes in anderen Kfz-Betrieben eröffnet. Generell ist eine staatlich zertifizierte Fortbildung für die Arbeitskräfte wichtig, weil mit dem zusätzlichen Qualifikationsnachweis größere Mobilitätschancen am Arbeitsmarkt verbunden sind (Heidling 1997: 182-190; Mendius et al. 1997). Zusammenfassend ergibt sich das Machtpotenzial der Kfz-Betriebe als vergleichsweise schwächere Akteure im Netzwerk ‚Automobilproduktion‘ aus ihrer Position als „Relais“ (Crozier/Friedberg 1979: 95ff.), die an ihre Funktion als Vermittlungsinstanz zu wichtigen Umweltsegmenten der fokalen Unternehmen – Vertrieb und Wartung der Produkte sowie Informationsrückfluss zur jeweiligen Marktsituation – gebunden ist. Dies hebt die Dominanz fokaler Unternehmen und die asymmetrischen Austauschformen nicht auf. Allerdings können die Kfz-Betriebe durch die eigenständige Organisation ihrer Interessen ihr Machtpotenzial auch in Verhandlungsfähigkeit umsetzen und sich dadurch eigenständig auf der MesoEbene des Unternehmensnetzwerks positionieren. Auf Grundlage der Interessenorganisation eröffnen sich für die machtunterlegenen Partner je nach Verhandlungsfeld unterschiedlich breite Verhandlungskorridore. Durch den institutionalisierten Rückhalt sind die Kfz-Betriebe nicht gezwungen, ausschließlich in passiver „Beugsamkeit“ (Semlinger 1993: 346) zu verharren. Vielmehr sind sie bis zu einem gewissen Punkt in der Lage, konfliktuelle Auseinandersetzungen zu führen, da die Interessenorganisation ein Forum für „voice“ bereitstellt. Die horizontale Interessenaggregation bildet ein Gegengewicht und schafft zugleich die Grundlage für die Verhandlungsfähigkeit in der vertikalen Verbindung zu den fokalen Unternehmen, was als „konfliktuelle Verhandlungsautonomie“ (Bechtle 1980: 91) gekennzeichnet werden kann. Auf der Meso-Ebene dieses Unternehmensnetzes entwickelt sich daraus ein fragiles 16
Die staatlich anerkannte Fortbildungsprüfung mit dem Abschluss „Geprüfter Kraftfahrzeug-Servicetechniker / Geprüfte Kraftfahrzeug-Servicetechnikerin“ ist seit dem 1.7.1998 in Kraft.
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Gleichgewicht, bei dem es nur in Ausnahmefällen zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommt und vertragliche Regelungen eher als „eine institutionelle Rahmung der Vertrauensbeziehungen“ wirken (Kowol 1998: 321). Diese Situation würde sich vermutlich deutlich verändern, wenn mit dem Wegfall der GVO ab 2010 kein juristisch belastbarer Rahmen für die Kfz-Betriebe in konfliktuellen Auseinandersetzungen mehr verfügbar wäre. Möglicherweise käme es zu einer weiteren Segmentierung in wenige große Markenhändler mit einer relativen Verhandlungsautonomie und sehr vielen mittleren und kleinen Markenbetrieben, die den Herstellern in erster Linie mit passiver Beugsamkeit begegnen müssten.
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Interaktion in strategischen Netzwerken
Eine zentrale Konsequenz der zunehmenden Vernetzung der Unternehmen besteht in einer veränderten Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation. Entscheidend ist, dass die Arbeitsinhalte immer stärker entlang prozessübergreifender Verfahrens- und Wertschöpfungsketten, häufig im internationalen Maßstab, organisiert werden. Als Organisationsform für die Arbeit in diesen Strukturen nehmen unternehmensübergreifende Projekte einen wichtigen Platz ein. Deshalb geht es in den folgenden Ausführungen darum, „how organisations are embedded in networks and how this affects organizational project practices“ (Manning 2008: 34). In vernetzten Strukturen stehen die beteiligten Unternehmen vor der Herausforderung, die Vermittlung von Wissen und Know-how nicht nur innerbetrieblich über Abteilungs- und fachliche Grenzen hinweg sicherzustellen, sondern gleichzeitig über die Betriebsgrenzen hinaus in jeweils unterschiedlich strukturierte Kontexte zu organisieren. Damit verbunden ist die wachsende Bedeutung räumlicher verteilter Arbeitsprozesse. Verteilte Arbeit bezeichnet die Implementation einer Arbeitsorganisation, die verschiedene Aufgabenbereiche, Prozessketten oder Produktions- und Dienstleistungsstufen an unterschiedlichen Orten umfasst (Meil et al. 2004: 183-185). An die Stelle innerbetrieblicher Einzelarbeitsplätze als bisher dominierender Arbeitsform tritt in wachsendem Umfang die abteilungs-, betriebs- und unternehmensübergreifende Projektarbeit. Projekte nehmen in Unternehmensnetzwerken deshalb eine Schlüsselstellung ein, weil sie die Schnittstellen zwischen innen (den betrieblichen Abteilungen eines Unternehmens) und außen (anderen Unternehmen) darstellen. „Das Projekt ist der Anlass und der Vorwand für die Verbindung. Es bringt zeitlich befristet ganz unterschiedliche Personen zusammen und präsentiert sich als sehr aktiver Teil eines Netzwerks für einen relativ kurzen Zeitraum, was jedoch den Aufbau langfristiger Verbindungen durchaus ermöglicht. Auch wenn diese Verbindungen zwischenzeitlich deaktiviert werden, bleiben sie für neue Aktivitäten immer verfügbar.“ (Boltanski/Chiapello 1999: 157)17 Basis dieser Integration von räumlich und zeitlich auseinander liegenden Arbeitsprozessen in Projekten sind die sich in weiterhin starkem Tempo entwickelnden digitalen Systeme der
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Eigene Übersetzung; vgl. dazu abweichend: Boltanski/Chiapello 2006: 149.
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Informationsverarbeitung, -bündelung und -weitergabe (Meil/Heidling 2006: 151f.; Boltanski/Chiapello 1999: 212-213). Informationstechnologien stellen ein wichtiges Hilfsmittel dar, um die weit verteilten Aktivitäten zu verknüpfen und zu integrieren. Allerdings wird damit nur ein Teil der Integrationsleistungen der vernetzten Prozesse gewährleistet. Einen mindestens ebenso wichtigen Anteil haben die beteiligten Akteure, die die Austauschprozesse von Waren, Dienstleistungen und Informationen zwischen den nach wie vor bestehenden Unternehmensstandorten ausführen und sicherstellen. Eine zentrale Organisationsform, in der diese Arbeiten stattfinden, sind unternehmensübergreifende Projekte. Projektarbeit ist geprägt von einer zeitlich und inhaltlich befristeten Zusammenarbeit, in der durch koordinierte Mobilisierung und Steuerung gemeinsamer Ressourcen ein definiertes Arbeitsziel erreicht werden soll. In den Projektgruppen wird der eigenständige organisatorische Status der beteiligten Netzwerkunternehmen nicht verändert, sondern bildet vielmehr die Grundlage, auf der die kooperierenden Akteure die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit organisieren müssen. Die Projektbeteiligten bleiben Mitglieder ihrer jeweiligen Unternehmen und Abteilungen und sind gleichzeitig Mitglieder unternehmensübergreifender Projektgruppen. Gebunden ist diese Zusammenarbeit an konkrete und klar definierte Vorgaben, bezogen auf begrenzte Ressourcen: die Herstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen bei Einhaltung vorgegebener Qualitätsstandards in einem begrenzten Zeitrahmen sowie eines vorgegebenen finanziellen Budgets (Meil/Heidling 2006: 152-15; Grabher 2002: 207). Wie eine genauere Betrachtung unternehmensübergreifender Projekte zeigt, entwickeln sich die Arbeitsprozesse in einem Spannungsfeld von lokaler Verantwortung und unternehmensübergreifender Organisation. Zentral ist die projektbezogene Zusammenführung von Beschäftigten unterschiedlicher Fachbereiche aus den in einem Netzwerk kooperierenden, oft weit verteilten Unternehmen. In diesen Projekten kommen also Akteure zusammen, deren Heimatstandorte die fokalen Unternehmen sowie Zulieferer unterschiedlicher Ebenen der Wertschöpfungskette sind. Für die Zusammenarbeit prägend sind häufig differierende fachliche Voraussetzungen und Erfahrungen sowie jeweils eigene Kulturen von Beschäftigten aus ganz unterschiedlichen Unternehmen. Ein wichtiges Moment dieser verteilten Arbeitsprozesse in Projekten besteht darin, dass die Generierung und der Transfer von Wissen und Know-how an verschiedenen Orten stattfindet, und zwar jeweils in innerbetrieblichen und überbetrieblichen Kontexten. Daraus entwickelt sich ein komplexes Wechselspiel zwischen den an bestimmte Unternehmensstandorte gebundenen Produktions- und Dienstleistungsprozessen und dem über große räumliche Distanzen organisierten Austausch und der Weiterverarbeitung der Ergebnisse. Unternehmensübergreifende Projekte nehmen dabei eine Schlüsselstellung ein, weil sie sich zu Drehscheiben neu zusammengesetzter, verschränkter Wissensbestände entwickeln. Damit erhalten die in diesen Projekten agierenden Akteure eine Scharnierfunktion in der Regulierung der Wissens- und Informationsströme zwischen den unterschiedlichen Standorten der an den Projekten beteiligten Unternehmen. Die Akteure in diesen Projekten sind es, die das entstehende Spannungsfeld zwischen lokaler Verantwortung und weit verteilten Organisationsstrukturen austarieren müssen (Meil et al. 2004: 183; Sydow et al. 2004: 1476f.; Sapsed/Salter 2004: 1526f.; Galbraith 2006: 188f.).
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Durch diese Form der Zusammenarbeit entsteht eine „verteilte Wirklichkeit“ im Arbeitshandeln: einerseits geht es um die Erbringung von Arbeitsergebnissen der im Projekt versammelten unterschiedlichen Akteure und andererseits um die Vermittlung dieser Arbeitsergebnisse und weiterer Arbeitsanforderungen in die Stamm- bzw. Heimatunternehmen (Meil/ Heidling 2006: 152). Insofern ist diese Form der Zusammenarbeit sehr voraussetzungsvoll und erfordert „besondere Fähigkeiten“ nicht nur von den fokalen Unternehmen (Sydow 2006: 397), sondern vielmehr von allen Akteuren, die an den Projekten beteiligt sind. Besondere Fähigkeiten sind insbesondere für den angemessenen Umgang mit sich widersprechenden oder sogar ausschließenden Anforderungen gefragt, durch die verteilte Projektarbeit in Netzwerken geprägt ist. Die wesentliche Aufgabe des Projektmanagements, das meist aus Vertretern der fokalen Unternehmen und der Systemzulieferer zusammengesetzt ist, besteht darin, für diese Anforderungen in unterschiedlichen Dimensionen jeweils angemessene Lösungen zu finden.18 Bei der Organisation der Arbeitsabläufe tritt die überbetriebliche Systemintegration und die Steuerung der Partnerbeiträge in den Vordergrund. Jenseits individuellen Spezialwissens wird von den Projektbeteiligten in wachsendem Umfang gefordert, ihr Wissen und ihre Kenntnisse über die jeweiligen Betriebsgrenzen hinaus und entlang der Prozessketten zu orientieren. Projektmitarbeiter aus den vernetzten Unternehmen sind für jeweils einzelne Komponenten, die zu einem Gesamtprodukt zusammengeführt werden, verantwortlich, sei es ein Automobil oder ein Flugzeug. Deshalb müssen sie in der Lage sein, sowohl die Schritte ihrer eigenen Aufträge vorausschauend abzustimmen als auch die Integration ihrer Teilleistung in das Gesamtprodukt zu gewährleisten. Diese Anforderungen verteilter Projektarbeit erfordern antizipatives und offenes Denken und Handeln im Unterschied zu vornehmlich an vorgegebenen Kategorien und formalen Vorgaben ausgerichtetem Arbeitshandeln. Dem Moment der Offenheit kommt deshalb eine große Bedeutung zu, weil die Projektarbeit ganz überwiegend nicht linear, sondern prozessual verläuft. Ein konstitutiver Bestandteil dieser Prozesse sind regelmäßig wiederkehrende Änderungen gegenüber den Projektplanungen. Zwar ist ein Projektrahmen versehen mit klaren Planvorgaben (Zeit, Budget, Qualität), bei der Projektumsetzung ergibt sich jedoch regelmäßig ein mehr oder weniger großer Anpassungsbedarf. Auslöser sind häufig kritische Situationen, die als unplanbare, aber systematisch auftretende Ereignisse den Projektablauf beeinflussen. Bei diesen unvorhergesehenen Ereignissen müssen die Projektbeteiligten unter restriktiven zeitlichen Bedingungen in der Lage sein, neue Lösungswege einzuschlagen. Gerade in solchen kritischen Situationen werden Konflikte zwischen den Projektpartnern sichtbar. Dabei sind aufgrund der unterschiedlichen technischen Anforderungen, sachlichen Grundlagen und der Vielzahl interessenpolitischer Positionen, die in den unternehmensübergreifenden Projektgruppen aufeinandertreffen, die Konfliktursachen häufig nur schwer zu identifizieren. Ihre Quellen liegen nicht innerhalb eines betrieblich begrenzten Rahmens, sondern in den verschiedenartigen Strukturen der miteinander vernetzten Unternehmen (siehe das Fallbeispiel Flugzeugindustrie in den beiden Textboxen).
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So zeigt etwa die Befragung von 44 Netzwerken zur Bedeutung eingesetzter Managementinstrumente, dass dem Projektmanagement die höchste Priorität zugemessen wird (Stadlbauer et al. 2007: 264-267).
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Fallbeispiel Flugzeugindustrie (Teil 1) Ein französisches Zulieferunternehmen der zweiten Stufe (B) arbeitet mit dem deutschen Systemzulieferer (A) zusammen. Beide Unternehmen stellen im Rahmen eines europäischen Projekts, an dem weitere Partner beteiligt sind, elektronische Steuerungselemente für Flugzeuge her. Der Auftraggeber ist ein französisches Unternehmen der Flugzeugindustrie (C). Als Systemintegrator ist A für C alleiniger Ansprechpartner und hauptverantwortlich für die termingerechte Lieferung der Produkte und die Gestaltung der Zusammenarbeit. Das Unternehmen B hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Ursprünglich war B Teil eines französischen Automobilkonzerns und wurde zwischen Ende der 1990er Jahre und
Anfang der 2000er Jahre mehrfach verkauft. Jetzt gehört B zu einem USamerikanischen Konzern (D) und wird von dessen europäischer Niederlassung in England gesteuert. Die Übernahmen und wechselnden Konzernzugehörigkeiten des Unternehmens B hatten tiefgreifende Konsequenzen für die operative Ebene der Projektarbeiten. Im Verlauf der verschiedenen Eigentümerwechsel verließ das gesamte technische Projektteam von B, das mit der Entwicklung und Produktion der elektronischen Steuerungselemente beschäftigt war, das Unternehmen. Damit verlor B große Teile seiner Expertise im Bereich elektronischer Komponenten für den Flugzeugbau. (Fortsetzung siehe Textbox 2)
Die Aufgabe der Projektleiter besteht darin, konfliktlösend zu wirken und zugleich darauf zu achten, dass die Projektziele nicht gefährdet werden. Da die Projektleiter – anders als in internen betrieblichen Prozessen – nur begrenzt auf hierarchische Anweisungsstrukturen zurückgreifen können, ist die Projektarbeit von kontinuierlichen Aushandlungsprozessen geprägt. Ein typisches Beispiel ist die Auseinandersetzung über steigende Kosten. So sind z. B. in der Flugzeugentwicklung die Gewichtsobergrenzen einzelner Komponenten sehr eng ausgelegt. Jeder Partner in den Projektgruppen der Zulieferer ist deshalb verpflichtet, diese Obergrenzen bei seinen Konstruktionen zu berücksichtigen. Eine Überschreitung ist mit finanziellen Sanktionen der Hersteller belegt, was für die einzelnen Zulieferer sehr teuer werden kann. Trotzdem werden die Obergrenzen regelmäßig überschritten, was unmittelbare Konflikte in den Projektgruppen auslöst. Angesichts der engen zeitlichen Vorgaben müssen sehr schnell Kompromisse gefunden werden, um entweder die Gewichtsobergrenzen doch einzuhalten oder die entstehenden Kosten innerhalb der Projektgruppen gemeinsam zu tragen. Dieses Beispiel zeigt die widersprüchlichen Anforderungen, mit denen die Akteure in den Projekten konfrontiert sind. Auf der einen Seite müssen sie verhindern, dass ihrem Heimatunternehmen größere Anteile der zusätzlichen Kosten zugeschlagen werden. Auf der anderen Seite dürfen sie das Projektziel, die zeitgerechte Planung und Herstellung eines Flugzeugs, nicht gefährden. Entscheidend für den Umgang mit diesen Widersprüchen ist die Herstellung von Einverständnishandeln, weil nur dadurch ein erfolgreicher Projektverlauf gewährleistet werden kann. Deshalb ist die Projektsteuerung und die Kommunikation zwischen den Akteuren ganz wesentlich von Verhandlungen und Kompromissen geprägt (Meil/Heidling 2006:
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152-160; Meil et al. 2004: 195-196; Grabher 2004: 105; Sydow/Windeler 2004: 46; Sydow 2006: 412). Fallbeispiel Flugzeugindustrie (Teil 2) Durch den Know-how Verlust wurde die Projektarbeit zwischen den beteiligten Unternehmen gestört. Die Projektverantwortlichen bei A verloren ihre Ansprechpartner und gerieten aufgrund der verzögerten Projektbeiträge von B unter immer stärkeren Druck. Als Systemintegratoren waren sie kaum noch in der Lage, die Ergebnisse zu den vereinbarten Terminen an C zu liefern. Um seine Zusagen an die Kunden einzuhalten, verstärkte C den Termindruck auf seine Zulieferer und insbesondere auf A. Diesen wachsenden Druck gab A an B weiter, indem es detaillierte Arbeits- und Zeitpläne vorgab, um die Lieferungen an C sicherzustellen. Dies wurde von B als aggressives Verhalten wahrgenommen; das Arbeitsklima verschlechterte sich derart, dass die Projektarbeiten zeitweise unterbrochen wurden und A B damit drohte, die Zusammenarbeit ganz aufzukündigen. Eine Entspannung zeichnete sich erst ab, als B neue Projektingenieure eingestellt und ein neues Team gebildet hatte. Allerdings blieb die Zusammenarbeit im Projekt zunächst schwierig, da der Aufbau des Know-hows bei den neuen Projektmitgliedern einige Zeit in Anspruch nahm und die Projektver-
antwortlichen von A währenddessen bestehende Defizite der Beiträge von B ausgleichen mussten. Zudem hatte sich die Basis der Zusammenarbeit von A und B insofern verändert, als D, der neue Eigentümer von B, nunmehr in Teilen seiner Produktpalette direkt mit A konkurriert. Aus einer Kooperationsbeziehung war eine Mischung aus Kooperation in einigen und Konkurrenz in anderen Marktsegmenten geworden. Dies führte zu Unsicherheiten in der Projektarbeit, da die Projektbeteiligten von A und B nicht mehr wussten, in welchem Maße sie kooperieren sollten und welche Informationen, Konstruktionszeichnungen oder Teile sie austauschen konnten, ohne Know-how einem Konkurrenten zur Verfügung zu stellen. Diese Probleme ließen sich auf der Ebene des operativen Projektgeschäfts nicht lösen. Deshalb schlossen die Vertreter des Managements von A und B Kooperationsvereinbarungen, um die Felder, in denen die Unternehmen konkurrieren, von denen abzugrenzen, in denen sie zusammenarbeiten. Offen bleibt jedoch, ob es dadurch gelingt, die Projektarbeiten auf der operativen Ebene dauerhaft zu entlasten.
Machtkonstellationen Dies verweist darauf, dass mit der Interaktion in den Projektgruppen eine Verschiebung der Machtkonstellation zwischen den stärkeren und den eher schwächeren Netzwerkakteuren verbunden sein kann. Dies liegt daran, dass sich die Akteure unternehmensübergreifender Projekte „außerhalb der Machtstrukturen der betrieblichen Organisation“ ihrer Heimatunternehmen bewegen (Meil/Heidling 2006: 151). Dadurch können Projekte „eine eigene soziale
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Identität ausbilden“ (Sydow/Windeler 2004: 40), in die zwar die Interessen der jeweiligen Stammunternehmen eingehen, die Resultate der Projektarbeiten aber nicht determinieren. Entscheidend ist vielmehr der erfolgreiche Abschluss der Projektarbeiten, und um diesen zu sichern, treten die unterschiedlichen Machtpotenziale der Projektbeteiligten mindestens zeitweise in den Hintergrund. Angesichts der für Projekte konstitutiven Restriktionen (begrenzte zeitliche und materielle Ressourcen) rückt in den Vordergrund, dass die Akteure ihre Aufgaben innerhalb der zeitlichen Vorgaben in möglichst hoher Qualität erfüllen. Anders gesagt: die ungleiche Stärke der Akteure tritt zurück hinter den zielorientierten und temporären Charakter der Projektarbeiten. Dies bedeutet keine Aufhebung, aber doch eine Relativierung vorgängiger asymmetrischer Machtstrukturen.
Brückenfunktion So gesehen stellen unternehmensübergreifende Projekte die Mikro-Ebene der strategischen Interaktionen zwischen den vernetzten Unternehmen dar. Der besondere Stellenwert dieser Projekte liegt in ihrer Brückenfunktion einer temporär-kontinuierlichen Verbindung der in den Netzen kooperierenden Unternehmen. Dies ist voraussetzungsvoll, weil die Herausforderung der übergreifenden Kooperationen darin besteht, „to create alliance pipelines that are both sufficiently tight and reliable enough to successfully transfer information in the absence of dense social connection“ (Whittington et al. 2009: 97). Die Funktionsweise unternehmensübergreifender Projekte lässt sich mit dem Brückenkonzept verdeutlichen, das für die Theorie sozialer Vernetzungen einen zentralen Stellenwert hat (vgl. den Beitrag von Jansen/Diaz-Bone, in diesem Band). In diesem Konzept stellen Brücken in Netzwerken die jeweiligen Verbindungswege her, über die relevante Informationen, Einflüsse und Kontakte zwischen zwei und mehr Punkten verlaufen (Granovetter 1973: 1364-1366). Besonders wichtig sind die „bridging weak ties, since they do link different groups, […] to connect individuals who are significantly different from one another“ (Granovetter 1983: 204). Schwache Verbindungen zu ganz unterschiedlichen Gruppen eröffnen den Akteuren ein weites Umfeld gegenüber einer begrenzten Zahl stabiler Bindungen. Neue Informationen und innovative Ideen fließen aufgrund schwacher Bindungen in viel größerem Ausmaß als auf Basis starker Bindungen (Granovetter 2005: 34, 1973: 1367; Smith-Doerr/Powell 2005: 392f.). Die besondere Qualität unternehmensübergreifender Projekte liegt darin, Kenntnisse und Fähigkeiten unterschiedlicher Akteure zu bündeln und für spezifische Ziele zu nutzen. Insbesondere diejenigen, die sehr weit voneinander entfernte und damit nur schwach verbundene Teile von Netzwerken in unternehmensübergreifenden Projekten zusammenführen, erschließen sich strategisch wichtige Zugänge zu Informationen und Ressourcen. „Producers with direct access to structural holes among suppliers and customers are more exposed to variation in business practice and have more opportunities to play competing organisations against one another.“ (Burt 2008: 340) Durch den temporären und offenen Charakter stellen unternehmensübergreifende Projekte ein wichtiges Instrument dar, mit dem Unternehmen auf schnell wechselnde oder sich ändernde Ziele reagieren können, indem Projektteams vergrößert oder verkleinert werden oder
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die inhaltlich-fachliche Expertise durch den Wechsel von Akteuren variiert wird. Während sich die fokalen Unternehmen, die häufig Initiatoren der unternehmensübergreifenden Projekte sind, dadurch einen vergleichsweise günstigen und kontinuierlichen Zufluss von Knowhow sichern, liegt das Interesse an einer erfolgreichen Zusammenarbeit der mit geringeren Machtpotenzialen ausgestatteten Akteuren besonders darin, die notwendige Reputation aufzubauen, um an zukünftigen Projekten wieder beteiligt zu sein (Granovetter 1985; 490f., 2005: 35, Meil/Heidling 2006: 158-160, Grabher/Ibert 2006: 261). Deshalb führt die Zusammenarbeit in unternehmensübergreifenden Projekten zu wechselnden Allianzen zwischen den beteiligten Akteuren und damit zu unterschiedlichen Mischungen aus Kooperation und Konkurrenz. Entscheidend dafür ist, dass Partner in einem Projekt gemeinsam zusammenarbeiten, in einer anderen Situation dagegen – nämlich z. B. dann, wenn sie in unterschiedlichen Projekten zwei rivalisierenden Unternehmensnetzwerken angehören – Konkurrenten sind. Projektbasierte Organisationsformen „lead to new interpretations of the nature of competition“ (Smith-Doerr/Powell 2005: 386), weil das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz immer wieder neu austariert werden muss. Zusammenfassend erfüllen unternehmensübergreifende Projekte die Brückenfunktionen in Netzwerken in einer dynamischen Weise. Sie bilden temporäre Orte, an denen entferntes Wissen und Know-how zusammengeführt und weiterentwickelt wird. Die zeitliche Begrenzung, der kontinuierliche Wechsel der beteiligten Akteure in den Projekten und der potenziell weit gespannte Zugriff auf Ressourcen beim Start neuer Projekte garantiert den kontinuierlichen Zufluss neuer Ideen und Perspektiven. Unternehmensübergreifende Projekte sind ein wichtiges Instrument, durch das Aktivitäten in Unternehmensnetzwerken initiiert und gesteuert werden. Besonders wirkungsvoll ist dieses Instrument immer dann, wenn bestimmte Ziele unter restriktiven Bedingungen (Zeit, Ressourcen) erreicht werden sollen. Unternehmensübergreifende Projekte bilden einen wichtigen Ausschnitt der Mikro-Ebene der Vernetzung. Das hohe Flexibilitätspotenzial dieser Organisationsform hängt damit zusammen, dass das Ende der einzelnen Projekte nicht gleichbedeutend mit dem Ende der dabei entstandenen Verbindungen zwischen den handelnden Akteuren ist. Vorübergehend inaktive Verbindungen können jederzeit wieder aktiviert und in neuen Projekten anschlussfähig für neue Themenstellungen und Zielsetzungen gemacht werden.
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Fazit
Unternehmensnetzwerke sind eine Organisationsform, durch die die widersprüchlichen Anforderungen von Flexibilität und Effizienz verbunden werden sollen. In strategischen Netzwerken nehmen die fokalen Unternehmen, meist aufgrund ihrer Größe, eine zentrale Stellung ein, die es ihnen erlaubt, gegenüber anderen, meist kleineren Unternehmen, ihre Interessen machtvoll zu verfolgen und durchzusetzen. Dadurch entstehen asymmetrische Strukturen mit strategischen Vorteilen für die fokalen Unternehmen, die insbesondere dadurch gekennzeichnet sind, dass sie auf die Ressourcen eigenständiger unternehmerischer Akteure in ihrer betrieblichen Umwelt zugreifen können.
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Antagonistische Kooperation Das Beziehungsgeflecht der beteiligten Unternehmen in strategischen Netzwerken ist einerseits durch ein immanentes Einflussgefälle gekennzeichnet. Das Einverständnishandeln der machtunterlegenen Akteure verweist darauf, dass sie über vergleichsweise geringe alternative Handlungsoptionen verfügen. Durch die dauerhaft unterschiedliche Verfügung über Autonomiespielräume entsteht ein stabil ungleiches Tauschverhältnis, das auch als antagonistische Kooperation gekennzeichnet werden kann. Andererseits zeichnet sich diese Form der Kooperation durch spezifische Einflussgrenzen aus. Dies zeigt die Arbeitsteilung zwischen den großen Automobilherstellern und den kleinbetrieblichen Kfz-Unternehmen. Die fokalen Unternehmen konzentrieren sich auf die Automobilproduktion, die kleinen Kfz-Betriebe auf die Distribution und die Instandhaltung der Fahrzeuge. Damit verbleiben den kleinbetrieblichen Unternehmen wichtige Dispositionsspielräume, um ihre rechtliche Selbständigkeit aufrecht zu erhalten. Eine vollständige Kontrolle (bzw. ‚vollständige‘ Ausbeutung) müsste organisationspolitisch die Integration der stärker abhängigen in die fokalen Unternehmen nach sich ziehen, weil damit die Voraussetzung für einen hierarchischen Durchgriff gegeben wäre. Asymmetrisch strukturierte Netzwerke beruhen also sowohl auf einem immanenten Einflussgefälle als auch auf strukturellen Einflussgrenzen, die nur um den Preis überschritten werden können, dass Hierarchie Kooperation ersetzt und Netze damit ihre Grundlage sowie ihre Funktionen verlieren. Um ihre Autonomiespielräume zu nutzen, müssen die machtunterlegenen Akteure allerdings auch in der Lage sein, im Netzwerk produktiv mitzuarbeiten. Eine wichtige Grundlage dafür sind Formen horizontaler Interessenorganisation, durch die sich die weniger machtvollen Akteure auf der Meso-Ebene von Unternehmensnetzwerken positionieren können. Diese Instrumente befähigen sie dazu, ihre Interessen eigenständig zu formulieren und dann in Verhandlungen mit den fokalen Unternehmen angemessen zu vertreten. Damit stellen diese Formen der Interessenorganisation ein Gegengewicht in vertikalen, asymmetrisch strukturierten Netzwerkbeziehungen dar.
Projekte Um die Dynamik der Handlungssituation in Netzwerken zu erfassen, bietet die Untersuchung unternehmensübergreifender Projekte wichtige Einblicke. Unternehmensübergreifende Projekte bilden die temporären Orte, an denen die im Netz verteilten Aktivitäten immer wieder zusammengeführt werden. Damit bilden unternehmensübergreifende Projekte die MikroEbene der Vernetzung. Durch ihre Brückenfunktion versammeln sie Akteure unterschiedlicher Unternehmen der häufig stark ausdifferenzierten Unternehmensnetzwerke – mit einem definierten Ziel, für einen begrenzten Zeitraum und mit begrenzten Ressourcen. Die unternehmensübergreifenden Projekte bleiben Teil ihrer Heimatunternehmen und stellen gleichzeitig eine parallele Organisationsform dar, die eine eigene soziale Identität ausbilden kann. Aufgrund des hohen Flexibilitätspotenzials haben die fokalen Unternehmen ein großes Interesse an der kontinuierlichen Initiierung dieser Projekte. Dadurch werden die Voraussetzungen für Innovationen auf Dauer gestellt und Lock-in-Effekte umgangen. Unternehmensüber-
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greifende Projekte sind zugleich die Orte, in denen die Konkurrenzverhältnisse der mit unterschiedlichen Machtpotenzialen ausgestatteten Akteure kontinuierlich in Einverständnishandeln und Kooperation zur Erreichung gemeinsamer Ziele transformiert werden müssen. Kompromisse müssen einerseits so weitreichend sein, dass der Projekterfolg gesichert wird. Andererseits ist die Kompromissfähigkeit der Akteure durch die Verpflichtungen gegenüber ihren Heimatunternehmen begrenzt. Für die weniger machtvollen Akteure liegt ein weiterer wichtiger Anreiz für ihr Einverständnishandeln darin, Reputation aufzubauen und immer wieder zu bestätigen, weil dies die Einbindung in Folgeprojekte und damit ihre ökonomische Existenz sichern kann.
Meso- und Mikro-Ebene Die Betrachtung der Meso- und der Mikro-Ebene von strategischen Unternehmensnetzwerken verdeutlicht, dass Kooperation als notwendige Voraussetzung für die Vitalität von Unternehmensnetzwerken von der Handlungsfähigkeit der Akteure abhängig ist, die mit geringeren Ressourcen ausgestattet sind. Ausgehandelte Machtverhältnisse sind damit die Grundlage dafür, dass alle verbundenen Akteure produktive Beiträge für die weitere Entwicklung der Unternehmensnetze auf der Meso-Ebene liefern können. Dies kann, wie der Komplex der Automobilproduktion zeigt, eine institutionalisierte Interessenvertretungsstruktur der kleineren Partner voraussetzen. Auf der Mikro-Ebene der Vernetzung stellen die unternehmensübergreifenden Projekte eine eigene Organisationsform dar, die von den Heimatunternehmen zwar beeinflusst werden, deren Arbeitsergebnisse jedoch entscheidend von den Verhandlungen und den Kompromissen der Akteure in den Projekten abhängen. Wie diese ausgehandelten Machtverhältnisse in strategischen Unternehmensnetzwerken jeweils zustande kommen, welche Kompromisse dabei gefunden werden und welche Kooperationsformen daraus resultieren, ist allerdings kontingent. Bislang kaum vorhersehbar ist außerdem, ob und wie die Organisationsform unternehmensübergreifender Projekte auf die beteiligten Unternehmen zurückwirkt und deren interne Strukturen und Identitäten verändert. Erst die genaue Untersuchung dieser Wechselwirkungen kann zeigen, ob die eingangs zitierten Prognosen zukünftig dominierender projekt- und netzwerkförmiger Unternehmensstrukturen zutreffend sind. In jedem Fall verweist die zunehmende Durchlässigkeit von Unternehmensgrenzen auf einen umfangreichen Bedarf zur weiteren Erforschung der Dynamik von Unternehmensnetzwerken.
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Regionale Netzwerke Martin Heidenreich Innovationen sind regional konzentriert.1 Das weltweit seit Jahrzehnten bekannteste Beispiel hierfür ist die informationstechnologische Industrie im Silicon Valley (vgl. Saxenian 1994). In Deutschland sind etwa das Münchener Biotechnologiecluster, die Kölner Film- und Medienwirtschaft oder die ostwestfälische Möbel- und Küchenindustrie zu nennen. Nicht nur Hochtechnologieindustrien wie die Chip- oder die Biotechnologieindustrie (Powell et al. 1996), sondern auch anspruchsvolle Dienstleistungen (Medienwirtschaft, Werbung, Finanzdienstleistungen, Unternehmensberatung) und traditionelle Industrien wie die mittelitalienische Textil-, Bekleidungs-, Keramik-, Leder- und Metallwarenindustrie (Piore/Sabel 1985) sind regional konzentriert und vernetzt. Solche regionalen Netzwerke sind kein neues Phänomen: Auch in der Vergangenheit waren Unternehmen in einer Region über Marktbeziehungen, über persönliche Kontakte und über gemeinsame Institutionen verflochten: Solinger Klingen, Lyoneser Seide, Meißener Porzellan oder Keramik aus Faenza – alles Produkte regionaler Industriedistrikte – haben schon seit Jahrhunderten einen hervorragenden Ruf. Angesichts der Grenzen einer technologie-, wissenschafts- und unternehmenszentrierten Wirtschafts- und Innovationspolitik (Weyer 2008) ist auch aus wirtschaftspolitischer Sicht das Interesse an regionalen Netzwerken hoch. Dies dokumentiert sich in zahlreichen Netzwerk-, Cluster- und Kompetenzinitiativen.2 Diese setzen auf die Förderung regionaler Netzwerke als Mittel zur Stärkung der betrieblichen Innovationsfähigkeit. Hierbei wird unterstellt, dass die „enge Kooperation von leistungsstarken Akteuren in sogenannten Netzwerken (oder auch Clustern), welche die gesamte technologische Wertschöpfungskette abdecken, die regionalen Stärken fördern und somit entscheidend zur erfolgreichen Profilierung von Regionen innerhalb des globalen Wettbewerbs beitragen“ (Meier zu Köcker/Buhl, 2008).
1
Innovationen verstehen wir im Anschluss an Edquist (2001: 25) als „new creations of economic significance of a material or intangible kind. They may be brand new but are more often new combinations of existing elements.”
2
Vgl. OECD (2001). In Deutschland sind hier etwa die Bioregio-, Innoregio- und Exist-Programme zu nennen (Eickelpasch/Fritsch 2005). In Frankreich wurden seit 2005 71 Cluster im Rahmen des Poles-de-CompetitivitéProgramms gefördert.
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Im Folgenden werden zunächst der Begriff regionaler Netzwerke definiert und zentrale Dimensionen von Netzwerken – Wissen und Lernen, Vertrauen und regionale Ordnungen und Verriegelungseffekte und Dilemmata – näher betrachtet (Kap. 1). Im zweiten Abschnitt wird durch einen Überblick über die regionalwirtschaftliche Debatte herausgearbeitet, dass der Netzwerkbegriff in der regionalwissenschaftlichen Diskussion auf sehr unterschiedliche Weise verwendet wird und dass zumindest persönliche, marktvermittelte und institutionalisierte Netzwerke unterschieden werden müssen (Kap. 2). Abschließend wird ein knapper Überblick über ausgewählte empirische Untersuchungen über die Dynamik regionaler Netzwerke gegeben und zwei repräsentative Erhebungen über den Stellenwert betrieblicher Netzwerke vorgestellt (Kap. 3). Wir schließen mit einer kurzen Zusammenfassung (Kap. 4).
1
Konzept, Merkmale und Dilemmata regionaler Netzwerke
Regionale Netzwerke sind sehr heterogen (Koschatzky 2001: 120-125): Manche Netzwerke werden von einem Unternehmen dominiert; andere bestehen aus zahlreichen kleinen und mittelständischen Unternehmen ohne ein klares hierarchisches Zentrum. Manche Netzwerke operieren entlang einer Wertschöpfungskette (etwa Zuliefer-Abnehmer-Beziehungen), andere beruhen auf der Kooperation von Konkurrenten. Innovationsnetzwerke konzentrieren sich auf Forschung und Entwicklung, andere Netzwerke auf Produktion, Vermarktung, Beschaffung oder Qualitätssicherung. Ein gemeinsames Merkmal regionaler Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke aber ist, dass sie es Unternehmen erleichtern können, neue Herausforderungen zu erkennen, bisherige Routinen zu hinterfragen und riskante Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen (etwa durch die Bestätigung selbstgeschaffener Gewissheiten). Durch räumliche Nähe steigen die Chancen direkter Interaktionen und intensiver, vertrauensvoller Kooperationsbeziehungen. Regionale Netzwerke erleichtern insbesondere kleineren, lokal eingebetteten Unternehmen den Zugriff auf Güter, Dienstleistungen, Arbeitskräfte und Informationen und können sie somit bei der Entwicklung neuer Produkte, Prozesse und Dienstleistungen unterstützen. In Anlehnung an Walter W. Powell (1996) und Johannes Weyer et al. (1997) können regionale Netzwerke als dauerhafte, vertrauensgestützte, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen zwischen regionalen Unternehmen, Forschungseinrichtungen und wirtschaftspolitischen Akteuren definiert werden.3 Die definitorische Schwelle für solche Netzwerke
3
Im Anschluss an transaktionskostentheoretische Überlegungen schlägt Koschatzky – ähnlich wie Powell (1996: 219) – eine eher funktionale Definition vor; er begreift Netzwerke als Koordinationsform „zwischen“ Markt und Organisation, die sich als besonders funktional für Innovationen erweist: „Unter Innovationsnetzwerken werden alle Organisationsformen zwischen Markt und Hierarchie verstanden, die dem Informations-, Wissensund Ressourcenaustausch dienen und durch gegenseitiges Lernen zwischen mindestens drei Partnern Innovationen realisieren helfen.“ (Koschatzky 2001: 135) Die von Roberto Camagni vorgeschlagene Definition stellt hingegen auf die Bedeutung komplementärer Ressourcen ab: „Through formalized and selective linkages with the external world […] local firms may attract the complementary assets they need to proceed in the economic
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soll hier sehr niedrig angesetzt werden; keinesfalls sollen explizite Kooperationen zur Erzielung eines Surplus-Effektes oder gar die Kopplung von Handlungsprogrammen vorausgesetzt werden. Denn die Besonderheiten regionaler Netzwerke liegen gerade in der Möglichkeit niedrigschwelliger Kontakte. Solche regionalen Netzwerke haben einen wichtigen Vorteil: Zum einen sind in niedrigschwelligen Kontakten eher Anregungen jenseits der etablierten Denk- und Verhaltensmuster zu erwarten. Regionale, oftmals zufällige Kontakte erhöhen die Chancen für überraschende, nicht gezielt gesuchte Informationen jenseits der bewährten Pfade. Regionale Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke können die Wahrnehmung neuer Herausforderungen, die Hinterfragung bisheriger Routinen und die Entdeckung neuer Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten begünstigen (vgl. Sydow 2007 und Grabher 1993 für den Hinweis auf die ebenfalls möglichen Verriegelungs- und Beharrungseffekte). Zum anderen können räumliche Nähe ebenso wie regionale Identitäten und traditionelle Vergesellschaftungsformen direkte Interaktionen und intensivere, vertrauensvolle Kooperationsbeziehungen begünstigen: „Agglomeration frequently facilitates [...] the social construction of localized politico-cultural assets such as mutual trust, tacit understandings, learning effects, specialized vocabularies, transaction-specific forms of knowledge, and performanceboosting governance structures [...]“ (Scott 1995: 54). Das wissenschaftliche und politische Interesse an regionalen Netzwerken ergibt sich somit aus dem vermuteten Beitrag zur betrieblichen Innovationsfähigkeit; es geht um wechselseitiges Lernen unter Unsicherheit (1.1). Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist eine regionale Ordnung, die durch persönliche Vertrauensbeziehungen oder regionale Institutionen stabilisiert wird und den wechselseitigen Austausch befördert (1.2). Regionale Netzwerke begünstigen nicht nur Innovationen; sie können sich auch behindern, da Netzwerke immer auch Verriegelungseffekte, Abkapselung und soziale Schließung bedeuten. Dies verweist auf das Dilemma von Öffnung und Schließung, mit dem Netzwerke – ebenso wie andere Koordinierungsformen wirtschaftlichen Handelns – konfrontiert sind (1.3).
1.1 Räumliche Nähe, Lernen und Wissen Implizites, kontextspezifisches Wissen ist das Ergebnis von Erfahrungen und Kenntnissen, die Unternehmen und Beschäftigte bei der intensiven Beschäftigung mit einem spezifischen Produkt oder einer Technologie sammeln. Dieses Wissen ist zentral für die Entwicklung neuer Technologien und Verfahren: „a significant amount of innovations and improvements are originated through ‘learning-by-doing’ and ‘learning-by-using’“ (Dosi 1988: 223). Keinesfalls lässt sich das Wissen um die Entwicklung, Konstruktion und Durchsetzung neuer Technologien auf wissenschaftliche Erkenntnisse reduzieren:
and technological race. Internal, mainly informal and tacit linkages may not be sufficient to achieve the main goal“ (1991: 4).
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„Technological knowledge is much less well articulated than is scientific knowledge; much of it is not written down and is implicit in ‘experience’, skills, etc.“ (Dosi 1982: 153) Technik muss sich in konkreten Situationen bewähren; ohne Daumenregeln, praktische Erfahrungen und bewährte Design- und Konstruktionsprinzipien können deshalb kaum funktionsfähige Technologien entwickelt werden. Neben systematischem Wissen („know-why“) sind deshalb unterschiedlichste Formen von Erfahrungswissen zentrale Voraussetzungen für Innovationen (vgl. zur Unterscheidung von know-what, know-why, know-who, know-how Lundvall/Johnson 1994). Peter Maskell und Anders Malmberg (1999) analysieren dieses Wissen als „klebrig“ (sticky), nichtkodifiziert und kontextgebunden. Der zentrale Vorteil von regionalen Netzwerken ist die Chance zur Weitergabe impliziten, kontextgebundenen, nicht handelbaren Wissens: „Es ist kaum möglich, qualitative Angelegenheiten wie Innovations- und Experimentierfreude, einen besonderen Produktionsstil oder -ansatz, technologische Kapazität, Know-how oder eine Null-Fehler-Philosophie mit einem Preisschild zu versehen. Sie können weder einfach im Markt gehandelt noch innerhalb der Unternehmenshierarchie kommuniziert werden.“ (Powell 1996: 225) Solche Lerneffekte bezeichnet Paul Krugman (1991: 52) als „technological spillover“ bzw. als „knowledge spillover“; Michael Storper (1997) analysiert sie als „untraded interdependencies“. Paradoxerweise werden implizite, an ihren Entstehungskontext gebundene Wissensbestände umso bedeutsamer, je leichter und schneller expliziertes, wissenschaftlich systematisiertes Wissen weltweit verfügbar ist. Wechselseitige Lernprozesse werden durch räumliche Nähe erleichtert: „Proximity between firms plays an important role in interactive learning processes and (…) knowledge creation is supported by the institutional embodiment of tacit knowledge.“ (Maskell/Malmberg 1999: 167) Räumliche Nähe verringert nicht nur die Informations- und Kommunikationskosten, sondern erleichtert auch die Verständigung: „To communicate tacit knowledge will normally require a high degree of mutual trust and understanding, which in turn is related not only to language but also to shared values and ‘culture’.“ (Maskell/Malmberg 1999: 180) Auch aufgrund der beißenden Kritik von Ann Markusen (2003) an solchen Aussagen („fuzzy concepts, scanty evidence“) hat sich hieran eine außerordentlich intensive Debatte über Formen und Transfermechanismen impliziten Wissens und die Bedeutung regionaler Nähe angeschlossen. So betonen Harald Bathelt et al. (2004), dass implizites Wissen auch grenzüberschreitend transferiert werden kann. Sie stellen lokale und globale Formen des Wissenstransfers anschaulich als „buzz“ (Gerücht, Schwirren, Rauschen) und „pipelines“ gegenüber und heben hervor, dass der Transfer impliziten Wissens nicht auf lokale Kontexte beschränkt ist: „both tacit and codified knowledge can be exchanged locally and globally“ (Bathelt et al. 2004: 31). „Buzz” wird definiert als „learning processes taking place among
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171
actors embedded in a community by just being there”, während grenzüberschreitende Kommunikationskanäle als „pipelines” bezeichnet werden: „knowledge attained by investing in building channels of communication (…) to selected providers located outside the local milieu” (ebd.: 31). Damit verweisen die Autoren auf die Möglichkeit, dass soziales Handeln auch jenseits regionaler Kontexte sozial, institutionell und organisatorisch eingebettet sein kann. Den konzeptionellen Vorschlägen von Bathelt et al. folgen Björn Asheim et al. (2007) nicht und betonen, dass „buzz“ auch mit modernen Informations- und Kommunikationsmedien übermittelt werden kann (etwa per E-Mail) und somit begrifflich von direkten Interaktionen unterschieden werden muss. „Buzz“ kann somit auch grenzüberschreitend verbreitet werden. Diese Überlegungen nutzen sie, um drei Formen von Wissen (analytisches, synthetisches und symbolisches Wissen) zu unterscheiden. Diese sind gekennzeichnet durch den zentralen Stellenwert a) wissenschaftlichen Wissens, b) anwendungsbezogenen, problemorientierten Wissens und c) kultureller Bedeutungen und Expertenkompetenzen. Dieses Wissen ist die Grundlage verwissenschaftlichter Industrien, klassischer Fertigungsindustrien und kreativer Dienstleistungen. In diesen Industrien haben Interaktionen und „buzz“ einen jeweils unterschiedlichen Stellenwert: Verwissenschaftlichte Industrien wie die Biotechnologieindustrie sind beispielsweise sowohl auf lokale als auch globale Kontakte und Kompetenzen zu Spitzenforschungseinrichtungen angewiesen. „Buzz“ ist wichtig für die Übermittlung von Erkenntnissen an der Forschungsfront. In Fertigungsindustrien sind hingegen vor allem direkte Interaktionen wichtig, nicht jedoch „buzz“. In kreativen Industrien hingegen ist „buzz“ sehr stark auf räumliche Nähe und direkte Interaktionen angewiesen. Auch Ron Boschma relativiert und spezifiziert die Bedeutung von räumlicher Nähe und betont, dass geographische Nähe weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für interaktives Lernen ist. Er unterscheidet fünf verschiedene Formen von Nähe: „Organizational, social, institutional and geographical proximity may (…) provide solutions to this fundamental problem of coordination. In theory, geographical proximity, combined with some level of cognitive proximity, is sufficient for interactive learning to take place. Other forms of proximity, however, act as substitute for geographical proximity.“ (2005: 71) Festgehalten werden kann, dass räumliche und damit auch soziale Nähe und gemeinsame institutionelle Regulationsstrukturen zentrale Voraussetzung für wechselseitige Lernprozesse und die Vermittlung stillschweigenden, impliziten, an Erfahrungen und Interaktionen gebundenen Wissens sind. Allerdings wird zunehmend hervorgehoben, dass dies nicht mit einer Idealisierung von geographischer Nähe einhergehen muss, da soziale Nähe auch über große Entfernungen hergestellt werden kann (etwa durch Kommunikations- und Transporttechnologien). Regionale Netzwerke sind somit nicht die einzige Form zur Weitergabe impliziten, kontextgebundenen, nicht handelbaren Wissens.
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1.2 Vertrauen und regionale Ordnungen Die Leistungsfähigkeit von Regionen hängt von der Verfügbarkeit lokaler kollektiver Wettbewerbsgüter ab (Le Galès/Voelzkow 2001: 3). Dies sind Güter und Dienstleistungen, die einzelne, insbesondere kleinere Firmen nicht ohne Weiteres selber erbringen können oder am Markt beschaffen können. Gleichzeitig können öffentliche Güter (etwa technologisches Wissen) von mehreren Akteuren zur gleichen Zeit genutzt werden (Nicht-Rivalität). Eigentumsrechte sind nicht eindeutig definiert oder können nicht im Sinne einer Begrenzung von Konsum- und Nutzungsmöglichkeiten durchgesetzt werden (Nicht-Ausschließbarkeit). Beispielsweise ist es nicht möglich, ein Unternehmen vom Zugriff auf qualifizierte Arbeitskräfte auszuschließen, auch wenn das Unternehmen selber nicht ausbildet. Die Bereitstellung von Kollektivgütern in einer Region setzt eine stabile regionale Ordnung voraus.4 Wenn regionale Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen sich ausschließlich auf die Interessen der Beteiligten stützen würden, wären sie hochgradig instabil. Notwendig ist die Bereitschaft der Partner, Vorleistungen trotz der damit immer verbundenen Unsicherheiten, Risiken, Offenheit und Ambiguitäten in Erwartung auf spätere, inhaltlich nicht exakt vorherbestimmte Gegenleistungen des Partners zu erbringen. Regionale Ordnungen haben somit die Funktion, Trittbrettfahrerverhalten bei öffentlichen Gütern und Klubgütern5 zu verhindern und damit zentrale infrastrukturelle Voraussetzungen für betriebliche Innovationsprozesse sicherzustellen. Solche Güter sind etwa das implizite Wissen über bestimmte Technologien, fachspezifische Terminologien und Konventionen. Andere für das innovative Klima einer Region zentrale Faktoren sind etwa qualifizierte Arbeitskräfte, konsensuelle Arbeitsbeziehungen, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, Patentinformationen, Informationen über ausländische und neue Märkte, Technologietransfer, Qualitätssicherung, wirtschaftspolitische Unterstützung, Rechtsinformationen oder Zugang zu Risikokapital. Einige dieser Güter – etwa ein innovationsförderliches regionales Umfeld und regionale Kontakte und Informationen – können sicherlich durch regionale Netzwerke bereitgestellt werden. Allerdings können regionale Ordnungen nicht ausschließlich auf Netzwerke zurückgeführt werden. Dies verdeutlicht eine von Philip Cooke (2004) vorgeschlagene Typologie regionaler Ordnungen. Cooke unterscheidet erstens lokal eingebettete „Graswurzel“Ordnungen (etwa die mittelitalienischen Industriedistrikte oder die kalifornischen Film-, Biotechnologie-, Design- und IT-Cluster), zweitens vernetzte Ordnungen (etwa in BadenWürttemberg), bei denen die Koordinierung durch eine Vielzahl regionaler Akteure sicher-
4
Regionale Ordnungen können definiert werden als Ensemble der Erwartungen, Routinen und Praktiken, die die organisatorischen, wirtschaftlichen, technischen, wissenschaftlichen und politischen Beziehungen in einer Region vorstrukturieren. Diese Muster umfassen sowohl formal fixierte Verhaltenserwartungen (Vorschriften, Gesetze ...) als auch informelle verankerte Gewohnheiten, Praktiken und kulturelle Selbstverständlichkeiten. Storper analysiert solche Ordnungen als Konventionen, d. h. als „taken-for-granted mutually coherent expectations, routines, and practices“ (1997: 38).
5
Klubgüter sind Güter, bei denen ebenso wie bei öffentlichen Gütern eine geringe Rivalität im Konsum vorliegt, deren Nutzung bzw. Konsum aber (anders als bei öffentlichen Gütern) begrenzt werden kann (wie etwa bei Pay TV).
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gestellt wird (Verbände, Foren, Wirtschaftsclubs, Kammern), und drittens dirigistische staatliche Ordnungen wie in Frankreich oder Singapur, bei denen die Koordinierung regionaler Unternehmen und Einrichtungen durch nationale Institutionen, Initiativen und Programme sichergestellt wird (vgl. Asheim/Gertler 2005 für die verwandte Unterscheidung von territorial eingebetteten, regional vernetzten und regionalisierten nationalen Innovationssystemen). Während „Graswurzel“-Ordnungen auf persönlichen Beziehungen beruhen, setzen dirigistische Ordnungen auf staatliche Institutionen und Regeln. Vernetzte Ordnungen hingegen stützen sich auf eine dauerhafte, vertrauensgestützte Beziehungen zwischen regionalen Unternehmen, Verbänden und Einrichtungen: „Initiation of technology transfer action in a network modality is multi-level [...] funding is more likely to be guided by agreement amongst banks, government agencies and firms. The research competence in a networked innovation architecture is likely to be mixed, with both pure and applied, ‘blue-skies’ and near-market activities geared to the needs of large and small firms. System co-ordination is likely to be high because of the large number of stakeholders and the presence of associations, fora, industry clubs and the like. Specialisation within such a system is likely to be flexible.“ (Cooke 2004: 12) Die Unterschiede zwischen verschiedenen regionalen Ordnungen – die nicht nur auf relativ dauerhaften Netzwerken, sondern auch auf direkten Interaktionen und öffentlichen oder privaten Institutionen beruhen – werfen die Frage nach den unterschiedlichen Grundlagen regionaler Vertrauensbeziehungen auf, da eine regionale Ordnung ohne ein Mittel zur Verringerung von Ungewissheit und Komplexität kaum denkbar ist. Zur Beantwortung dieser Frage kann auf die von Christel Lane und Reinhard Bachmann (1996) aufgegriffene Unterscheidung von „characteristic-based trust“, „institutionally based trust“ und „process-based trust” zurückgegriffen werden (vgl. zur Unterscheidung von sozialem und institutionellem Vertrauen auch Boschma 2005: 71). Damit können drei Formen der Entstehung und Stabilisierung lokaler Ordnungen unterschieden werden: Erstens kann eine regionale Vertrauensbasis aufgrund gemeinsamer soziokultureller Werte und Traditionen gewohnheitsmäßig unterstellt werden („characteristic-based trust“/merkmalsbasiertes Vertrauen). Die Barrieren zwischen den unterschiedlichen Selbstverständnissen, Sichtweisen und Wissensbeständen betrieblicher, wissenschaftlicher und politischer Akteure werden in diesem Fall durch die Einbettung in eine gemeinsame „Alltagswelt“ und durch gemeinsam geteilte Hintergrundannahmen und Selbstverständlichkeiten überbrückt. Solche Vergemeinschaftungsformen standen lange Zeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; die Piazze Maggiori mittelitalienischer Städte, die Bars im Silicon Valley oder das jüdische Viertel in Paris oder New York gelten als die Orte, wo sich gemeinsame Sichtweisen noch vor allen ökonomischen Interessenunterschieden herstellten (Camagni 1991). Zweitens können sich regionale Ordnungen auch auf regionale, beispielsweise staatlich geschaffene Institutionen stützen („institutionally-based trust“/institutionalisiertes Vertrauen). Regionale Institutionen können die Kollektivgutprobleme regionaler Akteure überbrücken, indem sie verbindlich zu erwartende Verhaltens-, Interpretations- und Beziehungsmuster festschreiben. Eine solche institutionelle Flankierung regionaler Koope-
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rationsnetzwerke kann durch regionale Verwaltungen und Regierungen, durch regionale Wirtschafts- und Industriepolitiken, durch regionale Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen oder durch regionale Banken erfolgen. Solche Institutionen können kollektiv nutzbare Leistungen erbringen und „Trittbrettfahrerverhalten“ unterbinden. Ohne eigene Beiträge (Beteiligungen an gemeinsamen Messen, Marketinginitiativen, Ausbildungseinrichtungen, Zuliefernetzen, Entwicklungsprojekten etc.) können Unternehmen nicht an der „industriellen Atmosphäre” einer Region partizipieren. Gerade in Ländern mit durchsetzungsfähigen Regionalregierungen und dezentralisierten politischen Steuerungskompetenzen (etwa in Spanien, Deutschland oder Italien) werden regionale Innovationssysteme in erheblichem Ausmaß durch politische Institutionen stabilisiert. Drittens kann Vertrauen auch das Ergebnis positiver Kooperationserfahrungen sein: „‘Process-based trust’ arises from long-term relationships which have proven to be highly stable over time. In the case of this form of trust, the trustor believes that the trustee will continue his or her behaviour just as he/she has always done.“ (Lane/Bachmann 1996: 371) Dies kann als erfahrungsbasiertes Vertrauen bezeichnet werden. Während „Graswurzel“-Ordnungen vor allem auf merkmalsbasierten Vertrauensbeziehungen beruhen, gründen sich dirigistische Ordnungen – wenn sie überhaupt vertrauensgestützt sind – auf institutionalisiertem Vertrauen. Vernetzte Ordnungen hingegen stützen sich auf eine Kombination institutionalisierten und erfahrungsbasierten Vertrauens. Die Stabilisierung zwischenbetrieblicher Kooperationsbeziehungen und die Erbringung lokaler kollektiver Wettbewerbsgüter kann somit durch direkte Interaktionen, durch räumlich konzentrierte Netzwerke und durch (oftmals staatliche) Institutionen erleichtert werden. Hierdurch vergrößern sich die Chancen zur Etablierung regionaler Vertrauensgrundlagen. Damit können drei Typen regionaler Ordnungen unterschieden werden: Zunächst Ordnungen, die auf direkten Interaktionen (oftmals in lokalen, professionellen oder ethnischen Gemeinschaften) beruhen; dann auf regionalen Netzwerken beruhende Ordnungen und schließlich regionale Ordnungen, die weitgehend durch nationale Institutionen und Prozesse vorstrukturiert werden. In allen Fällen können relativ geschlossene Ordnungen von Ordnungen unterschieden werden, die auf diskursiven Koordinierungsprozessen beruhen und Raum für die Selbstverständigungs-, Abstimmungs-, Aushandlungs- und Lernprozesse der regionalen Akteure lassen (Heidenreich 2005).
