Soldaten zwischen zwei Uniformen: Österreichische Italiener im Ersten Weltkrieg [1 ed.] 9783205232858, 9783205232834


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German Pages [249] Year 2020

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Soldaten zwischen zwei Uniformen: Österreichische Italiener im Ersten Weltkrieg [1 ed.]
 9783205232858, 9783205232834

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Schriftenreihe des Österreichischen Historischen Instituts in Rom Herausgegeben von Andreas Gottsmann Band 4 Wissenschaftlicher Beirat  : Emilia Hrabovec (Bratislava), Jochen Johrendt (Wuppertal), Luca Lecis (Cagliari), Andreas Pülz (Wien), Sebastian Schütze (Wien), Antonio Trampus (Venedig)

Andrea Di Michele

Soldaten zwischen zwei Uniformen Österreichische Italiener im Ersten Weltkrieg

BÖHLAU V ER LAG W IEN KÖLN W EIM AR

Finanziell unterstützt wurde diese Publikation – vermittelt über „Geschichte und Region/Storia e regione“ – von: Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Amt für deutsche Kultur, Autonome Region Trentino-Südtirol, Stiftung Südtiroler Sparkasse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Aus dem Italienischen von Salka Klos. Titel des Originals: Tra due divise. La Grande Guerra degli italiani d‘Austria © 2018 by Laterza, Roma-Bari Umschlagabbildung  : „Ricordo del’anno di guera 1914–15“ (Erinnerung an das Kriegsjahr 1914–15), Brixen, 1915 (Laboratorio di storia di Rovereto) Korrektorat: Phillip Knüpffer Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23285-8

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Reich, Nationalitäten, Italiener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 22 29 44

Für Österreich in den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Geschichtliche Entwicklung des Habsburgerreiches. 2. Österreichische Italiener. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sprachen und Nationalitäten.. . . . . . . . . . . . . . 4. Irredentisten gegen austriacanti?.. . . . . . . . . . . .

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1. Heer und Nationalitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Mobilisierung und Aufbruch.. . . . . . . . . . . . 3. Trauma in Galizien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt“. . 5. Ein Heer von Deserteuren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland .. . . . . 111

1. Gefangenschaft und Nationalitätenpolitik. . . . . . . . 2. Ein Angebot des Zaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unruhe in den Gefangenenlagern. . . . . . . . . . . . . 4. Selektion und Erziehung zur italienischen Gesinnung. 5. Wiens wachsames Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Italiener werden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

1. Aufnahme in Italien.. . . . 2. Flucht nach Fernost.. . . . 3. Gefangene der Revolution. 4. Zwanzig Jahre Rückkehr. .

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Schlussbemerkung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Abkürzungsverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Archive und Archivbestände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Archivalische Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Gedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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Literatur

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Zeitungen und Zeitschriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Für Laura

Einleitung Soldaten, die dieselbe Sprache sprechen wie der Feind – auf die über 110.000 italienischsprachigen Untertanen der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, die während des Ersten Weltkrieges in die k. u. k. Armee eingezogen wurden, traf diese Aussage ab dem Kriegseintritt Italiens 1915 eindeutig zu. Die italienischsprachigen Soldaten aus dem Trentino, Julisch Venetien, dem Friaul, Istrien und Dalmatien wurden an verschiedenen Fronten eingesetzt, vor allem aber kämpften sie in Galizien, dem östlichsten Kronland Österreichs, gegen die Russen. Für sie hatte der Krieg bereits im Juli 1914 begonnen, doch nach 1915, dem Jahr des Kriegseintritt des Königreiches Italien, wurde das Misstrauen der österreichischen Militärbehörden ihnen gegenüber noch größer, als es ohnehin schon gewesen war. Tausende von ihnen, vielleicht 30.000 oder mehr, landeten schließlich als Gefangene in Russland. Die Erfahrungen, die sie dort machten, waren sehr verschieden, und sie kehrten über völlig unterschiedliche Routen zurück1. Die meisten kamen nach dem Kriegsaustritt Russlands, der Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk und den darauffolgenden Vereinbarungen über den Gefangenenaustausch mit Österreich auf dem Landweg heim. Einem beträchtlichen Teil der Soldaten widerfuhr jedoch ein anderes Schicksal. Bereits während des Krieges wurden 4.000 italienischsprachige Gefangene durch eine ad hoc ins Leben gerufene italienische Militärmission in den Lagern ausfindig gemacht, in der Folge teilweise selektiert und „umerzogen“ und anschließend in Archangeľsk am Weißen Meer auf drei Dampfern Richtung Italien eingeschifft. Sie erreichten zwischen Oktober und November 1916 italienischen Boden. Weitere 2.600 Mann waren bereits durch die italienische Militärmission gesammelt worden, die im Begriff war, ihre Überfahrt nach Italien zu organisieren, als sie von der bolschewistischen Revolution überrascht wurden und in einer abenteuerlichen Reise 1

Es ist schwierig, genaue Zahlen zu den italienischsprachigen Gefangenen in Russland zu liefern. Laut Gaetano Bazzani, einen aus dem Trentino stammenden Offizier des italienischen Heeres, Mitglied der italienischen Militärmission in Russland, waren es etwa 25.000, davon weit über die Hälfte aus dem Trentino. Bazzani selbst hielt diese Zahl für schwer überprüfbar, „weil viele an Infektionskrankheiten wie Pocken, Typhus oder Cholera erkrankten und in Gefangenschaft starben, sodass jede Spur von ihnen verloren ist.“) (Gaetano Bazzani, Soldati italiani nella Russia in fiamme 1915–1920 [Trient 1933] 42). Gemäß der italienischen Militärmission, die sich nach dem Krieg in Wien befand, sollen es dagegen Anfang 1919 auch nach der Heimkehr einer beträchtlichen Anzahl von Gefangenen noch 30.000 gewesen sein (ASMAE, AG, b. 367, fasc. 72, sf. 88 Prig. irredenti in Russia. Contingenti italiani in Estremo Oriente, SGAC an Außenministerium, 16.4.1919).

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Einleitung

durch Russland in das italienische Konzessionsgebiet Tianjin (Tientsin) unweit von Peking. Ein Teil von ihnen, die Ältesten und die Kranken, kehrte nach einer regelrechten Weltreise in die Heimat zurück. Ein erstes Schiff brachte sie im Sommer 1918 zunächst nach San Francisco, bevor es durch die Vereinigten Staaten an die Ostküste weiterging, wo sie schließlich das Schiff nach Europa bestiegen. Andere Soldaten wurden hingegen in das italienische Expeditionskorps in Fernost eingegliedert, das in Sibirien gegen die Bolschewisten kämpfte. Gemeinsam mit Hunderten weiterer Italiener aus Österreich, die von einer neuen italienischen Militärmission aus verschiedenen Gefangenenlagern in ganz Russland zusammengeführt worden waren, kamen sie erst Anfang 1920 nach Hause – hinter ihnen lag eine lange Reise über den Indischen Ozean und den Suezkanal. Weitere von ihnen sollten in den folgenden Monaten oder Jahren entweder einzeln oder in Gruppen den Weg zurück in die Heimat finden, manche sogar erst in den 1930ern. Unabhängig von den abenteuerlichen, nahezu fantastisch anmutenden individuellen Erfahrungen, die sie während der langen Kriegsjahre – zwischen Krieg, Gefangenschaft und einer schwierigen Rückkehr – machten, stellt der Fall der italienischsprachigen Soldaten im Dienste der österreichisch-ungarischen Armee ein Phänomen von geschichtswissenschaftlichem Interesse dar. Ihr Schicksal zeigt in erster Linie die Komplexität der Nationalitätenfrage in der Doppelmonarchie auf, also die besonders seit Ende des 19. Jahrhunderts immer konfliktgeladeneren Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachgemeinschaften. Diese Entwicklungen mündeten in den Ersten Weltkrieg, der gleichsam als Katalysator fungierte und sie dramatisch beschleunigte. Angesichts der Kriegserlebnisse jener Soldaten, die einer der kleinsten nationalen Minderheiten des Habsburgerreiches angehörten, muss man sich fragen, wie sie von den österreichischen Militär- und Zivilbehörden wahrgenommen und behandelt wurden und warum man ihnen ständig Misstrauen entgegenbrachte – auch schon vor dem Kriegseintritt Italiens. Außerdem muss man sich damit befassen, mit welchen Gefühlen sie an die Front gingen, was ihre kulturelle, nationale und regionale Identität ausmachte und wie diese nach der Kriegserfahrung in Frage gestellt, verändert oder bekräftigt wurde, warum sie sich für Österreich oder für Italien entschieden, sofern sie überhaupt Gelegenheit hatten, diese Entscheidung selbst zu treffen. Das Königreich Italien war in dieser Konstellation der dritte Akteur: Rom begründete den Kriegseintritt Italiens damit, dass das „unerlöste Land“ unter Fremdherrschaft im Süden des Habsburgerreiches, die sogenannten terre irredente oder die Irredenta, befreit werden müsse, begegnete den italienischen Bewohnern dieser Gebiete, den irredenti aus Fleisch und Blut, allerdings mit misstrauischer Vorsicht und hielt sie für national unzuverlässig – ein Vorurteil, das sich durchaus mit dem der Österreicher ihnen gegenüber deckte.



Einleitung 

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Das vorliegende Buch versucht unter Heranziehung verschiedener Quellen, die gesamte Erfahrung dieser Soldaten sowohl aus Sicht der Institutionen als auch aus der Perspektive der Soldaten selbst zu beleuchten. Dabei wurde in der Darstellung der Sicht der Institutionen bewusst der Vorrang gegeben, da sie von der bisherigen Forschung am meisten vernachlässigt wurde. Von Trient bis nach Triest wird zur Kriegserfahrung der italienischsprachigen Soldaten in der k. u. k. Armee seit jeher solide geforscht, und es liegen wertvolle Publikationen dazu vor2. In diesen Arbeiten wurden bewusst der Schriftverkehr der Kriegszeit sowie die Tagebücher und Memoiren der Soldaten in den Mittelpunkt gestellt. Nicht so sehr herangezogen wurden die Quellen aus der politischen und militärischen Verwaltung, anhand derer wir uns ein vollständiges Bild über den Standpunkt und die konkreten Schritte der Regierungen sowie des österreichischen und des italienischen Heeres machen können. In diesem Buch soll in erster Linie die regionale Perspektive der bisherigen Forschung überwunden und die Situation des Trentino und des adriatischen Raumes gemeinsam analysiert werden. Die Recherche erfolgte auf Grundlage der in deutscher und italienischer Sprache vorliegenden wissenschaftlichen Literatur sowie der profunden Analyse von Archivmaterialien aus Rom und Wien. Eine Frage ist jedoch vorweg zu klären: Was ist gemeint, wenn in diesem Werk von „italienischen Soldaten“ die Rede ist? – Sie werden hier nicht aufgrund ihrer tatsächlichen oder mutmaßlichen Identifikation mit der italienischen Nation als „italienisch“ definiert, sondern aufgrund der summarischen Einteilung, die die österreichischen und italienischen Behörden damals vornahmen. Diese Behörden betrachteten all jene als Italiener, die Italienisch sprachen – das machte sie dann in ihren Augen entweder zu potenziell spalterischen Kräften innerhalb der Habsburgermonarchie oder zu Elementen, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem politischen Irredentismus sympathisierten. Mit musterndem Blick versuchten die Institutionen beider Länder zwanghaft ein klares und eindeutiges Gefühl nationaler Identifikation auszumachen, wandten dabei allerdings, wie noch zu sehen sein wird, nicht immer Kategorien an, die den Soldaten etwas bedeuteten – für diese waren „nachrangigere“ Identitätskriterien wie etwa 2

Für das Trentino sei auf die wissenschaftliche Produktion verwiesen, die zunächst in die Zeitschrift Materiali di lavoro (Rovereto) und dann in das Archivio della scrittura popolare der Fondazione Museo storico del Trentino Eingang fand. Zu Ursprung, Charakter und Protagonisten dieser fruchtbaren Zeit der Geschichtsschreibung siehe Quinto Antonelli, Scritture di confine. Guida all’Archivio della scrittura popolare (Trient 1999). Für den julischen Raum sind die Triestiner Zeitschrift Qualestoria und die in erster Linie von Marina Rossi und Sergio Ranchi, aber auch von Camillo Medeot, Lucio Fabi, Roberto Todero und anderen angestellten Forschungen von entscheidender Bedeutung. Auf besagte Geschichtsschreibung zu diesen beiden Regionen wird in den Anmerkungen zu den folgenden Kapiteln immer wieder genau verwiesen.

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Einleitung

ihr Tal oder ihr Heimatort wichtiger. In diesem Buch werden also alle als Italiener bezeichnet, die damals als Italiener galten, und zwar oft unabhängig von ihren eigenen Gefühlen und auch von ihrer Sprache, denn nicht wenige offiziell als Italiener geltende Bewohner der adriatischen Provinzen waren mehrsprachig und auch in mehreren Kulturen zu Hause, was so gar nicht zur starren Klassifizierung der Behörden passte. Der Krieg machte eine Vereinfachung von Gegebenheiten notwendig, die in Wirklichkeit komplex und facettenreich waren, in den darauffolgenden Jahrzehnten jedoch einer weiteren reduzierenden Uniformierung unterzogen wurden. Das vorliegende Buch ist in vier Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel bietet einen Überblick über die grundlegenden historischen Entwicklungen und die Charakteristika des habsburgischen Vielvölkerstaates in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Im Mittelpunkt stehen die vielschichtigen, von zahlreichen regionalen wie nationalen Komponenten abhängigen Dynamiken, vor allem die Geschichte des italienischen Bevölkerungsanteils, der beträchtlich war, bevor die Lombardei und Venetien 1859 bzw. 1866 an das Königreich Italien fielen – danach ging nicht nur der Anteil der italienischsprachigen Bevölkerung in Österreich zurück, sondern auch deren politischer und kultureller Einfluss. Unmittelbar vor dem Krieg lebten die wenigen verbliebenen Italiener in zwei Regionen, deren ethnische und sprachliche Charakteristika sehr unterschiedlich waren, trotz aller irredentistischen Propaganda, in der diese Regionen als Zwillingsschwestern italienischer Gesinnung außerhalb der Grenzen des Königreiches Italien dargestellt wurden. Das Trentino und das Litorale (österreichisches Küstenland) waren zwei grundverschiedene Welten, in denen der nationale Kampf unterschiedlichen Entwicklungen unterlag, die jedenfalls keineswegs von einem starren und deutlichen Gegensatz zwischen italianissimi (Italophilen) einerseits und austriacanti (Österreichtreuen) andererseits geprägt waren. Im zweiten Kapitel wird die Phase des Kriegsausbruchs beleuchtet. Zunächst wird vorweg die Struktur des österreichisch-ungarischen Heeres erläutert, in dem sich sämtliche Widersprüche und Bruchlinien zwischen den verschiedenen Nationalitäten der Monarchie widerspiegelten. Es folgt die Beschreibung der allgemeinen Mobilisierung im Juli 1914. In diesem Zusammenhang werden die Einziehung der Italiener, die Stimmung bei der Einberufung, ihre ersten Kriegserfahrungen in Galizien, das sofortige Misstrauen, das ihnen vonseiten der österreichischen Militärbehörden entgegenschlug, und die Verschlechterung ihrer Situation nach dem „Verrat“ Italiens am ehemaligen Verbündeten Österreich durch den Kriegseintritt des Königreiches im Mai 1915 geschildert. Für tausende Soldaten war die Kriegserfahrung vor allem von langen und schwierigen Phasen der Gefangenschaft geprägt – ein Schicksal, das auch vielen



Einleitung 

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österreichischen Italienern widerfuhr. Dieses Thema wird im dritten Kapitel behandelt, in dem die Erfahrungen dieser Soldaten im Kontext der weitreichenderen Dynamiken der russischen Nationalitätenpolitik betrachtet werden, mit der Russland die Stabilität seines Kriegsgegners Österreich-Ungarn zu untergraben suchte. Die italienischsprachigen Gefangenen wurden noch vor dem italienischen Kriegseintritt in den Beziehungen zwischen Russland und Italien insrumentalisiert. Sie wurden der italienischen Regierung zur Freilassung angeboten, in deren Reihen man sich allerdings fragte, wie tausende Männer, die unter feindlicher Fahne gekämpft hatten, nach Italien gebracht werden sollten. Unter den Vertretern der politischen und militärischen Führungsriege in Rom brach eine hitzige Debatte aus, die zur Entsendung einer italienischen Militärmission nach Russland führte, von der repatriierungswürdige Gefangene ausgewählt werden sollten. Durch die parallele Analyse der Dokumentation der italienischen Institutionen, des Materials aus den Ämtern der Habsburgermonarchie sowie der Soldatenmemoiren ergibt sich ein umfassendes Gesamtbild. Prägend waren in diesem Zusammenhang die jeweiligen – widersprüchlichen – Erwartungen, die gegenseitige und aufmerksame Kontrolle der Gefangenen durch beide Länder sowie die Auswirkungen der Propaganda von beiden Seiten, welcher die Soldaten in den Lagern ausgesetzt waren – Soldaten, die in erster Linie in ihre Heimat zurückkehren wollten. Das vierte und letzte Kapitel befasst sich mit der Aufnahme der Gefangenen, die von der italienischen Militärmission in Russland für den Rücktransport nach Italien ausgewählt worden waren: 4.000 Mann wurden im Herbst 1916 dorthin gebracht und sahen sich mit dem allgemeinen, tief verwurzelten Misstrauen der Institutionen, aber auch der Zivilbevölkerung konfrontiert. Währenddessen wurden wiederum Tausende italienische Gefangene von der bolschewistischen Revolution überrascht und rasch nach Fernost gebracht, wo sie teilweise im Rahmen der antibolschewistischen Militäraktionen der Westmächte erneut eingesetzt wurden. Auch hier offenbart der Vergleich zwischen Soldatenmemoiren und dem Material der militärischen und politischen Behörden die problematische Widersprüchlichkeit zwischen den Wünschen dieser Italiener, die nach Jahren in Russland schlicht ihrer Kriegserfahrung ein Ende setzten wollten, und den Bestrebungen der italienischen Institutionen, von denen die Männer weiterhin zu militärischen und propagandistischen Zwecken eingesetzt wurden. Zuletzt wird die Rolle der italienischsprachigen Soldaten im Rahmen der bolschewistischen Revolution und ihre auf verschiedenen Wegen erfolgte Rückkehr in die Heimat beschrieben, wo sie wie jeder, der während der Revolution in Russland gewesen war, mit Misstrauen bedacht wurden. Mein aufrichtiger Dank gilt allen Freunden und Kollegen, die mir aus Italien und Österreich wichtige bibliografische und archivalische Hinweise gege-

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Einleitung

ben haben: Quinto Antonelli, Matthias Egger, Nicola Fontana, Paolo Formiconi, Andreas Gottsmann, Richard Lein, Raoul Pupo, Mirko Saltori, Fabio Todero, Oswald Überegger und Stefan Wedrac.



Reich, Nationalitäten, Italiener

1. Geschichtliche Entwicklung des Habsburgerreiches Das territoriale und institutionelle Gefüge, in dem sich Österreich-Ungarn am Vorabend des Weltkrieges präsentierte, war überJahrhunderte gewachsen. So war ein buntes Mosaik von Regionen entstanden, die politisch, sozioökonomisch, kulturell, sprachlich und konfessionell betrachtet völlig unterschiedlich waren. Das Reich war durch siegreiche Kriege und Heiratsverträge erweitert worden und hatte sich daher etwas inkonsequent und unbeständig entwickelt. Zu den ursprünglichen Gebieten des Hauses Habsburg waren im 14. Jahrhundert Kärnten, Krain (entspricht in etwa dem heutigen Slowenien), Tirol, Triest und Istrien hinzugekommen. 1438 erlangten die Habsburger die Krone des Heiligen Römischen Reiches, deren Träger sie fast ohne Unterbrechung bis 1806 blieben – danach bezog sich der Kaisertitel, den sie weiterhin führten, ausschließlich auf ihre direkten Besitzungen. 1526–1527 erlangten die Habsburger dank einer ausgeklügelten und für sie vorteilhaften Heiratspolitik die Kronen Böhmens und Ungarns und damit auch die Herrschaft über Mähren, Schlesien, Kroatien und Slawonien. Dies war die entscheidende Wende in der Entwicklung der Habsburgermonarchie. Während deren Gebiet zuvor im Wesentlichen deutsch geprägt war, wurde es nun vielschichtiger und bunter1. In den neuen Gebieten wurden andere Sprachen gesprochen, auch Institutionen, Regierungsformen und Nationalkultur unterschieden sich grundlegend. Trotz der geografischen Nähe und der kulturellen wie religiösen Ähnlichkeit der Gebiete – angesichts der starken Bedrohung durch die Türken sofort erkennbar – waren sie in geschichtlicher, sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sehr verschieden. Die Habsburger waren in den östlichen Gebieten erst an die Macht gekommen, als die durch anerkannte Grenzen definierte politische Ordnung aus Königreichen, Herzogtürmern, Markgrafschaften und Grafschaften bereits größtenteils gefestigt war2. Die bestehenden Institutionen wurden von den neuen Herrschern anerkannt und ließen ein buntes Staatsgefüge entstehen, dessen Entwicklung sich vom nationalstaatlichen Weg, der zur gleichen Zeit in Westeuropa die Oberhand gewann, deutlich unterscheiden sollte.

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Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 1526 bis 1918 (Wien 1998) 19–26. Carlile A. Macartney, The Habsburg Empire 1790–1918 (London 1971) 2–13.

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Reich, Nationalitäten, Italiener

Anfang des 18. Jahrhunderts fielen nach dem Spanischen Erbfolgekrieg auch die Herzogtümer von Mailand und Mantua sowie die Spanischen Niederlande an die Habsburgermonarchie. Dadurch nahm die Vielfalt innerhalb der habsburgischen Besitzungen noch zu, und in den 1770er Jahren sollten noch Galizien und die Bukowina hinzukommen. Ende des 18. Jahrhunderts war so im Reich im Gegensatz zu Westeuropa die sprachliche und religiöse Vielfalt noch größer geworden. Maria Theresia und später in noch stärker ausgeprägter Form ihr Sohn Joseph II. versuchten, die Verwaltung zu zentralisieren, wodurch dem Bürokratieapparat eine wesentliche Rolle zukam. Die bedeutendsten Maßnahmen zur Modernisierung des Staates, der dadurch schlanker und kompakter gemacht werden sollte, gehen auf Joseph II. zurück. Dieser Schritt stieß jedoch auf großen Widerstand vonseiten der Eliten in den verschiedenen Gebieten, wodurch die Zentralisierungsbemühungen zunichtegemacht wurden und Joseph II. sich gezwungen sah, fast all seine Reformerlässe zu widerrufen3. Beim Versuch der Vereinheitlichung seiner Besitzungen spielte der sprachliche Aspekt für Joseph II. eine ganz besondere Rolle. Die Effizienz des Bürokratieapparates konnte niemals gewährleistet sein, wenn die unzähligen verschiedenen Sprachen des Reiches alle verwendet werden sollten. Aus diesem Grund wurde Deutsch zur Amtssprache gemacht – es sollte als gemeinsames Kommunikationsmedium zwischen den zentralen Gebieten und der Peripherie dienen. Dieser Schritt geschah aus einem tatsächlichen Bedürfnis heraus, aus dem Wunsch, nicht mehr zeitgemäße Zustände wie in Ungarn zu überwinden: Dort wurde noch Latein als Amtssprache für die parlamentarische Arbeit und die Kommunikation mit der Verwaltung in Wien verwendet4. Dem Vorwurf einer „Germanisierung“ von anderssprachigen Gebieten setzte Joseph II. entgegen, dass Deutsch die einzige Sprache sei, die von den leitenden und gebildeten Schichten ausreichend beherrscht und im Großteil seines Reiches gesprochen werde5. Tatsächlich wollte er nicht das Reich „germanisieren“, wohl aber den komplizierten Staatsapparat. In mehr oder weniger weit von Wien entfernten Gebieten, in denen andere Sprachen verwendet wurden, wirkte diese Oktroyierung des Deutschen allerdings wie der Versuch einer Unterwerfung der Peripherie durch das Reichszentrum. Die Proteste gegen das Dekret nahmen die Form eines nationalen und kulturellen Widerstandes an. Sie sind im Rahmen eines komplexen Phänomens zu sehen, im Zusammenhang mit den Argumenten, die von den verschiedenen Gemeinschaften gegen die deutsche Vorherrschaft ins Treffen geführt wurden.

3 Jean Bérenger, Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273–1918 (Wien 1995) 530–535. 4 Marco Bellabarba, L’impero asburgico (Bologna 2014) 45. 5 Macartney, The Habsburg Empire 119–133.



1. Geschichtliche Entwicklung des Habsburgerreiches 

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Diese Argumentation war teilweise Mittel zum Zweck, vorgebracht vor allem von einer mehrsprachigen, kosmopolitischen Aristokratie. Eine solche zentralisierende Maßnahme bereitete dieser Aristokratie Sorgen, denn sie stellte ihre Kontrolle über die höchste Ebene des öffentlichen Dienstes in Frage, in der die Ämter oft noch vererbt wurden. Die verpflichtende Kenntnis der deutschen Sprache für sämtliche in der Verwaltung tätigen Personen wurde als inakzeptabler Eingriff in einen heiklen und für die lokalen Machthaber sehr wichtigen Bereich gesehen. So entstand in den konservativen Kreisen heftiger Widerstand, angestachelt von den führenden Gesellschaftsschichten adeliger und feudalistischer Herkunft, die gegen jede Form des Zentralismus waren und sehr konkrete Eigeninteressen vertraten. Dieser Widerstand schöpfte seine Argumente aus der Sprachenfrage sowie aus mehr oder weniger verwurzelten lokalen Identitäten und schaffte es, verschiedene Gesellschaftsschichten und Interessen unter einer Flagge zu vereinen, einen über die engen Grenzen der privilegierten Schichten hinausgehenden Protest zu gestalten, lokale Strukturen zu stärken und auf den Plan zu rufen, die auf alte und nie ganz verschwundene Institutionen verweisen konnten. All das war gleichsam eine Vorwegnahme der Ereignisse des folgenden Jahrhunderts, als Sprache zur wichtigsten Grundlage für das damalige Nationalbewusstsein wurde6. Die Französische Revolution und das darauffolgende napoleonische „Erdbeben“ mit der daraus resultierenden Verbreitung liberaler und nationalistischer Ideen hatten schwerwiegende Folgen für den Vielvölkerstaat. Die Habsburgermonarchie ging aus dem Konflikt siegreich und gestärkt hervor, denn nach dem Wiener Kongress fielen die Gebiete der ehemaligen Republik Venedig, welche dem neu entstandenen Königreich Lombardo-Venetien einverleibt worden waren, an sie. Tatsächlich sah sich das Habsburgerreich allerdings mit der immer stärkeren Bedrohung nationaler und konstitutioneller Forderungen konfrontiert, von denen das Gefüge der absoluten Monarchie in Frage gestellt wurde. Dazu kamen noch die internationalen Herausforderungen, in erster Linie die Vormachtstellung Preußens im großen deutschsprachigen Raum. Durch die Aufstände des Jahres 1848 wurde der Zusammenhalt der Habsburgermonarchie ernsthaft auf die Probe gestellt. Die beiden wichtigsten Revolutionsherde waren von Beginn an Ungarn und die italienischen Besitzungen, doch generell erfasste die Revolution das ganze Reich, von Mailand bis Prag, von Budapest bis Venedig, auch vor Wien machten die Proteste nicht halt. Neben nationalen wurden auch liberale Forderungen laut, in denen sich der Geist der französischen Revolution widerspiegelte. Das Heer spielte für die Wiederher6 Angelo Ara, Il problema delle nazionalità in Austria da Metternich al dualismo, in: ders., Fra Nazione e Impero. Trieste, gli Asburgo, la Mitteleuropa (Mailand 2009) 79–143, hier 81ff.

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Reich, Nationalitäten, Italiener

stellung der öffentlichen Ruhe eine wesentliche Rolle, womit seine Bedeutung als Säule der alten Ordnung gestärkt wurde. Dem Kaiser, der eine einende Funktion erfüllte und dem sämtliche Bürger die Treue zu halten hatten, standen Heer, Verwaltungsapparat und Kirche zur Seite – zentralisierende Kräfte, die die mit dem aufkeimenden Nationalbewusstsein verbundene gegenläufige Entwicklung noch auszugleichen vermochten. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hing der Zusammenhalt des Reiches dann vor allem davon ab, wie gut die konservativen Kräfte die spaltenden Bestrebungen der lokalen und regionalen Einheiten zu bremsen vermochten. Dieser Versuch war allerdings zum Scheitern verurteilt, weil die nationalen und politischen Probleme, welche der Monarchie zusetzten, hier nicht an der Wurzel gepackt wurden. Besagte Probleme ähnelten einander nur scheinbar, in Wirklichkeit waren sie grundverschieden. Auf manche Nationalitäten übten benachbarte Nationen, mit denen sie sich identifizierten, eine starke Anziehungskraft aus (Italiener, Rumänen), andere, die voll und ganz innerhalb der Grenzen der Monarchie lebten, wollten einen eigenen Staat gründen (Tschechen, Slowenen), weitere wiederum wohnten in Gebieten, die aneinandergrenzten, jedoch verschiedenen Staaten angehörten, und sehnten sich nach einer Vereinigung (Polen, Ruthenen und Ukrainer). 1866 erlitt Österreich eine erdrückende und unerwartete Niederlage gegen Preußen, welche die endgültige Vorherrschaft Berlins über das ebenso zersplitterte wie große deutsche Reichsgebiet zur Folge hatte. Österreich war mit dem Gefühl militärischer Überlegenheit und gestärkt durch das Bündnis mit einigen großen Staaten Mittel- und Süddeutschlands, in erster Linie Sachsen und Bayern, in den Krieg gegangen. Dieser endete nach nur drei Wochen mit der Niederlage von Königgrätz in Böhmen. Mit dieser Schlacht war Wiens Siegessicherheit dahin – darüber hinaus war mit ihr die eindeutige militärische Überlegenheit Preußens besiegelt, dank der sich dieses 1870 auch gegen Frankreich und Napoleon III. durchsetzte. Durch den nachfolgenden Prager Frieden wurde der alte Deutsche Bund aufgelöst und ein neuer Norddeutscher Bund unter der Vorherrschaft Preußens gegründet. Österreich, das inzwischen in Mittel- und Nordeuropa keinen Einfluss mehr hatte, gehörte nicht dazu. Neben diesem Ausschluss aus der deutschen Welt hatte das Kaisertum Österreich den Verlust der italienischen Gebiete hinzunehmen, also Venetiens und der Provinz Mantua. Diese wurden trotz der militärischen Siege über Italien, dem der siegreiche Bund mit dem mächtigen preußischen Partner zugutekam, abgetreten. Daraus ergab sich eine tiefgreifende Veränderung des ethnischen Profils sowie der geopolitischen Perspektiven des österreichischen Staates. Österreich verlor endgültig seine zentrale Rolle in Deutschland und Italien, die ihm nach dem Wiener Kongress übertragen worden war, und der Schwerpunkt seiner eigenen strategischen Interessen verlagerte sich in den Donau-Balkanraum.