1.3 Die Dilemmata regionaler Wirtschaftsräume Die Beschreibungen regionaler Innovationssysteme sind in zeitlicher, sachlicher, sozialer und räumlicher Hinsicht zutiefst widersprüchlich: Zum einen werden Regionen durch stabile, dauerhafte regionale Ordnungen gekennzeichnet, zum anderen impliziert der Innovationsbegriff dynamische Prozesse der schöpferischen Zerstörung. Zum einen werden regionale Netzwerke als Voraussetzung für Innovationen und kognitive Öffnungen beschrieben, zum anderen können Kooperationen aufgrund von Schließungseffekten auch Innovationen unterbinden (vgl. Grabher 1993; Sydow 2007). Zum einen werden Industriedistrikte durch lokale Gemeinschaften definiert, zum anderen wird aber auch die Konkurrenz zwischen kooperierenden Unternehmen betont (Piore/Sabel 1985). Zum einen wird die Geschlossenheit regio-
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naler Innovationssysteme betont, zum anderen wird auf ihren Stellenwert im globalen Wettbewerb hingewiesen (Amin/Thrift 1992). Diese Dilemmata reflektieren die Ungewissheit, die Offenheit und die Risiken von Innovationsprozessen. Ein Beispiel für ein solches Dilemma ist die Verriegelung regionaler Entwicklungspfade durch die Schließung von Netzwerken. In gewissem Ausmaß beruhen regionale Innovationsnetzwerke immer auf Schließungsprozessen; dies ist eine wichtige Voraussetzung, um angesichts der Komplexität und Ungewissheit von Innovationen überhaupt handeln zu können. Die Risiken von Innovationen werden somit durch den Rückgriff auf regionale Erfahrungen, Informationen, Praktiken und Gewissheiten verringert. Intensivere, vertrauensvolle Kooperationsbeziehungen zwischen regionalen Akteuren können die Konzentration regionaler Unternehmen auf eine Technologie erleichtern. Regionales Lernen innerhalb eines einmal eingeschlagenen Pfades wird erleichtert durch diversifizierte Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke, leistungsfähige kleinere und mittlere Unternehmen, regionale „Netzwerkmoderatoren“ und durch die Bereitstellung kollektiver Güter. Kognitive Schließungsprozesse erleichtern also zum einen (innovatives) Handeln. Aber sie können auch dazu führen, dass neue Herausforderungen nicht wahrgenommen werden, dass die Anpassung an veränderte Situationen verzögert wird und dass das Verlassen eines einmal eingeschlagenen Weges erschwert wird, da dies mit einer Entwertung bisheriger Kompetenzen und Investitionen verbunden ist. Regionale Kompetenzvorsprünge und Kooperationsstrukturen können somit mit Beharrungsmomenten und Verriegelungseffekten einhergehen (Grabher 1993).
2
Die Debatte um die Grundlagen regionaler Leistungsfähigkeit
Einleitend wurde auf die Vielfalt regionaler Netzwerke verwiesen. Diese Vielfalt dokumentiert sich auch in der Debatte um die wirtschaftlichen und soziokulturellen Grundlagen von Wirtschaftsregionen. Im Wesentlichen können fünf Antworten auf die Frage nach den Grundlagen für die regionale Konzentration von Wirtschaftsprozessen unterschieden werden: Die Konzentration von Ressourcen, Transaktionskostenvorteile, Spezialisierungsvorteile, direkte Interaktionen und regionale Institutionen. In jedem dieser Perspektiven kommt regionalen Netzwerken eine spezifische Rolle zu. Dies soll im Folgenden, ausgehend von neoklassischen Annahmen der enträumlichten Wirtschaft, herausgearbeitet werden.
Ressourcenkonzentration Die Volkswirtschaftslehre unterstellt in ihren theoretischen Modellen einen einheitlichen Markt; nur so können aggregierte Angebots- und Nachfragekurven gebildet werden. Praktisch wird damit unterstellt, dass Güter zumindest innerhalb eines Landes zu den gleichen Bedingungen produziert, angeboten und nachgefragt werden. Historisch verweist die Annahme eines einheitlichen nationalen Marktes auf die Rolle von Nationalstaaten bei der Entwicklung der heutigen Marktwirtschaft. Ein selbstregulierender, weder lokal eingebundener
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noch weitgehend monopolisierter Markt wurde in Westeuropa erst durch den Staat geschaffen. Gegen den Widerstand der Städte und der dort ansässigen Zünfte gelang es dem Staat, den „überholten Partikularismus des örtlichen und interurbanen Handels (zu zerstören, MH), indem er die Barrieren zwischen diesen beiden Arten des konkurrenzfreien Handels“ niederriss (Polanyi 1977: 91). „Ein nationaler Markt (konnte, MH) nur da entstehen [...], wo Fiskus oder Administration, Militär oder Verfechter des Merkantilismus den politischen Willen zur Zentralisation ins Spiel bringen.“ (Braudel 1990: 316) Starke, bürokratisch verwaltete Staaten ohne interne Zollschranken waren eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der heutigen Marktwirtschaft; zumindest näherungsweise schufen sie den homogenen nationalen Raum der volkswirtschaftlichen Theorie. Empirisch bestand allerdings nie ein Zweifel an der regionalen Konzentration von Produktion, Angebot und Nachfrage. So begannen die englische und deutsche Industrialisierung in einigen wenigen Schlüsselregionen (Wehler 1995: 84f.). Fernand Braudel betont, dass die Städte im Kohlengürtel des Penninischen Gebirges (Birmingham, Manchester, Leeds, Sheffield) „durch ihr gemeinsames schlagartiges Wachstum ganz England aus den Angeln gehoben“ haben (1990: 672). Dieser „brutale Determinismus der Kohle“ (Braudel) bestimmte auch in Deutschland die Entwicklung des Ruhrgebiets, des Saarlandes, des Aachener Wurmreviers und der oberschlesischen Bergbaugebiete. Daher lag es nahe, die regionale Konzentration von Unternehmen durch die regionale Verfügbarkeit besonders wichtiger Ressourcen (Kohle, Erz, Holz, Sonne, fruchtbares Land …) zu erklären.
Transaktionskostenvorteile Transaktionskostentheoretische Überlegungen setzen allgemeiner an. Sie erklären die regionale Konzentration von Unternehmen durch die damit zu erzielenden Transport- und Kommunikationskostenersparnisse. Schon die älteren Standorttheorien stützten sich auf solche Überlegungen. Johann Heinrich von Thünen (1966) analysierte beispielsweise bereits 1826 die Arbeitsteilung zwischen Städten und ihrem ländlichen Umfeld: In der Nähe von Städten würden eher leicht verderbliche, aufwendig zu transportierende Produkte (Obst, Gemüse ...) angebaut, während leichter zu transportierende Güter (Getreide ...) in größerem Abstand von einer Stadt erzeugt würden. Je höher der Preis und die Transportkosten eines Gutes pro Gewichtseinheit seien, desto näher an einer Stadt werde das jeweilige Gut produziert. Damit entwickelten sich um Städte konzentrische Kreise mit verschiedenen Spezialisierungen, die sog. „Thünenschen Kreise“. Auch die Entwicklung von Städtesystemen – in denen bestimmte Güter und Dienstleistungen nur in wenigen größeren Städten (in sogenannten „zentralen Orten“) angeboten werden – kann transaktionskostentheoretisch erklärt werden. Der deutsche Ökonom Walter Christaller (1933) ging davon aus, dass Städte nicht nur Abnehmer agrarischer Produkte sind, sondern auch Güter und Dienstleistungen bereitstellen. Um eine gleichmäßige Versorgung des Landes mit solchen Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten, bildeten sich „zentrale Orte“ heraus, die etwa gleichmäßig, d. h. in Form eines Gitternetzes, über das Land verteilt seien. So seien die Einzugsbereiche der jeweiligen Städte in
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etwa gleich groß; keiner der zentralen Orte erziele übermäßige Gewinne und die gesamte Bevölkerung werde zu jeweils noch akzeptablen Transportkosten versorgt. Krugman – einer der zentralen Autoren der „neuen Wirtschaftsgeographie“ (vgl. Koschatzky 2001) – erweiterte solche transaktionskostentheoretischen Überlegungen um eine evolutionstheoretische Komponente: Auch in einem vollkommen homogenen nationalen Raum würden sich – ausgehend von der historisch zufälligen Erstansiedlung einiger Unternehmen – regionale Agglomerationen herausbilden, da sich andere Unternehmen in der Nähe ihrer Zulieferer und Abnehmer ansiedelten. Dies führe zu pfadabhängigen Agglomerationsprozessen: „The location of particular industries [...] clearly often reflect the ‘locking in’ of transitory advantages [...] the interaction of demand, increasing returns, and transportation costs drives a cumulative process of regional divergence.“ (Krugman 1991: 10f.) Am Beispiel eines imaginären Landes mit einer östlichen und westlichen Region zeigt er, dass sich ein Wirtschaftszweig entweder in der einen oder der anderen Region konzentrieren wird, wenn hierdurch die Kosten für die Beschaffung von Vormaterialien und die Verteilung der Produkte („forward and backward linkages“) verringert werden können. Solche transaktionskostentheoretischen Überlegungen liegen auch der sogenannten Kalifornischen Schule der Regionalökonomie zugrunde (vgl. Storper/Scott 1995).
Spezialisierungsvorteile Neben diesen Transportkostenvorteilen verwies Krugman (1998) noch auf weitere Agglomerationsvorteile, auf die Herausbildung spezialisierter Arbeitsmärkte. Die Bedeutung solcher Spezialisierungsvorteile für die regionale Konzentration verwandter Unternehmen hatte schon 1890 der britische Nationalökonom Alfred Marshall (1982) herausgearbeitet. Am Beispiel von Lancashire (Baumwolle) und Sheffield (Metallwaren) wies er nach, dass sich in frühindustriellen Industriedistrikten ein regionaler Arbeitsmarkt für spezifische Qualifikationen entwickelt hatte. Hiervon profitierten sowohl Arbeitskräfte als auch Unternehmen. Ebenso konnte auf spezialisierte Zulieferer und Dienstleister zugegriffen werden. Solche Spezialisierungseffekte verweisen auf Skalenvorteile; in der Regel können Leistungen in größeren Stückzahlen kostengünstiger erbracht werden.
Direkte Interaktionen und Netzwerkeffekte Von solchen Agglomerationsvorteilen können regionale Unternehmen auch ohne besondere, über die üblichen Marktbeziehungen hinausgehende Kontakte profitieren. Dies gilt nicht für die Chance zur Nutzung der Erfahrungen, Kenntnisse und Kompetenzen anderer, in der Region ansässiger Unternehmen – eine vierte Klasse von Agglomerationsvorteilen, die als Netzwerkeffekte analysiert werden (vgl. Koschatzky 2001: 136 zum Unterschied zwischen Transaktionskostenvorteilen und Netzwerkeffekten). Auf die Lern- und Innovationsvorteile räumlich konzentrierter Unternehmen verwies schon Marshall: „The mysteries of the trade become no mystery; but are as it were in the air.“ (1982: 225) Diese Intuition systematisiert
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Michael E. Porter (1991), indem er die Innovations- und Wettbewerbsvorteile regional konzentrierter Wirtschaftscluster durch vier Faktoren erklärt: durch die räumliche Nähe zu Konkurrenten; durch die Nähe zu anspruchsvollen und risikobereiten Kunden, mit denen neue Produkte gemeinsam entwickelt werden; durch leistungsfähige regionale Zulieferer und Dienstleistungsunternehmen und durch die Verfügbarkeit qualifizierter und spezialisierter Arbeitskräfte. Solche Vorteile lassen sich aus transaktionskostentheoretischer Perspektive nicht erklären, da sie nicht aus kostengünstigen Transaktionen, sondern aus der Chance wechselseitigen Lernens erwachsen.6 Hierzu sind Interaktionen erforderlich, die über wirtschaftliche Transaktionen, d. h. über den Kauf und den Verkauf von Waren und Dienstleistungen hinausgehen. Eine Variante interaktionsbasierter Netzwerkansätze, das Konzept innovativer Milieus, analysiert die durch räumliche Nähe ermöglichten informellen Kontakte als wichtige Ursache regionaler Innovationsfähigkeit: „An innovative ‘milieu’ may be defined as the set, or the complex of networks of mainly informal social relationships on a limited geographical area, often determining a specific external ‘image’ and a specific internal ‘representation’ and a sense of belonging, which enhance the local innovative capability through synergetic and collective learning processes.“ (Camagni 1991: 3)
Regionale Institutionen Einen bedeutenden Schritt zu einer institutionalistischen Analyse regionaler Lern- und Innovationschancen haben Michael J. Piore und Charles F. Sabel (1985) mit dem Konzept der flexiblen Spezialisierung getan. Sie lenkten die Aufmerksamkeit nach dem vermeintlichen Ende der Massenproduktion wieder auf regionale Wirtschaftsdistrikte und postulierten ein Wiederaufleben regional vernetzter Produktionsformen. Nachdem jahrzehntelang vertikal integrierte Großbetriebe im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden und mittelständische Unternehmen als Relikte einer frühindustriellen Vergangenheit gegolten hatten, wurden Industriedistrikte von den Autoren als zukunftsträchtige, innovative Organisationsformen von Arbeit beschrieben, die durch drei Merkmale gekennzeichnet sind: Durch die Herstellung spezialisierter Güter für hochdifferenzierte Märkte (economies of scope), durch die flexible Nutzung produktiverer, vielfältig einsetzbarer Technologien und durch regionale Institutionen, die Kooperation und Wettbewerb zwischen den Unternehmen ausbalancieren und sie damit zu ständigen Innovation anregen. Beispiele solcher Institutionen sind
6
Einen analogen Perspektivenwechsel schlägt Alfred D. Chandler am Beispiel des industriellen Wachstums in Großbritannien, Deutschland und den USA vor: „Such growth was driven much less by the desire to reduce transaction, agency and other information costs and much more by a wish to utilize the competitive advantages created by the coordinated learned routines in production, distribution, marketing, and improving existing products and processes.“ (1992: 93)
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„Handelsgesellschaften; Gewerkschaften; Gilden und Einkaufskooperativen; Vertriebskooperativen für die Vermarktung der regionalen Erzeugnisse, die Beschaffung von Krediten zu günstigen Bedingungen für die Mitglieder und das Anbieten halbfertiger Waren, deren Weiterverarbeitung in Massenproduktion möglich ist“ (ebd.: 294). Andere Institutionen stellten Fertigkeiten und Wissen bereit (Berufsschulen), unterbänden unfairen Wettbewerb (Unterbindung von Lohnunterbietungsstrategien durch regionale Gewerkschaften und Kammern), schützten lokale Warenzeichen und die Gesundheit der Beschäftigten und finanzierten Investitionen (Sparkassen). Solche Institutionen erwüchsen aus „einem tiefer verwurzelten Gemeinschaftsgefühl“. Die Einbettung in eine regionale, ethnische, religiöse oder politische Gemeinschaft erschwere somit einen Lohnsenkungswettlauf zwischen den Unternehmen und begünstige einen Wettbewerb, der eher auf Innovationen beruht. In der Diskussion, die sich an das Buch von Piore/Sabel anschloss, wurden solche gemeinschaftsfixierten, romantischen Vorstellungen von der Wiedergeburt handwerklicher Produktionsweisen heftig kritisiert (vgl. Amin/Robins 1990, Zeitlin 2008). Es wurde herausgearbeitet, dass die Vorteile regionaler Produktions- und Innovationsnetzwerke nicht in erster Linie in der Begrenzung eines Arbeitskostensenkungswettlaufs zu suchen sind, sondern in der Bereitstellung „lokaler kollektiver Wettbewerbsgüter“ (wie etwa qualifizierte Arbeitskräfte, Technologietransfer, Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen, Unternehmensberatung, Exportförderung, konsensuelle Arbeitsbeziehungen, Wirtschaftsverbände, Netzwerkmoderatoren; vgl. Le Galès/Voelzkow 2001) und in der Unterstützung regionaler Lernprozesse. Dies könne durch unterschiedliche regionalisierte Wirtschaftsstrukturen erreicht werden – etwa durch Regionen, die von einem einzigen multinationalen Konzern dominiert würden, durch regionale Niederlassungen ausländischer Mutterkonzerne, durch regional konzentrierte öffentliche Unternehmen – und keinesfalls nur durch Marshallsche Industriedistrikte (Markusen 1996). Weiterhin wurde betont, dass eine regionale Vertrauensbasis keinesfalls nur das Ergebnis persönlicher Beziehungen und traditioneller Vergemeinschaftungsformen sei. Vertrauen werde nicht nur durch religiöse, ethnische, dörfliche oder familiale Vergemeinschaftungen geschaffen, sondern auch durch unpersönliche, oftmals auch nationale Regulationsstrukturen. Drittens seien regionale Netzwerke keine kommunitaristischen Inseln im stürmischen Meer einer deregulierten Weltwirtschaft. Interregionale und internationale Netzwerke seien für lokale Unternehmen oft wichtiger als regionale Netzwerke. Schon früh wurde darauf aufmerksam gemacht, dass kleinere Unternehmen oft durch größere Unternehmen (etwa in Zulieferer-Abnehmer-Beziehungen) kontrolliert werden. Die internationale Vernetzung von Industriedistrikten werde vor allem durch größere Unternehmen sichergestellt; sie werden daher analysiert „as sources of technical skills and entrepreneurial experience for the districts“ (Zeitlin 2008: 235). Insgesamt sei der Einfluss multinationaler Unternehmen auch in Wirtschaftsdistrikten erheblich unterschätzt worden (Markusen 1996). Die Komplementarität von Regionalisierung und Globalisierung könne somit nicht durch eine ‚übersozialisierte‘ Vorstellung von Wirtschaftsdistrikten und ein ‚untersozialisiertes‘ Konzept von Weltwirtschaft eingefangen werden. Viertens seien die Gefahren von Verriegelungseffekten (lock-in) vernachlässigt worden, da regionale Schließungen auch zu Erstarrungen führen könnten. Es komme somit darauf an, das besondere Verhältnis von Öffnung und Schließung zu erfassen, das erfolgreiche Wirtschaftsregionen kennzeichnet.
180 Grundlagen regionaler Leistungsfähigkeit (1) Regionale Verfügbarkeit von Ressourcen (2) Transaktionskostenund Agglomerationsvorteile
(3) Spezialisierungsund Clustervorteile
(4) Interaktionseffekte (aufgrund räumlicher Nähe)
(5) Institutionalisierte Regulationsstrukturen
Martin Heidenreich Ausgewählte Ansätze Traditionelle Standorttheorien Traditionelle Standorttheorien (von Thünen; Christaller), neue Wirtschaftsgeographie (Krugman), kalifornische Schule der „external economies“ (A. Scott, M. Storper) Wirtschaftscluster (Porter)
Innovative Milieus (Camagni 1991), nordische Schule lernender Ökonomien (Lundvall, Asheim, Maskell, Malmberg) Industriedistrikte (Piore/Sabel 1985), regionale Produktionswelten und Konventionen (Storper 1997), regionale Innovationssysteme (Cooke et al. 2004)
Zentrale analytische Konzepte Rentierstaatlichkeit
Stellenwert von Netzwerken Keine Bedeutung
Regionen als marktvermittelte Verflechtungen (traded interdependencies, forward and backward linkages), Agglomerationseffekte
Keine Bedeutung
Zugriff auf gemeinsam genutzte Inputfaktoren (Arbeitskräfte, Zulieferer), komplementäre Spezialisierung, enge Beziehungen zu Pionierkunden Wechselseitiges Lernen, räumliche Nähe, implizites Wissen, lokale Identitäten, „buzz“
Zentrale Rolle zwischenbetrieblicher, vor allem marktvermittelter Verflechtungen
Regionale Ordnungen und Konventionen, institutionalisiertes Vertrauen, lokale Wettbewerbsgüter
Zentrale Rolle institutionell geregelter Austauschbeziehungen (untraded interdependencies)
Zentrale Rolle vorwiegend informeller, interaktionsbasierter Netzwerke
Tabelle 1: Die Grundlagen regionaler Leistungsfähigkeit in ausgewählten regionalwissenschaftlichen Ansätzen
Während Piore/Sabel (1985) Regionen im Wesentlichen noch als Gemeinschaften begriffen und die Bedeutung von persönlichem, auf direkter Interaktion beruhenden Vertrauen in den Mittelpunkt stellten, haben sich in der weiteren Debatte verschiedene institutionalistische Ansätze herausgebildet. Einige Autoren (insbesondere Storper 1997) analysieren Regionen als Konventionen bzw. regionale Produktionswelten, die sie als Grundlage regionaler Identi-
Regionale Netzwerke
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täten und als Arena für soziale Austauschbeziehungen begreifen.7 Andere Autoren verstehen Regionen als regionale Innovationssysteme (Cooke et al. 2004) und betonen damit die Komplementarität von Institutionen und regional konzentrierten Unternehmensclustern: „Basically, regional innovation system consists of two main types of actors and the interaction between them. The first actors are the firms in the main industrial cluster in a region including their support industries. Secondly, an institutional infrastructure must be present, i.e., research and higher education institutes, technology transfer agencies, vocational training organisations, business associations, finance institutions etc.“ (Asheim/Isaksen 2002: 83)
Fazit Festgehalten werden kann, dass in der regionalwirtschaftlichen Diskussion zumindest fünf unterschiedliche Ursachen für die regionale Konzentration leistungsfähiger und innovativer Unternehmen unterschieden werden: Regional verfügbare Ressourcen, Transaktionskostenvorteile, Spezialisierungsvorteile in regionalen Clustern, auf räumlicher Nähe und direkten Interaktionen beruhende Lern- und Innovationsvorteile, institutionelle Ordnungen, die kollektive Wettbewerbsgüter für räumlich konzentrierte, untereinander verflochtene Wirtschaftscluster bereitstellen. Nicht in allen regionalwissenschaftlichen Ansätzen spielen Netzwerke eine Rolle (vgl. Tabelle 1). Dies gilt vor allem für Ansätze, die Transaktionskostenersparnisse in den Mittelpunkt stellen (2). Clusterkonzepte reden zwar von regional vernetzten Wirtschaftsstrukturen (3). Unklar bleibt jedoch, inwieweit damit mehr als der marktvermittelte Austausch zwischen regional ansässigen Unternehmen gemeint ist. Ansätze, die vor allem auf räumliche Nähe und dadurch erleichterte Kontakte und Lernprozesse abstellen, zielen vor allem auf persönliche, vertrauensbasierte Netzwerke ab (4). Institutionalistische Ansätze hingegen zielen auf die Bereitstellung kollektiver Wettbewerbsgüter (Bildung, Technologietransfer, Forschung und Entwicklung, Exportförderung, Beratung, konsensuelle Arbeitsbeziehungen) und institutionell stabilisierte Kooperationsbeziehungen zwischen regionalen Unternehmen ab (5). Im Zentrum der betrachteten Ansätze stehen somit industrielle, interaktionsbasierte und institutionell stabilisierte Netzwerke. Die Vorteile von Regionen beschränken sich damit keinesfalls auf soziale Netzwerke (im Sinne dauerhafter, informeller, personengebundener, vertrauensvoller, reziproker, exklusiver Interaktionsbeziehungen; vgl. Weyer et al. 1997: 64) Wechselseitige Lernprozesse und der „Austausch“ von Wissen (d. h. die wechselseitige Irritation der alltäglichen, als selbstverständlich unterstellten Wissensbestände und Denk- und Erlebnisstile sozialer Gruppen) kann nicht nur in rein persönlichen Beziehungen, sondern auch in 7
Der zentrale Protagonist einer relationalen Analyse von Regionen ist Storper (1997). Er schlägt vor, regionale Produktionswelten im Spannungsfeld von Technologien, Organisationen und Territorien – die er als die heilige Dreieinigkeit der Regionalforschung bezeichnet – zu analysieren. Bei Technologien gehe es um das Verhältnis kodifizierten und nichtkodifizierten Wissens im Sinne sozialer Interpretations-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, bei Organisationen um nicht marktförmige, hierarchische Koordinierungsformen sozialen Handelns (Konventionen), bei Territorien um räumliche Nähe als Voraussetzung für die relationale Dimension technologischer und organisatorischer Strategien.
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scheinbar reinen Marktbeziehungen und in institutionalisierten Kooperationen erfolgen, in denen es zunächst nicht um Entwicklungskooperationen geht (etwa in Wirtschafts-, Berufs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden und in Kammern).8
3
Zum Stellenwert zwischenbetrieblicher Kooperationsnetzwerke
Ein zentraler Indikator für regionale Netzwerke sind betriebliche Kooperationen mit externen Partnern. Hierzu liegen zahlreiche Fallstudien vor – etwa die Analyse von dreizehn regionalen Innovationssystemen von Cooke et al. (2004) oder die Studie von AnnaLee Saxenian (1994) über das Silicon Valley und die Straße 128 in der Umgebung von Boston (Massachusetts), an der sich ein Informationstechnologiecluster entwickelte. In methodischer Hinsicht beeindrucken insbesondere die sorgfältigen Analysen der Netzwerke der kalifornischen und der Potsdam-Babelsberger Medienindustrie (Scott 2005, Krätke 2002) oder die Studien von Powell et al. (2005) über die interregionalen Vernetzungen der Biotechnologieindustrie. Repräsentative Studien über den Stellenwert betrieblicher Entwicklungskooperationen liegen hingegen bislang kaum vor. Eine Ausnahme ist die vierte gemeinschaftliche Innovationserhebung der EU, in der auch die Kooperationsmuster von Unternehmen erfragt wurden. In dieser Erhebung wurden 756.982 Unternehmen mit 10 und mehr Beschäftigten in den meisten der jetzt 27 EU-Mitgliedsstaaten befragt, darunter 299.034 innovative Unternehmen. Auf dieser Grundlage können die zwischenbetrieblichen Kooperationsstrategien innovativer Unternehmen und teilweise auch ihre territorialen Dimensionen analysiert werden (vgl. Tabelle 2). 39,5 % aller befragten Unternehmen geben an, zwischen 2002 und 2004 eine Innovation getätigt zu haben (definiert als ein neues oder erheblich verbessertes Produkt oder eine entsprechende Dienstleistung). Ein Viertel dieser innovativen Unternehmen (25,5 %) sind dabei Kooperationen mit anderen Unternehmen und Institutionen eingegangen. Besonders wichtig waren die marktvermittelten Kooperationen, d. h. die Kooperationen mit Zulieferern (16,5 %), Kunden (13,9 %), Mitbewerbern (8,3 %) und Beratern (8,9 %). Weniger wichtig sind Universitäten (8,8 %) und öffentliche (Forschungs-)Einrichtungen (5,7 %). Die Kooperationsintensität hängt sehr stark von der Unternehmensgröße ab: Während nur ein Fünftel der kleineren Unternehmen (weniger als 50 Beschäftigte) Entwicklungskooperationen eingehen, kooperieren die Hälfte der größeren Unternehmen (250 Mitarbeiter und mehr). Besonders wichtig sind für größere Unternehmen Kooperationsbeziehungen im eigenen Konzern (30,4 %) – eine Kooperationschance, die kleinere Unternehmen in der Regel nicht haben (6,2 %). 8
Letzteres könnte auch ein überraschendes Ergebnis der Forschungen über Forschungs- und Entwicklungskooperationen erklären: Michael Fritsch und Grit Franke stellen auf Grundlage der Befragung von gut 1800 Unternehmen in drei deutschen Regionen fest: „R&D cooperation plays only a minor role as a medium for knowledge spillovers.” (2004: 253) Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass ein erheblicher Teil des wechselseitigen Lernens nicht in formalisierten Entwicklungskooperationen erfolgt, sondern in informellen Beziehungen oder in institutionalisierten Kooperationsarenen (wie der IHK), in denen es nicht explizit um Forschung und Entwicklung geht.
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183 alle Unternehmensgrößen
aufgeschlüsselt nach Beschäftigten 10 bis 49 50 bis 249 250 oder mehr
1
Unternehmen mit Innovationstätigkeit (in % aller Unternehmen)
39,5%
34,9%
52,8%
70,8%
2
Unternehmen mit Kooperationsaktivitäten (in % aller innovativen Unternehmen)
25,5%
21,5%
30,0%
50,0%
3
Alle Formen der Kooperation mit … (in % aller innovativen Unternehmen) nationalen Partnern europäischen Partnern außereuropäischen Partnern
19,9% 9,3% 4,0%
16,4% 6,2% 2,3%
23,8% 12,7% 5,3%
41,0% 28,4% 15,4%
4
Kooperation mit … (in % aller innovativen Unternehmen) 9,5% 6,2% 12,8% 30,4% anderen Unternehmen der eigenen Unternehmensgruppe Lieferanten 16,5% 13,8% 19,3% 34,1% Kunden 13,9% 11,9% 15,8% 27,9% 8,3 % 7,1% 8,9% 18,5% Wettbewerbern oder anderen Unternehmen derselben Branche 8,9 % 7,0% 10,7% 21,9% Beratern, privaten Labors und Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen 8,8 % 6,3% 11,2% 26,3% Universitäten und anderen höheren Bildungseinrichtungen 5,7 % 4,3% 6,3% 17,1% Staat sowie öffentlichen Forschungseinrichtungen Quelle: Vierte gemeinschaftliche Innovationserhebung (CIS4; 2002-2004), http://epp.eurostat.ec.europa.eu Kooperationen wurden durch folgende Frage erhoben: „During the three years 2002 to 2004, did your enterprise co-operate on any of your innovation activities with other enterprises or institutions? Innovation co-operation is active participation with other enterprises or non-commercial institutions on innovation activities. Both partners do not need to commercially benefit. Exclude pure contracting out of work with no active co-operation.” Tabelle 2: Innovationstätigkeit und -kooperation 2002-2004
Hier interessiert insbesondere die territoriale Dimension von Innovationskooperationen. Knapp ein Fünftel aller innovativen Unternehmen (19,5 %) kooperieren mit nationalen Partnern. Da nur ein Viertel aller innovativen Unternehmen überhaupt Kooperationen eingehen, bedeutet das, dass Unternehmen – wenn sie überhaupt kooperieren – dies vorwiegend im nationalen Maßstab tun. 9,1 % der innovativen Unternehmen kooperieren mit europäischen und 3,9 % mit außereuropäischen, etwa amerikanischen Partnern. Das bedeutet, dass räumli-
184
Martin Heidenreich
che und soziokulturelle Nähe eine zentrale Voraussetzung für Kooperationen ist; Innovationsnetzwerke sind in erheblichem Maße auf diese Nähe angewiesen.
100%
Außereurop. Ausland Europ. Ausland Inland
80% 60%
Region
40% 20%
5) (n et = tb 15 ew 54 er ) be rn Jo in (n t-v =6 en 14 t ) u m re m it s ( it sta n Be =2 at l. 40 ra Fo te ) rn rs ch (n m =1 un it Fo gs 24 la m rs 1) bo it ch A r un s( us gs n b =8 in ild m sti it 20 un in tu ) gs du t e ei n str nr ( n ie ic =5 lle ht 42 un n ) Fo ge rs n ch (n =1 un gs 76 la 0) bo rs In ( n= sg 46 es am 6) t( n= 13 56 2)
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Abbildung 1: Räumliche Verteilung der Forschungs- und Entwicklungskooperationen von 3.600 europäischen Industrieunternehmen 1992 (Bosworth et al. 1996, Tabelle 6.4)
Die Bedeutung regionaler (und nicht nur nationaler) Nähe für Forschungs- und Entwicklungskooperationen kann in einer weiteren, wenngleich älteren Befragung von 3.600 europäischen Industrieunternehmen konkretisiert werden. Fast die Hälfte der Partner, mit denen europäische Unternehmen kooperieren, sind in derselben Region wie das kooperierende Unternehmen ansässig – und nur 13 % im außereuropäischen Ausland (vgl. Abbildung 1). Auf die Frage nach der Art der Entwicklungskooperationen waren Mehrfachnennungen möglich. Durchschnittlich war jedes Unternehmen, das überhaupt eine Entwicklungskooperation eingegangen war, an knapp vier solcher Kooperationen beteiligt. Etwa die Hälfte (47 %) dieser Kooperationen wurde mit Partnern aus derselben Region eingegangen, 24 % mit anderen inländischen Partnern und 28 % mit ausländischen Partnern. Festgehalten werden kann damit, dass räumliche und damit auch soziale und institutionelle Nähe eine wichtige Voraussetzung für betriebliche Innovationsstrategien sind. Regionen sind eine wichtige Arena für die Neukombination unterschiedlicher Wissensbestände.
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Zusammenfassung
Die regionale Konzentration von technischen Kompetenzen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bedeutet keinesfalls die Wiederkehr vor- oder frühindustrieller Produktionsweisen. Regionale Innovationsnetzwerke sind vielmehr ein Weg zur Akkumulierung, Neukombination und Nutzung technischen Wissens. Hierbei verfügen Regionen über besondere Vorteile bei der Bündelung und Weitervermittlung kontextspezifischen, oftmals stillschweigenden technischen Wissens. Regional eingebettete Kommunikations- und Kooperationsnetzwerke erleichtern die Umsetzung dieses Wissens in neue Verfahren und Produkte. Dies dokumentiert sich in regionalen Technisierungs- und Spezialisierungspfaden. Solche regionalen Lernvorteile – die jedoch auch mit Verriegelungseffekten einhergehen können – ergänzen die klassischen Vorteile regionaler Agglomerationen, die sich aus dem Zugriff auf regionale Ressourcen, aus geringeren Transaktionskosten und aus Spezialisierungsvorteilen ergeben. Die Nutzung regionaler Kooperations- und Lernvorteile hängt entscheidend von der jeweiligen kollektiven Ordnung ab, die es den Akteuren erleichtert, die Kooperations- und Kommunikationsbarrieren zwischen verschiedenen Firmen und zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu überwinden. Eine solche regionale Ordnung kann sich auf regionale Gemeinschaften, verbindliche institutionelle Regelungen und auf diskursive Koordinierungsformen stützen: Erstens können regionale Vertrauensbeziehungen durch familiäre, schulische, dörfliche oder berufliche Vergemeinschaftungsformen gestützt werden. Zweitens können durchsetzungsstarke, oftmals staatliche Institutionen die Kooperationsprobleme regionaler Akteure verringern, indem Kollektivgüter bereitgestellt (hochwertige Forschungs- und Entwicklungsleistungen, Technologietransferangebote, schulische und universitäre Ausbildungsmöglichkeiten) und verbindliche Regeln (rechtliche und tarifvertragliche Regelungen) oktroyiert werden. Drittens können regionale Institutionen auch das wechselseitige Lernen der Akteure unterstützen, indem sie Gelegenheiten und Anlässe zu wechselseitigen, ergebnisoffenen, selbstorganisierenden Verständigungs-, Aushandlungs- und Lernprozessen bieten. Regionale Kooperations- und Innovationsnetzwerke müssen sich zunehmend in einem weltweiten Standort- und Innovationswettbewerb behaupten. Regionale Innovationssysteme müssen damit ihre Leistungsfähigkeit im Spannungsfeld von regionaler Einbettung und globaler Wettbewerbsfähigkeit, von regionaler Schließung und Verriegelung und wirtschaftlicher Erneuerung beweisen. Diejenigen Regionen werden dabei am erfolgreichsten sein, deren Institutionen den Austausch von Erfahrungen und Informationen und ihre Umsetzung in neue Produkte und Dienstleistungen am wirkungsvollsten durch die Bereitstellung der entsprechenden lokalen kollektiven Wettbewerbsgüter flankieren. Heutige Wirtschaftsregionen unterscheiden sich von den klassischen Industriedistrikten Marshalls in drei Dimensionen: Erstens werden Lern- und Innovationsvorsprünge, die sich aus den Möglichkeiten zur Aktualisierung, Weiterentwicklung und Neukombination kontextgebundenen Wissens ergeben, zur zentralen Grundlage regionaler Leistungsfähigkeit. Zweitens ist eine regionale Vertrauensbasis immer weniger das selbstverständliche Ergebnis
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räumlicher und soziokultureller Nähe; immer wichtiger wird die institutionelle Konstruktion von Vertrauen und sozialer Nähe. Drittens sind Regionen nicht mehr der selbstverständliche räumliche Bezugspunkt wirtschaftlichen Handelns; sie müssen sich nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Maßstab als Neo-Marshallsche Netzwerkknoten behaupten.
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Literatur
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Policy-Netzwerke Christoph Knill und Ansgar Schäfer
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Was sind Policy-Netzwerke?
Der Begriff Policy bezeichnet die materielle Dimension von Politik, also die Ziele und Inhalte von Politik. Ein Beispiel dafür ist das Politikziel „saubere Luft“ und damit verbunden als Politikinhalt etwa ein Grenzwert für Luftschadstoffe.1 Folglich drückt die Kombination von Policy und Netzwerk aus, dass sich diese Art Netzwerke auf bestimmte Politikinhalte und damit auf unterschiedliche Politikfelder beziehen. Ein Politikfeld ist ein „inhaltlich abgegrenzter Bereich von Regelungen und Programmen, […] wie sie normalerweise organisatorisch im Zuständigkeitsbereich von Ministerien oder Parlamentsausschüssen zusammengefasst sind“ (Pappi/König 1995: 111). Saubere Luft ist demnach ein Ziel im Politikfeld Umweltpolitik. Policy-Netzwerke können in jedem Politikfeld entstehen und bleiben in der Regel auf dieses beschränkt. Sie sind darauf ausgerichtet, mittels Interaktion zwischen den Netzwerkakteuren Probleme oder Konflikte zu regeln oder zu lösen, was in Form von Kompromissen oder in Form eines Konsenses geschehen kann. Auf diese Weise können in Policy-Netzwerken kollektiv verbindliche Entscheidungen in einem bestimmten Politikfeld ausgehandelt werden. Policy-Netzwerke sind also solche sozialen Netzwerke, die einen Beitrag zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten leisten (Prittwitz 1994: 93). PolicyNetzwerke werden in der Literatur synonym auch als Politikfeldnetzwerke, Politiknetzwerke oder kürzer Policy-Netze bezeichnet.2
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Von der materiellen Dimension Policy sind die Dimensionen Polity und Politics zu unterscheiden: Polity als formale Dimension bezieht sich etwa auf Regeln, nach denen über Policies entschieden wird, z. B. die Verfassungsbestimmungen für den Gesetzgebungsprozess oder das Wahlrecht. Politics als prozessuale Dimension hingegen bezieht sich auf den Prozess der Durchsetzung von Zielen und Inhalten, z. B. den Wahlkampf oder Koalitionsverhandlungen.
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Zur Abgrenzung der Policy-Netzwerke von weiteren politischen Netzwerktypen siehe u.a. Perkmann (1998). Policy-Netzwerke werden politikwissenschaftlich im Rahmen der Policy-Analyse erforscht. Die Policy-Analyse beschäftigt sich, grob umrissen, mit den Bedingungen der Formulierung, der Ausgestaltung und der Wirkung von Politiken.
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Der Beitrag stellt zunächst Eigenschaften und eine Definition der Policy-Netzwerke vor. Dabei wird auf Akteure, deren Beziehungen und die Handlungsweise in Policy-Netzwerken näher eingegangen (Abschnitt 2). Danach wird der Begriff des Policy-Netzwerks anhand dreier Perspektiven vorgestellt, die in der Literatur häufig folgendermaßen beschrieben werden: 3 Die erste ist die heuristische Perspektive, die mit dem Netzwerkbegriff (begrifflich) auf eine veränderte Staatlichkeit reagiert, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert hat (Abschnitt 3). Als zweites wird die deskriptive Perspektive mit einer exemplarischen Typologie von Policy-Netzwerken sowie empirischen Beispielen illustriert (Abschnitt 4). Die dritte Perspektive betrachtet Policy-Netzwerke als moderne politische Steuerungsform; sie knüpft damit an die heuristische Perspektive an, reicht jedoch analytisch tiefer (Abschnitt 5). Anschließend gehen wir auf die Kritik an Policy-Netzwerken als einer Form der Entscheidungsfindung ein und beantworten die Frage, ob dieser Ansatz überhaupt eine theoretische Erklärungskraft für Politikergebnisse besitzt (Abschnitt 6). Im vorletzten Abschnitt geben wir einen Überblick über Methoden, mittels derer Policy-Netzwerke nicht nur in großen Forschungsprojekten, sondern auch in studentischen Qualifikationsarbeiten erforscht werden können (Abschnitt 7), bevor wir dann mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse schließen (Abschnitt 8). An verschiedenen Stellen illustrieren Beispiele die Ausführungen. Ziel dieses Beitrags ist, eine grundlegende Orientierung zum Thema Policy-Netzwerke anzubieten, auf deren Grundlage das Thema selbständig vertieft werden kann.
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Eigenschaften von Policy-Netzwerken
Policy-Netzwerke weisen, ähnlich wie andere soziale Netzwerke, unspezifische Eigenschaften auf: Sie bestehen aus Akteuren und deren Beziehungen. Wie im Fall von Unternehmensnetzwerken oder Ego-Netzwerken unterscheiden sich auch Policy-Netzwerke anhand unterschiedlicher Merkmale. So variiert beispielsweise die Zahl der beteiligten Akteure von Politikfeld zu Politikfeld. Genauso verhält es sich mit der Fluktuation der Akteure, dem Grad der Institutionalisierung oder der Offenheit, d. h. der Erweiterbarkeit des Netzwerkes um neue Akteure. Eher große, offene Policy-Netzwerke gibt es beispielsweise in der Umweltpolitik, verglichen mit eher kleinen, geschlossenen in der Außenpolitik (Kevenhörster 2008: 334). Sind an der Außenpolitik eher wenige Behörden, Experten und spezialisierte Institutionen beteiligt, nehmen an Netzwerken der Umweltpolitik deutlich mehr Akteure teil, von Nichtregierungsorganisationen bis zu Unternehmen. Die Zahl der Akteure bleibt überschaubar und 3
Brandes/Schneider (2009) erläutern außer der heuristischen sechs weitere Sichtweisen auf Netzwerke. Bezogen auf ihren Beitrag werden hier mit der deskriptiven Perspektive und derjenigen der Steuerungsform zwei gängige von diesen sechs vorgestellt. In älteren Publikationen wird die deskriptive Perspektive auch als angelsächsischer Ansatz, die Perspektive der Steuerungsform auch als deutscher (oder analytischer) Ansatz bezeichnet. Diesen nennt Nagel (2009: 18) den essentialistischen Ansatz.
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ihre Kontakte sind nicht anonym, d. h. die Handelnden, etwa die Repräsentanten beteiligter Organisationen im Policy-Netzwerk, kennen sich in der Regel persönlich. Andererseits unterscheiden wir Policy-Netzwerke von dieser recht allgemeinen Charakterisierung anhand spezifischer Eigenschaften, z. B. der – bereits erwähnten – Ausrichtung auf Entscheidungen in einem Politikfeld. In den beiden folgenden Abschnitten betrachten wir die konkreten Ausprägungen weiterer spezifischer Eigenschaften anhand der beiden konstitutiven Elemente Akteure und Beziehungen.4
2.1 Die Akteure in Policy-Netzwerken Im Gegensatz zu sozialen Netzwerken, deren Akteure gleicher Art (z. B. Individuen oder Unternehmen) sind, können in Policy-Netzwerken individuelle (natürliche wie juristische), korporative oder kollektive Akteure in beliebiger Kombination vertreten sein.5 In der Regel handelt es sich sowohl um staatliche als auch um nichtstaatliche Akteure, die wir im Folgenden private Akteure nennen. In einem umweltpolitischen Netzwerk können daher Umweltbehörden, Parteivertreter, Parlamentsausschüsse oder Staatsunternehmen genauso beteiligt sein wie lokale Bürgerinitiativen, Industrieverbände, internationale Umweltschutzorganisationen und Wissenschaftler. Zudem können die Akteure unterschiedlichen nationalstaatlichen Ebenen, unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen oder gar verschiedenen Staaten entstammen. Beispielsweise existieren im Mehrebenensystem der Europäischen Union Netzwerke der Regionalpolitik zwischen subnationalen Verwaltungseinheiten benachbarter Länder, den Kommunen und Unternehmen der Region sowie der EU-Kommission. Die Mitgliedschaft im Policy-Netzwerk ist freiwillig und umfasst die Akteure, die zum Politikfeld gehören. Das sind all diejenigen Akteure, die von einem bestimmten politischen Problem betroffen sind und mit den unterschiedlichen Gruppen und Institutionen das Interesse teilen, an der Formulierung und Umsetzung eines politischen Programms mitzuarbeiten (Heclo 1978; Kevenhörster 2008: 322). Für die Beteiligung am Netzwerk verfügen die Akteure nicht notwendigerweise über ein konstitutionelles Mandat. Die Akteure können zudem mit Vetomacht ausgestattet sein, wenn ihre Zustimmung zu oder Mitarbeit bei der Umsetzung einer im Policy-Netzwerk erarbeiteten Lösung erforderlich ist. An diesem Aspekt wird deutlich, dass die Akteure zwar autonom (freiwillige Mitarbeit), gleichzeitig jedoch voneinander abhängig sind (Interdependenz bei der Gestaltung der Problemlösung). Die Zusammensetzung der Policy-Netzwerke kann sich im Zeitverlauf ändern, was sich am Beispiel der Luftreinhaltepolitik in Großbritannien illustrieren lässt. Bis Ende der 1980er Jahre dominierten staatliche Akteure im Policy-Netzwerk: das Ministerium mit den untergeordneten Behörden (bis hin zur kommunalen Ebene) und staatliche Unternehmen etwa der Energiewirtschaft. Dazu kamen private Unternehmen, deren Branchenverbände und der
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Als Grundlage dienen neben den im Text zitierten Quellen: Benz (2004a), Bhatta (2006), Holtmann (2000), Mayntz (1993a, 2004), Papadopoulos (2004), Schneider (2003), Schneider/Janning (2006), Schneider et al. (2009), Schubert (2004), Torfing (2007), Wald/Jansen (2007).
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Zur Unterscheidung von kollektiven und korporativen Akteuren vgl. beispielsweise Schneider (2003: 109).
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Industriedachverband (Confederation of British Industry). Umweltverbände zählten zu diesem Zeitpunkt nicht zu den Akteuren, die an gemeinsamen Lösungen mitverhandelten (Knill 1995: 90-100; Héritier/Knill/Mingers 1996). In den 1990er Jahren veränderte sich das Netzwerk, als die weitgehend vom Umweltministerium unabhängige, mit der Implementation beauftragte Umweltagentur (Environment Agency) gegründet, staatliche Unternehmen privatisiert und Umweltorganisationen mit ihrer Expertise und ihren Positionen in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden.
2.2 Die Beziehungen zwischen den Akteuren in PolicyNetzwerken Die Beziehungen der Akteure können ebenso unterschiedlich gestaltet sein wie die Akteurskonstellation. Die Interaktion zwischen den Akteuren kann im Austausch intangibler Ressourcen wie Informationen und Expertise, Fertigkeiten, Ratschlägen, Vertrauen oder Anerkennung bestehen, aber auch in der Unterstützung durch finanzielle Mittel oder andere Kapazitäten wie Arbeitskräfte. Diese Interaktion oder Kommunikation konstituiert eine Beziehung zwischen den Akteuren, womit erst ein Policy-Netzwerk entsteht. Die dominierende Handlungsweise in Policy-Netzwerken, und damit ein weiteres spezifisches Merkmal, ist das Verhandeln, mit dem die Akteure das Ziel der Politikgestaltung verfolgen. Voraussetzung dafür ist, dass asymmetrische verhandelbare Interessen existieren, die Transaktionen und Tausch zwischen den Akteuren motivieren und ermöglichen.6 Im Beispiel der Luftreinhaltepolitik wäre eine typische Verhandlungslösung, dass strenge Emissionsgrenzwerte in Kraft treten, aber im Gegenzug für die Umrüstung von Produktionsanlagen mit neuer Technologie eine lange Frist eingeräumt oder finanzielle Unterstützung angeboten werden. Ein weiteres Beispiel wäre die Regulierung über freiwillige Selbstverpflichtungen, die Emittenten vor Sanktionen bewahrt, diese aber dazu bewegt, vermehrte Forschungsanstrengungen zu unternehmen, um ihre Anlagen effizienter zu gestalten und auf diese Weise Emissionen einzusparen. Der Tausch besteht hier darin, dass eine möglichst effektive Regelung in Kraft tritt, die im staatlichen und öffentlichen Interesse liegt, und gleichzeitig die Unternehmen vor Eingriffen schützt, die für sie möglicherweise problematisch sind, bzw. Kompensationen an anderer Stelle einräumt. Damit solche Einigungen erzielt werden können, die eines gewissen Maßes an Vertrauen und Redlichkeit bei der Einhaltung von Absprachen bedürfen, müssen Policy-Netzwerke auf eine gewisse Dauer angelegt sein. Mittels derartiger Interaktionen werden in Policy-Netzwerken, ungeachtet divergierender Interessen der Akteure, absichtsvoll kollektiv verbindliche Policy-Outputs produziert (Mayntz 1993a: 46).
Positive und negative Koordination Verhandlungen im Policy-Netzwerk können dabei entweder primär aus der Perspektive des Interessenausgleichs (bargaining) oder primär aus der Perspektive optimaler Problemlösung 6
Dies unterscheidet Policy-Netzwerke beispielsweise von Freundschaftsnetzwerken (siehe den Beitrag von Stegbauer, in diesem Band).
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(arguing oder problem-solving) geführt werden. Zwar entsteht in beiden Fällen ein kollektives Entscheidungsergebnis, der Unterschied zwischen beiden Orientierungen ist jedoch beachtlich (vgl. zu den folgenden Abschnitten Scharpf 1993, 1996 sowie Prittwitz 1996). Beim Interessenausgleich geht es den beteiligten Akteuren in erster Linie darum, Nachteile für sich zu vermeiden. Nachteile können entstehen, wenn sich die Initiativen der Akteure ausschließlich an ihren eigenen Zielen orientieren und nicht daran, welche Konsequenzen dies für andere Akteure hat. Beispielsweise könnte sich die Industrie an den Produktionskosten orientieren, beteiligte Politiker an Wiederwahlchancen oder Nichtregierungsorganisationen am Mitglieder- und damit Bedeutungszuwachs. Sich am Eigennutzen zu orientieren, ist nachvollziehbar und verständlich, resultiert aber eher in suboptimalen als in sachgerechten Problemlösungen. Fritz W. Scharpf nennt diese Form der Interaktion im Policy-Netzwerk negative Koordination. Die sachgerechte Problemlösung erfordert dagegen ein kooperatives Zusammenwirken im Interesse aller Betroffenen im Policy-Netzwerk. Dabei stellt anstelle des Eigennutzens das Gemeinwohl den Referenzpunkt dar, anhand dessen das Verhandlungsergebnis beurteilt wird. Diesen anspruchsvolleren Verhandlungsmodus nennt Scharpf positive Koordination. Die negative Koordination bezeichnet die Strategie, Nachteile zu vermeiden (etwa höhere Produktionskosten für die Industrie), die positive hingegen bezieht sich auf die Gestaltung gemeinwohlorientierter Problemlösungen – etwa eine gesundheitspolitisch motivierte Verbesserung der Luftqualität, die jedoch vermeidet, alle Schadstoff emittierenden Betriebe stillzulegen, was Nachteile für deren Betreiber und Beschäftigte hätte. Verhandeln Akteure, die kooperativ sind und deren Beziehungen untereinander von Dauerhaftigkeit und wechselseitigem Vertrauen geprägt sind, so ist dies eine gute Grundlage für positive Koordination. Die Wahrscheinlichkeit opportunistischen Verhaltens und der Verfolgung von Verhandlungsstrategien, die auf bloßen Interessenausgleich ausgerichtet sind, nimmt damit deutlich ab (Scharpf 1993: 77).
Kongruenz von Problem und Lösungsstruktur Erfolgreiche positive Koordination setzt zudem voraus, dass die Grenzen und die Struktur des kooperativen Policy-Netzwerks dem konkreten Problemlösungsbedarf entsprechen. Das Feld, für das eine Entscheidung getroffen wird, muss mit dem Verhandlungssystem der Netzwerk-Akteure weitgehend kongruent sein. Beispielsweise müssen für eine sachgerechte und umsetzbare Lösung alle Akteure notwendigerweise beteiligt sein, deren Mitwirkung erforderlich ist. Bei der Entscheidung können dann der Allgemeinnutzen und individueller Nutzen für die Akteure zusammenfallen (Mayntz 1993: 48). Sind jedoch wichtige Akteure mit Vetomacht nicht in die Verhandlungen einbezogen, läuft eine ausgehandelte Lösung Gefahr, nicht umgesetzt zu werden, falls sie den Interessen des ausgeschlossenen Akteurs mit Vetomacht entgegensteht.7
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Zur Vetospieler-Theorie siehe Tsebelis (2002).
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Es kann sich allerdings auch als nachteilig erweisen, wenn der Regelungsadressat zugleich Regulierer ist, weil er dem Policy-Netzwerk angehört, das die Entscheidungen aushandelt (Mayntz 2004: 73), denn damit kann er Entscheidungen zu seinen Lasten blockieren. PolicyNetzwerke bieten jedoch als einzige Koordinationsform die Möglichkeit, über gemeinsame Verhandlungen zu sachgerechten Lösungen zu kommen. So notwendig die Übereinstimmung von Sache (Problemstruktur) und Akteuren (Netzwerkstruktur) ist, so wenig hinreichend ist sie für eine tatsächlich sachgerechte Problemlösung. Selbst wenn die Voraussetzung der Kongruenz erfüllt ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig eine gemeinwohlorientierte Problemlösung, weil es nach wie vor etwa auf die Kooperationsbereitschaft der Akteure ankommt. Policy-Netzwerke eröffnen somit die Chance, sich zu einigen.
Gleichrangigkeit der Netzwerkakteure Neben der Verhandlung als typischer Interaktionsform ist eine weitere bereits erwähnte Besonderheit von Policy-Netzwerken die Beteiligung staatlicher wie privater Akteure, die sich nicht in einem Verhältnis der Über-/Unterordnung befinden, sondern sich auf Augenhöhe begegnen. Denn Lösungen werden in Verhandlungen gesucht, in denen staatliche Akteure von ihrer einseitigen Rechtsetzungsbefugnis keinen Gebrauch machen können (bzw. darauf verzichten). Ein weiteres Indiz für eine Gleichrangigkeit der Netzwerkakteure ist, dass sie frei sind, sich selbst zu organisieren und ihre Tätigkeiten und Verfahren im Netzwerk selbst zu steuern und zu vereinbaren. Notwendigerweise bedarf es hierfür einer freiheitlich orientierten Polity, die den Akteuren Spielräume bei der Gestaltung ihrer Beziehungen eröffnet. Natürlich dürfen Policy-Netzwerke nur im Rahmen der Gesetze gestaltet werden; sie sind also durch die Polity begrenzt. Jedoch greifen i. d. R. keine detaillierten staatlichen Vorschriften, was die Interaktionen, also die Koordination, Organisation oder Handlungsweise, im Netzwerk anbelangt. Fassen wir zusammen, dass Policy-Netzwerke, wie andere soziale Netzwerke auch, aus Beziehungen zwischen Akteuren bestehen. Demzufolge könnten beliebige politische Beziehungsgeflechte mit dem Begriff Netzwerk bezeichnet werden (vgl. Schneider/Janning 2006: 158). Eine derart weite Auslegung des Begriffes ist für die Policy-Forschung jedoch unzureichend, weil damit kein besonderer analytischer Gewinn verbunden ist. Der Begriff Policy-Netzwerk bezieht sich deshalb auf Netzwerke in einem bestimmten Politikfeld, in denen ein Beitrag zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten geleistet wird. Die wichtigsten Eigenschaften fasst Arthur Benz in einer Definition zusammen. Demnach sind PolicyNetzwerke „relativ dauerhafte, nicht formal organisierte, nicht-hierarchische, durch wechselseitige Abhängigkeiten und gemeinsame Verhaltenserwartungen bzw. -orientierungen stabilisierte Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen zwischen Vertretern von [staatlichen wie privaten] Organisationen, die in politische Prozesse involviert sind. Meist stehen die Akteure in Kooperationsverhältnissen, sie verhandeln, tauschen Informationen und Ressourcen aus und unterstützen sich gegenseitig.“ (2001: 170)
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Policy-Netzwerk als Metapher – die heuristische Perspektive
Der Begriff des Policy-Netzwerks (bzw. seine Derivate) fehlt in keinem aktuellen Lehrbuch zur Analyse von Politiken und der Funktionsweise politischer Systeme. In den 1970er Jahren in der Politikwissenschaft eingeführt, wird der Begriff zunehmend in der Forschung und in Analysen von Politik verwendet. Er erfreut sich spätestens seit den 1990er Jahren großer Beliebtheit und ist seit dieser Zeit in der Politikwissenschaft etabliert.8 Diese Popularität hat vielfältige und tiefgründige Ursachen. Policy-Netzwerke spielen eine bedeutende Rolle bei der Untersuchung, der Erklärung und dem Verstehen staatlichen Handelns. Trotz der Popularität, die dem Begriff Policy-Netzwerk in der politikwissenschaftlichen Literatur zuteil wird, und der mittlerweile fortgeschrittenen definitorischen Arbeit (vgl. Abschnitt 2), wird der Begriff nicht in allen Publikationen auf die gleiche Weise verwendet (Börzel 1998; Kenis/Schneider 1991; Marsh 1998b; Pappi 1993). Vielmehr findet sich eine Vielfalt von Konzepten und Anwendungen des Begriffes (Stoiber 2009: 117).9 Aus diesem Grund werden wir, wie bereits erwähnt, drei verbreitete Perspektiven und Verständnisweisen des Begriffs Policy-Netzwerk darstellen, die zudem seine chronologische Entwicklung in der Wissenschaft nachzeichnen. Die erste Perspektive ist die heuristische. Wissenschaftler bemerkten in der jüngeren Forschungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, dass es nicht genügte, formale politische Entscheidungsmodi, Verfahren und Institutionen zu betrachten, um Politikergebnisse zu erklären. Denn Policies werden nicht nur auf offiziellen Wegen, etwa dem parlamentarischen Verfahren, gestaltet, sondern genauso in informellen Gesprächen, klandestinen Zirkeln oder Arbeitsgruppen. Dort werden Lösungsoptionen erörtert, miteinander abgestimmt oder sogar für die an formalen Verfahren beteiligten Institutionen vorentschieden. Beispielhaft hierfür stehen Koalitionsausschüsse oder Expertengremien, die Politikziele vorgeben oder Gesetzesvorschläge ausarbeiten. Im Falle der bereits erwähnten Luftreinhaltepolitik in Großbritannien wurden Entscheidungen wesentlich ohne parlamentarische Beteiligung zwischen der Industrie und der Ministerialbürokratie vereinbart.
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So verzeichnet der Social Sciences Citation Index (SSCI) seit 1995 kontinuierlich steigende Publikationszahlen und Zitationen zum Thema (Suchwörter: „policy network“, „governance network“, „polit* network“). Siehe dazu auch die Grafik bei Knoke/Yang (2008: 1) oder Leifeld (2007: 10). Zeugnis davon geben außerdem grundlegende Monographien und Sammelbände, darunter – neben dem frühen Werk von Hanf/Scharpf (1978) – ältere Werke wie Kooiman (1993), Marin/Mayntz (1991), Marsh (1998a), Marsh/Rhodes (1992), Pappi (1987), Wasserman/Faust (1994) sowie jüngere wie Benz et al. (2007a), Bogason/Zølner (2007), Jansen (2006), Marcussen/Torfing (2007), Sabatier (2007), Schneider et al. (2009), Schneider/Janning (2006) sowie Sonderhefte einschlägiger wissenschaftlicher Zeitschriften bspw. des European Journal of Political Research (Jordan/Schubert 1992a), der Politischen Vierteljahresschrift (Héritier 1993a) oder des Journal of Theoretical Politics (König 1998). Schneider et al. (2007) erstellten eine umfangreiche strukturierte Bibliografie mit über 1100 Titeln zum Thema Politiknetzwerke, anhand derer die unterschiedliche Verwendung deutlich wird. Lang/Leifeld (2008) sowie Leifeld (2007) zeigen im Rahmen empirischer Studien, welche Schulen sich in der wissenschaftlichen Diskussion zum Netzwerkansatz herausgebildet haben; siehe ergänzend auch Haas/Mützel (2008).
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Und wo für Neues noch Begriffe fehlen, wird bald einer gefunden: in diesem Fall der des Policy-Netzwerks. Mit seiner Hilfe machte die Wissenschaft die beobachteten neuen Spielarten der politischen Entscheidungsfindung außerhalb formaler staatlicher Verfahren, des Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure in unterschiedlichen Beziehungsmustern benennbar und begreiflich.10 Der Begriff Policy-Netzwerk wird bis heute häufig assoziativ, als Heuristik oder Metapher verwendet, um eine Idee zu präsentieren, wie Politik tatsächlich „gemacht“ wird (vgl. Marsh 1998b: 3; Nagel 2009: 18, 22ff.).
Autonomieverlust des Staates Diese Wahrnehmung und die damit verbundene begriffliche Fassung der beobachteten Phänomene stellen die klassische Vorstellung, dass ein Staat mit seinen Institutionen nach außen autonom und nach innen auf sein Machtmonopol gestützt handeln könne, in Frage. Politik gleichsam monolithisch zu verstehen, als genau einen formalen, festgelegten und zentral gesteuertem Politikprozess, auf einer politischen Bühne, eingebettet in eine Öffentlichkeit, widerspricht empirischen Beobachtungen und ist überholt (Mayntz 1993a: 40; Kevenhörster 2008: 333). Denn nach innen führt die funktionale Differenzierung sowie die steigende Komplexität und Organisiertheit moderner Gesellschaften zu einem Verlust autonomer Handlungsfähigkeit des Staates.11 Nach außen geht die Souveränität des Nationalstaats wegen zunehmender transnationaler Verflechtungen und Interdependenzen schrittweise verloren. Beispiele für diesen Zusammenhang sind globale Probleme wie Luftverschmutzung (Schadstoffe halten nicht an den Ländergrenzen) oder auch Fragen des Urheber- und Patentschutzes sowie der Finanzmarkt- oder Internetregulierung, welche sich allesamt einer umfassenden und wirksamen einzelstaatlichen Regelung entziehen. Zudem sind staatliche Kompetenzen und Ressourcen auf mehrere Handlungsebenen oberhalb und unterhalb des Nationalstaats verteilt. Neben verbreiteten Dezentralisierungs- und Regionalisierungstendenzen12 ist zumindest für die Europäische Union die fortlaufende Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf die internationale bzw. supranationale Ebene zu nennen. Moderne Staaten finden sich eingebunden „in ein immer dichteres Geflecht transnationaler und innergesellschaftlicher Abhängigkeiten und Verhandlungszwänge, die [...] die Möglichkeit der hierarchischsouveränen Alleinentscheidung [...] in Frage stellen“ (Scharpf 1991: 621). Beispiele für die im Zitat erwähnten Abhängigkeiten sind etwa die vom Wissen oder von der Mitarbeit anderer bei der Umsetzung von Politikinhalten. Diese Umsetzung kann nicht mehr 10
Man kann sich fragen, ob Policy-Netzwerke etwas grundsätzlich Neues sind, ob es überhaupt ein politisches System gänzlich ohne solche Netzwerke gibt und ob Policy-Netzwerke nicht ‚immer schon’ immanenter Bestandteil politischer Prozesse sind, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität. Deren Zunahme ist vermutlich der Grund, warum das Phänomen erst zu diesem Zeitpunkt in den Blick der Politikwissenschaft rückte.
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Systemtheoretische Ansätze radikalisieren diese Sicht, indem sie den Staat ‚nur’ als gleichrangiges Teilsystem unter vielen in einer Gesellschaft „ohne Spitze und ohne Zentrum“ (Luhmann 1981: 22) begreifen. Siehe dazu auch Willke (1992).
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Siehe dazu Marks/Hooghe/Schakel (2008b: 168) sowie weitere Artikel in Marks/Hooghe/Schakel (2008a).
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nur über hierarchische und formale Wege erfolgen; denn dem Staat mangelt es an Expertise, was beispielsweise ein geeigneter Grenzwert für Luftschadstoffe ist und ob technische Anlagen diesen überhaupt erreichen können. Hierarchisches Vorgehen ist ebenfalls problematisch, wenn zur Kontrolle der Einhaltung von Vorschriften aufwendige Verwaltungskapazitäten aufgebaut werden müssen, wofür es möglicherweise an kompetentem Personal und Geld fehlt. Diese Beispiele illustrieren die Einengung des staatlichen Handlungsspielraumes und das Unvermögen einer hierarchischen Entscheidung und Umsetzung von Politikinhalten. Statt in hierarchischen Entscheidungsstrukturen handeln staatliche Akteure daher abseits formaler Wege in Policy-Netzwerken, um Spielräume zurückzugewinnen und Politikziele zu erreichen. So finden sich Policy-Netzwerke „typischerweise im Zusammenhang mit politischen Problemlagen, in denen komplexe politische, ökonomische und technische Aufgaben- und Ressourcenabhängigkeiten bestehen, und deren Bewältigung deshalb ein hohes Ausmaß an Expertise und breit gestreuter Ressourcen erfordert. Policy-Netzwerke sind Mechanismen zur Mobilisierung politischer Ressourcen in Situationen, in denen die Kompetenzen zur Entscheidung, Formulierung und Implementation politischer Programme über eine Vielzahl privater und staatlicher Akteuren verteilt sind.“ (Kenis/Schneider 1991: 41) Die Leistung der heuristischen Perspektive besteht also darin, das Phänomen PolicyNetzwerk erstmals in dieser Form in den Blick genommen zu haben; allerdings ist der analytische und theoretische Gehalt einer metaphorischen Verwendung des Begriffs eher dürftig. Zudem gibt es folgende offene Punkte: Erstens stellt sich die Frage, wie Policy-Netzwerke konkret aussehen und ob man verschiedene Typen von Policy-Netzwerken unterscheiden kann. Zweitens mangelt es an einer aussagekräftigeren Konzeption, die die unterschiedlichen Formen und Auswirkungen des neuen Phänomens der Policy-Netzwerke erfasst. Drittens wäre zu klären, welche Vor- und Nachteile Policy-Netzwerke besitzen. Und schließlich bleibt viertens offen, inwieweit das Policy-Netzwerkkonzept (z. B. unter Verweis auf die spezifischen Eigenschaften eines Netzwerks) in der Lage ist, die konkret erzielten Entscheidungen zu erklären. Diesen Fragen wenden wir uns in den folgenden Abschnitten zu.
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Typologie von Policy-Netzwerken – die deskriptive Perspektive
Die heuristische Perspektive hat das Policy-Netzwerk als neuartiges Phänomen in modernen Staaten dargestellt, nicht aber detaillierter systematisch beschrieben (Abschnitt 3). Damit stellt sich die Frage, wie die vielfältigen Beziehungsmuster der Akteure unterschieden und kategorisiert werden können.
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Ein Beispiel für eine detaillierte Typologie von Policy-Netzwerken stammt von Frans van Waarden (1992; 1993).13 Er versteht Policy-Netzwerke als Struktur zur Interessenvermittlung zwischen Akteuren, also zur Koordination von gesellschaftlichen und staatlichen Interessen (administrative Interessenvermittlung).14 Um eine Typologie zu erstellen, führt er sieben Dimensionen an, anhand derer die Akteure und ihre Beziehungen zueinander charakterisiert werden können (vgl. auch Atkinson/Coleman 1989; Jordan/Schubert 1992b; Kriesi 1994). Diese sieben Dimensionen korrespondieren mit Eigenschaften von PolicyNetzwerken, die wir bereits besprochen haben (Abschnitt 2). Im Einzelnen sind dies: Erstens die Akteure (z. B. Anzahl oder Art); zweitens die Beziehung zwischen Staat und Privaten (z. B. Beratung oder Ressourcenmobilisierung); drittens die Struktur der Netzwerke (z. B. Grad von Symmetrie oder Offenheit); viertens der Institutionalisierungsgrad (formell oder informell); fünftens die gültigen Verhaltensregeln (z. B. Konsensorientierung oder Vertraulichkeit); sechstens die Machtverteilung (z. B. Stärke des Staates gegenüber den Privaten) und schließlich siebtens die Strategien der öffentlichen Verwaltung (z. B. Ansprechbarkeit oder Einflussnahme darauf, welche Interessen organisiert sind). Mit Hilfe dieser Dimensionen charakterisiert van Waarden elf Arten von Policy-Netzwerken. Die Beziehungsmuster reichen dabei von etatistischen, wenn der Staat private Interessen nahezu ausschließt, klientelistischen, wenn nur Partikularinteressen berücksichtig werden, über verschieden ausgeprägte Formen korporatistischer Art bis hin zu pluralistischen Arrangements oder Issue-Netzwerken. Wir beschränken uns hier auf eine vereinfachte Klassifikation von Policy-Netzwerken, die auf van Waardens (1993) Typologie aufbaut, welche die Koordination von staatlichen und privaten Akteuren in den Mittelpunkt rückt. Zur Charakterisierung der Akteure verwendet van Waarden sowohl auf Seiten des Staates als auch auf der Seite der Zivilgesellschaft die Begriffe Stärke und Schwäche. Daraus ergeben sich dann die Netzwerktypen in Abbildung 1 – illustriert mit empirischen Länderbeispielen (van Waarden 1993: 196ff.). Bei der Operationalisierung kommen zudem zwei Variablen zum Tragen: der Grad der Zentralisierung bzw. Fragmentierung der Organisation von staatlichen und privaten Akteuren sowie das Maß an Autonomie, d. h. der Grad der Trennung von Staat und Gesellschaft. Ein Indikator für letzteres ist beispielsweise, wie sehr der Staat in der Wirtschaft interveniert (van Waarden 1993: 196). Frankreich, die Niederlande und Schweden verfügen mit ihrer zentralistischen Staatsverwaltung über starke staatliche Akteure, wohingegen in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten politische Macht über diverse funktionale und territoriale Ebenen und Institutionen verteilt ist. 13
Van Waarden lehnt sich bei seiner Typologie an ältere Arbeiten von Atkinson und Coleman (1989) und Katzenstein (1978) an. Die Typologie wird hier nur kurz vorgestellt; vgl. auch die übersichtliche Aufbereitung von Nagel (2009: 27ff.).
14
Siehe zum Thema administrative Interessenvermittlung Lehmbruch (1987).
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stark
schwach
stark
(1) hochgradiger (sektorübergreifender) Korporatismus (Niederlande, Schweden)
(2) liberaler (sektoral begrenzter) Korporatismus (Schweiz, Deutschland)
schwach
Stärke der Zivilgesellschaft
Stärke des Staates
(3) Etatismus (Frankreich)
(4) Pluralismus (USA)
Abbildung 1: Typologie von Policy-Netzwerken (modifiziert nach van Waarden 1993: 197)
Korporatismus (1, 2) Van Waarden geht davon aus, dass ein hochgradiger, sektorübergreifender Korporatismus aus der Kombination eines starken Staates und einer starken Gesellschaft resultiert (1). Beispiele dafür sind die Niederlande oder Schweden. Mit liberalem Korporatismus bezeichnet van Waarden dagegen die Netzwerkmuster administrativer Interessenvermittlung in Ländern mit fragmentierter und dezentralisierter Staatsmacht wie der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland bei gleichzeitig wenig fragmentierten und gut organisierten zivilgesellschaftlichen Akteuren (2).15 Starke gesellschaftliche Akteure zeichnen sich durch viele Mitglieder und eine professionelle Führung aus.
Pluralismus (4) Entgegengesetzt dazu begünstigt die Kombination eines schwachen Staates und einer schwach organisierten Gesellschaft die Entwicklung pluralistischer Policy-Netzwerke. Neben der staatlichen Fragmentierung bestehen in den Vereinigten Staaten zahlreiche konkurrierende partikularistische Interessengruppen, die weniger in Dachverbänden organisiert sind.
15
Diese Art korporatistischer Arrangements ist allerdings sektoral begrenzt und geht mit pluralistischen Interessenvermittlungsstrukturen in anderen Bereichen einher, wodurch das Land abhängig vom Politikfeld auch anders eingeordnet werden kann. Auch in anderen Ländern gibt es bisweilen sektorspezifische Unterschiede, wie van Waarden selbstkritisch zu seiner Typologie anmerkt (1993: 191).
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Etatismus (3) Die Kombination eines starken Staates mit einer schwach organisierten Gesellschaft begünstigt etatistische oder staatsdirigistisch geprägte Netzwerke der administrativen Interessenvermittlung, wie sie vor allem im Falle Frankreichs beobachtet werden können. Vergleicht man die Typologie van Waardens, die hier nur in einem kleinen Ausschnitt dargestellt werden konnte, mit der zuvor diskutierten heuristischen Perspektive, so wird der Gewinn an Präzision in der Beschreibung von Policy-Netzwerken deutlich. Dies gilt auch beim Vergleich mit älteren, grobmaschigen Typologien pluralistischer und korporatistischer Muster der Interessenvermittlung, die vor der Etablierung des Policy-Netzwerkbegriffs verwendet wurden. Trotz dieser Fortschritte muss jedoch angemerkt werden, dass mit der Festlegung auf diese Typologie die Gefahr einhergeht, dass man alternativen Formen, die nicht in das Raster passen, nicht genügend Beachtung schenkt. Daher wurden etliche Alternativ-Typologien entwickelt und verwendet, die eine Einordnung der Beziehungen staatlicher und privater Akteure anhand anderer Merkmale vornahmen. Van Waarden steht also nur stellvertretend für zahlreiche Versuche, die Beziehungen zwischen diesen Akteuren zu beschreiben.16 In allen Varianten der deskriptiven Perspektive bleibt jedoch die Frage nach dem weiterführenden analytischen und theoretischen Gehalt des Konzepts Policy-Netzwerk offen.
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Policy-Netzwerke als Steuerungsform – die Governance-Perspektive
Während die angelsächsische Literatur den Begriff Policy-Netzwerk vorwiegend zur Klassifizierung der Struktur der Interessenvermittlung staatlicher und privater Akteure verwendet (vgl. Abschnitt 4), werden in der deutschen Wissenschaftsgemeinde Policy-Netzwerke primär als Erscheinungsform politischer Steuerung im modernen Staat aufgefasst (Wald/Jansen 2007; Kenis/Schneider 1991; Kooiman 1993; Mayntz 1993a; Scharpf 1993). Diese Sichtweise nimmt Bezug auf die oben erwähnten Defizite der hierarchischen Steuerung (vgl. Abschnitt 3). Obwohl man die beiden Konzepte klar differenzieren kann, wird die jeweils verwendete Perspektive in der wissenschaftlichen Literatur nicht immer angegeben (vgl. Rhodes 1988; Grande 1994; Börzel 1998). Bei politischer Steuerung geht es, grob gesagt, um die Frage, wie Politikziele erreicht werden können, beispielsweise wie man öffentliche Güter wie saubere Luft garantieren kann.17
16
Jordan und Schubert (1992b) entwickelten beispielsweise eine Typologie, die Policy-Netzwerke nach nur drei Dimensionen klassifiziert: dem Grad der Institutionalisierung (stabil/instabil), der Reichweite (sektoral/sektorübergreifend) sowie der Anzahl der involvierten Akteure (begrenzt/offen).
17
Siehe vertiefend zum Thema Governance Benz (2004a; 2007a).
Policy-Netzwerke
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Wir erklären in diesem Abschnitt kurz, was unter Governance zu verstehen ist und wie der Netzwerkbegriff damit zusammenhängt. Governance wird in einem weiten und einem engen Sinne verwendet; in beiden Fällen sind jedoch Policy-Netzwerke elementare Bestandteile.18
5.1 Policy-Netzwerke und Governance im weiten Sinn Im weiten Sinn fungiert Governance als Oberbegriff für verschiedene Formen von Steuerung. Die drei wichtigsten sind Märkte, Hierarchien und Netzwerke (vgl. Abbildung 2).19 Dabei greift auch hier die bereits vorgestellte Unterscheidung, nach der Netzwerke sich nicht durch beliebige Beziehungen zwischen Akteuren konstituieren – was bedeuten würde, dass auch Märkte und Hierarchien als Netzwerke dargestellt bzw. interpretiert werden könnten. Es handelt sich vielmehr um eine spezifische Form, die weitergehende Anforderungen erfüllt. Auch hier gibt es wiederum zwei unterschiedliche Herangehensweisen (vgl. auch die Einleitung von Weyer, in diesem Band).
Markt
Hierarchie
Netzwerk
Abbildung 2: Illustration der drei Steuerungsformen (Brandes/Schneider 2009: 48)
Eine erste Sichtweise definiert Netzwerke als mittlere, Misch- oder auch hybride Form eines Kontinuums, dessen einander gegenüberliegende Extreme der Markt und die Hierarchie sind (Benz 2004b: 20; Kenis/Schneider 1991; Williamson 1985; vgl. auch Nagel 2009: 51ff.; 275). Die Annahme eines Kontinuums ist dann sinnvoll, wenn man als analytische Dimensionen (ähnlich wie bei van Waarden) beispielsweise die Anzahl und die Autonomie der Akteure sowie die Charakteristik ihrer Beziehungen (Anonymität, Formalisierungsgrad etc.) verwendet (Abbildung 3).
18
Für den Begriff Governance lassen sich in der Literatur unterschiedliche Definitionen finden, die verschiedene Aspekte betonen. Es gibt keine allgemeingültige Definition, gehört Governance doch zu den „komplexesten Begriffen der Sozialwissenschaften“ (Benz 2004b: 15). Nicht selten wird der Begriff lediglich als Schlagwort verwendet. Zur aktuellen Diskussion siehe Schuppert (2005).
19
Siehe bei Lütz (2006: 26) eine Gegenüberstellung von Steuerungsformen, die fünf verschiedene Arten berücksichtigt.
202 Dimension Anzahl der Akteure Autonomiegrad Anonymität Formalisierungsgrad
Christoph Knill und Ansgar Schäfer Markt sehr viele hoch ja niedrig
Netzwerk viele bis wenige hoch nein teils/teils
Hierarchie sehr wenige niedrig nein hoch
Abbildung 3: Gegenüberstellung der Eigenschaften der drei Steuerungsformen
Märkte sind durch eine Vielzahl autonomer Akteure gekennzeichnet, deren Beziehungen anonym, informell und flexibel sind (symbolisiert durch die gestrichelten Linien in Abbildung 2). Hierarchien dagegen bestehen aus formellen und stabilen Beziehungen einer kleinen Zahl von Akteuren, die nicht anonym sind, geschweige denn autonom handeln können. Policy-Netzwerke sind dazwischen anzusiedeln, da die Ausprägung der Dimensionen variieren und eher der einen oder der anderen Steuerungsform ähneln kann. David Marsh (1998b: 9) bezeichnet diese Strukturen als quasi-institutionell, weil Netzwerke bestimmte Traditionen, Arten und Weisen des Umgangs, der Organisation usw. aufweisen, die institutionellen Arrangements wie Hierarchien nahekommen können (vgl. Schneider/Janning 2006: 116-118). Wenn man jedoch das Augenmerk mehr auf die spezifische Qualität der Policy-Netzwerke richtet, sind sie nach der zweiten Auffassung mehr als eine Zwischenform von Markt und Hierarchie: nämlich ein eigenständiger Typus, der durch eine Rekombination der beiden anderen Typen und eigenständige Charakteristika gekennzeichnet ist. So kombinieren Policy-Netzwerke die für Märkte typische größere Zahl autonom Handelnder mit der für Hierarchien typischen Fähigkeit, gewählte Ziele durch koordiniertes Handeln zu verfolgen (Marin 1990: 19-20; Mayntz 1993a: 44; Powell 1990). Policies werden weder von einem Hauptakteur an der Spitze bestimmt und mittels Autoritätsbeziehungen umgesetzt (Hierarchie), noch erfolgen sie ungeplant, spontan, sich aus Handlungen vieler konkurrierender Akteure ergebend (Markt) (Schneider/Janning 2006: 157). Im Gegenteil ergibt sich eine (einflussreiche) Stellung im Policy-Netzwerk erst durch wiederholte Interaktionen innerhalb desselben (Héritier 1993b: 16), was ein Beispiel für ein eigenständiges Charakteristikum ist (symbolisiert durch die gerichteten Interaktionen in Abbildung 2). Die Sichtweise des eigenständigen Typus ist treffender, weil die Policy-Netzwerke nicht auf einem Kontinuum verortet werden können: manche Charakteristika ähneln Märkten, während gleichzeitig andere für Hierarchien typisch sind; zudem sind weitere Eigenschaften beiden anderen Formen fremd. Die Betrachtung als eigene Steuerungsform stellt PolicyNetzwerke den anderen Steuerungsformen gegenüber. Damit werden Policy-Netzwerke nicht mehr nur als Phänomen begreifbar (heuristische Perspektive) und voneinander unterscheidbar (deskriptive Perspektive), sondern sie können auch mit den anderen Formen der Handlungskoordination verglichen werden. Dies erweitert die Analysemöglichkeiten und verbessert damit im Ergebnis das Verständnis, wie in Policy-Netzwerken Politikergebnisse entstehen.
Policy-Netzwerke
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5.2 Policy-Netzwerke und Governance im engeren Sinn Der weite Governance-Begriff unterscheidet Netzwerke von anderen Formen der Steuerung; der enge Governance-Begriff kombiniert hingegen die oben bereits angesprochenen Veränderungen von Staatlichkeit und staatlicher Handlungsfähigkeit mit Fragen nach der spezifischen Steuerungsform (vgl. Abschnitt 3). Diese engere Sicht betrachtet Policy-Netzwerke als ein Verfahren, das genutzt wird, um in modernen Gesellschaften zu Politikergebnissen zu kommen. Da die hierarchische staatliche Steuerung sich als problematisch erweist, erscheint die Kooperation in Policy-Netzwerken als eine Option, die die Lösung der skizzierten Probleme staatlichen Handelns verspricht (Schultze 2007). Der Staat reagiert also auf Steuerungsprobleme, indem er sich neuer Formen des Regierens bedient, die man unter Governance im engeren Sinn zusammenfasst (Kenis/Schneider 1991: 41). Beschrieben wird auf diese Weise die Abkehr von der klassischen hierarchischen Steuerung (Mayntz 2004: 66) – Government genannt –, zugunsten einer neuen netzwerkartigen Steuerung – Governance genannt. „Das Policy-Netzwerkkonzept ergibt sich aus dem Versuch zu verstehen, wie unter den Bedingungen der Verschiebung von Government zu Governance Politik in nationalen politischen Systemen gestaltet wird.“ (Warleigh 2006: 88) Das klassische Schlagwort vom „Regieren ohne Regierung“ – „Governance without Government“ (Rosenau/Czempiel 1992; vgl. Rhodes 1997) drückt zwar aus, dass diese Entscheidungsmodi nicht-hierarchisch sind, vermittelt aber möglicherweise in seiner Verkürzung den irreführenden Eindruck, in Policy-Netzwerken seien Regierungen völlig unbeteiligt. Es „wird mit dem Governance-Konzept darauf aufmerksam gemacht, dass Steuern und Koordinieren (oder Regieren und Verwalten) überwiegend (d. h. nicht nur, aber immer häufiger) in horizontalen, netzwerkartigen Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren geschieht, wenngleich im Schatten der Hierarchie des Staates“ (Benz 2004b: 18). Regierungsinstitutionen sind also gleichwohl Akteure in diesen Policy-Netzwerken, unterschiedlich ist lediglich die Art und Weise der Entscheidungsfindung und Steuerung (Benz et al. 2007b: 13). Anstelle hierarchischer Interventionen in die Gesellschaft bedient sich der Staat neuer Techniken: der des Tauschhandels (z. B. der Beteiligung Privater an der Entscheidung gegen deren Versicherung, die Vereinbarung zu befolgen), des Setzens positiver Anreize, des Anregens, Moderierens, Koordinierens, Kooperierens und Verhandelns (Grande 1993: 51; Kevenhörster 2008: 325). Zudem behält der Staat die Möglichkeit, unabhängig vom Policy-Netzwerk gesetzgeberisch tätig zu werden. Er behält diese Option quasi in der Hinterhand, und sie bleibt ihm in Verhandlungen als mehr oder weniger überzeugendes Druckmittel oder Ausweg, sollte das Policy-Netzwerk nicht zu Entscheidungen finden. Der Staat wird daher im Policy-Netzwerk gelegentlich als Primus inter Pares betrachtet (Mayntz 2004: 69).
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Policy-Netzwerke sind ein typisches Phänomen moderner Governance im engeren und im weiteren Sinne (Papadopoulos 2004: 216; Wald/Jansen 2007: 93-99). Mit der Abgrenzung von Policy-Netzwerken zu anderen Formen der Steuerung haben wir unser Verständnis um eine politikpraktische Perspektive erweitert, die Policy-Netzwerke als Methode der politischen Steuerung verwendet. Der Begriff Policy-Netzwerk versucht somit, diejenigen Formen der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu bezeichnen, die im Gegensatz zum traditionellen Verständnis stehen, nach dem der Staat der Gesellschaft übergeordnet, gleichsam ihr höchstes Kontrollzentrum ist und Politik in festgelegten formalen und überschaubaren Abläufen gestaltet, entschieden und umgesetzt wird.
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Kritische Anmerkungen
Nachdem wir Policy-Netzwerke als Steuerungsform kennengelernt haben, schließen sich einige kritische Fragen nach den Vor- und Nachteilen der Steuerungsform sowie der theoretischen Erklärungskraft an, die das Policy-Netzwerkkonzept für die Entstehung konkreter Politikergebnisse hat. Kritisieren lassen sich vor allem zwei Aspekte: In politikpraktischer Perspektive kann man fragen, welche Vor- und Nachteile es bringt, wenn kollektiv verbindliche Entscheidungen durch Policy-Netzwerke getroffen werden und sich sowohl staatliche als auch private Akteure dieser neuen Steuerungsform bedienen. Die theoretische Kritik konzentriert sich hingegen auf die Frage, welche Erklärungskraft Policy-Netzwerke als unabhängige Variable für die Entstehung konkreter Politikergebnisse haben.
6.1 Vor- und Nachteile der Steuerungsform Policy-Netzwerk Betrachtet man die Beziehungsmuster staatlicher und privater Akteure in Policy-Netzwerken, kann man extreme Fälle finden: Zum einen solche, in denen der Staat sich entlastet, indem er öffentliche Aufgaben auf Private überträgt und auf die gesellschaftliche Selbstorganisation setzt. Untersuchungen zeigen, dass eine derartige Delegation staatlicher Kompetenzen an private Akteure etwa im Rahmen korporatistischer Arrangements nicht zur Schwächung staatlicher Autorität führt, sondern deren Handlungsspielräume und Legitimation vergrößert (Peters 1995). Zum anderen solche, in denen umgekehrt private Akteure den Staat instrumentalisieren, um ihre Interessen durchzusetzen.20 Derartige Beziehungsmuster sind selten, denn in
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An dieser Stelle sei auf den Begriff regulatory capture verwiesen, der die Gefangennahme der Regulierer durch die Regulierten beschreibt und die Vorstellung beinhaltet, dass beispielsweise aufgrund eines Wissensvorsprungs die Adressaten einer Regulierung den Staat als Regulierer steuern können.
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Policy-Netzwerken, die im Modus der Verhandlung operieren, reduziert das relative Machtgleichgewicht zwischen den beteiligten Akteuren die Wahrscheinlichkeit hierarchischer Abhängigkeiten. Es können sich stets Koalitionen bilden, die ein Gegengewicht zur überlegenen Macht einzelner Akteure bilden (Mayntz 1993a: 47, vgl. auch den Beitrag von Heidling, in diesem Band).
Mobilisierung externer Ressourcen In Abschnitt 3 haben wir bereits auf die Veränderungen von Staatlichkeit hingewiesen. Das klassische Steuerungsprinzip Hierarchie erweist sich aus mehreren Gründen als nur eingeschränkt tauglich. Wenn Eigeninitiative und kreative Innovationen seitens der Regelungsadressaten erforderlich sind, um ein angestrebtes Politikziel zu erreichen, sind staatliche Eingriffe und Regelungen alleine wirkungslos und benötigen die Unterstützung privater Akteure. Wenn eine Regelung mit dem Selbstbestimmungswillen und -recht der Regelungsadressaten kollidiert, sind staatliche Institutionen zudem regelrecht gezwungen, die von diesen ausgehenden Widerstände adäquat zu berücksichtigen, um die Politikziele dennoch zu erreichen (vgl. Mayntz 2004: 68). Folglich sind staatliche Institutionen bei der Implementation, Kontrolle und Evaluation ihrer Maßnahmen in zunehmendem Maße auf externe Expertise sowie auf externe Unterstützung angewiesen. Ohne diese Einbindung und Kooperation wäre eine Implementation politischer Programme in vielen Fällen wesentlich schwieriger (Wald/Jansen 2007: 98). Im Beispiel der Luftreinhaltepolitik müssen etwa Abgasfilter nicht nur entwickelt, sondern auch eingebaut werden. Je mehr die Emittenten dies aus eigenem Antrieb tun, umso effektiver und effizienter wird die Umsetzung von Schadstoffgrenzwerten funktionieren.
Vermeidung von Dysfunktionalitäten Zudem vermeidet die Steuerung durch Policy-Netzwerke die Dysfunktionalitäten anderer Steuerungsformen wie etwa Marktversagen (z. B. negative Externalitäten) oder Proteste und Widerstand im Falle hierarchischer Entscheidungsprozesse. Policy-Netzwerke verbinden hingegen Vorteile beider Formen, nämlich die Autonomie der Akteure (Markt) mit der Konzentration auf ein gemeinsames Ziel und der Möglichkeit der (Selbst-)Kontrolle (Hierarchie) (Mayntz 1993). Zusätzlich profitiert der Staat von geringeren Kontroll-, Umsetzungs- und Rechtfertigungskosten (Marsh 1998b: 9). Auch Scharpf verweist auf Defizite hierarchischer Steuerung wie etwa Motivations- und Informationsprobleme. Die Entscheidungsträger müssen sich darauf verlassen, dass sich die unteren Ebenen der Hierarchie sowohl am Gemeinwohl orientieren als auch valide Informationen etwa über lokalen Gegebenheiten zur Verfügung stellen. Diese Voraussetzungen einer effektiven hierarchischen Steuerung sind jedoch häufig nicht gegeben (Scharpf 1992: 62; 1993: 62-64). Werden über Netzwerke weitere Quellen für Wissen und Expertise erschlossen, kann das Informationsdefizit somit verringert werden. Die Motivation und die Gemeinwohlorientierung können zudem über eine echte Beteiligung an der Entscheidung gefördert werden.
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Verhandlung als Steuerungsmodus Im Gegensatz zu den Steuerungsformen Markt und Hierarchie ist das Ziel des PolicyNetzwerks nicht die unilaterale Entscheidung, sondern eine ausgehandelte Einigung der Betroffenen (Benz 2004b). Private Akteure erhalten Partizipationsmöglichkeiten zumindest während der Politikformulierung und oftmals auch darüber hinaus für die Implementation und weitere Phasen des Politikprozesses.21 Diese Beteiligung kommt der gesellschaftlichen Nachfrage danach entgegen und erhöht die Akzeptanz der Entscheidungen (Kenis/Schneider 1991; Marin/Mayntz 1991; Mayntz 1993a). Die frühe und umfassende Einbeziehung relevanter Akteure ermöglicht es, frühzeitig auf Widerstände einzugehen und Aspekte zu berücksichtigen, die von den staatlichen Akteuren nicht beachtet wurden. Auf diese Weise können potenziell divergierende Präferenzen ausgeglichen oder Kompromisse gefunden werden. Das Beispiel der Luftreinhaltepolitik in Großbritannien zeigt, dass es für private Akteure wie die Kohle- und Energieindustrie oder Umweltorganisationen attraktiv war, sich an Verhandlungen zu beteiligen, weil so die Chance bestand, eigene Positionen in die Verhandlungen einzubringen und ggf. durchzusetzen. Für den Staat war das ebenfalls attraktiv, weil er eine bessere Befolgung und höhere Legitimation der getroffenen Regelungen erwarten konnte.
Lernprozesse Wegen der kontinuierlichen Interaktionen spielen sich in Policy-Netzwerken bestimmte Verhaltensmuster ein, die weitere Verhandlungen erleichtern können. Aufgrund von Lernprozessen und wechselseitigen kognitiven Anpassungen können Policy-Netzwerke auch zu Angleichungen der Problemsichten führen, was wiederum die Problemlösung erleichtert. Erkennen alle Beteiligten an, dass Luftverschmutzung ein Gesundheits- und Umweltproblem ist, fällt es leichter, sich auf Maßnahmen zu einigen, als wenn dies nicht von allen Akteuren als Problem akzeptiert wird. Ebenso förderlich für Lern- und Überzeugungsprozesse sind persönlichen Kontakte, die für Verhandlungen in Policy-Netzwerken erforderlich sind. Im Vergleich zu anderen Regelungsstrukturen macht die informelle und nicht-kodifizierte Art der Interaktion Policy-Netzwerke flexibler und anpassungsfähiger, was sich in der kurzfristigen und situationsbedingten Änderung von Verfahren, geringeren Problemen mit Statusunterschieden der Akteure, der geringen Rolle formaler Positionen u.a.m. niederschlägt.
Eigendynamik Andererseits können Policy-Netzwerke im Laufe der Zeit eine institutionelle Eigendynamik entwickeln, die eine Anpassung an neue Problemlagen erschwert (Lehmbruch 1991; Benz 1995). Obwohl die interne Struktur der Policy-Netzwerke nur selten kodifiziert wird, können
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Verwiesen wird an dieser Stelle auf den Policy-Zyklus, der den Politikprozess beschreibt: ausgehend von der Problemdefinition, über Agenda-Setting und Politikformulierung, folgen Implementation, Evaluation und ggf. Termination einer Policy (s. dazu Howlett/Ramesh/Perl 2009). An allen diesen Phasen können die Akteure im Policy-Netzwerk beteiligt sein.
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sich die Strukturen und Abläufe im Zeitverlauf auch ungeschrieben stark institutionalisieren, was im extremen Fall bis zu einer Erstarrung des Netzwerkes führen kann, die seinen tendenziell flexiblen und anpassungsfähigen Charakter konterkariert und Anpassungen an neue Probleme und Akteure unwahrscheinlich werden lässt. Das Beispiel der britischen Luftreinhaltepolitik zeigt dies. Lange waren Umweltorganisationen nicht an den informellen Verhandlungen beteiligt. Erst in den 1990er Jahren wurden aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit, administrativer Reformen der Regierung sowie neuer EU-Vorgaben die Umweltorganisationen regelmäßig in die Verhandlungen des Policy-Netzwerks einbezogen.
Gefahr der Schließung Potenziell sind Policy-Netzwerke integrativ und leicht um neue Akteure erweiterbar. Auf der anderen Seite können auch Akteure ausgeschlossen bleiben, wenn die übrigen Akteure ihnen die Teilnahme an Verhandlungen verwehren. Denn auch die Grenzen der Netzwerke, also die Entscheidung darüber, wer an Verhandlungsprozessen teilnimmt, werden grundsätzlich von den Netzwerkakteuren selbst bestimmt. Voraussetzung für die Beteiligung an einem Policy-Netzwerk ist allerdings ein Mindestmaß (organisierter) Interessenrepräsentation und Interessenartikulation. Problematisch ist hierbei, dass manche Interessen entweder schlecht organisiert sind und deshalb nicht einbezogen werden oder sogar manchen Akteuren der Zugang zum Policy-Netzwerk verweigert wird (Mayntz 2004: 71; Olson 2004). So waren etwa Umweltinteressen in den 1960er Jahren – verglichen mit den 1990er Jahren – kaum organisiert, und die Organisationen mussten sich ihren Zugang zu Policy-Netzwerken erst erstreiten.
Demokratiedefizit? Insbesondere in demokratietheoretischen Debatten wird auf einige problematische Aspekte der Policy-Netzwerke hingewiesen (vgl. Papadopoulos 2004; Benz/Papadopoulos 2006; Sørensen/Torfing 2007). Denn an den verbindlichen Problemlösungen wirken Akteure mit, die nicht über ein konstitutionelles oder anderes (Wahl-)Mandat verfügen (Schneider/Janning 2006: 159). In demokratischen Gesellschaften ist es jedoch Aufgabe der Parlamente, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, und nicht Aufgabe schwach legitimierter Policy-Netzwerke.
(In-)Transparenz der Entscheidungen Ein weiterer Nachteil ist, dass die Arbeit von Policy-Netzwerken für Außenstehende oftmals intransparent ist und sie sich der öffentlichen und juristischen Kontrolle entziehen (Benz 2004b; Papadopoulos 2004). Auch sind die Leistungen und Gegenleistungen der Akteure bei einem Tauschgeschäft von außen kaum zu beurteilen. Für die Öffentlichkeit ist es ist schwer, einzelnen Akteuren die Verantwortung für das Verhandlungsergebnis zuzurechnen (Wald/Jansen 2007: 98). Um Wahlentscheidungen treffen oder beurteilen zu können, ob Entscheidungen im eigenen Sinne bzw. rechtlich einwandfrei sind (man denke an Korruption), ist jedoch ein Mindestmaß an Transparenz notwendig. Zudem mangelt es an wirksamen
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Sanktionsmöglichkeiten, sollten sich einzelne Netzwerkakteure nicht an die (informellen) Regeln des Netzwerkes oder an Vereinbarungen halten (Wald/Jansen 2007: 98). Policy-Netzwerke gewinnen als alternative Steuerungsform an Bedeutung, da sie einen strukturellen Rahmen für eine effektive nicht-hierarchische Koordination bieten (Kooiman 1993, Mayntz 1993b). Dabei führt eine solche Struktur nicht zwangsläufig zu einer optimalen Steuerung und besseren, d. h. sachgerechten Problemlösungen (Papadopoulos 2004). Allerdings bietet sie Vorteile, welche dies wahrscheinlicher werden lassen. Wägt man die Vor- und Nachteile der Steuerung in Policy-Netzwerken ab, können sie als eine nützliche Steuerungsform gelten. Diese (vorsichtig) positive Bilanz liefert zugleich eine Erklärung dafür, warum in zunehmend komplexen Gesellschaften und sich verändernden modernen Staaten mit ihren interdependenten Akteuren trotzdem zielgerichtete wirksame Handlungskoordination möglich ist (vgl. Scharpf 1993: 80).
6.2 Policy-Netzwerke als Erklärung für Politikergebnisse? Policy-Netzwerke haben wir bisher aus einer heuristischen Perspektive (Abschnitt 3), als (deskriptive) Beschreibung unterschiedlicher Muster administrativer Interessenvermittlung (Abschnitt 4) sowie aus der Governance-Perspektive als alternative Form staatlicher Steuerung besprochen (Abschnitt 5). Heuristiken und Deskriptionen haben jedoch nur einen geringen Erkenntniswert (vgl. Brandes/Schneider 2009), wenn man als Politikwissenschaftler herausfinden möchte, welche Auswirkungen Policy-Netzwerke auf die Politikgestaltung haben (Marsh 1998b: 9) und ob sie als Erklärung (unabhängige Variable) für Politikergebnisse (abhängige Variable) dienen können. Der zweite Aspekt der Kritik fragt also, ob sich von der konkreten Ausprägung des Policy-Netzwerks (Akteure, Beziehungen etc.) auf Merkmale des Policy-Outputs schließen lässt (vgl. Eising 2007: 292; Wald/Jansen 2007). Dies schließt auch die Debatte ein, welchen theoretischen Nutzen die unterschiedlichen Perspektiven der Policy-Netzwerkanalyse besitzen (vgl. Börzel 1998; Grande 1994; Héritier/ Knill/Mingers 1996; Schneider/Dang-Nguyen/Werle 1994). Kritiker bemängeln, dass der Begriff Policy-Netzwerk oftmals nur metaphorisch verwendet und in vielen Policy-Netzwerkanalysen lediglich postuliert werde, dass eine Vielzahl von Akteuren in den Prozess der Politikgestaltung involviert sei; diese Strukturen würden jedoch beispielsweise mit Mitteln einer formalen Netzwerkanalyse nur selten untersucht (vgl. Abschnitt 7) (vgl. Börzel 1998; Schumann 1993). Auch wird kritisiert, dass Studien mit dem Problem einer unüberschaubaren und analytisch schwer erfassbaren Zahl von Akteuren konfrontiert seien (vgl. Laumann/Knoke 1987). Auf diese Schwierigkeit der analytischen Erfassung von Netzwerken hat Hussein Kassim (1994) insbesondere im Zusammenhang mit der Analyse europäischer Politikgestaltung aufmerksam gemacht. Dieses Problem verstärkt sich in beträchtlichem Maße, wenn man es mit volatilen, institutionell wenig verfestigten Strukturen zu tun hat. Nicht zuletzt aus diesen Gründen sei es daher bislang nicht gelungen, PolicyOutputs und -Outcomes aus den Eigenschaften von Policy-Netzwerken verallgemeinerbar abzuleiten. De facto werden aber Policy-Netzwerkanalysen eingesetzt, um Policy-Outputs zu erklären. Solche Studien verstehen Policy-Netzwerke als ein analytisches Modell, das konkrete empi-
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rische Situationen beschreiben und erklären kann. Ein derartiges Modell ist aber eben keine Theorie im sozialwissenschaftlichen Sinne, mit deren Hilfe deterministische oder probabilistische Aussagen über die Auswirkungen von Netzwerkeigenschaften auf Politikergebnisse gemacht werden könnten. Patrick Kenis und Jürg Raab konstatieren diese fehlende Generalisierbarkeit und betonen, dass „die Theoriebildung über die Rolle von Netzwerken bei der Politikgestaltung“ (2003: 3) noch fehle.22
Analytischer Werkzeugkasten Die in zahlreichen Publikationen behandelte Netzwerktheorie bezeichnet irreführender Weise ein Konzept zur Erfassung und Analyse von Netzwerken und nicht einen Ansatz zur theoretischen Erklärung empirischer Phänomene. Die Netzwerktheorie ist somit eher ein analytischer Werkzeugkasten (analytical toolbox), um Akteure und deren Beziehungen zu erfassen und zu analysieren (vgl. Schneider et al. 2009). Typischerweise ist die (empirische) Untersuchung von Policy-Netzwerken nicht an eine bestimmte Theorie gebunden; und für die Erklärung der beobachteten Effekte und Ergebnisse politischer Steuerung durch Policy-Netzwerke existieren in der wissenschaftlichen Literatur sehr unterschiedliche Herangehensweisen, die jeweils auf ihre eigene Weise die notwendige theoretische Anreicherung leisten (Kenis/ Schneider 1991; Héritier 1993b; Mayntz 1993a). Die Metaforschung über die politikwissenschaftliche Netzwerkforschung hat mehrere Schulen identifiziert, die in unterschiedlichen methodischen und theoretischen Feldern anzusiedeln sind (Leifeld 2007). Dazu gehören etwa Studien, die sich neben der hier vorgestellten Governance- oder Interessenvermittlungsperspektive beispielsweise mit Sozialkapital oder politischen Eliten befassen. Als theoretisches Fundament für Policy-Netzwerkanalysen werden aber auch Verhandlungs- oder Kommunikationstheorien, Innovationstheorien, Machttheorien oder Rational Choice-Theorien herangezogen oder miteinander kombiniert. Konkrete Beispiele für solche Theorien sind akteurzentrierte (vgl. Marin 1990; Scharpf 1992; Zintl 1992), institutionalistische (Krasner 1988; March/Olsen 1989) sowie kognitive Ansätze (Sabatier 1993). Gemeinsam ist lediglich, dass alle genannten Theorien die Akteure, deren Beziehungen und Interaktionen und darüber hinaus den Kontext erfassen, in dem die Akteure sich bewegen.
Institutionalistische Theorien Institutionalistische Theorien nehmen an, dass der Einfluss von Akteuren auf Politikergebnisse des Policy-Netzwerks abhängig ist von der Mitgliedschaft, der Bedeutung bei der Kontrolle von Informationsströmen oder der Fähigkeit, Ressourcen und Unterstützung zu organisieren (vgl. Warleigh 2006: 88). Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf (1995) entwickelten den Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, der akteur- und institutionenorientierte
22
Sie beklagen zudem den mangelnden Erkenntnisfortschritt: „we are not really making enough progress in creating empirical generalizations especially when it comes to explaining policy with network characteristics“ (Kenis/Raab 2003: 13).
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Erklärungen kombiniert. Ausgangspunkt ihrer Erklärung ist der Einfluss institutioneller Faktoren (im Sinne eines Sets informeller und formeller Regeln), welche die strategischen Handlungsoptionen begrenzen, die den Netzwerkakteuren bei der Verwirklichung ihrer Interessen zur Verfügung stehen. Bestehende institutionelle Arrangements, wie etwa rechtliche Regeln, Verwaltungsstrukturen oder traditionelle Muster der administrativen Interessenvermittlung, spielen daher eine wichtige Rolle für die Erklärung politischer Ergebnisse und Prozesse. Da Institutionen individuelle Handlungsoptionen lediglich einschränken, nicht aber determinieren (Thelen/Steinmo 1992), ist es nicht immer möglich, Policy-Outputs oder -Outcomes allein auf der Basis institutioneller Faktoren zu erklären.
Akteurzentrierte Ansätze Vielmehr muss die institutionelle Perspektive in solchen Fällen durch eine akteurzentrierte Perspektive ergänzt werden, in deren Rahmen der von der institutionellen Struktur nicht erfassbare bzw. nicht erfasste Einfluss strategischer Interaktionsprozesse auf den Erfolg und Inhalt politischer Steuerung analysiert wird. In diesem Zusammenhang kommt beispielsweise Tauschtheorien, spieltheoretischen Modellen oder Theorien der Interessenrepräsentation eine wichtige Bedeutung zu.
Kognitive Erklärungsansätze Kognitive Erklärungsansätze machen darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die strategische Interaktion der Netzwerkakteure nicht nur von institutionellen Regeln und Routinen, sondern auch von weiteren Faktoren geprägt wird, wie beispielsweise der Problemlösungsphilosophie, die in einem Politikfeld vorherrscht und die meist in ideologischen Leitbildern und Überzeugungen fest verankert ist. Diese manifestieren sich in Wertvorstellungen der beteiligten Akteure im Hinblick auf bestimmte politische Probleme sowie kausalen Annahmen über die ihnen zugrundeliegenden Ursachen und Wirkungszusammenhänge (JenkinsSmith 1988: 171). Paul A. Sabatier (1993) führt an, dass sich solche Leitbilder und Überzeugungen (belief systems) durch policy-orientiertes Lernen (Konfrontation des belief systems mit neuen Ideen und Erkenntnissen) verändern können. Er unterscheidet dabei Grundannahmen und Werte und fundamentale Policy-Strategien (core beliefs) sowie nachrangige Gesichtspunkte (secondary aspects), die instrumentelle Faktoren für deren Umsetzung umfassen. Generell wird davon ausgegangen, dass die Grundannahmen gegenüber Veränderungen wesentlich resistenter sind. Es ist zu erwarten, dass übergeordnete Problemlösungsphilosophien, die zu den Grundannahmen zu rechnen sind, sich nur in Ausnahmefällen abrupt wandeln. Die Problemlösungsstrategien der Netzwerkakteure bewegen sich im Allgemeinen innerhalb des Wertekonsensus etablierter Problemsichten (Héritier 1993c: 434; Knill 1995). Damit Policy-Netzwerke mit ihren jeweiligen Charakteristika als unabhängige Variable untersucht werden können, bedarf es der Ergänzung durch Theorien, wie die genannten, die zudem operationalisiert werden müssen, um das Handeln von Netzwerkakteuren und die politischen Steuerungswirkungen von Policy-Netzwerken zu erfassen. Die PolicyNetzwerkkonzepte an sich sind folglich keine Theorie, sondern vielmehr ein analytisches
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Raster, in dessen Rahmen theoretische Ansätze zur Erklärung von Policy-Outputs und -Outcomes zur Anwendung kommen.
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Methoden der Erforschung von Policy-Netzwerken
Für die Forschungspraxis stellt sich abschließend die Frage, wie Policy-Netzwerke untersucht werden können. Grundsätzlich bieten sich hierfür verschiedene sozialwissenschaftliche Methoden und Forschungsdesigns an. Die Entscheidung für die Wahl einer Methode ist wie bei jedem Forschungsvorhaben abhängig vom Erkenntnisinteresse, den konkreten Fragestellungen und den zugrunde liegenden Theorien oder Annahmen. Den Prozess der methodischen Erforschung von Netzwerken nennt man Netzwerkanalyse. Die Netzwerkanalyse bezeichnet keine Theorie, sondern eine Reihe von Methoden, die sich für die Anwendung bzw. Überprüfung von strukturorientierten bzw. relationalen Theorien eignen (vgl. die Beiträge von Jansen/Diaz-Bone und Stegbauer, in diesem Band). Die Netzwerkanalyse verwendet eine Bandbreite von Werkzeugen, mit denen Netzwerkelemente und deren Beziehungen beschrieben, analysiert und dann mit Hilfe einer Theorie bewertet werden können.23 Das Forschungsdesign kann unterschiedlich gestaltet sein und reicht von der Einzelfallstudie eines Policy-Netzwerks über Vergleiche von Policy-Netzwerken verschiedener Politikfelder oder verschiedener Länder (Querschnittsstudie) sowie präskriptive „Bestpractice“-Analysen empirischer Netzwerke bis hin zu Längsschnittstudien. Die einsetzbaren Methoden reichen von standardisierten bis zu schwach oder nichtstandardisierten Verfahren. Die Netzwerktheorie verwendet standardisierte Verfahren; hier stehen nicht die Akteure und ihre individuellen Merkmale im Mittelpunkt, sondern deren Beziehungen (Pappi 1993: 85).24 Die Daten einer solchen Erhebung werden häufig grafisch dargestellt (vgl. Abbildung 2 in Abschnitt 5). Daneben können auch weniger standardisierte Methoden zur Anwendung kommen, die sich insbesondere anbieten, wenn man entweder eine weniger solide theoretische Ausgangslage vorweisen kann oder sich für bestimmte Details von Policy-Netzwerken interessiert. Einsetzbare Methoden zur Datenerhebung sind insbesondere Befragungen mittels Fragebogen oder Experteninterviews (offene oder Leitfadeninterviews), Beobachtungen, Dokumenten- bzw. Textanalysen, statistische Datenbankanalysen, Experimente und Simulationen.25
23
Die netzwerkanalytischen Verfahren können dabei nicht nur auf Policy-Netzwerke angewendet werden. Mit Hilfe der Netzwerkanalyse untersuchen Forscher auch andere soziale Netzwerke oder gänzlich andere Dinge, wie beispielsweise den Zusammenhang bestimmter Elemente von Texten.
24
Vgl. Brandes/Erlebach (2005); Hollstein/Straus (2006); Jansen (2006); Laumann/Knoke (1987); Schneider/Janning (2006: 116-118); Schneider et al. (2009); Schubert (2004); Wasserman/Faust (1994).
25
Leifeld (2007) hat für den Zeitraum ab den 1970er Jahren Daten zu den erforschten Politikfeldern und den eingesetzten Methoden erhoben. Demzufolge stammt die Mehrzahl der Studien aus dem Bereich Umwelt- und Gesundheitspolitik. Untersuchte Länder sind dabei insbesondere Großbritannien (insbesondere mittels qualitativer Studien) und Deutschland (insbesondere mittels quantitativer Studien).
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Für die Auswertung der Daten stehen in beiden Fällen spezielle Computerprogramme zur Verfügung.26 Alle Methoden haben ihre Grenzen sowie Vor- und Nachteile und sind für spezifische Forschungsanliegen mehr oder weniger gut geeignet. Ein limitierender Faktor des Methodeneinsatzes sind die zur Verfügung stehenden Ressourcen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es kaum zu rechtfertigen, die Methodik an den Ressourcen auszurichten, allerdings bleibt aus pragmatischen Gründen oftmals kaum eine andere Wahl. Dann kann nur versucht werden, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln das beste wissenschaftlich vertretbare Forschungsdesign zu gestalten. Eine standardisierte schriftliche Befragung unter allen Netzwerk-Akteuren, eine teilnehmende Beobachtung, persönliche Experteninterviews oder reine Textanalysen verursachen einen unterschiedlich hohen Aufwand und setzen unterschiedliche Fertigkeiten voraus.