1. Geschichtliche Entwicklung des Habsburgerreiches 

Karte 1: Österrerich-Ungarn 1867–1918.



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Reich, Nationalitäten, Italiener

Prestige wie internationaler Einfluss der Habsburgermonarchie waren nach der militärischen Niederlage, die die Rückständigkeit des Staatsapparates auf dramatische Weise verdeutlichte, stark geschmälert. Das Kaisertum Österreich wurde immer mehr als das „China Europas“ wahrgenommen – als ein zu großes und zu zersplittertes Land, dessen Wirtschaft der Schwung fehlte, dessen Adel zu stark war, um den dynamischeren bürgerlichen Kräften Platz zu machen, und dessen Bürokratie zu sehr an das Mandarin-Beamtentum erinnerte, also viel zu allgegenwärtig und ineffizient war7. Es wurde immer klarer, dass zur Erneuerung des Verwaltungsapparats, zur Stärkung des inneren Zusammenhalts sowie zur Entschärfung der nationalen Kluft ein schnelles Eingreifen nötig war. An eine Revanche war aber nicht zu denken. Doch mit dem Ausschluss aus dem Deutschen Bund war Österreich auch formal gesehen kein deutscher Staat mehr und sah sich somit gezwungen, sich als multinationales Gefüge neu zu definieren – der deutsche Teil würde sich daran gewöhnen müssen, als eine von vielen Nationalitäten um die eigene Stellung zu kämpfen. Die Deutschen waren wirtschaftlich und gesellschaftlich zwar nach wie vor stark, sie wurden aber gleichzeitig zu Zeugen des Aufstiegs anderer nationaler Gruppierungen, was sich auch deutlich in Zahlen widerspiegelte: Insgesamt gab es doppelt so viele Slawen wie Deutsche, die zahlenmäßig nicht einmal mehr die Ungarn übertrafen. Ohne Konzessionen an die eine oder andere Seite war eine Neuordnung des Staates daher nicht möglich8. Die Ungarn konnten als einzige eine solide Grundlage für ein Bündnis bieten, denn die slawische Welt war in unzählige Volksgruppen aufgesplittert: Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen, Kroaten, Slowenen und Serben. Durch den Ausgleich im Jahr 1867 erlangten die Ungarn einen Sonderstatus und waren nunmehr der deutschsprachigen Bevölkerung gleichgestellt. Dies war die Geburtsstunde der Doppelmonarchie, ein institutionelles Gefüge, das bis zur Auflösung des Kaisertums fortbestehen sollte. Die nunmehr österreichisch-ungarische Monarchie beruhte auf zwei unabhängigen Staaten mit gleichen Rechten und demselben Herrscher, der in Österreich Kaiser und in Ungarn König war. Beide Staaten hatten weiterhin ihr eigenes Parlament und ihre eigene Regierung. Die meisten Kompetenzen wurden auch autonom von ihnen verwaltet, nur Äußeres, Verteidigung und Finanzen lagen in den Händen dreier gemeinsamer Ministerien. Die finanzielle Beteiligung jedes Staates wurde alle zehn Jahre durch ein beidseitiges Übereinkommen zu den gemeinsamen Ausgaben festgelegt9. Es wurde eine komplexe und einmalige konstitutionelle Einheit geschaffen: Sie konnte nicht als Bund oder Föderation bezeichnet werden, weil sie nicht über 7 8 9

Bellabarba, L’impero 101. Macartney, The Habsburg Empire 544–546. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 303–311.



1. Geschichtliche Entwicklung des Habsburgerreiches 

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zwei verschiedenen Staaten stand, aber auch nicht als Konföderation aus völlig souveränen Einheiten. In den darauffolgenden Jahrzehnten sollte es noch zu Spannungen kommen, weil Österreich und Ungarn den Ausgleich unterschiedlich interpretierten, insgesamt gewährleistete er allerdings in den letzten fünfzig Jahren des Kaisertums Österreich, das nunmehr Österreich-Ungarn hieß, eine ausreichende interne Stabilität. Eine Gesamtlösung für die Problematik der nationalen Forderungen stellte der Ausgleich allerdings nicht dar, gelöst war damit einzig und allein die Ungarnfrage. Letztere hatte die Stabilität des Kaisertums am meisten ins Wanken gebracht, wie bereits aus der zwei Jahre andauernden 48er Revolution deutlich geworden war. Die Bedingungen für die übrigen Minderheiten verbesserten sich nicht, sondern verschlechterten sich noch, denn mit dem Ausgleich waren die deutsche Vorherrschaft in Cisleithanien (die westliche Reichshälfte) sowie die ungarische Vormachtstellung in Transleithanien (die Länder der Stephanskrone bzw. die Gebiete jenseits der Leitha) besiegelt. Die beiden Staaten, die einen freiwilligen Bund eingegangen waren, bestanden aus großen Gebieten, in denen sich weiterhin zahlreiche nationale Tendenzen manifestierten10. In Ungarn sprach nur die Hälfte der Einwohner Ungarisch, neben ihnen gab es noch Kroaten, Deutsche, Rumänen, Ruthenen, Polen, Slowaken, Serben und Slowenen, die aufgrund der neuen institutionellen Ordnung nur mehr eine untergeordnete Rolle spielten. Während Österreich sich als Vielvölkerstaat definierte und die sprachlichen Rechte seiner Bewohner anerkannte, erklärte sich Ungarn zum Nationalstaat und schenkte den anderssprachigen Bevölkerungsgruppen keinerlei Beachtung. In den darauffolgenden Jahrzehnten setzte Ungarn eine aggressive Magyarisierungspolitik um, die die nationalen Konflikte noch verschärfte. Ungarisch wurde in den Volksschulen als Pflichtsprache eingeführt, und die übrigen Nationalitäten erhielten auf institutioneller wie kultureller Ebene immer weniger Raum, um ihren eigenen Interessen Ausdruck verleihen zu können. Durch den Dualismus verbesserte sich zwar die Lage der Magyaren, dies allerdings auf Kosten sämtlicher anderer Nationalitäten. So entstand ein scheinbar solides Gefüge, das erst durch den Weltkrieg zusammenbrechen sollte – es beruhte auf der deutschen Vorherrschaft in Cisleithanien und der ungarischen in Transleithanien, was die Weiterentwicklung des Reiches zu einer institutionellen Einheit mit multinationalem Charakter behinderte.

10 Ara, Il problema 140ff.

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Reich, Nationalitäten, Italiener

2. Österreichische Italiener Mitte des 19. Jahrhunderts waren die ungefähr fünfeinhalb Millionen Italiener ein bedeutendes Element des bunten Habsburgerstaates. Sie bildeten – nicht nur in quantitativer, sondern auch in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht – einen wichtigen Bestandteil der Gesamtmonarchie. Von sich selbst einmal abgesehen, gestand man auf Seiten der Deutsch-Österreicher mit Blick auf die verschiedenen Nationalitäten der Monarchie nur den Italienern die Eigenschaften einer Kulturnation zu, also einer Nation mit einem soliden geschichtlichen und kulturellen Profil. Doch die Italiener stellten absolut keine homogene Präsenz dar: Sie waren über ein ausgedehntes Gebiet verteilt, das sich durchgehend von Westen nach Osten erstreckte und dessen Regionen nicht nur geschichtlich, sondern auch wirtschaftlich, gesellschaftlich und demografisch völlig unterschiedlich waren. Die Gebiete mit italienischer Bevölkerung waren zu verschiedenen Zeitpunkten Teil des Vielvölkerstaates geworden. Das Österreichische Küstenland mit Triest, der Grafschaft Görz und Gradisca sowie der Markgrafschaft Istrien einerseits und die Trentiner Gebiete andererseits waren bereits seit Jahrhunderten Teil des habsburgischen Einflussbereiches. Die lombardischen Gebiete dagegen, also das Herzogtum Mailand und das Herzogtum Mantua, waren erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den Besitz des Hauses Österreich gelangt, Venetien und seine dalmatinischen Besitzungen noch später, nämlich erst 1797 mit dem Vertrag von Campoformio. Aus diesem Grund hatte jedes einzelne Gebiet historisch unterschiedliche Erfahrungen mit der österreichischen Realität gemacht, und die Beziehungen zwischen Peripherie und Zentrum waren demgemäß mehr oder weniger eng. In den schon länger zur Habsburgermonarchie gehörenden Regionen bestand eine jahrhundertealte Bindung an Wien (die allerdings, wie später noch erläutert werden soll, nicht frei von Spannungen war) – nicht so in Venetien, das genau zu dem Zeitpunkt an Österreich fiel, als das italienische Nationalgefühl immer stärker wurde, und auch nicht in der Lombardei, obwohl diese das goldene Zeitalter der theresianisch-josephinischen Reformen erlebt hatte11. Von den fünfeinhalb Millionen österreichischen Italienern lebten ganze fünf Millionen im Königreich Lombardo-Venetien, einem geteilten institutionellen Gefüge, das nach dem Wiener Kongress geschaffen worden war, um italienische Gebiete mit unterschiedlichen Charakteristika unter direkter habsburgischer

11 Umberto Corsini, Gli italiani nella Monarchia asburgica dal 1848 al 1918, in: ders., Problemi di un territorio di confine. Trentino e Alto Adige dalla sovranità austriaca all’accordo Degasperi-Gruber (Trient 1994) 3–35.



2. Österreichische Italiener 

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Kontrolle wiederzuvereinigen12. Das neu geschaffene Königreich erstreckte sich über ein Gebiet, welches ein Achtel aller österreichischen Besitzungen ausmachte und über ein rein urbanes Profil verfügte (12 der 19 bedeutendsten Städte des Reiches befanden sich hier). Die Lombardei und Venetien waren neben den österreichischen Herzogtümern die einzigen Gebiete der Monarchie, in denen nur eine Sprache gesprochen wurde – es war gewissermaßen eine Insel sprachlicher Einheit im riesigen habsburgischen Vielvölkerstaat. Doch abgesehen vom sprachlichen Aspekt waren die Unterschiede erheblich. In Venetien existierte ein Gefälle zwischen dem wirtschaftlich und politisch bedeutenderen Venedig und dem übrigen Gebiet mit sehr rückständigen Zonen. Die Lombardei dagegen war eine der reichsten Regionen der Monarchie und daher besonders interessant für die österreichischen Steuereintreiber. Die höhere Steuerlast, Wiens Zentralisierungspläne, mit denen die Befugnisse der mächtigen lokalen Aristokratie eingeschränkt werden sollten, sowie die für die Restauration charakteristische repressive Politik nährten den Missmut der lombardischen und venetischen Eliten. Österreich stellte sich sämtlichen Anzeichen eines italienischen Nationalismus mit äußerster Härte entgegen, auch wenn sie kultureller Natur waren. Durch die Aufstände der Jahre 1820–1821 mit ihren Forderungen nach einer Verfassung wurden Metternichs Repressionskurs und sein oppressives Spitzelwesen noch strenger, womit jegliche Bemühungen um einen soliden und breiten Konsens für den österreichischen Staat zunichtegemacht wurden. Nach der 48er Revolution und der darauffolgenden Repression war es nicht mehr möglich, dem aufkeimenden Nationalgefühl und den liberal-konstitutionellen Bestrebungen Einhalt zu gebieten, sodass die Kluft zwischen Wien und den italienischen Besitzungen unüberbrückbar wurde. Die politische und militärische Entwicklung der nächsten 15 Jahre führte nach dem Krieg mit Piemont und Frankreich 1859 zum Verlust der Lombardei und 1866 als Folge des Krieges gegen Preußen und Italien zur Abtretung Venetiens. In den anderen Gebieten mit italienischer Präsenz, die auch nach der „Wende“ des Jahres 1866 an Wien gebunden blieben, waren die historische Entwicklung und das institutionelle Profil anders ausgeprägt. In erster Linie handelte es sich um Gebiete, die nicht durch und durch italienisch waren, sondern vielmehr den für die Habsburgermonarchie so typischen Charakter des Vielvölkerstaates aufwiesen. Ihre Beziehungen zum Kaiserreich dauerten schon länger an, und sie hatten stets aktiv an dessen politischem und institutionellem Leben teilgenommen. Das gerade erst aus der Taufe gehobene Königreich Lombardo-Venetien verfügte über keine gewachsenen Selbstverwaltungsstrukturen, während die bei Österreich 12 Marco Meriggi, Il Regno Lombardo-Veneto (Turin 1987).

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Reich, Nationalitäten, Italiener

verbliebenen Gebiete über autonome Institutionen in den diversen Königreichen und Ländern verfügten. Trotz der zentralistischen Bestrebungen nach dem Wiener Kongress wurde die historisch gewachsene regionale Autonomie nicht beschnitten, auch nicht in den nicht deutschsprachigen Gebieten. Über die Landtage und die diversen politischen Vertretungen entstand eine Beziehung zwischen der Peripherie und Wien – diese war zwar nicht selten gespannt und wurde oft für unzureichend erachtet, bildete jedoch die Grundlage für die Entstehung eines Dialogs sowie einer gemeinsamen Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Durch ihre Teilnahme an den Konstituierenden Versammlungen in Frankreich und Wien und ihre aktive Rolle in den Diskussionen um die Wahlreformen, in den Auseinandersetzungen über die Neugestaltung des institutionellen Gefüges der Monarchie sowie ganz allgemein in den Debatten im Wiener Reichsrat und den Landtagen erlebten die politischen Vertreter des Trentino, des östlichen Friaul sowie Triests und Istriens die Höhen und Tiefen der Verwaltungspolitik im Kaiserreich aus unmittelbarer Nähe. Lombarden und Veneter konnten auf keine gemeinsame Geschichte mit den anderen Völkern der Monarchie zurückblicken, und zogen es vor, sich zu enthalten, als Venetien 1861 die Möglichkeit gehabt hätte, seine Vertreter ins neue Abgeordnetenhaus zu wählen. Damit war die endgültige Distanzierung von Wien besiegelt. Die meisten Beamten und öffentlichen Bediensteten in den italienischen Gebieten stammten aus diesen Regionen und mussten für ihre Tätigkeit keine Deutschkenntnisse vorweisen13. Auch im Küstenland und im Trentino waren viele Italiener in der Verwaltung beschäftigt14, ebenso in Triest, wohingegen in Friaul und Istrien auch andere Sprachgruppen zum Zug kamen. Hinzu kamen noch die führenden Angestellten der Ämter sowie Offiziere und Beamte aus dem Polizeiapparat, die aus unterschiedlichen Kronländern stammten. Das erklärt die unterschiedliche Einstellung der verschiedenen italienischen Bevölkerungsgruppen gegenüber Wien und dem Gefüge des Habsburgerreiches, dem sie angehörten. Während für alle die Verteidigung ihrer Sprache und Nationalität vorrangig war, strebte man in der Lombardei und in Venetien nach dem höchsten Ziel, nämlich der Unabhängigkeit – im Trentino, in Triest sowie im Friaul und in Istrien dagegen gab man sich mit dem geringsten Anspruch zufrieden: mehr administrative und gesetzliche Autonomie im Rahmen einer Zugehörigkeit

13 Theodor Veiter, Die Italiener in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Eine volkspolitische und nationalitätenrechtliche Studie (Wien 1965) 77. 14 Hans Kramer, Die Italiener unter der österreichisch-ungarischen Monarchie (Wien–München 1954) 98–116.



2. Österreichische Italiener 

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zum Habsburgerstaat, die durchaus von aktiver Beteiligung und einem Identifikationsgefühl geprägt war. Mit der Wende des Jahres 1866 war die italienische Frage nicht vom Tisch, die Bedingungen änderten sich allerdings grundlegend. Bisher waren die Italiener eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen gewesen, nun wurden sie dagegen zur kleinsten Nationalität im Reich. Die Volkszählung des Jahres 1910 lieferte eine Momentaufnahme der demografischen Situation der Habsburgermonarchie – ein aufschlussreiches Bild von der Vielfalt dieses riesigen Staates und auch vom rückläufigen Anteil der italienischen Bevölkerung. Auf einer Fläche von 675.000 km2 lebten über 51 Millionen Einwohner, die fünf unterschiedlichen Konfessionen angehörten (katholisch, evangelisch, orthodox, jüdisch, muslimisch) und zwölf Ethnien bzw. Sprachgruppen repräsentierten. Die beiden dominierenden Ethnien – Deutsche mit 23,9 % und Ungarn mit 20,2 % der Bevölkerung – machten zusammen weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus. Die Mehrheit stellten folglich die Minderheiten: Tschechen (12,6 %), Polen (10,0 %), Ruthenen (7,9 %), Rumänen (6,4 %), Kroaten (5,3 %), Serben (3,8 %), Slowaken (3,8 %), Slowenen (2,6 %), Italiener (2,0 %) sowie Bosniaken (1,2 %). Insgesamt lag der Anteil der Slawen auf die Gesamtbevölkerung gerechnet bei 47,2 % – ein höherer Prozentsatz als jener der Deutschen und Ungarn zusammen15. Die 780.000 Italiener übertrafen anteilsmäßig gerade einmal knapp die Bosniaken. Nach ein paar Jahren gab es nur mehr wenige Italiener, die über das gesamte Reich verstreut waren und nicht mehr von der Lombardei bis nach Istrien große und aneinandergrenzende Gebiete bewohnten. Mit dem Verlust Venetiens an Italien war auch die territoriale Einheit unter den Italienern verschwunden: Sie lebten nunmehr in zwei verschiedenen geografischen Räumen, die sie sich in unterschiedlichen Konstellationen und in unterschiedlichem Ausmaß mit anderssprachigen Bevölkerungsgruppen teilten. Ihr politisches Gewicht in Wien hatte stark abgenommen, und die beträchtlichen Unterschiede zwischen den beiden Regionen erschwerte die Entwicklung gemeinsamer Forderungen. In Italien wurden in den 50 Jahren zwischen dem Anschluss Venetiens und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges das Trentino und das Küstenland, deren Befreiung die Irredentisten forderten, vorschnell mit den Städten Trient und Triest gleichgesetzt. Im kollektiven nationalen Bewusstsein verschmolzen die beiden Städte gleichsam zu einer untrennbaren Einheit und wurden zum Symbol einer unterdrückten italienischen Gesinnung, die nur darauf wartete, sich zu manifestieren. Zwei Schwesternstädte sozusagen, von denen viele gar nicht wussten, wo genau sie lagen – sie wurden direkt an der Grenze angesiedelt und nicht selten 15 Zusammenfassende Daten zu Bevölkerung und Nationalitäten sind im Anhang zum Werk von Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 576–581, nachzulesen.

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Reich, Nationalitäten, Italiener

überhaupt für Nachbarstädte gehalten. Der Triestiner Sozialist Lajos Domokos, der jedoch auch in Trient aktiv war, kommentierte in lockerem und ironischem Tonfall die in Italien verbreitete Unkenntnis über das unerlöste, unbefreite Land unter Fremdherrschaft, die sogenannten terre irredente oder Irredenta: Unsere lieben Brüder aus dem seligen Königreich glauben ernsthaft, dass Triest und Trient aufgrund eines gemeinsamen Schicksals, gemeinsamer Bräuche und Traditionen sowie einer gemeinsamen Geschichte Schwestern sind; sie geben sich der Vorstellung hin, dass es von Triest nach Trient und umgekehrt nur ein paar Schritte sind.16

Nicht nur die geografische Distanz zwischen den beiden Städten wurde im Königreich Italien falsch wahrgenommen, sondern auch „die tatsächliche, historische, geistige Distanz“, die laut dem Triestiner Schriftsteller Scipio Slataper noch größer war. Der ebenfalls aus Triest stammende Sozialist Angelo Vivante meinte, es gebe keine zwei Dinge, die grundverschiedener sein könnten, was ihren historischen, ethnischen, wirtschaftlichen Hintergrund sowie Einflüsse, Widerstand etc. anbelangte, nicht einmal, wenn sie bewusst so geschaffen worden wären; er hielt sie für die beiden siamesischen Zwillingsschwestern des traditionellen Diskurses17. Im Gegensatz zu all jenen, die in Italien die Flagge des Irredentismus schwangen, hatte die Bevölkerung dieser Regionen eine klare Vorstellung von den Unterschieden nicht nur zwischen den beiden Städten, die quasi zum Sinnbild der Bewegung geworden waren, sondern auch ganz allgemein zwischen dem Trentino einerseits und der nordöstlichen Adriaregion andererseits. Unterschiede, die, um Vivante wiederaufzugreifen, historischer, demografischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher sowie institutioneller und politischer Natur waren. Die bedeutendsten Ballungsräume im Trentino waren Trient (über 30.000 Einwohner im Jahr 1910), Rovereto (ungefähr 11.000) und Riva (9.200). Die übrigen 360.000 Einwohner des Trentino lebten in kleinen oder kleinsten Zentren. Das wirtschaftliche Umfeld war primär vom landwirtschaftlichen Sektor geprägt, in dem 62 % der Bevölkerung beschäftigt waren – die überwiegende Mehrheit 16 Lajos Domokos, La questione nazionale e i socialisti trentini, in: Il Lavoratore. Organo del partito socialista, 8.8.1900, zit. in: Marco Bellabarba, Trento e Trieste: dalla rivoluzione alla nazione (1848–1867), in: Trento e Trieste. Percorsi degli italiani d’Austria dal ’48 all’annessione, hrsg. von Fabrizio Rasera (Rovereto 2014) 19–34, hier 20, Anmerkung 2. Zu Domokos siehe Marina Rossi, Appunti su Lajos Domokos e Giuseppina Martinuzzi, pionieri del socialismo adriatico, in: Qualestoria. Bollettino dell’Istituto regionale per la storia del movimento di liberazione nel Friuli-Venezia Giulia, 39/2 (2011) 91–101. 17 Scipio Slataper, Trento e Trieste, in: La voce Trentina 1.11.1911, sowie Angelo Vivante, Irredentismo adriatico. Contributo alla discussione sui rapporti austro-italiani (Florenz 1912) Seite V, werden bei Rasera, Presentazione in: Trento e Trieste. Percorsi auf Seite 5 zitiert.



2. Österreichische Italiener 

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machte hier die Schicht der Kleinbauern aus18. Die Industrie erlebte in den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts zweifelsohne einen Aufschwung, war aber nach wie vor halb handwerklich-gewerblich geprägt und dominiert von sehr kleinen, oft noch mit der Landwirtschaft in Verbindung stehenden Betrieben. Außerdem blieben viele „Bauern-Arbeiter“, die erst kurz zuvor in die Stadt gezogen waren, dem ländlichen Raum verbunden. Am Vorabend des Krieges war der Übergang zur Industrialisierung im Trentino also trotz der vielversprechenden Aktivität einiger Bereiche sowie der Entwicklung der Wasserkraftgewinnung noch nicht vollzogen19. Völlig anders war die Situation im Küstenland, dessen Wirtschaftsleben sich auf die Gegend um Triest konzentrierte, das nicht nur die drittgrößte Stadt Österreichs war, sondern auch der wichtigste Hafen der Monarchie. Die julische Hauptstadt erlebte eine Bevölkerungsexplosion – im Jahr 1857 hatte die Einwohnerzahl noch bei 104.000 gelegen, im Jahr 1909 war sie dagegen bereits auf 224.000 angestiegen. Die starke Landflucht hatte das wirtschaftliche, demografische und sprachliche Gefüge der Stadt verändert und damit die Basis für den nationalen Kampf geschaffen. Triest war eines der in ökonomischer Hinsicht dynamischsten Zentren der Monarchie und als solches vollständig in das Wirtschafts-, Handels- und Finanzleben des Kaiserreiches integriert. Die Stadt stellte den wichtigsten Umschlagplatz für den Export und Import eines sehr weitläufigen Hinterlands dar; Hafen, Schiffswerften und Baugewerbe verschafften tausenden Menschen eine Beschäftigung20. Das Trentino stellte den südlichsten Teil des Kronlandes Tirol dar. Es war ein Sonderfall innerhalb der Habsburgermonarchie, weil es von verschiedensprachigen Bevölkerungsgruppen bewohnt wurde, die auch in unterschiedlichen Teilen des Gebietes ansässig waren: im Süden die Italiener, im Norden die Deutschsprachigen. Sonst waren die Sprachgruppen in den meisten Regionen der Habsburgermonarchie bunt gemischt – ein Flickenteppich, auf dem keine klare Grenzlinie zu erkennen war. In Tirol dagegen gab es eine Sprachgrenze, die von Deutschtirolern und Italienern gleichermaßen als solche anerkannt wurde. Sie verlief durch Salurn, wo sich das Etschtal verengt und nur knapp über zwei Kilometer breit ist. Aufgrund der so entstandenen Klause hielten viele den Ort für die ideale Grenze zwischen Italien und Österreich, weil die militärische Ver18 Renato Monteleone, Il Trentino alla vigilia della prima guerra mondiale, in: Annali del Museo Storico Italiano della Guerra 17–22 (2009–2014) 13–31. 19 Andrea Leonardi, Dal declino della manifattura tradizionale al lento e contrastato affermarsi dell’industria, in: Storia del Trentino V, L’età contemporanea 1803–1918, hrsg. von Maria Garbari, Andrea Leonardi (Bologna 2003) 597–663, hier 652. 20 Elio Apih, Trieste (Rom–Bari 1988).

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Reich, Nationalitäten, Italiener

teidigungsmöglichkeit gegeben war und gleichzeitig eine klare Sprachgrenze bestand21. Im Süden lag das Trentino, wie die Italiener es zu nennen begannen und damit seine Andersartigkeit gegenüber der Grafschaft Tirol geltend machten. Der von ihnen verwendete Ausdruck wurde von Österreich nie akzeptiert; dort wurde vielmehr von „Welschtirol“, „Tirolo italiano“ (italienisches Tirol) oder „Südtirol“ gesprochen22. Die Daten der letzten österreichischen Volkszählung aus dem Jahr 1910 zeichnen das Bild von einem sprachlich homogenen Gebiet: 393.111 Italienisch- oder Ladinischsprachige (in der Volkszählung wurde nicht zwischen den beiden Sprachgruppen unterschieden), 13.893 Deutschsprachige, 2.666 Anderssprachige sowie 9.708 Ausländer, davon 8.412 „Reichsitaliener“ (regnicoli), wie die Bürger des Königreiches Italien genannt wurden23. Spiegelbildlich dazu war die Situation im unmittelbar nördlich angrenzenden Gebiet zwischen Salurn und Brenner, das nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls an Italien angeschlossen werden und den Namen Alto Adige erhalten sollte. Hier stellte die deutschsprachige Bevölkerung mit 215.345 Personen die überwiegende Mehrheit, Ladinisch- und Italienischsprachige gab es insgesamt nur 22.51624. Nördlich des Brenners schließlich lebten in Tirol knapp über 300.000 Personen, die größtenteils Deutsch sprachen. Somit waren die Italiener im gesamten Tiroler Raum in der Minderheit, jedoch fast ausschließlich auf den südlichen Teil des Kronlandes konzentriert und vom deutschsprachigen Teil durch eine relativ klare Grenze getrennt. Obwohl die Trentiner Bevölkerung im Innsbrucker Landtag in der Minderheit war, hielten sich die Konflikte mit den zahlenmäßig überlegenen Deutschtirolern in Grenzen, sodass die nationalen Auseinandersetzungen hier nicht so massiv ausfielen wie anderswo. Ganz anders und viel komplexer stelle sich die Situation im Küstenland dar. Im Jahr 1910 wurden in Triest und Umgebung 111.159 Italiener, 56.916 Slowenen und 2.403 Kroaten gezählt, hinzu kamen 29.439 „Reichsitaliener“, 12.000 Deutsche und ferner Angehörige anderer Sprachgruppen (ca. 10.000). 21 Zur Geschichte und Bedeutung der Grenze in Salurn vgl. Andrea Di Michele, Salurn und die mobile Grenze, in: An der Grenze. Sieben Orte des Durch- und Übergangs in Tirol, Südtirol und im Trentino aus historischer und ethnologischer Perspektive, hrsg. von Andrea Di Michele, Emanuela Renzetti, Ingo Schneider, Siglinde Clementi (Bozen 2012) 231–289. 22 Zu diesem Thema siehe Tirol – Trentino. Eine Begriffsgeschichte. Semantica di un concetto = Geschichte und Region / Storia e regione 9 (2000). 23 Die Daten beziehen sich auf das Trentino und das Ampezzano (Ampezzotal) und stammen wie die folgenden Daten aus: Corsini, Gli italiani 12ff. 24 Laut späteren Aufarbeitungen, in denen man versuchte, Ladinisch- und Italienischsprachige getrennt zu erfassen, sollen letztere weniger als 7.000 Personen gewesen sein (2,9 %). Vgl. Adolf Leidlmair, Bevölkerungsentwicklung und ethnische Struktur Südtirols seit 1918, in: Österreich in Geschichte und Literatur 14 (1990) 352–367.



3. Sprachen und Nationalitäten 

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In Görz und den friaulischen Bezirken waren es 154.564 Slowenen, 90.151 Italiener, 8.947 „Reichsitaliener“ und 4.000 Deutsche. Während die Italiener in der Stadt Görz eine knappe Mehrheit stellten, waren diese in den Bezirken Gradisca und Monfalcone eindeutig in der Überzahl – die Bezirke Sesana und Tolmino dagegen wiesen klare slowenische Mehrheiten auf. Nicht weniger komplex war die Situation in Istrien mit 168.100 Kroaten, 153.500 Italienern (einschließlich „Reichsitaliener“), 54.993 Slowenen, etwa 13.000 Deutschen und rund 17.000 Angehörigen anderer Sprachen und Staaten. Es bleiben noch Fiume (das heutige Rijeka), corpus separatum der ungarischen Krone, wo 24.212 Italiener, 12.946 Kroaten, über 6.000 Ungarn und 2.337 Slowenen gezählt wurden, und schließlich Dalmatien, wo die Italiener mit knapp 3 % der Bevölkerung eine kleine Minderheit stellten – davon war allerdings die Hälfte in der Stadt Zadar konzentriert, wo demnach 9.200 Italiener gegenüber lediglich 3.500 Serbokroaten lebten. Auf engstem Raum und in quantitativen Verhältnissen, die wenige Kilometer weiter wieder ganz andere sein konnten, handelte es sich um eine äußerst komplexe ethnisch-sprachliche Gemengelage. Im Küstenland herrschten also ganz andere Verhältnisse als im Trentino, weshalb vielfach auch die Meinung vertreten wurde, es habe in keiner anderen österreichischen Region eine bessere Ausgangslage zur Lösung der nationalen Frage gegeben als in Tirol. Hingegen war die Lage kaum irgendwo so komplex und schwierig wie im Küstenland25. Trotz der so großen Unterschiede war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in sämtlichen Gebieten mit italienischsprachiger Bevölkerung eine Zuspitzung des nationalen Konfliktes zu erkennen, die schließlich um die Jahrhundertwende herum noch schneller voranschritt – dies entsprach der Entwicklung in den übrigen mehrsprachigen Gebieten der Monarchie. 3. Sprachen und Nationalitäten In den Jahrzehnten nach dem Ausgleich bemühte sich das nationalistische Bürgertum der Doppelmonarchie darum, die entsprechenden Nationen aus der Taufe zu heben. In oftmals zweisprachigen Gebieten mit vielschichtiger Identität gaben sich die Baumeister der Nationen einem Kampf hin, der von Symbolen, Gründungsmythen, Gründungsvätern und in erster Linie von Sprachen getragen wurde. Sprache wurde entsprechend den Entwicklungen im übrigen Europa 25 Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918 I, Das Reich und die Völker (Graz–Köln 1964) 265–273, bes. 267.

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zum wichtigsten Element nationaler Identifikation26. Als wichtigstes Mittel zur Vermittlung eines Nationalgefühls erhielt sie einen noch nie dagewesenen symbolischen und identitätsstiftenden Wert. Sprachwissenschaft, Geografie und Demografie wurden zu Hilfsdisziplinen des Nationalismus, indem sie all jenen Argumente und Zahlen lieferten, die imaginäre Trennlinien zwischen dem zogen, das bisher untrennbar miteinander verbunden gewesen war. Die Behörden der Doppelmonarchie selbst trugen unbewusst dazu bei, Sprache eine identitätsstiftende Bedeutung zu geben. Offiziell erkannte die Monarchie die Existenz verschiedener Nationalitäten innerhalb ihrer Grenzen nicht an, im Laufe der 1870er Jahre wurde allerdings angeordnet, dass bei den Volkszählungen für alle Einwohner deren „Umgangssprache“ erhoben werden sollte. Die mit der Volkszählung 1880 eingeführte Maßnahme verfolgte ausschließlich statistische Zwecke und sollte genauere Informationen zum Gebrauch der anerkannten Sprachen in den verschiedenen Gebieten liefern. Obwohl die entsprechenden Statistikämter rasch hinzufügten, dass die Erhebung der jeweils verwendeten Sprache nicht der Feststellung der Nationalität galt, war es eindeutig, dass die Ergebnisse der Volkszählung als Abbild des Anteils jeder nationalen Gruppierung interpretiert werden würden. Besonders in den westlichen Regionen der Monarchie war Sprache für Nationalisten der Hauptanhaltspunkt für die nationale Zugehörigkeit, und die Sprachenstatistik der Volkszählungen ermöglichte es ihnen, diese Auslegung zu festigen und zu verbreiten. Mit den offiziellen Daten über den Sprachgebrauch konnten sie die Größe ihrer Nation auf der Landkarte einzeichnen und dann alle zehn Jahre deren Erweiterungspotenzial oder auch deren besorgniserregende Schrumpfung messen27. Diese verpflichtende Sprachangabe wurde ein mächtiges Instrument zur Simplifizierung in Sachen Identität, da jeder nur eine einzige Sprache auswählen konnte. In Regionen, wo nicht selten zwischen zwei Sprachen gewechselt wurde, war das allerdings nicht so einfach. Die Gleichsetzung von Sprache und ethnisch-nationaler Identität vergrößerte die Gegensätze und machte jede Volkszählung zu einem entscheidenden Moment des Nationalitätenkampfes. Von diesem Moment an wurde der Kampf für eine Nation auch immer mehr zum Kampf für die Sprache. Die von den Nationalisten geförderte Homogenisierung war nicht immer so erfolgreich wie in deren Berichten dargestellt28. Lange Zeit wurde davon auch 26 Francesca Zantedeschi, Lingua e nazione in Europa, in: Passato e presente 18/79 (2010) 155–167. 27 Vgl. Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (Wien 1982). 28 Pieter M. Judson, Writing the History of Cultural Borderlands in Habsburg Central Europe, in: Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, hrsg. von Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, Heidrun Zettelbauer (Bielefeld 2012) 17–32.



3. Sprachen und Nationalitäten 

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die Geschichtsschreibung beeinflusst, welche die internen Dynamiken im Habsburgerreich ausschließlich durch die nationalistische Brille betrachtete: Die einzelnen Teilgebiete wurden als kompakte ethnolinguistische Blöcke gesehen, die untereinander beziehungsweise noch mehr gegen den Zentralstaat kämpften, bis die Entstehung homogener Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg unvermeidlich war. Tatsächlich handelte es sich dabei jedoch um Gebiete, deren Geschichte und Profile grundverschieden waren und in denen mehrere vielschichtige Identitäten fortbestanden – eine Art „nationales Zwittertum“ 29 sozusagen, sodass ein Bewohner Böhmens sich sowohl als Tscheche als auch als Österreicher fühlen konnte, aber auch als Slawe oder schließlich als Böhme, also als Bewohner eines zweisprachigen Gebietes30. Es gab keine Nationen ohne Geschichte, die seit Ewigkeiten nur darauf warteten, zu Staaten zu werden, sondern es bestanden vielmehr neue Nationalismen, die durch selektive Berufung auf eine mehr oder weniger lang zurückliegende Vergangenheit die entsprechende Nation erfanden31. Fest steht, dass die politische Auseinandersetzung im Zentrum wie in der Peripherie der österreichisch-ungarischen Monarchie immer mehr zur nationalen Auseinandersetzung wurde, die sämtliche politisch-institutionellen Krisen der Jahrhundertwende entscheidend prägte. Das beste Beispiel ist Böhmen, das von einem unlösbaren nationalen Konflikt mit schlimmen Folgen für den Zusammenhalt der kaiserlichen Institutionen erschüttert wurde. In Böhmen und Mähren stand den zwei Dritteln tschechischsprachiger Bevölkerung ein Drittel deutschsprachiger Bewohner gegenüber – und Deutsch war die dominierende Sprache in der Monarchie. Bezirke mit tschechischer und deutscher Mehrheit wechselten einander ab – die wirtschaftlich und gesellschaftlich aufstrebenden Tschechen wünschten sich nun Tschechisch als einzige Amtssprache auf dem gesamten Gebiet, die Deutschen wollten dagegen der in jedem einzelnen Bezirk jeweils dominierenden Sprache diesen Status verleihen. In dieser komplizierten Situation präsentierte Ministerpräsident Kazimierz Badeni dem Reichsrat zwei Erlässe zur Reglementierung der Sprachverwendung in der öffentlichen Verwaltung Böhmens und Mährens, die auch die

29 Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria (Cambridge [MA]–London 2006); Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948 (Ithaca [NY ]–London 2008). 30 Vgl. Jiří Kořalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Wien–München 1991). 31 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne (Berlin 1995); Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780 (Frankfurt am Main 32005).

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Anerkennung des Tschechischen als Amtssprache vorsahen32. Das bedeutete also, dass Staatsbeamte im gesamten Kronland beide Sprachen beherrschen und in der Lage sein mussten, sie im Kontakt mit der Bevölkerung und den anderen Ämtern korrekt zu verwenden. Sollten sie nach drei Jahren nicht auf Deutsch und Tschechisch kommunizieren können, sahen die Maßnahmen ihre Entlassung vor. In Badenis Vorschlägen hätte die Böhmische Lösung Vorbildfunktion für die Lösung von Konflikten in sämtlichen Gebieten mit verschiedensprachigen Bevölkerungsgruppen gehabt. Er unterschätzte allerdings die Intensität des deutschen Nationalismus, der die Sprachenverordnungen als Bestrafung nationaler Tendenzen betrachtete. Zwar war Deutsch als Lingua Franca des Kaiserreiches den meisten tschechischen Beamten bekannt, das Tschechische den Deutschen allerdings nicht: Es wurde von ihnen als minderwertige Sprache mit rein lokalem Stellenwert und zu vernachlässigendem Nutzen betrachtet. Die Beherrschung des Tschechischen verpflichtend einzufordern kam für die Deutschnationalen einer Provokation sowie einer Infragestellung ihrer nationalen, sprachlichen und kulturellen Überlegenheit gleich. Das Ergebnis: heftige parlamentarischen Obstruktion, ein Versuch der Regierung, die Auswirkungen durch eine Änderung der Geschäftsordnung rückgängig zu machen, eine weitere Verhärtung der Positionen sowie Auseinandersetzungen im Sitzungssaal und auf Plätzen verschiedener Städte, so etwa in Wien. Das Ende war dramatisch: Die Polizei intervenierte im Parlament gegen etwa 20 Abgeordnete, die mit Gewalt des Saales verwiesen wurden33. Mark Twain, der als prominenter Zuschauer die Ereignisse von der Zuschauergalerie aus verfolgte, beschrieb das Schauspiel als „odious and awful“ und erlebte, wie vor seinen Augen dutzende Polizisten auf die Tribüne kamen: „They [...] laid their hands upon the inviolable persons of the representatives of a nation, and dragged and tagged and hauled them down the steps and out at the door“34. Nicht weniger aufwühlend die Schilderung des Trentiner Abgeordneten Enrico Conci, der die Auseinandersetzungen im Parlament äußerst anschaulich beschrieb – es wurden Sessel geworfen, und es kam zu Prügeleien und Drohungen mit gezücktem Messer35. 32 Vgl. dazu Berthold Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer, 2 Bde. (Graz–Köln 1960–1965). 33 Kann, Geschichte des Habsburgerreiches 395–399; Macartney, The Habsburg Empire 662– 665. 34 Twains Schilderung ist nachzulesen in: John W. Mason, The Dissolution of the Austro-Hungarian Empire 1867–1918 (London–New York 21997) 96. 35 Concis Schilderung ist nachzulesen bei Ilaria Pagano, Il Trentino e i trentini durante la crisi del governo Badeni. Dalla condotta dei deputati al progetto di riforma del Regolamento provinciale del 1897, in: Studi trentini. Storia 94/2 (2015) 383–412, hier 398.



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Badeni musste zurücktreten, seine Verordnungen wurden aufgehoben, die Sprachenfrage blieb ungelöst, und das Parlament stellte seine Arbeit ein. Die gegenseitigen Obstruktionen behinderten das Tagesgeschäft, und von da an konnte die Gesetzgebung bis zum Ende des Kaiserreiches nur durch systematische Notverordnungen erfolgen. Österreich-Ungarn war nicht in der Lage, seine verwaltungspolitische Struktur an den Nationalpluralismus anzupassen, sodass das Parlament als Institution zum Erliegen kam36. Auch in den Gebieten mit italienischer Bevölkerung stellten die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg den Höhepunkt der nationalen Auseinandersetzungen dar, die je nach geografischer Region unterschiedlich geartet waren. Im Trentino wurde der nationale Kampf unter dem Zeichen eines steten Wunsches nach einer getrennten Autonomie für den italienischen Teil des Landes Tirol geführt, das als Provinz über weitreichende administrative und legislativ-politische Befugnisse verfügte. Ziel war die territoriale Umgestaltung der Provinzautonomie entweder durch Erhebung des Trentino zum Kronland oder durch Einführung zweier Subautonomien innerhalb Tirols, eine für den deutschen und eine weitere für den italienischen Teil. Diese Forderung wurde immer wieder, jedoch vergebens, in Innsbruck und in Wien vorgebracht, von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Sie wurde wieder und wieder auf verschiedenste Weise bekräftigt: durch Appelle und Schriften, aber auch durch (regelmäßig abgelehnte) Reformpläne und systematische Stimmenthaltungen aus Protest im Innsbrucker Landtag37. Die Ablehnung in Wien entstand aus der Befürchtung heraus, dass die Gewährung einer getrennten Autonomie für die Italiener Tirols zu einem gefährlichen Dominoeffekt in den anderen Regionen der Monarchie führen könnte. In der Tiroler Hauptstadt dagegen überwog die Überzeugung, dass das Ziel einer eigenen Autonomie für die Trentiner nur der erste Schritt zu einer territorialen Trennung war. In den Vorwürfen der Trentiner gegen Innsbruck wurde das große Thema des Nationenkampfes mit dem der Verteidigung konkreter wirtschaftlicher Interessen vermischt. Es hieß von Trentiner Seite, Innsbruck unterstütze das wirtschaftliche und soziale Wachstum des Trentino nicht entsprechend, sodass die Kluft zwischen den beiden Teilen des Landes Tirol größer statt kleiner werde. 36 Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs II (Graz–Wien 1950) 457–459. 37 Zu den Reformprojekten vgl. Sergio Benvenuti, L’autonomia trentina al Landtag di Innsbruck e al Reichsrat di Vienna. Proposte e progetti 1848–1914 (Trient 1978); Richard Schober, La lotta sul progetto d’autonomia per il Trentino degli anni 1900–1902, secondo le fonti austriache = Der Kampf um das Autonomieprojekt von 1900–1902 für das Trentino, aus der Sicht österreichischer Quellen (Trient 1978); Umberto Corsini, Problemi politico-amministrativi del Trentino nel nesso provinciale tirolese, 1815–1918, in: Austria e province italiane 1815–1918. Potere centrale e amministrazioni locali, hrsg. von Franco Valsecchi, Adam Wandruszka (Bologna 1981) 213–257.

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Abb. 1: Deckblatt der Partitur des Inno di Trento, veröffentlicht anlässlich der Einweihung des DanteDenkmals (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient, Spartiti musicali)

Diese Bezichtigung, der die Geschichtsschreibung einigen Wind aus den Segeln nahm38, wurde zum ständigen Faktor der politischen Polemik bis unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Sie beruhte auf Schätzungen, laut denen das Trentino über Steuererhebungen anteilsmäßig mehr gezahlt habe als Deutschtirol, im Rahmen der Provinzbeiträge aber weniger erhalten habe. Die bestehende Überzeugung, dem Trentino werde bewusst wirtschaftlicher Schaden zugefügt, ließ die Idee, dass all dem eine generelle ethnisch-nationale Diskriminierung zugrunde liege, noch weiter erstarken. Für die italienische Bevölkerung des Küstenlands dagegen waren nicht die Deutschen die nationalen Gegner, sondern die Slawen. Der deutschösterreichische Anteil konnte sich auf eine zentrale Präsenz im Verwaltungsapparat, in den Spitzen von Militär und Polizei sowie natürlich auf ein privilegiertes Verhältnis 38 Andrea Leonardi, Depressione e „risorgimento economico” del Trentino: 1866–1914 (Trient 1976) 139–168.



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zur Regierung in Wien berufen, blieb aber zahlenmäßig immer deutlich in der Minderheit. Der Kampf um die nationale Vorherrschaft wurde zwischen Italienern auf der einen sowie Kroaten und Slowenen auf der anderen Seite ausgefochten. Die Italiener waren in den urbanen Zentren in der Überzahl, auf die gesamte Region betrachtet dagegen in der Minderheit gegenüber Kroaten und Slowenen. Sie waren wirtschaftlich und gesellschaftlich eindeutig überlegen, ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde diese Überlegenheit allerdings durch den sozialen Aufstieg wichtiger Komponenten der slowenischen und kroatischen Gesellschaft immer stärker beschnitten. Dabei handelte es sich um einen Prozess, der in vielen habsburgischen Besitzungen zu erkennen war: eine schrittweise, aber auch radikale Neudefinition der Kräfteverhältnisse und Grenzen zwischen den nationalen Gruppierungen39. Über die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich etabliert, dass eine bestimmte Sprachgruppe mit einem bestimmten gesellschaftlichen Status in Verbindung gebracht wurde. So bildeten etwa die Italiener im Küstenland, die Polen in Ostgalizien sowie die Deutschen in Böhmen, Mähren und anderswo die sozioökonomischen Eliten, die in den Bereichen Bürokratie, Grundbesitz, Handel, Berufe und unter den Intellektuellen die absolute Oberhand hatten. Sie waren die „dominanten Nationen“, die eine andere Sprache sprachen als der Großteil der Bevölkerung, allerdings in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz oben angesiedelt waren. Eine Ebene unter ihnen befanden sich Slowenen, Ruthenen, Slowaken etc., „Bauernvölker“, deren begabteste Vertreter einen gesellschaftlichen Aufstieg anstrebten, der stets mit einer raschen sprachlichen und kulturellen Anpassung Hand in Hand ging. In einem solchen Umfeld verriet es weniger über die nationale Zugehörigkeit, wenn man eine bestimmte Sprache sprach, sondern es war eher ein Hinweis auf den gesellschaftlichen Status eines Menschen. Durch Zensuswahlsysteme, die begütertere Schichten begünstigten, wurde die Vorherrschaft der „dominierenden Nationen“, die in den Landtagen überrepräsentiert waren, noch mehr gefestigt. Diese Situation begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ändern. Die Reformen des Neoabsolutismus und die daraus resultierende (wenn auch nicht allzu ausgeprägte) Entwicklung zum Kapitalismus hin erschütterten die traditionellen nationalen Hierarchien. Auch in den Bauervölkern waren bestimmte Formen sozialer Differenzierung zu erkennen, immer mehr ihrer Vertreter schafften den gesellschaftlichen Aufstieg und sie entwickelten rasch ein eigenes Nationalbewusstsein. Paradoxerweise wurde dies durch rechtliche Maßnahmen des Kaiserreiches begünstigt. Die Bedeutung der Sprachenstatistik der 39 Marina Cattaruzza, I conflitti nazionali a Trieste nell’ambito della questione nazionale dell’Impero asburgico: 1850–1914, in: Quaderni giuliani di storia 10/1 (1989) 131–148.

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Volkszählungen wurde bereits erwähnt; eine weitere wichtige Rolle spielte die österreichische Verfassung aus dem Jahr 1867, mit der sämtliche Völker durch das Recht auf Verwendung ihrer eigenen Sprache auch als Unterrichtssprache in Schulen das Recht auf nationale Individualität erlangten. Dadurch wurde die Nationalisierung der verschiedenen Sprachgemeinschaften beschleunigt und die Grenzen zwischen diesen Gemeinschaften vertieft. So war immer mehr Anlass für Auseinandersetzung gegeben, und das Gefühl nationaler Zugehörigkeit wurde immer radikaler. Dazu kamen die Folgen der steten Wahlrechtserweiterungen der 1880er und 1890er Jahre, die 1907 in der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts gipfelten. Da nunmehr auch die unteren Bevölkerungsschichten wählen durften, war das politische Gewicht der nationalen Gruppen, die bisher die unbeschränkte Herrschaft innegehabt hatten, geschmälert40. Wie signifikante regionale Studien gezeigt haben, verbarg sich hinter der Betonung der ethnisch-nationalen Zugehörigkeit durch bestimmte gesellschaftliche Sektoren der Wunsch, gefestigte Vormachtstellungen zu verteidigen oder aber anzugreifen. Die immer stärkeren Prozesse nationaler Identifikation waren auf Gründe verschiedenster Natur sowie konkrete, auch wirtschaftliche Interessen zurückzuführen. In den meisten Fällen war das Ziel nicht, durch die Aussicht auf eine kleinere und national homogene Heimat den habsburgischen Vielvölkerstaat anzugreifen, sondern eher die Stärkung greifbarer Machtpositionen innerhalb begrenzter regionaler Realitäten41. Die auf einer gemeinsamen Sprache und Kultur beruhende Berufung auf eine bestimmte nationale Zugehörigkeit schwächte allerdings die Habsburgermonarchie42. Triest und Umgebung sind ein typisches Beispiel für eine derartige Dynamik. Die Hafenstadt mit italienischsprachiger Mehrheit besaß eine bedeutende slawischstämmige Minderheit, die in erster Linie aus dem Umland kam. Um die Jahrhundertwende erlebte die Stadt nach einer kräftigen wirtschaftlichen Entwicklung eine Bevölkerungsexplosion; vor allem der Anteil der Slowenen stieg stark an. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte Triest die slowenischstäm40 Ein Beispiel für die Folgen der Ausweitung des Wahlrechts findet sich in: Paolo Ziller, Stato asburgico e rappresentanza politica. Sistema elettorale, rappresentanze comunali e Dieta provinciale dell’Istria nell’ultima Austria, in: ders., Giuliani, istriani e trentini dall’Impero asburgico al Regno d’Italia (Udine 1997) 31–50. 41 Laurence Cole, Differentiation or Indifference? Changing Perspectives on National Identification in the Austrian Half of the Habsburg Monarchy, in: Nationhood from Below. Europe in the Long Nineteenth Century, hrsg. von Maarten van Ginderachter, Marnix Beyen (Basingstoke 2012) 96–119. 42 Robert Kann, Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918. Eine Zusammenfassung, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 III/2, hrsg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Wien 1980) 1304–1338.



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mige Bevölkerung in einem dem Anschein nach komplikationslosen Assimilierungsprozess aufgenommen. Es handelte sich um Familien mehrheitlich bäuerlicher Herkunft mit geringem Anteil an Intellektuellen oder Angehörigen freier Berufe, deren Integration in das städtische Umfeld und deren wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Aufstieg zum Verlust der eigenen Identität und zur Integration in die dominierende Nation führte43. Die Lage änderte sich, als diese Immigration zahlenmäßig so stark wurde, dass sie für die italienischsprachige Bevölkerung in Triest nicht mehr zu bewältigen war44. Dazu kam die Entstehung einer immer bewussteren Identifikation mit der slowenischen Sprachengruppe: Die Entnationalisierung galt nicht mehr als unweigerlich, sondern man wehrte sich dagegen. Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung trugen das Übrige dazu bei, dass in Triest eine slowenische Gemeinschaft entstand, die bunter und deutlicher wahrnehmbar war als früher: kein Volk von Bauern mehr, sondern auch von Bürgern, die in den freien Berufen, unter anderem im wirtschaftlichen Bereich und im Kulturleben Fuß fassten. So entwickelte sich eine Art „Minderheits-Parallelgesellschaft“45 mit eigener Führungsschicht sowie eigenen Wirtschafts-, Berufs- und Kulturorganisationen – von hier nahm die Eskalation der nationalen Auseinandersetzung zwischen zwei konkurrierenden Welten ihren Ausgang. Die Slowenen waren noch in der Minderheit, aber eindeutig im Aufstieg begriffen – sie machten den Italienern den Assimilierungsprozess der vergangenen Jahrzehnte zum Vorwurf, den sie als bewusste Maßnahme zur Schwächung der slawischen Präsenz sahen. Die Italiener, zahlenmäßig überlegen und gesellschaftlich höhergestellt, betrachteten die neue Herausforderung mit Sorge: Sie sahen darin nicht das Ergebnis einer spontanen und autonomen Entwicklung des slawischen Bevölkerungsanteils, sondern eine Folge der Unterstützung, die diesem ihrer Meinung nach aus antiitalienischer Gesinnung von der Monarchie gewährt wurde. In den italienischen Kreisen hielt man die steigende slowenische Zuwanderung für ein künstliches Phänomen, von der Regierung zur Stärkung einer als kaisertreuer geltenden Bevölkerungsgruppe gefördert. Dieser Vorwurf war größtenteils unbegründet, da darin die Rolle der wirtschaftlichen Entwicklung der Adriastadt als Anziehungsfaktor für die Bevölkerung aus dem Umland nicht berücksichtigt wurde. Der Vorwurf bot aber einen Sündenbock und vor allem konnte man die Slowenen auf diese Weise weiterhin als Volk ohne Geschichte und Identität ansehen, das nicht in der Lage war, 43 Marina Cattaruzza, Trieste nell’Ottocento. Le trasformazioni di una società civile (Udine 1995) 130–157. 44 Angelo Ara, Italiani e sloveni nel Litorale austriaco, 1880–1918, in: ders., Fra Nazione 303–316. 45 Marta Verginella, L’ascesa della nazione ai confini dell’Impero asburgico, in: Trento e Trieste. Percorsi 63–82, hier 67.

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es ohne fremde Hilfe mit einer Nationalitätengruppe aufzunehmen, die sich als überlegen betrachtete46. In der julischen Hauptstadt beobachtete man mit besorgter Aufmerksamkeit, was im nahen Dalmatien mit der kleinen italienischen Gemeinschaft geschah. Sie wurde auf gerade einmal 3 % der Gesamtbevölkerung beziffert, hatte aber wirtschaftlich und gesellschaftlich eine entscheidende Rolle inne47. Politisch war sie nach der Ausweitung des Wahlrechts weniger präsent, weil nicht mehr im Parlament in Wien vertreten, sondern nur noch in geringer Zahl im Landtag und der Stadtregierung von Triest. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die eindeutig zurückgehende italienische Präsenz in Dalmatien als negatives Omen im Hinblick auf die mögliche Entwicklung der Lage in Triest gesehen, also eine mögliche Unterdrückung der Italiener, weil die Unterstützung des Kaisers den Slawen galt. Das „Schreckgespenst der Dalmatisierung“ (spettro della dalmatizzazione)48 wurde als Instrument gegen die Slowenen und als Argument für die diskriminierende Politik der Stadtverwaltung eingesetzt, die sich in italienischen Händen befand. In Triest war die nationalpolitische Lage wesentlich angespannter als in Trient49. Die italienischen liberalnationalen Parteien, welche die Stadtverwaltung voll und ganz in der Hand hatten, opponierten systematisch gegen die Forderungen der Slowenen nach nationaler Anerkennung: Sie lehnten die Eröffnung slowenischer Sekundarschulen ab und verbannten slowenische Volksschulen in die Vororte, zudem wurde der Gebrauch des Slowenischen auf öffentlichen Beschriftungen, Schildern, ja sogar Grabdenkmälern vereitelt. Ermöglicht wurde dies durch die österreichische Verfassung, die den Landtagen weitreichende Kompetenzen einräumte und damit die Peripherie den dominierenden Nationalitäten überließ. Diese nutzten die neuen Institutionen als Instrument zur Unterdrückung von Minderheiten. Triest war institutionell betrachtet vergleichbar mit einer Provinz, sein Gemeinderat mit einem Provinz-Landtag – das war die Belohnung für die Kaisertreue während der Revolution von 1848/49 gewesen. Die julische Stadt war nicht zum Schauplatz von Aufständen geworden, zu denen es unter anderem im nicht weit entfernten Venedig gekommen war. Stattdessen wurde eine Gemeindedelegation aus Triest nach Innsbruck geschickt, um Kaiser Ferdinand, der dorthin aus dem brennenden Wien geflohen war, Treue 46 Marina Cattaruzza, L’Italia e il confine orientale 1866–2006 (Bologna 2007) 46ff. 47 Luciano Monzali, Italiani di Dalmazia. Dal Risorgimento alla Grande Guerra (Florenz 2004). 48 Angelo Ara, Gli austro-italiani e la Grande Guerra: appunti per una ricerca, in: Ders., Fra Nazione 371–417, hier 375. 49 Ester Capuzzo, Dall’irredentismo all’annessione, in: Dies., Alla periferia dell’Impero. Terre italiane degli Asburgo tra storia e storiografia (XVIII–XX secolo) (Neapel 2009) 57–71.



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Abb. 2: Unione Ginnastica Trento. Kurs für die Bevölkerung 1913 (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient, Archivio iconografico).

zu schwören. Durch die Erhebung zur reichsunmittelbaren Stadt erlangte Triest den Status einer Provinz, womit der Stadtrat umfangreiche Kompetenzen erhielt und diese im Rahmen seiner Politik der „Eindämmung“ des slawischen Bevölkerungsanteiles ausgiebig nutzte50. Während die Trentiner institutionell betrachtet angesichts des Innsbrucker Zentralismus schwächer gestellt waren, vermochten die Italiener in Triest, aber auch den anderen Teilen des Österreichischen Küstenlandes dank ihres zahlenmäßigen sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gewichtes ihre eigenen Interessen in den regionalen Landtagen zu wahren bzw. sie zu dominieren51. Ende des 19. Jahrhunderts war jedoch im Küstenland wie im Trentino auf regionaler Ebene eine besorgniserregende Verschärfung der Auseinandersetzung festzustellen – Wien hatte hier wie da immer mehr Schwierigkeiten, seine Gebiete einheitlich zu verwalten, und wurde immer mehr zum Opfer der Peripherie. 50 Marina Cattaruzza, Il primato dell’economia: egemonia politica del ceto mercantile (1814–60), in: Storia d’Italia. Le regioni dall’Unità ad oggi. Il Friuli-Venezia Giulia, hrsg. von Roberto Finzi, Claudio Magris, Giovanni Miccoli, Bd. 1 (Turin 2002) 147–179, hier 174–175. 51 Maria Garbari, L’irredentismo nel Trentino, in: Il nazionalismo in Italia e in Germania fino alla Prima guerra mondiale, hrsg. von Rudolf Lill, Franco Valsecchi (Bologna 1983) 307–346, hier 320–322; Ernesto Sestan, Autonomie e nazionalità nella monarchia austro-ungarica, in: Convegno storico-giuridico sulle autonomie e sulle minoranze. Trento 27–28 ottobre 1978. Atti, hrsg. von Maria Garbari (Trient 1981) 19–42.

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Der Nationalitätenkonflikt wurde in Trient und in der julischen Region an verschiedenen Fronten ausgetragen. Denkmäler, Straßennamen, öffentliche Feierlichkeiten, die Aktivitäten der Sprach-, Kultur-, Schul-, aber auch Sport- und Alpenvereine wurden zum Kampfplatz, zu den öffentlichen Räumen, an denen die gegensätzlichen Nationallehren in Szene gesetzt wurden52. 1889 wurde in Bozen das Walther-Denkmal für Walther von der Vogelweide errichtet – jenen mittelalterlichen Minnesänger, der zum Symbol für die Einheit der deutschen Welt gemacht wurde. Eine Statue Walthers auf dem Hauptplatz der südlichsten deutschsprachigen Stadt der Monarchie kam einem festen Bollwerk der deutschen Nation gegen mögliche Bedrohungen aus dem Süden gleich53. In Trient wurde sogleich mit einer Maßnahme reagiert, die denselben Symbolwert hatte, nämlich der Errichtung des Denkmals für Dante Alighieri im Jahr 1896. Die steinernen Standbilder dieser beiden illustren Vertreter der italienischen beziehungsweise deutschen Sprache und Kultur wurden zum Symbol der beiden Bevölkerungsgruppen. Während Walther, nach Süden blickend, mahnend an den rein deutschen Charakter Bozens erinnerte, betonte Dante mit seinem gen Norden gerichteten Arm, dass die Einwohner Trients sprachlich wie kulturell zur italienischen Welt gehörten. Ähnlich verhielt es sich in Triest, wo auf Initiative von Vertretern der italienischfreundlichen liberalnationalen Partei ein Denkmal für Domenico Rossetti errichtet wurde – einen Triestiner Juristen und Literaten, der auf extrem gezwungene Art und Weise hartnäckig als Vorreiter des julischen Irredentismus gefeiert wurde54. Andererseits wollten die Österreichtreuen die 500-jährige Vorherrschaft der Habsburger über das julische Gebiet mit dem Monumento della dedizione di Trieste all’Austria feiern, einem Denkmal der Ergebenheit Triests gegenüber Österreich, das allerdings Ende des Ersten Weltkrieges zerstört wurde: Eine Frau (die Allegorie Triests) steht stolz zu Füßen eines Obelisken, der die Habsburgerherrschaft symbolisiert. Doch die im Triestiner Gemeinderat stark vertretene liberalnationale Partei sorgte dafür, dass das Pendel in Sachen Denkmäler zu ihren Gunsten umschlug: Sie ließ 1906 eine Statue des bedeutendsten musikalischen Vertreters des italienischen Risorgimento, Giuseppe Verdi, errichten. 52 Laurence Cole, Patriotic Celebrations in Late-Nineteenth- and Early-Twentieth-Century Tirol, in: Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe, 1848 to the Present, hrsg. von Maria Bucur, Nancy M. Wingfield (West Lafayette 2001) 75–111. 53 Vgl. Reinhard Johler, Walther von der Vogelweide. Erinnerungskultur und bürgerliche Identität in Südtirol, in: Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler, hrsg. von Hanns Haas, Hannes Stekl (Wien–Köln–Weimar 1995) 185–203. 54 Vania Gransinigh, Politica monumentale a Trieste nell’ultimo periodo della dominazione asburgica: parallelismi e tangenze con la situazione trentina, in: Trento e Trieste. Percorsi 83–107.