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Konklusion
Angesichts der Bedeutung, die das Konzept des Policy-Netzwerks in der Politikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat, war es das Ziel dieses Beitrags, einen Überblick über die Verwendung des Begriffes sowie dessen theoretisch-analytischen Nutzen zu geben. In Policy-Netzwerken werden Entscheidungen für ein Politikfeld ausgehandelt, indem Interessen ausgeglichen oder Probleme und Konflikte gelöst werden. Dabei sind staatliche wie private Akteure gemeinsam im Netzwerk durch wiederholte Interaktionen miteinander verbunden. Der Begriff Policy-Netzwerk wird in vielfältiger Weise verwendet. Er entstand aufgrund von Beobachtungen des Politikprozesses in modernen Staaten (heuristische Perspektive). Unterschiedliche Typologien von Policy-Netzwerken klassifizieren die Beziehungen staatlicher und privater Akteure (deskriptive Perspektive). Im Kontrast zu einer versagenden oder defizitären hierarchischen oder marktbasierten Steuerung werden Policy-Netzwerke als eine alternative Steuerungsform neben Hierarchien und Märkten betrachtet (GovernancePerspektive). Sich dieser Form der Steuerung zu bedienen, impliziert für die beteiligten staatlichen wie privaten Akteure und die Gesellschaft insgesamt sowohl Vor- als auch Nachteile. Vorteile gegenüber anderen Steuerungsformen sind unter anderem die größere Chance sachgerechter Problemlösungen und weiterreichende Partizipationsmöglichkeiten. Nachteile sind etwa die mangelnde demokratische Legitimation und das Problem, dass Policy-Netzwerke ihr Steuerungspotenzial aufgrund unkooperativer oder ausgeschlossener Akteure nicht sachgerecht entfalten können. Die Frage, ob es möglich ist, die Entstehung konkreter Politikergebnisse aus den Strukturen von Policy-Netzwerken abzuleiten, muss hier offen bleiben. Offenkundig bedarf es zusätzlicher Theorien, die spezifizieren, welche Merkmale der Akteurbeziehungen untersucht wer26
Für die Auswertung standardisierter Erhebungen im Sinne der Sozialstrukturanalyse sind das beispielsweise Visone, UCINET (vgl. den Beitrag von Weyer/Fink/Liboschik, in diesem Band); für Daten aus Experteninterviews MAXQDA, Atlas/ti.
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den müssen und wie sich Einflüsse auf die Politikgestaltung konkret nachweisen lassen. Die Policy-Netzwerkanalyse bedient sich dabei einer großen Bandbreite von Methoden, deren Wahl von der jeweiligen Fragestellung und den theoretischen Annahmen abhängt.
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Innovations-Netzwerke Johannes Weyer
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Einleitung1
Eine Besonderheit von Netzwerken ist ihr Potenzial zur Bewältigung von Unsicherheit, wie sie für Innovationsprozesse typisch ist. Die Entwicklung und Durchsetzung neuer soziotechnischer Systeme ist in der Regel mit einem hohen Maß von Unsicherheit, aber auch mit manifesten Risiken verbunden. Die Nicht-Planbarkeit von Zukunft schlägt hier voll zu Buche, und es bedarf einer gewissen Risikobereitschaft von Unternehmen, aber auch von Einzelpersonen, sich auf das Wagnis Innovation einzulassen. Innovations-Netzwerke sind ein probates Mittel zum Umgang mit derartigen Risiken, denn sie bündeln die Ressourcen der beteiligten Akteure, sie ermöglichen die rasche Verbreitung von Informationen über Unternehmensgrenzen hinweg, und sie bilden den Ort, an dem interorganisationale Lernprozesse stattfinden können (Powell/Grodal 2005: 59). Dies unterscheidet Innovations-Netzwerke von anderen Netzwerken, deren Fokus nicht – oder nicht primär – auf Innovationen liegt, wie beispielsweise strategische Netzwerke oder Policy-Netzwerke (siehe die Beiträge von Heidling und Knill/Schäfers, in diesem Band). Auf diese Weise ein hartes Abgrenzungskriterium zu formulieren, wäre jedoch schwierig, denn auch strategische Netzwerke können Neues generieren, beispielsweise neuartige Formen der Produktionssteuerung etc. Von Innovations-Netzwerken soll daher im Folgenden insbesondere dann gesprochen werden, wenn die Kooperation zur Entwicklung einer radikal neuen Technik führt, die die Grundlage eines neuen sozio-technischen Systems bildet, oder wenn sie zur inkrementellen Weiterentwicklung einer bereits etablierten Technik beiträgt, welche das bestehende soziotechnische System verbessern hilft (Hughes 1987: 57f.; zum soziologischen Innovationsbegriff siehe Weyer 2008: 56f.).
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Mein Dank für wertvolle Hinweise geht an Peter Witt.
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Ein Beispiel ist die Entwicklung der Photovoltaik in Deutschland, deren Durchsetzung seit den 1970er Jahren im Wesentlichen auf die Dynamik zurückzuführen ist, die das AkteurNetzwerk aus Umweltaktivisten, Herstellerunternehmen, Forschungsinstituten und politischen Advokaten entfaltet hat. Ein wesentlicher Schritt zur Ingangsetzung dieser Dynamik – in einer ‚feindlichen‘ Umwelt etablierter Energieerzeugungs-Systeme – war die Schaffung von Nischen, in denen sich die neue Technik entfalten konnte (Fuchs/Wassermann 2008; vgl. auch Mautz 2007). Auch die Durchsetzung der Windkraft als Alternative zu fossilen Energien ist, folgt man der Analyse von Raghu Garud und Peter Karnøe (2003), das Verdienst eines Netzwerks dänischer Klein-Unternehmen. Mit einer Strategie der schrittweisen Verbesserung („bricolage“) gelang es diesem Netzwerk, die einstmals dominierenden US-amerikanischen High-TechUnternehmen zu überflügeln, die eine Strategie des technologischen Durchbruchs („breakthrough“) verfolgten. Auch hier spielten Lernprozesse, die durch kontinuierliche Interaktion, regelmäßiges Feedback sowie die Einbeziehung der Nutzer zustande kamen, eine wesentliche Rolle für den Erfolg des Innovations-Netzwerks. Schließlich kann auch das iPhone von Apple, das – mit Touchscreen, Gestensteuerung und App-Store – seit 2009 zum dominanten Design bei mobilen Smartphones geworden ist, als Beispiel herangezogen werden. Die Firmen-Philosophie von Apple, die auf proprietäre Systeme setzt und die Anwender mit digitaler Rechteminderung ‚gängelt‘, widerspricht der Netzwerk-These nur auf den ersten Blick. Denn bei der Entwicklung der populären Apps, den (überwiegend) preiswerten Anwendungen für das iPhone, verlässt sich Apple vollständig auf ein Netzwerk von Entwicklern und Nutzern, das eine Dynamik erzeugt, die Apple allein nie zustandebringen würde (Spehr 2009). Nicht nur die Netzwerk-Externalitäten des mittlerweile größten Marktes für Zusatzsoftware für Handys, sondern auch die hohe Geschwindigkeit und die – für Apple – günstigen Kosten der Entwicklung und der Distribution von Produkten sind ein entscheidender Vorteil des Netzwerks gegenüber klassischen Formen der Kooperation in Lieferketten.
2
Methodische Zugänge zum Phänomen InnovationsNetzwerke
Die genannten Beispiele stehen für die Vermutung, dass netzwerkgestützte Innovationsprozesse eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit haben als Innovationsprozesse, die sich auf klassische Verfahren wie die In-house-Forschung, auf die staatliche Förderung von Großprojekten oder gar auf das individuelle Genie von Erfindern verlassen. Neues entsteht oftmals an den Schnittstellen unterschiedlicher Denkrichtungen und nicht im engen Rahmen einer einzigen Denkschule, einer Wissenschaftsdisziplin oder eines einzelnen Unternehmens (Powell/Grodal 2005: 59f.). Das Überschreiten von Grenzen sowie der Austausch bzw. das Poolen von Ressourcen werden somit immer wichtiger.
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Ein neu entwickeltes sozio-technisches System hat demnach eine größere Chance, sich langfristig am Markt durchzusetzen, wenn es nicht von einem oder wenigen singulären Akteuren, sondern von einem Verbund miteinander kooperierender Akteure generiert wird. Dies ist die sogenannte „network succes hypothesis“ (Witt 2004), also die Vermutung, dass die Beteiligung an einem (Innovations-)Netzwerk Vorteile bringt und die Erfolgschancen aller Mitspieler steigert, beispielsweise in puncto Wettbewerbsvorteile, Innovationsführerschaft oder Technikakzeptanz.2 Empirische Evidenzen für diese These findet man auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen: In Form qualitativer Fallstudien zu Innovationsprozessen, oftmals in vergleichender Perspektive, die eine „dichte“ Beschreibung der Verhandlungs- und Koordinationsprozesse liefern, die zwischen den Netzwerk-Akteuren stattfinden; hier steht die Frage im Mittelpunkt, wie Innovations-Netzwerke funktionieren und worin die spezifische Qualität dieses Typus der Handlungskoordination besteht. In Form quantitativer Analysen, die Zusammenhänge zwischen der Intensität und der spezifischen Form der Vernetzung sowie dem Erfolg von Unternehmen ermitteln; hier geht es eher um die Frage, ob sich die behaupteten positiven Effekte von Netzwerken statistisch nachweisen lassen. Man findet also oftmals eine Konzentration entweder auf die ‚innere Mechanik‘ von Netzwerken (qualitative Ansätze) oder auf deren messbaren Output (quantitative Studien). Der folgende Beitrag befasst sich mit unterschiedlichen Zugängen zum Phänomen Innovations-Netzwerk, stellt die Ergebnisse der Forschung vor und diskutiert zentrale Fragen der Netzwerkforschung. Zuvor soll allerdings kurz ein Blick in die Geschichte der Netzwerkidee geworfen werden, um nachvollziehen zu können, wie die Vorstellung entstehen und sich verbreiten konnte, dass Innovations-Netzwerke ein zentraler Faktor für den Erfolg von Innovationen sind.
3
Zur Geschichte des Konzepts der Innovations-Netzwerke
Seit den 1980er Jahren hat sich die Wahrnehmung – zunächst in der Fachdebatte, später dann auch in der breiten Öffentlichkeit – festgesetzt, dass Netzwerke selbstständiger Unternehmen ein wesentliches Merkmal von Innovationsprozessen darstellen. Eine derartige Diagnose einer Trendwende von ‚alten‘ Innovationsmustern zu ‚neuartigen‘ Formen der Kooperation
2
In der Entrepreneurship-Forschung wird die „network success hypothesis“ folgendermaßen verwendet: Gründer beschaffen aus ihren persönlichen Netzwerken Ressourcen, die billiger sind als am Markt oder gar nicht am Markt beschaffbar sind. Dies trägt dann zum Erfolg ihres Unternehmens bei (persönliche Kommunikation Peter Witt).
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bürdet sich eine hohe Beweislast auf, die behauptete Zäsur empirisch schlüssig nachzuweisen.3
New wine in old bottles? Immer wieder wird die Frage aufgeworfen und heftig diskutiert, was eigentlich ‚neu‘ an den Innovations-Netzwerken der 1980/90er Jahre ist. Stellen sie ein qualitativ neuartiges Phänomen dar, oder wird hier lediglich neuer Wein in alte Schläuche gegossen? Die Arbeiten von Michael Piore und Charles Sabel (1989) belegen beispielsweise, dass regionale Produktionsverbünde von handwerklichen Betrieben bereits in der frühen industriellen Revolution eine wichtige Rolle gespielt haben, etwa bei der Seidenproduktion in Lyon oder der Herstellung von Klingen in Solingen (vgl. den Beitrag von Heidenreich, in diesem Band). Geht man in der Wirtschaftsgeschichte noch weiter zurück, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass Netzwerke historisch die ältere Form sind gegenüber Märkten, die erst im Ausgang des Mittelalters entstanden sind. Dennoch ist unbestreitbar, dass spätestens mit der Durchsetzung des Modells der Massenproduktion im 20. Jahrhundert der Markt wie auch die (hierarchische) Organisation die dominanten Muster der Koordination ökonomischer Aktivitäten geworden sind, wenngleich auch andere Formen wie etwa Lieferanten-Netzwerke existierten. Zudem gab es immer wieder Projekte, die man aus heutiger Sicht als Innovations-Netzwerke charakterisieren würde, beispielsweise das britische Programm zur Entwicklung des Radars, das jedoch nur für einen begrenzten Zeitraum existierte und in dieser institutionellen Form nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht fortgesetzt wurde (Freeman 1991: 501).
Die Zäsur der 1980er Jahre Die Proponenten der Netzwerkidee verweisen zum einen auf den deutlichen quantitativen Zuwachs von Unternehmenskooperationen in den 1980er Jahren vor allem in neuen Technologie-Feldern wie etwa der Informationstechnik, der Biotechnologie und den neuen Materialien (siehe Abbildung 1). Die Datenbestände der Datenbank RECAP (www.recap.com) der Consulting-Firma Deloitte belegen, dass dieser Trend sich in den 1990er Jahren ungebrochen fortsetzte (vgl. Saviotti 2009: 31) – mit zum Teil stürmischen Zuwachsraten in einzelnen Jahren. Dieses quantitative Wachstum ging zudem mit einer qualitativen Neubewertung von Kooperations-Beziehungen einher. Aufgrund der zunehmenden technologischen Kompetenz auch kleinerer Partner wurden aus abhängigen Subunternehmen immer mehr gleichberechtigte Partner (Freeman 1991: 505). Die „Basis für annähernd gleichberechtigte und vertrauensvolle Beziehungen“ waren, folgt man der Analyse von Christopher Freeman, „die technologische Kompetenz und Spezialisierung“ (506) der am Netzwerk beteiligten Firmen, deren 3
Nicht anders ging es Ulrich Beck mit seiner „Risikogesellschaft“ (1986) und der mit ihr einhergehenden Behauptung eines Epochenbruchs der Moderne.
Innovations-Netzwerke
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Know-how-Basis sich im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen Modernisierung immer weiter ausdifferenzierte. Als weitere Faktoren für den Boom des Konzepts der Innovations-Netzwerke gilt die japanische Industriepolitik der 1980er Jahre, die ihren Schwerpunkt auf kollaborative Netzwerkprojekte setzte und in den Folgejahren von nahezu allen Industriestaaten kopiert und imitiert wurde (Freeman 1987; Krupp 1993). 80 70 60 50 Biotech IT
40
Neue Mat 30 20 10 0 < 70 70-74 75-79
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Abbildung 1: Wachstum neu etablierter Technologie-Kooperationen (Freeman 1991: 503)
Ein neuer Innovationstypus? Schließlich gilt die enorme Beschleunigung, die mit der umfassenden Einführung der Informationstechnologie einherging, als ein wesentlicher „trigger“, der die Entwicklung hin zu Innovations-Netzwerken vorangetrieben hat, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Informationstechnik die Basis für die Entwicklung komplexer, (informations-)technisch vernetzter Systeme beispielsweise in der Verkehrstelematik, die ohne die Kooperation einer Vielzahl hochspezialisierter Entwickler, Hersteller, Betreiber etc. kaum denkbar wären. Auch hat das Tempo des technischen und sozialen Wandels seit der umfassenden Nutzung der Informationstechnik in allen gesellschaftlichen Bereichen enorm zugenommen; die damit einhergehenden (technologischen wie marktlichen) Unsicherheiten übersteigen die Problembewältigungskapazitäten singulärer Firmen und machen daher netzwerkförmige Arrangements zu einer attraktiven Option des Umgangs mit den betreffenden Risiken.
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Zum anderen ist die Informationstechnik die Netzwerk-Technologie par excellence, d. h. sie ermöglicht die Kommunikation und Kooperation räumlich verteilter Organisationen in Echtzeit, beispielsweise in Form der Telekooperation, der Just-in-time-Logistik u.a.m. Die umfassende Vernetzung der Welt (Carr 2009) sowie die Entwicklung der NetzwerkGesellschaft der Gegenwart (Castells 2000) sind Indizien für diese gesellschaftliche Transformation, die u.a. von der Informationstechnik ausgelöst wurde und mit der globalen Vernetzung durch das Internet ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat. Es spricht daher einiges für die Vermutung, dass der Aufschwung der Innovations-Netzwerke seit den 1980er Jahren auch die Entstehung eines neuen Innovationstypus reflektiert, und zwar die Innovation in offenen, modularen Systemen, welche von dezentralen Netzwerken getragen werden (Langlois/Robertson 1992). Geschlossene Systeme werden in der Regel von einem fokalen Unternehmen getragen, das die Kontrolle ausübt und eine proprietäre Strategie verfolgt. Beispielsweise hat die Firma IBM in den 1960er Jahren die Nutzung von Software an den Besitz der entsprechenden Hardware gebunden. Es gab also gerätespezifische Software, die eigens programmiert werden musste und nur auf den betreffenden Geräten lief; und der Anwender musste die Software zu hohen Preisen bei IBM erwerben. Der neue Typus von Innovation ist hingegen durch offene, modulare Systeme charakterisiert: Ein Netzwerk von autonomen Herstellern, die z.T. im Wettbewerb miteinander stehen, entwickelt eine Reihe unterschiedlicher Komponenten (Festplatten, Prozessoren, Ein- und Ausgabegeräte etc.) und verknüpft diese über offene Standards zu einem System wie dem Personal Computer der 1980er Jahre, das offen für Weiterentwicklungen und Ergänzungen durch andere Akteure ist. Modulare Systeme weisen somit, folgt man Richard Langlois und Paul Robertson, ein deutlich höheres Tempo des technischen Fortschritts auf, „insbesondere in Phasen der Unsicherheit und des Umbruchs“ (1992: 301). Langlois/Robertson zufolge haben derartige vertikal desintegrierte Netzwerke insbesondere „in den frühen Phasen der Entwicklung“ (311) Vorteile gegenüber vertikal integrierten Organisationen, insbesondere weil das Tempo des Trial-and-error-Lernens höher ist.4 Kritisch sei dazu allerdings angemerkt, dass Langlois/Robertson eher das Bild eines KomponentenNetzwerks als das eines Innovatoren-Netzwerks zeichnen, in dem jeder Teilnehmer „autonome Innovationen“ (1992: 302) vollbringt. Die Qualität der Interaktionen spielt in ihrem Modell kaum eine Rolle; es geht nicht um vertrauensvolle Kooperation und komplementäre Kompetenzen, sondern eher um die (technische) Kompatibilität von Komponenten, die über einheitliche Standards innerhalb des Netzwerks gewährleistet wird, dessen Komponenten (aber auch dessen Teilnehmer) beliebig ausgetauscht werden können. Dies schränkt ihrer Ansicht nach auch die Möglichkeiten der „systemischen Innovation“ (ebd.) ein, die beispielsweise bei Thomas P. Hughes (1979) eine zentrale Rolle spielt (vgl. Abschnitt 4.1).
4
Diese Einschränkung des Nutzens von Netzwerken auf die frühen Phasen, die in der Debatte immer wieder auftaucht, gilt mittlerweile als widerlegt; vgl. den folgenden Abschnitt.
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Modetrend oder Erfolgsstory? Walter Powell und Stine Grodal geben in ihrem breit angelegten Überblick über den Stand der Forschung aus dem Jahr 2005 eine überraschend eindeutige Antwort auf die Frage, ob es sich bei dem Trend zur unternehmensübergreifenden Kollaboration in Innovationsprozessen um eine vorübergehende Entwicklung gehandelt hat. Denn sie betrachten die „Kollaboration über unterschiedlichste organisationale Grenzen und institutionelle Formen hinweg“ (2005: 57) mittlerweile als den Normalfall: „Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte ist das Modell der Innovations-Netzwerke alltäglich (commonplace) geworden.“ (ebd.) Und sie verweisen auf Großprojekte wie das Human-Genome-Projekt, das – im Gegensatz zu staatlichen Großprojekten wie Apollo – als multinationales und organisationsübergreifendes Netzwerk privater Unternehmen organisiert war. Auch wenn in etlichen Fällen Netzwerke die Vorstufe von Unternehmensübernahmen darstellen, rechtfertigt dies, Powell/Grodal zufolge, nicht die Einschätzung, dass es sich hierbei um eine Übergangslösung handele („provisional or transitional step“, 57). Interorganisationale Netzwerke seien vielmehr – in unterschiedlichsten Ausprägungen – mittlerweile nachweislich eine Kernkomponente moderner Unternehmensstrategien, die, so Andreas Pyka et al. (2009: 102), mit anderen Formen koexistiere. Auch Lori Rosenkopf und Michael Tushman bestätigen diese Aussage, wenn sie zwar Schwankungen der Vernetzungs-Aktivitäten in den unterschiedlichen Phasen eines Technologie-Zyklus beobachten, keineswegs aber einen Rückgang in Phasen der Stabilität, in denen die Unsicherheit und das Risiko abnehmen (1998: 335). Das von Freeman diagnostizierte quantitative Wachstum dieser neuen Formen der Kooperation bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten hat sich laut einer Studie des National Research Council der USA aus dem Jahr 1999 auch in den 1990er Jahren fortgesetzt; der Innovationsprozess habe daher, so Powell/Grodal weiter, „im Laufe des letzten Jahrzehnts seine bedeutendste Transformation“ (2005: 57) erfahren. Dies belegt allein der Blick auf die Zahl der jährlich neugegründeten Forschungs- und Entwicklungs-Partnerschaften auf Basis der MERIT-CATI-Datenbank, die für den Zeitraum ab 1960 weltweit alle öffentlich bekannt gemachten Partnerschaften privater Unternehmen erfasst, die nicht staatlich gefördert werden.5 Diese Daten weisen seit Mitte der 1970er Jahre „ein eindeutiges Muster des Wachstums (clear pattern of growth)“ auf (Hagedoorn 2002: 480) – mit steilen Anstiegen in den 1980er und dann wieder ab Mitte der 1990er Jahre (siehe Abbildung 2).
5
Die Datenbank, die seit 1987 existiert, basiert auf einer „literaturbasierten Allianz-Zählung“ (Hagedoorn 2002: 491).
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800 700 600 500 400 300 200 100
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Abbildung 2: Wachstum neu etablierter F&E-Partnerschaften (Hagedoorn 2002: 480)
John Hagedoorn hat diese Daten weiter aufgeschlüsselt und dabei einen deutlichen Trend weg vom Joint Venture hin zu vertraglichen Formen der Zusammenarbeit festgestellt. Joint Ventures sind Gemeinschaftsvorhaben, in denen die kooperierenden Unternehmen gemeinsam eine separate Organisation gründen, deren Zweck beispielsweise die Entwicklung eines neuen Produkts ist (Hagedoorn 2002: 478, 490). Bei vertragsbasierter Kooperation stehen hingegen zeitlich begrenzte F&E-Projekte, die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen sowie die Verwertung der Resultate durch alle Partner im Mittelpunkt, was eine höhere Flexibilität bedeutet (479, 490), aber auch zu Konflikten bezüglich der Verwertung der Produkte bzw. der Verfügung über die betreffenden Rechte führen kann. Seit 1960 ist der Anteil der Joint Ventures von 100 Prozent auf unter 10 Prozent (im Jahr 1998) gefallen (siehe Abbildung 3), was Hagedoorn so interpretiert, dass das enorme Wachstum der Innovations-Netzwerke im Wesentlichen auf die weite Verbreitung des kontraktuellen Typus und weniger auf die Verbreitung des älteren Typus des Joint Ventures zurückzuführen ist (481, 490).
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100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%
19 60 19 62 19 64 19 66 19 68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98
0%
Abbildung 3: Anteil der Joint Ventures an den neu etablierten F&E-Partnerschaften (Hagedoorn 2002: 481)
Innovations-Netzwerke haben sich also zum Erfolgsmodell entwickelt, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass spätestens seit Mitte der 1990er Jahre der Netzwerkbegriff auch in der Öffentlichkeit inflationär und in modischer Manier verwendet wurde (vgl. kritisch Krücken/Meier 2003). Auch in der Wissenschaft mehrten sich die kritischen Stimmen, die davor warnten, den Netzwerkgedanken zu überziehen (vgl. u.a. Dolata 2001; Hirsch-Kreinsen 2002; vgl. auch Abschnitt 4.4).
4
Wie funktionieren Innovations-Netzwerke?
Wie bereits erwähnt, gibt es zwei Wege, sich dem Phänomen Innovations-Netzwerk empirisch zu nähern: entweder über die Beschreibung des spezifischen Mechanismus der vertrauensvollen Kooperation oder über die – meist quantitativ-statistische – Vermessung der Effekte von Netzwerken. In Abschnitt 4 stehen zunächst die spezifischen Qualitäten von Netzwerken im Mittelpunkt. Das Konzept der Innovations-Netzwerke rekurriert auf die Arbeiten von Thomas Hughes, die zunächst kurz referiert werden (Abschnitt 4.1). Die Selbstorganisationstheorie liefert ein Modell für die vertrauensvolle Kooperation gleichberechtigter Akteure und die Prozesse der (sozialen) Schließung von Netzwerken sowie die damit einhergehende eigendynamische Verfestigung von Technikpfaden (4.2). Im Laufe eines Technikprojektes eröffnen sich jedoch immer wieder Spielräume für Alternativ-Entscheidungen; diese Prozesse der Öffnung
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und Schließung lassen sich mit Phasenmodellen beschreiben, welche die wechselnden Akteurkonstellationen erfassen (4.3). Schließlich soll noch ein Blick auf die Kritik am Konzept der Innovations-Netzwerke geworfen werden (4.4).
4.1 System builder Der amerikanische Technikhistoriker Thomas P. Hughes hat die Geschichte der Elektrizitätsnetzwerke in einer Weise analysiert, die man als Kombination aus System- und Netzwerkperspektive bezeichnen kann. In seinen frühen Arbeiten dominiert die Systemperspektive: Erfinder wie Thomas A. Edison schufen, Hughes zufolge, nicht in erster Linie neue Artefakte; ihre Hauptleistung bestand vielmehr darin, dass sie Systeme konstruierten, die aus einer Vielzahl heterogener Komponenten bestehen: der Glühbirne sowie weiteren technischen Artefakten, aber auch nicht-technischen Komponenten wie Managern, Arbeitern, Ingenieuren, Finanziers, Handel, Kundendienst etc. (vgl. u.a. Hughes 1987: 52-54). Hughes weist detailliert nach, dass der Prozess des Erfindens sich nicht ausschließlich auf die Lösung der technischen Rätsel beschränkte, sondern beispielsweise auch Wirtschaftlichkeitsberechnungen umfasste, die erforderlich waren, um das innovative technische System kommerziell erfolgreich zu betreiben (1979: 133ff.). In einem frühen Text, in dem der Begriff „network“ lediglich im technischen Sinne auftaucht, verwendet Hughes für diese Synthese von Technik, Ökonomie und Wissenschaft im Prozess des Erfindens den Begriff des „seamless web” (1979: 135). In späteren Arbeiten greift er – beeinflusst von den Ideen der Sozialkonstruktivisten Michel Callon und John Law – diese Idee auf und gebraucht nunmehr die Begriffe „Netzwerk“ und „System“ nahezu synonym, wenn er beispielsweise von der „Ära der System- und Netzwerkbildung“ (1986: 286) spricht oder feststellt, dass „heterogene Organisationen […] zu interagierenden Einheiten in Systemen bzw. Netzwerken werden“ (282). Hughes hat also einen Perspektivwechsel vom singulären technischen Artefakt zum technologischen System vorgenommen, das aus einer Vielzahl miteinander vernetzter technischer wie nicht-technischer Komponenten besteht (1986: 287); und er hat zugleich den NetzwerkCharakter derartiger Systeme betont und damit den Perspektivwechsel vom heroischen Einzelerfinder hin zum Akteur-Netzwerk vorbereitet. Er hat schließlich ein Phasenmodell („pattern of evolution”, Hughes 1987: 56) vorgelegt, das aus den Stadien Invention, Innovation sowie Wachstum und Konsolidierung besteht und die spezifische Entwicklungsdynamik großer technischer Systeme mit Netzwerkcharakter beschreibt.
4.2 Das Modell der Innovations-Netzwerke von Kowol/Krohn Die soziologischen Modelle, die auf Hughes’ Arbeiten folgten, fokussieren stärker auf die Logik der sozialen Interaktion in Netzwerken, die nicht nur von einem, sondern von mehreren Akteuren geschaffen und getragen werden. Ein zentraler Punkt ist die Beschreibung des spezifischen Mechanismus der Koordination in Netzwerken gleichberechtigter Partner, der sich grundlegend vom Marktmechanismus der Koordination über Preise sowie vom hierarchischen Prinzip der Koordination durch formale Regeln unterscheidet.
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Selbstorganisation und spontane Emergenz Die Unterstellung der Gleichrangigkeit der beteiligten Akteure sollte man in diesem Zusammenhang nicht als substanzielle Behauptung, sondern eher als methodologisches Postulat verstehen, das die Aufgabe erschwert, das Zustandekommen von Kooperation zu erklären. Denn wenn die beteiligten Partner autonom, also nicht voneinander abhängig sind und zudem in etwa gleich viel Macht besitzen, ist das Gelingen einer Zusammenarbeit wesentlich voraussetzungsvoller, als wenn einer der Partner Druck auf den anderen ausüben, d. h. ihn zur Kooperation zwingen kann.6 Der Selbstorganisationsansatz beansprucht, dieses Problem der Entstehung von InnovationsNetzwerken als einen Prozess der spontanen Emergenz beschreiben zu können, der nicht der Kontrolle eines der Beteiligten unterliegt. Damit unterscheidet er sich vom akteurzentrierten Institutionalismus, der zwar die Selbstorganisationsfähigkeit nicht-staatlicher Akteure anerkennt, die an Verhandlungen in Policy-Netzwerken teilnehmen (siehe den Beitrag von Knill und Schäfers, in diesem Band), einem der beteiligten Akteure, dem Staat, jedoch letztlich eine zentrale Rolle zuschreibt. Die Scharpf’sche Formel „Verhandlungen im Schatten hierarchischer Autorität“ (1993: 71) illustriert dies anschaulich. In anderen Ansätzen erscheint der Staat hingegen als gleichberechtigter Mitspieler, der keine privilegierte Rolle besitzt, sondern sich an Aushandlungsprozessen in Netzwerken beteiligt, in denen eine Vielzahl steuernder Akteure agieren, die jeweils eigene Interessen verfolgen und strategisch miteinander interagieren (Weyer et al. 1997: 58; Weyer 1993: 333). Selbstorganisation wird hier als ein Prozess beschrieben, der auch ohne eine zentrale Instanz funktioniert.
Rekursive Kopplung Uli Kowol und Wolfgang Krohn konzipieren Innovations-Netzwerke als den Ort, an dem Lernprozesse stattfinden, die „prozedural selbstorganisierend und struktural netzwerkförmig“ sind (1995: 78) und auf diese Weise den technischen Wandel vorantreiben. Derartige Netzwerke ermöglichen, so Kowol/Krohn weiter, „systemische wie interorganisatorische Abstimmungsprozesse“ (ebd.) zwischen den beteiligten Sozialsystemen der Technikerzeugung, -verwendung und -regulierung. Ein Kerngedanke des Kowol/Krohn’schen Konzept lautet, dass Innovationsprozesse „immer in Zulieferer-Hersteller-Anwender-Beziehungen“ (85) stattfinden. Sie berücksichtigen also den gesamten Innovationsprozess von seinem Anfang bis zu seinem Ende, ohne dies als Sequenz zu denken, die Schritt für Schritt abgearbeitet wird. In gewisser Weise denken sie den Prozess sogar von seinem Ende her, nämlich von der Aufgabe, an der jede Innovation scheitern kann, Märkte für das neue Produkt zu finden bzw. – wenn diese noch nicht existie6
Wenn ein Akteur Macht und Einfluss in einem gesellschaftlichen Teilbereich (bzw. Teilsystem) hat, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass er diese in beliebiger Weise in andere systemische ‚Währung’ konvertieren und dazu nutzen kann, Druck auf Akteure anderer gesellschaftlicher Teilbereiche auszuüben (Luhmann 1990; vgl. auch Weyer 1993; Weyer 2008: 82-107).
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ren (wie im Beispiel Satelliten-Fernsehen) – neue Märkte für neue Produkte zu ‚erfinden‘. Innovations-Netzwerke betrachten Kowol/Krohn daher als „eine institutionelle Lösung der Innovationsblockade“ (96); und das Verfahren, das hier zur Anwendung kommt, ist die „experimentelle Implementation“ (88): Die Markteinführung vollzieht sich nicht als simpler Transfer eines fertigen Produkts vom Hersteller zum Anwender, sondern als ein „aktives Wechselspiel“ (ebd.), an dem alle Beteiligten mitwirken und das in rekursiven, experimentellen Lernprozessen erst den „Verwendungskontext“ (Kowol/Krohn 2000: 148) für ein neues Produkt schafft.
Pilot-Anwender Dabei spielen Pilot-Anwender eine wichtige Rolle, die das neue Produkt nicht nur als erste einsetzen, sondern an seiner Entwicklung aktiv teilnehmen und den Entwicklungsprozess durch die Artikulation von Bedarf, von Nutzungsvorstellungen, von eigenen Ideen etc. wesentlich stimulieren (vgl. Kowol/Krohn 1995: 87). Dies trifft beispielsweise für den Sondermaschinenbau zu, der vor allem anwenderspezifische Unikate konstruiert, die ohne eine enge Kooperation zwischen Herstellern und Anwendern nicht entwickelt werden könnten. Und es ist auch nicht ungewöhnlich (und gilt auch nicht als Reklamationsgrund), wenn das neue Produkt eine gewisse Zeit des Einfahrens im praktischen Betrieb benötigt, bevor es störungsfrei funktioniert. Ohne eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Anwendern wäre ein derartiges Verfahren der experimentellen Implementation nicht denkbar, das ein enormes Innovations-Potenzial beinhaltet. An etlichen Punkten erinnert das Kowol/Krohn’sche Modell an den Lead-User-Ansatz (Herstatt et al. 2003), der ebenfalls auf fortgeschrittene Nutzer setzt, die ihre Erfahrungen in den Innovationsprozess einbringen. Vor allem aber artikulieren sie vom Markt unbefriedigte Bedürfnisse und machen so den Hersteller auf Marktnischen aufmerksam, in die es sich zu investieren lohnt. Die trifft beispielsweise auf Extremanwender wie Bergsteiger oder Mediziner in Entwicklungsländern zu, die oftmals bereits Eigenentwicklungen ‚gebastelt‘ haben und so den Hersteller auf ungelöste Probleme hinweisen, aus denen dann in gemeinsamen Lern- und Innovationsprozessen erfolgversprechende Produkte entstehen.
Eigenlösungen Als die „beiden wichtigsten Funktionen von Netzwerken“ benennen Kowol/Krohn „die Reduktion von technologischer Unsicherheit und Marktintransparenz“ (1995: 78). Möglich wird dies, weil in Innovations-Netzwerken „rekursive Lernprozesse“ (2000: 140) stattfinden, an denen sowohl die Hersteller als auch die Anwender neuer Technik beteiligt sind. Über eine „enge zwischenbetriebliche Zusammenarbeit“ (1995: 88) kann somit im Laufe der Zeit eine „gemeinsame Sprache“ und eine gemeinsame Orientierung der Beteiligten entstehen, welche die Koordination erleichtert. Dabei spielt der „Aufbau von Vertrauensbeziehungen zwischen den Beteiligten“ (91) eine zentrale Rolle. Derartige rekursive Kopplungen in „interorganisatorischen Sozialsystemen“ führen über „selbstverstärkende Rückkopplungsmechanismen“ (2000: 142) zur „operationalen Schlie-
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ßung“ (143) von Netzwerken. Den Mechanismus der Genese und Stabilisierung von Netzwerken konstruieren Kowol/Krohn also in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie, d. h. sie konzipieren die Netzwerkgenese in Analogie zur Systembildung. Allerdings gibt es nicht beliebig viele Möglichkeiten, ein Innovations-Netzwerk zu schaffen. Kowol/Krohn greifen hier auf das Konzept der Eigenlösung zurück, das in der Theorie der Selbstorganisation die möglichen Eigenwerte von Systemen markiert, welche sich in rekursiven Prozessen stabilisieren. Mit Hilfe von Computer-Simulations-Modellen lassen sich diese Eigenwerte identifizieren und anschaulich illustrieren.7 In dem Simulationsprogramm NetLogo (http://ccl.northwestern.edu) gibt es beispielsweise das Experiment eines Ökosystems namens „Wolf Sheep Predation“, in dem die Schafe das Gras und die Wölfe die Schafe fressen. Bei unbegrenzten Ressourcen an Gras ergibt sich – kontraintuitiv – ein exponentielles Wachstum der Schafe auf Kosten der Wölfe (Abbildung 4); wenn die Ressourcen jedoch begrenzt sind, weil das abgefressene Gras nur langsam nachwächst, schwanken die Populationen sowohl der Schafe als auch der Wölfe in einer zyklischen Bewegung um einen bestimmten Wert (Abbildung 5), der den Eigenwert des Systems bildet (dazu ausführlich Richter/Rost 2004: 11-15).8
Abbildung 4: Wolf Sheep Predation I (unbegrenzte Verfügbarkeit von Gras)
7
Auf die Möglichkeiten der Computersimulation von Innovations-Netzwerken kann hier leider nicht detaillierter eingegangen werden; vgl. insb. Pyka/Scharnhorst (2009) und die dort enthaltenen Studien zur Genese und Dynamik von Netzwerken oder zur Diffusion von Innovationen in Netzwerken.
8
Das gesamte Ökosystem besitzt zudem eine Sensitivität für die Ausgangsbedingungen wie beispielsweise die – vorab eingestellte – Anzahl der Wölfe und Schafe, die Reproduktionsraten etc. Die Linien lassen sich im Schwarzweiß-Druck leider nicht besser darstellen; in Abbildung 4 stellt die obere Linie die Schafpopulation und die untere die Wolfpopulation dar. In Abbildung 5 bilden die obere Linie das Gras, die mittlere die Schafe und die untere die Wölfe ab.
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Abbildung 5: Wolf Sheep Predation II (Gras benötigt Zeit zum Nachwachsen)
Kowol/Krohn bemühen diesen Mechanismus, um zu erklären, wie ein Innovations-Netzwerk durch Prozesse der Selbstorganisation zustandekommen kann: „Die durch rekursive Lernprozesse erzeugten Produkte nennen wir in der Sprache der Theorie der Selbstorganisation Eigenlösungen eines Innovationsnetzwerkes.“ (2000: 140) Diese Eigenlösungen entstehen und stabilisieren sich im Verlaufe von Aushandlungsprozessen zwischen Herstellern und Nutzern und verdichten sich zu einem „technischen Entwicklungspfad“ (141). Dieser Prozess wird nicht von außen (oder durch einen der Beteiligten) gesteuert, sondern ergibt sich – selbstorganisiert – aus der netzwerkinternen Dynamik: „Welche technische (Eigen-)Lösung im Innovationsnetzwerk gefunden wird, hängt wesentlich von der netzwerkeigenen Dynamik ab.“ (ebd.) Eigenlösung meint hier also ein spezifisches und in dieser Form eher unwahrscheinliches inter-organisatorisches Arrangement, das mit der Festlegung auf einen Technikpfad verbunden ist.
Kritische Würdigung Kowol/Krohn haben einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Genese und Dynamik von Innovations-Netzwerken geleistet, der sich auf den Mechanismus der selbstorganisierten Systembildung konzentriert. Kritisch anzumerken bleibt zweifellos, ob die Parallelisierung von Netzwerken und Systemen zulässig ist. Denn Kowol/Krohn postulieren, dass die Emergenz netzwerkartiger Verhandlungssysteme über die (systemischen) Mechanismen der Rekursion, operationalen Schließung und Eigenlösung zustandekommt. Zur Plausibilisierung dieser These dienen im Wesentlichen Fallstudien zu Innovationsprozessen insbesondere im Sondermaschinenbau, die allerdings eine gewisse ‚Fallhöhe‘ zwischen Theorie und Empirie aufweisen. Denn erstens veranschaulichen Kowol/Krohn ihre Thesen an singulären Innovationsprojekten und provozieren damit die Frage nach der
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Verallgemeinerbarkeit ihrer Ergebnisse. Und zweitens unterscheidet sich die Schilderung der Abstimmungsprozesse in den einzelnen Phasen des Projekts (2000: 145-156) kaum vom Standard-Prozedere eines jeden Innovationsprojekts: Man holt Angebote ein, verhandelt mit mehreren Anbietern, schließt schließlich einen Vertrag, entwickelt die Technik und nimmt sie dann in Betrieb, wobei immer wieder Rückkopplungen zu früheren Phasen auftreten. Das alles ist wenig spektakulär, vor allem aber wird nicht deutlich, was die Eigenlösung im konkreten Fall ist. Kowol/Krohn stellen vielmehr fest, dass der Prozess des rekursiven Lernens „zur Erzeugung eines technischen Produktes [führt], das im Zentrum der unternehmerischen Innovation steht (Eigenlösung)“ (144). Dies könnte man so interpretieren, als sei das Produkt die Eigenlösung – womit sich das theoretische Rätsel der Selbstorganisation verflüchtigt hätte, weil dann jedes Produkt, das von einem Innovations-Netzwerk hervorgebracht wird, per Definition die Eigenlösung wäre. Netzwerkgenese als selbstorganisierten Prozess zu konzipieren, erfordert also offenbar eine detailliertere theoretische Analyse von Interaktions- und Austauschprozessen nutzenmaximierender, strategiefähiger Akteure, die miteinander kooperieren, weil sie auf diese Weise die Chancen der Durchsetzung ihrer Interessen zu verbessern suchen. Eine erfolgversprechende Kooperation erfordert jedoch auch, die Interessen der anderen Mitspieler zu berücksichtigen und einen Übersetzungsmechanismus zu etablieren, der es ermöglicht, die unterschiedlichen Handlungsstrategien aneinander zu koppeln – und zwar in einer Weise, die die Identität der beteiligten Akteure wahrt und dennoch eine Orientierung auf ein gemeinsames Projekt ermöglicht (vgl. ausführlich Weyer 1997). Diese eigentümliche Doppelorientierung des Handelns auf die eigenen Ziele wie auch auf die Ziele des Netzwerks kommt in einer rein systemtheoretischen Betrachtungsweise offenkundig zu kurz. Prozesse der Selbstorganisation in sozialen Systemen lassen sich theoretisch nur adäquat erfassen, wenn die Mikro-Mechnismen bekannt sind, auf deren Grundlage emergente Makro-Phänomene entstehen (Richter/Rost 2004). Und die Mikro-Ebene des Sozialen sind nun einmal die Akteure und deren interdependente Handlungen (Esser 1993).
4.3 Das Phasenmodell der Technikgenese Das vom Autor dieses Beitrags entwickelte Phasenmodell der Technikgenese nimmt etliche Aspekte des Kowol/Krohn’schen Ansatzes auf, legt jedoch größeren Wert auf die Modellierung des Prozesses der sozialen Schließung von Akteur-Netzwerken.9 Es lenkt das Augenmerk zudem auf die Tatsache, dass die Konstruktion eines innovativen sozio-technischen Systems sich nicht in einem einmaligen Akt der sozialen Schließung erschöpft. Dies betont auch das Zyklenmodell technischen Wandels von Tushman/Rosenkopf (1992), in dem sich 9
Unter ‚sozialer Schließung’ sei hier ein Mechanismus verstanden, der a) die Handlungen mehrerer Akteure (z. B. OEM und Lieferanten) aneinander koppelt, also aneinander anschließt, und dabei b) andere Akteure als Nicht-Beteiligte ausschließt. Im angelsächsischen Raum wurde der Begriff des „closure“ von der sozialkonstruktivistischen Technikforschung geprägt. Trever Pinch und Wiebe Bijker (1984) zeigten in ihrer Studie zur Genese des Fahrrads, wie es den beteiligten Akteuren gelang, einen Konsens über das Fahrrad, so wie wir es heute kennen, herzustellen und damit andere Varianten auszuschließen, die man heute nur noch im Museum besichtigen kann (vgl. Weyer 2008: 182-184).
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längere Phasen der Stabilität und kürzere Phasen der Diskontinuität abwechseln (vgl. Weyer 2008: 167-171). Rosenkopf/Tushman unterscheiden daher „zwei fundamental unterschiedliche Modi der Evolution [von Technik]: die soziale Konstruktion von Technik in den Phasen der Gärung, den technologischen Determinismus in der Phase des inkrementellen Wandels“ (Rosenkopf/Tushman 1998: 323). Etliche Fallbeispiele, die von unterschiedlichen Autoren empirisch erforscht wurden, untermauern die These, dass der Innovationsprozess in der Regel eine Reihe von Phasen der Öffnung und Schließung durchläuft, in denen der Kurs der Technikentwicklung immer wieder neu verhandelt wird, bis schließlich ein marktfähiges Produkt entsteht (Mayntz 1988; Knie 1994; Van de Ven et al. 1999; Geels 2002; Meyer/Schubert 2007; Späth/Rohracher 2010 u.a.m.). Technikpfade sind nicht linear-deterministisch, sondern verzweigen sich immer wieder, was Spielräume für Entscheidungen über alternative Optionen eröffnet. Das Phasenmodell bezieht den konkreten Verlauf eines Technikpfades auf die Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse in Innovations-Netzwerken. Durch Bezug auf die Akteurstrategien und ihre strategischen Interaktionen lässt sich erklären, warum sich eine von mehreren (technisch oftmals gleichwertigen) Alternativen durchgesetzt hat. Dadurch werden die „sozio-politischen Prozesse“ (Tushman/Rosenkopf 1992: 321) deutlich, die insbesondere an Verzweigungspunkten von Technikpfaden eine wichtige Rolle spielen.
Kontinuität und Diskontinuität von Technikpfaden Technikgenese wird somit „als ein mehrstufiger Prozess der sozialen Konstruktion von Technik“ (Weyer et al. 1997: 31) konzipiert, der von wechselnden Akteurkonstellationen getragen wird und aus den drei – idealtypischen – Phasen der Entstehung, Stabilisierung und Durchsetzung eines innovativen sozio-technischen Systems besteht. Erst diese Sequenz von Konstruktionsleistungen führt in ihrer Gesamtheit zur Genese eines innovativen soziotechnischen Systems. Das Phasenmodell unterscheidet sich insofern von anderen Ansätzen, als es zum einen den Blick auf das Problem der Kontinuität des Technikpfades lenkt, die sich über die Bruchstellen und Verzweigungspunkte hinweg entwickelt, und damit auf die strukturellen Eigendynamiken, die sich als emergentes Produkt sozialer Konstruktionsprozesse ergeben und von den beteiligten Akteuren als Sachzwang empfunden werden können. Zum anderen befasst es sich mit den wechselnden sozialen Netzwerken, die mit z.T. recht unterschiedlichen Nutzungsvisionen operieren. Das Phasenmodell fragt danach, wie es den strategisch handelnden Akteuren (typischerweise: Organisationen) gelingt, in Aushandlungs- und Abstimmungsprozessen eine soziale Schließung zu erreichen, welche sich als Konsens über ein dominantes Design bzw. technologisches Regime niederschlägt, das den Kurs der Technikentwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg prägt. Die Akteur-Netzwerke werden hier also als Träger und Motor der Technikentwicklung verstanden; und der Anspruch ist es, die soziale Logik des gesamten Prozesses – von den allerersten vagen Ideen bis hin zum marktfähigen Produkt – zu rekonstruieren.
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Die Leistung von Innovations-Netzwerken wird also vor allem darin gesehen, eine soziale Schließung zu erreichen, die stabil genug ist, den Übergang von einer Phase zur nächsten zu bewerkstelligen und damit eine bestimmte Variante in Konkurrenz zu anderen Projekten erfolgreich zu stabilisieren. Die Verknüpfung dieser drei Phasen bzw. Konstruktionsakte zu einem Pfad soll die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Leistungen lenken, die in den einzelnen Phasen erbracht werden. Diese Leistungen bauen aufeinander auf und besitzen zudem eine Art Fluchtpunkt, nämlich die Erzeugung kontextfrei funktionierender sozio-technischer Systeme, die genutzt werden können, ohne dass die soziale Erzeugungslogik, d. h. der gesamte Prozess der Technikgenese, jedes Mal erneut nachvollzogen werden muss.
Phasen der Technikgenese10 Die Entstehungsphase einer neuen Technik ist typischerweise geprägt von einem losen, wenig strukturierten Netzwerk von Außenseitern, d. h. von Bastlern, Erfindern und Technikenthusiasten, die oftmals an den Rändern der jeweiligen Communities stehen. Die Leistung dieser Phase besteht in der Generierung des sozio-technischen Kerns, der die Identität der technischen Innovation begründet und über die verschiedenen Stationen des nunmehr entstehenden Pfades hinweg erhält. Der sozio-technische Kern besteht aus einer technischinstrumentellen Konfiguration (in Form eines allgemeinen Konstruktionsprinzips) sowie einer sozialen Konfiguration (in Form eines antizipierten Arrangements von Akteuren). Der sozio-technische Kern stellt ein allgemeines Orientierungsmuster für die Such- und Problemlösungsstrategien der Technikkonstrukteure dar, das ihre konkreten Entscheidungen und Alternativwahlen beeinflusst, keinesfalls aber deterministisch festlegt. Obwohl in dieser Frühphase prägende Entscheidungen fallen, ist der Prozess der Technikgenese damit keineswegs abgeschlossen. Der sozio-technische Kern ist ein unentbehrlicher Start- und Fixpunkt eines Pfades; aber in welche Richtung die Entwicklung geht, ist zunächst offen, und Überraschungen sind nicht ausgeschlossen. In der Stabilisierungsphase entsteht erstmals ein ‚enges‘, d. h. aus wenigen Akteuren bestehendes soziales Netzwerk, das ausreichend Substanz und Durchhaltevermögen besitzt, um das Projekt über eine gewisse ‚Durststrecke‘ hinweg zu bringen, die durch eine mangelnde Marktnachfrage gekennzeichnet ist. Typischerweise steht am Ende dieser Phase ein funktionierender Prototyp, der den Beweis erbringt, dass die Vision technisch realisierbar ist. Oftmals kommt es zu einer Rekombination der technischen wie auch der sozialen Komponenten des Netzwerks; aber der sozio-technische Kern, der die Identität des Projekts bildet, bleibt erhalten. In diesen Fällen spielt die soziale Schließung eine wichtige Rolle, die nur dann zustande kommt, wenn die Handlungsprogramme von Akteuren, die unterschiedliche Interessen haben und je spezifische Strategien verfolgen, aneinander anschließen. Die Akteure bündeln dann ihre Ressourcen in einem Kooperationsprojekt zum Bau des Prototypen, das allen Beteiligten
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Der folgende Abschnitt basiert auf Weyer 2008: 186ff. (vgl. auch Weyer et al. 1997 sowie die dort dargestellten Fallbeispiele).
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Gewinne bringt, die sie allein nicht hätten erbringen können. Das Zustandekommen einer derartigen Kooperation heterogener Akteure ist jedoch keineswegs ein trivialer Vorgang; hier greifen die Mechanismen der Aushandlung von Bedeutungen, der Mobilisierung, der Abstimmung und der Vernetzung („translation“), deren Zweck es ist, die wechselseitige Anschlussfähigkeit der Strategien der Akteure zustande zu bringen (vgl. ausführlich Weyer 1993). Im Falle des Gelingens sozialer Schließung kann sich das Netzwerk jedoch gegenüber externen Störungen immunisieren; denn die Vernetzung schafft Erwartungssicherheit und reduziert die (technischen und sozialen) Unsicherheiten. Ein enges soziales Netzwerk ermöglicht zudem eine Konzentration auf Schlüsselprobleme, was zu einer enormen Leistungssteigerung führt. Dennoch ist der Prozess der Technikgenese an diesem Punkt noch nicht abgeschlossen; denn es fehlt noch die dauerhafte Durchsetzung am Markt, die nur dann gewährleistet ist, wenn die Technik auch außerhalb ihres ursprünglichen Trägernetzwerks funktioniert. Die Durchsetzungsphase betrachten wir als einen weiteren, notwendigen, eigenständigen Akt der sozialen Konstruktion von Technik, in dem es darum geht, Märkte für ein neues Produkt zu finden bzw. zu schaffen. Oftmals findet eine Rekombination der Komponenten des soziotechnischen Systems statt, und neue Akteure kommen hinzu. Die zentrale Leistung dieser Phase besteht in der Entwicklung des dominanten Designs, der Dekontextualisierung der Technik sowie der Generierung von Nachfragestrukturen. Auch dies ist kein trivialer Vorgang der Diffusion einer fertigen Technik, wie viele Beispiele zeigen, in denen der Marktdurchbruch nicht gelungen ist (z. B. beim Transrapid). Die Entwicklung des dominanten Designs und die ‚Erfindung‘ neuer Märkte (wie im Falle des kommerziellen Satellitenfernsehens) ist ein Akt der sozialen Konstruktion von Technik, der wiederum von sozialen Netzwerken getragen wird, deren Erfolgschancen davon abhängen, ob eine soziale Schließung gelingt.
4.4 Kritik des Konzepts der Innovations-Netzwerke Das Phasenmodell greift also die Idee der Selbstorganisation von Netzwerken auf, konkretisiert jedoch den Mechanismus der Vernetzung, indem es die Akteure, deren Interessen und Strategien, die Aushandlungsprozesse etc. stärker in den Blick nimmt als das Konzept von Kowol/Krohn. Zudem vergleicht es staatlich initiierte Innovations-Projekte (Airbus) mit Vorhaben, die nahezu ausschließlich von privatwirtschaftlichen Akteuren getragen wurden (Personal Computer). Als Kritik an der netzwerkanalytischen Innovationsforschung wurde immer wieder vorgebracht, dass der Stellenwert von Netzwerken bei Weitem „überschätzt“ (Hirsch-Kreinsen 2002: 119), die „Koordinationsprobleme“ (111) in Netzwerken hingegen unterschätzt würden. Uli Dolata behauptet zudem, dass „auch technikbezogene Kooperationen […] immer auf die eine oder andere Weise machtasymmetrisch strukturiert“ seien (2001: 44). Mit deutlichen Worten bezieht er zudem Position gegen das Konzept der vertrauensbasierten Kooperation und verweist auf seine Analysen der Innovations-Netzwerke in der Biotechnologie, wo
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er einen „Typus zeitlich begrenzter bilateraler Allianzen“ (1999: 137) mit wechselnden Partnern diagnostiziert, die von mächtigen Unternehmen dominiert werden. Dolatas Diagnose ist zwar plausibel und stimmig; nicht nachvollziehbar ist jedoch, wieso er ein Phänomen, das er selbst „unterhalb von Netzwerkzusammenhängen“ (ebd.) verortet, als Argument gegen die netzwerkanalytische Innovationsforschung vorbringt. Denn die von ihm geschilderten Konstellationen erfüllen kein einziges Kriterium für ein Netzwerk. Die in diesem Kapitel vorgestellten Arbeiten untersuchen an exemplarischen Fallstudien den konkreten Mechanismus der Vernetzung, der zu temporär stabilen, vertrauensbasierten, reziproken Beziehungen autonomer, aber interdependenter Akteure führt. Ihre Überzeugungskraft liegt in der Illustration und Interpretation der untersuchten Fälle. Derartige qualitative Arbeiten liefern dichte Beschreibungen von Verhandlungs- und Koordinationsprozessen und beleuchten damit das ‚Wie‘ der Vernetzung in Innovations-Netzwerken; sie liefern jedoch keine Antwort auf die Frage, ob die behaupteten Effekte statistisch signifikant sind. Um diesen Nachweis zu erbringen, ist eine andere Herangehensweise erforderlich, die weniger die Mechanismen der Vernetzung beleuchtet, sondern mit quantitativen Verfahren und anhand statischer Maßzahlen die positiven Effekte von Innovations-Netzwerken nachzuweisen versucht.
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Empirische Befunde zu den Effekten von Netzwerken
Wenn die Vernetzung von Innovations-Akteuren ein Mittel zur Bewältigung von Unsicherheit darstellt und ihnen dazu verhilft, Innovationen zu generieren, zu stabilisieren und durchzusetzen, dann müsste dieser Effekt auch – jenseits singulärer Fallstudien – empirisch nachweisbar sein. Ein brauchbarer Indikator sind Patente, da sich auf diese Weise die Innovations-Aktivitäten insbesondere von High-Tech-Unternehmen quantitativ vermessen lassen. Patentstatistiken ermöglichen zudem branchenübergreifende sowie internationale Vergleiche.11 Aktuelle Forschungen zur chemischen Industrie, zur Biotechnologie, zur Halbleiterindustrie und zur Telekommunikation belegen, Powell/Grodal zufolge, zunächst einen „starken positiven Zusammenhang zwischen der Bildung von Allianzen und Innovation“ (Powell/Grodal 2005: 65), gemessen an der Zahl der Patente. Sie benennen zudem vier Dimensionen, anhand derer sich diese These detaillierter diskutieren lässt. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild:12
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Ein Vorteil von Patent-Daten besteht darin, dass sie vollständig verfügbar sind und somit die Gesamt-Struktur des Netzwerks abzubilden helfen, was bei Befragungs-Daten in der Regel nicht der Fall ist. Allerdings steht dem der Nachteil gegenüber, dass Patente typischerweise nur abgeschlossene Kooperationsprojekte dokumentieren (vgl. Cantner/Graf 2006: 465).
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Die Kategorie ‚Netzwerk-Dynamik’ wird im Abschnitt ‚Charakter der Beziehungen’ mit referiert, da sich hier keine grundlegend neuen Aspekte ergeben.