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Der öffentliche Raum bestand jedoch nicht nur aus Plätzen, die sich als Bühne für die Symbole der Nation eigneten. Schulen waren ein vielleicht noch wichtigerer Ort, gleichsam wahre Schlachtfelder der nationalen Auseinandersetzung, in denen die Identität der jungen Generation geformt werden sollte55. In den Schulen wurden die Jugendlichen zu einer einzigen Nationalität herangezogen und damit vielleicht sogar von der Nationalität der eigenen Familien entfremdet. In Artikel 19 der Staatsgrundgesetze von 1867 wird allen Nationalitäten das Recht auf Wahrung ihrer eigenen Kultur und Sprache garantiert, während in späteren Gesetzesvorschriften das Verfahren zur Festlegung der Unterrichtssprache jeder einzelnen öffentlichen Schule geregelt wurde. Es bestand allerdings die Möglichkeit, Privatschulen zu gründen, welche die öffentlichen Schulen ersetzen konnten, wenn die Gemeinden über zu wenig Mittel verfügten oder die von einer Nationalität dominierte Verwaltung die Gründung einer öffentlichen Schule boykottierte. Somit kam es in den mehrsprachigen Regionen zu einem wahren Kampf um die Schulen, und ab den 1890er Jahren nahm die Anzahl der Fördervereine für Kindergärten und Schulen mit der entsprechenden Unterrichtssprache zu. All diese Vereine verfolgten laut Eigendefinition den Zweck, der Gefahr der Entnationalisierung durch konkurrierende Nationalitäten entgegenzuwirken, und alle wurden von der jeweiligen Gegenseite als aktives Mittel eingesetzt, um in heftig umkämpfte Bereiche vorzudringen. Den Anfang machten deutschsprachige, von österreichischen und deutschen Geldgebern unterstützte Vereine wie zum Beispiel der Deutsche Schulverein. Er wurde 1880 in Wien zur Förderung der deutschen Schulen im deutschsprachigen Teil des Trentiner Nonstales gegründet und wurde danach auch in anderen Gebieten des Trentino, im Küstenland sowie vor allem in Böhmen, Mähren und Schlesien tätig56. Während es im Trentino einzelne deutsche Sprachinseln gab, waren im Küstenland im Grunde die deutschösterreichischen Ansiedlungen vor allem in Triest und Görz zu unterstützen. In den folgenden Jahren reagierte dort die italienische Seite mit der Gründung des Vereins Pro Patria im Jahr 1885 – er wurde 1890 aufgelöst, dann aber als Lega Nazionale neu gegründet – und die slowenische und kroatische Gemeinde 1885 ebenfalls mit der Gründung eines entsprechenden Vereins (Bratovšcina sv. Cirila in Metoda oder Kyrill- und Method-Verein). 55 Für eine Beschreibung, wie Schulen und Kindergärten gleichsam zu nationalen Schlachtfeldern, Bücher zu Waffen und Lehrer zu Frontsoldaten wurden, welche die verschiedenen Nationalitäten verteidigten, siehe Claus Gatterer, Erbfeindschaft: Italien–Österreich (Wien 1972) 91–104, sowie Quinto Antonelli, Storia della scuola trentina. Dall’umanesimo al fascismo (Trient 2013) 300–313. 56 Davide Zaffi, Die deutschen nationalen Schutzvereine in Tirol und im Küstenland, in: Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsaß-Lothringen / Trient-Triest, 1870–1914, hrsg. von Angelo Ara, Eberhard Kolb (Berlin 1998) 257–284.

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Im Laufe weniger Jahre änderte das Wirken des Schulvereins seine Ausrichtung, besonders im Trentino. War es zunächst noch darum gegangen, die Gründung und das Überleben von Schulen in den Gebieten entlang der Sprachgrenze und innerhalb der sogenannten deutschen Sprachinseln zu gewährleisten, wurde schon bald mit Initiativen zur Ausweitung dieser Präsenz auf das übrige Trentino begonnen, das als ursprünglich deutsches und erst kurze Zeit zuvor italianisiertes Gebiet präsentiert wurde. So kam es in weiterer Folge zum Erwerb von Grundstücken und der Gründung deutscher Kindergärten in Gebieten, die an Gebiete mit deutschsprachiger Bevölkerung grenzten. Eigentlich waren die konkreten Ergebnisse der Aktivität des Schulvereins relativ bescheiden, was auch auf die geringe Unterstützung der Wiener und Innsbrucker Institutionen zurückzuführen war. Zu seiner Tätigkeit kam allerdings der Aktivismus weiterer Vereine aus dem Deutschen Reich hinzu, deren Vorstellung von der ethnolinguistischen Veränderung des Trentino wesentlich aggressiver ausfiel. Diese Initiativen wurden von den italienischsprachigen Aktivisten mit wachsender Sorge betrachtet – sie warnten mit oft übertriebenem Eifer vor der Entnationalisierung des Sudtirolo italiano und intensivierten die Bemühungen ihrer Vereine, allen voran der Lega Nazionale mit zwei verschiedenen Ortsgruppen, einer adriatischen und einer tridentinischen. Sie zählte 45.000 Mitglieder und verfügte über ein dichtes Netz von Schwesternvereinen, die in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen tätig waren57. Der Krieg der zur nationalen Verteidigung gegründeten Vereine trug entscheidend zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Sprachgruppen und zur Tatsache bei, dass die nationale Auseinandersetzung von einem tendenziell urbanen Elitenphänomen zu einem breiteren Thema wurde, von dem auch die Landbevölkerung in immer größerem Ausmaß betroffen war. Das national geprägte Vereinswesen erweiterte sein Tätigkeitsfeld und beschränkte sich nicht mehr auf den sprachlichen und kulturellen Sektor, sondern deckte eine breite Palette an gesellschaftlichen Aktivitäten und Freizeitbeschäftigungen ab. Über italienische Turn-, Alpin- und Radsportvereine58 sowie Lesezirkel und Laienthe57 Zur Lega Nazionale sei auf folgende Werke verwiesen: Diego Redivo, Le trincee della nazione. Cultura e politica della Lega Nazionale (1891–2004) (Triest 2005); Diana De Rosa, Gocce di inchiostro. Gli asili, scuole, ricreatori doposcuola della Lega Nazionale. Sezione adriatica (Udine 2000); Stefan Wedrac, L’ira dell’aquila: lo scioglimento della società scolastica “Lega Nazionale” nel Litorale austriaco, in: Storia e Futuro (2009) 19, abrufbar auf der Website http://storiaefuturo. eu/lira-dellaquila-scioglimento-societa-scolastica-lega-nazionale-nel-litorale-austriaco/ (zuletzt überprüft am 14.11.2019). 58 Zum Sportvereinswesen vgl. Elena Tonezzer, Il corpo, il confine, la patria. Associazionismo sportivo in Trentino (1870–1914) (Bologna 2011); Ginnasti di frontiera. Associazioni sportive in Trentino 1871–1914, hrsg. von Quinto Antonelli (Trient 2001).



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Abb. 3: Demonstration für die Gründung einer italienischen Universität in Triest, Triest, 25. März 1899 (Fototeca Civici Musei di Storia ed Arte di Trieste).

atergruppen bot jede gesellschaftliche Aktivität die Möglichkeit, stolz seinem Nationalgefühl Ausdruck zu verleihen – dies war natürlich umso nützlicher, je mehr dabei das heißumkämpfte Revier markiert werden konnte. Im Küstenland gab es entsprechende slawische, im Trentino entsprechende deutschsprachige Einrichtungen. Aus diesem Grund artete im Jahr 1907 ein Radausflug an der Grenze zum Trentino in eine Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern eines deutschen und eines Trentiner Sportvereins aus – und diesmal war es keine Auseinandersetzung im übertragenen Sinn. Der deutsche Verein hatte den Ausflug mit dem provokanten Ziel organisiert, „die Grenzen des zukünftigen Großdeutschlands endgültig festzulegen“, worauf die Unione Ginnastica di Trento reagierte. Die Angelegenheit mündete in einen Prozess, in den dutzende Aktivisten aus dem Trentino verwickelt waren – später sollten sie sich mit den Folgen für ihre patriotische Geste brüsten59. Zur Jahrhundertwende verschärften sich die nationalen Konflikte. Grund dafür war auch die ungelöste Frage der italienischen Universität, die von Juliern und Trentinern gefordert wurde. Nach dem Verlust Lombardo-Venetiens konnten die österreichischen Italiener die dortigen Universitäten nicht mehr besuchen. Die Forderung nach der Gründung einer italienischen Universität in Triest wurde 59 Eine detaillierte Schilderung des Vorfalls findet sich bei Tonezzer, Il corpo 54–62 (auch das Zitat stammt aus diesem Werk).

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von sämtlichen italienischen Parteien mit äußerster Vehemenz vorgebracht. Die Trentiner Sozialisten stimmten mit dem Schlachtruf Cesare Battistis, O Trieste o nulla (Triest oder nichts!) in die Forderung ein, während Liberale und Katholiken kompromissbereiter waren und nichts dagegen hatten, dass Trient oder Rovereto Sitz einer italienischen Universität werden könnten. Da man in Triest ein Ansteigen des Irredentismus befürchtete, vor allem aber aufgrund des deutschnationalen Widerstandes, der darin einen Präzedenzfall für die Gründung weiterer nicht-deutschsprachiger Universitäten sah, wurde die Universitätsfrage immer weiter verzögert, was die Gemüter der italienischen Aktivisten erregte, die berechtigterweise eine Verletzung des Rechtes auf Bildung in den verschiedenen Nationalsprachen beklagten60. Schließlich wurde mit der Gründung einer italienischen Rechtsfakultät an der Universität Innsbruck 1904 eine Notlösung gefunden. Doch bei der Eröffnung kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen italienischen und deutschen Studenten, und das Heer musste eingreifen – zahlreiche Demonstranten wurden verhaftet oder verletzt, ein Mann starb. Die Vorfälle endeten mit dem Sturm auf die italienische Fakultät und deren Zerstörung. Die Fatti di Innsbruck (Ereignisse von Innsbruck) stießen auf internationales Echo und führten Europa vor Augen, wie sehr sich der Nationalitätenkonflikt in der Monarchie verschärft hatte61. 4. Irredentisten gegen austriacanti? Die Zuspitzung der nationalen Auseinandersetzung zur Jahrhundertwende ist also ein Phänomen, das auch in den österreichischen Gebieten mit italienischer Bevölkerung erkennbar war. Das bedeutet allerdings nicht, dass die gesamte Bevölkerung an diesem Kampf beteiligt gewesen wäre. Protagonisten des Konfliktes waren in erster Linie die bürgerlichen Schichten und die Stadtbevölkerung; die Landbevölkerung hatte meist nur eine Zuschauerrolle inne. Mit der über das Vereinswesen um die Lega Nazionale gleichsam missionarisch verbreiteten italienischen Gesinnung sollte primär die sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit zur italienischen Nation gefördert werden, es ging nicht um die Festlegung neuer Staatsgrenzen. Es wäre daher falsch, jede Aktivität zur Förderung der italienischen Gesinnung als Ausdruck von Irredentismus anzusehen, der auf territoriale Abspaltung abzielte. Diesen Fehler begingen die österreichischen Behörden 60 Angelo Ara, La questione dell’università italiana in Austria, in: Ders., Ricerche sugli austro-italiani e l’ultima Austria (Rom 1974) 9–140. 61 Universität und Nationalismus. Innsbruck 1904 und der Sturm auf die italienische Rechtsfakultät, hrsg. von Günther Pallaver, Michael Gehler (Trient 2013).



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mehrmals – umso häufiger, je näher der Krieg kam; während des Krieges sollte sich der Gedanke dann überhaupt zu einer Obsession entwickeln. Tatsächlich hatte die irredentistische Gesinnung in den verschiedenen Regionen sowie in den diversen Gesellschaftsschichten und den jeweiligen politischen Vertretungen absolut keine Mehrheit. Der Mythos von den terre irredente, also den „unerlösten“, unter fremder Herrschaft stehenden Gebieten, von denen geschlossen die Vereinigung mit dem Mutterland angestrebt wurde, war eben nur ein Mythos, der in vielen Fällen in ein völlig gegenteiliges Urteil ausartete, sobald feststand, dass er bar jeder Grundlage war. Auch die den Irredentismus verklärende Geschichtsschreibung präsentierte lange ein starres, von Schwarzweißmalerei bestimmtes Bild der österreichischen Italiener: klar geteilt, auf der einen Seite die italienischen Patrioten, auf der anderen Seite die Österreichtreuen; Verfechter des italienischen Geistes gegen treu ergebene Knechte der Habsburger. Aus diesem Grund konnten Positionen zwischen den Fronten, die weit von den Extrempositionen der Aktivisten entfernt waren und der Einstellung des Großteils der Bevölkerung entsprachen, nicht wirklich entsprechend beleuchtet werden. Irredentismus im eigentlichen Sinne ist eine Kategorie, in die ausschließlich all jene fallen, die sich die Abspaltung der italienischen Gebiete und somit die Übertragung der Souveränität von Österreich auf Italien wünschten und diese planten – diese beiden Faktoren sollten ihrer Meinung nach die Vollendung des italienischen Risorgimento ermöglichen. Die Bewegung entstand weniger in den Gebieten unter österreichischer Herrschaft, sondern primär in Italien. Sie war einerseits vom Wunsch geprägt, die terre irredente – der Begriff wurde erstmals im Jahr 1877 vom Neapolitaner Renato Matteo Imbriani erfolgreich geprägt62 – an die Nation anzugliedern, andererseits von der harten Kritik an der nationalen Führungsschicht, die sich um diese Regionen nicht kümmerte, sodass sie aus Schwäche und politischem Kalkül dem Usurpator überlassen blieben. Als Geburtsstunde des Irredentismus kann die „Wende“ des Jahres 1866 bezeichnet werden. In diesem Jahr ging Venetien an Italien, und die Frage der italienischsprachigen Gebiete jenseits der Grenze blieb offen und ungelöst – besagte Gebiete konnten generell nur durch diplomatische Abkommen oder einen neuen europäischen Krieg, den sich nur wenige wünschten, gewonnen werden. In diesen ersten irredentistischen Vereinigungen waren auch Trentiner und Julier aktiv, wobei letztere zahlreicher und engagierter waren. Doch es handelte sich von Anfang an um eine Bewegung, an der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen des Königreiches Italien nur eine Minderheit an Aktivisten beteiligt war.

62 Maria Garbari, Der Irredentismus in der italienischen Historiographie, in: Grenzregionen 25–53.

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Die „Befreiung“ aller Italiener aus der „österreichischen Knechtschaft“ wurde jedoch sehr wohl Thema der öffentlichen nationalen Debatte – diese wurde jedes Mal von den Kräften, die sich auf den Prozess des Risorgimento beriefen und die Fortsetzung des Kampfes gegen den „Erbfeind“ predigten, neu entfacht63: Für Giuseppe Mazzini und andere Vertreter der Bewegung bahnte sich unweigerlich ein neuer Krieg gegen Österreich an. In Mazzinis Vorstellung handelte es sich um einen Befreiungskrieg, an dem sich sämtliche Völker unter der Herrschaft der Habsburgermonarchie, deren endgültige Auflösung angestrebt wurde, beteiligen sollten. Die Rechte der unterdrückten Völker konnten seiner Meinung nach nur durch das Ende der Monarchie durchgesetzt werden. Das hinderte Mazzini allerdings nicht daran, auch an die Eroberung von Gebieten mit anderssprachiger Bevölkerung zu denken, auf die Italien seiner Meinung nach aus geografischen, wirtschaftlichen oder militärischen Gründen Anspruch hatte. Istrien war als Tor Italiens an der Adria („Porta d’Italia dal lato dell’Adriatico“) anzusehen, Alto Adige (Oberetsch, Hochetsch) als Tor nach Norden. Dort sprachen für Mazzini sogar Natur, Klima und angebaute Pflanzen Italienisch, und die Bewohner deutscher Abstammung („di stirpe teutonica“) stellten keine geschlossene Gruppe dar, sodass deren Italianisierung leichtfallen würde („non compatti e facili a italianizzarsi“) 64. Eine entschieden irredentistische Minderheit brachte das Thema der Erlösung der letzten österreichischen Italiener immer wieder mit aggressiver Vehemenz und österreichfeindlicher Gesinnung vor, schon bald wurde es allerdings auch der moderaten Mehrheit wichtig, die sich vom Geist des Risorgimento hatte inspirieren lassen. Die nationale Einigung Italiens war im Kampf gegen Österreich vollzogen worden. Daher war Wien für die meisten Italiener nach wie vor der Feind Italiens schlechthin, und die Befreiung der letzten italienischen Gebiete (beziehungsweise Gebiete mit italienischer Gesinnung) eine moralische Pflicht, die es früher oder später zu erfüllen galt65. Es wurde immer wieder daran erinnert, dass die Italiener jenseits der Grenze nicht ihrem Schicksal überlassen werden durften. Dies war auf die Befürchtung zurückzuführen, dass möglicherweise eine bewusste Entnationalisierung im Gange sein könnte. Durch die Gründung des Königreiches Italien und den Verlust Venetiens war Wien, was die Forderungen der italienischsprachigen Aktivis63 Silvio Furlani, Adam Wandruszka, Österreich und Italien. Ein bilaterales Geschichtsbuch (Wien 22002); Gatterer, Erbfeindschaft; Joe Berghold, Italien–Austria. Von der Erbfeindschaft zur europäischen Öffnung (Wien 1997). 64 Vgl. Giuseppe Mazzini, Scritti editi ed inediti LXXXVI (Imola 1940). Vgl. auch Cattaruzza, L’Italia e il confine orientale 18f., und Carlo Romeo, Il fiume all’ombra del castello. Il concetto di “Alto Adige”, in: Storia e regione / Geschichte und Region 10 (2000) 135–151. 65 Angelo Ara, L’irredentismo fra tradizione risorgimentale e nazionalismo, in: Ders., Fra Nazio­ ­ne 317–334, hier 320ff.



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Abb. 4: Entwurf einer Korrespondenzkarte für die Lega Nazionale, 1890er Jahre (Civici Musei di Storia ed Arte di Trieste).

ten anbelangte, besorgt und kämpferisch eingestellt. Es war für alle offensichtlich, dass die Existenz eines italienischen Nationalstaates unweit der Grenze anziehend auf die italienischsprachigen Gemeinden wirken würde und die Südgrenze daher abermals in Gefahr geraten könnte. Aus diesem Grund wurden vom österreichischen Ministerrat im November 1866 „Maßregeln gegen das italienische Element in einigen Kronländern“ diskutiert, und der Kaiser persönlich ordnete an, dass „auf die Germanisierung und Slawisierung der betreffenden Landesteile je nach Umständen mit aller Energie und ohne jede Rücksicht hingearbeitet werde“66. Doch angesichts der konkreten Politik im Trentino, im Küstenland sowie in Dalmatien sind Franz Josephs Worte eher als emotionale Reaktion auf den Verlust Venetiens und weniger als kohärentes Interventionsprogramm zu betrachten. Im Jahr darauf wurde durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger auch den Italienern die vollumfängliche Achtung ihrer Vor66 Protokoll des zu Wien am 12. November 1866 abgehaltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitz Sr. Majestät des Kaisers, in: Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848–1918 II/6 (Wien 1973) 297.

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rechte im sprachlichen und schulischen Bereich zugesichert, sodass die im Ministerrat vorgebrachten Drohungen sich nicht in konkreten Taten und Gesetzen manifestierten67. Trotz der verbreiteten österreichfeindlichen Haltung hielt es ein großer Teil der italienischen Führungsschicht für sinnvoller, das Problem der Irredenta auf diplomatischer Ebene anzugehen, da man sich mögliche territoriale Belohnungen als Gegenleistung für eine Ausweitung des österreichisch-ungarischen Einflussbereiches auf den Balkanraum erwartete. Anderen wiederum erschien es schlicht angebrachter und sinnvoller, die Freundschaft mit Österreich zu pflegen, statt weiterhin irredentistische Brandreden zu schwingen. Für Sidney Sonnino, den späteren italienischen Außenminister während des Ersten Weltkrieges, war das Trentino ein eindeutig italienisches Gebiet. Der Nutzen, den es für Italien bot, waren seiner Meinung nach allerdings „zu gering im Vergleich zu jenen, die unsere aufrichtige Freundschaft mit Österreich darstellt“, während es einer „Übertreibung des Nationalitätenprinzips“ gleichkomme, Ansprüche auf Triest geltend zu machen, das eine gemischte Stadt war68. Auch angesichts dieser Betrachtungen kam es 1882 zum Abschluss des Dreibundes, der in den darauffolgenden Jahren, besonders während der beiden Amtszeiten des italienischen Regierungschefs Francesco Crispi, zur Schwächung des irredentistischen Standpunktes unter Politikern führte69. Für Crispi hatte die Perspektive der kolonialen Erweiterung Priorität – ohne eine solide Position auf dem Schachbrett der internationalen Bündnisse war diese nicht möglich. Aus diesem Grund verurteilte er den Irredentismus letztlich als „den schädlichsten Fehler in Italien“70, verantwortlich für die nationale Isolation und in weiterer Folge die mangelnde Umsetzung einer machtorientierten Politik. Es galt also weniger an Trient und Triest als vielmehr an Afrika zu denken. Doch die irredentistische Tradition überlebte innerhalb und außerhalb der parlamentarischen Sitzungssäle, wenn auch teilweise im Verborgenen – Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie Teil des neu erblühenden italienischen Nationalismus, der die Nieder-

67 Angelo Ara, Gli italiani nella monarchia asburgica (1850–1918), in: Ders., Fra Nazione 251–267, hier 257; Corsini, Gli italiani 27. 68 Zit. in: Umberto Corsini, La questione nazionale nel dibattito trentino, in: Ders., Problemi 91–144, hier 114 (italienische Originalzitate sind hier und im Folgenden in deutscher Übersetzung wiedergegeben). 69 Renato Monteleone, La politica dei fuorusciti irredenti nella Guerra Mondiale (Udine 1972). 70 Zit. in: Maria Garbari, Il Trentino fra Austria e Italia: un territorio di confine nell’età dei nazionalismi, in: Simboli e miti nazionali tra ’800 e ’900. Atti del convegno di studi internazionali, Trento 1997, hrsg. von Maria Garbari, Bruno Passamani (Trento 1998) 15–61, hier 20.



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lage Italiens in der Schlacht von Adua hinter sich lassen wollte und sich neuen nationalen Ruhm durch neue Eroberungen erhoffte71. Während die Sehnsucht nach den terre irredente im Königreich Italien nicht geschlossen und widerspruchslos war, verfügte das irredentistische Szenario in den politischen Parteien, von denen die österreichischen Italiener vertreten wurden, über absolut keine Mehrheit – hier überwog eine realistischere Einschätzung. Diese entwickelte sich in zwei verschiedene Richtungen, die einander ergänzten. Auf kultureller Ebene wurde durch die Förderung von Kulturvereinen, die Erhaltung der italienischen Schulen sowie die Unterstützung von Heimatvereinen eine Stärkung der nationalen Charakteristika der italienischen Gebiete angestrebt. Die Forderungen auf politisch-institutioneller Ebene zielten ebenfalls auf die nationalpolitische Verteidigung ab und nahmen aufgrund des unterschiedlichen Umfeldes in Trient und Triest verschiedene Formen an. Nur wenige agierten ausschließlichen im Sinne eines Souveränitätswechsels, für die meisten war die Option des Irredentismus als grundsätzliches Bekenntnis zu sehen, als mehr ideelle als politische Perspektive, die es parallel zum täglichen Engagement (legale Aktivitäten zur Stärkung der eigenen Sprachgemeinschaft) zu verfolgen galt. Für die Trentiner Führungsschicht bedeutete der Kampf gegen den Innsbrucker Zentralismus nicht automatisch auch die Zustimmung zur Abspaltung. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dachte daran ausschließlich ein Teil der Liberalnationalen, die überzeugte Verfechter der These waren, dass Staat und Nation absolut und vollständig übereinstimmen müssen. Völlig anders dagegen die Position der Katholiken, die es für möglich hielten, die nationalen Charakteristika des Trentino über die weitreichenden Formen der Autonomie zu wahren, für die sie eintraten. Alcide Degasperi72, die Galionsfigur der Trentiner Katholiken, bezeichnete dies als „positives Nationalbewusstsein“ („coscienza nazionale positiva“), eine Haltung fern der Extrempositionen, die sich dem kulturellen, aber auch wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Italiener widmete, ohne dabei die Zugehörigkeit zum Kaiserreich in Frage zu stellen73. Es war eine Art, die Zugehörigkeit zu einer Nation weniger absolut und ausschließ71 Zu den Zusammenhängen zwischen Irredentismus und nationalistischer Bewegung vgl. Giovanni Sabbatucci, Il problema dell’irredentismo e le origini del movimento nazionalista in Italia, in: Storia contemporanea (1970) 467–502, Storia contemporanea (1971) 53–106. 72 Hier wird der Nachname des Trentiner Politikers in Originalschreibweise wiedergegeben – diese wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf „De Gasperi“ geändert. 73 Alcide Degasperi, La coscienza nazionale positiva, in: Il Trentino 17.3.1908, wiedergegeben in: Ders., I cattolici trentini sotto l’Austria. Antologia degli scritti dal 1902 al 1915 con i discorsi al Parlamento austriaco, hrsg. von Gabriele De Rosa, Bd. 1, 1902–1908 (Rom 1964) 288–289; Stefano Trinchese, L’altro De Gasperi. Un italiano nell’impero asburgico. 1881–1918 (Rom–Bari 2006).

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lich zu betrachten; der Schwerpunkt lag auf den positiven Dingen, die zur Stärkung der italienischen Gesinnung unter den eigenen Leuten getan werden konnten, ohne als einzigen Weg die Auseinandersetzung, zwei verschiedene Fronten oder den Krieg zu sehen. Vorrangig blieb der religiöse Aspekt, der mit Österreich-Ungarn eher gewährleistet bleiben würde als mit dem säkularen und liberalen Italien, und der nicht durch eine Übertreibung des Nationalgefühls erschüttert werden durfte. Um ein weiteres Mal auf Degasperi zurückzukommen: Es galt, in erster Linie katholisch und erst dann Italiener zu sein, und Italiener nur bis zu dem Punkt, an dem die katholische Religion endet (prima cattolici e poi italiani, e italiani solo fin là dove finisce il cattolicismo)74. Sehr ähnlich war die Einstellung der Volkspartei im Küstenland, die auf dem Land sehr stark, in Triest dagegen fast gar nicht präsent war: Sie vertrat eine konservative und kaisertreue Position und legte ebenfalls Wert auf eine zentrale Rolle für Kirche und Religion75. Äußerungen wie jene Degasperis lösten in den Trentiner Irredentistenkreisen indignierte Reaktionen aus – dort wurden die Klerikalen schlicht als österreichtreu und ohne jeden Nationalgeist angesehen. Im Trentiner Sozialismus dagegen war dieser Geist allgegenwärtig, und die Sozialisten begannen, mit den Liberalen zusammenzuarbeiten. Die Zusammenarbeit mündete in eine Wahlvereinbarung, die gegen die Volkspartei getroffen wurde. Unter der Führung Cesare Battistis, der dem Ruf des Risorgimento folgte, unterstützte die sozialistische Partei des Trentino die Forderungen nach einer von Tirol getrennten Autonomie und entwickelte eine immer nationalere Linie. Aufgrund der überholten Wirtschaftsstruktur des Trentino war eine auf den Klassenkampf ausgerichtete Politik ungünstig, durch die wirtschaftliche Benachteiligung der italienischsprachigen Tiroler Bevölkerung war es jedoch möglich, das Thema der nationalen Verteidigung hinter der Forderung nach einer gerechteren Ressourcenverteilung zu verbergen. So erfüllte der Trentiner Sozialismus die Forderungen der Arbeiter- und Handwerkerschichten, die durchaus empfänglich dafür waren, dass die Gegensätze zwischen Italienern und Deutschtirolern betont wurden76. Um die Jahrhundertwende nahm die nationale Auseinandersetzung immer schärfere Töne an, und die von Battisti inspirierten Trentiner Sozialisten schwangen immer häufiger an der Seite der Liberalen mit polemischer Verve die Flagge des Irredentismus. 74 Degasperis Rede vor dem katholischen Kongress in Trient (Congresso cattolico universitario trentino) im August 1902 ist wiedergegeben in: De Gasperi, I cattolici trentini 20–28, Zitat auf Seite 26. 75 L’attività del Partito cattolico popolare friulano negli ultimi venticinque anni (1894–1918) (1919), hrsg. von Italo Santeusanio (Gorizia 1990). 76 Ernesto Sestan, Cesare Battisti tra socialismo e irredentismo, in: Atti del convegno di studi su Cesare Battisti. Trento, 25–26–27 marzo 1977 (Trient 1979) 13–56; Renato Monteleone, Il movimento socialista nel Trentino 1894–1914 (Rom 1971).



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Der habsburgerfeindliche und mazzinianische Ton war dabei immer stärker herauszuhören, und es kam zu internen Differenzen in der Partei. Solange das Wahlsystem vom Zensuswahlrecht geprägt war, stellte die liberale Partei in vollem Maße die politische Vertretung des Trentino dar und eroberte alle Wahlbezirke, nicht nur die städtischen in Trient und Rovereto, sondern auch jene auf dem Land. Die Wahlreform im Jahr 1896 beendete diese politische Vormachtstellung: Nun dominierten die Liberalen in den Städten, und der Weg zur absoluten Überlegenheit der Katholiken auf dem Land und in den Berggemeinden war geebnet. Die Volkspartei wendete die auf ökonomischer und gesellschaftlicher Ebene geleistete Arbeit nutzbringend an, indem sie eine engmaschige und effiziente Genossenschaftsbewegung förderte und ein „weißes“ Gewerkschaftswesen entwickelte (sindacalismo bianco als Gegensatz zum sozialistischen, also „roten“ Gewerkschaftswesen), durch das auch auf dem Land immer mehr Anhänger gewonnen werden konnten. Mit dem bei den Parlamentswahlen 1907 gültigen allgemeinen Wahlrecht für Männer waren die Kräfteverhältnisse dann endgültig definiert: Die Volkspartei erhielt 70 % der Stimmen, die restlichen 30 % teilten sich Liberale und Sozialisten, die in der Stadt den Stimmenkampf unter sich ausfochten, gegen die Vorherrschaft der Katholiken in den ländlichen Wahlkreisen allerdings nichts ausrichten konnten. In der politischen Welt des Küstenlandes herrschte eine strengere Trennung zwischen Liberalen und Sozialisten: Weit davon entfernt, einen Grund für eine Annäherung zu finden, waren ihre Standpunkte in der Nationalitätenfrage unvereinbar. Während die Liberalen in Triest aggressiv für die Wahrung des italienischen Charakters der Stadt kämpften, traten die Sozialisten für die Rechte sämtlicher Nationalitäten ein, die dort anzutreffen waren, forderten also die Wahrung der Rechte der slowenischen Bevölkerung. Mehr noch als Battisti und die Trentiner waren die adriatischen Sozialisten Teil der Welt des österreichischen Sozialismus und darum bemüht, die internationale Doktrin mit den Rechten der Nationalitäten in Einklang zu bringen, waren also auch für die Wahrung des Vielvölkerstaates, allerdings begleitet von einer föderalistischen Reform. Hier hatte der Klassenkampf Vorrang gegenüber der Nationalitätenfrage. Diese galt den adriatischen Sozialisten durch die garantierte Wahrung sämtlicher sprachlicher und kultureller Grundrechte gegenüber allen als lösbar77. Die Triestiner Sozialistenführer Valentino Pittoni und Angelo Vivante lehnten die irredentistische Linie ab und betonten auch die wirtschaftlichen Bande zwischen Triest und Österreich. Ihrer Meinung nach konnte ein Souveränitätswechsel die Interessen der Stadt und der dort arbeitenden Bevölkerung gefährden und den wichtigsten Hafen eines riesigen Reiches zu einer Nebendestination des 77 Marina Cattaruzza, Italienische Sozialisten in Österreich, in: Grenzregionen 227–255.

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italienischen Handels machen78. Diese Ansichten ähnelten jenen der Trentiner Volkspartei, die darauf hinwies, dass der österreichische Markt wesentlich mehr Kapazitäten für landwirtschaftliche Produkte aus dem Trentino habe als der italienische. Verlässt man nun den Rahmen der offiziellen Standpunkte der einzelnen Parteien und versucht ein Bild darüber zu erlangen, wie es unmittelbar vor dem Krieg um das Nationalgefühl der Bevölkerung ganz allgemein bestellt war, wagt man sich auf ein schwieriges und nur zum Teil erforschtes Terrain vor. Es gibt durchaus Hinweise darauf, dass der italienische Nationalismus über die Kreise der Eliten hinausging79, es fällt allerdings schwer, ein umfassendes Urteil darüber abzugeben, welchen Anklang die nationalistischen Bestrebungen in breiten Teilen der Bevölkerung fanden. Am stärksten waren die Nationalisierungsprozesse dort, wo die italienischsprachige Bevölkerung täglich mit „dem Anderen“ konfrontiert war und mit ihm aneinandergeriet, in erster Linie im Küstenland, wo die Slawenfeindlichkeit noch stärker war als die Österreichfeindlichkeit. Doch auch Teile der Bevölkerung des Trentino erlebten Momente der Auseinandersetzung, die eine Verschärfung der nationalen Sensibilität mit sich bringen konnten. Man denke etwa an die Studenten, die in den österreichischen Städten Opfer von Diskriminierung wurden, aber auch an die einfacheren Auswanderer nördlich des Brenners – ausgegrenzt und oft ausgelacht, weil sie eine andere Sprache sprachen und schlecht Deutsch verstanden. Sie fühlten sich vielleicht als Tiroler, als sie ihr Herkunftsland verließen, hatten jedoch bei ihrer Rückkehr das Bewusstsein erlangt, Italiener zu sein, weil sie außerhalb des Trentino als solche angesehen wurden80. Es ist jedoch schwierig, auf etwas systematischere Weise festzustellen, welches Nationalgefühl die untergeordneten Bevölkerungsschichten hatten, vor allem, weil die entsprechenden Quellen fehlen. Erst mit dem Krieg entstanden plötzlich unzählige autobiografische Schriften, die uns Informationen über das Nationalgefühl der breiten Masse der Bevölkerung liefern können – für die Zeit davor fehlen sie81. Austriacanti und Irredentisten wurden starr und in absoluter Manier als zwei gegensätzliche Fronten dargestellt und in ein Schema gepresst – nicht nur von den österreichischen Behörden, sondern auch von Vertretern der italie78 Diese und weitere kritische Äußerungen zur Tatsache, dass das Litorale möglicherweise an Italien gehen könnte, wurden auf artikulierte und überzeugende Weise in: Vivante, Irredentismo adriatico vorgebracht. 79 Siehe etwa Giuseppe Bresciani, Una generazione di confine. Cultura nazionale e Grande Guerra negli scritti di un barbiere rivano, hrsg. von Gianluigi Fait (Trient 1991). 80 Vgl. Elena Tonezzer, I trentini in Austria. La costruzione di un’identità nazionale, in: Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900 12/3 (2009) 471–493. 81 Cole, Differentiation 98.



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nischen Nationalbewegung. Der Trentiner Irredentist Giovanni Pedrotti führte 1914 eine Umfrage unter der Trentiner Bevölkerung durch und übermittelte diese danach an den Generalstab des Heeres. Seiner Meinung nach stand der Bevölkerung der Hauptstadt, die wie das gesamte Bildungsbürgertum, die Handwerker beziehungsweise Gewerbetreibenden und sehr viele Angestellte italienisch dachte, die Masse der ungehobelten und ungebildeten Landbevölkerung gegenüber, welche unter dem Einfluss der Priester weiterhin regierungstreu blieb82. Auf der einen Seite die italianissimi, auf der anderen Seite die austriacanti, getrennt durch eine klare, durch die Klassenzugehörigkeit bestimmte Grenze. In dieser Interpretation liegt mehr als ein Körnchen Wahrheit: Der begrenzte Kreis, in dem sich das irredentistische Gedankengut entfaltete, bestand größtenteils aus der städtischen und bürgerlichen Bevölkerung. Die Landbevölkerung scheint jedoch Unrecht getan zu werden, wenn sie als abergläubisch, kleingeistig und fanatisch österreichtreu beschrieben wird. Hinter dieser scheinbaren Wand aus überzeugter Österreichtreue verbargen sich in Wirklichkeit vielschichtigere und verschieden motivierte Standpunkte. In vielen Fällen war die Monarchietreue der Landbevölkerung weniger durch deren eigene Einstellung bedingt, sondern stellte in gewisser Weise eine Reaktion auf das immer stärkere italienfreundliche Engagement der bürgerlichen Schichten dar (etwa des katholischen Genossenschaftswesens und der religiösen Traditionen in den Tälern)83. Hinter den beiden Fronten – also irredentistischem Bürgertum einerseits und loyaler Landbevölkerung andererseits – verbarg sich ein Gegensatz, der durch wirtschaftliche, kulturelle oder politische Gründe bedingt war. Sich im Zusammenhang mit diesen Gründen auf die Seite Österreichs oder auf die Seite der Irredentisten zu stellen, erfüllte schlicht die Funktion eines Lackmustests, es stand nicht immer das nationale Element im Mittelpunkt. Vor allem aber wurden durch eine Interpretation wie jene Pedrottis, die nicht die einzige dieser Art war, andere und auf eine weit verbreitete Gleichgültigkeit bezüglich der Nationalitätenfrage hindeutende Anzeichen nicht entsprechend berücksichtigt. Kam noch eine Prise eines stark verwurzelten Respekts für die hergestellte Ordnung hinzu, konnte besagte Gleichgültigkeit leicht für kaisertreuen Patriotismus gehalten werden. Trotz des Engagements der leidenschaftlichen Nationalisten und der daraus resultierenden Besorgnis 82 Renato Monteleone, Un documento inedito: gli appunti di Giovanni Pedrotti sull’opinione pubblica trentina alla vigilia della 1a guerra mondiale, in: Materiali di lavoro, nuova serie 1/1 (1983) 27–34, sowie ders., Il Trentino alla vigilia. 83 Diego Leoni, Camillo Zadra, Classi popolari e questione nazionale al tempo della prima guerra mondiale: spunti di ricerca nell’area trentina, in: Materiali di lavoro, nuova serie 1/1 (1983) 5–26.

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der kaiserlichen Behörden stellten sich nicht alle der Nationalitätenfrage. Über lange Zeit wurde die habsburgtreue Richtung auch von der Geschichtsschreibung ausschließlich durch die nationale Brille gesehen, sodass alternative Formen der Identifikation, die einander nicht ausschlossen, nicht berücksichtigt wurden: sozialer Status, Geschlecht, Generation, aber auch Land, Tal, Region und andere84. In regionalen Studien wurde betont, wie stark diese Arten der Identifikation, die nichts mit der Idee einer Nation zu tun hatten, generell waren – oft waren sie miteinander verflochten und überschnitten sich. Die italienischsprachige Bevölkerung im Trentino und im Küstenland sah sich stark als österreichische Italiener – als integraler Bestandteil der Habsburgermonarchie, allerdings mit speziellen Eigenheiten, die durch die Sprache und die jeweilige lokale Kultur bedingt waren. Es war also möglich, sich gleichzeitig als Teil verschiedenster Entitäten zu sehen: Teil des Kaiserreiches, Österreichs, der Region, der Provinz, des Tales etc., womit die Grenzen eines Schwarz-Weiß-Schemas, das auf dem aus der Notwendigkeit heraus geschaffenen Gegensatz zwischen nationalem und „habsburgischem“ Patriotismus beruhte, gesprengt waren. Das aus der geografischen Herkunft resultierende Zugehörigkeitsgefühl konkurrierte gleichsam mit dem Sprachgebrauch – nicht selten war all dies noch mit einer stolzen und aufrichtigen Loyalität gegenüber dem Kaiser verbunden. Nationalismus, regionale Identität sowie Staatsund Monarchietreue standen daher nicht unbedingt im Widerspruch zueinander. Auch für die österreichischen Italiener kam der Krieg mit brutaler Gewalt und zerschlug gleichsam komplexe und miteinander verwobene Identitäten, die mit einem Mal nicht mehr praktikabel waren. Nun war man entweder Italiener oder Österreicher, mit der Vielschichtigkeit war es vorbei. Die ersten, denen klar wurde, dass sie ihr Zugehörigkeitsgefühl neu definieren mussten, waren die Soldaten, die in den galizischen Schützengräben und den russischen Gefangenenlagern neue Arten der Nationalisierung erfuhren – alles unter dem wachsamen Auge der Institutionen in Wien und Rom, die Teil dieses Prozesses waren.

84 Vgl. Lucy Riall, Nation, “deep images” and the problem of emotions, in: Nation and Nationalism 14/3 (2009) 402–409.



Für Österreich in den Krieg

1. Heer und Nationalitäten In den Streitkräften des Kaiserreiches spiegelte sich die mit dem Ausgleich 1867 entstandene institutionelle Struktur der Doppelmonarchie wider: zwei praktisch unabhängige Staaten, vereint unter einem Herrscher, der in Österreich Kaiser und in Ungarn König war. Konkret existierten drei getrennte und von drei verschiedenen Ministerien verwaltete militärische Einrichtungen. Die gemeinsamen Streitkräfte bestanden aus dem kaiserlichen und königlichen (k. u. k.) gemeinsamen Heer und der k. u. k. Kriegsmarine, die beide dem k. u. k. Kriegsministerium unterstanden. Zum gemeinsamen Heer kamen noch zwei unterschiedliche nationale Heere hinzu: Das österreichische, die sogenannte k.k. Landwehr, wurde auf dem Gebiet Cisleithaniens rekrutiert und unterstand dem österreichischen Verteidigungsministerium, sein ungarisches Pendant wurde vom entsprechenden Ressort in Budapest geleitet (königlich ungarische Landwehr, in Ungarn Honvéd genannt). Daneben gab es noch zwei verschiedene Massenmilizen, in Österreich Landsturm und in Ungarn Népfelkelők genannt – Reserveformationen, die nur im Kriegsfall aufgestellt wurden und in die überzählige Taugliche sowie ältere Jahrgänge aufgenommen wurden1. Wie man sich vorstellen kann, sollte die aufgrund der innenpolitischen Entwicklung obligatorische Dreiteilung des Heeres während des Krieges unerwünschte Folgen für die Einsatzkapazitäten und die Koordinierung der Streitkräfte haben. Am Vorabend des Krieges präsentierte sich das österreichisch-ungarische Heer schwächer als alle Heere der anderen europäischen Großmächte. Der Größenvergleich zwischen den verschiedenen Streitkräften im Jahr 1912 fiel gnadenlos aus: 1,33 Millionen Männer in Russland, 646.000 in Deutschland, 611.000 in Frankreich und nur 391.000 in Österreich-Ungarn. Die Monarchie konnte auch bei den finanziellen Ressourcen nicht mit ihren Gegnern mithalten. In absoluten Zahlen gab nur Italien weniger für sein Heer aus, und pro Kopf investierte

1

Vgl. Gunther E. Rothenberg, The army of Francis Joseph (West Lafayette 1976); Johann Christoph Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 V, Die bewaffnete Macht, hrsg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Wien 1987) 1–141, hier 81–85; Walter Wagner, Die k. (u.) k. Armee. Gliederung und Aufgabenstellung, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 V 142–633.

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ausschließlich das bevölkerungsreiche Russland weniger in die Rüstung2. Verglichen mit jenem der anderen großen europäischen Länder war der Militärapparat Österreich-Ungarns in diversen Belangen schwächer: Anzahl der Divisionen, Feuerkraft, Material, Produktionskapazitäten der Rüstungsindustrie3. All das hatte jedoch dem Prestige der Streitkräfte nicht geschadet und auch der starken Präsenz des so breitgefächerten militärischen Bereiches, seiner Symbole und seiner Werte im Gesellschafts- und Kulturleben der Monarchie keinen Abbruch getan4. Im Laufe der Jahre hatte das Heer eine zentrale Rolle im institutionellen Gleichgewicht der Habsburgermonarchie erlangt, was vor allem seinem grundlegenden Beitrag zur Niederschlagung der Revolutionen 1848 und 1849 zu verdanken war. In dieser schwierigen Zeit wurde Kaiser Franz Joseph Oberbefehlshaber des Heeres und zeigte sich von da an regelmäßig in Uniform – er änderte das Hofzeremoniell und machte die enge Verbundenheit mit dem Militär mehr als deutlich5. Es ging nicht nur darum, das Repressivpotenzial der Streitkräfte zur Geltung zu bringen, sondern auch darum, das Volk stärker in das institutionelle Leben einzubinden und zu versuchen, das Heer zur multiethnischen Grundlage der Monarchie zu machen, also zu jenem Ort, an dem Teilungen überwunden und nationale Spannungen abgefedert werden konnten6. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1868 diente der Umsetzung dieses Planes, der jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen führte. Zum Teil wurden die Streitkräfte tatsächlich zum Identifikationsinstrument im Kaiserreich, weil sie die Überwindung von Sprachgrenzen sowie unterschiedlicher Herkunft förderten und Kaiser- und Staatstreue begünstigten. Dieser Ansatz war in erster Linie bei Offizieren erfolgreich, doch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich auch einfache Rekruten nach dem Wehrdienst den 2 Günther Kronenbitter, Die Akteure der Macht. Politische und militärische Kriegsvorbereitungen, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918 XI/1, Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, hrsg. von Helmut Rumpler (Wien 2016) 79–132, hier 108. Zu den diversen von der Geschichtsschreibung vorgenommenen Berechnungen der Militärausgaben Österreich-Ungarns, die nur schwer aus den gesamten öffentlichen Ausgaben herauszufiltern sind, siehe die Betrachtungen von Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, 1914–1918 (Wien–Köln–Weimar 2013) 1072f.. 3 Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k. u. k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914 (München 2003) 145–151; Holger Heinrich Herwig, The First World War. Germany and Austria-Hungary 1914–1918 (London 1997) 12f. 4 Laurence Cole, Military Culture and Popular Patriotism in Late Imperial Austria (Oxford 2014) 1–3. 5 Bellabarba, L’impero 126. 6 Marco Meriggi, Corte e società di massa. Vienna 1806–1918, in: La corte nella cultura e nella storiografia. Immagini e posizioni tra Otto e Novecento, hrsg. von Cesare Mozzarelli, Giuseppe Olmi (Rom 1983) 135–165.



1. Heer und Nationalitäten 

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Institutionen stärker verbunden fühlten7. Gleichzeitig bewirkte die Militärinstitution jedoch auch das genaue Gegenteil, indem sie eine Kategorisierung nach Nationen förderte und folglich das Zugehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Nation noch verstärkte. Elf der von den Soldaten gesprochenen Sprachen wurden als Amtssprachen anerkannt, was wiederum das Bild von der Existenz verschiedener Nationalsprachen verstärkte. Je nach gesprochener Sprache galt jeder Rekrut als Angehöriger einer der anerkannten Nationalitäten, was dazu führte, dass Männer nationalisiert wurden, die eigentlich mehrsprachig waren oder die von ihnen verwendete Sprache zumindest nicht mit einer einzigen Zugehörigkeit verbanden. Abgesehen davon bestanden die Einheiten meist aus Soldaten, die die gleiche Sprache sprachen, und wirkten somit auf letztere, aber auch die Zivilbevölkerung und die Militärbehörden im Endeffekt wie nationale Formationen – mit Nationalflaggen, Nationalsymbolen sowie Liedern und Hymnen in einer bestimmten Sprache8. Die Führungsriege des Heeres selbst dachte streng ethnizistisch, ging also davon aus, dass in der Monarchie ethnische Nationen mit eindeutigen und unveränderlichen Charakteristika und Grenzen existierten. Das Heer hatte ihrer Meinung nach genau über sie Bescheid zu wissen, richtig mit ihnen umzugehen und sie entsprechend zu kontrollieren. Zur Bekämpfung separatistischer Tendenzen mussten die verschiedenen Völker in großen mehrsprachigen Einheiten gemischt werden, mononationale Militärkorps waren zu vermeiden9. Im Sommer 1914 gab es dennoch 142 große Formationen (unabhängige Regimenter und Bataillons), die als einsprachig bezeichnet werden konnten. Außerdem gab es noch 162, in denen zwei Sprachen gesprochen wurden, bei 24 waren es drei, bei einigen anderen ganze vier Sprachen10. Die Vielfalt an Sprachen und Nationen in der Basis des kaiserlichen Heeres spiegelte sich nicht in seiner Führungsriege wider, die den Eindruck einer äußerst deutsch geprägten Einrichtung vermittelte. Im Jahr 1911 waren von 98 Generä7

Erwin A. Schmidl, Die k. u. k. Armee: integrierendes Element eines zerfallenden Staates?, in: Das Militär und der Aufbruch in die Moderne, 1860 bis 1890: Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, hrsg. von Michael Epkenhans, Gerhard Paul Gross (München 2003) 143–150; Laurence Cole, Military Veterans and Popular Patriotism in Imperial Austria, 1870–1914, in: The Limits of Loyalty: Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, hrsg. von Laurence Cole, Daniel L. Unowsky (New York 2007) 36–61. 8 Rok Stergar, L’esercito asburgico come scuola della nazione. Illusione o realtà?, in: Minoranze negli imperi. Popoli fra identità nazionale e ideologia imperiale, hrsg. von Brigitte Mazohl, Paolo Pombeni (Bologna 2012) 279–294. 9 Vgl. Allmayer–Beck, Die bewaffnete Macht 94–99. 10 Istvan Deák, Der K. (u.) K. Offizier 1848–1918 (Wien 21995) 122.

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len und 17.811 Offizieren 76,1 % deutscher Nationalität, während die Deutschsprachigen nur etwa 24 % der Gesamtbevölkerung der Monarchie ausmachten. Eine unausgewogene Verteilung also, gefolgt von lediglich 10,7 % ungarischen Offizieren, 5,2 % Tschechen sowie einem fast schon unerheblichen Anteil an Kroaten, ruthenischen Slowaken, Polen, Rumänen, Slowenen, Serben und Italienern11. Es ist wahrscheinlich, dass einige derer, die sich als deutschsprachig deklarierten, in Wirklichkeit zweisprachig waren und sich entschieden hatten, mit der im Heer dominierenden Sprache, die jeder Offizier zu beherrschen hatte, identifiziert zu werden12. Dennoch war es eindeutig, dass die Deutschen unter den Offizieren und ganz allgemein im Heer in der Mehrheit waren. Deutsch war die offizielle Sprache des gemeinsamen Heeres und der österreichischen Landwehr, während in der Honvéd die meisten Regimenter Ungarisch oder selten Kroatisch als Dienstsprache nutzten. Sämtliche Offiziere hatten allerdings die von den Soldaten gesprochenen Sprachen zu beherrschen. Nur etwa 80 der wichtigsten Militärbefehle wurden auf Deutsch erteilt, die übrige Kommunikation zwischen Offizieren und Unteroffizieren einerseits und der Truppe andererseits erfolgte in einer der sogenannten Regimentssprachen, die als solche definiert wurden, wenn sie von mindestens 20 % der einfachen Soldaten einer Einheit gesprochen wurden. Offiziell mussten Offiziere die angemessene Beherrschung der Regimentssprachen durch entsprechende Prüfungen nachweisen, die allerdings selten ein echtes Hindernis darstellten. In Wirklichkeit erlebten viele der Berufsoffiziere und noch mehr die Reserveoffiziere ihre mangelnden Sprachkenntnisse als ein tägliches Problem13. Wie später noch deutlich werden wird, sollten sich die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Offizieren und Truppen mehrmals auf dramatische Weise offenbaren, sodass ein bestimmtes Verhalten der Soldaten von der Militärführung oft als Ausdruck von Defätismus oder Unredlichkeit interpretiert wurde. Die Kommunikationsmängel in der gesamten Weisungshierarchie trugen neben den operativen Grenzen des Heeres, den taktischen und strategischen Fehlern, der mangelnden Ausbildung der Soldaten sowie der unzureichenden Ausstattung mit Fahrzeugen und Waffen an der russischen Front zu erdrückenden Niederlagen 11 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg 57. Die Italiener waren allerdings gemäß jahrhundertealter Tradition in der Marine überrepräsentiert, obwohl mit dem Verlust der Lombardei und Venetiens ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen gewesen war. Die Italiener stellten zwar nur 0,7 % der Offiziere des Heeres, in der Marine lag ihr Anteil allerdings bereits bei 9,8 %, unter den Matrosen sogar bei 18,3 % (Lawrence Sondhaus, In the Service of the Emperor. Italians in the Austrian Armed Forces 1814–1918 [New York 1990] 104). 12 Deák, Der K. (u.) K. Offizier 221–223. 13 Martin Schmitz, „Als ob die Welt aus den Fugen ginge“. Kriegserfahrungen österreichisch-ungarischer Offiziere 1914–18 (Paderborn 2016) 30–31.



1. Heer und Nationalitäten 

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der österreichisch-ungarischen Armee in den ersten Kriegswochen bei – sie stand bald kurz vor ihrem endgültigen Zusammenbruch. Das Armeeoberkommando war nicht in der Lage, die Gründe für dieses Desaster vernünftig zu analysieren, sondern führte alles auf mangelnde Opferbereitschaft oder gar regelrechten Verrat von Soldaten zurück, die den traditionell als untreu geltenden Nationalitäten angehörten. Man war schon bereit, diesen die Schuld an einer etwaigen Endniederlage zu geben14. Schon vor dem Krieg war man in der Führungsriege des österreichisch-ungarischen Militärapparats davon ausgegangen, dass mit Sicherheit eine Art Rangliste zur politischen Zuverlässigkeit der verschiedenen Nationalitäten der Monarchie und folglich auch ihrer Soldaten erstellt werden konnte. An der Spitze dieser Liste standen natürlich Deutsche und Ungarn, danach kamen in ungeordneter Reihenfolge die übrigen Völker – die einen mehr, die anderen weniger verdächtig, die Doppelmonarchie nicht im Kampf verteidigen zu wollen. Als generell zuverlässig galten Kroaten, Slowenen und Slowaken, mit größerer Sorge wurden dagegen Tschechen, Ruthenen und Serben betrachtet15, die für die panslawische Propaganda Russlands und Serbiens sehr empfänglich waren – diese nahm die Vereinigung sämtlicher slawischen Völker unter einem Dach vorweg. Die Frage, wie sich diese Völker im Falle eines Krieges gegen eines der Länder verhalten würden, war legitim, denn man erinnerte sich noch gut an die Meuterei tschechischer Soldaten, die während des ersten Balkankrieges an die Grenze zu Serbien verlegt worden waren16. Ähnlich verdächtig waren in diesem Zusammenhang auch Italiener und Rumänen, denen eine gefährliche Empfänglichkeit für die Lockrufe der jeweiligen Nationalstaaten jenseits der Grenze attestiert wurde. Was die Italiener anbelangte, wirkte sich auch die allgemeine Verschlechterung der Beziehungen zwischen Rom und Wien, die sich seit Anfang des Jahrhunderts stetig zugespitzt hatte, negativ aus17. Die Erinnerung an die Ereignisse des Risorgimento war noch frisch und der Annäherung der beiden Länder zweifelsohne nicht zuträglich. In Österreich war das Ressentiment gegen die Italiener stark: Trotz mehrmaliger Siege Österreichs auf dem Schlachtfeld war es den Italienern dank der Hilfe Frankreichs und Deutschlands gelungen, die Lombardei, die Toskana und Venetien für sich zu gewinnen. Abgesehen von dieser geschicht14 Richard Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg (Berlin–Münster–Wien–Zürich–London 2011) 51. 15 Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914–1918 I, hrsg. vom Österreichischen Bundesministerium für Heerwesen (Wien 1930) 43–45. 16 Lein, Pflichterfüllung 50. 17 Fritz Fellner, Das Italienbild der österreichischen Publizistik und Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende, in: Römische Historische Mitteilungen 14 (1982) 117–132; Berghold, Italien–Austria.

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lichen Belastung waren auch die Gegenwart und die Zukunftsziele entscheidend. Durch Österreichs Ablehnung der von den österreichischen Italienern vorgebrachten Forderungen nach Autonomie in Verwaltung und Kultur sowie das beiderseitige Vormachtstreben im adriatischen Raum war die Beziehung zwischen Rom und Wien komplizierter geworden18. In beiden Ländern wurde der 30 Jahre währende Dreibund zwischen ihnen und Deutschland eher als eine mangels Alternativen abgeschlossene Vereinbarung und weniger als eine solide und gefühlte Freundschaft gesehen19. Der Generalstabschef des Heeres, Franz Conrad von Hötzendorf, war der Ansicht, dass eine Auseinandersetzung mit dem Verbündeten und Feind eines Tages unausweichlich sein würde. Daher setzte er sich bei verschiedenen Gelegenheiten für die Errichtung einer Gürtelfestung entlang der italienischen Grenze ein (er erarbeitete und brachte zu mehreren Anlässen Pläne eines Präventivkrieges gegen Italien vor20). Seiner Meinung nach war es extrem wichtig, den strategischen Überlegungen der Italiener zuvorzukommen und den günstigsten Augenblick zu wählen. So dachte er 1908 an einen Überraschungsangriff während des Ausnahmezustandes nach dem schrecklichen Erdbeben von Messina und Reggio Cala­ bria. Die Idee eines Krieges gegen Italien hatte sicherlich nicht nur Conrad, auch Thronfolger Franz Ferdinand war wie das Gros der Militärelite auf seiner Linie – seiner Meinung nach war ein Sieg gegen Italien relativ einfach, im Hinblick auf die Ziele des Kaisers auf dem Balkan besonders günstig und darüber hinaus als endgültige Revanche für die Ereignisse 1859 und 1866 erstrebenswert21. In den Jahren vor Kriegsausbruch war der Kampf gegen den Irredentismus intensiver geworden – man führte ihn mit immer lauteren Tönen und unter immer mehr Generalanklagen, von denen die tatsächlichen Gefahren für die Monarchie hochgespielt wurden. In erster Linie setzten sich gerade die Militärinstitutionen selbst für harte Gegenmaßnahmen ein, und ihre generell misstrauische Haltung gegenüber den Minderheiten, die sich dem Irredentismus am leidenschaftlichsten hingaben, verhärtete sich immer mehr. Sie forderten eine zentrale Rolle im Kampf gegen tatsächliche oder mutmaßliche antinationale Tendenzen ein. Schon 18 Marco Mondini, La guerra italiana. Partire, raccontare, tornare 1914–18 (Bologna 2014) 20. 19 Zum Dreibund vgl. Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg (Wien–Köln–Weimar 2002). 20 Vgl. Nicola Fontana, La regione fortezza. Il sistema fortificato del Tirolo: pianificazione, cantieri e militarizzazione del territorio da Francesco I alla Grande Guerra (Rovereto 2016). Conrad wird zitiert in: Luigi Albertini, Le origini della guerra del 1914 I, Le relazioni europee dal Congresso di Berlino all’attentato di Sarajevo (Mailand 1942) 232. 21 Günther Kronenbitter, Die k. u. k. Armee an der Südwestfront, in: Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1915–1918), hrsg. von Nicola Labanca, Oswald Überegger (Wien–Köln–Weimar 2015) 105–127.



2. Allgemeine Mobilisierung und Aufbruch 

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lange vor 1914 war es zu Auseinandersetzungen und Spannungen zwischen Zivilund Militärbehörden gekommen – erstere traten für Mäßigung und Ausgleich bei der Behandlung der italienischsprachigen Bevölkerung ein, während letztere dem zivilen Bereich zu viel Entgegenkommen und Toleranz vorwarfen und diesen für die immer größer werdende Sezessionsgefahr verantwortlich machten. Die Militärbehörden betrachteten jede Forderung nach Wahrung von Sprache, Kultur oder territorialer Autonomie vorschnell als Ausdruck des Irredentismus, den es sofort im Keim zu ersticken galt. Die Beurteilung der zivilen Behörden fiel dagegen realitätsnäher sowie weniger starr und undifferenziert aus: Wann immer sich die italienische Gesinnung auch manifestierte, ihre politische Bedeutung wurde nicht aufgebauscht. Ein Beispiel dafür ist die Analyse der Situation im Trentino durch Markus Graf von Spiegelfeld im September 1912. Er war Statthalter von Tirol und Vorarlberg und kritisierte das offensive Vorgehen des pangermanischen Tiroler Volksbundes im Trentino, aber auch das Verhalten der Militärbehörden, das weit verbreitete Spitzelwesen, und die militärischen Interventionspläne zur Beilegung der irredentistischen Gefahr22. Spiegelfeld erklärte, all das belaste das politische Klima, es sei kontraproduktiv, die Bevölkerung durch Generalanklagen des Irredentismus zu bezichtigen. Seiner Meinung nach sollte anders vorgegangen werden: „Wenn dem Italiener die ruhige Entfaltung seiner Nationalität vergönnt wird, so ist dem Irredentismus einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste Kanal versperrt, aus dem er seine Nahrung zieht“23. Mit dem Krieg war diesbezüglich für die zivilen Behörden kein Spielraum mehr vorhanden. Die unnachgiebige Strenge der Militärbehörden setzte sich durch – dies war durch eine rasche Übertragung von Zivil- und Verwaltungskompetenzen auf die Militärkommandos und in weiterer Folge durch ein diktatorisches Regime gekennzeichnet24. 2. Allgemeine Mobilisierung und Aufbruch Am 31. Juli 1914 ordnete Kaiser Franz Joseph die allgemeine Mobilisierung des Heeres und des Landsturmes (Massenaufgebot) an. Schon bald sollten ganze 2,7 Millionen Männer zwischen 21 und 42 Jahren einberufen werden – 1,5 Mil22 Gerd Pircher, Militär, Verwaltung und Politik in Tirol im Ersten Weltkrieg (Innsbruck 1996) 54. 23 Zit. in: Oswald Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (Innsbruck 2002) 354. 24 Hans Hautmann, Bemerkungen zu den Kriegs- und Ausnahmegesetzen in Österreich-Ungarn und deren Anwendung 1914–1918, in: Zeitgeschichte 3/2 (1975) 31–37.