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Charakter der Beziehungen (weak ties – strong ties) Zunächst stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Typus von Beziehungen und dem Erfolg von Netzwerken gibt. Mark Granovetter (1973) hat in die Netzwerkforschung die Unterscheidung von „strong ties“ und „weak ties“ eingeführt (vgl. auch den Beitrag von Jansen/Diaz-Bone, in diesem Band). Starke Beziehungen ergeben sich durch regelmäßige Interaktion mit den gleichen Personen; sie sind die Basis für sozialen Zusammenhalt beispielsweise in Familien, Gruppen oder Organisationen und ermöglichen den Austausch komplexer Informationen. Der gemeinsame Hintergrund an Erfahrungen, an Wissen, aber auch an geteilten Interessen und Werten spielt hierbei eine wichtige Rolle, so dass auch implizites Wissen ausgetauscht werden kann. Die Kehrseite der starken Beziehungen sind soziale Kontrolle (innerhalb dichter Beziehungsgeflechte) sowie die Gefahr der Verriegelung (lock-in) und Beharrung durch Übereinbettung. Schwache Beziehungen ergeben sich hingegen durch eher zufällige oder unregelmäßige Kontakte mit Bekannten oder Freunden. Sie sind oftmals die Quelle (überraschend) neuer Informationen. Schwache Beziehungen sind flüchtiger als starke, aber der Wert der Informationen, die über sie generiert werden, kann den der Informationen, die in Strong-tieNetzwerken zirkulieren, bei Weitem übersteigen. So entdeckt ein Soziologe beim Vortrag eines Physikers plötzlich, dass auch die Physik sich mit Fragen der System-Dynamik und -Evolution befasst, und erhält auf diese Weise Inspirationen, die er beim Austausch mit Kollegen der Soziologie nie erhalten hätte. Die Kehrseite der schwachen Beziehungen ist offenkundig: Man kann die Aha-Effekte nicht erzwingen bzw. strategisch herbeiführen. Aber man kann deren Wahrscheinlichkeit steigern, indem man gelegentlich einmal über den Tellerrand hinausschaut und sich nicht immer nur in eingefahrenen Gleisen bewegt. Die empirische Netzwerkforschung hat sich mit der Frage befasst, inwiefern diese unterschiedlichen Beziehungstypen den Erfolg von Netzwerken beeinflussen. Starke, dauerhafte, langjährige Beziehungen sind demnach ein wichtiger Erfolgsfaktor; vor allem lässt sich nachweisen, dass „radikale Innovationen mit größerer Wahrscheinlichkeit aus engen und dauerhaften Interaktionen entstehen“ (Powell/Grodal 2005: 65). Ferner gilt: Je enger und je dichter die Beziehungen sind, die ein Unternehmen im Netzwerk hat, desto zentraler ist dessen Position. Es hat dann auch mehr Erfahrungen mit unternehmensübergreifender Kooperation (z. B. mit F&E-Kooperationsprojekten). Erfahrung und Zentralität sind ihrerseits nachweislich Faktoren, die sich in einer höheren Anzahl von Patenten niederschlagen, was als Indiz für einen positiven Effekt der Zusammenarbeit in Innovations-Netzwerken gewertet werden kann. Powell/Grodal diagnostizieren zudem folgenden Lern-Zyklus: Die Mitwirkung eines Unternehmens an einem kollaborativen F&E-Projekt erzeugt eine gewisse Aufmerksamkeit, die weitere Partner anzieht und neue Kooperationen entstehen lässt. Die so entstehende Vielzahl von Verbindungen erhöht wiederum die Erfahrung des betreffenden Unternehmens und damit dessen Zentralität im Netzwerk, was zu einem höheren Output an Patenten führt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit neuer F&E-Partnerschaften, womit der Lern-Zyklus von vorne beginnt, der – in einem selbstverstärkendem Mechanismus – die zentralen Firmen begünstigt
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und immer stärker werden lässt (Powell/Grodal 2005: 66). Die Dynamik und das Wachstum des Netzwerks basieren auf diesem Rückkopplungs-Mechanismus (67). Kritisch sei an dieser Stelle angemerkt, dass dieser Ansatz den Erfolg einzelner Unternehmen nicht erklären kann, die sich in einem Netzwerk von Firmen bewegen, in dem sie von Fall zu Fall Allianzen mit unterschiedlichen Partnern bilden.13 Das Netzwerk erscheint hier eher als eine Infrastruktur für Kooperationen und nicht – wie in den Ansätzen, die in Abschnitt 4 referiert wurden – als das Kooperationsgeflecht an sich. Dies wirft zum einen die Frage auf, wie man die Qualität der Interaktion im Netzwerk wie auch in Allianzen beschreiben könnte. Denn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gleichberechtigter Partner impliziert immer eine gewisse Exklusivität (sprich: den Ausschluss Dritter), während das von Powell/Grodal skizzierte Modell, in dem jedes Unternehmen mehrere Allianzen parallel unterhält, eher einem Markt-Modell ähnelt.14 Zum anderen misst dieser Ansatz nicht den Erfolg kollaborativer Projekte, sondern lediglich den Erfolg einzelner Firmen – allerdings in Abhängigkeit von der Intensität und Art ihrer Vernetzung bzw. korrekter: Ver-Allianzung (vgl. auch Witt 2004: 403). Ob man mit quantitativen Indikatoren die spezifische Qualität der Interaktion in Netzwerken erfassen kann, mag zudem dahingestellt sein (393). Auch die Arbeiten von Gautam Ahuja (2000) bestätigen den Wert starker Beziehungen insbesondere für den Austausch komplexer Informationen und impliziten Wissens; allerdings verweist Dorothea Jansen darauf, dass der nachweisbare positive Effekt sozialer Einbettung „jenseits eines Schwellenwertes ab(nimmt)“ und dann negativ wird (2006: 270) – grafisch darstellbar in Form einer invertieren U-Kurve. Andreas Al-Laham hat hingegen in seinen Analysen zur deutschen Biotech-Industrie einen negativen Zusammenhang zwischen Einbettung und Innovationserfolg, gemessen in Patenten, herausgefunden. Eine gewisse Distanz zum Kern des Netzwerks sei förderlich, während eine Mitgliedschaft im Kern sich eher negativ auswirke. Er bestreitet damit die Gültigkeit der These der sozialen Schließung und verweist – im Sinne Granovetters – auf Bedeutung der schwachen bzw. indirekten Beziehungen, von denen vor allem Akteure in der Peripherie eines Netzwerks profitieren (Al-Laham et al. 2008). Dem widerspricht Jansen allerdings unter Bezug auf Arbeiten von Morton Hansen (1999), der festgestellt hat, dass „weak ties“ die Innovationsfähigkeit nur dann steigern, wenn es sich „nicht um implizites oder komplexes Wissen handelt“ (Jansen 2006: 268f.). Die Debatte über die Effekte, die die Vernetzung auf den Innovationserfolg vernetzter Unternehmen hat, ist bislang also noch unentschieden. Auch die Frage, welche Rolle dabei die räumliche Nähe spielt (siehe auch den Beitrag von Heidenreich, in diesem Band), ist empirisch noch ungeklärt. Uwe Cantner und Holger Graf postulieren, dass „die Rate der Wissensdiffusion in Netzwerken mit Small-worldEigenschaften am höchsten“ ist (2006: 464), verweisen aber auch darauf, dass diese Befunde bislang nicht eindeutig sind. 13
Andreas Pyka treibt diese Idee multipler Netzwerke sogar noch ein Stück weiter, wenn er behauptet, dass die beteiligten Unternehmen sich auf unterschiedlichen Technikpfaden bewegen (2002: 159).
14
Die Autoren selbst präsentieren an anderer Stelle (allerdings eher distanziert) den „Markets-as-networksAnsatz“ (74), bei dem die Partner „ständig wechseln“, ohne jedoch verdeutlichen zu können, inwiefern sich ihr eigener Ansatz davon abhebt.
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Erfolg von Start-ups Die Frage, ob Netzwerke Auswirkungen auf den Erfolg und das Überleben technologieorientierter Unternehmens-Neugründungen haben, markieren Powell/Grodal als einen zweiten Bereich der empirischen Netzwerk-Forschung. Auch hier resümieren sie den Stand der Forschung dahingehend, dass sowohl der Erfolg von Start-ups als auch deren Innovationsrate vom Grad ihrer Vernetzung abhängt (2005: 66f.). Dieser „network success hypothesis“ widerspricht Peter Witt allerdings heftig. Zum einen referiert er den Stand der Forschung eher als offen und unentschieden (2004: 399-401); zum anderen kommt er, gestützt auf eine eigene Untersuchung von 123 deutschen Start-ups, zu dem Ergebnis, dass „die Network-successHypothese in den meisten Dimensionen zurückgewiesen werden muss“ (Witt et al. 2008: 11f.). Die Relevanz von Netzwerken für den Erfolg von Start-ups ist, Witt et al. zufolge, nicht nachweisbar; von Wert sind einzig die persönlichen Kontakte. Alle anderen Ressourcen, die das Netzwerk zur Verfügung stellt (wie Erfahrung, Wissen, physische und finanzielle Ressourcen), weisen keinerlei Korrelationen mit den Erfolgsmaßen (Adaptivität, Kundenorientierung, Markterfolg) auf, die die Autoren ihrer Untersuchung zugrunde gelegt haben (12). Witt et al. kommen zudem zu einem überraschenden Ergebnis, wenn sie konstatieren, dass die existierenden Theorien zu Gründer-Netzwerken falsch ansetzen, wenn sie auf den Nutzen abstellen, den ein neugegründetes Unternehmen aus dem Netzwerk zieht, und versuchen, diesen quantitativ zu vermessen. Netzwerke seien nun einmal reziprok angelegt, d. h. sie verursachen auch Kosten und erfordern Vorleistungen, die sich erst auf längere Sicht auszahlen (Witt 2004: 403f.; Witt et al. 2008: 12).
Bewältigung von Unsicherheit Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Risikobereitschaft und Vernetzung existiert, denn Netzwerken wird in der Regel die Fähigkeit zugeschrieben, Unsicherheit zu bewältigen und Risiken beherrschbar zu machen. Powell/Grodal (2005: 68) referieren den Stand der Forschung wie folgt: Zum einen lässt sich nachweisen, dass Unternehmen, die größere Risiken eingehen, auch in höherem Maße Allianzen bilden, vermutlich um die Risiken durch Kooperation abzumildern. Zum anderen verfolgen Manager, die ihre Umwelt als turbulent wahrnehmen, eher eine Kooperations-Strategie, um so ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Rosenkopf/Tushman (1998) projizieren zudem die Vernetzungsaktivitäten auf ihr Zyklenmodell technologischen Wandels. Sie konstatieren eine deutliche Zunahme der Vernetzungsaktivitäten in Phasen der Unsicherheit, jedoch keinen Rückgang in Phasen der Stabilität. Die Struktur der Netzwerke verändert sich zwar, aber die Kontinuität bleibt überraschenderweise gewahrt (335f.).
Kodifizierung und Wissenstransfer Der Befund, den Powell/Grodal präsentieren, lässt sich wie folgt zusammenfassen: „[…] Netzwerke vermitteln in höherem Maße den Zugang zu unterschiedlichen Informationsquellen und Potenzialen, als sie Firmen zugänglich sind, die derartige Be-
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ziehungen nicht besitzen, und umgekehrt erhöhen diese Verbindungen das Innovations-Niveau innerhalb der Firmen.“ (2005: 68) Und weiter: „Netzwerke steigern die Innovationsfähigkeit von Unternehmen signifikant, indem sie neuen Quellen von Ideen öffnen, ihnen einen schnellen Zugang zu Ressourcen vermitteln und den Wissenstransfer verbessern.“ (79) Den komplexen Zusammenhang dreier Faktoren, nämlich (a) des Grads der Kodifizierung des Wissens sowie (b) der Kosten und (c) des Nutzens von Wissenstransfer in Netzwerken, illustrieren sie in einem zweidimensionalen Schaubild mit nur einer Kurve (76), das offenkundig fehlerhaft ist und daher hier in einer modifizierten Version präsentiert wird. Es basiert auf folgenden Behauptungen: In hohem Maße kodifiziertes Wissen hat einen geringen Informationswert, lässt sich zu geringen Kosten transferieren und hat daher auch nur einen geringen Nutzen. Implizites Wissen – die potenzielle Quelle von Innovationen –, ist hingegen nur schwer und zu hohen Kosten transferierbar; zudem ist der Nutzen ungewiss. Es gibt einen mittleren Bereich zwischen der Kostenkurve b und der Nutzenkurve c (in Abbildung 6), in dem der Nutzen (in Form von Innovationen) die Kosten (der Vernetzung) übersteigt.
hoch
c b gering
implizit
a) Kodifizierung
explizit
Abbildung 6: Wissenskodifizierung und Wissenstransfer (Powell/Grodal 2005: 76)
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Der Nutzen dieser pseudo-quantifizierenden Darstellung erschließt sich allerdings nur, wenn man unterstellt, dass die Nutzenfunktion (b) einen anderen Verlauf hat als die Kostenfunktion (c); d. h. das Ergebnis steckt bereits in den Prämissen. Einen weiterführenden Erkenntniswert hat das Schaubild offenkundig nicht. Als Fazit zu den empirischen Arbeiten zu Netzwerkeffekten lässt sich also festhalten, dass mit quantitativ-statistischen Verfahren deutliche Evidenzen für die These gefunden wurden, dass Netzwerke sich positiv auf den Innovations-Output von Unternehmen auswirken. Dies ergänzt und bestätigt die Befunde der qualitativen, fallbasierten Studien, die in Abschnitt 4 vorgestellt wurden.
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Fazit: Quantitative und qualitative Analysen von Innovations-Netzwerken
Vergleicht man die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen, so ergibt sich folgendes Bild: Quantitative Analysen weisen mit Hilfe statistischer Verfahren positive Netzwerk-Effekte anhand einer großen Zahl von Fällen nach. Sie befassen sich vorrangig mit Output- bzw. Performance-Daten und interessieren sich weniger dafür, wie der Output zustande gekommen ist, und erst recht nicht für die Mechanismen der sozialen Vernetzung. Zugespitzt könnte man sagen, dass das Netzwerk und die in ihm stattfindenden Interaktionen eine Blackbox bleiben. Bei allen Verdiensten, die diese Forschungsrichtung erworben hat, bleibt festzuhalten, dass der Fokus in der Regel das – in ein Netzwerk eingebettete – Einzelunternehmen und nicht das Kooperationsgeflecht ist, das für die innovative Leistung verantwortlich zeichnet. Netzwerke erscheinen vielmehr als eine quasi-marktförmige Infrastruktur, die vielfältige Allianzen mit wechselnden Partnern zulässt. Qualitative, fallstudienbasierte Analysen untersuchen hingegen am konkreten Einzelfall, wie der Mechanismus der vertrauensbasierten Kooperation autonomer, aber interdependenter Akteure funktioniert und rekurrieren dabei auf unterschiedliche soziologische Theorien der Handlungskoordination oder Systembildung. Sie betrachten eher das ‚Innenleben‘ des Innovations-Netzwerks und beziehen die These des Erfolgs von Vernetzung aus der dichten Beschreibung des Einzelfalls und der erfolgreichen (bzw. gescheiterten) Innovation. Ihr Schwachpunkt ist der fehlende Nachweis von Erfolg anhand quantitativer Maßzahlen. Der Vergleich der beiden Ansätze zeigt zudem eine interessante Differenz: Während die quantitativen Analysen den Unterschied zwischen starken und schwachen Beziehungen betonen, enthalten sich die qualitativen Analysen zu Innovations-Netzwerken jeglicher Aussage zu diesem Punkt. Man kann sogar eine gewisse Verschmelzung der beiden Konzepte diagnostizieren, die jedoch in der Regel implizit bleibt und von den Autoren nicht reflektiert wird. Denn es wird einerseits unterstellt, dass Innovations-Netzwerke durch starke Beziehungen sich wechselseitig unterstützender Partner konstituiert werden, denen man vertraut,
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denen man sich für einen gewissen Zeitraum verpflichtet fühlt und mit denen man sensible Informationen austauscht. Andererseits bemühen insbesondere Selbstorganisations-Modelle oftmals die Idee der Grenzüberschreitung, also des Imports von Informationen und Wissen aus fremden Organisationen bzw. Systemen, als eine spezifische Leistung unternehmensübergreifender Netzwerke, was ein typisches Merkmal von Weak-tie-Beziehungen ist. Hier deuten sich Möglichkeiten an, wie die beiden bislang noch weitgehend unverbundenen Forschungsstränge voneinander profitieren könnten.
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Interpersonale Netzwerke
Beziehungsnetzwerke im Internet Christian Stegbauer Bei der Verbreitung des Netzwerkdenkens spielt das Internet eine wesentliche Rolle. Durch verschiedene Applikationen der ,raumüberwindenden‘ Technologie wird auf scheinbar einfache Weise eine Vernetzung zwischen den Menschen möglich. In „Social software“Anwendungen*, bei denen Teilnehmer Inhalte beisteuern, können darüber hinaus die Beziehungen zwischen den Teilnehmern mit Hilfe von Verfahren und Methoden der Netzwerkanalyse aufbereitet werden, und zwar sowohl für die Beteiligten selbst als auch für Außenstehende.1 Es ist Common Sense, dass Beziehungen bedeutsam sind, etwa um diese ‚spielen zu lassen‘, wenn ein Dritter angesprochen werden soll. Diese Idee, die in der Netzwerkforschung „social ambage“ (White 1992) genannt wird, ist bei der Implementierung vieler Networking-Sites im Internet etwa dadurch aufgegriffen worden, dass die Zahl der Verbindungen der Kontakte den Teilnehmern mitgeteilt wird (z. B. im Fall der Business-NetworkingSite XING). Der Beitrag befasst sich zunächst mit den Veränderungen von Internetanwendungen, die sich beim Übergang von Web 1.0 zu Web 2.0 ergeben haben, und reflektiert, welche Möglichkeiten der soziologischen Analyse sich dadurch eröffnen (Abschnitt 1). Er zeigt dann anhand von Beispielen aus der Forschungspraxis, wie die Netzwerkforschung mit den Daten, die an vielen Stellen im Internet verfügbar sind, ihre Analysen durchführt (Abschnitte 3 und 4).
1
„Networking-Sites“ im Internet
1.1 Web 1.0 – Web 2.0 Tim O’Reilly (2005) hat mit dem Begriff „Web 2.0“ eine neue Phase des Internets markiert.2 Das Web 1.0 war vor allem durch statische Inhalte geprägt: Man konnte Informationen abru1
Die mit * markierten Fachbegriffe werden in einem Glossar erläutert (siehe Kap. 7).
2
Der Umbruch vom Web 1.0 zum Web 2.0 wird von O’Reilly hauptsächlich als ein wirtschaftlich bedeutendes Phänomen für interaktive und partizipative Angebote im Internet bezeichnet. Aus einer medien- und sozialwis-
250
Christian Stegbauer
fen, eigene Webseiten kreieren und sich so der Öffentlichkeit darstellen; die Möglichkeiten einer aktiven Beteiligung beschränkten sich hingegen auf das Usenet* mit Diskussionsforen sowie auf Mailinglisten.3 Selbst dieses geringe Maß an Mitwirkungsmöglichkeiten im Web 1.0 hatte bereits in den 1990er Jahren zu Analysen geführt, die eine radikale Umwälzung der Gesellschaft prognostizierten. Stichwortartig seien hier folgende Thesen genannt, die in der Debatte über das Internet eine wichtige Rolle spielten: die Vermutung, dass das Internet zu einer Aufhebung von Raum und Zeit führen würde (Bonfadelli 2000; Funken/Löw 2003; Oenicke 1996; Castells 2001); die Annahme, dass das Internet eine ‚Waffengleichheit‘ beispielsweise zwischen Konzernen und politischen Bewegungen bewirken würde (Rheingold 1991); die Behauptung, dass das Internet ein freies Spiel mit Identitäten gestattet (Turkle 1998; Wetzstein et al. 1995; Vogelgesang 1999); schließlich die Vermutung, dass askriptive Merkmale (Hautfarbe, Geschlecht, Aussehen, Kleidung), die die Kommunikation unter Anwesenden strukturieren, keine Rolle mehr spielen (Sproull/Kiesler 1986, 1991; Kerr/Hiltz 1982), den Akteuren beispielsweise in Kommunikationsforen vielmehr das gleiche Gewicht zukomme (Gurak 1996; Korenman/ Wyatt 1996; Rost 1998). Zu Beginn seiner Entwicklung war das Internet noch nicht in dem Maße kommerzialisiert wie gegenwärtig; es hatte vielmehr eher den Nimbus einer alternativen Welt. Die Nutzung von Kommunikationsforen zur Verbreitung von Werbung, wie sie von Laurence Canter und Marta Siegel betrieben wurde, galt in den 1990er Jahren noch als unstatthaft und als Verstoß gegen die Regeln. Die beiden Autoren waren Fachanwälte für US-Einbürgerungsrecht, die vor allem in Usenet-Diskussionsgruppen, die einen Bezug zu ethnischen Gemeinschaften oder Herkunftsländern von Einwanderern hatten, für ihre Dienste bei der Greencard-Lotterie warben (vgl. die Darstellung dieser Kampagne in Canter/Siegel 1995). Eine derartige unerwünschte Zusendung von Werbung bezeichnet man heute als Spam. Das Internet wurde von den Unternehmen also erst nach und nach als kommerzieller Raum entdeckt. Als der Kommerzialisierungsboom Ende der 1990er Jahre einsetzte, schien es, als könnte man über Nacht reich werden – ein Irrtum, dessen sichtbares Symbol das Platzen der ‚Internetblase‘ im Jahr 2000 war. Das Web 2.0 kann als eine große Umwälzung begriffen werden, die sich nach dem Ende des großen Booms ab dem Jahr 2001 fast unmerklich vollzog. Web 2.0 ist ein Begriff, der einerseits die kommerziellen Möglichkeiten betont; andererseits geht es auch um das ‚MitmachNetz‘. Für letzteres hat sich vor allem im akademischen Bereich auch der Begriff „social
senschaftlichen Perspektive wird die von ihm beschreibende Veränderung eher mit den Begriffen „social software“ (Stegbauer/Jäckel 2008) oder „social web“ belegt. 3
Nach dem Rieplschen Gesetz (1913) verschwinden einmal eingebürgerte Kommunikationsmedien nicht mehr. Dies gilt vermutlich auch für die interpersonalen Kommunikationsmöglichkeiten des Webs 1.0 wie E-Mail, Mailinglisten und Diskussionsforen, auch wenn es zu Wandlungen, Verbesserungen und zur Integration dieser Anwendungen in neuere Applikationen kommt.
Beziehungsnetzwerke im Internet
251
software“ eingebürgert (s.u.). Auch hier entwickelte sich in den letzten Jahren ein Hype, der sich unter anderem in milliardenschweren Übernahmen widerspiegelt, beispielsweise übernahm Microsoft 2007 einen 1,6%igen Anteil an der Networking-Site Facebook für 240 Mio Dollar. Zum damaligen Zeitpunkt wurde Facebook also mit 15 Milliarden Dollar bewertet (Golem 2007). Web 1.0 DoubleClick Ofoto Akamai mp3.com Britannica Online personal websites evite EVDB domain name speculation page views screen scraping publishing content management systems directories (taxonomy) stickiness
Web 2.0 Google AdSense Flickr BitTorrent Napster Wikipedia blogging upcoming.org search engine optimization cost per click web services participation wikis tagging („folksonomy“) syndication Quelle: nach O’Reilly 2005
Tabelle 1: Charakteristische Webapplikationen im Web 1.0 und Web 2.0
Die Liste von O’Reilly, die den Wandel des Internets vom Web 1.0 zum Web 2.0 markiert, ist zwar schon etwas älter; es fällt aber auf, dass es sich beim Web 2.0 fast immer um solche Angebote handelt, bei denen die Teilnehmer selbst die Inhalte erzeugen. So steht beispielsweise Britannica Online (Encyclopaedia Britannica) den Inhalten der Wikipedia gegenüber. Während erstere lediglich die Inhalte des Buches digitalisierte, wird Wikipedia von vielen Teilnehmern im WWW erst erzeugt. Wurden zu Web-1.0-Zeiten noch statische Informationen abgerufen, so sind die neuen Applikationen durch die Mitarbeit gekennzeichnet. In Web-2.0-Applikationen wird das Publikum zu Teilnehmern, ähnlich wie es in der Prosumer-Debatte in der Soziologie diagnostiziert wird (vgl. z. B. Voss/Rieder 2005). Die neuen Internet-Angebote stehen aber nicht nur für die Mitarbeit von Kunden, die Teilnehmer im Internet erzeugen vielmehr eine Vielzahl von Inhalten. Die von den Teilnehmern online gestellten Informationen gehen in den meisten Fällen in den Besitz der Applikationsanbieter über und werden für kommerzielle Zwecke genutzt.
252
Christian Stegbauer
1.2 Social Software In fast allen Beispielen von Web-2.0-Applikationen spielen soziale Beziehungen und soziale Netzwerke eine zentrale Rolle. Teilweise treten die Teilnehmer in eine vor allem technisch vermittelte Beziehung, bei der kein direkter Kontakt aufgenommen wird, beispielsweise bei der Dateiaustausch-Plattform BitTorrent oder bei der Platzierung fremder Werbung auf der eigenen Seite. Manchmal werden Inhalte von anderen Teilnehmern genutzt, ohne dass die Inhaltsproduzenten das merken, so etwa bei der Auswertung von Verlinkungen durch Suchmaschinen. In der Regel jedoch arbeitet man mit anderen an einem gemeinsamen Projekt, wobei soziale Beziehungen entstehen. Daher wird in akademischen Kontexten von „social software“ gesprochen: „Mit Social Software bezeichnet man Software-Systeme, die die Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen Akteuren unterstützen. Der Begriff bezieht sich vor allem auf neue Anwendungen wie Wikis, Weblogs (auch unter Nutzung von Bild und Video), Freundschafts-, Kontakt-, Business-Netzwerke, gemeinsame Fotosammlungen, Group Radio, Instant Messaging, aber auch ältere Formen der Online-Kooperation.“ (Stegbauer/Jäckel 2008: 7) Eine etwas kürzere und pointiertere Definition findet man bei Büffel et al.: „als Sammelbegriff umfasst Social Software [...] alle Anwendungen, die das webbasierte Identitäts-, Informations- und Beziehungsmanagement ihrer Nutzer unterstützen“ (2007: 2). In dieser Definition sind die älteren Medien, die interpersonale Beziehungen zulassen, bereits weitgehend ausgeklammert. Dort, wo soziale Beziehungen zwischen Teilnehmern ins Spiel kommen, spricht man von (internetbasierten) „sozialen Netzwerken“ bzw. von „social networking sites“ (dem analogen englischen Fachbegriff). Bekannte „social networking sites“ sind StudiVZ, SchülerVZ, Xing, Facebook, Friendster etc.4 Bevor in den Abschnitten 3 und 4 gezeigt wird, wie die Internet-Soziologie dieses Phänomen empirisch untersucht, sollen zunächst in Abschnitt 2 einige Grundlagen der Netzwerkanalyse diskutiert werden, die für die Befassung (internetbasierter) sozialer Netzwerke benötigt werden.
4
Wenn im vorliegenden Beitrag von „sozialen Netzwerken“ die Rede ist, handelt es sich um den formalen Begriff der Netzwerkanalyse. Internetbasierte soziale Netzwerke werden zur Abgrenzung mit dem englischen Begriff „social networking sites“ belegt.
Beziehungsnetzwerke im Internet
2
253
Formale Netzwerkanalyse
Bereits in den 1990er Jahren hatte der Netzwerkgedanke Konjunktur (vgl. den Beitrag von Weyer, in diesem Band); durch die Verbreitung des WWW gewann er zusätzlich an Schwung, sicherlich auch, weil die Idee der Vernetzung bereits im Term ‚Internet‘ steckt. Für die Internet-Soziologie reicht allerdings ein Bezug auf das technische Netz bzw. die darunterliegende technische Vernetzung nicht aus.5 Die technischen Verbindungen werden lediglich als eine Voraussetzung für das Entstehen von Beziehungen im Internet angesehen. Das Standardmethodenbuch für Netzwerkforscher von Stanley Wasserman und Katherine Faust enthält folgende formale Definition des Netzwerks: „A social network consists of a finite set or sets of actors and the relation or relations defined on them. “ (1994: 20) Diese Definition hat den Vorteil, völlig offen zu sein für das Auffinden von Strukturmustern. Soziale Netzwerke können, so die Auffassung einer formalen Sichtweise, ganz verschiedene Strukturmuster von Beziehungen enthalten. Dies ist hier nicht festgelegt auf einen bestimmten Typus von Beziehungen (etwa ein bestimmtes Muster von Unternehmensbeziehungen oder ‚lockere‘ Verbindungen zwischen Personen). Hieraus ergibt sich, dass man mittels der Analyse von Netzwerken versucht, empirisch die tatsächlich vorhandenen Strukturmuster aufzudecken. Als Strukturmuster kommen beispielsweise kohäsive Subgruppen, hierarchische Beziehungen, Zentrum-Peripherie Strukturen usw. in Frage. Welches dieser Muster jeweils aufgedeckt wird, ist grundsätzlich offen und wird als empirisch zu ermittelnde Frage begriffen. Aus diesem Grund bevorzugt der vorliegende Beitrag den formalen Netzwerkbegriff: „In social network analysis, a group is an empirically discovered structure.“ (Garton et al. 1997: 8)
3
Forschungsstrategien und die Möglichkeiten der Netzwerkanalyse
3.1 Netzwerkdaten im Internet Im Internet sind eine Reihe von ‚nebenbei anfallenden‘ Daten gespeichert, die für die Sozialforschung nutzbar gemacht werden können. So können Mitgliederlisten und die Archive von Mailinglisten und Newsgroups abgerufen werden, Chats lassen sich automatisch 5
Die technische Netzwerkanalyse erlernen beispielsweise Elektroingenieure, um Fehler in Schaltkreisen aufzufinden. In der Soziologie spielt die technische Seite von Netzwerken insbesondere in den Studien von Renate Mayntz und Thomas Hughes (1988) zu den Entstehungsbedingungen großer technischer Systeme eine Rolle.
254
Christian Stegbauer
mitprotokollieren, und Freundschaftslisten der Netzwerk-Sites sind in großen Teilen sichtbar und damit auch für die Analyse erfassbar (für Studien, die mit derartigen Daten gearbeitet haben, siehe u.a. Stegbauer/Rausch 2001a, Stegbauer 2001). Datenbankeinträge, beispielsweise von Wikis wie etwa Wikipedia, lassen sich ebenfalls auswerten. Bei den dort vorgenommenen Änderungen an Artikeln, auf den Diskussionsseiten oder im organisatorischen Bereich handelt es sich um Verhaltensdaten. Diese sind durch einen Zugriff auf die Datenbank abrufbar und können mit geringem Aufwand für die Analyse aufbereitet werden. Bei solchen Daten handelt es sich um nichtreaktive Daten, die im Gegensatz zu Befragungsdaten reales Verhalten widerspiegeln. Eine Herausforderung für die Sozialforschung ist es, Strukturbildungen zu untersuchen. Dies ist nur mit Hilfe von Verlaufsdaten möglich. Daten diesen Typs lassen sich häufig im Internet finden; meist werden sie automatisch protokolliert. Allerdings gibt es bisher kaum etablierte Modelle zur Verlaufsanalyse von Netzwerkdaten. Durch Verlaufsanalysen ist es möglich, auch die Entwicklung von Beziehung sowie die Stabilität bzw. den Wandel von Beziehungsstrukturen sichtbar zu machen.6 In der Sozialforschung ist das nur selten möglich, denn meist werden Querschnittsanalysen erstellt, oder bei Panelstudien/Zeitreihenuntersuchungen werden mehrere Querschnittsuntersuchungen in einem bestimmten Zeitabstand wiederholt. Dies führt dazu, dass zwar der Zustand der Netzwerkstruktur zu zwei Zeitpunkten verglichen werden kann; jedoch sind Aussagen über den Verlauf der Entwicklung innerhalb des Zeitraums problematisch.7 Zudem sind solche Untersuchungen über längere Zeiträume teuer, und sie widersprechen der üblichen Projektförderungsdauer, die meist auf zwei oder drei Jahre begrenzt ist. Die Möglichkeit, Daten auszuwerten, wird allerdings nicht nur von der akademischen Forschung genutzt, auch die Marktforschung ist an solchen Daten aus „social networking sites“ interessiert, beispielsweise um Werbung zielgenauer platzieren zu können.
3.2 Datentypen und Analysestrategien Bimodale Netzwerke* Die Messung sozialer Beziehungen ist mit einigen Problemen behaftet. In „social networking sites“ kann man relativ einfach die Freundschaftslisten eines Teilnehmers auslesen und evtl. auch die Freundschaftslisten eines Freundes dieses Teilnehmers. Allerdings weiß man nicht,
6
Überlegungen hierzu äußert Albrecht (2008); für eine empirische Untersuchung zur Stabilität von Netzwerkstrukturen in Mailinglisten siehe Stegbauer/Rausch 2006a.
7
Ähnlich wie bei der Analyse von Paneldaten geht man bei der Simulation von Zustandsveränderungen in Netzwerken vor. Man simuliert die Änderung von Zeitpunkt a zu Zeitpunkt b (Snijders et al. 2007; Steglich et al. 2007).
Beziehungsnetzwerke im Internet
255
was Freundschaft in diesem Kontext bedeutet, zumal es sich beim Beziehungstyp der Freundschaft um eine relativ unbestimmte Beziehung handelt (Fischer 1982).8 1
2
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6/27 3/2 4/12 9/26 2/25 5/19 3/15 7/16 4/8 6/10 3/23 4/7 11/21 8/3
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Mrs. Evely Jefferson Miss Laura Mandeville Miss Theresa Anderson Miss Brenda Rogers Miss Charlotte McDowd Miss Frances Anderson Miss Eleanor Nye Miss Pearl Oglethrope Miss Ruth DeSand Miss Verne Sanderson Miss Myra Liddell Miss Katherine Rogers Mrs. Sylvia Avondale Mrs. Nora Fayette Mrs. Helen Lloyd Mrs. Dorothy 16. Murchison 17. Mrs. Olivia Carleton 18. Mrs. Flora Price
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Tabelle 2: Bimodales Netzwerk der Treffen von Frauen in Natchez, Miss.
Ansonsten werden Beziehungen meist über eine bimodale Konstruktion von Bezügen gemessen. Bimodal bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Beziehung zwischen den Teilnehmern nicht auf direktem Wege (z. B. durch Face-to-face-Kommunikation), sondern über einen weiteren Modus, z. B. ein gemeinsam geteiltes Ereignis (wie eine gemeinsam besuchte Party), hergestellt wird. Bimodale Beziehungskonstruktionen liegen auch dann vor, wenn man zwischen allen Diskutanten zu einem Thema einer Mailingliste eine Beziehung definiert (Stegbauer/Rausch 1999). Bei der Untersuchung von Wikis wird ein ähnliches Verfahren angewendet, so werden z. B. alle Personen, die einen Artikel auf einem Wiki bearbeitet haben, als untereinander in Beziehung stehend angesehen (Müller 2008; Stegbauer/Rausch 2009). Solche Netzwerke bezeichnet man auch als Event-Netzwerke*, wobei das am häufigsten analysierte Beispiel in der „Deep south“-Studie von Davis et al. (1941) veröf-
8
Fischer (1982) hat versucht, mittels einer Reihe von Fragen herauszubekommen, wodurch sich Freundschaft bestimmen lässt. Hierbei kam er zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem Begriff Freundschaft um eine Restkategorie handeln müsse, die dann genannt wird, wenn kein anderer genauerer Begriff, etwa Verwandtschaftsgrad, Nachbar oder Arbeitskollege in Frage kommt. Ferner können sich Freundschaften auf eine Vielzahl von Bereichen beziehen (siehe hierzu auch Stegbauer 2008b).
256
Christian Stegbauer
fentlicht wurde.9 Darin wurde die Teilnahme an verschiedenen Treffen von Frauen in Natchez, Mississippi aufgezeichnet. Genauere Analysen des in Tabelle 2 abgebildeten Netzwerkes ergeben, dass die Frauen zwei Cliquen bilden, die nur über wenige Events miteinander in Verbindung stehen (für eine genauere Analyse siehe Rausch 2010). Ein Beispiel aus der Internetforschung findet sich in Tabelle 3. Dort ist eine bimodale Datenmatrix* abgebildet, die die Teilnahme an einer Diskussionsseite von Artikeln in Wikipedia darstellt, die mit dem Artikel „Logik“ verlinkt sind.10 Die Zeilen repräsentieren jeweils einen Teilnehmer; die Spalten stehen für den Diskussionsbereich eines Artikels. Die Zahlen markieren schließlich die Anzahl der Beiträge eines Teilnehmers auf der jeweiligen Diskussionsseite.11
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Go Pa Ma Lu Ca To Ha Ro Th Sc Hub Lö Hu Ze
1 L 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2 S 1 1 1 1 1 0 0 1 0 0 1 0 0 0
3 P 1 1 1 1 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0
4 W 1 0 1 1 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0
5 G 1 0 1 1 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0
6 O 0 1 1 0 1 1 0 0 0 1 0 0 0 0
7 A 1 1 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 0 0
8 Q 1 1 0 0 0 0 1 1 0 0 0 0 0 0
9 P 1 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0
1 0 M 1 0 1 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0
1 1 S 1 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0 0
1 2 E 0 0 0 1 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0
1 3 I 0 0 1 1 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0
1 4 E 1 1 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0
1 5 R 1 0 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0
1 6 G 1 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1
Tabelle 3: Bimodales Netzwerk zur Wikipedia-Seite „Logik“
Analog zur Studie von Davis et al. (1941) handelt es sich bei der Matrix um ein analytisches Konstrukt, mit dem lediglich die Möglichkeit abgebildet wird, dass die Teilnehmer auf den 9
Es wurde u.a. durch die Re-Analyse von Homans (1960) bekannt; vgl. auch die Diskussion der Daten in Freeman 2003: 42-44.
10
Es handelt sich um folgende Artikel (in der Reihenfolge der Spalten): 1. Logik, 2. Syllogismus, 3. Philosophie, 4. Wahrheit, 5. Gottfried Wilhelm Leibniz, 6. Ontologie, 7. Aussagenlogik, 8. Quantor, 9. Prinzip der Zweiwertigkeit, 10. Mathematik, 11. Systeme natürlichen Schließens, 12. Erkenntnistheorie, 13. Immanuel Kant, 14. Ex falso quodlibet, 15. Reductio ad absurdum, 16. Gödelscher Vollständigkeitssatz.
11
Um die Netzwerkmatrix* zu verkleinern, wurden nur Teilnehmer mit mindestens zwei Beiträgen (Ursprungsmatrix*) und solche Artikel, die über mindestens zwei Teilnehmer verbunden sind, ausgewählt. Die ursprünglich durch die Anzahl der Beiträge bewertete Matrix wurde zur Vereinfachung dichotomisiert*. Bewertet meint, dass die Anzahl der Beiträge in der Matrix eingetragen war; dichotomisiert meint, dass nicht mehr auf die Zahl der Beiträge geschaut wird; sofern mindestens zwei Beiträge geleistet wurden, wird eine 1 in die Matrix eingetragen.
Beziehungsnetzwerke im Internet
257
Diskussionsseiten der betreffenden Artikel miteinander in Kontakt gekommen sein können. Eine genauere Analyse des Diskussionsraumes des Artikels ‚Logik‘ belegt, dass Teilnehmer tatsächlich mit ihren Beiträgen aufeinander reagierten (Stegbauer 2009a). Das bimodale Netz in Tabelle 3 zeigt nun, dass die meisten Diskutanten dieses einen Artikels auch über die Diskussionsseiten anderer Artikel in Verbindung stehen. Ein solches bimodales Netz (Akteur-Event-Netzwerk, two-mode network, bipartite network*) lässt sich leicht in zwei unimodale Netzwerke* zerlegen (siehe hierzu Freeman 2003): Eines, in dem der Zusammenhang der Ereignisse verzeichnet ist (z. B. über wie viele Teilnehmer die Ereignisse verbunden sind), und ein weiteres, das sogenannte AffiliationsNetzwerk* (das Teilnahmenetzwerk), in dem abzulesen ist, wer mit wem wie viele Events (hier Artikeldiskussionen) teilt. Das Ergebnis der Zerlegung ist in jedem Fall symmetrisch. Bei der bereits erwähnten und zum Klassiker gewordenen „Deep South“-Studie (Davis et al. 1941) wissen wir nicht, ob die Teilnehmerinnen tatsächlich bei jedem Event miteinander in Kontakt standen, beispielsweise, ob nicht eine im Schaukelstuhl im Garten schlief, während die anderen sich bei Kaffee und Kuchen vergnügten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie miteinander in Kontakt gekommen sind, ist aber hoch. Bei den Netzwerken, die mit Daten aus dem Internet konstruiert wurden, definiert der Wissenschaftler Beziehungen, beispielsweise über die gemeinsame Beteiligung an der Bearbeitung eines Artikels in Wikipedia. Eine solche Konstruktion besagt zwar nicht, dass beide Teilnehmer tatsächlich miteinander in Kontakt gekommen sind, in solchen Fällen ist jedoch die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme gegeben. Gemeinsame Teilnahme an einem Event ist eine der Bedingungen der Möglichkeit, eine Beziehung aufzunehmen.12 Man kann also sagen, dass dies im Kontext von Artikelbearbeitungen die Bedingung für einen Kontakt ist. Darüber hinaus lässt sich eine solche Beziehungskonstruktion insofern als ‚objektiv‘ bezeichnen, als die Teilnehmer an der gemeinsamen Erstellung eines Artefakts beteiligt waren. Dabei wird definiert, dass die Intensität der Beziehung größer ist, wenn zwei Teilnehmer an mehreren Artikeln substanziell mitgearbeitet haben.13 Tabelle 4 zeigt die Zerlegung des bimodalen Netzes in eines der beiden möglichen unimodalen Netze, das symmetrische Affiliations-Netzwerk*.14 Im Beispiel findet man, eine deutliche Ungleichverteilung: Die Teilnehmer Go und Pa stehen mit sehr vielen anderen über Artikeldiskussionen in Verbindung. Selbst in dieser Auswahl, in die nur besonders Engagierte einbezogen wurden, ist durch die Anordnung in der Netzwerkmatrix bereits deutlich ein Kern (mit den Akteuren Go, Pa, Ma, Lu, Ca, To) zu erkennen. Im Kern stehen die Teilnehmer untereinander in Beziehung. In der Matrix ist aber auch ein 12
Dies wird beispielsweise in Anthony Giddens Strukturationstheorie (1988) als gleichzeitige Anwesenheit im Raum beschrieben oder in Peter Blaus und Joseph Schwartz’ (1984) Überlegungen zur Überschneidung sozialer Kreise.
13
Dies lässt sich beispielsweise daran zeigen, dass die Teilnehmer über Artikeldiskussionen aufeinander Bezug nehmen (Stegbauer 2009).
14
Das zweite mögliche Netz wäre ein Event-Event-Netzwerk*. Hierbei würde man analysieren, welche Artikeldiskussionen miteinander über dieselben Teilnehmer verbunden sind.
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Christian Stegbauer
Zentrum-Peripherie-Muster angedeutet: Zwei Teilnehmer aus dem Kern (Go, Pa) stehen mit weiteren Teilnehmern (Ha, Ro, z.T. auch Th) in Verbindung. Diese drei Teilnehmer haben aber keinen Kontakt untereinander. Die Beziehung zwischen diesen, so die Vorstellung, ist über die zentralen Teilnehmer vermittelt. Noch weiter vom Zentrum entfernt sind die Teilnehmer, die lediglich zu einem oder zwei Artikeln einen Diskussionsbeitrag leisteten und daher in Tabelle 4 mit 0 kodiert wurden. Go Pa Ma Lu Ca To Ha Ro Th Sc Hub Lö Hu Ze
Go 1 1 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0
Pa 1 1 1 1 1 1 1 1 0 0 0 0 0 0
Ma 1 1 1 1 1 1 0 0 1 0 0 0 0 0
Lu 1 1 1 1 1 0 0 0 1 0 0 0 0 0
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Tabelle 4: Zerlegung des bimodalen Netzes in eines der beiden möglichen unimodalen Netze
Die Überschneidung sozialer Kreise Man kann bimodale Netzwerke auch als Bedingung der Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu kommen, bezeichnen; dies erlaubt zugleich, die Grenzen derartiger Beziehungen aufzuzeigen. Denn wenn ein Teilnehmer sich an einer Reihe von Diskussionen beteiligt, geht er zwar – im formal-netzwerkanalytischen Sinne – mit anderen Teilnehmern eine Beziehung ein, die die Grundlage dafür bildet, mit diesen auch in Kontakt (d. h. in einen realen kommunikativen Austausch) zu treten. Konsequenterweise haben diejenigen, die sich nicht an Diskussionen beteiligen, keine Chancen zur Beziehungsbildung. Mit den Techniken der Netzwerkforschung kann man zwar nicht alle Kommunikationskanäle simultan erfassen; es ist jedoch möglich, die Überschneidung sozialer Kreise als Indikator für Beziehungsmöglichkeiten aufzufassen. So kann man beispielsweise Mitgliedschaftslisten miteinander kombinieren, um so einen Kern von Teilnehmern zu bestimmen. Wir haben ein derartiges Vorgehen in verschiedenen Studien angewendet, so etwa in einer Untersuchung zum Kontakt zwischen Wissenschaftsdisziplinen, die wir am Beispiel Großbritanniens durchgeführt haben (Stegbauer/Rausch 2001a). Dort wurde in den 1990ern ein zentrales Mailinglistensystem für den Wissenschaftsbereich, das Mailbasesystem, bereitgestellt, das 2.500 Mailinglisten mit 160.000 Teilnehmern enthielt (Stand: 1999). Das Themen-
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spektrum reichte von naturwissenschaftlichen Spezialthemen über geistes-/sozialwissenschaftliche und künstlerische Themen bis hin zur Behandlung von bibliothekarischen Fragen und Fragen der Systemadministration. (Die Einteilung der Mailinglisten in Fächerkategorien war von der Higher Education Statistics Agency vorgenommen worden.) Durch eine Auswertung der Überschneidungen der zugänglichen Mitgliedschaftslisten war es uns möglich, das Netzwerk zu dechiffrieren, das sich zwischen den Wissenschaftsdisziplinen und über die Disziplingrenzen hinweg gebildet hatte. Hintergrund dieser Studie war die von Michael Gibbons et al. (1994) diagnostizierte „neue Form“ der Wissensproduktion, die sich u.a. in Form einer verstärkten transdisziplinären Zusammenarbeit manifestiert. Zur Rolle, die das Internet in diesem Prozess spielt, gibt es unterschiedliche Thesen: Zum einen wird von Gibbons und anderen (1994) behauptet, dass Transdisziplinarität und Internationalität ohne Internet kaum möglich seien. Der Zugriff auf Informationen und die Koordination über Disziplingrenzen werde dadurch erleichtert. Barrieren zwischen den Fachgebieten fielen insofern weg, als im Internet Informationen aus unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen zu finden seien. Dadurch seien Informationen zugänglich, die man früher nur als Mitglied einer Fachgesellschaft hätte erhalten können (vgl. Stegbauer/Rausch 2001a). Dieser These einer Entgrenzung von Fachgebieten stellen Marshall van Alstyne und Erik Brynjolfsson (1996a und 1996b) die Behauptung einer immer weitergehenden Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen durch das Internet entgegen. Sie argumentieren, dass keine raumzeitlichen Barrieren für die Kommunikation mit den Spezialisten des eigenen, begrenzten Gebietes mehr bestünden und auf diese Weise der Prozess der Ausdifferenzierung und Spezialisierung erheblich beschleunigt werde. Damit aber würde es kaum mehr zu Kontakten innerhalb eines breiteren Spektrums des eigenen Faches kommen – geschweige denn zu noch weitergehenden interdisziplinären Beziehungen. Einerseits wird mit dem Internet also die Möglichkeit der transdisziplinären Zusammenarbeit assoziiert, andererseits wird argumentiert, dass die Möglichkeit, über das Internet vor allem mit den Spezialisten des eigenen Fachs zu kommunizieren, zu einer Verschärfung der Grenzen zwischen den Disziplinen führe. Als Ergebnis unserer Studien lässt sich festhalten, dass nur wenige Kontakte zwischen unterschiedlichen Fachgebieten bestanden, sieht man einmal von den Verbindungen von Medizin und Zahnmedizin sowie von Kunst/Design und Architektur/Städtebau/Landschaftsplanung ab. Um Gibbons’ Thesen zur transdisziplinären Zusammenarbeit zu untermauern, wäre jedoch ein weit größeres Ausmaß der disziplinübergreifenden Kommunikation erforderlich gewesen. Selbst im Fall von Medizin und Ökonomie (Mooney 1992), in denen eine Überschneidung erwartbar gewesen wäre, hat unsere Studie diese nicht auffinden können. Dieses Beispiel lässt sich an der Schnittstelle von Internet- und Wissenschaftsforschung verorten, ähnlich wie eine Untersuchung zu Kontakten von Wissenschaftlern unterschiedlicher Nationen auf internationalen Soziologiekongressen (Rausch/Stegbauer 2008). Andere Studien, in denen Daten aus dem Internet genutzt wurden, weisen über das Wissenschaftssystem hinaus. So ist es beispielsweise möglich, die Struktur des internationalen Fußballertransfermarktes (Neurath et al. 2007) oder die Mitwirkung von Bundestagsabgeordneten in Ausschüssen und Lobbyverbänden aufzudecken (Liepelt/Krempel 2008; Krempel 2008).
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Man kann also zwischen einer Netzwerkforschung zum Internet, bei der medienspezifische Fragen im Vordergrund stehen, und einer Netzwerkforschung mit Hilfe von Daten aus dem Internet unterscheiden, die sich unterschiedlichsten Fragen widmet. Hinsichtlich der eingesetzten Methoden bestehen jedoch nur geringe Unterschiede.
Dynamische Analyse von Netzwerken Im Internet verfügbare Daten erlauben oftmals den Rückschluss auf dahinter stehende soziale Prozesse, die dynamisch abgebildet werden können. Bei Daten, die durch Umfragen gewonnen werden, handelt es sich hingegen um Querschnittsdaten, die lediglich den Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden. Die Umfrageforschung behebt dieses Defizit bei der Analyse sozialer Prozesse beispielsweise durch eine Aneinanderreihung von Querschnittserhebungen. Eine Alternative ist die Durchführung eines Panels, mit dessen Hilfe dieselben Menschen immer wieder befragt werden, um so (trotz all der methodischen Schwierigkeiten wie Panelmortalität etc.) Veränderungen nachvollziehen zu können. Allerdings erfordert die Durchführung einer Panelstudie einen sehr hohen Aufwand. Im Internet dagegen werden Verlaufsdaten automatisch gespeichert. Schaut man sich etwa Kommunikationsforen an, so wird jede öffentliche Äußerung mit einem Zeitstempel versehen und dadurch in der Zeit verortbar. Auf diese Weise lassen sich Verlaufsanalysen durchführen, für die die Daten mit sehr geringen Kosten aus dem Internet extrahiert werden können. In sehr vielen Fällen sind diese öffentlich zugänglich. Allerdings steckt die Analyse von Netzwerkdynamik trotz einer Vielzahl bereits entwickelter Tools noch in den Kinderschuhen.15 Dies wird an verschiedenen „State-of-the-art“Veröffentlichungen deutlich, die auf diesem Gebiet erschienen sind (z. B. das von Suitor et al. 1997 herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift „Social Networks“; Breiger et al. 2003; Stegbauer 2008a). Dynamische Analysen internetbasierter Daten kämpfen beispielsweise mit dem Problem, dass viele Netzwerk-Sites ein sehr schnelles Wachstum aufweisen. Abgesehen von der Beobachtung des Wachstums werden dadurch die Analysemöglichkeiten beschränkt. Ein probates Verfahren ist „sliding window“, bei dem der beobachtete Prozess in kleine, sich überlappende, gleichgroße Zeitabschnitte eingeteilt wird; allerdings ist dies in Fällen raschen Wachstums nicht ohne Weiteres anwendbar. In solchen Fällen unterscheiden sich die in den jeweiligen Zeitabschnitten zu analysierenden Netzwerke hinsichtlich ihrer Größe so sehr, dass sie nur schwer untereinander vergleichbar sind.16
15
Beispielsweise werden an der Carnegie Mellon Universität solche Instrumente entwickelt, siehe www.casos.cs.cmu.edu/computational_tools/tools.html (10.06.2008).
16
Ein Problem ist es etwa, dass bei der Analyse der Netzwerke die Beziehungsdichte eine wesentliche Rolle (etwa als Relevanzkriterium in der Blockmodellanalyse) spielt. Je größer das zu untersuchende Netzwerk, um so geringer muss die Dichte sein. Mittlerweile behilft man sich in solchen Fällen mit dem Durchschnittswert der Degree-Zentralität (also die durchschnittliche Zahl an Beziehungen im jeweils betrachteten Netzwerkabschnitt).
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Wir haben mit Hilfe dieses Verfahrens zwei Mailinglisten untersucht und dabei festgestellt, dass die Grundstruktur der Mailinglisten über den beobachteten Zeitraum hinweg erhalten und die Zuordnung von Personen zu Positionen über einen längeren Zeitraum stabil blieb (Stegbauer/Rausch 2006a). Andere Herangehensweisen legen ihren Schwerpunkt auf Veränderungen der Zentralität von Akteuren in Netzwerken. Matthias Trier und Annette Bobrick (2008) zeigen am Beispiel des E-Mail-Verkehrs, der im Rahmen der Ermittlungen gegen das Management des insolventen US-Konzerns ENRON offengelegt wurde, dass die Zentralität von Akteuren keineswegs so stabil ist, wie dies zu Zeiten der statischen Netzwerkanalyse angenommen wurde. Gerade in Krisenzeiten kann es zu sehr schnellen Änderungen kommen.17 Im Bereich der Internetsoziologie findet man dynamische Analysen darüber hinaus häufig in Studien zur Verbreitung von Nachrichten im Netzwerk der Blogs, deren Inhaber sich in weiten Teilen selbstreferenziell verhalten und Inhalte und Themen von anderen Blogs übernehmen. Aus diesem Grunde lassen sich an Blogs Themenkonjunkturen untersuchen, die gerade in politisch ‚heißen‘ Zeiten, wie beispielsweise während Wahlkämpfen, eine Bedeutung für die politische Auseinandersetzung bekommen können (vgl. Albrecht et al. 2005, 2006; Coenen 2005). Eine Hypothese zur Dynamik von Netzwerken wurde von Physikern entwickelt, die sich in den letzten Jahren immer stärker auch mit der Modellierung sozialer Prozesse beschäftigen. So haben Albert-László Barabási et al. (2000) die Begriffe „power law“ (für ein Exponentialgesetz) bzw. „skalenfreie Netze“ eingeführt (vgl. auch den Beitrag von Jansen/Diaz-Bone, in diesem Band). Beide Begriffe bezeichnen sehr schiefe Verteilungen, wie sie die Soziologie etwa im Falle von Einkommensverteilungen unter dem Stichwort Pareto-Verteilungen seit langem kennt.18 Eine Power-law-Verteilung ist das Ergebnis eines Prozesses, bei dem bereits vorhandene und mit einem leichten Vorteil hinsichtlich der Zahl ihrer Beziehungen versehene Knoten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit neu hinzukommenden verbunden werden als andere. Auf diese Weise lässt sich das spezifische Muster des Wachstums des Internets erklären: Wenn neue Knoten, seien es WWW-Seiten, spezielle Applikationen, Blogs oder Personen, hinzukommen, finden sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Knoten, die bereits gut vernetzt sind und damit über eine hohe Degree-Zentralität verfügen.19 Sich vernetzen bedeutet, dass ein Hinweis bzw. Hyperlink von einer WWW-Seite auf die andere Seite erfolgt oder dass per E-Mail oder über eine Netzwerk-Site Kontakt zu einem Teilnehmer aufgenommen wird. Wenn Internet-Seiten durch die Zahl ihrer Verlinkungen prominent werden, steigt die Wahrnehmung dieser Seiten, was sie wiederum noch populärer werden lässt und weitere
17
Analog untersuchen Schäfer und Hoser (2008) Zentralitäten und deren Veränderungen anhand von Studierendenforen einer Universität.
18
Eine Pareto-Verteilung ist Resultat einer Exponentialfunktion; sie ist dadurch gekennzeichnet, dass beispielsweise 20 Prozent der italienischen Familien 80 Prozent des Volksvermögens besitzen und 80 Prozent der Familien die restlichen 20 Prozent des Vermögens.
19
Zur Degree-Zentralität siehe auch den Beitrag von Jansen/Diaz-Bone, in diesem Band.