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lionen kamen an die Front, die übrigen wurden im Hinterland eingesetzt25. In den nächsten Jahren sollte es aufgrund der Kriegsanforderungen zu einer nochmaligen Ausweiterung der Jahrgänge mit Einberufung aller tauglichen Männer zwischen 18 und 50 Jahren kommen; zu Kriegsende belief sich die Anzahl der Männer, die im Laufe des gesamten Konfliktes von Österreich-Ungarn mobilisiert worden waren, auf 9 Millionen (bei 52,6 Millionen Einwohnern). Zum Zeitpunkt der Mobilisierung gelangten die österreichischen Italiener in die Formationen, in die sie für gewöhnlich eingeteilt wurden. Für die Trentiner waren das die vier Kaiserjäger-Regimenter des gemeinsamen Heeres sowie die drei Gebirgsregimenter (Landesschützen, im Jahr 1917 in Kaiserschützen umbenannt) des österreichischen Heeres. Dazu kamen noch die zwei Tiroler Regimenter der österreichischen Landmiliz (Tiroler Landsturm), von der die per Massenaufgebot einberufenen Untertanen aufgenommen wurden. Es handelte sich um die wichtigsten Militäreinheiten, in die Wehrtaugliche in der Grafschaft Tirol eingezogen wurden. Der Anteil italienisch- und ladinischsprachiger Soldaten in jedem Regiment lag bei etwa 40 %. Man kann davon ausgehen, dass sich die Gesamtanzahl der eingezogenen Trentiner bei Kriegsausbruch auf etwa 27.000 Mann belief – im Laufe des gesamten Konfliktes sollte sie letztlich auf 55.000 steigen26. Die Männer im Küstenland dagegen – Italiener, Slowenen und Kroaten – wurden in einige Infanterieregimenter der gemeinsamen Armee eingezogen (etwa das 97. und das 20., die im gesamten Küstenland und in Teilen Krains rekrutierten), weiters in Regimenter der österreichischen Landwehr (etwa das 27., für das auf dem gesamten Gebiet Krains und in der Grafschaft Görz und Gradisca Männer eingezogen wurden, sowie das 5. Regiment, wo es wiederum Triest und Istrien waren) und in die Kriegsmarine27. In der ersten Kriegsphase gab es in Triest und Umland etwa 32.500 Einberufungen, dazu kamen noch 30.000 aus dem österreichischen Friaul28. Es ist schwer zu sagen, wie viele der einberufenen 25 Manfried Rauchensteiner, Streitkräfte (Österreich-Ungarn), in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Paderborn 22014) 896– 900. 26 Sergio Benvenuti, Il reclutamento dei Trentini nell’esercito austro-ungarico, in: La prima guerra mondiale e il Trentino. Convegno internazionale promosso dal Comprensorio della Vallagarina, Rovereto 1978, hrsg. von Sergio Benvenuti (Rovereto 1980) 555–566; Hans Heiss, I soldati trentini nella prima guerra mondiale. Un metodo di determinazione numerica, in: Sui campi di Galizia (1914–1917). Gli Italiani d’Austria e il fronte orientale: uomini popoli culture nella guerra europea, hrsg. von Gianluigi Fait (Rovereto 1997) 253–267, hier 258. 27 Sergio Chersovani, Esercito austro-ungarico e “Italiani d’Austria”, in: Sui campi di Galizia 237–251, hier 249. 28 Marina Rossi, Irredenti giuliani al fronte russo. Storie di ordinaria diserzione, di lunghe prigionie e di sospirati rimpatri (1914–1920) (Udine 1998) 16.



2. Allgemeine Mobilisierung und Aufbruch 

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Abb. 5: Leichenzug für den habsburgischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und Gemahlin, Triest, 2. Juli 1914 (Fototeca Civici Musei di Storia ed Arte di Trieste).

Soldaten als italienischsprachig bezeichnet werden können und wie viele anderen Sprachgemeinschaften der Region angehörten. Nach einer groben Berechnung wurden im Küstenland zwischen 1914 und 1918 über 50.000 Italiener eingezogen. Während die Regimenter, von denen die Trentiner aufgenommen wurden, aus deutsch- und italienischsprachigen Soldaten bestanden, waren jene, in die die Männer aus dem Küstenland kamen, wesentlich bunter: Neben Italienern, Slowenen und Kroaten gab es in einigen Formationen auch einen signifikanten Anteil deutschsprachiger Soldaten. Der Anteil der italienischsprachigen Soldaten hingegen lag im 20. und 97. Regiment bei 31 beziehungsweise 20 %29. Trotz des grundlegenden Misstrauens ihnen gegenüber kamen die Italiener der Mobilisierung in geordneter und folgsamer Manier nach. Ganz allgemein ging die Einberufung der Soldaten und Reservisten ohne Hindernisse vonstatten – trotz der Befürchtungen der kaiserlichen Behörden, die auch als Erste ihr Erstaunen darüber bekundeten, wie vorschriftsmäßig alles ablief. Mit einer gewissen Behäbigkeit und Umständlichkeit kam die Kriegsmaschinerie der Habsburger 29 Sondhaus, In the Service 104–105.

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Für Österreich in den Krieg

ohne die befürchteten Fälle politischen oder nationalen Widerstands in Gang. In einigen wichtigen Städten, nämlich Wien, Prag, Budapest und Zagreb, kam es durchaus zu Begeisterungskundgebungen – vielleicht wäre es sogar treffend, hier von Hysterie oder kollektivem Enthusiasmus zu sprechen. Nicht einmal in den italienischsprachigen Gebieten wurden signifikante Fälle der Nichtbefolgung eines Einberufungsbefehls oder kriegsfeindlichen Verhaltens gemeldet. In Triest war die Loyalität zu den Habsburgern am 2. Juli 1914, als die Stadt Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Ehefrau die letzte Ehre erwies, deutlich zum Ausdruck gekommen. Von Triest aus war der Thronfolger am 24. Juni aufgebrochen, um über den Seeweg Bosnien zu erreichen. Dort hatte er den großen Militärmanövern beigewohnt, bevor er schließlich in Sarajevo ermordet wurde. Am 1. Juli war er im Rahmen seiner letzten Reise nach Wien – noch einmal an Bord des Schlachtschiffes Viribus Unitis – wieder nach Triest zurückgekehrt. Ein Trauerzug aus hunderttausenden Menschen geleitete die beiden Verstorbenen vom Hafen zum Bahnhof30. Diese massenhafte Teilnahme wurde auch vom Triestiner Statthalter hervorgehoben, der von „einer außerordentlich würdevollen und erhebenden Trauerkundgebung, an welcher die Bevölkerung der ganzen Stadt teilnahm“31, berichtete. Zu Kriegsbeginn nahm sich die Situation sowohl in Trient als auch in Triest ruhig aus. Die behördlichen Berichte betonten das korrekte Verhalten der Bevölkerung sogar in den bekanntermaßen nationalistisch gesinnten Milieus sowie die Bereitschaft der Bürger, den Aufforderungen der Behörden freiwillig – und zudem weit über die gesetzlichen Pflichten hinaus – zu entsprechen32. Die Tagebücher der italienischsprachigen Soldaten verschaffen uns einen Eindruck davon, mit welcher Einstellung sie für Österreich in den Krieg zogen. Jeder Einzelne von ihnen erlebte diesen Moment natürlich auf seine Art, doch es gibt sehr wohl Gemeinsamkeiten, aber je nach Herkunftsregion auch signifikante Unterschiede. Bei der Beschreibung der ersten Massenaufbrüche an die Front ist in den Tagebüchern der Trentiner Soldaten nicht jener erhebende Enthusiasmus zu finden, auf den man in vielen Erinnerungen gebildeter Zeitzeugen stößt, etwa in der von Leed zur Beschreibung einer mutmaßlichen „community 30 Fabio Todero, Una violenta bufera. Trieste 1914 (Triest 2013) 54–60. 31 Bericht von Konrad Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst an Karl Graf Stürgkh vom 2. Juli 1914, zit. in: Stefan Wedrac, „Das Wohl des Staates ist oberstes Gesetz“ – Die Nationalitätenpolitik der staatlichen Verwaltung in Triest zu Beginn des ersten Weltkrieges, in: Der Erste Weltkrieg und der Vielvölkerstaat. Symposium 4. November 2011 (Wien 2012) 69–82, hier 76. 32 Pircher, Militär 20–22. Zum vorbildlichen Verhalten der Trentiner Bevölkerung nach der Nachricht vom Ausbruch des Krieges siehe Dokumentation in: ÖStA, AVA, MdI, Präs, 1914, Nr. 10224, Kt. 2141.



2. Allgemeine Mobilisierung und Aufbruch 

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of August33“ herangezogenen Schriftproduktion. Das Bild eines europäischen Kontinents, der mit einer Welle der Begeisterung auf die Kriegserklärungen reagierte, wird im Übrigen aufgrund neuer regionaler und nationaler Fallstudien immer stärker infrage gestellt34. In den Selbstzeugnissen der Trentiner Soldaten herrschen vielmehr Bestürzung über eine voraussichtlich ungewisse und erschreckende Zukunft sowie die Trauer über die erzwungene Trennung von Familie und Heimatgemeinde vor. Eher denn Begeisterung überwogen Resignation und manchmal ein vernichtendes Gefühl der Verzweiflung. Der Trentiner Mario Raffaelli hält die dramatischen Augenblicke seiner Abfahrt am 1. August 1914 fest und erinnert sich dabei vor allem an die Tränen seiner Verwandten und den schmerzvollen Abschied, bis „wir dann in den Zug eingestiegen waren und uns allen eine baldige Rückkehr wünschten, einige weinten, einige schrien, einige waren wie benommen, weil sie so etwas Schreckliches sahen35.“ Noch erschütternder die Schilderung des 49-jährigen Ezechiele Marzari, ebenfalls Trentiner und Vater von sieben Kindern, der am 21. Mai 1915 und damit zu einem Zeitpunkt aufbrach, als den Soldaten bereits bewusst war, welche Hölle sie erwartete: „Ich war nicht mehr bei mir“, „ich legte mich auf den Boden, nahezu ohnmächtig, meine Gedanken von der grausen Vorstellung benebelt, die sich meinem Leben näherte“, „ich lebte nicht mehr“36. Auch im Küstenland gab es entsprechende Stimmen und Schilderungen, in denen der Schmerz der Einrückenden ebenso wie das Leid der Familien zum Ausdruck kamen. Der liberalnationale Autor Silvio Benco hat einen Bericht über den Aufbruch der 4.300 Männer des 97. Regiments hinterlassen, dem er in der Menschenmenge beiwohnte: Die Musikkappelle spielte und gab den Takt für die Einrückenden an, die sich in Reih und Glied aufstellten. Jedoch nicht alle – der eine konnte sich nicht von seinen kleinen 33 E. J. Leed, No Man’s Land: Combat and Identity in World War I (Cambridge 1979); Quinto Antonelli, Scritture di confine. Guida all’Archivio della scrittura popolare (Trient 1999) 15. 34 Zu Italien siehe Mondini, La guerra italiana 107–122, zu Deutschland Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany (Cambridge 2000), zu Tirol Matthias Rettenwander, Der Krieg als Seelsorge. Kirche und Volksfrömmigkeit im Ersten Weltkrieg (Innsbruck 2005). 35 Mario Raffaelli, in: Riccardo Malesardi, Giuseppe Masera, Rosina Fedrozzi Masera, Evaristo Masera, Mario Raffaelli, hrsg. von Gianluigi Fait (Trient–Rovereto 1994) 157–201, hier 160 (italienische Originalzitate sind hier und im Folgenden in deutscher Übersetzung wiedergegeben). 36 Ezechiele Marzari, in: Ezechiele Marzari, Decimo Rizzoli, G. Z., hrsg. von Gianluigi Fait (Trient–Rovereto 1995) 9–93, hier 12f. Zum Aufbruch der Trentiner Soldaten vgl. Quinto Antonelli, I dimenticati della Grande Guerra. La memoria dei combattenti trentini (1914–1920) (Trient 2008) 45–51.

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Abb. 6: „Sie tragen schon die Totenblumen, wir werden sie nie wiedersehen!“ (Archivio Roberto Todero – Uno sguardo dal Litorale, Triest).

Kindern losreißen, die sich weinend an seine Brust klammerten, der andere nicht von der Frau an seiner Seite, die überwältigt von aller Aufregung krampfhaft seinen Arm packte. Die Nachkommenden drängten, der schicksalhafte Moment verdrängte den Schmerz. […] So lief der feierliche Aufbruch des 97. Regiments ab37.

Während die Soldaten mit ihren blumenverzierten Baretten aufmarschierten, tat eine Frau ihre persönliche düstere Vorahnung kund: „Sie tragen schon die Totenblumen, wir werden sie nie wiedersehen!38“ 37 Silvio Benco, Gli ultimi anni della dominazione austriaca a Trieste I, L’attesa (Mailand 1919) 50f., zit. in: Sergio Ranchi, “La luna vista a girarsi”. L’avventura galiziana negli scritti e nelle memorie degli infanteristi del Litorale, in: Sui campi di Galizia 283–316, hier 285. 38 Ebd. Für weitere Schilderungen der Abfahrt der Einberufenen aus der Lokalchronik siehe Roberto Todero, Dalla Galizia all’Isonzo. Storia e storie dei soldati triestini nella Grande Guerra. Italiani sloveni e croati del k. u. k. I.R. Freiherr von Waldstätten nr. 97 dal 1883 al 1918 (Udine 2006) 36–43.



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In den Aufzeichnungen der Soldaten aus Friaul-Julisch Venetien und Istrien findet man jedoch nicht nur die Verzweiflung jener, die weit abseits der eigenen Familie mit dem möglichen Tod konfrontiert wurden. Unter den ersten Einberufenen nimmt man manchmal auch den für die Zeit des Einrückens so typischen Überschwang Einzelner wahr, die sich über den serbischen Feind und dessen russischen Verbündeten ausließen. Letztere standen gerade jenen Kroaten und Slowenen nahe, gegen die sich die nationale Auseinandersetzung innerhalb der Monarchie seit Jahrzehnten gerichtet hatte39. Der sich zum Weltkrieg ausweitende Konflikt verband sich hier mit den regionalen Spannungen und entwickelte auf diese Weise ein beträchtliches Mobilisierungs- und Partizipationspotenzial. In den Stunden nach der Kriegserklärung an Serbien zogen massenhaft Menschen durch die Straßen von Triest, die von dem bevorstehenden Krieg begeistert waren. Umgehend richteten sich patriotische Kundgebungen gegen slawische Nationalisten, und es kam zu Übergriffen gegen slowenische Gebäude und Geschäfte40. Sogar Teile der Arbeiterschaft beteiligten sich an den proösterreichischen Aufmärschen und skandierten dabei lautstark gegen die Slowenen. In der Überzeugung, dass bald auch Italien an der Seite der Monarchie in den Krieg eintreten würde und man endlich mit dem serbischen Feind abrechnen könne, gingen auch die nationalliberalen und philoitalienischen Irredentisten auf die Straße 41. Hass und antislawischer Rassismus vereinten unterschiedliche politische Richtungen und verliehen dem Krieg dieser italienischen Österreicher eine ganz besondere Bedeutung. Zu einer ähnlichen Begeisterung – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – kam es nach dem italienischen Kriegseintritt im Mai 1915 unter den slowenischen Soldaten aus dem Küstenland, die daraus ihre Motivation schöpften und ihrem Hass gegen die Italiener und ihren eigenen slawischen Aspirationen freien Lauf ließen42. Die Stimmung zu Kriegsbeginn war demnach von Soldat zu Soldat verschieden, wenngleich sich in den Tagebüchern der im Rahmen der allgemeinen Mobilisierung eingezogenen Rekruten primär die Ängste vor einem unbekannten Schicksal widerspiegeln, die durch die Erwartung eines kurzen Krieges nur teilweise gemildert wurden. Die österreichischen Italiener folgten der allgemeinen 39 Vgl. Ranchi, “La luna vista a girarsi” 285. 40 Lucio Fabi, Trieste 1914–1918. Una città in guerra (Triest 1996) 16–18. 41 Vgl. Marina Rossi, Sergio Ranchi, Lontano da dove… Proletari italiani e sloveni del Litorale nei vortici della guerra imperialista, in: Uomini in guerra 1914–1918, hrsg. von Lucio Fabi, in: Qualestoria 14/1–2 (1986) 102–133, hier 103–106. 42 Marta Verginella, Storie di prigionia nel labirinto russo. Sloveni in Russia durante la prima guerra mondiale, in: Lontano dalla patria, ai confini del mondo. Diari, memorie, testimonianze di internati militari e civili nella Grande Guerra (1914–1920), hrsg. von Marina Rossi, in: Qualestoria 20/3 (1992), 33–86, hier 43.

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Mobilmachung im Juli 1914 jedenfalls gehorsam. Es dominierten das Pflichtgefühl, die Erziehung zum Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität, das passive Befolgen von Befehlen, die nicht in Frage gestellt wurden, die Angst vor den Folgen einer Befehlsverweigerung, die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges und in einigen Fällen die Überzeugung, einen „gerechten“ Krieg zur Verteidigung der Heimat zu führen43. Es waren also unterschiedliche, scheinbar gegensätzliche Motivationen, die in der Realität allerdings durchaus miteinander vereinbar waren, wie das Beispiel des Trentiner Soldaten Giacomo Sommavilla verdeutlicht. Während seines Abschiedes im engsten Familienkreis führte er „einen grausamen Kampf“ mit den Tränen: Liebe und Pflicht kämpften gegeneinander. Die Liebe legte mir nahe, in diesem kritischen Augenblick weder Ehefrau noch Eltern noch Geschäfte zu verlassen; auf der anderen Seite forderte die Pflicht um die bedrohte Heimat mein schnelles Handeln. Wäre ich zudem der Liebe gefolgt, hätte ich mich auf ernsthafte Probleme gefasst machen können44.

Man zog auch in den Krieg, weil man es musste – um die Heimat zu verteidigen, aber auch, um etwaige noch schlimmere Folgen zu vermeiden. Trotz des positiven Verhaltens der Soldaten und der Bevölkerung im Allgemeinen herrschte in Behördenkreisen großes Misstrauen gegenüber Nationalitäten, die als „unverlässlich“ galten. Es war diese Angst vor möglichen staatsfeindlichen Aktionen, die zumindest im österreichischen Teil der Doppelmonarchie zur sofortigen Errichtung einer Kriegsdiktatur führte, die mit den Gegebenheiten in den übrigen Kriegsstaaten absolut nicht zu vergleichen war. Zwischen dem 25. Juli 1914, dem Tag der Teilmobilmachung gegen Serbien, und dem 1. August unterzeichnete der Kaiser etwa 30 Dekrete, mit denen grundlegende Bürgerrechte (Presse- und Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung etc.) sowie die Tätigkeit des Parlaments und sämtlicher Landtage ausgesetzt wurden45. Hinzu kam die Ausweitung der Militärgerichtsbarkeit, der für Verbrechen „wider die Kriegsmacht“ und politische Verbrechen auch Zivilpersonen unterstellt wurden46. 43 Fabrizio Rasera, Camillo Zadra, Patrie lontane. La coscienza nazionale negli scritti dei soldati trentini 1914–1918, in: Passato e presente 6/14–15 (1987) 37–73. 44 Giacomo Sommavilla, in: Simone Chiocchetti, Vigilio Iellico, Giacomo Sommavilla, Albino Soratroi, hrsg. von Luciana Palla (Trient–Rovereto 1997) 129–168, hier 135. 45 Christoph Führ, Das k. u. k. Armeeoberkommando und die Innenpolitik in Österreich 1914– 1917 (Graz–Wien–Köln 1968). 46 Pircher, Militär 15–22; Überegger, Der andere Krieg 86–90.



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Abb. 7: Abreise der Stellungspflichtigen, Trient, August 1914 (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

Die Militarisierung und Kontrolle der inneren Front wurde einem Geheimorgan überantwortet, das über keinerlei gesetzliche Grundlage verfügte – dem sogenannten Kriegsüberwachungsamt. Die Aufgabenbereiche dieses Amtes waren sehr umfangreich: Umsetzung von Sondervorkehrungen, Kontrolle der Privatkommunikation und der Presse, Internierung von Verdächtigen, Unterbringung der Flüchtlinge etc.47 Durch die Übertragung weitreichender exekutiver Funktionen an die Militärbehörde hatte die Zivilverwaltung nur mehr eine untergeordnete Position inne. Aufgrund des Kriegszustandes erlangte das Militär die Kontrolle über das öffentliche Leben und nutzte es, um der Kritik an den politischen Behörden, die von ihm bereits seit Jahren geäußert worden war, konkrete Gestalt zu verleihen: Letztere seien nicht in der Lage, die nationalen Probleme an der Wurzel zu packen. Im Reichszentrum wie in der Peripherie waren Spannungen zwischen diesen beiden Polen an der Tagesordnung, vor allem aber wurde die Distanz zwischen Institutionen und nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen der Monarchie immer größer. Dies traf auch auf die eigentlich für irredentistische Tendenzen nicht so empfängliche Landbevölkerung zu. Das politische Handeln 47 Tamara Scheer, Die Ringstraßenfront. Österreich-Ungarn, das Kriegsüberwachungsamt und der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkrieges (Wien 2010).

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der Militärkommandos sollte sich als völlig kontraproduktiv erweisen, weil es zum destabilisierenden Faktor im politischen und nationalen Gefüge der Monarchie wurde und letztlich vielleicht entscheidend zu deren endgültigem Zerfall beitrug48. Auch in den von Italienern bewohnten Gebieten kam es sofort zu diskriminierenden Handlungen gegen die „untreuen“ Minderheiten sowie zu Konflikten zwischen Militär und Zivilbevölkerung. Hier spielte auch der Neutralitätsentscheid des Königreiches Italien eine Rolle, der von österreichischen Kreisen als regelrechter Verrat ausgelegt wurde. Für den späteren Tiroler Landesverteidigungskommandanten Viktor Dankl legte Italien ein „schmähliches Verhalten“ an den Tag, was ihn allerdings nicht überraschte, denn von diesem „heimtückischen Pack“, so Dankl, „war übrigens nichts anderes zu erwarten“49. Das später von Salandra und Sonnino begonnene Feilschen mit der Entente einerseits und dem Dreibund andererseits, durch das man sich territorial möglichst viele Vorteile verschaffen wollte, war ohne Zweifel nicht förderlich für das ohnehin bereits negative Italienbild, das in Österreich vorherrschte. Das Verhältnis zwischen den beiden Verbündeten wurde immer angespannter und war immer stärker von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet. Österreich war unter anderem der Ansicht, dass Italien für den deutlich intensiver gewordenen Fluchtstrom junger Julier und Trentiner verantwortlich sei, die das Kaiserreich illegal verließen, um der Einberufung zu entgehen oder sich auf italienischem Staatsgebiet offen irredentistisch zu betätigen. An der Spitze der Agitatoren, die sofort kräftig Stimmung gegen Österreich machten, standen auch die Irredentisten. Die intensive öffentliche Präsenz dieser österreichischen Italiener, die im Königreich Italien Zuflucht gefunden hatten, stellte die ideale Rechtfertigung für eine Intervention dar, zu der sich die italienische Regierung eigentlich weniger entschieden hatte, um die Italiener „vom Joch der habsburgischen Herrschaft“ zu befreien, sondern vielmehr, um Italien einen Platz unter den europäischen Großmächten zu sichern50. In den Augen Österreichs lieferten die 48 Josef Redlich, Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkrieg (Wien 1925) 114–118; Führ, Das k. u. k. Armeeoberkommando 29–90. Zum Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevölkerung während des Krieges allgemein vgl. Stig Förster, Civil-Military Relations during the First World War, in: The Cambridge History of the First World War (Cambridge 2013) 91–125; zur italienischen Problematik vgl. Daniele Ceschin, La diarchia imperfetta. Esercito e politica nella Grande Guerra, in: Armi e politica. Esercito e società nell’Europa contemporanea, hrsg. von Marco Mondini, in: Memoria e ricerca 28 (2008) 41–54. 49 Dankls Urteil stammt aus seinem mit 4.8.1914 datierten Tagebucheintrag und wird zitiert in: Überegger, Der andere Krieg 94. 50 Vgl. Gian Enrico Rusconi, Das Hasardspiel von 1915. Warum sich Italien für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg entschied, in: Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, hrsg. von Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi (München 2007) 13–52.



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Aktionen der Geflüchteten natürlich nur die Bestätigung für die Radikalität der antinationalen Tendenzen in den italienischsprachigen Gemeinden. Doch auch Italien wurde letztlich an den Pranger gestellt, weil es den so starken österreichfeindlichen Stimmen zu viel Raum gab und den fest zur Flucht aus den Gebieten der Monarchie entschlossenen jungen Männern aus der Sicht der Wiener Behörden heimlich Erleichterungen gewährte. Im April 1915 wurde an der Grenze in Pontebba in einem Zug nach Italien ein junger Mann mit italienischem Pass angehalten. Im Zuge späterer Nachforschungen stellte sich heraus, dass es sich um einen jungen Trentiner handelte, der gerade einberufen worden war und widerrechtlich ausreisen wollte. Laut österreichischen Behörden war sein Pass nicht gefälscht, sondern ein Original, das von italienischen Ämtern widerrechtlich auf einen falschen Namen ausgestellt worden war. Letztere waren in diesem und auch in anderen Fällen an der Flucht junger österreichischer Bürger beteiligt, die ihrer Einberufung entgehen wollten51. Die italienischen Behörden wurden auch der Mitwisserschaft bezichtigt, was die Begünstigung von Desertionen über den Seeweg auf Schiffen von Triest nach Venedig betraf52. Die italienische Regierung wiederum hatte sich im Oktober 1914 beim österreichischen Botschafter über einen Liedtext beschwert, der ihrer Aussage nach an Trentiner Rekruten verteilt wurde. Es handelte sich um äußerst italienfeindliche Verse, die in einigen vielsagenden und gereimten Strophen den formal noch bestehenden Bund begruben: „E se un dì scoppiasse / la guerra coll’Italia / a quella gran canaglia / noi le daremo ben! […] Conquisteremo Roma, / la tana dei massoni, / col tiro dei cannoni / le porte sfonderem“53. Ob zutreffend oder nicht, derartige Anschuldigungen beider Seiten zeigen nur allzu deutlich das Klima des gegenseitigen Misstrauens zwischen zwei Verbündeten, die sich immer mehr voneinander entfernten. Gleichzeitig wurde in Wien die Obsession für die irredentistische Gefahr immer größer. Für das Militär stellte der Krieg die Gelegenheit schlechthin dar, ein für alle Mal mit dem italienischen Irredentismus abzurechnen, dem mit eiserner Hand begegnet wurde: Vermeintlich unzuverlässige Beamte wurden versetzt, 51 Siehe ÖStA, KA, KM, KÜA, 1915, 24661, Kt. 44. In einem sehr ähnlichen Fall, ebenfalls in Pontebba, soll der falsche „echte“ Pass eines jungen Trentiners vom Polizeipräsidium Verona ausgestellt worden sein (ÖStA, KA, KM, KÜA, 1915, 24662, Kt. 44). Zu den zahlreichen Fällen der Desertion über den Seeweg von Triest aus siehe ÖStA, KA, KM, Präs, 1915, 51–5/10, Kt. 1732. 52 ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 23a Desertionen nach Italien, Kt. 948. 53 „Und wenn eines Tages der Krieg gegen Italien ausbricht, zeigen wir’s dieser elenden Kanaille so richtig! […] Wir erobern Rom, die Freimaurerhöhle, und durchbrechen ihre Tore“. Der Akt und der Text zu diesem Lied befinden sich in: ACS, PCM, GE, b. 48, vormals 35, fasc. 26 Austria. Canzone che viene distribuita ai coscritti del Trentino. Zur ungewissen Herkunft des Liedes vgl. Quinto Antonelli, Storie da quattro soldi. Canzonieri popolari trentini (Trient 1988) 296–298.

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Verdächtige rasch interniert und die italienischen Vereine aufgelöst. In Zukunft sollte noch einen Schritt weitergegangen werden – vorgesehen waren die Eindeutschung von Ortsnamen sowie öffentlicher und privater Schilder, die Einführung von Deutsch als Staatssprache in ganz Österreich, die Einschränkung der „reichsitalienischen“ Wirtschaftspräsenz etc. Die Folgen dieses neuen Klimas ließen auch für die an der Mobilisierung Interessierten nicht lange auf sich warten. Im Herbst 1914 empfahl das Verteidigungsministerium per Erlass, politisch Verdächtigen keine Genehmigungen auf längere Zeit für die Verrichtung landwirtschaftlicher Arbeiten zu erteilen. Die Militärkommandos in Innsbruck interpretierten diese Vorgabe dahingehend, dass sie generell allen Einberufenen italienischer Nationalität, die in Tirol stationiert waren, keine derartigen Genehmigungen mehr erteilten, weil sie davon ausgingen, dass eine Desertionsgefahr bestand. Im Oktober 1914 wurden ebenfalls im Trentino junge Rekruten eingezogen, die bereits vom Kriegsdienst ausgemustert worden bzw. die krank oder nicht militärdienstpflichtig waren54. Dabei handelte es sich um regelrechte Strafrekrutierungen, die bei der italienischen Bevölkerung für Unruhe und in der italienischen Presse für journalistische Attacken sorgten. Besagte Presse hatte zunächst von einer „exorbitant hohen Zahl“ einberufener Wehrtauglicher und dem daraus resultierenden „Ausbluten der Bevölkerung“ gesprochen, um die unrechtmäßigen Einziehungen schließlich als regelrechte Verhaftungen darzustellen55. Die Maßnahme war von den Militärbehörden getroffen worden, aus deren Sicht sich zu viele junge Männer in Trient aufhielten. Man fürchtete, sie könnten sich in irgendeiner Form antiösterreichisch betätigen. Die Behörden hatten sogar eine „Kaffeehausliste“ mit den Namen der Männer erstellt, die abends in Trient öffentliche Lokale besuchten. Man ging davon aus, dass sie zu viele und potenziell gefährlich waren, weshalb sie ohne Unterschied von den jeweiligen Kommandos eingezogen werden sollten. Gegen diese Maßnahmen hatte der Leiter des Polizeikommissariats Trient protestiert und dabei betont, dass die Mobilmachung im Trentino „glänzend und ohne jeden Anstand“ [d. h. ohne Schwierigkeiten, Anm. d. Ü.] erfolgt war und es keinerlei Anzeichen gebe, dass sich die Bevölkerung ungebührlich verhalten könnte56. Der Statthalter in Tirol teilte die Meinung des Polizeipräsidenten. Er kritisierte die diskriminierende Politik des Militärs als kontraproduktiv; sie ver54 Pircher, Militär 33–36; Überegger, Der andere Krieg 266–267. 55 Corriere della Sera 11.10.1914 4 und 28.10.1914 2. 56 ÖStA, AVA, MdI, Präs, 1914, Nr. 6032, Kt. 2141, Leiter des Polizeikommissariats an Statthalter Tirol, 9.11.1914. Für ausführliches Material zum Trentino siehe Heimatfronten. Dokumente zur Erfahrungsgeschichte der Tiroler Kriegsgesellschaft im Ersten Weltkrieg, hrsg. von Oswald Überegger, 2 Bde. (Innsbruck 2006).