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Verlinkungen generiert.20 Der Begriff „power law“ bezeichnet dieses exponentielle Wachstums-Muster, das einige wenige Internet-Seiten begünstigt und eine schiefe Verteilung der Reputation generiert. Dieser Effekt wird durch Rankingalgorithmen von Suchmaschinen oder auch durch strukturierte Zugänge wie Wikipedia zusätzlich verstärkt. Wenn man annimmt, dass die Chance für die Verlinkung eines Angebotes proportional zur Zahl schon bestehender Links steigt, dann wird deutlich, dass gerade bei dynamisch wachsenden Systemen auf diese Weise sehr ungleiche Verteilungen zustande kommen können. Solche Verteilungen, die man als skalenfrei oder als Power-law-Verteilungen bezeichnet, unterscheiden sich gravierend von einer Normalverteilung. Auch macht es keinen Sinn, Mittelwerte zu berechnen, da der Masse der WWW-Seiten oder Personen mit nur sehr wenigen Kontakten oder Verlinkungen einige wenige mit sehr vielen Verbindungen gegenüberstehen (zur Linkstruktur im Internet siehe u.a. Barabási et al. 2000; Ebel et al. 2002).
Flesh and bone Mit Hilfe der Netzwerkanalyse kann man Strukturen entdecken, die allerdings oft nicht leicht zu interpretieren sind. In den meisten Fällen benötigt man zusätzliche Daten, die entweder mittels konventioneller Methoden erhoben oder – im Falle von Internetstudien – teilweise ebenfalls aus den verfügbaren Daten extrahiert werden können. Zusätzliche Informationen wie die Anzahl der Kontakte oder der Beiträge eines Teilnehmers oder sein Alter, aber auch das gleichzeitige Vorkommen in verschiedenen Zusammenhängen können dazu herangezogen werden, die gefundene Struktur detaillierter zu beschreiben. Der Ethnologe und Vordenker in Sachen Netzwerkanalyse, Thomas Schweizer, hat diese Kombination unterschiedlicher empirischer Herangehensweisen unter Bezugnahme auf die ethnologische Forschung als Flesh-and-bone-Modell bezeichnet (1993: 93): Die formale Netzwerkanalyse liefere die Struktur, also die ‚Knochen‘, die anderen Vorgehensweisen seien für das ‚Fleisch‘ verantwortlich. Das ‚Fleisch‘ wird also durch andere qualitative oder quantitative Methoden hinzugefügt. Insofern strebt die Netzwerkforschung explizit eine Methodenintegration an. „Qualitative Vorinterviews sind für die Anwendung dieser Verfahren unabdingbar; anschließende Tiefeninterviews klären und vertiefen das mit den strukturierten Verfahren erzielte Verständnis ebenso wie ethnographische Beobachtungen. Dem Vorgehen unterliegt ein ‚flesh and bone‘-Modell, in dem die systematischen kognitiven Verfahren das Ordnungsmuster offenbaren und die qualitativen Daten dieses Skelett mit Inhalt anfüllen. Diese systematischen Verfahren erschließen die Wissensstruktur, die hinter den komplexen Detailinformationen narrativer Interviews oft verborgen bleibt oder nur unter großen Mühen und Kosten erkannt wird.“ (ebd.)
20
Dieses Strukturmuster wurde in der Soziologie als Matthäus-Effekt (Merton 1968) für Zitationen beschrieben („Wer hat, dem wird gegeben“).
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Da die Internetforschung über eine Fülle an Daten verfügt, wird sie nicht in gleichem Maße auf qualitative Verfahren zurückgreifen wie die Feldforschung. Gleichwohl ist die Kombination von Methoden der Art, wie sie Schweizer beschreibt, auch hier sinnvoll.
4
Beziehungsstrukturen im Internet in netzwerktheoretischer Perspektive
Power-law-Verteilungen, wie sie im vorherigen Abschnitt am Beispiel der Verlinkung von Internet-Seiten behandelt wurden, erscheinen im Bereich persönlicher Beziehungen aufgrund kognitiver, zeitlicher und strukturationstheoretischer (Giddens 1988) Gründe kaum vorstellbar. So sind die Ressourcen für alle Menschen in ähnlicher Weise beschränkt. Man kann nur zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein, und hieraus ergeben sich die Möglichkeiten zur Etablierung oder Aufrechterhaltung von Beziehungen. Dies gilt auch dort, wo die strukturierende Wirkung des geographischen Raums scheinbar aufgehoben ist, also im Internet. Auch dort besitzt man keine unbegrenzte Aufmerksamkeit. Fredrik Liljeros et al. (2002) fanden jedoch heraus, dass Power-law-Verteilungen auch für persönliche Beziehungen und sogar für Sexualkontakte gelten. In „Social networking“-Sites finden sich immer wieder Teilnehmer, die über mehrere Tausend Freunde bzw. Kontakte verfügen. Diese Beispiele zeigen, dass die Qualität der dort dokumentierten Beziehungen für Außenstehende nur schwer einzuschätzen ist. Untersuchungen zu Kontakten in Mailinglisten und Chats haben ähnliche Muster einer ungleichen Verteilung herausgefunden (Stegbauer 2001; 2006b), die sich auch als ZentrumPeripherie-Beziehungen interpretieren lassen (vgl. Abbildung 2). Die Kommunikation in Mailinglisten kann man sich folgendermaßen vorstellen: Jemand stellt eine Frage oder gibt einen Input (z. B. eine Ankündigung oder eine Information), woraus sich in einigen Fällen eine Diskussion ergibt. Einige Teilnehmer beteiligen sich lediglich sporadisch an dieser Diskussion, oftmals auch an den Diskussionen des nächsten und des übernächsten Themas (im Mailinglistenjargon „thread“ genannt), finden sich jedoch danach meist nicht mehr unter den Aktiven des betreffenden Forums. Es gibt aber auch einige Personen, die sich permanent an den Diskussionen beteiligen und damit die Kontinuität des Diskussionsverlaufs erst herstellen. Sie sind eine Art ‚Brücke‘ zwischen den verschiedenen Themen und den temporär aktiven Personen. Man kann daher das Muster der Beziehungen als Zentrum-Peripherie-Struktur bezeichnen (vgl. Abbildung 1). Das Zentrum verleiht der Mailingliste Stabilität und Kontinuität; die Teilnehmer in der Peripherie behalten vor allem die zentralen Personen in Erinnerung und identifizieren mit ihnen die Mailingliste.
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Positionale Netzwerkanalyse/Blockmodellanalyse Man kann eine solche Struktur mit Hilfe der positionalen Netzwerkanalyse aufdecken. Bei den Untersuchungen hierzu wird wiederum eine zweimodale Definition der Beziehungen (type of tie*) vorgenommen. Bei der positionalen Analyse handelt es sich um ein Clusterverfahren, die Blockmodellanalyse, bei dem die Teilnehmer nach Ähnlichkeiten in ihren Beziehungen klassifiziert und in Gruppen, sogenannte Blöcke, eingeteilt werden (vgl. auch den Beitrag von Jansen/DiazBone, in diesem Band).21 Die Ähnlichkeiten der Beziehungsstruktur, welche die Blöcke repräsentieren, werden als strukturelle Äquivalenzen interpretiert. Die Interpretation richtet sich also auf eine Gleichartigkeit der Beziehungsmuster, die darauf hindeutet, dass die so zusammensortierten Personen sich in einer vergleichbaren strukturellen Position befinden. Die Analyse zielt also nicht auf die beteiligten Individuen und deren Handlungen ab, sondern darauf, Positionen zu identifizieren, die sich durch Regelmäßigkeiten im Handeln (Rollenhandeln) auszeichnen. In der Untersuchung drückt sich das so aus, dass man von der Betrachtung der Beziehungen zwischen den einzelnen Teilnehmern zu einer Betrachtung der Beziehungen zwischen den Blöcken (den Teilnehmern mit ähnlichen Beziehungsmustern) übergeht. Die Stärke der Interblockbeziehungen wird mit Hilfe des Maßes der Dichte gemessen. Die Dichte drückt im einfachsten Fall aus, wie hoch der Anteil der realisierten Beziehungen an den möglichen Beziehungen ist. Für die Unterscheidung zwischen bedeutungsvollen und nicht bedeutungsvollen Beziehungen hat sich die Konvention eingebürgert, die durchschnittliche Dichte (Overall-Density), also den Anteil der bestehenden an der Zahl der möglichen Beziehungen der gesamten Netzwerkmatrix, als Schwellenwert zu nehmen (vgl. Wasserman/Faust 1994). Nur solche Beziehungen zwischen oder in Blöcken werden als relevant erachtet, die über dem Schwellenwert der Overall-Density liegen. Wichtig für die Blockmodellanalyse sind aber vor allem die fehlenden Beziehungen, die durch Regionen im Netzwerk repräsentiert werden, in denen keine oder aber zumindest weniger Beziehungen als im Durchschnitt realisiert wurden. Relevante bestehende Beziehungen werden in Abbildung 1 schwarz eingefärbt, die wichtigen, strukturell nach diesem Kriterium nicht vorhandenen Beziehungen bleiben weiß. Eine solche Beziehungsmatrix zwischen den Blöcken bezeichnet man als Blockimagematrix. Abbildung 1 enthält eine Blockimagematrix einer Zentrum-Peripherie-Struktur mit Multilogen* am Beispiel einer deutschsprachigen Mailingliste zum Thema Europa, in der unter anderem über den EU-Beitritt der Schweiz debattiert wurde (Stegbauer/Rausch 1999). Auffällig ist, dass Block 6 keine Beziehungen zu anderen Blöcken hat, d. h. es gab zwar Teilnehmer, die meist nur einen Beitrag leisteten, aufgrund dessen sich aber keine Diskussion entspann. (Typischerweise sind solche Beiträge Ankündigungen, die reinen Informationscharakter haben.) In der Studie konnte gezeigt werden, dass ein hoher Anteil dieses Blocks 6 aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland stammte (ebd.). 21
In den hier dargestellten Fällen wurde die Clusterung mit Hilfe des Concor-Algorithmus* vorgenommen.
Beziehungsnetzwerke im Internet Block-Nr.
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1 2 3 4 5 6 Abbildung 1: Blockimagematrix einer Mailingliste (Stegbauer/Rausch 1999)
Bei der Betrachtung der Blockimagematrix fällt zudem auf, dass Block 1 mit allen anderen Blöcken in Verbindung steht, die anderen Blöcke stehen aber nicht untereinander in Kontakt. Dies zeigt, dass es sich in Block 1 um die zentralen Akteure handelt, die sich über einen längeren Zeitraum in der Mailingliste engagieren. Die Blöcke 2 bis 5 sind durch eine hohe interne Beziehungsdichte (ablesbar an der Diagonalen) gekennzeichnet, verfügen aber über keine Beziehungen untereinander. Diese drei Blöcke sind von einem gleichartigem Strukturtyp. Zudem wurden dort die Themenbereiche nicht gleichzeitig, sondern nacheinander diskutiert. Die Blockimagematrix bestätigt, dass man zwischen einem Zentrum aus Teilnehmern mit stabiler Beteiligung einerseits und einer wechselnden Peripherie unterscheiden kann. Obwohl das Auffinden der Blöcke allein aufgrund der Struktur der Beziehung vorgenommen wurde, findet man später gemeinsame Merkmale der Teilnehmer innerhalb dieser Blöcke, wobei die dargestellten Multilogen unterschiedliche Themenbereiche repräsentieren, die in der Mailingliste behandelt wurden. Die Diskussionen zum Thema EU-Beitritt der Schweiz finden sich vor allem in Block 5, der sich durch eine hohe interne Beziehungsdichte (Einfärbung auf der Diagonalen) und eine Verbindung zu Block 1 auszeichnet. Eine Analyse von Merkmalen der in diesem Block zusammengefassten Teilnehmer ergab, dass es sich größtenteils um Schweizer handelte. Die Blockmodellanalyse hat zwei offenkundige Defizite: Im Beispiel kann ein wichtiger Teil der Akteure nicht eingefangen werden, weil sie sich nicht aktiv innerhalb der Liste beteiligen. Teilnehmer werden im Netzwerk nur dann registriert, wenn sie aktiv werden. Passive Teilnehmer treten daher in der Netzwerkanalyse nicht in Erscheinung. Aus diesem Grunde fehlen hier solche Teilnehmer, die als „lurker“ (deutsch: Zuschauer/Beobachter) bezeichnet werden. Es fehlen also die Teilnehmer, welche die Liste abonniert haben, sich aber nicht aktiv an der Diskussion beteiligen. Da es ein explizites Ziel der positionalen Analyse ist, Bereiche mit fehlenden Beziehungen auf-
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zudecken (White et al. 1976), wäre es sinnvoll, auch die Position* der Lurker,22 die in Abbildung 1 nicht sichtbar ist, in die Betrachtung einzubeziehen.23 Im vorliegenden Beispiel erhält man zudem eine zeitkomprimierte Struktur. Ohne zeitliche Auflösung, etwa mit Hilfe des „Sliding window“-Verfahrens, kann die zeitliche Entwicklung der Netzwerk-Struktur nicht erfasst werden.
Sliding window Die Stabilität des Zentrums lässt sich durch andere Verfahren der Netzwerkanalyse wie das bereits angesprochene „Sliding window“-Verfahren nachweisen, welche die Dynamik von Netzwerken berücksichtigen (vgl. Abschnitt 3.2). Auf diese Weise kann man untersuchen, wie stabil oder veränderlich eine Struktur ist. Wie Abbildung 2 zeigt, wurde der Untersuchungszeitraum von über drei Jahren in 38 (sich überlappende) Dreimonatsperioden untergliedert, indem ein Zeitfenster von drei Monaten immer einen Monat weitergerückt wurde. Für jede Periode wurde eine positionale Analyse des Netzwerks durchgeführt. Die Abbildung 2 zeigt die Zuordnung der 147 Teilnehmer der Mailingliste „Critical Café“ zu den Positionen Zentrum (schwarz) und Peripherie (grau) für die Monate Januar 1996 bis Februar 1999, in denen sie einen Beitrag geleistet haben, mit einem rückwärtigen Zeithorizont von maximal drei Monaten (Stegbauer/Rausch 2006a). Jede Zeile entspricht einem Teilnehmer und jede Spalte einem Zeitraum. Die Teilnehmer sind von oben nach unten in der Reihenfolge ihres Aktivwerdens angeordnet, d. h. die Gründer sind ganz oben zu finden, und anhand der Spalten kann nachverfolgt werden, wann die anderen Teilnehmer hinzukamen. Mit Ausnahme von zwei Perioden fanden wir jedes Mal eine Zentrum-Peripherie-Struktur, wobei zu keinem Zeitpunkt mehr als 11 Personen zum Zentrum gehörten. Die Abbildung belegt zudem, dass es trotz gelegentlichen Wechsels eine enorme Stabilität des Personals im Zentrum gab. Weiterhin drängt sich der Eindruck auf, dass ein Wechsel immer dann erfolgte, wenn in der Vorperiode das ‚alte‘ Zentrum nur schwach beteiligt war.
22
Zu Lurkern in Mailinglisten siehe Stegbauer/Rausch 2001b.
23
Die sich darin ausdrückenden Überlegungen sind, dass mit Positionen oft Beziehungsverbote einhergehen. Solche Normen finden sich beispielsweise in Heiratsregeln.
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Abbildung 2: Zentrum-Peripherie-Struktur der Mailing-Liste „Critical Café“
5
Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurden einerseits Entwicklungstrends des Internets beschrieben, die auf eine zunehmende Bedeutung der aktiven Mitarbeit von Teilnehmern und der zwischen ihnen entstehenden Beziehungen verweisen; für derartige Anwendungen haben sich in den letzten Jahren die Begriffe „social software“, Web 2.0 oder „social web“* eingebürgert. Andererseits wurden Möglichkeiten der Analyse von Daten aus dem Internet vorgestellt, wie sie insbesondere auf Networking-Sites zu finden sind. Es wurde gezeigt, dass die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung dazu beitragen kann, die sozialen Phänomene zu analysieren, die sich im Internet abbilden. Mit ihrer Hilfe können die entstandenen Strukturen empirisch analysiert und theoretisch erklärt werden. Im vorliegenden Beitrag wurden Beispiele für die Analyse bimodaler Netze wie auch für die eine Blockmodellanalyse einer Mailingliste präsentiert. Darüber hinaus wurde an einem weiteren Beispiel gezeigt, wie die Netzwerkforschung dynamische Prozesse untersuchen kann. Durch die Verfügbarkeit einer Vielzahl von Daten, die im Internet ‚nebenbei‘ anfallen, so lässt sich der Beitrag resümieren, entsteht eine Reihe neuer Möglichkeiten für die sozialwissenschaftliche Analyse von Netzwerken.
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Glossar
Affiliations-Netzwerke Aus der bimodalen Netzwerkmatrix können durch eine einfache Rechenoperation (Multiplikation mit der transponierten Matrix) sog. Affiliations-Netzwerke gemacht werden. Dabei wird zwischen allen mit einem Event verknüpften Personen eine Beziehung angenommen. Diese Beziehung ist gewichtet mit der Anzahl der gemeinsamen Events (Breiger 1974).
Bimodale Netzwerke (two mode network, zweimodale, bipartite, Event-Netzwerk, AkteurEreignis-Soziomatrix) Bimodale Netzwerke stellen eine Relation zwischen einer definierten Menge von Akteuren und einer definierten Menge von Gelegenheiten her, die von den Akteuren genutzt werden können, um untereinander Beziehungen einzugehen. Welche Paare von Akteuren dabei tatsächlich eine soziale Beziehung eingehen, bleibt dabei offen (Rausch 2010). In der Soziologie wird bislang der zweite Modus, der Zusammenhang zwischen den Gelegenheiten kaum thematisiert (Ausnahmen sind Albrecht 2008; Stegbauer 2009b).
Beziehungsnetzwerke im Internet
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Concor-Algorithmus Algorithmus der Blockmodellanalyse, der von White (White/Breiger 1975, White et al. 1976) entwickelt wurde. Im Grunde handelt es sich um eine Clusteranalyse, bei der (meist) Personen aufgrund der Ähnlichkeit ihres Beziehungsmusters gruppiert werden (Blöcke). In den gebildeten Gruppen sollten strukturell äquivalente Akteure zusammengefasst werden.
Event-Event-Netzwerk Aus der bimodalen Netzwerkmatrix können durch eine einfache Rechenoperation (Multiplikation mit der transponierten Matrix) sog. Event-Event-Netzwerke gemacht werden. Dabei wird zwischen allen Events eine Beziehung angenommen, sofern die gleichen Personen teilgenommen haben. Dies Beziehung zwischen den Events ist gewichtet mit der Anzahl der gemeinsamen Personen.
Multiloge Multiloge grenzen sich zu Dialogen dadurch ab, dass mehr als zwei Personen an der Diskussion beteiligt sind. Man könnte auch sagen, dass es sich um Interaktionen zwischen mehreren handelt.
Netzwerkmatrix Die Netzwerkanalyse beruht auf der Untersuchung der Netzwerkmatrix, die aus Akteuren und den Verbindungen zwischen den Akteuren besteht. Im Falle von bimodalen Netzwerken besteht diese aus Akteuren, Events und der Teilnahme an den Events.
Position Ziel der Blockmodellanalyse ist es, Positionen aufzudecken. Analytisch aufgedeckte Positionen sollten aus strukturell äquivalenten Akteuren bestehen, die über dieselben Verbindungen mit denselben anderen verfügen. Da nach der Definition strikte strukturelle Äquivalenz kaum aufgefunden wird, gibt man sich in der Analyse mit einer strukturellen Ähnlichkeit zufrieden. Akteure in einer Position verfügen aufgrund ihres ähnlichen Beziehungsmusters über ähnliche Handlungsmöglichkeiten. Wird aufgrund einer Position gehandelt, so spricht man von Rollenhandlung. Mit dem Konzept der „Position“ sind eine Reihe von Annahmen verbunden, z. B. dass die Akteure innerhalb einer Position im Wettbewerb untereinander stehen (pecking order, White 1992), dass eigene Sichtweise und Präferenzen dort entstehen etc. (vgl. Stegbauer 2010, siehe auch Concor-Algorithmus).
Social Software Mit Social Software bezeichnet man Software-Systeme, die die Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen Akteuren unterstützen. Der Begriff bezieht sich vor allem auf Anwendungen wie Wikis, Weblogs (auch unter Nutzung von Bild und Video), Freundschafts-, Kontakt-, Business-Netzwerke, gemeinsame Fotosammlungen, Group Radio, Instant Messaging, aber auch ältere Formen der OnlineKooperation. (vgl. Stegbauer/Jäckel 2008). Hiermit sind Freundschafts- und Kontaktsites im Internet gemeint. Der Begriff wird gewählt, um die als „soziale Netzwerke“ bezeichneten Sites gegenüber Netzwerken abzugrenzen, wie sie die Netzwerkanalyse konzipiert, die den Netzwerkbegriff rein formal zur Beschreibung einer Anzahl von Akteuren und der zwischen ihnen bestehenden Verbindungen verwendet (Wassermann und Faust 1994: 20).
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Social Web Das WWW war zu Beginn vor allem ein Medium zum Abrufen von Informationen. Im Zuge der Umgestaltung ist es zum „social web“ geworden. Damit ist gemeint, dass die Teilnehmer selbst bei der Erstellung der Inhalte beteiligt sind. Inhalte des social web sind Networking-Sites, Communities, aber auch all das, was unter Social Software oder Web 2.0 abgehandelt wird.
Type of Tie Beziehungstyp – thematisiert meist den operationalisierten Beziehungsaspekt für die Messung in der Netzwerkanalyse.
Unimodale Netzwerke Im hier gebrauchten Zusammenhang steht der Begriff für die Auflösung des bimodalen Netzwerks in unimodale Netzwerke. Das bimodale Netzwerk lässt sich in zwei unimodale Netzwerke zerlegen: 1. das Affiliations-Netzwerk (Zusammenhang zwischen den Akteuren) und 2. das Event-Event-Netzwerk (Zusammenhang zwischen den Events).
Usenet Der Name leitet sich von „Unix User Network“ ab und bezeichnet Newsgruppen. Newsgruppen werden als Diskussionsgruppen bezeichnet (dienten aber auch zur Verbreitung von Bildern) und stammen aus der Zeit des Internet vor Einführung des WWW. Die Newsgroups sind heute weitgehend durch webbaserte Diskussionsforen abgelöst worden.
Theoretische Perspektiven
Akteur-Netzwerk-Theorie Zur Ko-Konstitution von Gesellschaft, Natur und Technik Ingo Schulz-Schaeffer
1
Einleitung
Den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie bildet Michel Callons und Bruno Latours Unzufriedenheit mit dem sozialkonstruktivistischen Ansatz der ‚Sociology of Scientific Knowledge‘ (SSK): Die sozialkonstruktivistischen Prämissen dieses Ansatzes würden nicht konsequent zu Ende gedacht. Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie präsentieren Callon und Latour eine Konzeption, welche die Radikalität besitzt, die ihrer Ansicht nach erforderlich ist. Diesem Entstehungskontext entsprechend, ist die AkteurNetzwerk-Theorie zunächst ein Ansatz, dem es darum geht, Prozesse der Entstehung neuen wissenschaftlichen Wissens zu rekonstruieren (vgl. Callon 1986b; Latour 1987). Die Ausarbeitung der zentralen Theoriekomponenten und Begriffe erfolgt anschließend aber ganz wesentlich im Feld der Technik- und Innovationsforschung.1 In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat vor allem Latour daran gearbeitet, den Anwendungsbereich der AkteurNetzwerk-Theorie über das Feld der Wissenschafts-, Technik- und Innovationsforschung hinaus zu erweitern und zu verallgemeinern: In Wir sind nie modern gewesen (Latour 1995) präsentiert er sie als Gesellschaftstheorie; in Das Parlament der Dinge (Latour 2001a) fungiert sie als politische Philosophie; und in Latours jüngster Monografie Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (Latour 2007) gewinnt die Akteur-Netzwerk-Theorie die Gestalt einer allgemeinen Sozialtheorie. Im angelsächsischen Sprachraum hat die Akteur-Netzwerk-Theorie innerhalb kurzer Zeit eine beachtliche Verbreitung gefunden; auch jenseits der Wissenschafts- und Technikfor1
Vgl. Latour 1988a; 1991; 1992; 1994; 1996a; Callon 1986a; 1987; 1991; 1992; Callon et al. 1992. Latour selbst unterscheidet nicht zwischen wissenschaftssoziologischen und techniksoziologischen Arbeiten, sondern fasst beide Bereiche unter dem Begriff der „technoscience“ (1987: 174) zusammen.
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schung dient sie vielen empirischen Studien als konzeptioneller Rahmen.2 Im deutschen Sprachraum herrschte anfangs eine gewisse Skepsis. So notiert Bernward Joerges in einer frühen Einschätzung der Akteur-Netzwerk-Theorie: „Dieses Programm scheint mir zu ‚stark‘.“ (1989: 69) Bereits wenige Jahre später aber ist die Akteur-Netzwerk-Theorie zentraler Ausgangpunkt seiner Konzeption von Technik als prosopopoietisches System (vgl. Joerges 1995), und mit dem ‚Berliner Schlüssel‘3 steuert Joerges eines der paradigmatischen Fallbeispiele der Akteur-Netzwerk-Theorie bei (vgl. Latour 1996a: 38, Anm. 3). Inzwischen gehören die Arbeiten von Callon und Latour auch in der deutschsprachigen Wissenschaftsund Technikforschung zum etablierten Theoriebestand (vgl. Rammert 1998; SchulzSchaeffer 2000; Degele 2002; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002). Darüber hinaus findet Latour in jüngerer Zeit auch im Bereich der soziologischen Theorie zunehmende Beachtung (vgl. Rosa et al. 2007: 219ff.; Kneer et al. 2008; Reckwitz et al. 2008). Mit der von Andréa Belliger und David J. Krieger herausgegebenen ANThologie (2006) liegt ein Sammelband vor, der die wichtigsten Artikelveröffentlichungen der Akteur-Netzwerk-Theorie in deutscher Übersetzung enthält. Das zentrale theoretische und methodologische Credo, das die Akteur-Netzwerk-Theorie von ihren Anfängen bis heute begleitet, lautet: Die Unterscheidung zwischen Natur, Technik und Gesellschaft ist Explanandum und nicht Explanans. Natur, Technik und Gesellschaft entstehen als ko-konstitutives Resultat der wechselseitigen Relationierung – der Netzwerkbildung – heterogener Entitäten. Die Unterscheidung zwischen Natur, Technik und Gesellschaft darf deshalb bei der wissenschaftlichen Beobachtung der entsprechenden Prozesse des Netzwerkbildens nicht verwendet werden. Dass Veränderungen durch natürliche, wissenschaftliche, technische oder gesellschaftliche Faktoren verursacht sind, ist der Akteur-Netzwerk-Theorie zufolge ebenso das Resultat einer Ex-post-Betrachtung wie die Kategorisierung von Veränderungen als natürlicher, wissenschaftlicher, technischer oder gesellschaftlicher Wandel. Expost-Betrachtungen dieser Art gilt es zu vermeiden, weil sie in tautologischer Weise die zu erklärende Wirkung für die Erklärung verwenden (vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 108f.). Aus der Perspektive der nicht-tautologischen Rekonstruktion, welche die Akteur-NetzwerkTheorie anstrebt, ist natürlich-wissenschaftlich-technisch-sozialer Wandel das Resultat der Verknüpfung heterogener Entitäten zu neuen oder veränderten Netzwerken. Prozesse des Netzwerkbildens sind demnach in dem Maße erfolgreich, in dem es den beteiligten Entitäten gelingt, sich wechselseitig dazu zu bringen, dass sie sich in einer aufeinander abgestimmten Weise zueinander verhalten. Solche Prozesse beruhen stets auf einer doppelten Innovation: der Einrichtung oder Veränderung von Beziehungen zwischen den Komponenten des entste-
2
Vergleiche die „ANT resource home page“, www.lancs.ac.uk/fass/centres/css/ant/antres.htm, auf der akteurnetzwerk-theoretische Veröffentlichungen bis zum Jahre 2000 aufgeführt sind.
3
Der sogenannte Berliner Schlüssel, ist ein Schlüssel, der an beiden Enden jeweils einen Bart hat und dafür keinen Griff besitzt. Nachdem man mit einem solchen Schlüssel das zugehörige Schloss aufgeschlossen hat, ist es nicht möglich, den Schlüssel wieder herauszuziehen. Vielmehr muss man den nun gefangenen Schlüssel auf die andere Seite der Tür durchschieben. Jetzt kann man die Tür von der anderen Seite her zuschließen – deshalb der zweite Bart. Erst danach gibt das Schloss den Schlüssel wieder frei. Dieses Schließsystem war im 20. Jhdt. an den Eingangstüren vieler Berliner Mietshäuser angebracht, man findet es vereinzelt bis heute. Es diente dazu zu verhindern, dass nachlässige Mieter die Eingangstür nach Benutzung unverschlossen hinterlassen (vgl. Latour 1992: 252f.; 1996a: 37ff.).
Akteur-Netzwerk-Theorie
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henden Netzwerks und der Konstruktion oder Veränderung der Komponenten selbst. Im Prozess des Netzwerkbildens wird die Identität der Entitäten ebenso wie die Art und Weise ihrer wechselseitigen Relationierung zu einem möglichen Gegenstand der Neubestimmung oder Modifikation: Die Eigenschaften und Verhaltensweisen der beteiligten belebten oder unbelebten Natur, die der involvierten technischen Artefakte und die der betreffenden menschlichen Akteure, sozialen Normen oder Institutionen – sie alle sind Gegenstand und Resultat der wechselseitigen Relationierungen im Netzwerk. Und zugleich werden sie allesamt als die (potenziellen) Subjekte solcher Prozesse betrachtet. Alle Entitäten, die auf Prozesse des Netzwerkbildens einwirken, bezeichnen Callon und Latour als Akteure – bzw. als Aktanten, Agenten oder Agenturen (zur Unterscheidung zwischen diesen Begriffen vgl. Schulz-Schaeffer 2008: 109ff., 141ff.). Akteure sind „entities that do things“ (Latour 1988a: 303; Latour 1992: 241), sodass „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur“ (Latour 2007: 123) ist. Oder stärker auf den Prozess des Netzwerkbildens bezogen: „Ein ‚Akteur‘ ist […] jegliche Entität, der es mehr oder weniger erfolgreich gelingt, eine Welt voller anderer Entitäten mit eigener Geschichte, Identität und Wechselbeziehungen zu definieren und aufzubauen“4 (Callon 1991: 140; 1992: 79). Diese Aktivität der Relationierung von Akteuren und durch Akteure im Prozess des Netzwerkbildens bezeichnen Callon und Latour als Übersetzung („translation“). Übersetzungen sind allgemein betrachtet alle (Um-)Definitionen der Identität, der Eigenschaften und der Verhaltensweisen irgendwelcher Entitäten, die darauf gerichtet sind, Verbindungen zwischen ihnen zu etablieren, also Netzwerke zu bilden (vgl. Callon 1986b: 203; 1991: 143). Dementsprechend ist „die Übersetzungs-Operation das essenzielle Prinzip der Zusammensetzung, der Verknüpfung, der Rekrutierung oder des enrolment“ (Latour 1991: 124). Netzwerkbilden ist aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie ein Prozess der Assoziierung heterogener Akteure. Um in diese ungewohnte Sichtweise einzuführen, werde ich im Folgenden zunächst drei Beispiele für Prozesse der heterogenen Assoziierung anführen, drei Beispiele, die inzwischen als ‚klassische‘ Illustrationen des Grundanliegens der AkteurNetzwerk-Theorie gelten dürfen (Abschnitt 2). Anschließend skizziere ich die konzeptionellen Grundlagen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Abschnitt 3) und diskutiere einige zentrale Kritikpunkte (Abschnitt 4). Abschließend stelle ich die Ausweitung der Akteur-NetzwerkTheorie zu einer allgemeinen Sozialtheorie in Grundzügen dar (Abschnitt 5).
4
Soweit nicht die deutschsprachigen Übersetzungen der Originalveröffentlichungen zitiert werden, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser.
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Drei Beispiele für die ungewohnte Sichtweise heterogener Assoziierung
2.1 Von Muscheln und Menschen In der Bucht von St. Brieuc hatte der Bestand an Kammmuscheln Anfang der 1970er Jahre durch Überfischung und natürliche Feinde deutlich abgenommen. Zu diesem Zeitpunkt lernten drei französische Forscher auf einer Studienreise in Japan eine Technik kennen, mit der es dort gelingt, bestimmte Kammmuscheln gezielt zu kultivieren: Die Muschellarven werden in Kollektoren verankert, die im Meer schwimmen, wachsen dort vor Fressfeinden geschützt heran und werden dann auf dem Meeresboden ausgesetzt. Den Prozess der Übertragung dieser Form der Kultivierung auf die in der Bucht von St. Brieuc heimische Spezies der Kammmuscheln rekonstruiert Callon (1986b) als einen Übersetzungsprozess, in dessen Verlauf durch Re-Definition der Identität und der Interessen der beteiligten Akteure ein Netzwerk wechselseitiger Verbindungen zwischen ihnen entsteht. Initiiert wird dieser Übersetzungsprozess von den drei Forschern. Ihr erster Schritt besteht darin, die Kammmuscheln, die Fischer und die eigenen Forscherkollegen als Akteure zu definieren, in deren Interesse das Vorhaben der Verankerung von Muschellarven in Kollektoren liegt. Sie argumentieren: „[W]enn die Kammmuscheln überleben wollen (unabhängig davon, welche Mechanismen diesen Impuls erklären), wenn ihre wissenschaftlichen Kollegen auf diesem Gebiet ihr Wissen zu erweitern hoffen (was auch immer ihre Motivation sein mag), wenn die Fischer ihre langfristigen ökonomischen Interessen zu wahren hoffen (was auch immer ihre Gründe sind), dann müssen sie erstens die Antwort auf die Frage ‚Wie verankern sich Kammmuscheln?‘ kennen und zweitens erkennen, dass ihre Allianz bezogen auf diese Frage jedem von ihnen zu Gute kommen kann“ (Callon 1986b: 205f.). Die Realisierung dieses zunächst hypothetischen Netzwerkes von Allianzen hängt davon ab, ob die beteiligten Akteure die ihnen zugeschriebenen Rollen auch tatsächlich übernehmen (enrolment). Im Prozess des enrolment müssen die drei Forscher „ihre längsten und schwierigsten Verhandlungen mit den Kammmuscheln führen“ (ebd.: 211). Die Muschellarven sind nicht umstandslos „willens, sich in den Kollektoren zu verankern“ (ebd.). Erst müssen die drei Forscher eine Reihe von Elementen ausschließen, „die den Allianzen, die die Forscher mit den Kammmuscheln zu schmieden wünschen, ablehnend gegenüberstehen“ (ebd.: 212): Fressfeinde, Parasiten, Urlauber, die an die Kollektoren stoßen, Meeresströmungen, die Turbulenzen verursachen, usw. „Mit den Kammmuscheln zu verhandeln heißt, zuerst mit den Meeresströmungen zu verhandeln“ (ebd.), mit den Parasiten usw. Das ist jedoch noch lange nicht alles. Um die Larven dazu zu bringen, ihre „Weigerung“ zu ankern (ebd.: 209, 219) aufzugeben und die Kollektoren als Unterschlupf zu „akzeptieren“ (ebd.: 205), müssen die drei Forscher zu „jeder Art von Zugeständnis“ (ebd.: 212) bereit sein, etwa hinsichtlich des Materials der Kollektoren oder der Höhe über dem Meeresboden, in der sie aufgehängt sind.
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Schließlich ist ein „modus vivendi“ gefunden, unter dessen Bedingungen „die Larven sich in signifikanter Weise verankern“ (ebd.: 213). Allerdings können die drei Forscher nicht allein entscheiden, was als signifikanter empirischer Beleg für die wissenschaftliche These gilt, dass sich die betreffende Spezies der Kammmuscheln in ihrem Larvenstadium verankert. Hier kommen die wissenschaftlichen Kollegen als eine weitere Gruppe von Akteuren ins Spiel. Angesichts unterschiedlichen Erfolgs des Verankerungsexperimentes wird diese These in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zunächst in Zweifel gezogen. Für das enrolment der Fachkollegen erweist sich der Verhandlungsprozess der drei Forscher mit den Kammmuscheln als wichtig. Der jeweilige Erfolg oder Misserfolg der verschiedenen Versuche der drei Forscher, die Muschellarven anzuwerben, überzeugt die Fachkollegen davon, dass die Verankerung der Larven nicht zufällig erfolgt bzw. nicht zufällig an bestimmten Kollektoren ausbleibt (vgl. ebd.: 213). Das enrolment der Fischer gelingt problemlos. Die ihnen zugeschriebene Rolle als zukünftige ökonomische Nutznießer des Netzwerks zur Kultivierung der Kammmuscheln übernehmen sie ohne Aushandlungsbedarf. Callon stellt zusammenfassend fest: „Dieses Beispiel zeigt, dass die Definition und Distribution von Rollen (Kammmuscheln, die sich verankern, Fischer, die überzeugt sind, dass die Kollektoren helfen können, die Bucht zu regenerieren, Kollegen, die an die Verankerung glauben) das Resultat multilateraler Aushandlungen sind, während derer die Identität der Akteure bestimmt und erprobt wird.“ (1986b: 214)
2.2 Vom Problem, Türen geschlossen zu halten An einem eisigen Februartag, so berichtet Latour (1988a: 298ff.; 1992: 229ff.; 1996a: 62ff.), war an der Eingangstür des Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte in Paris folgende handgeschriebene Notiz zu lesen: „Der Türschließer streikt. Schließen Sie um Gottes willen die Tür!“ Diese „Verschmelzung von industriellen Beziehungen, Religion, Werbung und Technik“ (ders. 1992: 227) ist die Art „techno-sozialer Verwicklungen“ (ders. 1988a: 309), um deren Beschreibung es der Akteur-Netzwerk-Theorie in Beispielen wie dem des Türschließers geht. Türen sind dazu da, um Räume oder Gebäude geschlossen halten und sie dennoch betreten oder verlassen zu können. Zu diesem Zweck bedarf es nicht nur einer Tür, die sich in ihren Angeln bewegen lässt, es bedarf auch disziplinierter Benutzer, die Türen hinter sich schließen. Betrachtet man allerdings „die Unzahl an Arbeiten, Neuerungen, Schilder und Beschuldigungen […], die das Schließen von Türen betreffen (zumindest nördlich des 45. Breitengrads)“ (Latour 1996a: 65), so wird deutlich, dass sich eine solche Nutzerdisziplin nicht umstandslos voraussetzen lässt. Eine Alternative ist, die Tätigkeit des Türschließens an einen gesonderten menschlichen Akteur, einen Portier oder Türsteher, zu delegieren. „Der Vorteil besteht darin, dass man jetzt nur noch einen einzigen und einzigartigen Menschen zu disziplinieren hat und die anderen in aller Ruhe ihren abwegigen Verhaltensweisen überlassen kann. […] Ein nicht-menschliches Wesen (die Scharniere) und ein menschliches (der Türsteher) haben das Dilemma Loch/Wand gelöst.“ (ebd.)
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Aber diese Lösung ist nicht ohne Probleme: Sie erzeugt Kosten, die sich nur große Hotels leisten können, und außerdem: „[W]enn dieser eine Bursche nicht zuverlässig ist, reißt die ganze Kette. Wenn er während seiner Arbeit einschläft oder anfängt herumzulaufen, kann nichts mehr dem Übel wehren: Die Tür bleibt offen.“ (Latour 1996a: 66) An diesem Punkt bietet sich eine weitere Alternative an: die Ersetzung der unzuverlässigen Menschen durch einen automatischen Türschließer, „durch eine von uns delegierte nichtmenschliche ‚Person‘, deren einzige Funktion im Öffnen und Schließen der Tür besteht“ (ebd.: 67). Der Vorteil dieser Lösung ist, dass nun nur noch einige nicht-menschliche Wesen diszipliniert werden müssen: „Ein Nicht-Mensch (die Scharniere) und ein weiterer Nicht-Mensch (der Türschließer) haben das Wand-Loch-Dilemma gelöst.“ (ders. 1992: 232) Allerdings haben automatische Türschließer ihre Tücken: „Jeder hat seine Erfahrungen mit einer Tür gemacht, an der ein Mechanismus mit einer überstarken Federung angebracht war, so daß einem die Tür wieder vor der Nase zuschlug.“ Solche Türschließer „spielen die Rolle sehr grobschlächtiger, ungebildeter und relativ stumpfsinniger Portiers“ (Latour 1996a: 68). Sie schreiben den Benutzern ein bestimmtes Benutzungsverhalten vor: Man muss derart ausgestattete Türen schnell durchschreiten und darf nicht zu dicht hinter einer anderen Person hergehen. Es entstehen lokale Benutzungskulturen. Externe Besucher aber, die diese nicht kennen, laufen Gefahr, sich blutige Nasen zu holen. Hier schafft die Hinzufügung eines weiteren nicht-menschlichen Delegierten Abhilfe, „eines hydraulischen Kolbens, der seine Energie geschickterweise aus den Besuchern zieht, die die Tür öffnen, sie einige Zeit aufbewahrt, um sie dann sanft wieder zurückzugeben, mit jener unerbittlichen Entschlossenheit, wie man sie von einem gut erzogenen englischen Butler kennt.“ (ebd.: 70) Aber auch der hydraulische Türschließer übt „eine unerfreuliche Selektion gegenüber manchen Bevölkerungsgruppen aus“, weil er „die Kraft einer gesunden erwachsenen Person braucht, um genügend Energie für das anschließende Schließen der Tür aufzuspeichern“ (ebd.). Dieses Beispiel ließe sich noch weiter ausspinnen. Man könnte etwa auf sensorgesteuerte Türöffner und -schließer verweisen, wie sie sich häufig an Kaufhaustüren finden. Worum es Latour geht, dürfe aber bereits an diesem Punkt deutlich geworden sein: Die Festlegung eines Akteurs auf ein Skript, eine Rolle bzw. eine Verhaltensweise (Inskription), erzeugt bestimmte Voraussetzungen für das Verhalten anderer Akteure (Präskription), und umgekehrt. Die wechselseitigen Verhaltenszuschreibungen und -erwartungen werden dadurch in einer Weise zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ausgetauscht, die es verbietet, fein säuberlich zwischen sozialen und technischen Faktoren zu unterscheiden: In seiner Eigenschaft als höflicher oder plumper Portier ist „der automatische Türschließer […] durch und durch ‚anthropomorph‘“ (Latour 1996a: 72), so wie umgekehrt wir als Benutzer „von nicht-menschlichen Türschließern geformt (sind) – wenn auch nur zu einem ganz geringen Teil unserer Existenz“ (ebd.: 73).
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2.3 Vom moralischen Gewicht des Schlüsselanhängers An Hotelschlüsseln sind in der Regel sperrige und schwere Schlüsselanhänger angebracht. Sie sollen die Hotelgäste davon abhalten, die Schlüssel beim Verlassen des Hotels mit sich herumzutragen und sie dann eventuell zu verlieren, sondern sie stattdessen dazu bewegen, ihren Schlüssel an der Rezeption abzugeben. „Diese kleine Neuerung illustriert sehr gut das Prinzip aller Forschung über Wissenschaft und Technik: Die Kraft mit der ein Sprecher eine Aussage aussendet, ist anfangs nie ausreichend, um den Weg, den diese Aussage nimmt, vorherzusagen; denn dieser Weg hängt davon ab, was die aufeinanderfolgenden Adressaten daraus machen werden.“ (Latour 1996a: 53; vgl. ders. 1991: 104) Man kann allerdings versuchen, eine Aussage in einer Weise zu „befrachten“, die es den Adressaten zunehmend schwerer macht, sich unvorhergesehen zu verhalten (vgl. Latour 1991: 105; 1996a: 54). Der Schlüsselanhänger ist ein Beispiel einer solchen „Befrachtung“ einer Aussage. Der Hotelier verfolgt das Handlungsprogramm, das Verlieren von Hotelschlüsseln zu verhindern. Zunächst begnügt er sich vielleicht mit der mündlichen Aufforderung, die Schlüssel beim Verlassen des Hotels an der Rezeption abzugeben: Er befrachtet die Aussage moralisch und versucht seine Gäste als moralischen Appellen zugängliche Schlüsselbenutzer zu definieren. Die Gäste können unterschiedlich reagieren: einige befolgen die Aufforderung, andere vergessen sie, wiederum andere verschließen sich der moralischen Zumutung. Die Gäste sind mithin in folgsame, renitente oder vergessliche Zeitgenossen übersetzt worden. Durch eine zweite Übersetzung, dadurch dass an unübersehbarer Stelle schriftliche Instruktionen angebracht wird, kann möglicherweise auch noch ein Teil der vergesslichen in folgsame (oder renitente) Gäste verwandelt werden. Weiterhin wird das Netzwerk jedoch durch die sich der moralischen Verpflichtung entziehenden Gäste destabilisiert. Die Hinzufügung des Schlüsselanhängers durchkreuzt die Gegenprogramme auch der meisten renitenten Gäste: „Die Gäste bringen nicht mehr ihre Zimmerschlüssel zurück; sie entledigen sich eines lästigen Dings, das ihre Taschen aufbläht. Nicht weil sie das Schild gelesen hätten oder besonders gut erzogen wären, kommen sie dem Wunsch des Hoteliers nach. Sie können nicht mehr anders. […] Im Übergang vom Zeichen zum Gußeisen ändert sich das Verhalten der Gäste von Grund auf. Sie handelten aus Pflicht; jetzt handeln sie aus Egoismus.“ (Latour 1996a: 55) Die „schwache Moral“ (ders. 1992: 227) der Menschen wird ergänzt durch die „hohe Moral“ (ebd.) des Schlüsselanhängers. Die „Häufung der Elemente – der Wille des Hoteliers, die Strenge seiner Wort, die Vielzahl seiner Schilder, das Gewicht seiner Schlüssel – erschöpft schließlich die Geduld gewisser Hotelgäste, die akzeptieren, mit dem Hotelier gemeinsame Sache zu machen, und ihre Schlüssel getreulich abzugeben.“ (Latour 1996a: 59)
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Nur noch wenige unverbesserliche Gäste stehen abseits. „Aber diese fortschreitende Umwandlung gilt nicht nur für die soziale Gruppe ‚Hotelgäste‘, sondern läßt sich auch auf die Schlüssel anwenden, und dies ist auch der Grund dafür, die Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen zu wahren. Denn wir sehen nun, wie indifferente und undifferenzierte Schlüssel zu ‚Hotelschlüsseln‘ werden, sehr spezifischen Objekten, die man jetzt ebenso sorgfältig unterscheiden kann, wie die ‚schlechten‘ und ‚zerstreuten‘ Gäste.“ (ebd.: 60)
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Konzeptuelle Grundlagen der Akteur-NetzwerkTheorie
Das auf den ersten Blick auffälligste Merkmal der voranstehenden Fallstudien ist deren ungewöhnliche Beschreibungssprache: Kammmuscheln werden als Akteure beschrieben, mit denen Verhandlungen geführt werden müssen, automatische Türschließer spielen die Rolle grobschlächtiger oder gut erzogener Portiers, Schlüsselanhänger besitzen eine überlegene Moral usw. Die hier zu Grunde liegende Begriffsstrategie von Callon und Latour lautet: „[W]ir benutzen jeden für Menschen gebräuchlichen Begriff auch für Nicht-Menschen“ (Callon/Latour 1992: 353). Eine zweite Begriffsstrategie besteht in einer Adaption von Begriffen aus der Semiotik (Aktant, Übersetzung, Skript, Inskription, Präskription usw.), die gleichfalls unterschiedslos zur Beschreibung sozialer, technischer oder natürlicher Ereignisse verwendet werden. Beide Begriffsstrategien dienen demselben Ziel: Es geht um die Etablierung eines Vokabulars aus „hybriden Begriffen, die die Unterscheidungen zwischen den wahrhaftig sozialen und menschenzentrierten Begriffen und den wahrhaftig natürlichen und objektzentrierten Repertoiren verwischen“ (ebd.: 347). Das Bestreben, „Begriffe zu vermeiden, die eine Unterscheidung zwischen dem Technischen und dem Sozialen voraussetzen“ (Akrich 1992: 206f.) oder auch zwischen Natur und Gesellschaft, ist Ausdruck der schon angesprochenen Beobachterperspektive der Akteur-NetzwerkTheorie: Bei der Analyse von Veränderungsprozessen müssen deshalb soziale, wissenschaftlich-technische und natürliche Faktoren gleichermaßen als abhängige Variable behandelt werden. Es ist unzulässig, einen dieser Faktoren als gegeben vorauszusetzen, um mit seiner Hilfe die anderen zu erklären. Es müssen deshalb auch solche Vorannahmen über Status und Wirkungsweise der jeweiligen Entitäten umgangen werden, die sich in der Alltagssprache oder in den fachdisziplinären Vokabularen finden. Für diese Forderung bietet die AkteurNetzwerk-Theorie eine theoretische und eine methodologische Begründung: In theoretischer Hinsicht präsentiert sich die Akteur-Netzwerk-Theorie als die konsequente Weiterführung und Radikalisierung des sozialkonstruktivistischen Ansatzes in der Wissenschafts- und Technikforschung. In methodologischer Hinsicht beansprucht sie, in einer Weise zu den Dingen selbst vorstoßen zu können, wie dies dem Beobachter, der von den herkömmlichen Unterscheidungen ausgeht, verborgen bleibt.
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3.1 Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Radikalisierung des Sozialkonstruktivismus Ausgangspunkt der sozialkonstruktivistischen Soziologie wissenschaftlichen Wissens ist die Kritik einer Form der soziologischen Beschäftigung mit Wissenschaft, die David Bloor als „Irrtumssoziologie“ bezeichnet (vgl. Bloor 1976: 8; ähnlich bereits Berger/Luckmann 1969: 13): Wissenschaftliche Wahrheit wird demnach auf Faktoren zurückgeführt, die außerhalb des Bereichs des Sozialen liegen, etwa auf die Korrespondenz einer wissenschaftlichen Aussage mit der Natur. Sie ist soziologischer Erklärung damit unzugänglich. Nur bei wissenschaftlichen Irrtümern wird der Einfluss sozialer Umstände in Betracht gezogen. Im Interesse einer Soziologie, die nicht mehr nur den sozialen Kontext, in dem sich Wissenschaftler bewegen, sondern die Entstehung der Inhalte wissenschaftlicher Forschung zu erklären beansprucht, setzt Bloor dieser asymmetrischen Berücksichtigung des Sozialen ein Symmetrieprinzip entgegen. Er fordert Erklärungen, die „unparteiisch mit Blick auf Wahrheit und Unwahrheit, Rationalität und Irrationalität, Erfolg und Misserfolg sein sollen“. Und sie sollen „in ihrem Erklärungsstil symmetrisch sein. Die gleichen Arten von Ursachen sollen, sagen wir, wahre und falsche Überzeugungen erklären.“ (Bloor 1976: 5) Die Arten von Ursachen, die Bloor und die an seine Überlegungen anknüpfende sozialkonstruktivistische Forschung im Blick hat, sind soziale Faktoren. Auf dieser Grundlage wird Wissenschafts- und Technikentwicklung als Prozess der sozialen Aushandlung und Durchsetzung von Bedeutungen erklären. An diesem Punkt setzt die Kritik der Akteur-Netzwerk-Theorie an: Auch das sozialkonstruktivistische Programm beruhe auf einer grundlegenden Asymmetrie der Erklärung. Ihre Vertreter „tun so, als ob dieser Agnostizismus gegenüber Naturwissenschaft und Technik nicht ebenso gegenüber der Gesellschaft anwendbar wäre. Für sie ist die Natur ungewiss, die Gesellschaft aber nicht.“ (Callon 1986b: 197) Der sozialkonstruktivistische Ansatz halte mithin die eigene Vorgehensweise nicht konsequent durch. Dies beabsichtigt die Akteur-NetzwerkTheorie nachzuholen, indem sie eine Erweiterung des Bloorschen Symmetrieprinzips vorschlägt: „[D]ieselben Argumente wie gegenüber der Natur müssen in symmetrischer Weise auch gegenüber der Gesellschaft in Anschlag gebracht werden. Wie können wir so viele Vorsichtsmaßnahmen treffen, die darauf gerichtet sind, nicht direkt zu glauben, was Wissenschaftler und Ingenieure über Objektivität und Subjektivität sagen, und ohne weiteres glauben, was andere Wissenschaftler (sozialwissenschaftliche diesmal) über Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sagen? An diesem Punkt besteht großer Bedarf nach einer Symmetrieregel, die der Gesellschaft keine Privilegien zubilligt, die der Natur verweigert werden.“ (Latour 1987: 144) Nach der Ansicht von Callon und Latour erkauft der sozialkonstruktivistische Ansatz die Kritik an der vermeintlichen innerwissenschaftlichen Logik des wissenschaftlichen Fortschritts (insbesondere am naturwissenschaftlichen Realismus) bzw. an der vermeintlichen innertechnischen Logik der Technikentwicklung (Technikdeterminismus) mit einer spiegelbildlichen Engführung, der des sozialen Realismus. Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip
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der Akteur-Netzwerk-Theorie zielt darauf, beide Formen asymmetrischen Erklärens zu vermeiden: „Unser allgemeines Symmetrieprinzip lautet somit, nicht zwischen natürlichem Realismus und sozialem Realismus abzuwechseln, sondern Natur und Gesellschaft als gemeinsames Resultat einer anderen Aktivität zu begreifen, die für uns interessanter ist. Wir nennen sie Netzwerkbilden“ (Callon/Latour 1992: 348). Korrespondierend mit diesem allgemeineren Symmetrieprinzip muss dann auch die Forderung nach Unparteilichkeit erweitert werden: „Der Beobachter ist nicht allein gegenüber den wissenschaftlichen und technischen Argumenten unparteilich, die die Protagonisten einer Kontroverse benutzen, er enthält sich auch der Zensur, wenn die Akteure über sich selbst oder ihre soziale Umwelt sprechen.“ (Callon 1986b: 2000) Die Beschreibungssprache der Akteur-Netzwerk-Theorie, also die Verwendung eines Vokabulars, das unterschiedslos auf die technischen, sozialen und natürlichen Aspekte des jeweiligen Untersuchungsfeldes angewendet werden kann, ist der Versuch der Operationalisierung dieser verallgemeinerten Symmetrie und Unparteilichkeit (vgl. ebd.: 200f.).
3.2 Die Akteur-Netzwerk-Theorie als Methodologie Callon und Latour beanspruchen, mit Hilfe des verallgemeinerten Symmetrieprinzips eine entscheidende konzeptuelle Inkonsistenz des sozialkonstruktivistischen Ansatzes behoben zu haben. Dennoch wäre ihre Rezeption kaum der Mühe wert – außer vielleicht für eingefleischte Wissenschafts- und Techniksoziologen, würde sich ihr Gewinn darin erschöpfen, konsequenter zu symmetrisieren als ihre Vorgänger. Sie beansprucht allerdings mehr als nur das, nämlich einem empirischen Befund von erheblicher Bedeutung zur Geltung zu verhelfen: Die sozialkonstruktivistischen Forscher, „die auf mit Interessen ausgestattete soziale Gruppen verweisen, um zu erklären, wie sich eine Idee verbreitet, eine Theorie akzeptiert wird, oder eine Maschine verworfen wird, sind sich nicht bewusst, dass genau die Gruppen und genau die Ideen, die sie als Ursachen in ihren Erklärungen anführen, die Folgen einer künstlichen Extraktion und Reinigung einer Handvoll von Verbindungen aus diesen Ideen, Theorien oder Maschinen sind. Der Sozialdeterminismus kämpft mutig gegen den Technikdeterminismus, während keiner von beiden existiert.“ (Latour 1987: 141; vgl. auch Latour 1988a: 307; Callon/Latour 1992: 348). Dem eigenen Erklärungsanspruch zufolge reagiert die Akteur-Netzwerk-Theorie mithin nicht allein auf den „Köder der Konsistenz“ (Collins/Yearley 1992a: 309), sondern auf einen grundlegenden empirischen Tatbestand: dass menschliche und nicht-menschliche Wesen zugleich Urheber und Produkte ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander sind. Es gilt deshalb, die Akteur-Netzwerk-Theorie als einen methodologischen Ansatz näher in den Blick zu nehmen, der darauf zielt, genau dies der Beobachtung zugänglich zu machen.