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größere die Kluft zwischen Italienern und Behörden und würde irredentistische Haltungen geradezu herausfordern. Er ersuchte den Innenminister, „an geeigneter Stelle zu erwirken, dass sich in Trient nicht ein Regime einbürgere, das unberechenbare Folgen haben könnte“57. Auch in den Augen des Innenministers sollten unrechtmäßige Einberufungen vermieden werden, um im Trentino den bestehenden Unmut nicht noch zu fördern, aber auch, um negativen Reaktionen der italienischen Presse gegen Österreich vorzubeugen, wie es auch vom österreichischen Botschafter in Rom, Karl Freiherr von Macchio, empfohlen worden war58. Dieser war mit schwierigen Verhandlungen beschäftigt, die einen Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente abwenden sollten, sodass ihm alles daran lag, keinerlei Anlass für Spannungen zwischen den beiden Ländern zu geben. Im Jänner 1915 blieb dem Armeeoberkommando keine andere Wahl, als sich an die verschiedenen Militärkommandos zu wenden. Diese wurden aufgefordert, etwas zur Hebung der Moral der italienischsprachigen Soldaten zu tun und deren Nationalgefühl entsprechend zu berücksichtigen. Das Armeekommando verurteilte solche Strafmaßnahmen, die nicht aufgrund individueller Verfehlungen getroffen wurden, sondern rein auf der nationalen Zugehörigkeit der Soldaten beruhten, und ließ damit erkennen, dass es über die Vorfälle in einigen Formationen Bescheid wusste59. Übrigens waren diese Vorfälle auch auf Anweisungen und Vorkehrungen des Armeeoberkommandos selbst zurückzuführen, dessen Verhalten in diesem wie auch in anderen Fällen widersprüchlich war und je nach Situation und Einstellung der Führungskräfte in den verschiedenen Abteilungen stark variierte. In diesem Fall war die Intervention des Armeeoberkommandos durch militärische Gründe bedingt: die Sorge, die ungerechtfertigte schlechte Behandlung könnte sich negativ auf die innere Front auswirken, und wahrscheinlich auch die Intention, das ohnehin bereits schwierige Verhältnis zum Bündnispartner Italien nicht noch weiter zu verschlechtern. Mit dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 waren schließlich alle Skrupel verflogen und jeder Aufruf zur Mäßigung hinfällig. Da Italien endgültig auf die Seite des Feindes gewechselt war, entbehrten Befürchtungen, Berichte von einer schlechten Behandlung italienischsprachiger Soldaten könnten die Kluft zwischen den beiden Verbündeten vergrößern, nunmehr jeglicher Grundlage.

57 ÖStA, AVA, MdI, Präs, 1914, Nr.  6032, Kt.  2141, Statthalter Tirol an Minister des Innern, 10.11.1914. 58 ÖStA, AVA, MdI, Präs, 1914, Nr. 6032, Kt. 2141, Ministerium des Innern an Presidenza del Consiglio (Ministerratspräsidium), 29.11.1914. 59 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 6731/1915, Kt. 17, Armeeoberkommando an diverse Militärkommandos, 31.1.1915.

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3. Trauma in Galizien Bereits in den ersten Kriegswochen fanden sich die Italiener aus dem Küstenland und dem Trentino an den Kriegsschauplätzen Galiziens und Serbiens wieder. Dort wurde völlig anders gekämpft als an der Westfront, wo Stellungskrieg, Zermürbungs- und Materialschlachten auf engem Raum sowie minimale Stellungswechsel der gegeneinander kämpfenden Heere dominierten. Das übliche Bild, das vom Ersten Weltkrieg gezeichnet wird, konzentriert sich im Grunde genommen auf die Charakteristika der deutsch-französischen Front: die befestigten, endlosen Schützengräben, in denen die Soldaten regelmäßig sinnlose Angriffe gegen die feindlichen Maschinengewehre auszufechten hatten, eine beklemmende, furchtbare Erfahrung. Tatsächlich wurde an den zahlreichen Kriegsschauplätzen weltweit auf verschiedene Weise gekämpft – diese Unterschiede wurden von den Historikern über lange Zeit nicht ausreichend beachtet60. Aus militärischer Sicht war der Krieg an der Ostfront nicht weniger bedeutend als jener im Westen; er fiel sicherlich zerstörerischer aus, und es gab mehr Todesopfer und Kriegsgefangene61. Vor allem war er über lange Zeit ein Bewegungskrieg mit schnellen Frontverschiebungen, umfangreichen Besetzungen feindlichen Territoriums und überstürzten Rückzügen, also völlig anders als im Westen, aber deshalb nicht weniger furchtbar und dramatisch, mit ja sogar schlimmeren Folgen für die Zivilbevölkerung. Besonders an der galizisch-russischen Front gingen zehntausende italienische und insgesamt einige Millionen Männer aus beiden Lagern in den Tod oder wurden gefangengenommen. Galizien – mit der Bukowina als südöstlichem Nachbarn – war die bevölkerungsreichste und entlegenste Region Österreichs, 1772 von Maria Theresia erworben, als Polen zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt wurde. Sie lag am nordöstlichen Ende des Habsburgerreiches und war im Süden durch die lange Kette der Karpaten vom Königreich Ungarn getrennt, während im Norden die Grenze zum russischen und deutschen Reich im Flachland verlief. Galizien war eine arme Region, geprägt primär vom landwirtschaftlichen Sektor, in dem primitive Arbeitsmethoden dominierten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte in kleinen und abgeschiedenen Dörfern auf dem Land, zu denen nur zwei etwas bedeutendere Städte hinzuka60 Für eine globale Sicht auf den Krieg vgl. Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive (Wiesbaden 2010). 61 Siehe dazu Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten: Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg (Hamburg 2018); Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg; Norman Stone, The Eastern Front, 1914–1917 (London–Sydney–Toronto 1975); Herwig, The First World War.



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men: Krakau und Lemberg (das heutige Ľviv). Aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit und der allzu zersplitterten Struktur des Grundbesitzes war es zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu starken Auswanderungswellen vor allem nach Übersee gekommen. Auch in Galizien waren die für viele Regionen Österreich-Ungarns so typischen komplexen und konfliktgeladenen nationalen Dynamiken allgegenwärtig. Protagonisten waren hier 3.600.000 Polen, denen 3.300.000 Ruthenen (Ukrainer) gegenüberstanden; hinzu kam eine signifikante jüdische Minderheit von etwa 90.000 Personen62. Die Rolle der Herrennation (master nation) nahm die polnische Bevölkerung ein, die im Westen der Region in der Überzahl war, allerdings überall eine gesellschaftliche Vormachtstellung innehatte. Auch hier gingen nationale und gesellschaftliche Kluft gleichsam Hand in Hand: Der polnische Hochadel stützte sich in der Verwaltung seiner Latifundien auf Methoden und Bedingungen des Lehnswesens, sehr zum Nachteil bitterarmer, größtenteils ruthenischer Landarbeiter. Die Polen besaßen die meisten Ländereien, lebten in den Städten, dominierten in den akademischen Berufen und waren gesellschaftlich wesentlich besser vertreten als die ruthenische Bevölkerung, die überwiegend aus Bauern bestand63. Doch auch bei den Ruthenen hatte sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg die Intellektuellenschicht ein wenig stärker herausgebildet, und es war ein Nationalgefühl entstanden. Genau zu dem Zeitpunkt, als die österreichischen Italiener um eine eigene Universität im Kaiserreich kämpften, taten das bezeichnenderweise auch die Ruthenen, doch die Polen wehrten sich standhaft dagegen, wollten sie doch absolut nicht zulassen, dass Polnisch an den Universitäten von Krakau und Lemberg seinen Status als Amtssprache verlor. Zwischen 1906 und 1910 führte dieser Streit in der Universitätsfrage zu Aufständen und Auseinandersetzungen in Lemberg, nicht viel anders als einige Jahre zuvor in Innsbruck. Im Nationalitätenkonflikt zwischen Polen und Ruthenen spielten die Juden eine untergeordnete Rolle, auch weil Österreich ihnen keinen Nationalitätenstatus zuerkannte. Zahlenmäßig blieben sie hinter den anderen beiden Gemeinschaften zurück, prozentuell betrachtet waren die jüdischen Untertanen allerdings in keiner anderen Region der Monarchie so stark vertreten. Ihre Präsenz konzentrierte sich besonders auf Städte und Ortschaften, wo sie bisweilen sogar die Mehrheit der Bevölkerung stellten und so zum weit verbreiteten Bild Galiziens als jüdisch geprägtes Land beitrugen, „ein jüdischeres Land 62 Galizien um die Jahrhundertwende. Politische, soziale und kulturelle Verbindungen mit Österreich, hrsg. von Karlheinz Mack (Wien 1990); Slawomir Radoń, La Galizia prima della Grande Guerra, in: Sui campi di Galizia 9–30. 63 Janusz Pezda, Stanislaw Pijaj, L’economia della Galizia alla vigilia della Grande Guerra, in: Sui campi di Galizia 31–43.

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als Palästina und jedes andere Land“, wie ein 1892 in Warschau herausgegebener Reiseführer ausführte64. Die polnische Vorherrschaft manifestierte sich überall, ob nun im gesellschaftlichen, kulturellen, politischen oder institutionellen Bereich. Polnisch war die Sprache, die an Schulen, in den öffentlichen Ämtern und in den Gerichten gesprochen wurde. Der polnische Adel dominierte im Landtag und in der öffentlichen Verwaltung, und für gewöhnlich stellte einer seiner Vertreter den kaiserlichen Statthalter. In Wien unterstützten die zahlreichen Abgeordneten treu die nationale Regierung und gelangten so zu Auszeichnungen und Ämtern. Anders als in den polnischen Gebieten, die zum russischen oder deutschen Reich gehörten, herrschten die Polen in Galizien über ihr eigenes Gebiet; ihre Sprache und ihre kulturelle Identität waren anerkannt. Daher wurde Galizien zum Nährboden des polnischen Nationalgefühls und zur treibenden Kraft des Einigungsprozesses, an dessen Ende 1918 ein unabhängiges Polen aus der Taufe gehoben wurde, in dem die gut ausgebildete polnische Führungsschicht eine wichtige Rolle einnehmen sollte. Aus diesem Grund sprach der polnische Historiker Józef Buszko von Galizien als dem „polnischen Piemont“65. Doch im österreichischen Bewusstsein war Galizien in erster Linie ein fernes, armes, unwirtliches Land, „ausgeliefert der unendlichen Trostlosigkeit der Sümpfe“, wie es Joseph Roth in seinem Roman „Radetzkymarsch“ beschreiben sollte66. Eine Art Ende der Welt, wo noch Mittelalter herrschte, aber auch eine extrem bedeutende Region, was die Militärorganisation der Monarchie anbelangte. Als deren östlichster Ausläufer war Galizien gleichzeitig auch eine Pufferzone, die das Herz Österreich-Ungarns noch vor der Gebirgskette der Karpaten gegen mögliche Attacken der Russen schützte, sowie Ausgangsbasis für Angriffe auf die westlicheren Regionen des Zarenreiches. Aus diesem Grund war das Gebiet von einem Eisenbahnnetz durchzogen, dessen Kapazität für die Bedürfnisse der Bevölkerung eigentlich zu umfassend war – es verband die Hauptstädte der Monarchie mit Lemberg, Krakau und Przemyśl. In diesen und anderen Städ64 Zit. in: Tomasz Gąsowski, La Galizia, “tana degli Ebrei”, in: Sui campi di Galizia 45–60, hier 45. 65 Die Definition ist zu finden in: Józef Buszko, Galicja 1859–1914. Polski Piemont? (Warschau 1989), sie fungierte als Titel für den ersten Abschnitt des Bandes Sui campi di Galizia 7–95. In deutscher Sprache liegt von diesem polnischen Autor folgender Text vor, auf den hier ebenfalls verwiesen sei: Józef Buszko, Die Geschichte Galiziens (1890–1918) in der polnischen Zwischenkriegs- und Nachkriegs-Historiographie, in: Österreichische Osthefte 31 (1990) 253–262. 66 Joseph Roth, Radetzkymarsch (1932) (Berlin 42015) 115. Weitere höchst anschauliche Beschreibungen der Region finden sich in: Ders., Reisen in die Ukraine und nach Russland (München 2015), und Martin Pollack, Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina (Frankfurt 2001).



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ten waren regelmäßig zehntausende Soldaten stationiert, einquartiert in riesigen Kasernen, Zitadellen, Festungsanlagen und verschanzten Lagern. Die wichtigste Festung war jene von Przemyśl, die zu den größten Europas zählte: Sie verfügte über einen 45 Kilometer langen Verteidigungsring und dutzende Befestigungen, in denen über 30 Bataillone Platz hatten67. Die Belagerung dieser Festung sollte zu einem der bedeutendsten und dramatischsten Momente des Kriegsgeschehens an der Ostfront werden, und einige italienischsprachige Soldaten waren daran beteiligt. In dieses ferne und unbekannte Land kam nun ein Großteil der italienischsprachigen Soldaten, die damit mit einem Schlag von einer Grenze an die andere katapultiert wurden. Sie erreichten ihr Ziel nach einer mehrtägigen Bahnfahrt durch die weiten Landschaften des Kaiserreiches, was für viele, die ihr eigenes Tal und ihr eigenes Dorf noch nie verlassen hatten, schon ein großes Abenteuer gewesen sein muss – fast immer wird in den Tagebüchern davon berichtet. Der Moment des herzzerreißenden Abschieds, der Abfahrt in übervollen Zügen aus vor Menschen nur so wimmelnden Bahnhöfen, die verschiedenen Halte in Städten und Dörfern, die Begeisterung der Behörden und Rotkreuzschwestern, die ihnen dort Essen und Zigaretten schenkten, die unendliche und fruchtbare ungarische Tiefebene, die an ihnen vorbeizog und von den kundigen Augen der Bauernsoldaten neugierig begutachtet wurde, die immer spartanischer ausfallende Begrüßung in den Bahnhöfen der östlichen Gebiete, die Ankunft in der „neuen Welt“ Galiziens und die ebenso unmittelbare wie erschütternde Konfrontation mit dem Kriegsalltag – alles Motive, die in den autobiografischen Schriften und Briefen der Soldaten häufig anzutreffen sind68. Der erste Kontakt mit der Umgebung und der Bevölkerung Galiziens wurde für gewöhnlich mit abfälligen Worten und Urteilen quittiert. Die Straßen waren voll mit Schlamm, die Dörfer bitterarm, die Häuser mehr schlecht als recht mit Strohdächern bedeckt, während die Menschen schmutzig und unzivilisiert wirkten, denn ganze Familien lebten auf engstem Raum in einer ungesunden Umgebung, wo Stall, Küche und Schlafbereich eins zu sein schienen. Giovanni Pederzolli, ein Tischler aus Sacco bei Rovereto, erwähnt in seiner Beschreibung eines kleinen Dorfes in Mittelgalizien eine Reihe von Details, die in vielen weiteren Darstellungen des ländlichen Umfeldes, von dem Galizien geprägt war, anzutreffen sind:

67 Piotr Galik, Le città-guarnigione della Galizia alla vigilia della prima guerra mondiale, in: Sui campi di Galizia 83–95. 68 Vgl. Antonelli, I dimenticati 50–55; Ranchi, “La luna vista a girarsi” 288–291.

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Für Österreich in den Krieg

Als es Nacht wurde […], gingen wir in eine schmutzige Baracke und baten um etwas Brot, natürlich gegen Bezahlung. Hier muss ich allerdings kurz innehalten, um die Örtlichkeit ein wenig zu beschreiben. Im einzigen Zimmer (wenn man es überhaupt als Zimmer bezeichnen kann) lag eine Frau wach, sie war wohl um die 30 Jahre alt, sah aber mit ihrem schmutzigen Gesicht mehr wie ein Tier als eine Frau aus. Auf einer Seite schliefen ein paar Knirpse am Boden, alle auf einem Fleck, wie die Ziegen. Hühner, Enten und Gänse bevölkerten alle zusammen die Hinterseite dieses „Stall-Zimmers“ – auf einer Seite war sogar ein Schwein, das grunzte. Ein höllischer und widerlicher Gestank, der mir fast den Atem raubte. […] Ich glaube, auch in Zentralafrika kann es nicht schmutziger sein. Die Frauen waren halbnackt und in Lumpen gehüllt, dreckig und barfuß; die Männer passen zu den Frauen, und die Kinder sehen eher wie Affen als Geschöpfe Gottes aus. Nackt wie bei ihrer Geburt, mit einer Schmutzschicht bedeckt, deren Farbe nicht zu erkennen ist, kurz: eine Schande69.

Es gibt zahlreiche Schilderungen, die Pederzollis Bericht ähneln und allesamt in empörtem Ton das unerträgliche Ausmaß an Rückständigkeit sowie das offensichtliche Elend, die zur Schau gestellte Nacktheit betonen. Hier zeigt sich, wie groß der Unterschied zwischen den bitterarmen Gegenden Galiziens und den Heimatorten der Italiener war70. So mancher fragte sich aber auch, ob die Verrohung der Bevölkerung nicht zumindest teilweise dem damaligen radikalen Umbruch geschuldet war: „Vielleicht hat der Krieg sie in diese Lage gebracht“, mutmaßt der junge Triestiner Emilio Stanta, als er die schmutzigen und völlig verlausten Männer und Frauen sieht71. Am abfälligsten und heftigsten äußerten sich die Soldaten jedoch über die Juden. Giacomo Sommavilla beschrieb sie als „mit langen schwarzen Umhängen […]“ bekleidet, „mit breitkrempigen Hüten und zwei Löckchen an den Wangen, wobei das Haar ebenfalls schmutzig ist“, als Besitzer von Häusern, die größer waren als jene der Bauern und „die man nur mit einem Portemonnaie in der Hand betreten darf – Egoismus und Geiz sind die Eigenschaften, die sie auszeichnen“72. Für alle waren sie die „Schweine“, die den hungrigen Soldaten auch an den kriegsgebeutelten Orten jede beliebige Ware verkauften – „Essen, Süßigkeiten, Gegenstände, Frauen“ –, und zwar „zu sehr hohen Preisen, während sie die Käufer mit lästiger Beharrlichkeit anlockten“73. „‚Ebreorum‘ in Massen“ – so 69 Giovanni Pederzolli, in: Rodolfo Bolner, Giovanni Pederzolli, Francesco Laich, hrsg. von Gianluigi Fait (Trient–Rovereto 2002) 199–267, hier 205–206. 70 Für weitere Beispiele vgl. Antonelli, I dimenticati 55–59. 71 Zit. bei Ranchi, “La luna vista a girarsi” 294. 72 Giacomo Sommavilla 140. 73 Die beiden Zitate stammen aus der Feder eines anonymen Tagebuchschreibers aus Triest sowie vom bereits erwähnten Emilio Stanta. Sie finden sich beide in: Ranchi, “La luna vista a girarsi”



3. Trauma in Galizien 

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Abb. 8: Österreichisch-ungarische Soldaten und Zivilisten in einem galizischen Dorf (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

Rodolfo Bolner bei der Beschreibung des Städtchens Rzeszów in Mittelgalizien in seinem Tagebuch –, „verdreckt und verlaust, wie ich es noch nie gesehen habe; ihr ‚Ghetto‘ ist eine Beleidigung der Menschenwürde mitten im zwanzigsten Jahrhundert74.“ Guerrino Botteri – ein in Triest geborener Trentiner, ein Volksschullehrer, der später Volksschuldirektor wurde –, beschrieb sie folgendermaßen: Schmierig zu den Starken, auf heuchlerische Art weinerlich zu den Befehlshabern, werden sie gierig gegenüber all jenen, die ehrlich bezahlen wollen; wie Hyänen sind sie zu jenen, die ihre Gläubiger werden!“ Sie seien, so Botteri weiter, sogar zum Verkauf ihrer Töchter bereit, „nur um Geld scheffeln zu können! Sie sind die Schlinge um den Hals der Polen, die sich berauschen und töten lassen“75.

295. 74 Rodolfo Bolner, in: Rodolfo Bolner 9–196, hier 175. 75 Guerrino Botteri, in: Guerrino Botteri, Vigilio Caola, Giovanni Lorenzetti, Valentino Maestranzi, Giuseppe Scarazzini, hrsg. von Quinto Antonelli, Manuela Broz, Giorgia Pontalti (Trient–Rovereto 1998) 11–49, hier 19f.

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Juden fielen oft Plünderungen oder Gewalt zum Opfer – man beachte in diesem Zusammenhang etwa den Bericht des Triestiners Antonio Danielis, der mit seinen Kameraden die Stände, an denen sie Polentastücke verkauften, überfiel und ausraubte, oder jenen des Slowenen Leopold Vadnjal, der meinte, die Häuser der Juden seien deshalb häufig geplündert worden, weil man überzeugt gewesen sei, dass sich darin Unmengen an versteckten Vorräten für die siegreichen Russen befänden76. Ob die österreichischen Italiener die Juden nun flüchtig vor der Einschiffung nach Übersee gesehen oder die schrecklichen Beschreibungen in der katholischen Presse des Trentino gelesen hatten, fest steht jedenfalls, dass sie mit strukturiertem Antisemitismus im Gepäck nach Galizien kamen und die Kriegserfahrung diesen noch erstarken ließ77. An der galizischen Front hatte die österreichisch-ungarische Armee Ende August einige Erfolge verbuchen können, denn sie hatte die feindliche Verteidigungslinie durchbrochen und war nach Wolhynien gelangt. Mit dem russischen Gegenangriff und auch schweren taktischen Fehlern auf österreichischer Seite wendete sich das Blatt komplett, sodass sich die Österreicher zu einem verheerenden Rückzug gezwungen sahen und die galizische Hauptstadt Lemberg von den Russen belagert wurde. Die österreichische Armee musste also weichen, versuchte, sich neu aufzustellen, und ging zum Gegenangriff über, um Lemberg zurückzuerobern. Am 7. September begann etwa 50 Kilometer nordöstlich von Lemberg die Schlacht bei Rawa Ruska, die nach vier Tagen verheerender Kämpfe mit einer weiteren vernichtenden Niederlage der Österreicher und dem Tod zehntausender Soldaten zu Ende ging. Laut Aufzeichnungen der italienischsprachigen Soldaten geriet sie zu einem Massaker, und die bloße Erinnerung daran ließ sie auch Monate später noch erschaudern78. Es folgten ein erneuter Rückzug nach Westen sowie der misslungene Aufbau einer Verteidigungslinie entlang des Flusses San, außerdem begann die lange russische Belagerung der Festung Przemyśl, bei der dank eines Aufgebotes von 1.000 Kanonen und 100.000 Mann fünf Monate Widerstand geleistet wurde, bis die Garnison schließlich am 21. März 1915, als alle Vorräte aufgebraucht waren, aufgab79. Auf der Flucht ließen sich die österreichisch-ungarischen Soldaten zu unglaublichen Gewalttaten und willkürlichen Hinrichtungen hinreißen, die an anderen Reichsbürgern, nämlich Ruthenen und Juden, verübt wurden – getrieben von einer regelrechten Obsession, ausgelöst 76 Vgl. Ranchi, “La luna vista a girarsi” 296; Verginella, Storie di prigionia 46. 77 Ranchi, “La luna vista a girarsi” 283; Antonelli, I dimenticati 59–61. 78 Antonelli, I dimenticati 73. 79 Zu den ersten Operationen in Galizien siehe Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg 247–279; Dante Ongari, La guerra in Galizia e sui Carpazi 1914–1918. La partecipazione del Trentino (Calliano [TN] 1983) 44–63.



3. Trauma in Galizien 

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Karte 2: Die Ostfront.

durch den Verrat und die Spionage der Zivilbevölkerung, die für die Russen aktiv geworden war. Die Ost- und Balkanfront wurden zum Schauplatz eines noch nie dagewesenen und extremen Ausmaßes an Gewalt gegen Zivilisten, die in diesem Fall nicht nur Bürger verfeindeter Staaten waren80. 80 Zur Gewalt gegen Zivilisten an der Ostfront vgl. Hannes Leidinger, Verena Moritz, Karin Moser, Wolfram Dornik, Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-un-

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Ende 1914 hatte Österreich-Ungarn die Bukowina sowie fast ganz Galizien verloren und kontrollierte nur noch dessen westlichen Ausläufer, in dem sich seine Truppen verschanzt hatten. In erster Linie hatte es aber eine erschreckend hohe Zahl an Soldaten verloren – insgesamt gab es fast eine Million Tote, Verwundete und Gefangene, womit die Verluste nur etwas geringer waren als auf russischer Seite. An der Balkanfront fiel die Bilanz nicht besser aus, die Verluste waren nicht weniger schlimm: 273.000 Mann von insgesamt etwa 450.00081. Der Verlauf war hier ähnlich gewesen: Nach anfänglichen Erfolgen hatten sich die österreichisch-ungarischen Soldaten aufgrund der Gegenoffensive des Feindes zu einem erniedrigenden Rückzug gezwungen gesehen, da man dessen Kampfgeschick unterschätzt hatte82. Im Rahmen einer zweiten Offensive eroberten die Österreicher im Dezember 1914 Belgrad, doch die Serben bewiesen abermals ein unerwartet gutes Reaktionsvermögen, und es gelang ihnen, die Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben. Besonders während der August-Operationen gingen die Österreicher mit brutaler Gewalt gegen die serbische Zivilbevölkerung vor – sie wollten das Land, das die Julikrise ausgelöst hatte, und dessen als Halbwilde verschriene Bevölkerung bestrafen83. Insgesamt hatte das Kaiserreich in den ersten fünf Monaten zwischen Kriegsausbruch und Ende 1914 etwa 1.268.000 Mann verloren, also fast die Hälfte der Soldaten, über die es vor Kriegsbeginn verfügt hatte, bei den Berufsoffizieren waren es ganze zwei Drittel – ein untragbarer Blutzoll, von dem sich die Armee nicht mehr erholen sollte84. Ab 1915 kämpfte also ein anderes Heer im Krieg. Die ausgebildeten Soldaten und Berufsoffiziere stellten nicht mehr die Mehrheit – erstere wurden durch Jungsoldaten, alte Reservisten und zuvor für untauglich befundene Männer ersetzt, zweitere durch eine zu geringe Zahl an rasch ausgebildeten Zivilisten in Uniform85. Diesen fehlten nicht nur die militärtechnischen Kompetenzen, sondern auch die Sprachkenntnisse, über welche die Berufsoffiziere sehr wohl verfügten, wenn auch, wie erwähnt, in begrenztem Ausmaß. So war bereits in den ersten Kriegsmonaten ein wesentliches Kriterium für eine effiziente Kommunikation innerhalb des Heeres nicht mehr erfüllt, außerdem nahmen strukturelle Mängel in Sachen Mittel, Organisation und Vorbereitung zu. Die „italienischen“ Regimenter entkamen dem Gemetzel nicht. Das 97. Infanterieregiment gelangte gerade rechtzeitig an die Front, um vom russischen Vorgarischen Kriegsführung 1914–1918 (St. Pölten–Salzburg–Wien 2014); Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918 (Darmstadt 2014). 81 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg 286–288. 82 Vgl. John Keegan, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie (Berlin 2000) 220–224. 83 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918 (London 2007). 84 Lein, Pflichterfüllung 65–66. 85 Deák, Der K. (u.) K. Offizier 232–235.



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stoß bei Lemberg überrannt zu werden. Es folgte ein völlig chaotischer Rückzug unter feindlichem Artilleriefeuer – eine dramatische Feuertaufe, die auch Gehorsamsverweigerungen nach sich zog, welche von den Offizieren durch willkürliche Exekutionen erwidert wurden86. Auch die Tiroler Kaiserjäger- und Landesschützen-Regimenter erlitten beim Versuch, sich gegen die russischen Offensiven zu wehren und die Front entlang nicht zu weit zurückliegender Verteidigungslinien zu stabilisieren, schwerste Verluste. Die verheerenden Operationen, die beschränkte österreichische Militärorganisation, die Härte des Offizierskorps sowie der Schock über die zerstörerische Kraft eines Technologiekrieges – all das wird in den Tagebüchern der Soldaten immer wieder beschrieben. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Galizien wurden sie zu Gewaltmärschen in Richtung russischer Grenze genötigt (auf die schon bald eilige Rückzüge folgten), und zwar auf anscheinend sinnlosen Routen, bedroht von ihren Vorgesetzten und für die geringste Verfehlung auf das Schwerste bestraft. Oft bekamen sie nicht einmal etwas zu essen, weil die Küche mit dem Tempo der Truppe nicht mithalten konnte und allgemein Chaos und Verwirrung herrschten87. Giuseppe Scarazzini schilderte die Märsche als regelrechte Folter: Er fiel immer wieder in den Schlamm, fühlte sich wie „Jesus Christus, als er auf Golgotha unter dem Kreuz zusammenbrach“, und wünschte sich, „ich wäre noch als Kind gestorben“88. Auch Guerrino Botteri, der im Oktober 1914 nach Galizien kam, berichtet ausführlich über die extreme Härte der Märsche, die von den Soldaten hungrig, durstig und todmüde zu bewältigen waren. Sie wurden wie Tiere behandelt, beleidigt, weil sie Italiener waren, und deswegen als „elende, dreckige Hunde“ bezeichnet. „Einer meiner Kameraden bittet, man möge ihn 86 Todero, Dalla Galizia all’Isonzo 54–62; Rossi, Ranchi, Lontano da dove 111f. 87 Antonelli, I dimenticati 62. Ein Indikator für das Ausmaß des Militärchaos auf österreichischer Seite ist auch die überraschende Häufigkeit, mit der Soldaten von einem Beschuss durch eigene Truppen berichten – für viele wurde dieser auch zur berüchtigten Feuertaufe. Dies zeigt die schlechte Verbindung zwischen Artillerie und Truppe, die wahrscheinlich in wirren Kriegsphasen, bei schnellen Vorstößen und hastigen Rückzügen noch schlechter funktionierte. Diese Erfahrung machte im Oktober 1914 auch Decimo Rizzoli. Unter Ausnutzung der Dunkelheit wurde er mit seiner Kompanie 200 Schritte über die erste Linie in Richtung russischer Schützengräben geschickt und geriet rasch unter das Feuer der österreichischen Artillerie, die nicht über den Vorstoß informiert worden war (Decimo Rizzoli, in: Ezechiele Marzari 95–139, hier 102). Rodolfo Bolner und seine Gruppe dagegen erhielten am letzten Augusttag des Jahres 1914 plötzlich den Befehl, auf den mutmaßlichen Feind zu schießen – tatsächlich handelte es sich um das 4. Kaiserjäger-Regiment, das hinter ihnen ging. Dank der Feldlampen wurde schnell klar, was vorgefallen war, und es konnten 21 Verwundete versorgt und 4 Tote aufgesammelt werden. „O Scharfsinn unserer Feldherren!“ (Rodolfo Bolner 19. Vgl. auch Federico Mazzini, „Cose de laltro mondo“. Una cultura di guerra attraverso la scrittura popolare trentina, 1914–1918 [Pisa 2013] 206). 88 Giuseppe Scarazzini, in: Guerrino Botteri 235, 238.