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Als Methodologie strebt die Akteur-Netzwerk-Theorie eine internalistische Beschreibung an, eine Form der Befassung mit der Empirie, die sich allein von den im Netzwerk beobachteten Akteuren bzw. Aktanten und deren Verbindungen und Übersetzungen leiten lässt: „In einem Universum von Innovationen, die allein durch die Verbindungen und Ersetzungen von Aktanten definiert sind, und von Aktanten, die allein durch die Vielzahl der Erfindungen definiert sind, zu denen sie sich verschwören, ist die ÜbersetzungsOperation das essenzielle Prinzip der Zusammensetzung, der Verbindung, der Rekrutierung oder des enrolment. Weil aber kein externer Standpunkt mehr existiert, von dem aus wir das Maß an Realität oder Erfolg einer Innovation bestimmen könnten, können wir nur zu einer Bewertung gelangen, indem wir die vielen Standpunkte der Akteure aufeinander beziehen.“ (Latour 1991: 124) Diese internalistische Beschreibung des Netzwerkbildens soll durch Kombination zweier Beobachtungsperspektiven erreicht werden. Aus der einen Perspektive „folgt der Beobachter den Akteuren, um herauszufinden, wie diese die unterschiedlichen Elemente definieren und in Verbindung bringen, mit denen sie ihre Welt aufbauen und erklären“ (Callon 1986b: 201). Aus der anderen Perspektive folgt der Beobachter den Übersetzungen, durch die die Akteure definiert werden (vgl. Latour 1991: 129). Der Übersetzungsbegriff macht es, so Latour, möglich, dass „wir unsere Analyse nicht mit Aktanten mit festen Grenzen und festgelegten Interessen beginnen müssen. Stattdessen können wir dem Weg folgen wie ein Aktant B einem Aktanten A eine feste Grenze zuschreibt, wie B A Interessen oder Ziele zuweist, der Definition von Grenzen und Zielen, die A und B teilen und schließlich der Verteilung von Verantwortung zwischen A und B hinsichtlich ihres gemeinsamen Handelns.“ (ebd.) Die Akteure bzw. Aktanten eines Netzwerks müssen in der empirischen Beobachtung zugleich als Subjekt und als Resultat des Netzwerkbildens analysiert werden. Sie lassen sich dementsprechend stets nur vorbehaltlich ihrer Veränderbarkeit als Einheiten betrachten: „Innovationen zeigen uns, dass wir uns nie in einer Welt befinden, die mit Akteuren angefüllt ist, denen feste Konturen zugesprochen werden können. Es ist nicht nur so, dass das Maß ihrer Befestigung an eine Aussage variiert; ihre Kompetenz und sogar ihre Definition kann umgeformt werden.“ (ebd.: 109) Die Akteure sind in ihrer Identität in jedem Augenblick von dem Verhalten anderer Akteure des Netzwerkes abhängig, dessen Elemente sie sind. D. h. nicht nur die Veränderung, auch die Aufrechterhaltung ihrer Existenz bedarf kontinuierlicher Bemühungen (vgl. Latour 1987: 137). Aussagen über Akteure als Subjekte von Übersetzungen sind gleichsam Momentaufnahmen im Prozess des Netzwerkbildens. Denn im nächsten Moment können diese Akteure bereits selbst in einer Weise von Übersetzungen betroffen sein, dass sie nicht länger dieselben sind. Die Kunst der empirischen Beobachtung von Akteur-Netzwerken besteht deshalb darin, beständig hin- und herzuwechseln zwischen der Beobachtung von Akteuren, die durch Über-
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setzungen Innovationen bewirken, und der Beobachtung von Übersetzungen, die Akteure verändern oder stabilisieren. Die Beobachtungsmethode besteht also darin, „das Wesen von Innovationen mittels der Existenz der aufeinander folgend oder gleichzeitig an ihnen beteiligten Aktanten zu definieren, und dann die Beobachtungsrichtung umzudrehen, um die Aktanten durch die aufeinander folgenden Innovationen zu definieren, in denen sie auftauchen“ (Latour 1991: 122).
3.3 Der Prozess der Erzeugung konvergenter und irreversibler Netzwerke Warum gelten bestimmte wissenschaftliche Theorien, warum funktionieren bestimmte Techniken, und warum scheitern andere Bestrebungen in Wissenschaft und Technik? Und allgemeiner: Warum kommen manche Veränderungen zustande und andere nicht? Warum bleibt manches, wie es ist, und anderes nicht? Die Antwort der Akteur-Netzwerk-Theorie lautet: Wir können, indem wir den Akteuren bzw. den Übersetzungen folgen, nachzeichnen, auf welche Weise es Akteuren in dem einen Fall gelingt, durch geeignete Übersetzungen ein Akteur-Netzwerk zusammenzubringen und aufrechtzuerhalten, das diesen Erfolg zeitigt, und inwiefern im anderen Fall der Widerstand von Akteuren, sich in der erforderlichen Weise (re-)definieren zu lassen, den Aufbau eines entsprechenden Netzwerks verhindert hat. Der Erfolg des Netzwerkbildens beruht auf zwei Faktoren: Damit Netzwerke entstehen können, die zumindest zeitweilig stabil sind, müssen die Übersetzungen zum einen ein gewisses Maß an Konvergenz, zum anderen ein gewisses Maß an Irreversibilität des Netzwerkes bewirken. Konvergenz bedeutet, dass sich die Akteure wechselseitig so verhalten, wie sie es voneinander erwarten, dass also die wechselseitigen Präskriptionen als Inskriptionen wirksam werden. Irreversibilität bedeutet, dass die Akteure in ihrem Verhalten und ihren Beziehungen zueinander stabil sind, mithin eine gewisse Resistenz gegenüber weiteren Übersetzungen aufweisen (vgl. Callon 1991: 144ff.; Latour 1987: 108ff.). Beides sind Aspekte des sogenannten black-boxing eines Netzwerks: „Wenn ein Netzwerk in hohem Maße konvergent und irreversibilisiert ist, kann es mit einer Blackbox verglichen werden, deren Verhalten unabhängig von ihrem Kontext bekannt und vorhersehbar ist.“ (Callon 1991: 152) Konvergenz „verweist auf die Art und Weise, in der die Aktivitäten von Akteuren trotz deren Heterogenität zusammenpassen“ (Callon 1991: 148, vgl. ebd.: 144). Sie bezeichnet das Maß der durch den Übersetzungsprozess erzeugten wechselseitigen Verhaltensabstimmung. Je größer die Konvergenz eines Netzwerkes ist, „desto mehr arbeiten seine Akteure zusammen und desto weniger zweifelhaft ist ihr Status als Akteure“ (ebd.: 148). In einem konvergenten Netzwerk ist jeder Akteur „in der Lage, die Fertigkeiten innerhalb dieses Netzwerkes zu identifizieren und zu mobilisieren, ohne in kostspielige Anpassung, Übersetzung oder Entschlüsselung hineingezogen zu werden. […] Ein vollständig konvergentes Netzwerk wäre eine Art Turm von Babel. Alle würden ihre eigene Sprache sprechen, aber alle anderen wür-
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den sie verstehen. Jeder würde spezifische Fertigkeiten besitzen, aber jeder andere wüsste sie zu benutzen.“ (ebd.). Dies ist jedoch ein Grenzfall, da – wie bereits die obigen Fallbeispiele gezeigt haben – die Erzeugung von Konvergenz ausgesprochen aufwendig ist: „Hochgradig konvergente Netzwerke entwickeln sich erst nach langen Phasen von Investition, intensiver Anstrengung und Koordination. Es gibt viele andere, die nur schwach konvergent sind – Netzwerke, in denen die Akteure sowohl feststellen müssen, dass ihr Status ständig fraglich ist, wie auch, dass es schwierig (wenngleich nicht unmöglich) ist, andere Teile des Netzwerks zu mobilisieren.“ (ebd.) Irreversibilität bezeichnet die Widerständigkeit der Akteure und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen gegenüber Veränderungen, die das Akteur-Netzwerk schwächen oder anders ausgedrückt: die „Unmöglichkeit der Rückkehr zu konkurrierenden Übersetzungen“ (Callon 1991: 151). Irreversibilität ist ebenso wie Konvergenz eine Eigenschaft, die sich nur relational bestimmen lässt. Sie „nimmt in dem Maße zu, in dem jedes Element […] in ein Bündel wechselseitiger Beziehungen eingeschrieben ist. In derart eng gekoppelten Netzwerken führt jeder Versuch, ein Element durch Um-Definition zu verändern, zu einem allgemeinen Prozess der Um-Übersetzung.“ (ebd.: 150) Das Maß an Irreversibilität eines Akteurs resultiert mithin aus seiner Involviertheit in das Beziehungsgeflecht des Netzwerkes, so wie umgekehrt die Irreversibilität des Netzwerks aus dem Maß an Irreversibilität der Akteure und Übersetzungen resultiert, die es konstituieren. Der wesentliche Mechanismus der Erzeugung von Konvergenz und Irreversibilität ist der Prozess des enrolment, den ich am Beispiel der Kammmuscheln bereits dargestellt habe. „Enrolment […] bezeichnet die Art und Weise, in der ein Satz zueinander in Beziehung stehender Rollen definiert und Akteuren zugeschrieben wird, die sie akzeptieren.“ (Callon 1986b: 211) Die Verbindungen eines angestrebten Netzwerkes „halten nur dann zusammen, wenn die verschiedenen betroffenen Entitäten […] die ihnen zugeschriebenen Rollen akzeptieren“ (ders. 1987: 93), wenn sie also den erforderlichen (Re-)Definitionen entweder keinen Widerstand entgegensetzen oder dazu gebracht werden können, ihren Widerstand aufzugeben, oder aber überhaupt außer Stande sind bzw. gesetzt werden, sich ihnen zu entziehen. Konvergenz und Irreversibilität sind mithin das Ergebnis einer wechselseitigen Ausrichtung von Akteuren aneinander: „Ein erfolgreicher Übersetzungsprozess erzeugt auf diese Art einen gemeinsam geteilten Raum, Äquivalenz und Kommensurabilität.“ (ders. 1991: 145) Es gibt in der Akteur-Netzwerk-Theorie verschiedene Versuche, den Prozess des enrolment weiter zu spezifizieren, etwa ihn als Zusammenhang von Inskriptionen und Präskriptionen zu rekonstruieren. Übersetzungen sind demnach Einwirkungen mit Folgewirkungen, weshalb der Prozess der Erzeugung von Übereinstimmung mehrstufig und multilateral verläuft. enrolment umfasst mithin eine Abfolge von Aushandlungen zwischen unterschiedlichen Akteuren, während derer Interessen und Ziele formuliert und verändert, Handlungsprogramme aufgestellt und modifiziert, Gegenprogramme einbezogen oder ausgeschaltet, Koalitio-
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nen gebildet oder aufgelöst und Aktanten neu eingeführt, umdefiniert oder entfernt werden (vgl. Callon 1986b: 211ff.; Latour 1987: 108ff.; 1992: 247). Eine andere Variante der näheren Bestimmung des enrolment besteht darin, Netzwerkbilden als Zusammenhang von Simplifikation und Juxtaposition zu analysieren (vgl. Callon 1987: 93ff.). Juxtaposition, ein weiterer sprachwissenschaftlicher Begriffsimport,5 bezeichnet die aufeinander bezogene Positionierung der Elemente eines Netzwerks. In konvergenten Netzwerken existiert jedes Element nur im Kontext der anderen Elemente. Durch Juxtaposition werden die Grenzen jedes Elementes definiert und deren jeweilige Bedeutung festgelegt. Die wechselseitige Bezogenheit der Elemente ist damit zugleich ein wesentlicher Faktor der Irreversibilität des Netzwerkes. Aus den Juxtapositionen zieht das Netzwerk „seine Kohärenz, Konsistenz und die Beziehungsstrukturen zwischen den Komponenten, aus denen es besteht“ (ebd.: 95). Simplifikation verweist auf den Umstand, dass sich Übersetzungen und Verhaltensabstimmungen in der Regel nur auf einen begrenzten Ausschnitt derjenigen Eigenschaften und Verhaltensweisen der involvierten Akteure richten, die für den jeweiligen Prozess des Netzwerkbildens von Belang sind. Die Akteure eines Netzwerks haben eine stark vereinfachte Wahrnehmung voneinander, sie reduzieren einander im Übersetzungsprozess auf wenige Parameter, und nur auf diese Parameter richten sich die jeweiligen Verhaltenszuschreibungen und -erwartungen. So ist es etwa im Fall des automatischen Türschließers gleichgültig, welche Persönlichkeitsmerkmale die Benutzer besitzen, solange diese sich nicht auf das Benutzungsverhalten auswirken. Simplifikation und Juxtaposition bedingen einander: Simplifikation ist die Voraussetzung dafür, dass die Akteure ein Bild voneinander gewinnen, das es ihnen ermöglicht, sich in einer bestimmten Art und Weise zueinander in Beziehung zu setzen. Diese Bilder voneinander spiegeln aber zugleich die Art und Weise wider, in der sich die Akteure zueinander in Beziehung setzen (vgl. Callon 1987: 95). Die Erklärung des Prozesses der Erzeugung von Konvergenz und Irreversibilität führt mithin wiederum zu jener Zirkularität der Argumentation, die der Akteur-Netzwerk-Theorie in ihrem Bemühen um eine voraussetzungslose und nichtreduktionistische Beschreibung und Erklärung ihres Untersuchungsgegenstandes eigen ist (Latour 1988c: 163).
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Kritische Anmerkungen zu den konzeptionellen Grundlagen
Verschiedentlich ist den Protagonisten der Akteur-Netzwerk-Theorie – und allen voran Latour – vorgehalten worden, sie seien allzu verliebt in paradoxe Formulierungen und begriffliche Neuschöpfungen. Es sei deshalb schwer, ein deutliches Bild des Ansatzes zu gewinnen, zumal vielfach überhaupt unklar sei, wie ernst einzelne Aussagen gemeint seien (vgl. Col-
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Sprachwissenschaftlich bezeichnet Juxtaposition Wortbildung durch Zusammenfügung ursprünglich selbstständiger Wörter.
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lins/Yearley 1992a: 317). Diese Kritik ist sicherlich zutreffend, soll hier aber nicht weiter verfolgt werden. Andere, ebenfalls berechtigte Einwände beruhen darauf, im Gegensatz zur Akteur-Netzwerk-Theorie an bestimmten, exklusiv für menschliche bzw. soziale Zusammenhänge reservierten Konzepten festhalten zu wollen (etwa an dem der Intentionalität, vgl. Pickering 1993: 565f.). Allerdings verleitet eine solche Kritik an den Anfangsannahmen des kritisierten Ansatzes leicht dazu, dessen eigene Erklärungsansprüche gar nicht erst Ernst zu nehmen. Im Folgenden beschränke ich mich auf eine dritte Form, die der theorieimmanenten Kritik, und weise auf diesem Weg auf einige Probleme des theoretischen und empirischen Vorgehens der Akteur-Netzwerk-Theorie hin.6
4.1 Das Selbstanwendungsproblem Die von der Akteur-Netzwerk-Theorie propagierte Vorgehensweise der empirischen Forschung beruht auf der Forderung, auf sämtliche apriorischen, also der Beobachtung vorausgesetzten Annahmen zu verzichten. Die theoretische Begründung dieser Forderung stammt wesentlich aus der Kritik des sozialkonstruktivistischen Ansatzes. Die Argumentationsfigur dieser Kritik besteht darin, die Aussagen des sozialkonstruktivistischen Ansatzes reflexiv zu wenden und dabei einen Selbstwiderspruch festzustellen: Wenn wissenschaftliche Aussagen Konstrukte der an ihrer Entstehung beteiligten Wissenschaftler sind, dann muss Gleiches auch für die wissenschaftlichen Aussagen des sozialkonstruktivistischen Beobachters gelten, die von ihm als Explanans verwendeten sozialen Faktoren müssen mithin in gleicher Weise als erklärungsbedürftig angesehen werden. Das Kernproblem dieses Typs von Kritik ist, dass sie ebenfalls wieder auf sich selbst anwendbar ist und damit in einen reflexiven Regress führt (vgl. Hamlin 1992: 515f.). Wie Collins und Yearley (1992b: 379) vorgeführt haben, gilt dies auch für die Kritik der AkteurNetzwerk-Theorie am sozialkonstruktivistischen Ansatz. Auch das allgemeine Symmetrieprinzip, so ihr ironischer Vorwurf, beruhe auf einer Asymmetrie, die es zu beheben gelte. Die oben im Abschnitt 3.1 zitierte Formulierung von Callon und Latour (1992: 348) parodierend schlagen sie die folgende weiterreichende Symmetrisierung vor: „Unser Hypersymmetrieprinzip lautet, nicht zwischen (natürlichem und sozialem) Realismus und ‚Netzwerkismus‘ abzuwechseln, sondern beides als gemeinsames Resultat einer anderen, für uns interessanteren Aktivität zu begreifen, die wir Hyperaktivität nennen.“ (Collins/Yearley 1992b: 379) Es ist klar, dass diese zunehmende Symmetrisierung so lange weitergeführt werden kann, wie der Zielbegriff („Netzwerkbilden“, „Hyperaktivität“) überhaupt noch etwas im Gegensatz zu etwas anderem bezeichnet. Latour ist sich der „selbstmörderischen Attitüde“ (1988c: 168f.) des reflexiven Argumentes durchaus bewusst, meint jedoch, sie „infrareflexiv“ unterlaufen zu können. Unter
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Ausführlichere kritische Auseinandersetzungen mit der Akteur-Netzwerk-Theorie finden sich in SchulzSchaeffer (2000: 102ff.; 2006; 2008).
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Infrareflexivität versteht er die bereits beschriebene Vorgehensweise, den Akteuren bzw. den Übersetzungen ohne eigene Vorannahmen zu folgen. Die Devise lautet, zu den Dingen selbst vorzustoßen und einfach aufzuschreiben, wie das Leben so spielt (vgl. ebd.: 170ff.). „Infrareflexivität ist das Programm […], das den Wissenden von der Bühne stößt. Weg mit Kant! Weg mit der Kritik!7 Lasst uns zu der nach wie vor unbekannten und verachteten Welt zurückkehren.“ (ebd.: 173) Infrareflexivität, darin kann man Malcom Ashmore nur zustimmen, „wäre wirklich sehr einfach, wäre sie nicht völlig unmöglich“ (1989: 60). Sie kann das Selbstanwendungsproblem auch nicht lösen. Denn die infrareflexive Forderung nach nicht-reduktionistischen Erklärungen wäre erst dann erfüllt, wenn die Aussagen der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht selbst das Resultat von Prozessen des Netzwerkbildens wäre. Wie Latour ausdrücklich konstatiert, ist jedoch das Gegenteil der Fall: „In meinen Bemühungen, bestimmte Resultate im Keim zu ersticken und andere zu ermutigen, treibe auch ich alle verfügbaren Alliierten zusammen“. (1988c: 171) Wenn also die Veränderung oder Aufrechterhaltung jedes Zusammenhanges das Resultat heterogener Assoziierung ist, also durch Netzwerkbilden zu Stande kommt, dann gilt das auch für die Anfertigung und Etablierung wissenschaftlicher Beschreibungen und Erklärungen. Dies gilt dementsprechend auch für akteur-netzwerktheoretische Beschreibungen und Erklärungen. Folglich ist auch die Akteur-Netzwerk-Theorie ein reduktionistisches und asymmetrisches Unterfangen. Um dieser Konsequenz zu entgehen, müsste sie sich selbst als eine Form wissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung destruieren.8 Mit Blick auf das Selbstanwendungsproblem ist das allgemeine Symmetrieprinzip der Akteur-Netzwerk-Theorie mithin um nichts besser begründet als das Symmetrieprinzip Bloors. Auch die Aussagen der Akteur-Netzwerk-Theorie beruhen auf Vorannahmen, die nicht zur Disposition stehen, soll nicht zugleich auch der Ansatz selbst zur Disposition stehen: auf der Annahme, dass „Wissenschaft“, „Technik“ und „Gesellschaft“ – oder genauer: die Assoziationen heterogener Akteure, die sich hinter diesen Begriffen verbergen – das Resultat von Prozessen des Netzwerkbildens sind, auf der Annahme, dass die Aktivität des Netzwerkbildens in der wechselseitig aufeinander gerichteten (Re-)Definition der involvierten Akteure besteht, sowie auf der Annahme, dass alle Elemente eines Netzwerkes inklusive natürlicher oder technischer Gegebenheiten in diesem Sinne als Akteure am Aufbau des Netzwerks beteiligt sind.
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Das heißt: Weg mit den apriorischen Kategorien des Erkenntnisvermögens, wie sie Kants Kritik der reinen Vernunft vorsieht.
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Dies hat John Law, der bekannteste angelsächsische Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie, in der Tat propagiert. Er befürworte die Akteur-Netzwerk-Theorie, so schreibt er, „weil sie sich in Auflösung befindet. Weil sie sich selbst verraten hat. Weil sie sich selbst von Zeichen zu Rauschen gewandelt hat. Weil sie nicht mehr existiert.“ (1996: 11) Anders als Callon (1999) hat auch Latour (1999) eine Zeit lang eine ähnliche Haltung der reflexiven Dekonstruktion eingenommen. Inzwischen aber ist er bereits bei der Dekonstruktion der Dekonstruktion angelangt: Akteur-Netzwerk-Theorie sei „ein Name, der so ungeschickt, verwirrend und unsinnig ist, dass er beibehalten zu werden verdient“ (Latour 2007: 23), weshalb er seine 1999 geäußerte Begriffskritik zurücknehme (vgl. ebd.: 24, Anm. 10).
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Ist es aber kein Gebot größerer Theoriekonsistenz, auf allgemeine Symmetrie zu setzen, rückt die Frage ihrer Nützlichkeit für die empirische Beobachtung in den Mittelpunkt (vgl. Collins/Yearley 1992a: 308). Die Frage ist dann: Worin besteht der empirische Beobachtungsgewinn, wenn man auf Beobachtungskategorien verzichtet, die die Unterscheidung natürlich/technisch/sozial voraussetzen, und welche spezifischen Nachteile und Begrenzungen bringt diese Form der Beobachtung mit sich?
4.2 Das Problem des Öffnens von Blackboxes Wenn als Resultat einer Abfolge von Übersetzungen ein zeitweilig stabiler Zustand entstanden ist, schüttelt das resultierende Netzwerk seine Entstehungsgeschichte für gewöhnlich ab, Identitäten und Beziehungsmuster der Aktanten gelten dann als selbstevident (vgl. Callon 1991: 145), „die meisten Handlungen werden zu stillschweigenden, gewohnten, (in menschliche oder nichtmenschliche Körper) eingebauten Handlungen – was die Tätigkeit des Analytikers sehr viel schwerer macht“ (Latour 1988a: 308). Die Aktanten bzw. deren Netzwerke werden zu Blackboxes, zu identifizierbaren und in ihrem Verhalten prognostizierbaren Handlungseinheiten (vgl. Latour 1987: 131). Netzwerke oder deren Elemente in ihrer Gestalt als Blackboxes zu analysieren, ist mithin eine Ex-post-Betrachtung, die sowohl die Prozesse ihres Gewordenseins wie auch die Bedingungen der Aufrechterhaltung ihres Soseins ausblendet. Und in genau diesem Sinne sind auch Beschreibungen, die bestimmte Entitäten als soziale Akteure, Normen, Interessen oder Gruppen, andere als technische Artefakte und wiederum andere als natürliche Phänomene auffassen, Ex-post-Betrachtungen. Das zentrale empirische Anliegen der Akteur-Netzwerk-Theorie ist es, solche Blackboxes rekonstruktiv zu öffnen, also die Bedingungen ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung der Beobachtung zugänglich zu machen. Die Stärke der Akteur-Netzwerk-Theorie wird immer dann sichtbar, wenn sie über mehrere Transformationsschritte hinweg zeigen kann, wie wissenschaftlich, technische oder soziale Konstruktionsleistungen sozial, technisch oder natürlich imprägniert werden, wie Sozialität durch Wissenschaft, Technik oder Natur (oder Sozialität) geformt ist, auf welche Weise diese wiederum sozial (oder technisch oder natürlich) konstruiert sind usw. Es ist auffällig, dass der Akteur-Netzwerk-Theorie dies in ihren gedankenexperimentellen Rekonstruktionen (also etwa dem des Türschließers und des Schlüsselanhängers) regelmäßig besser zu gelingen scheint als in den empirischen Fallstudien. Dafür gibt es einen Grund: In ihrem Bemühen um nicht-reduktionistische Beschreibungen geht die Akteur-NetzwerkTheorie davon aus, dass alle Elemente und Beziehungen innerhalb eines entstehenden Netzwerkes Ergebnis und möglicher Gegenstand von Übersetzungen innerhalb dieses Netzwerkes sind. Im Gedankenexperiment lässt sich diese Betrachtungsweise durchhalten, etwa mit Hilfe kontrafaktischer Überlegungen. Ein Beispiel dafür ist Latours Überlegung, Türen würden die Tätigkeit substituieren, ein Loch in eine Wand zu schlagen, das Loch zu durchqueren und es dann wieder zuzumauern (vgl. Latour 1988a: 298f.). Solche gedankenexprimentellen Überlegungen sind aber nicht unbedingt empirisch gehaltvoll: Außer bei Bankeinbrüchen oder Gefängnisausbrüchen werden Räume in aller Regel nicht auf diese Weise betreten oder verlassen. Es ist mit anderen Worten keineswegs gesagt, dass die Möglichkeit, Akteure
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umzudefinieren, gegenüber allen Akteuren eines Netzwerks gleichermaßen und in gleichem Umfang gegeben ist – jedenfalls, wenn man von Möglichkeiten spricht, die für die betreffenden Akteuren im Netzwerk praktisch wahrnehmbar sind und von ihnen tatsächlich wahrgenommen werden, und nicht nur von solchen, die für den Beobachter hypothetisch denkbar sind. Man muss also damit rechnen, dass bestimmte Akteure oder bestimmte ihrer Eigenschaften, die das Verhalten anderer Akteure und das Beziehungsgeflecht des fraglichen Netzwerkes beeinflussen, umgekehrt nicht selbst in gleicher Weise zur Disposition stehen. In den empirischen Fallstudien der Akteur-Netzwerk-Theorie wie in den empirischen Anteilen der gedankenexperimentellen Beispiele stößt man allerorten auf Akteure bzw. Akteureigenschaften dieser Art. So kann etwa der Unterschied, ob eine Tür überwiegend von regelmäßigen oder von gelegentlichen Benutzern durchquert wird, einen Einfluss darauf haben, ob die Anbringung des oben erwähnten überstark gefederten Türschließers zu einem stabilen Netzwerk führt (auf Grund der Wirksamkeit lokaler Benutzungskulturen) oder nicht (auf Grund zu vieler blutiger Nasen). Umgekehrt ist es jedoch eher unwahrscheinlich, dass irgendeine der Übersetzungen innerhalb des Türschließer-Netzwerkes einen Einfluss auf die Eigenschaft hat, ein gelegentlicher oder regelmäßiger Besucher zu sein – wenn man davon ausgeht, dass für die Besuchshäufigkeit des Zentrums für Wissenschafts- und Technikgeschichte in Paris andere Gründe ausschlaggebend sind als die Funktionsweise der Eingangstür. Im Schlüsselanhänger-Netzwerk wird die Eigenschaft der Schlüssel, den Zugang zu Räumen in einer bestimmten Weise zu begrenzen, zu keinem Zeitpunkt problematisiert. Die korrespondierenden Schlösser, die den Schlüsseln in dieser Hinsicht überhaupt erst Bedeutung verleihen, sind in ihrer Identität und Wirkungsweise bereits so selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie nicht einmal Erwähnung finden. Dabei gäbe es, wie das Beispiel des Berliner Schlüssels zeigt,9 durchaus Möglichkeiten der Disziplinierung von Schlüsselbenutzern, die auf der Umformung von Schlüsseln und Schlössern beruhen. Nur werden sie eben von den Akteuren des hier beschriebenen Netzwerks als Möglichkeiten nicht wahrgenommen. Ebenso wenig zweifeln unsere drei französischen Forscher an der Identität der Kammmuscheln in der Bucht von St. Brieuc als Kammmuscheln der Spezies Pecten maximus. Dabei ist es doch gerade diese Differenz zu den japanischen Kammmuscheln (Pecten patinopecten yessoeuisis, vgl. Callon 1986b: 204), die den angestrebten Transfer der japanischen Kultivierungstechnik so schwierig macht. Hätten die Forscher nicht auf die Idee kommen können, die französischen Kammmuscheln „ins Japanische zu übersetzen“? Etwa durch Um-Definition der zoologischen Taxonomie oder durch Ansiedlung japanischer Kammmuscheln in der Bucht von St. Brieuc? Auch hier stoßen wir wieder auf Möglichkeiten der Veränderung von Akteuren, die zwar hypothetisch denkbar sind, in den fraglichen Übersetzungsprozessen praktisch jedoch keine Rolle spielen. Die Stärke der Akteur-Netzwerk-Theorie ist somit zugleich ihre Schwäche. In ihrem Bestreben, auf Vorannahmen über soziale oder außersoziale Verursachung verzichtet, öffnet sie den Blick dafür, soziale und wissenschaftlich-technische und natürliche Festlegungen glei9
Vgl. Fußnote 3.
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chermaßen als Resultat wechselseitiger Relationierungen zwischen Elementen betrachten zu können, die erst durch diesen Assoziierungsprozess Gestalt gewinnen. Dabei ignoriert sie zugleich aber auch alle berechtigten Vorannahmen, nämlich alle Festlegungen, die in den betrachteten Entwicklungsprozessen selbst vorausgesetzt werden. Das allgemeine Symmetrieprinzip der Akteur-Netzwerk-Theorie geht einen Schritt zu weit, wenn es auch die Asymmetrie zwischen solchen Akteuren oder Akteureigenschaften aufzulösen sucht, die in den beobachteten Prozessen des Netzwerkbildens zur Disposition stehen, und solchen, für die das nicht gilt. Denn sie leugnet damit einen empirischen Tatbestand, der für die Erklärung von Veränderungen jeglicher Art ebenso wichtig ist wie der Tatbestand der heterogenen Assoziierung: dass bestimmte Komponenten eines entstehenden Netzwerkes ihm vorausgesetzt sind: in Gestalt identifizierbarer sozialer Akteure, dezidierter Interessen und Einstellungen, festgelegter sozialer, rechtlicher, technischer oder wissenschaftlicher Normen, konsentierter wissenschaftlicher Tatsachen, etablierter Techniken und natürlicher Gegebenheiten. In genau diesem Sinne basiert jede Innovation auf sozialen, technischen, wissenschaftlichen oder sonstigen Festlegungen, die entweder ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden oder aber aus theoretischen oder praktischen Gründen sinnvollerweise nicht zur Disposition gestellt werden.
5
Ausblick: Die Akteur-Netzwerk-Theorie als allgemeine Sozialtheorie
Die Grundaussage der Akteur-Netzwerk-Theorie, dass Veränderungen wie auch deren Stabilisierung das Resultat der wechselseitigen Assoziierung heterogener Elemente ist, die zugleich Subjekte (also Akteure) und Objekte dieser Prozesse sind, ist allgemein genug, um auch auf andere als wissenschaftlich-technische Innovationen angewendet zu werden: „Dieselben Probleme müssen gelöst werden, egal ob man ein neues Theorem erfinden möchte, ein Telefon-Netzwerk, eine Handelsroute, eine elegante Theorie oder ein Imperium.“ (Latour 1988c: 160) Stets geht es um die Einrichtung „heterogener Assoziationen“ (Callon 1987: 92) unterschiedlichster Komponenten: „Man betrachte, was vorausgesetzt ist, damit Herr Smith in der Lage (und willens) ist, seinen Urlaub an den Ufern des Ranguiroa-Sees zu verbringen und zu beobachten, wie sich die Barrakudas mit den gebräunten Körpern seiner Mitmenschen mischen. Computer, Legierungen, Düsenflugzeuge, Forschungsabteilungen, Marktstudien, Werbung, freundliche Gastgeberinnen, Eingeborene, die ihr Verlangen nach Unabhängigkeit unterdrückt haben und gelernt haben zu lächeln, während sie Gepäck tragen, Bankdarlehen, Wechselstuben – alles dies und vieles mehr ist aufeinander ausgerichtet worden.“ (Callon 1991: 139) Grundlage der Ausweitung der Akteur-Netzwerk-Theorie zu einer allgemeinen Sozialtheorie, ihrer Verallgemeinerung zu einer „Soziologie der Assoziationen“ (Latour 2007: 23; ganz ähnlich bereits Latour 1988b: 40), ist die Auffassung, dass Politik, Wirtschaft, Wissenschaft,
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Technik, Kunst, Moral usw. zwar analytisch unterschieden werden können, dass in der empirischen Praxis gesellschaftlicher Innovationen jedoch „keines dieser getrennten Bemühungen ohne gleichzeitiges Engagement in den anderen möglich ist“ (Latour 1988c: 169; Callon 1991: 133f.). Für sich genommen führt diese Auffassung zu einem sozialtheoretischen Holismus, der in dieser Allgemeinheit ebenso unbestreitbar wie uninteressant ist. Interessant und soziologisch anregend wird Latours assoziationistische Sozialtheorie durch eine zweite Annahme: „Ohne die Partizipation – in allen Bedeutungen des Wortes – von Nicht-Menschen, insbesondere von Maschinen und Artefakten, ist kein soziales Leben denkbar. Ohne sie würden wir wie Paviane leben.“ (Callon/Latour 1992: 359) Bereits in den inzwischen ‚klassischen‘ Fallbeispielen hatte Latour auf die konstitutive Bedeutung nicht-menschlicher Akteure für die Strukturierung menschlicher Sozialität hingewiesen: Der Schlüsselanhänger ist in einer Weise geeignet, einem Handlungsprogramm (dem des Hoteliers) zur Durchsetzung zu verhelfen, die durch bloße Erzeugung moralischer Verpflichtung nicht erreicht werden konnte. Gleiches gilt für viele andere technische Einrichtungen, etwa die Kopplung des Auto-Sicherheitsgurtes mit einer Warnanlage, die enervierend piept und blinkt, solange man nicht angeschnallt ist (vgl. Latour 1996a: 28ff.). In allen diesen Fällen erweisen sich von Artefakten ausgehende Vorschriften (Präskriptionen) als besonders geeignet, soziale Zusammenhänge zu stabilisieren: „Präskription ist die moralische und ethische Dimension der Mechanismen. Auch wenn die Moralisten dies beständig beklagen, ist kein Mensch so unnachgiebig moralisch wie eine Maschine […] Es ist wegen dieser Moralität, dass wir, Menschen, uns so ethisch verhalten, wie schwach und niederträchtig auch immer wir uns fühlen. Mit der Ansiedlung von Nicht-Menschen bleibt die Summe der Moralität nicht gleich, sondern wächst beträchtlich.“ (Latour 1992: 232) Im Rahmen seiner sozialtheoretischen Verallgemeinerung der Akteur-Netzwerk-Theorie geht Latour jetzt noch einen Schritt weiter und erklärt die Dinge – und wiederum insbesondere die technischen Artefakte – zum Rahmen, durch den menschliche Sozialität überhaupt erst ermöglicht wird. Er entwickelt dieses Argument aus der Gegenüberstellung der menschlichen Sozialität und der Formierung von Sozialbeziehungen in Affenhorden: Der Blick auf Affengesellschaften ist für Latour interessant, weil sich hier zeigt, „was geschieht, wenn soziale Verbindungen streng auf soziale Fertigkeiten begrenzt bleiben“ (Latour 2007: 341) und keine Dinge in das Geflecht wechselseitiger Relationierungen einbezogen sind. Paviane müssen, „wie man sagen könnte, übermäßig viel Zeit aufwenden, um den wackeligen ‚Bau‘ der Gesellschaft zu reparieren, um ständig ihre schwankenden Hierarchien instand zu halten, um immer wieder neu festzulegen, wer wen auf Beutezügen zur Nahrungssuche anführt.“ (ebd.: 341) Denn die einzigen Mittel, die sie zur Verfügung haben, um sich wechselseitig zueinander in Beziehung zu setzen, sind die Mittel der direkten Beobachtung und der Face-to-faceInteraktion mit ko-präsenten Artgenossen. Diese Mittel bezeichnet Latour als „die elementa-
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ren soziale Fertigkeiten“ (ebd.: 113). Eine Gesellschaft, die auf die Dinge, auf „die nichtsozialen Mittel“ (ebd.: 118) der sozialen Strukturierung verzichten muss, „ist ein Paradies des Interaktionismus […] [D]ie Frage der sozialen Ordnung scheint bei den Affen nicht anders gestellt werden zu können als in Form einer progressiven Komposition dyadischer Interaktionen – und dies ohne totalisierende und strukturierende Effekte.“ (Latour 2001b: 237f.; vgl. Latour 1996b: 228f.) In menschlichen Gesellschaften dagegen ist die Form von Face-to-face-Interaktionen, auf denen die Sozialbeziehungen der Affen gründen, „nie mehr als eine Residualkategorie“ (Latour 1996b: 230; vgl. Latour 2001b: 238). Von der allein auf die elementaren sozialen Fertigkeiten angewiesenen Interaktion zwischen Affen unterscheidet menschliche Interaktion sich dadurch, dass sie als gerahmte Interaktion erfolgt. Menschliche Face-to-face-Interaktion wird „durch die isolierende Wirkung eines Rahmens“ (Latour 2001b: 238) ermöglicht. Solche Rahmungen ermöglichen eine Lokalisierung von Interaktionen, die den Affen fehlt: „Bei den Menschen […] lokalisiert man die Interaktion, und zwar durch ein Ensemble von Unterteilungen, Rahmen, Wandschirmen, Schneisen […] Während ich am Schalter stehe, um Briefmarken zu kaufen, und dabei in die Sprechvorrichtung (‚Hygiaphone‘) spreche, habe ich weder meine Familie noch meine Kollegen noch meine Chefs im Rücken. […] Diese glückliche Kanalisierung der Interaktion ist dem Pavian nicht möglich, denn in jeder Interaktion können alle anderen intervenieren.“ (ebd.: 242) Rahmungen ermöglichen zum anderen – was den Affen ebenfalls verschlossen ist – die „Globalisierung“ von Interaktionen, das heißt deren räumliche und zeitliche Ausdehnung über die Situation der Kopräsenz der Akteure hinaus. Dies leisten „all die Verbindungen, Kabel, Transportmittel, Vehikel, die die Orte [die lokalisierten Interaktionen, Anm. d. Verf.] miteinander verknüpfen.“ (Latour 2007: 304) „Soziales Leben, wenigstens in seiner menschlichen Form, muss von irgendetwas anderem als von der sozialen Welt abhängen.“ (Latour 1996b: 232) Es sind die „unzähligen Dinge, die den Affen fehlen, aber bei den Menschen allgegenwärtig sind“ (Latour 2001b: 243), die „im engeren Sinne den Rahmen der Interaktion [gestalten]“ (ebd.), „und zwar unabhängig davon, ob eine Interaktion lokalisiert oder globalisiert wird“ (ebd.). Dies ist das aus der Perspektive heterogener Assoziierung gewonnene sozialtheoretische Credo Latours: „die elementaren sozialen Fertigkeiten [stellen] nur eine winzige Untermenge der Assoziationen bereit, aus denen Gesellschaften bestehen“ (Latour 2007: 119); die Dinge sind die „Mittel, um die soziale Welt zu konstruieren“ (Latour 2001b: 249). Ich halte diese Kernannahme der neueren Sozialtheorie Latours für eine soziologisch ausgesprochen fruchtbare Weiterentwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie. Mit ihr knüpft Latour – vielleicht ohne es zu bemerken – an ein zentrales Thema soziologischen Denkens an: die spezifische Bedeutung von Institutionen für menschliche Sozialität. Und er erweitert diese Thematik mit der Behauptung, dass die Beteiligung der Dinge im Gewebe menschlicher Sozialität die unverzichtbare Voraussetzung und Bedingung institutionalisierter Sozialzusammenhänge ist. Ob, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen diese Behauptung
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zutrifft, ist eine empirische Frage. Sie wird sich ganz sicher nicht so einfach beantworten lassen, wie Latours Gegenüberstellung von Menschen und Affen dies nahelegt. Darauf will ich hier nicht weiter eingehen. Aber auf einen anderen Punkt möchte ich abschließend hinweisen: Mit seinen neueren sozialtheoretischen Überlegungen rüttelt Latour selbst an zwei Grundauffassungen der Akteur-Netzwerk-Theorie: an der Auffassung, dass der Prozess des Netzwerkbildens der elementare Prozess ist, und am Prinzip der verallgemeinerten Symmetrie. Die Auffassung, dass der Prozess des Netzwerkbildens der elementare Prozess ist, besagt, dass alle menschlichen oder nicht-menschlichen Entitäten in ihrer Identität, ihren Eigenschaften und Verhaltensweisen und ihren Beziehungen zueinander Resultate ihrer wechselseitigen Relationierungen sind, die durch diesen elementaren Prozess zustande kommen. Die Konsequenz dieser Auffassung ist – das hatte ich oben im Zusammenhang der Überlegungen Callons zur Irreversibilität von Netzwerken bereits angesprochen –, dass sich die Eigenschaften dieser Entitäten immer nur relational zu dem jeweiligen Netzwerk bestimmen lassen, in das sie einbezogen sind. In seinen neueren sozialtheoretischen Überlegungen geht Latour dagegen davon aus, dass die Dinge Eigenschaften mitbringen, auf Grund derer die menschliche Sozialität Formen annehmen kann, die sich nicht entwickeln könnten, wenn die Menschen unter sich blieben. Es gibt demnach Einwirkungen im Prozess des Netzwerkbildens, die nicht ausschließlich relational bestimmt sind, sondern in spezifischer Weise daran gebunden sind, dass sie von nicht-menschlichen Akteuren ausgehen.10 Dann aber kann nicht mehr uneingeschränkt gelten, dass der Prozess des Netzwerkbildens der elementare Prozess ist. Die unmittelbare methodologische Konsequenz ist, dass auch die Forderung nach verallgemeinert symmetrischer Beobachtung nicht mehr uneingeschränkt erhoben werden kann. Denn der Sinn dieser Forderung besteht ja darin, dass die Eigenschaften, Verhaltensweisen und Beziehungen der Akteure bzw. Aktanten im Netzwerk in keiner anderen Weise in den Blick genommen werden sollen, denn als Resultat ihrer wechselseitigen Relationierungen. Meine kritischen Anmerkungen im vorangegangenen vierten Abschnitt dieses Beitrages zielten auf Probleme, die sich die Akteur-Netzwerk-Theorie einhandelt, wenn sie sich allzu apodiktisch auf jene beiden Grundauffassungen verlässt. Wenn die neueren sozialtheoretischen Überlegungen Latours hier zu einem Umdenken führen, ist das aus meiner Sicht nur zu begrüßen.
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Dies ist im Übrigen keine ganz neue Auffassung Latours. Sie schwingt bereits mit, wenn er, wie oben angesprochen, den Dingen eine „hohe Moral“ im Vergleich zur „schwachen Moral“ der Menschen attestiert und von einer Härtung der Gesellschaft durch Technik spricht (vgl. Latour 1991).
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Verbindungen und Grenzen Der Netzwerkbegriff in der Systemtheorie Jan A. Fuhse
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Einleitung1
Das Netzwerkkonzept hat in der Systemtheorie einen schweren Stand. Schließlich formulierte Niklas Luhmann selbstbewusst den Anspruch, dass die soziale Welt aus Systemen bestehe und deswegen mit Hilfe der Systemtheorie beschrieben werden könne (1984: 9f.). Wenn die soziale Welt aus Systemen besteht, stellt sich jedoch die Frage, wo Netzwerke zu verorten sind: Zwischen, innerhalb oder unterhalb von Systemen oder zwischen den verschiedenen Systemebenen? Luhmann hat den Netzwerkbegriff selbst nur gelegentlich benutzt. An ihn anschließende Autoren wie Gunther Teubner, Veronika Tacke, Stephan Fuchs, Dirk Baecker und Boris Holzer haben hingegen verschiedene Vorschläge vorgelegt, wie der Netzwerkbegriff in der Systemtheorie zu platzieren wäre. Dabei bleibt das Verhältnis von Systemen und Netzwerken aber oft unklar und umstritten. Denn die Systemtheorie, die von sozialen Systemen als geschlossenen Einheiten ausgeht, tut sich schwer damit, Netzwerke als interrelationale und prinzipiell unabgegrenzte soziale Strukturen zu akzeptieren und diese in ihre Begriffsarchitektur einzuordnen. „Während Systeme sich durch eine eigene Operationsweise von einer Umwelt abgrenzen, zeichnen sich Netzwerke gerade durch Unabgeschlossenheit aus.“ (Holzer 2006: 97; Herv. im Orig.)
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Ich danke Sascha Dickel, Boris Holzer, Athanasios Karafillidis, Lena May und Johannes Weyer für hilfreiche Anregungen und Kritik.
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Dabei ergeben sich aus diesem Spannungsverhältnis auch einige Vorteile für eine Verknüpfung der beiden Theorietraditionen: Erstens ermöglicht eine derartige Verknüpfung die Einordnung von Netzwerken in eine komplexe systematische Beschreibung der Gesamtgesellschaft. Dies erfordert jedoch insbesondere eine Klärung des Verhältnisses von Netzwerken einerseits und Funktionssystemen und Organisationen andererseits. Zweitens könnte man Netzwerke als emergente Strukturen modellieren, die sich auf Basis von Kommunikationsprozessen (wie Luhmann sie konzipiert hat) herausbilden. Drittens ließe sich mit Hilfe des Netzwerkbegriffs eine Anbindung der Systemtheorie an die empirische Forschung herstellen. Denn die ‚Empiriefähigkeit‘ der Systemtheorie ist bis heute ein Problem. Im Folgenden sollen verschiedene Möglichkeiten einer Verbindung von Netzwerkbegriff und Luhmannscher Systemtheorie ausgelotet werden, die auch die Grenzen derartiger Ansätze aufzeigen. Zunächst werden verschiedene Versuche der systemtheoretischen Konzeption von Netzwerken vorgestellt, und zwar – neben Luhmanns eigenen Ausführungen – die Arbeiten von Gunther Teubner, Eckard Kämper und Johannes F.K. Schmidt, Michael Bommes und Veronika Tacke, Stephan Fuchs, Dirk Baecker sowie von Boris Holzer und mir (Abschnitt 2). Anschließend werden einige Aspekte einer Verknüpfung von Netzwerk- und Systemtheorie genauer beleuchtet: Die Rollen von Kommunikation und von Sinn in Netzwerken, die Konstruktion von Identitäten, die Emergenz sozialer Gebilde in Netzwerken, sowie das Verhältnis von Netzwerken und funktionaler Differenzierung (Abschnitt 3). Ein kurzes Resümee schließt den Beitrag ab (Abschnitt 4).
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Systemtheoretische Versionen des Netzwerkbegriffs
Wie lassen sich Netzwerke in der Systemtheorie verorten? In den 1970er Jahren hat Luhmann (1975) eine Dreiertypologie sozialer Systeme aufgestellt: Interaktionssysteme bestehen aus einmaligen Begegnungen in Gesprächen – seien es nun Interaktionen an der Kasse im Supermarkt, Meetings in Konzernen oder auch die zwanglose Konversation auf Partys oder in Kneipen. Organisationen wie z. B. Unternehmen beruhen auf formaler Mitgliedschaft und der klaren Zuordnung von Kompetenzen. Die Gesellschaft schließlich umfasst alle Kommunikation und kennt also keine personellen und im Zeitalter der Globalisierung auch keine territorialen Grenzen. Auf dieser dritten Ebene von Sozialsystemen sind Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht und Wissenschaft angesiedelt, die für Luhmann die prägenden Phänomene der modernen Gesellschaft sind – sie bestimmen die Dynamik der Gesellschaft insgesamt (1997: 743ff.). Netzwerke lassen sich prinzipiell auf verschiedenen Ebenen finden: Persönliche Netzwerke von Freunden und Kollegen werden vor allem in der Interaktion geformt. Diese können natürlich auch in Organisationen auftauchen.
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Organisationen können aber auch selbst zu Knotenpunkten in Netzwerken werden – Organisationen können sich zu Verbänden zusammenschließen oder ZuliefererNetzwerke in einzelnen Branchen bilden. Nicht zuletzt sind Organisationen über Beteiligungen miteinander verknüpft, mit denen etwa eine Bank über die Strategien von Unternehmen mitbestimmen kann. Auf der Ebene von Gesellschaft und Funktionssystemen schließlich finden wir die Netzwerke in der internationalen Politik oder auch Netzwerke zwischen Disziplinen in der Wissenschaft. Offensichtlich lassen sich Netzwerke auf unterschiedlichen Ebenen der systemtheoretischen Architektur verorten. Dies verweist bereits auf die Schwierigkeiten der Systemtheorie mit dem Phänomen ‚Netzwerke‘. Sie kommen in der Typologie von Luhmann nicht vor – und scheinen doch überall aufzutauchen. Der Startpunkt der Systemtheorie ist der Begriff des sozialen Systems, der grundlegend anders als der Netzwerkbegriff gebaut ist. Ein soziales System ist nach Luhmann eine operativ geschlossene, sich selbst dynamisch reproduzierende soziale Einheit (1984: 35ff.). Deren Logik ist im selbstreferenziellen Anschluss von Kommunikation an Kommunikation begründet. Ein Gespräch, eine Organisation oder auch ein Funktionssystem schafft sich auf diese Weise von Operation zu Operation immer wieder aufs Neue selbst – dies ist mit dem Begriff der Autopoiesis gemeint. Dahinter steht die Vorstellung, dass soziale Prozesse durch eine Selbstläufigkeit und Eigengesetzlichkeit bestimmt sind – und nicht durch die Vorstellungen und Handlungen von Einzelpersonen. Soziale Systeme sind autonome Einheiten, die ihrer eigenen Logik folgen und insbesondere selbstreferenziell geschlossen sind, weil sie immer nur an eigenen Operationen ansetzen können. Ein Gespräch entwickelt auf diese Weise seine eigenen Themen und Aufmerksamkeitspunkte, ein Unternehmen konditioniert mit formalen Regeln die Beteiligung seiner Mitarbeiter, und die Wirtschaft läuft nach der Logik von Zahlungen und Kapitalakkumulation, auch wenn einzelne Manager oder Börsenmakler gerade krank oder im Urlaub sind. Interaktionen, Organisationen und Funktionssysteme sichern sich geradezu gegen die Individualität und Eigensinnigkeit der an ihnen beteiligten Personen ab. Soziale Netzwerke sind von ihrer Grundstruktur her anders gebaut als Systeme: Sie sind vernetzt statt geschlossen, bauen auf Verbindungen statt auf Grenzen auf. Und sie setzen an den Personen oder Akteuren als Knotenpunkten an, die in sozialen Systemen eine untergeordnete Rolle spielen. Zudem ist der Netzwerkbegriff – anders als die Konzepte der Systemtheorie – auf die empirische Forschung ausgerichtet. So lassen sich mit den Methoden der Netzwerkforschung an den oben genannten Orten soziale Netzwerke ausmachen: zwischen Personen, innerhalb und zwischen Organisationen und in Funktionssystemen. Sind aber diese Netzwerke möglicherweise nur analytische Konstrukte, die man zwar erheben kann, die jedoch keine theoretische Erklärungskraft für soziale Phänomene besitzen? Möglicherweise verstecken sich hinter den Netzwerkdaten und -grafiken nur die Auswirkungen systemischer Prozesse und Strukturen, die ja der Systemtheorie zufolge der Motor des Sozialen sind. Eine Reihe von Anhängern der Luhmannschen Systemtheorie vertritt eher
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diese Position, andere sehen Netzwerke als eigendynamische Strukturen in der modernen Gesellschaft – die teilweise selbst als Systeme beschrieben werden. Die Verortung des Netzwerkbegriffs in der Systemtheorie fällt also schwer. Zu sehr befinden sich Netzwerke auf allen und zwischen den Systemebenen, zu sehr widerspricht der Netzwerkbegriff einer Theoriearchitektur, die auf überpersönlichen Systemen aufbaut und Grenzen statt Verbindungen als ihren Ausgangspunkt nimmt. Allerdings betont der Netzwerkbegriff auch die Eingebundenheit von Akteuren in zwischenmenschliche Strukturen und entspricht damit einer wichtigen Grundprämisse der Systemtheorie: Das Soziale lässt sich nicht auf Akteure und ihr Handeln reduzieren, sondern findet zwischen ihnen statt. Die folgenden Abschnitte sollen zeigen, dass der Netzwerkbegriff – trotz etlicher Versuche, ihn in die Systemtheorie einzuführen, immer noch keinen systematischen Stellenwert in der Systemtheorie gefunden hat.
2.1 Netzwerke als Formen der Inklusion (Luhmann) Bereits Luhmann verwendet den Netzwerkbegriff an einigen Stellen, zunächst in der grundlegenden Konzeption des Autopoiesis-Begriffs, in den 1990er Jahren dann auch für Phänomene wie die Mafia oder Organisationsnetzwerke. Autopoiesis, so definiert Luhmann in Anlehnung an Humberto Maturana, steht dafür, „dass ein System seine eigenen Operationen nur durch das Netzwerk der eigenen Operationen erzeugen kann. Und das Netzwerk der eigenen Operationen ist wiederum erzeugt durch diese Operationen.“ (Luhmann 2002: 109) Die rekursiven Verbindungen der Elemente in einem System werden dabei gesichert durch dessen sinnhafte Abgeschlossenheit. Luhmann thematisiert die Differenz zwischen den Elementen und deren Relationen im Netzwerk von da an nicht mehr. Stattdessen konzentriert er sich auf die Differenz von System und Umwelt und konzipiert von diesem Startpunkt aus seine Theorie (vgl. Kämper/Schmidt 2000: 218). Das ‚Netzwerk‘ steht zwar am Anfang der Theoriearchitektur, scheint aber in den späteren Ausführungen dieser Theorie obsolet geworden. Von nun an regiert Geschlossenheit der Systeme, nicht Interrelationalität der Elemente. Der Netzwerkbegriff taucht bei Luhmann erst in den 1990er Jahren wieder auf, jedoch in anderen Kontexten, die nur wenig Anschluss an die Grundbegriffe der Theorie haben.2 So formuliert Luhmann mit Blick auf die Favelas in Brasilien und auf die mafiosen Strukturen in Süditalien, dass die Gesellschaft gewissermaßen unterhalb der Funktionssysteme durch eine Differenzierung in einen Inklusions- und einen Exklusionsbereich geprägt sei. Diese Grenze zwischen Inklusion und Exklusion wird Luhmann zufolge durch netzwerkartige Strukturen von wechselseitigen Gunsterweisen konstituiert (1995: 250ff., 1995a: 22ff.). Wer in solche Netzwerke eingebunden sei, könne auch in den Funktionssystemen auf Inklusion rechnen. Die Exklusion aus den Funktionssystemen wäre dagegen eine Folge fehlender Kontakte in derartige Netzwerke. Die Netzwerke entstehen Luhmann zufolge aus der „Gewohn2
Siehe als Überblick über die beiden Netzwerkbegriffe bei Luhmann auch Bommes/Tacke 2007.
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heit, in Netzwerken der Hilfe, der Förderung und der erwartbaren Dankbarkeit zu denken“ (1995a: 22). Netzwerke wären damit sehr ‚reale‘ soziale Strukturen, wobei das ‚Denken‘ in solchen Strukturen sie erst konstituierte. Inklusion/Exklusion wäre demnach hier die primäre Ordnungsform – eine ‚Supercodierung‘, die sich in Phänomenen wie etwa der Korruption über die funktionale Differenzierungslogik legt. Es kommt nun nicht mehr auf die Systemmedien Macht oder Geld an, sondern darauf, ob man Teil des Netzwerks (Inklusion) oder ausgeschlossen (Exklusion) ist (Luhmann 1995a: 24f.). In diesem Sinne ist Exklusion das Herausfallen aus solchen Netzwerken, mit dem der Zugang zu Kommunikationschancen verlorengeht: „Die basale Ressource des Netzwerks scheint zu sein, daß man jemanden kennt, der jemanden kennt; und daß das Bitten um Gefälligkeiten derart verbreitet ist, daß man, wenn man überhaupt die Möglichkeit hat zu helfen, es nicht ablehnen kann, ohne binnen kurzem aus dem Netz der wechselseitigen Dienste ausgeschlosen zu werden. Das Netz [...] erzeugt seinen eigenen Exklusionsmechanismus, der bewirken kann, daß man zur Unperson wird, die niemand kennt und die eben deshalb trotz aller formalen Berechtigungen auch keinen Zugang zu den Funktionssystemen findet.“ (Luhmann 1995: 251f.) Luhmann beschreibt hier den vollkommenen Ausschluss aus Netzwerken der Gunsterweise als Exklusion. Die Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion trennt ein Netzwerk in der Sozialdimension von seiner Umwelt, genauso wie eine Organisation mit Hilfe von Arbeitsverträgen seine Mitglieder von den Nicht-Mitgliedern trennt. Da Luhmann den Fall von Mafia-Netzwerken vor Augen hatte, liegt eine solche Interpretation nahe. Hier fallen offensichtlich zwei Mechanismen zusammen: erstens eine sinnhafte Trennung in der Sozialdimension zwischen Inklusionsnetzwerk und Außenstehenden; und zweitens die Kopplung von Kommunikationschancen an soziale Kontakte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob soziale Kontakte immer an eine derart klare soziale Unterscheidung zwischen Innen und Außen geknüpft sind. Sind nicht in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Politik die Kommunikations- und Aufstiegschancen oft an Netzwerke gekoppelt – ohne dass man klar zwischen Etablierten und Außenseitern unterscheiden kann? Kontakte zeichnen sich doch dadurch aus, dass man ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ von ihnen oder auch gänzlich ‚andere‘ haben kann – und nicht einfach nur Kontakte oder keine Kontakte, wie dies die binäre Gegenüberstellung von Inklusion und Exklusion suggeriert. In dem posthum veröffentlichten Buch Organisation und Entscheidung greift Luhmann an verschiedenen Stellen den Netzwerkbegriff auf. Er spricht hier von informalen und formalen Netzwerken in Organisationen, auch wieder von den mafiosen Netzwerken in Süditalien und von netzwerkartigen Interorganisationsbeziehungen (Luhmann 2000: 24f., 327, 385f., 407ff.). Zur systematischen Einordnung des Konzepts in die Theorie findet sich jedoch wenig Neues – abgesehen von einem Hinweis auf die konstitutive Funktion von Vertrauen. Über das Verhältnis von Netzwerk- und Systembegriff ist damit wenig gesagt. Wie André Kieserling (1999: 220) formuliert, lässt Luhmann in den Publikationen der 1990er Jahre (inklusive Organisation und Entscheidung) offen, ob er die von ihm beobachteten Netz-
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werkphänomene (Mafia, andere Exklusionsnetzwerke) als soziale Systeme auffasst – ob also Netzwerke selbst Systeme sind oder zumindest sein können.
2.2 Netzwerke als autopoietische Systeme höherer Ordnung (Teubner) Demgegenüber hat Gunther Teubner bereits 1992 den Vorschlag gemacht, Netzwerke als soziale Systeme mit spezifischen Eigenschaften aufzufassen. Demnach bilden Organisationsnetzwerke eine eigene Ordnung über den beteiligten Organisationen, in der Merkmale von Vertragsbeziehungen und von formaler Organisation miteinander verknüpft werden (Teubner 1992: 203f.). Je nach Ansatzpunkt handelt es sich dabei entweder um Marktnetzwerke (z. B. Zuliefersysteme oder Franchising) oder um Organisationsnetzwerke (etwa in Großkonzernen oder bei Joint Ventures). In einem späteren Text beschreibt Teubner auch den Staat als Netzwerk von politisch-administrativen, aber auch privaten Organisationen (1999). In solchen Netzwerken sind die beteiligten Organisationen auf eine eigentümliche Weise aneinander gebunden, die Autonomie und korporative Bindung miteinander verknüpft – und dabei beides unterläuft. Die spezifische Operation eines solchen Systems liegt nach Teubner in der Zurechnung von Handlungen auf die einzelnen Akteure und das Gesamtnetzwerk: „Ein kommunikatives Ereignis im Netzwerk wird sowohl einem der autonomen Vertragspartner als auch gleichzeitig der Gesamtorganisation zugerechnet. [...] Wenn diese Doppelattribution von Handlungen in die Selbstbeschreibung des sozialen Arrangements eingeht und dort auch operativ verwendet wird, dann hat sich das Netzwerk als autonomes Handlungssystem selbst konstituiert. [...] Gegenüber Vertrag und Organisation stellen also Netzwerke autopoietische Systeme höherer Ordnung dar, insofern sie durch Doppelattribution emergente Elementarakte (‚Netzwerkoperationen‘) herausbilden und diese zirkulär zu einem Operationssystem verknüpfen.“ (1992: 199f.) Auch Teubner bezieht sich auf Netzwerke, die einen gemeinsamen Fokus und damit eine klare Außengrenze haben – so wie (bei allen Unterschieden) die Mafia-Netzwerke bei Luhmann. Nur eine solche klare Grenzziehung kann aus einem Netzwerk ein System machen. So kann etwa ein Bescheid des Arbeitsamtes oder ein Erlass des Umweltministeriums diesen Untereinheiten zugeschrieben werden – aber auch dem Staat als Ganzes. Voraussetzung dafür ist aber eben, dass die Organisationen im Netzwerk sinnhaft zu einem Staat zusammengefasst werden – also eine Sinngrenze zwischen dem Staat und dem nicht-staatlichen Bereich gezogen wird, genauso wie die Mafia zwischen den Dazugehörigen und den Außenstehenden unterscheidet.
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2.3 Netzwerke als strukturelle Kopplung von Organisationen (Kämper/Schmidt) Gänzlich anders ordnen Eckard Kämper und Johannes F.K. Schmidt (2000) in der ersten Auflage dieses Bandes Netzwerkphänomene in die Systemtheorie ein. Mit Blick auf Organisationsnetzwerke formulieren Kämper und Schmidt, dass Netzwerke nicht selbst als Systeme anzusehen sind, sondern auf einer strukturellen Kopplung von (Organisations-)Systemen beruhen. Der Begriff der strukturellen Kopplung steht bei Luhmann für den Aufbau von Strukturen zwischen Systemen. Dazu gehören einerseits Phänomene wie die Verfassung, die öffentliche Meinung oder der Vertrag, die unterschiedliche Funktionssysteme miteinander koppeln (Luhmann 1997: 797ff.). Andererseits sieht Luhmann auch soziale und psychische Systeme strukturell gekoppelt – etwa über die Konstruktion von „Personen“ (1995: 153f.). Kämper und Schmidt übertragen dieses Konzept auf Netzwerke von Organisationen. Diese begreifen sie jedoch nicht als emergente Strukturen zwischen Organisationen. Stattdessen seien die Netzwerkstrukturen als „System-zu-System-Verhältnis“ in den beteiligten Organisationen zu finden (Kämper/Schmidt 2000: 227). Eine strukturelle Kopplung wäre demnach keine Ausbildung eines eigenen Systems: „Strukturelle Kopplungen stellen keine ‚Mechanismen‘ oder gar Systeme zwischen Systemen dar, sondern koppeln Systemstrukturen, sie fundieren ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit operierender Systeme, indem sie (wechselseitig) eine Aktualisierung der jeweiligen Systemstruktur in einer momenthaften Operation beeinflussen.“ (2000: 228, Herv. im Orig.) In diesem Sinne wären Netzwerke eher in den beteiligten Organisationssystemen zu verorten als zwischen ihnen (2000: 227). Damit bieten Kämper und Schmidt eine Rekonstruktion des Netzwerkbegriffs mit systemtheoretischem Vokabular an, argumentieren aber im Grunde, dass sie dazu den Netzwerkbegriff nicht benötigen. Schließlich soll der systemtheoretische Begriff der strukturellen Kopplung für die Beschreibung von Unternehmensnetzwerken ausreichen. Eine solche Modellierung mag für Organisationsnetzwerke zutreffen, kann aber systemtheoretischen Prämissen zufolge nicht für Netzwerke von Personen oder Individuen gelten. Denn die Systemtheorie postuliert, dass sich in der Kommunikation zwischen Personen soziale Systeme bilden. Dem folgend können psychische Systeme nicht strukturell aneinander gekoppelt werden – vielmehr entstehen hier eigene, neue Systeme, wie es Kämper und Schmidt für Unternehmensnetzwerke ausschließen. Damit eignet sich das Konzept von Kämper und Schmidt nicht für die Beschreibung persönlicher Netzwerke.
2.4 Netzwerke als komplementäre Strukturen (Tacke) Während Teubner und Kämper/Schmidt den Blick in erster Linie auf Netzwerke zwischen Organisationen lenken (mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen), geht es Veronika Tacke vorrangig um soziale Netzwerke zwischen Personen. Tacke zufolge können Netzwerke nicht ohne weiteres systemtheoretisch beschrieben werden – sie bilden vielmehr eine „komple-
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mentäre“ Struktur neben den Systemen (2000: 298f.). Dabei setzen Netzwerke zwischen Personen durchaus an den „Adressen“ an, die diesen Personen von Funktionssystemen wie der Wirtschaft, der Politik oder dem Recht zugeordnet werden (Tacke 2000: 300f.). Diesen Funktionssystemen gegenüber bilden die Netzwerke des Sich-Kennens und gegenseitiger Gefälligkeiten „Formen sekundärer Ordnungsbildung“ bzw. eine „unhintergehbare“ Ordnung unterhalb der Funktionssysteme (die ja die Adressen von Personen und damit die Voraussetzung für die Bildung von Netzwerken erst konstituieren). Deswegen sieht Tacke – ähnlich wie Luhmann – Netzwerke als „parasitäre Formen der Strukturbildung“ (2000: 299, 317). Die Dynamik dieser Strukturbildung sieht sie im quasi-experimentellen Kombinieren von Möglichkeiten – der Nachbar, dem man schon mal die Mülltonne an die Straße gestellt hat, könnte vielleicht einen Interviewtermin vermitteln. Sofern sich solche Versuche als erfolgreich herausstellen, stabilisiert sich ein Netzwerk. Auf diese Weise kann es zu einer „Verselbständigung des Netzwerks“ kommen und damit auch zur parasitären Nutzung etwa von Organisationen durch persönliche Netzwerke (2000: 307, 312f.). Netzwerke erscheinen damit bei Tacke als „sekundäres“ Phänomen, das durch die Funktionssysteme und deren Konstruktion von Adressen erst ermöglicht wird. Gerade deswegen könnten Netzwerke die Logik von Funktionssystemen punktuell außer Kraft setzen und die eigene Logik von wechselseitigen Gunsterweisen durchsetzen. Tacke stellt einerseits Netzwerke und Systeme als komplementäre Strukturen nebeneinander, andererseits bleiben die Netzwerke den Systemen auch nach- bzw. untergeordnet, weil es Tacke zufolge ohne funktionale Differenzierung keine Netzwerke gäbe.
2.5 Netzwerke als Systeme (Bommes/Tacke) In einem späteren Text beschreiben Michael Bommes und Veronika Tacke Netzwerke als „Formen sekundärer Systembildung“ (2006: 43, 56ff.). Netzwerke werden damit zwar weiterhin als sekundäre Ordnungsform gedacht, die den primären Funktionssystemen nachgeordnet ist. Die neue Wendung besteht darin, „Netzwerke als soziale Systeme im strengen Sinne aufzufassen“ (2006: 56). Hier haben die Autoren nicht mehr die prinzipiell unabgeschlossene Netzwerke des gegenseitigen Kennens und Unterstützens vor Augen, sondern Phänomene wie das Netzwerk Frauenforschung NRW (2006: 53ff.). Solche Strukturen beschreiben sich selbst als Netzwerke, geben sich Namen, spezifizieren Sinnbezüge im Netzwerk und konditionieren auf diese Weise die Anschlussfähigkeit von Kommunikation. Auch hier geht es wieder um Unterstützungsleistungen, die im Netzwerk zirkulieren und dieses stabilisieren: „Im Kern besteht ein Netzwerk aus nichts anderem als rekursiver reziproker Leistungskommunikation.“ (2006: 57) Bommes und Tacke schränken den Netzwerkbegriff auf zweierlei Weise ein: Erstens wollen sie nur dann von Netzwerken sprechen, wenn tatsächlich Leistungen der Funktionssysteme ausgetauscht werden. Reine Freundschafts-, Verwandtschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen bilden in diesem Sinne keine Netzwerke (Tacke 2007: 172). Zweitens beschreiben
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sie nur solche Strukturen der rekursiven reziproken Leistungskommunikation als Netzwerke, die sich mit einem Namen und einer klaren Außengrenze von ihrer Umwelt abgrenzen. In dieser Variante ließen sich Netzwerke als eigener Typ von Kommunikationssystemen in die Systemtheorie integrieren. Zwar bleiben auch hier die Netzwerke „sekundär“ den Funktionssystemen nachgeordnet, aber sie werden nun als sich selbst stabilisierende Systeme aufgefasst, wenngleich mit „mehr oder weniger fließenden Grenzen“. Allerdings schränkt dieser Begriffsvorschlag das Netzwerkkonzept sehr stark ein. Deswegen ist fraglich, ob nicht eine weite Begriffsfassung im Sinne der Netzwerkanalyse und auch der früheren Formulierungen von Tacke fruchtbarer ist, um eine Verbindung zwischen Netzwerkforschung und Systemtheorie herzustellen.
2.6 Involution von Netzwerken zu Systemen (Fuchs) Einen gänzlich anderen Weg als die bisher besprochenen Autoren geht Stephan Fuchs mit seiner Bestimmung des Verhältnisses zwischen Netzwerken und Systemen. Im Gegensatz zu den meisten Systemtheoretikern versucht Fuchs nicht, Netzwerke über Systeme zu definieren, sondern er sieht das Netzwerk als „Masterkonzept“ (2001: 191f.). Systeme wie Interaktionen, Gruppen und Organisationen seien demgegenüber nur Sonderfälle von Netzwerken, die sich mittels mehr oder weniger scharfer Grenzziehung und darauf aufbauender Innenorientierung („Involution“) von ihrer Umwelt unterscheiden (2001: 51, 192, 216f.). Mit dem Involutionskonzept und weiteren Theorieargumenten knüpft Fuchs an die Arbeiten von Harrison White (1992) an, der in den 1990er Jahren die prominenteste Theorie sozialer Netzwerke vorgelegt hat. Als Knoten von Netzwerken sieht Fuchs nicht Personen oder Handlungen, sondern Kommunikationsereignisse oder auch Systeme (wie Interaktionen, Gruppen und Organisationen), die auf einer höheren Ebene vernetzt werden können: „Networks do not link ‘whole’ persons [...] Networks also link not actions, but interactions and communications. Rather than connecting persons, networks link their encounters, both across space and time.“ (Fuchs 2001: 191) Diese Begriffsfassung erinnert an Luhmanns Fassung des Autopoiesis-Begriffs, derzufolge Systeme als Vernetzung kommunikativer Ereignisse zu denken sind (vgl. Abschnitt 2.1). Allerdings kritisiert Fuchs die Luhmannsche Unterscheidung von autopoietischen Systemen und sozialen Phänomenen ohne Systemcharakter. Denn die soziale Welt ordne sich nicht eindeutig in solche Kategorien, sondern zeige immer ein Mehr-oder-weniger. Entsprechend bilden sich Interaktionen, Organisationen und Gruppen nur graduell als Systeme heraus – Gruppen zum Beispiel können sich mehr oder weniger von ihrer Umwelt abtrennen, mehr oder weniger selbstreferenziell und mehr oder weniger autopoietisch sein, je nach der Stärke der Orientierung auf einen gemeinsamen Sinnfokus (Fuchs 2001: 211ff.). Fuchs dreht also das Verhältnis von Netzwerk- und Systembegriff um: Die Netzwerktheorie bildet die Grundlage für die Modellierung von Systemen. Diese Argumentation überzeugt zu einem gewissen Grad, weil sich in Phänomenen wie der Mafia, dem Staat oder dem Netz-
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werk Frauenforschung NRW Netzwerke zu Phänomenen mit Systemcharakter (also mit Selbstbezüglichkeit und klarer Außengrenze) verdichten. Dabei fehlt aber eine grundlagentheoretische Konzeption des Netzwerkbegriffs – wie genau sind die Verbindungen (die Kanten) zwischen den kommunikativen Ereignissen bzw. den sozialen Systemen (den Knoten bei Fuchs) zu denken?
2.7 Netzwerk als Form der Kommunikation (Baecker) Wie Fuchs versucht auch Dirk Baecker, eine Verbindung der Systemtheorie mit den Überlegungen von Harrison White herzustellen.3 Baecker sieht Systeme nicht als Spezialfall von Netzwerken (oder umgekehrt Netzwerke als Systeme), sondern konzipiert, ähnlich wie Veronika Tacke in ihren früheren Arbeiten, Netzwerke als komplementär zu Sozialsystemen (2005: 226ff.). Für Baecker ist das Netzwerk eine Form von Kommunikation neben anderen Formen wie dem System, der Person, dem Medium und der Evolution (2005: 79f.). Alle diese Formen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sinnhafte Unterscheidungen in die Kommunikation einführen und dadurch Anschlüsse von Kommunikation an Kommunikation konditionieren. Das Sozialsystem hat bei Baecker keine privilegierte Stellung mehr unter diesen verschiedenen Formen von Kommunikation. Stattdessen macht Baecker zufolge die funktional differenzierte Gesellschaft derzeit einer primär über Netzwerke strukturierten Gesellschaft Platz (2005: 136, 234; 2007: 21ff.). Damit kommt es zu einer Verschränkung unterschiedlicher Bereiche durch Vernetzung: „Das Schicksal der Unternehmen entscheidet sich einerseits … auf den Märkten der Wirtschaft, aber es entscheidet sich gleichzeitig auch in den Labors der Wissenschaft, in den Gebetshallen der Kirchen, in den Sälen der Gerichte, in den Hinterzimmern der Politik und in den Redaktionen der Zeitungen, Fernsehanstalten und Internetportalbetreiber.“ (2007: 22) Wie bei Luhmann und Tacke stehen auch bei Baecker Netzwerke quer zur funktionalen Differenzierung mit dem Potenzial, diese zumindest teilweise auszuhebeln. Da Baecker Systeme und Netzwerke als Formen der Kommunikation nebeneinander stellt, kann er weder eine systemtheoretische Beschreibung von Netzwerken noch eine netzwerktheoretische Beschreibung von Systemen anfertigen, wie dies etwa Fuchs getan hat. Baecker ordnet den Netzwerkbegriff also nicht in eine in sich geschlossene Systemtheorie ein, sondern sucht im Kommunikations- und im Formbegriff nach einer gemeinsamen theoretischen Grundlage für beide Arten von Phänomenen.4
3
Baecker hat bereits 1996 mit einer Rezension des theoretischen Hauptwerks Identity and Control (1992) von Harrison White in der Zeitschrift Soziale Systeme dieses Werk unter Systemtheoretikern bekannt gemacht.
4
Im Anschluss an Baecker und White arbeitet auch Athanasios Karafillidis an einem Formbegriff sozialer Netzwerke, in dem etwa auch die „Grenze“ eines Netzwerks impliziert ist (2009).
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2.8 Netzwerke als Verknüpfung von sozialen Beziehungen (Holzer/Fuhse) Boris Holzer und ich haben dagegen vorgeschlagen, einzelne soziale Beziehungen als autopoietische Systeme zu modellieren (Fuhse 2002: 414ff., 2003: 3ff.; Holzer 2006: 93ff., 2010). Schon Luhmann hat „dyadische Beziehungen“ als die Grundeinheiten von Netzwerken gesehen (1995: 254); und auch Tacke zufolge sind soziale Beziehungen die Grundbausteine von Netzwerken (2000: 297). Bei Netzwerkforschern wie Ronald Burt und James Coleman werden dagegen die Knoten bzw. Akteure handlungstheoretisch als Basiselemente von Netzwerken gesehen. Die Systemtheorie sieht demgegenüber überpersönliche Kommunikationsprozesse als primär und kann deswegen Netzwerke nicht über Akteure und deren Handlungen konzipieren. Entsprechend erscheint die Konzentration auf die Beziehungen in Netzwerken und die in ihnen ablaufenden Kommunikationsprozesse als systemtheoretisch folgerichtig. Ansatzpunkt für unsere Überlegungen ist eine Formulierung Luhmanns in seinem Buch Soziale Systeme, dass alle Kommunikation sich am Problem der doppelten Kontingenz abarbeiten müsse (1984: 148ff.; vgl. Parsons 1968: 167ff.). Wie können also Alter und Ego in Interaktion miteinander treten, wenn sie ihr Handeln vom Handeln des jeweils anderen abhängig machen? Alter und Ego stehen dabei für zwei wechselseitig undurchschaubare Systeme – seien es psychische oder soziale Systeme (Luhmann 1984: 152). Um die Differenz zwischen Alter und Ego zu überbrücken, kommt es zur Ausbildung von Erwartungsstrukturen zwischen Alter und Ego und somit zur Emergenz eines sozialen Systems: „Die Beziehung wird selbst zur Reduktion von Komplexität. Das aber heißt: sie muß als soziales System begriffen werden.“ (1984: 154) Luhmann selbst bezieht diese Formulierung nicht unmittelbar auf dyadische Sozialbeziehungen, sondern eher allgemein auf die Emergenz sozialer Systeme. Unsere Überlegungen gehen jedoch davon aus, dass sich auf diese Weise auch dyadische Sozialbeziehungen – also an konkreten Personen ansetzende Erwartungen – als autopoietische Kommunikationssysteme fassen lassen. Der Aufbau sinnhafter Erwartungsstrukturen – die Emergenz der Beziehung – vollzieht sich über das kommunikative Aushandeln von Möglichkeiten. Die Kommunikation in der dyadischen Beziehung läuft autopoietisch, da sie operativ immer nur an vorangegangener Kommunikation und den in ihr geronnenen Strukturen ansetzen kann. In Freundschafts- und Intimsystemen, in Kooperationsbeziehungen wie in Feindschaften kommt es zu einer pfadabhängigen Entwicklung der Erwartungsstrukturen zwischen Alter und Ego. Diese entstehen zwar meist in Interaktionssystemen, überdauern diese jedoch, strukturieren damit den Zusammenhang zwischen mehreren Interaktionen und können deswegen nicht auf diese reduziert werden (Schmidt 2007). Zusätzlich strukturieren sie auch Kommunikation unter Abwesenden, etwa wenn Freunde miteinander telefonieren oder per EMail Kontakt halten (Holzer 2010). Sozialbeziehungen bilden damit einen eigenständigen Typus sozialer Systeme.
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In der Netzwerktheorie entspricht dies dem Story-Begriff von White (1992: 65ff.; vgl. Somers 1994; Tilly 2002: 8ff., 26ff.): Beziehungen werden als sich fortschreibende Narrative gedacht. Allerdings bleibt der Story-Begriff in der Netzwerktheorie theoretisch schwach begründet. Die hier vorgestellte systemtheoretische Konzeption ist dagegen umfassender, weil sie in der Lage ist, die dyadische Beziehung als ‚Geschichte‘ zu denken – in dem doppelten Sinne, dass Narrative einen großen Einfluss auf eine Beziehung haben, und dass die Beziehung selbst in der Geschichte der Kommunikation entsteht. Die Grundbausteine sozialer Netzwerke wären damit dyadische Kommunikationssysteme und nicht die beteiligten Akteure oder gar die psychischen Systeme. Diese Sozialbeziehungen bilden die Kanten des Netzwerks, die durch das kommunikative Aushandeln dynamisch sind. Diese Kanten werden miteinander verknüpft über die Konstruktion von Personen (oder auch kollektiven oder korporativen Akteuren), die die Knoten des Netzwerks bilden. Akteure oder Personen sind also aus dieser Sicht keine präexistenten Einheiten, die in Netzwerken miteinander verknüpft werden. Stattdessen definiert jedes Netzwerk (wie auch in der AkteurNetzwerk-Theorie) die Identität der beteiligten Knoten erst (Fuhse 2009a). In diesem Sinne haben auch Luhmann, Tacke und Fuchs formuliert, dass Beziehungen bzw. Relationen die grundlegenden Komponenten von Netzwerken sind. Allerdings fehlt es bei diesen Autoren an einer grundlegenden Modellierung der Sozialbeziehungen, wie wir sie vorschlagen. Dabei gehen die Arbeiten von Holzer und von mir durchaus in leicht unterschiedliche Richtungen: Holzer behandelt stärker das Verhältnis von Netzwerken und verschiedenen Formen gesellschaftlicher Differenzierung (2008) sowie das Verhältnis von Sozialbeziehungen und anderen Typen sozialer Systeme (2010). Dabei argumentiert er insbesondere – im Anschluss an die Überlegungen von Johannes Schmidt (2007) zum Beziehungsbegriff – dass Sozialbeziehungen vor allem in Interaktionssystemen entstehen, diese aber eben auch überdauern und somit mehrere Interaktionssysteme miteinander verknüpfen. Allerdings strukturieren Sozialbeziehungen bei Holzer auch die (telefonische und andere) Kommunikation unter Abwesenden und unterscheiden sich so von reinen „Interaktionszusammenhängen“ (2010). Meine Arbeiten zielen hingegen auf eine allgemeine kommunikationstheoretische Grundlegung von Netzwerken, die – wie bei Baecker und Fuchs – gleichberechtigte Strukturen der Kommunikation bilden, die im Prinzip neben Systemen existieren können. Die Idee ist, dass Kommunikation allgemein daraufhin beobachtet wird, welche Implikationen sie für das Verhältnis zwischen Personen hat, und dass sich Sozialbeziehungen und Netzwerke als Strukturen von diesbezüglichen Erwartungen bilden. Sowohl Holzer als auch mir zufolge wären Netzwerke selbst keine Systeme (bzw. nur ausnahmsweise, wenn sie sich wie bei Fuchs zu Systemen schließen). Sie bestehen vielmehr aus der Verknüpfung dyadischer Sozialsysteme. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für größere soziale Gebilde wie Organisationen oder Staaten. Auch zwischen ihnen können Sozialbeziehungen als emergente Einheiten entstehen, die in Netzwerken miteinander verknüpft sind.
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2.9 Vergleich Die in Abschnitt 2 behandelten Autoren konzipieren das Verhältnis von Netzwerken und Systemen auf sehr unterschiedliche Weise. Tabelle 1 zeigt die wichtigsten Aspekte der verschiedenen Positionen im Vergleich. In der ersten Spalte ist das von den jeweiligen Autoren konzipierte Verhältnis von Systemund Netzwerkbegriff eingetragen. Die zweite Spalte gibt an, wie Netzwerke von den Autoren systemtheoretisch modelliert werden, und die dritte, wo sie in der Architektur der Systemtheorie verortet werden. In der vierten Spalte schließlich sind die jeweiligen sozialen Phänomene aufgelistet, auf die sich die Autoren beziehen. Autor
Verhältnis NW/System
Luhmann
unklar
Teubner
NW Spezialfall von Systemen
Kämper/ Schmidt Tacke
NW nachgeordnet gegenüber Systemen komplementär
Bommes/ Tacke
NW Spezialfall von Systemen
Fuchs
Systeme Spezialfall von NW komplementär
Baecker Holzer/ Fuhse
NW bestehen aus dyadischen Systemen
Verortung NW in der Systemtheorie
Gegenstand
parasitär/quer zu Funktionssystemen zwischen Organisationen, in Funktionssystemen in/zwischen Organisationen
Mafia, Exklusionsbereiche (Favelas) Organisations- NW (Staat, Franchising etc.) Joint-Ventures/ Franchising-NW
Verknüpfung von Adressen aus Funktionssystemen reziproke Leistungskommunikation -/-
parasitär/sekundäre Ordnungsbildung
persönliche NW
sekundäre ‚Systembildung‘
informelle Vereinigungen
auf allen Ebenen
Form von Kommunikation Sozialbeziehungen sind autopoietische Systeme
quer zu Funktionssystemen verknüpfen Interaktionen/eigenständige Strukturen
v.a. kulturelle NW (Wissenschaft etc.) unklar
Theoretische Modellierung Netzwerke -/Doppelattribution auf System und auf NW strukturelle Kopplung von Systemen
vor allem persönliche NW
Tabelle 1: Systemtheoretische Versionen des Netzwerkbegriffs im Vergleich
Während bei Luhmann das Verhältnis der beiden Grundbegriffe ungeklärt bleibt, sehen Teubner und Bommes/Tacke Netzwerke selbst als Systeme. Dies liegt wesentlich daran, dass diese Autoren spezifische Gegenstände im Blick haben, die in der konventionellen Netzwerkforschung typischerweise nicht behandelt werden: Teubner befasst sich mit Organisationsnetzwerken, in denen eine Doppelattribution auf die einzelnen Einheiten und auf das Gesamtnetzwerk besteht. Bommes/Tacke betrachten dagegen informelle Vereinigungen, die sich selbst als Netzwerke bezeichnen und durch diese Selbstbeschreibung Folgekommunikation konditionieren.
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Die Arbeiten von Tacke, Kämper/Schmidt, Fuchs und Baecker sowie von Holzer und mir beziehen sich dagegen auf Netzwerke als prinzipiell unabgeschlossene Strukturen, ähnlich wie dies in der konventionellen Netzwerkforschung der Fall ist. Insofern können hier keine Systemgrenzen eingezogen werden. Netzwerke werden vielmehr bei Tacke und Baecker zu einer komplementären Strukturform neben Systemen. Tacke sieht Netzwerke als Verknüpfungen von Adressen aus Funktionssystemen (und entsprechend als Formen ‚sekundärer Ordnungsbildung‘); Baecker rekurriert auf die allgemeine Formentheorie, um Netzwerke als eine Form von Kommunikation neben Netzwerken (und anderen Formen) zu konzipieren. Fuchs zufolge „involuieren“ Netzwerke nur ausnahmsweise zu Systemen. Systeme wie Interaktionen, Gruppen oder Organisationen bilden damit Sonderfälle von Kommunikationsnetzwerken, die eine Sinngrenze nach außen ziehen und sich im Inneren verdichten. Für Fuchs ist daher das Netzwerk das ‚Masterkonzept‘, aus dem Systeme abgeleitet werden müssen. Eine begriffliche Modellierung von Netzwerken fehlt aber auch hier. Bei Boris Holzer und mir bestehen Netzwerke aus Sozialbeziehungen, die als autopoietische Systeme konzipiert sind. Als solche strukturieren sie die Kommunikation zwischen den Beziehungspartnern, indem sie spezifische, an Personen ansetzende Erwartungen ausbilden. Prinzipiell lassen sich diese Überlegungen auch auf Netzwerke zwischen kollektiven und korporativen Akteuren übertragen, etwa auf das Zusammenspiel von Organisationen im Markt oder auf die internationalen Beziehungen von Staaten.
Netzwerke als Systeme Insgesamt zeigen sich damit zwei Grundtendenzen: Autoren wie Teubner und Bommes/ Tacke konzipieren Netzwerke als Systeme, weil sie mit dem Staat, Franchising-Systemen oder informellen Vereinigungen relativ geschlossene Sozialgebilde vor Augen haben. Diese zeichnen sich durch die Etablierung einer Sinngrenze zwischen Innen und Außen und eine Konditionierung von Anschlusskommunikation anhand eines gemeinsamen inhaltlichen Fokus des Netzwerks aus. Ansatzweise findet sich eine solche Sichtweise auch in Luhmanns Ausführungen zur Mafia. Wie Fuchs verdeutlicht hat, handelt es sich hier aber um Spezialfälle der Strukturen, die in den Sozialwissenschaften als ‚Netzwerke‘ bezeichnet werden.
Netzwerke als komplementäre soziale Phänomene Aus Sicht der anderen Position basieren Netzwerke auf dyadischen Sozialbeziehungen und sind nicht geschlossene Strukturen. Da die Systemtheorie bislang keinen adäquaten Begriff für derartige Strukturen hat, bezeichnen Luhmann, Tacke und Baecker Netzwerke als soziale Phänomene, die sich komplementär zu autopoietischen sozialen Systemen wie Interaktionen, Organisationen oder Funktionssystemen verhalten. Teilweise verzichten die Autoren auf eine systemtheoretische Konzeption von Netzwerken (vor allem Baecker), oder sie bieten Modellierungen an, die auf unterschiedlichen Facetten der Systemtheorie aufbauen (Kämper/ Schmidt und Holzer/Fuhse).
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Insgesamt tut sich also die Systemtheorie schwer mit einer Modellierung sozialer Netzwerke und mit deren Einordnung in die Theoriearchitektur. Dies liegt wohl wesentlich daran, dass der auf Geschlossenheit setzende Systembegriff dem prinzipiell unabgeschlossenen Netzwerkkonzept entgegensteht. Die Systemtheorie sieht fluide, interrelationale soziale Strukturen ohne klare Außengrenzen nicht vor. Aber gerade deswegen täte es ihr gut, den Netzwerkbegriff zu integrieren – auch weil er sich für eine Verbindung zu empirischer Forschung eignet.
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Systemtheoretische Beiträge zur Netzwerktheorie
Ungeachtet dieser Uneinigkeit der Systemtheoretiker, die sich mit dem Phänomen ‚Netzwerk‘ befasst haben, lassen sich einige Beiträge der Systemtheorie festhalten, die für das Verständnis sozialer Netzwerke relevant sind. Die folgenden Ausführungen gehen von der gegenwärtig ausgefeiltesten Theorie sozialer Netzwerke – der relationalen Soziologie um Harrison White – aus und fragen nach dem Mehrwert, den die Systemtheorie der relationalen Soziologie zu bieten hat. An dieser Stelle will ich anhand einiger wichtiger Grundbegriffe die Chancen einer solchen Verknüpfung der beiden Theoriekontexte diskutieren: Sinn, Kommunikation, Identitäten und funktionale Differenzierung. Dabei nehme ich einige der im zweiten Abschnitt vorgestellten Überlegungen wieder auf, ziehe diese jedoch zu einer eigenen, kohärenten Sichtweise zusammen.
3.1 Netzwerke aus Kommunikationsprozessen Wie entstehen und reproduzieren sich Netzwerke als relativ stabile soziale Strukturen? Während die Netzwerkforschung hier keine ausgearbeitete Antwort bietet, lässt sich diese Frage recht gut mit dem Kommunikationsbegriff von Luhmann beantworten: Der Theorie von Luhmann zufolge sind alle sozialen Prozesse als Kommunikation zu kennzeichnen; soziale Strukturen entstehen und verändern sich im Verlauf von Kommunikation (1984: 193ff., 1995: 115ff.). Auch soziale Netzwerke sind demnach aus Kommunikation gebaut; sie entstehen in der Kommunikation und verändern sich in der Kommunikation (Malsch 2005; Albrecht 2008). Wie lassen sich nun die Entstehung und die Veränderung von Netzwerken im Kommunikationsprozess beschreiben? Wie bereits in den Ausführungen zum Autopoiesis-Begriff (vgl. Abschnitt 2.1) und zum Netzwerkbegriff von Fuchs (2.6) erwähnt, sind auf der Ebene der Operationen die Kommunikationen miteinander vernetzt, indem sie sich aufeinander beziehen. Aber Kommunikation operiert nicht nur selbstläufig, sondern wird immer auch (von Folgekommunikation) als Handeln beobachtet (Schneider 1994). Äußerungen werden Akteuren bzw. Personen zugeschrieben, die damit als Zurechnungspunkte der Kommunikation fungieren (Luhmann 1984: 155, 1995: 142ff.). Aus diesen Zuschreibungen entstehen Erwartungen bezüglich des Verhaltens von Personen zueinander. D. h. die Personen werden in ein Netzwerk wechselseitiger Erwartungen eingebunden. Auf der Ebene der Beobachtungen sorgt Kommunikation also für die Entstehung sozialer Netzwerke: Identitäten von Personen oder Akteuren entstehen im
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Kommunikationsprozess und werden relational aufeinander bezogen (Fuhse 2009a). Damit unterscheidet sich dieser Prozess der kommunikativen Entstehung von Netzwerken von der Emergenz von Systemen darin, dass hier Erwartungen in der Sozialdimension bezüglich der Beteiligung konkreter Personen an der Kommunikation entstehen, während die Strukturen von sozialen Systemen weitgehend ohne Personen auskommen. Dabei kann die Abweichung von Erwartungen zu deren Revision führen – mit der Folge, dass Netzwerke sich verändern. Nicht zuletzt müssen Netzwerke als an Personen ansetzende Erwartungsstrukturen immer wieder aktualisiert werden, ansonsten verschwinden sie. Insofern kann man davon sprechen, dass soziale Netzwerke als relativ stabile Strukturen in der Kommunikation entstehen und sich in der Kommunikation verändern. Dabei orientiert sich Folgekommunikation an diesen Strukturen und wird – im systemtheoretischen Vokabular – vom Netzwerk hervorgebracht. Allerdings fehlt es Netzwerken meist an einer sinnhaften Außengrenze, über die es sich von seiner Umwelt unterscheidet. Deswegen sind Netzwerke als relationale Erwartungsstrukturen der Kommunikation zu kennzeichnen, auch wenn sie selbst keine selbstreferentiell geschlossenen Systeme sind. In der Theorie sozialer Netzwerke entspricht vor allem das Konzept der Transaktionen dem Kommunikationsbegriff von Luhmann. So betont Mustafa Emirbayer, dass überpersönliche Transaktionen (im Gegensatz zum an Akteuren ansetzenden Interaktionsbegriff) zur Grundeinheit von Netzwerken wird (1997: 287). Charles Tilly zufolge entstehen alle sozialen Strukturen aus „interpersonal transactions“ (2005: 6f.). White hat inzwischen den Kommunikationsbegriff von Luhmann selbst aufgenommen und sieht Netzwerke – annähernd im hier vorgestellten Sinne – als Resultate des Kommunikationsprozesses (White et al. 2007: 545f.).5 David Gibson weist (unter Verweis auf Luhmann) sogar nach, dass die Struktur von Netzwerken auf der Ebene von basalen Kommunikationsprozessen beobachtbar ist (2003: 1357). Netzwerke sind in diesem Sinne keine feststehenden Strukturen, sondern einerseits analytische Abstraktionen, um relativ dauerhafte Erwartungsstrukturen zu kennzeichnen. Andererseits sind sie wohl auch ‚Realabstraktionen‘, also in der Kommunikation entstandene Konstrukte, die weitere Kommunikation anleiten. Auch wenn der Netzwerkbegriff Stabilität suggeriert, müssen Netzwerke aber prinzipiell dynamisch und auf die Reproduktion in Kommunikationsprozessen angewiesen gedacht werden.
3.2 Netzwerke als Sinnstrukturen Der Netzwerktheoretiker Harrison White hat unter Bezug auf Luhmanns Soziale Systeme den Sinnbegriff als Luhmanns wichtigsten Beitrag zu einer Theorie sozialer Netzwerke bezeichnet (White et al. 2007: 515f.).6 In der Kommunikation werden Sinnformen generiert, die 5
Marco Schmitt sieht schon vorher zwei „kommunikative Wenden“ in Whites Theorie: Einerseits mit dem StoryBegriff, der die Dynamik von Netzwerken betont, andererseits mit der zentralen Bedeutung des „Switchings“ zwischen Netzwerkkontexten (Schmitt 2009: 255ff., 271ff.).
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In der zweiten Auflage von Identity and Control verweist White bereits einige Male auf Luhmann (2008: 177ff.; 237ff.). Eine theoretische Auseinandersetzung mit der Systemtheorie nimmt White aber erst in dem (später geschriebenen) Artikel in Soziale Systeme vor (White et al. 2007).
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weitere Kommunikation anleiten. Dies geschieht vor allem in Form von Erwartungen (siehe Abschnitt 3.1), und so basieren soziale Netzwerke auf Sinn. Sie bestehen aus den Erwartungen, Symbolen und anderen kulturellen Mustern, die sich in der Kommunikation herausbilden. Im Gegensatz zu Max Weber und Alfred Schütz konzipiert Luhmann Sinn nicht subjektiv und in den Köpfen von handelnden Akteuren (1984: 92ff.), wenngleich ihm zufolge auch psychische Systeme im Medium des Sinns operieren. Aber in erster Linie wird Sinn Luhmann zufolge in der Kommunikation, also in sozialen Systemen, generiert und reproduziert. Diese soziale Fassung des Sinnbegriffs sieht White als kompatibel mit seinen eigenen Überlegungen. Netzwerke werden bei White und seinen Anhängern als sinnhafte Gebilde gedacht, in denen Kultur (die sogenannte „domain“) und Struktur (das Netzwerk) untrennbar verwoben sind (White 1995: 1038ff.; Mische/White 1998: 702ff.; Mische 2003; Fuhse 2009b).7 Teil dieser Sinnstruktur in Netzwerken sind die Erwartungen bzw. Stories in den einzelnen Sozialbeziehungen, die Symbole, Idiome und grammatischen Muster in einem Netzwerk, aber auch die Identitäten der Knoten in einem Netzwerk (Mische/White 1998: 702, vgl. Abschnitt 3.3). Diese Sinnstruktur dient nach White nicht nur der Überwindung von „doppelter“, sondern sogar von „multipler Kontingenz“ zwischen mehr als zwei Akteuren (White et al. 2007: 517). Nicht nur das Verhältnis von Alter und Ego, sondern auch die Beziehungen zu weiteren Akteuren werden über solche sinnhaften Erwartungen strukturiert. Einzelne Sozialbeziehungen stehen nicht isoliert in der sozialen Welt, sondern sind immer eingebettet in ein Netzwerk von weiteren Beziehungen, deren Verhältnis zueinander ebenfalls auf der Sinnebene geklärt werden muss. Ein Beispiel dafür sind die Sozialbeziehungen in einer Familie, in der die einzelnen Dyaden über spezifische Erwartungen miteinander gekoppelt sind.
3.3 Identitäten in Netzwerken und in Systemen Wenn man – wie oben vorgeschlagen – Sozialbeziehungen als die Grundkomponenten von Netzwerken begreift (vgl. Abschnitt 2.8), dann stellt sich die Frage, wie Sozialbeziehungen miteinander verknüpft sind und so ein Netzwerk bilden. Diese Frage zielt auf die Knoten in Netzwerken und nicht zuletzt darauf, welche Einheiten als Knoten sozialer Netzwerke in Frage kommen. Bei Teubner und Kämper/Schmidt liegt der Fokus auf Organisationen; Tacke hingegen betrachtet – wie Holzer und Fuhse – vor allem Personen als Knoten in Netzwerken. Fuchs vermeidet eine Engführung; bei ihm können Netzwerke, Kommunikation, Gruppen, Interaktionen, Personen zu Knoten in Netzwerken werden. In der oben vorgestellten Konzeption sind Sozialbeziehungen auf Personen oder korporative bezogene Erwartungsstrukturen – sie sind somit eine spezifische Antwort auf das Problem der doppelten Kontingenz. Dafür ist es nötig, dass die beteiligten Systeme in der Kommunikation einerseits als undurchschaubare und andererseits als abgeschlossene Zurechnungsein7
Die Begriffe „Kultur“ und „Sinn“ werden hier weitgehend synonym gebraucht. Während Sinn eher ein Sammelbegriff für symbolische Formen (Symbole, Schemata, Erwartungen) und deren Verknüpfungen miteinander ist, steht „Kultur“ für den Vorrat an symbolischen Formen in einem bestimmten Kontext – und dies immer in Vergleich zu anderen Kontexten mit anderen „Kulturen“.
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heiten auftauchen. So kann – den Argumenten von Peter Fuchs und Bommes/Tacke folgend – etwa eine Person oder eine Organisation als „Adresse“ von Kommunikation fungieren (Fuchs 1997; Bommes/Tacke 2006: 44). Ein Funktionssystem wie die Wirtschaft oder die Wissenschaft hingegen ist zu stark fragmentiert und zu dezentral organisiert, als dass man Kommunikation an es adressieren oder dass dem Funktionssystem Handeln zugerechnet werden könnte. Während Kommunikation immer wieder als das Mitteilungshandeln von Personen beobachtet wird (Schneider 1994), operieren Organisationen selbst mit Entscheidungen, die dann dem Gesamtsystem Organisation zugerechnet werden können. Wenn man dieser Konzeption folgt, können lediglich Personen und Organisationen (möglicherweise auch ‚kollektive Identitäten‘ wie z. B. soziale Bewegungen), aber nicht Funktionssysteme und auch nicht Interaktionssysteme, Begriffe oder nicht-menschliche Einheiten (wie in der Akteur-Netzwerk-Theorie, vgl. den Beitrag von Schulz-Schaeffer in diesem Band) als Knoten von sozialen Netzwerken auftauchen. Dabei werden – anders als in handlungstheoretischen Konzeptionen – in der Systemtheorie immer die Kommunikationsprozesse im Netzwerk und nicht die internen Prozesse der beteiligten psychischen Systeme oder Organisationen als entscheidend angesehen. Für persönliche Netzwerke bedeutet dies, dass nicht die psychischen Systeme als Knoten in Netzwerken fungieren, sondern lediglich deren kommunikative Beobachtung als „Personen“ (Luhmann 1995: 142ff., vgl. Abschnitt 3.1). Über die mit einer Person verknüpften Erwartungen können dann auch verschiedene Sozialbeziehungen aneinander geknüpft werden. Denn Personen sind immer in eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Kontexte und Beziehungen eingebettet. In der Netzwerktheorie werden diese Zusammenhänge unter dem Stichwort „Identität“ behandelt (White 2008: 1ff., 9ff.). Netzwerke bestehen aus Relationen zwischen unterschiedlichen Identitäten, dazu gehören Personen genauso wie Firmen, Staaten oder soziale Bewegungen. Diese Identitäten ringen einerseits, White zufolge, im Netzwerk um Kontrolle. Andererseits werden die Identitäten in diesem Prozess erst definiert – genauso wie die Personen, Luhmann zufolge, in der Kommunikation konstruiert werden (Fuchs 2001: 251ff.).8 Identitäten werden dabei immer in Relation zu anderen Identitäten konstruiert, durch die Narrative („Stories“), die ihre Beziehungen zueinander ausmachen (Somers 1994). Dieser Gedanke hat allerdings zur Konsequenz, dass die Relevanz von Personen für Netzwerke nicht ausschließlich in Sozialsystemen wie Organisationen oder Funktionssystemen konstruiert wird, wie etwa Bommes und Tacke dies in ihrem auf Leistungskommunikation fokussierenden Ansatz nahe legen. Folgt man den Überlegungen von White, dann wird die Identität von Personen auch in Sozialbeziehungen und in Netzwerken verhandelt. So ist man in einer Liebesbeziehung oder in einer Freundschaft oft ein anderer als etwa am Arbeitsplatz. Die Identität von Personen entwickelt sich dann aber nicht ausschließlich in einzelnen Sozi-
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Dabei benutzt White mehrere, teilweise untereinander inkompatible Verständnisse von Identität: einerseits als vorsoziale, um Kontrolle ringende Identitäten, andererseits aber als Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen. Besser sind diese zwei Seiten von Identität mit den Begriffen psychisches System/Mensch und Person bei Luhmann gekennzeichnet.
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albeziehungen, sondern im ‚Switching‘ von einem Kontext zum anderen – also im Netzwerk von teilweise sehr unterschiedlichen Sozialbeziehungen (White 1995; Holzer 2006: 100ff.). Wenn die Identität von Personen nicht allein in überpersönlichen Sozialsystemen konstruiert wird, sondern auch in den sozialen Netzwerken, dann werden Netzwerke dadurch relevant in Organisationen und Funktionssystemen. So werden etwa Arbeitsstellen oft über persönliche Beziehungen vermittelt, wenn Bekannte oder Freunde als fähig und zuverlässig empfohlen werden. Oder ein Politiker nutzt seine persönlichen Beziehungen in Vereinen, zu Journalisten und zu Unternehmen, um seine Wahlchancen zu erhöhen. Dabei werden nicht lediglich systemisch definierte Identitäten miteinander verknüpft, wie es Tacke suggeriert, sondern diese werden im Netzwerk teilweise erst konstruiert. Auch die Identität von Wissenschaftlern wird nicht allein durch die unpersönliche Anwendung des Wahrheitscodes (wahr/unwahr) auf wissenschaftliche Kommunikation entschieden. Für die Reputation ist vielmehr entscheidend, ob ein Wissenschaftler im Netzwerk von anderen Wissenschaftlern als originell oder eigenwillig, als innovativ oder uninteressant gekennzeichnet wird (Collins 1998). Dabei kommt es nicht selten vor, dass ein Autor in einem Netzwerk als Koryphäe gilt, in einem anderen als Scharlatan. Nicht das Wissenschaftssystem an sich definiert die Identität des Wissenschaftlers, sondern die Netzwerke in der Wissenschaft, in denen Denkschulen um Anerkennung und um Ressourcen konkurrieren.
3.4 Funktionale Differenzierung und Netzwerke Luhmann zufolge ist die Gesellschaft der Gegenwart funktional differenziert in autonome Subsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Massenmedien, Kunst, Familie, Medizin und Erziehung (1997: 707ff.). Eine wichtige Aufgabe für die Systemtheorie läge deswegen in der Einordnung von Netzwerken in die funktional differenzierte Gesellschaft (Bommes/Tacke 2006: 40). Mit dem Übergang von segmentär differenzierten Stammesgesellschaften zu stratifizierten Feudalgesellschaften und schließlich zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft ändert sich der Charakter von Netzwerken (Tacke 2000; Bommes/Tacke 2006: 40ff.; Holzer 2006: 98ff.; 2008). In Stammes- und Feudalgesellschaften sind die sozialen Beziehungen durch die Zuordnung zu gesellschaftlichen Segmenten, Schichten oder Ständen weitgehend vorgegeben. Erst in der modernen funktionalen Differenzierung können soziale Netzwerke der Systemtheorie zufolge eine eigenständige Qualität gewinnen, weil die Sozialbeziehungen nicht mehr durch die Gesellschaftsstruktur vorgegeben sind (Luhmann 1984: 543f.). Mit der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen werden Alltagskommunikation und Sozialbeziehungen von vielen Funktionen befreit und somit mehr und mehr losgelöst von der gesellschaftlichen Gesamtstruktur. Durch diese Freigabe sozialer Bindungen in der modernen Gesellschaft können sich ‚unterhalb‘ der Funktionssysteme Netzwerke bilden. Diese setzen an der Primärstruktur der Funktionssysteme an und nutzen diese „parasitär“ aus (Luhmann 1995: 251; Tacke 2000: 299, 317). Im Zuge des Übergangs zu funktionaler Differenzierung ändert sich die Struktur der Adressen von Personen, an denen die Netzwerke an setzen. Sie werden
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‚polykontextural‘, da eine Person in verschiedenen Kontexten (etwa verschiedenen Funktionssystemen) in unterschiedlicher Weise als relevant markiert werden kann. Netzwerke können die Möglichkeiten, die mit diesen polykontexturalen Adressen verknüpft sind, miteinander kombinieren (Tacke 2000: 293). Auf diese Weise bilden sich etwa Netzwerke von Politikern, Journalisten und Managern aus der Wirtschaft, die durch den Austausch von Leistungen in Politik, Massenmedien und Wirtschaft getragen werden. Dabei kann die Eigenlogik dieser Funktionssysteme punktuell ausgehebelt werden, wie die Phänomene Korruption oder Mafia zeigen. Netzwerke können also die verschiedenen Funktionssysteme miteinander verknüpfen und dabei teilweise unterlaufen; sie stehen als sekundäre Struktur quer zur primären Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme. Auch innerhalb der Funktionssysteme können Netzwerke eine wichtige Rolle spielen. Dies haben Kämper/Schmidt mit ihrer Arbeit über Organisationsnetzwerke gezeigt, in der sie vor allem Netze im Wirtschaftssystem betrachtet haben (vgl. Abschnitt 2.3). Auch Teubner konzipiert den Staat als Netzwerk von politisch-administrativen Organisationen. Andere Beispiele sind Wissenschaftler-Netzwerke, in denen Prestige, Ressourcen und nicht zuletzt auch wissenschaftliche Wahrheit verhandelt werden (Mullins 1973; Collins 1998; Fuchs 2001; Leydesdorff 2001). Damit wird deutlich, dass Netzwerke folgenreich für die Dynamik von Funktionssystemen sein können. So lassen sich die Konflikte zwischen verschiedenen Denkschulen in der Philosophie nicht allein durch Anwendung des Codes wahr/unwahr erklären, der im Wissenschaftssystem gilt. Dieser wird zwar immer mitgeführt – aber letztlich überzeugt nicht allein der von einzelnen Wissenschaftlern abgelöste Inhalt von Wissenschaftskommunikation, sondern immer auch der Zugang zu Ressourcen und zu Deutungsmacht, die über Netzwerke und die Konstruktion von Prestige im Netzwerk generiert werden. Ähnliches lässt sich für den Bereich der Kunst feststellen, in dem ‚Kunst‘ und der Wert von Werken (und Künstlern) im Netzwerk Ergebnisse des Wechselspiels mit anderen Künstlern, Kritikern, Galerien und Museen sind (White 1993; Anheier et al. 1995). Soziale Netzwerke sind also innerhalb der Funktionssysteme und auch zwischen ihnen zu finden: Einerseits werden in Netzwerken Entscheidungspositionen der verschiedenen Funktionssysteme miteinander verknüpft: Journalisten, Politiker, Manager etc. können Leistungen austauschen, auf die sie durch ihre jeweiligen Rollen in Massenmedien, Politik und Wirtschaft Zugriff haben. (Netzwerke zwischen Funktionssystemen) Andererseits können derartige Rollen auch innerhalb der Funktionssysteme miteinander verknüpft werden – etwa wenn Manager aus unterschiedlichen Unternehmen miteinander ‚netzwerken‘ oder wenn Wissenschaftler aufgrund persönlicher Bekanntschaft Einladungen zu Vorträgen, Informationen über Stellen (und entsprechende Empfehlungen) oder den Zugang zu Zeitschriften miteinander tauschen. (Netzwerke innerhalb der Funktionssysteme)
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Resümee
Wie die Ausführungen dieses Beitrags gezeigt haben, ergeben sich eine Reihe von Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen der Systemtheorie und der Netzwerkforschung, aber auch einige Herausforderungen. Beide sehen Akteure gleichermaßen nicht als die Triebfeder des Sozialen. Die Netzwerkforschung rückt die zwischenmenschlichen Interaktionsstrukturen ins Zentrum, während in der Systemtheorie die überpersönlichen Kommunikationssysteme im Mittelpunkt stehen. Die Verknüpfung von Netzwerkbegriff und Systemtheorie wird bei den vorgestellten Autoren auf sehr unterschiedliche Weise vorgenommen: Während bei Tacke und Kämper/Schmidt die Netzwerke den Systemen nachgeordnet sind, sieht Baecker sie als komplementäre, nicht ineinander überführbare Formen der sozialen Ordnungsbildung. Für Fuchs sind Netzwerke das grundlegende Phänomen; nur ausnahmsweise verdichten sich Netzwerke im Rahmen einer ‚Involution‘ zu Systemen. Holzer und ich haben vorgeschlagen, Sozialbeziehungen als autopoietische, selbstrefenzielle Systeme aufzufassen, die eine spezifische Antwort auf das Problem der doppelten Kontingenz zwischen Alter und Ego bilden. Im dyadischen Austausch entwickeln sich zwischenmenschliche Erwartungen und Erwartungserwartungen, an denen die Folgekommunikation anknüpfen kann und muss. Diese dyadischen Erwartungsstrukturen verknüpfen sich zu Netzwerken, deren Dynamik auf dem Systemcharakter der einzelnen Beziehungen gründet. White argumentiert schließlich, dass Netzwerke sogar eine „multiple Kontingenz“ bearbeiten, d. h. Erwartungen können auch das Verhalten mehrerer Akteure strukturieren. White zufolge liefert der Luhmannsche Sinnbegriff eine wichtige Grundlage für seine Theorie sozialer Netzwerke. Anders als Weber sieht Luhmann Sinn nicht primär subjektiv, in den Köpfen der Beteiligten. Vielmehr entstünden Sinnformen in der Kommunikation und würden hier reproduziert, verändert oder auch fallengelassen. Doch während Luhmanns Systemtheorie Sinn gewissermaßen objektiv in überpersönlichen Systemen verankert sieht, lenkt die Netzwerkforschung den Blick auf die Verknüpfung von Sinn mit kleinteiligeren Netzwerken. Sinn wird hier relational – also in den Relationen zwischen den Akteuren angelegt (Mützel/Fuhse 2010).9 So können zum Beispiel Denkschulen innerhalb des Wissenschaftssystems ganz unterschiedliche Vorstellungen von wissenschaftlicher Wahrheit entwickeln. Bestandteil dieser Sinnebene ist die Konstruktion der Identitäten von Akteuren oder Personen. Sowohl in der Systemtheorie Luhmanns als auch in der Netzwerktheorie von White sind die Identitäten von Personen das Resultat von Kommunikationsprozessen. Doch während Personen in der Systemtheorie als weitgehend passive Konstrukte erscheinen, setzt die Netzwerktheorie an den relational konstruierten Identitäten an. Relationen und Identitäten entwickeln sich hier synchron und sorgen so für die Dynamik des Sozialen. Dazu gehört
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Allerdings finden sich auch in der Netzwerktheorie um White (vor allem bei Emirbayer) Positionen, die auf den subjektiven Sinn von Akteuren rekurrieren (Emirbayer/Goodwin 1994; Emirbayer/Mische 1998). Dies weicht jedoch von den Ausführungen bei White deutlich ab und ist auch mit der Systemtheorie Luhmanns relativ wenig kompatibel.
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nicht zuletzt das ‚Switching‘ zwischen verschiedenen Kontexten. Im ‚Switching‘ konstituieren sich White zufolge, die Identitäten, mit denen die Netzwerke umgehen müssen. Insgesamt bietet die Verbindung aus Netzwerkforschung und Systemtheorie große Chancen für beide Richtungen: Systemtheoretische Konzepte wie Kommunikation, Sinn, funktionale Differenzierung, strukturelle Kopplung etc. liefern Impulse für die Entwicklung einer systematischen und konsistenten Theorie sozialer Netzwerke und weisen damit über den Ansatz von White hinaus. Umgekehrt kann die Netzwerkforschung der Systemtheorie erstens zu einer genaueren Beschreibung von informellen Beziehungsstrukturen verhelfen und andererseits den Anschluss an die empirische Forschung ermöglichen. So könnten beispielsweise systemische Strukturen auf der Ebene sozialer Netzwerke oder die Auswirkungen von Kommunikationsprozessen auf die Formation von Netzwerken analysiert werden. Bis dahin erscheint es aber gegenwärtig noch ein weiter Weg mit einigen zu überwindenden Grenzen.
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. Rainer Diaz-Bone, geb. 1966, ist Professor der Soziologie mit dem Schwerpunkt qualitative und quantitative Methoden am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Robin D. Fink, geb. 1983, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Techniksoziologie der Technischen Universität Dortmund. Jan A. Fuhse, geb. 1975, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Martin Heidenreich, geb. 1956, ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Oldenburg. Dr. Eckhard Heidling, geb. 1960, ist Sozialwissenschaftler am ISF München. Prof. Dr. Dorothea Jansen, geb. 1956, ist Professorin für Soziologie der Organisation an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Prof. Dr. Christoph Knill, geb. 1965, ist Professor für vergleichende Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz. Tobias Liboschik, geb. 1986, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Statistik in den Biowissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Ansgar Schäfer, geb. 1978, ist Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für vergleichende Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz. Prof. Dr. Ingo Schulz-Schaeffer, geb. 1963, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der Universität Duisburg Essen. PD Dr. Christian Stegbauer, geb. 1960, ist Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Johannes Weyer, geb. 1956, ist Professor für Techniksoziologie an der Technischen Universität Dortmund.