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töten: Er will, er kann nicht weiter: Er ist körperlich und seelisch am Ende“89. In diesem und anderen Fällen gingen Gewalt und Übergriffe gegen italienischsprachige Soldaten Hand in Hand mit jenen, die alle Soldaten ohne Unterschied zu erleiden hatten – jeder einzelne von ihnen war einem oft unmenschlichen Kommandosystem ausgeliefert. Von Anfang an, von der Einziehung bis zu der Zeit in Galizien, hatten die Italiener die Verachtung ihrer Befehlshaber sowie deren Misshandlungen zu ertragen – quasi eine Vorwegnahme dessen, was nach der Kriegserklärung Italiens auf systematischere und radikalere Weise praktiziert werden sollte. Der Trentiner Kaiserjäger Eutimio Gutterer, ein Bauer aus Grumes im Zimmerstal (Cembratal), beschrieb es als eine Erfahrung, die mit den ersten Tagen seines Militärlebens begonnen hatte, in seinem Fall im Oktober 1914 in der Kaserne in Trient, wo er seine Grundausbildung erhielt: „Die schönste Bezeichnung für uns war: Elendige Italiener!! Zu dem Zeitpunkt schworen wir, uns an den Deutschen [Anm. d. Ü.: (mit-)gemeint waren Deutschösterreicher, Italiener sprechen jedoch oft nur von tedeschi] zu rächen“90. Sobald sie in Galizien waren, wurden die Italiener und ihre Kameraden in sinnlosen Angriffen gegen die Maschinengewehre ins Verderben geschickt und im Laufe weniger Monate buchstäblich dezimiert, während die ursprüngliche Hoffnung auf einen Kurzkrieg endgültig schwand. Durch all das wurde die Habsburgtreue, die Soldaten wie Zivilisten bei der Mobilisierung an den Tag gelegt hatten, auf eine harte Probe gestellt. Obwohl viele bis Kriegsende kaisertreu blieben, waren viele andere durch das Trauma in Galizien und die Verfolgung an der Front, aber auch jene der Familien, die entweder in ihren Häusern blieben oder in andere Regionen des Kaiserreiches deportiert wurden, zutiefst desillusioniert und entfernten sich immer mehr von den ursprünglichen Identifikationsformen. Die Misshandlungen, welche die Italiener von den ersten Kriegstagen an ertragen mussten, empörten vor allem jene, die sich aufrichtig mit Österreich und seinen Institutionen identifizierten und daher die Diskriminierung als völlig ungerechtfertigt empfanden. So auch Giacomo Sommavilla, der bei Kriegsausbruch eingezogen und unmittelbar nach seiner Einteilung und vor dem Aufbruch zur langen Reise in den Osten Opfer der Brutalität seines Befehlshabers wurde, in deren Genuss vor allem Italiener kamen. Dennoch zweifelte und zögerte er keinen Augenblick: Für ihn war es „eine heilige Pflicht“, aufzubrechen und jeden Befehl seiner Vorgesetzten zu befolgen, „um den Feind zu bekämpfen, der unser Land überfällt“. Sommavilla, damals 36 Jahre alt, ertrug also die ersten äu89 Guerrino Botteri 24. 90 Renzo Francescotti, Eutimio Gutterer nella Grande Guerra, in: Archivio trentino di storia contemporanea 40 (neue Serie) /2 (1991) 21–60, hier 27.



4. „Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt“ 

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ßerst harten Märsche in Galizien, den Hunger, die Hitze und den unerträglichen Durst. Einmal ließ er sich völlig erschöpft fallen und bekam, nachdem er als Italiener identifiziert worden war, sofort den Spott und die „ordinären Beschimpfungen“ zu hören, die ihn vor Zorn und Entrüstung weinen ließen91. Nach den heftigen Rückschlägen der ersten Kriegsmonate versuchte Österreich, sich neu aufzustellen, um das verlorene Galizien zurückzuerobern. Als Bollwerk vor der ungarischen Tiefebene wurden die Karpaten in den ersten Monaten des Jahres 1915 zum Kampfschauplatz. Es herrschten furchtbar schwere Bedingungen, bedingt durch die gebirgige Umgebung und die äußerst strengen Wintertemperaturen. Nach weiteren Rückschlägen gelang es den Österreichern nur mit deutscher Hilfe, die Front zu stabilisieren und dann durch eine enorme, gemeinsam mit dem Verbündeten durchgeführte Offensive wieder einen Sieg zu erlangen. Dank eines noch nie dagewesenen Aufgebotes an Streitkräften wurden die Russen in Gorlice und Tarnów in Mittelgalizien, Schauplatz einer der wichtigsten Schlachten des gesamten Krieges, geschlagen. In den folgenden Monaten wurde nicht nur die gesamte Region zurückerobert, sondern die Mittelmächte drangen auch über die Grenzen ihrer eigenen Gebiete bis ins Herz des Russischen Reiches vor. Drei Millionen Zivilisten wurden gezwungen, die vom Zarenheer verlorenen Gebiete zu verlassen – für den Feind sollte nichts als verbrannte Erde zurückbleiben. Im Herbst 1915 stabilisierte sich die Front entlang einer Linie, die fast völlig gerade von der Ostsee westlich von Riga bis zum Fluss Dnjestr verlief und bis zu einer erneuten russischen Offensive im Juni 1916 im Grunde genommen unverändert blieb. Inzwischen war die militärische Situation der Habsburgermonarchie durch die Kriegserklärung Italiens komplizierter geworden: Einerseits musste Österreich-Ungarn nun an zwei Fronten kämpfen, andererseits hatte sich dadurch aber auch die Lage der Soldaten aus Julisch Venetien, dem Trentino, dem Friaul und Istrien verschlimmert, weil diese nunmehr aufgrund ihrer Sprache als fünfte Kolonne des verräterischen Ex-Verbündeten galten. 4. „Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt“ „Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt. Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt, ist von dem Königreich Italien an seinen beiden Verbündeten begangen worden“. Mit diesen Worten des Manifests „An Meine Völker“ vom 23. Mai 1915 prangerte Kaiser Franz Joseph den Bündniswechsel der Regierung in Rom an. Der „Verrat“ bestätigte die italienfeindlichen Vorurteile, 91 Giacomo Sommavilla 137–138, 141.

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ließ das Ressentiment gegen den ehemaligen Verbündeten ins Unermessliche steigen und wurde so auch für die österreichischen Italiener zur Belastung. Mit der Öffnung der Südfront wurden das Trentino und das Küstenland Kriegsgebiet. Zur Erleichterung der Kriegsführung wurden in den neuen Frontgebieten durch eine am Tag der Kriegserklärung erlassene kaiserliche Verordnung diverse Befugnisse der politischen Verwaltung auf die Militärverwaltung übertragen. Letztlich wurde so die Zivilgewalt endgültig der militärischen Gewalt unterstellt92. Eine der ersten und wichtigsten Maßnahmen der Militärkommandos war die – vollständige oder teilweise – Evakuierung von Ortschaften und Tälern in der Nähe der Frontlinie sowie von Festungsgebieten und Ballungsräumen mit besonderer strategischer Bedeutung. Die Zahlen im Zusammenhang mit dieser Intervention sind beeindruckend: Etwa 75.000 bis 80.000 Trentiner und etwa 160.000 Bewohner des Küstenlandes (davon etwa 90.000 bis 100.000 Slowenen und 60.000 bis 70.000 Italiener) wurden in andere Regionen der Monarchie umgesiedelt93. Die Gründe für diese enorme Operation waren militärischer Natur: Vor allem konnte die Zivilbevölkerung nicht an der Frontlinie bleiben; die Truppen mussten untergebracht werden und sich im Etappengebiet frei bewegen können; Spannungen, die ein Belagerungszustand besonders im Zusammenhang mit der Versorgung bei der Zivilbevölkerung ausgelöst hätte, waren zu vermeiden. Dennoch gab es durchaus auch nationalpolitische Gründe, bedingt durch das extreme Misstrauen gegen die italienischsprachige Bevölkerung, die ständig zu Ängsten vor Sabotage- oder Spionageakten führte. Wegen solcher Ängste war auch in Galizien und Serbien mit großer Härte gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen worden – dort waren auch Bürger der Habsburgermonarchie verdächtigt worden, im geheimen Einverständnis mit dem Feind zu stehen. Der „Exodus“, die „Diaspora“, der „Leidensweg“ – so bezeichneten viele Vertriebene in ihren während und nach dem Krieg verfassten Erzählungen die Eva92 Pircher, Militär 41–44. 93 Laboratorio di Storia di Rovereto (Hrsg.), Gli spostati. Profughi, Flüchtlinge, Uprchlíci. 1914–1919 Bd. 2, Paolo Malni, La storia (Rovereto–Trient 2015) 12. Zum Thema siehe auch Giovanna Procacci, L’internamento dei civili in Italia durante il conflitto, in: dies., Warfare-welfare. Intervento dello Stato e diritti dei cittadini (1914–1918) (Rom 2013); Bruna Bianchi, La vio­ lenza contro la popolazione civile nella Grande Guerra. Deportati, profughi, internati (Mailand 2006); “Un esilio che non ha pari” 1914–1918. Profughi, internati ed emigrati di Trieste, dell’Isontino e dell’Istria, hrsg. von Franco Cecotti (Gorizia 2001); Elpidio Ellero, Friuli 1914–1917. Neutralità, guerra, sfollamenti coatti, internamenti (Udine 2007); Francesco Frizzera, L’evacuazione dei profughi trentini durante la Prima guerra mondiale. Tutelati dallo Stato o considerati inaffidabili?, in: La Grande Guerra ai confini: italiani d’Austria e comunità di frontiera 1914–18, hrsg. von Marco Mondini, Fabio Todero, in: Qualestoria 42/1–2 (2014) 15–40; La città di legno. Profughi trentini in Austria (1915–1918), hrsg. von Diego Leoni, Camillo Zadra (Trient 1981); Antonelli, I dimenticati 25–33.



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kuierung94 – stellte eine dramatische Spaltung der lokalen Gesellschaft dar: Die Männer waren ohnehin bereits an der Front, und nun sollten bald alle über den riesigen Raum der Donaumonarchie verstreut sein, in dem sich familiäre und örtliche Bande auflösten. Sie wurden entweder in kleine Gruppen aufgeteilt oder in große Lager gebracht, wo die Lebensumstände unerträglich waren und die Behörden ihre Kontrolle über das Militär ausüben ließen. Den Vertriebenen schlugen das Misstrauen und die Feindseligkeit besagter Behörden sowie der lokalen Bevölkerung entgegen. Sie sprachen die Sprache des Feindes, daher wurden sie mit Argwohn und Verachtung betrachtet und allesamt als potenzielle Spione und Verräter angesehen. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass der Tiroler Statthalter Friedrich Toggenburg vor einer Unterbringung der Vertriebenen aus dem Trentino in Nordtirol warnte, denn mit dem Kriegseintritt Italiens erwartete man von der deutschsprachigen Bevölkerung „Ausbrüche allgemeiner Erbitterung und vielfach fanatischen Hasses gegen alles, was italienisch ist“95. Auf die Deportation nach Norden folgte in drei späteren Vertreibungswellen die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung jener Gebiete, die von Italien erobert worden waren. Etwa 80.000 Menschen (35.000 aus dem Trentino und 45.000 aus dem Küstenland, von denen 20.000 eigentlich Reichsitaliener waren, also fest auf österreichischem Gebiet ansässige Bürger des Königreiches Italien) verließen ihr Heim, um auf über 300 italienische Gemeinden umverteilt zu werden, vom Norden bis in den Süden des Landes96. Auch sie lebten oft unter äußerst schwierigen Bedingungen, fühlten sich erniedrigt, weil ihnen alles genommen worden war, wussten genau, dass sie von vielen als ungebetene Gäste angesehen wurden, die die lokalen Ressourcen ausnutzten, aber auch als potenzielle Gefahr, weil sie Bürger eines verfeindeten Staates waren. Daher bekamen die Vertriebenen als erstes die doppelte Feindseligkeit zu spüren, denn für die einen waren sie zu italienisch, für die anderen zu wenig – eine Erfahrung, die auch die Soldaten machen sollten. Dieses Schicksal ereilte zehntausende Vertriebene, die auch Opfer nationaler Vorurteile wurden. Die im Küstenland und im Trentino Verbliebenen erlebten wiederum tagtäglich, wie sich der Kampf gegen den Irredentismus verschärfte und sich schließlich zu einem – teilweise übertrieben geführten – Kampf gegen das italienische Element im Allgemeinen entwickelte. Ein Beispiel dafür ist ein 94 Antonelli, I dimenticati 26. 95 Toggenburg an das Ministerium des Innern vom 14.3.1915, zit. in: Hermann J. W. Kuprian, Angela Griessenböck, Hunger, Not und Kälte: Zur Versorgungslage der Patientinnen und Patienten in Hall und Pergine im Ersten Weltkrieg, in: Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, hrsg. von Elisabeth Dietrich-Daum, Hermann J. W. Kuprian, Siglinde Clementi, Maria Heidegger, Michaela Ralser (Innsbruck 2011). 96 Malni, La storia 12.

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vom Befehlshaber der Südwestfront, Erzherzog Eugen, verabschiedeter Erlass über Uhren an öffentlichen Gebäuden im Trentino. Nachdem festgestellt worden war, dass auf Uhren von Kirchtürmen und weiteren Gebäuden wie in Italien üblich die Zahlen von 1 bis 24 auf dem Ziffernblatt wiedergegeben waren, wurde die Entfernung der Zahlen von 13 bis 24 angeordnet, deren Präsenz als „Wahrzeichen des staatszersetzenden Irredentismus“97 bezeichnet wurde. Im Trentino blieben nicht einmal die Protagonisten aus Politik und Institutionen von Verfolgung verschont. Irredentistisch gesinnte politische Vertreter wie Cesare Battisti waren schon länger nach Italien gezogen, sodass das Militär gegen die in Österreich verbliebenen gemäßigteren Politiker vorging. Der liberale Abgeordnete Valeriano Malfatti wurde im Lager Katzenau interniert, die katholischen Abgeordneten Enrico Conci und Guido de Gentili nach Linz beziehungsweise Salzburg konfiniert, der Bürgermeister von Trient, Vittorio Zippel, zunächst seines Amtes enthoben, dann konfiniert, inhaftiert und von einem Militärgericht wegen Hochverrats zu acht Jahren schweren Kerkers verurteilt – beruhend auf irredentistischen Aktionen und Äußerungen vor dem Krieg, und ohne dass er konkret subversive Handlungen vollzogen hätte98. Sogar der Bischof von Trient, Celestino Endrici, wurde nach Spannungen und Streitereien zwischen Militär und zentralen wie regionalen politischen Organen, die in diesem und anderen Fällen moderater eingestellt waren99, in Heiligenkreuz bei Wien interniert. In Triest kam es zu keinen Zuständigkeitskonflikten wie im Trentino, denn der im Februar 1915 neu ernannte Statthalter Baron Alfred Fries-Skene100 war mit der harten Linie der Militärkommandos völlig einverstanden. Unmittelbar nach dem Kriegseintritt Italiens verabschiedete er eine Reihe repressiver Maßnahmen, die bei Generalstabschef Conrad von Hötzendorf auf volle Zustimmung stießen: Er löste die Gemeindeverwaltungen in Triest und Görz auf, die sich bereits seit einiger Zeit in der Hand der italienischen Liberalen befanden; er schaffte Uniformen der Gemeindeangestellten ab, die ausgesprochen italienisch wirkten – ersetzt werden sollten sie durch neue Uniformen ganz nach dem Vorbild jener der Angestellten der Gemeinde Wien; er verbot „das Salutieren nach italienischer Art“, ordnete die Änderung der Namen sämtlicher Straßen und Plätze an, die einen irredentistischen Bezug aufwiesen; weiters regte er die Verstaatlichung der 97 Führ, Das k. u. k. Armeeoberkommando 82. 98 Pircher, Militär 124–128. 99 Führ, Das k. u. k. Armeeoberkommando 82–90. 100 Zu seiner Person und seinem Vorgänger vgl. Marion Wullschleger, „Gut österreichische Gesinnung“. Imperiale Identitäten und Reichsbilder der letzten österreichischen Statthalter in Triest (1904–1918), in: Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918) / Elites and Empire. Imperial Biographies in Russia and Austria-Hungary (1850–1918), hrsg. von Tim Buchen, Malte Rolf (Berlin–Boston 2015) 90–106.



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städtischen Mittelschulen und eine strengere staatliche Kontrolle der Volksschulen an, „beides notorische Pflanzstätten des Irredentismus“; schließlich schlug er „eine gründliche Säuberung des Lehrpersonales von allen unzuverlässigen Elementen“ vor und löste zahlreiche italienische Vereine auf. Conrad präsentierte die Maßnahmen des Statthalters von Triest als Vorbild für zukünftige Maßnahmen in sämtlichen Kronländern, in denen „ähnliche ungünstige, vielfach staatsgefährdende Zustände“ herrschten, also in Böhmen, Dalmatien, Tirol und dem Küstenland. Sein Fazit fiel eindeutig aus: Den Militärbehörden sollte eine zentrale Rolle bei der Festlegung sämtlicher Vorkehrungen zur Kontrolle des öffentlichen Lebens zukommen: Auch wenn sie das Element des Krieges nicht wirklich beträfen, seien sie doch „für die Wehrfähigkeit der Monarchie tatsächlich von größter Bedeutung“101. Es erhielt also jede zivile Angelegenheit indirekt eine militärische Bedeutung, womit der überbordende Einfluss des Heeres auf Regierung und Verwaltung gerechtfertigt wurde. Die negativen Folgen, die das Verhalten des Heeres gegenüber den nationalen Minderheiten mit sich brachte, wurden von Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh klar erkannt. Er verortete beim Heer eine „bedenkliche Tendenz zu falscher Verallgemeinerung“, die, „indem sie weite Kreise der Bevölkerung dem Staate zu entfremden droht“, erhebliche Schäden anrichten könne102. Das Habsburgerreich war dem Druck des Militärs ausgesetzt und schien daher in seinem Verhältnis zu den eigenen Nationalitäten einen Weg eingeschlagen zu haben, auf dem es kein Zurück mehr gab. Um den Bericht des Evidenzbüros des in der Valsugana (Suganertal) stationierten XVII. Korps zu zitieren: „Kein Südtiroler italienischer Zunge soll als absolut vertrauenswürdig gelten“103. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das geäußerte Misstrauen letztlich überhaupt allen österreichischen Italienern entgegengebracht wurde. Für sie wurde es im zivilen wie militärischen Leben immer schwieriger, einen aufrichtigen habsburgischen Patriotismus zu bewahren oder zu entwickeln. Es sah aus, als ob sie durch die täglich erlebte Ablehnung, die ihnen von den Institutionen entgegenschlug, bald nicht mehr empfänglich für jede wie auch immer geartete Identifikation mit dem Kaiserreich sein konnten. Der Kriegseintritt Italiens stellte im Hinblick auf die Bedingungen für Soldaten italienischer Nationalität einen noch deutlicheren Wendepunkt dar. Diese 101 Für den Bericht des Statthalters siehe ÖStA, KA, KM, Präs, 1915, 53–2/14, Nr. 14714, Kt. 1739, Generalstabschef Conrad an Kriegsministerium, 17.7.1915. Siehe auch Stefan Wedrac, Lo scioglimento della Dieta provinciale di Trieste nel 1915, in: La Grande Guerra ai confini 187–203. 102 Zit. in: Überegger, Der andere Krieg 401. 103 ÖStA, KA, KM, Präs, 1916, 53–2/12, Nr. 11617, Kt. 1899, Bericht des Evidenzbüros des 7. Korpskommandos an den Chef des Generalstabes, 9.5.1916. Hier und in weiterer Folge sind die Unterstreichungen dem Original entnommen.

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wurden ohne Unterschied als „politisch unzuverlässig“ eingestuft und unverzüglich von der neuen Südwestfront abgezogen, wo sie gefährlich nah am Heer des Königreiches Italien und noch näher an der italienischsprachigen Bevölkerung gewesen wären, mit der sie sich leicht hätten verbrüdern können und die ihnen auch bei einer Desertion zu Hilfe gekommen wäre. Am 6. August 1915 leitete das Armeeoberkommando die Grundregeln für die Behandlung der Italiener aus dem Trentino und dem Litorale an die Frontkommandos weiter, „um nicht durch das Einsetzen der auf dem südwestlichen Kriegsschauplatz unverlässlichen Leute den Erfolg ganzer Armeekörper und den Ruf altbewährter Truppen zu gefährden“104. Die Anweisungen waren ebenso einfach wie drastisch. An der italienischen Front sollten die Marschkompanien aus „rein deutschen Elementen“ bestehen, obwohl dies letztlich eine Reduzierung der Streitkräfte in ihrer Gesamtheit bedeutete: besser Regimenter, die nur aus zwei Kompanien bestanden, als Regimenter aus drei Kompanien mit „unzuverlässigen Elementen“. Es war sofort klar, dass die Deutschösterreicher allein als Ersatz für die durch den Transfer der Italiener entstandenen Lücken nicht genügen würden, sodass es auch gestattet war, auf slawische Elemente zurückzugreifen105. Alle Italiener mussten an die Nordostfront gebracht, in Kleingruppen unterteilt und dann auf zahlreiche andere Militärformationen aufgeteilt werden – getrennt (tagliati), wie die Soldaten in ihre Tagebücher schrieben. Sie waren besonders aufmerksam zu kontrollieren und bereits in der Vorphase der Ausbildung von den Deutschösterreichern zu trennen. Eine Alternative zu ihrer Versetzung an die Ostfront stellte der Einsatz in Arbeiterabteilungen dar, der allerdings nur an vorderster Front erfolgen konnte, wo sie nicht außer Gefahr waren, streng überwacht und mit großer Härte behandelt wurden106. Zuvor war bereits die Entfernung der Italiener aus den Tiroler Formationen angeordnet worden – sie sollten ohne Waffen, Bajonette und Munition an ihren neuen Bestimmungsort entsandt werden, und zwar in Begleitung von Offizieren und Unteroffizieren, wobei letztere auf keinen Fall italienischsprachig sein durften107. Diese Maßnahmen entsprachen jenen, die auch für die anderen „unzuverlässigen“ Nationalitäten vorgesehen waren, denn diese wurden genauso von 104 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 13725/1915, Kt. 32, Weisungen des Armeeoberkommandos an das Kommando der Südwestfront, 6.8.1915. 105 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 14085/1915, Kt. 33, Kriegsministerium an Kommando der Südwestfront, 13.8.1915. 106 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 13967/1915, Kt. 33, Kommando der Südwestfront an die ihm unterstehenden Kommandos, 9.8.1915. 107 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 13073/1915, Kt. 30, Ministerium für Landesverteidigung an Armeeoberkommando, 18.6.1915. Zur Bildung der Eskorten für die sogenannten Italienerzüge (die Züge, in denen die Italiener transportiert wurden) vgl. auch ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 34554/1916, Kt. 94.



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Fronten abgezogen, an denen sie auf gefährliche Weise mit Feinden in Kontakt kommen konnten, die dieselbe Sprache sprachen. Besonders nach dem Kriegseintritt Italiens war an der Front eine Art Völkerwanderung zu beobachten, im Zuge derer Tschechen, Ruthenen, Serben und Rumänen an die italienische sowie Italiener an die russische und rumänische Front versetzt wurden. Gleichzeitig wurden die Nationalitäten im Heer stark vermischt, um spalterischen Tendenzen entgegenzuwirken108. Tatsächlich war es jedoch in den darauffolgenden Monaten und Jahren nicht möglich, das absolute Einsatzverbot italienischsprachiger Soldaten an der Südwestfront zu respektieren, worauf wiederum verschiedene Kommandos verärgert reagierten und das Armeeoberkommando mehrfach die Einhaltung der erlassenen Weisungen forderte109. Noch im Oktober 1917 beklagte man, dass die Heeresgruppe Conrad sechs Offiziere und 5.441 Soldaten „italienischer Nationalität“ zählte. Weil es mehrfach zu Desertionen gekommen war, betonte man, dass an der italienisch-österreichischen Front nur jene wenigen italienischen Soldaten eingesetzt werden sollten, die als absolut zuverlässig galten; der Rest sollte an anderen Fronten zum Einsatz gelangen110. Die Italiener kamen nicht mehr in die traditionellen Formationen, in denen ihre nationale Zugehörigkeit bislang anerkannt und akzeptiert worden war, sondern „verschwanden“ als Klein- und Kleinstgruppen in anderssprachigen Abteilungen – dort waren sie isoliert, konnten sich nicht verständigen und wurden mit Misstrauen betrachtet. Der prozentuelle Anteil der Italiener in den vier Tiroler Kaiserjäger-Regimentern spricht Bände: Während er zu Kriegsbeginn noch bei etwa 40 % lag, stürzte er im Frühjahr 1918 auf einen Wert zwischen 0 % im 4. und 6 % im 2. Regiment ab, während er in den drei Kaiserschützen-Regimentern zwischen 3 % und 4 % schwankte111. Nach Mai 1915 wurden die Tiroler Gebirgsinfanterien an den neuen Kriegsschauplatz im Süden geschickt, allerdings ohne die italienischen Soldaten, die an der Ostfront blieben, wohin auch die später Eingezogenen entsandt wurden112. Der Großteil der Trentiner wurde acht neuen Formationen, den sogenannten Südwestbataillonen, zugeteilt, die allerdings besser unter dem Namen Italienerbataillone bekannt waren. Sie wurden ausschließlich für Patrouillientätigkeiten im Etappengebiet eingesetzt und als PU-Einhei108 Schmitz, „Als ob die Welt“ 86–87; Richard G. Plaschka, Horst Haselsteiner, Arnold Suppan, Innere Front. Militärassistenz, Widerstand und Umsturz in der Donaumonarchie 1918 I, Zwischen Streik und Meuterei (Wien 1974) 35–37. 109 Siehe etwa ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 46428/1917, Kt. 136. 110 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 45919/1917, Kt. 135, Armeeoberkommando an Conrad, 8.10.1917. 111 Plaschka, Haselsteiner, Suppan, Innere Front II: Umsturz 341, 347. 112 Ongari, La guerra in Galizia 78.

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ten klassifiziert – die Abkürzung „PU“ steht für politische Unzuverlässigkeit und spricht Bände darüber, wie viel Beachtung ihnen geschenkt wurde113. Bei den italienischen Infanteristen aus dem Küstenland war die Zerstreuung nicht so groß, wenn der Italieneranteil im 5. Landwehr-Regiment im Mai 1918 tatsächlich noch 61 % betrug; im 97. Infanterieregiment des gemeinsamen Heeres lag er bei etwa 20 %. Viele Julier landeten allerdings in zahlreichen anderen, üblicherweise nicht italienischen Einheiten, in denen sie zahlenmäßig stark in der Minderheit waren. Im Allgemeinen wurden die Deutschtiroler sowie die slowenisch- und kroatischsprachigen Bewohner des Küstenlandes nach der Öffnung der italienischen Front dorthin entsandt, um ihre Heimatregionen gegen die Gefahr einer Invasion durch den ehemaligen Verbündeten zu verteidigen, die einen an der Gebirgsfront, die anderen an der Karst- beziehungsweise Isonzofront. Die italienischsprachigen Soldaten dagegen verblieben in weiter Ferne an der Ostfront, neu eingeteilt in Zusatzbataillons. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Russland Ende 1917 und dem darauffolgenden Frieden von Brest-Litowsk besetzten Österreich-Ungarn und Deutschland als Sieger an der Ostfront ein sehr weites russisches Gebiet. Viele der dort eingesetzten Truppen wurden an andere Kriegsschauplätze abgezogen, während die meisten italienischsprachigen Kontingente blieben und die sehr großen Besatzungsgebiete kontrollierten114. Nach den enormen Verlusten wurde es im letzten Kriegsjahr für das kaiserliche Heer immer schwieriger, die Nationalitätenpolitik in den verschiedenen Militärformationen konsequent umzusetzen. Die Ablösung erfolgte ausschließlich auf Basis unmittelbarer Anforderungen unter Einsatz der verfügbaren Männer – auf ihre Sprache oder Herkunft wurde kaum geachtet115. In den Aufzeichnungen der Soldaten finden sich viele Hinweise auf die Verschlechterung ihrer Situation nach dem 24. Mai 1915. Mario Raffaelli, ein Maurer aus Volano bei Rovereto, betrachtete den Kriegseintritt Italiens in seinen Memoiren als „großes Hindernis“. „Italien war unser Ruin, wir wurden misshandelt wie Tiere“ – diese Beschreibung bringt die neue Situation recht treffend auf den Punkt116. Noch deutlicher wird Alfonso Tomasi, der betonte, die seit jeher diskriminierende Behandlung habe sich noch weiter verschlechtert: „Die Österreicher haben uns immer mit Verachtung behandelt, doch da wirkte es wie rasender Hass. 113 Sondhaus, In the Service 109; Gaetano Bazzani, Soldati italiani nella Russia in fiamme 1915– 1920 (Trient 1933) 37–38. 114 Chersovani, Esercito austro-ungarico 250; Ongari, La guerra in Galizia 26–29. 115 Sondhaus, In the Service 109–110. Zum Teil abweichende Prozentangaben zur Präsenz italienischsprachiger Soldaten aus dem Litorale finden sich in: Roberto Todero, I fanti del Litorale austriaco al fronte orientale 1914–1918 (Udine 2014) 18–20. 116 Mario Raffaelli 157–201, hier 192 und 194.



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Abb. 9: Krankenzimmer im Spital in Tarnow, Galizien, Mai 1915 (Deutscher Orden, St. Leonhard in Passeier [BZ], Sammlung Karl Gögele).

Und warum?! Italien hatte Österreich den Krieg erklärt, und ,wir waren daran schuld!‘ ,Pfui‘ war das Wort, mit dem wir am häufigsten beschimpft wurden, und es bedeutet Dreck, Spucke … Aas117 [Anm. d. Ü.: wobei das im italienischen Original verwendete „schiffo“ bzw. „schifo“ auch wie „pfui“ als Ausruf verwendet werden kann].“ Bezeichnend auch die Schilderung Eutimio Gutterers, der genau zum Zeitpunkt des italienischen Kriegseintritts an der galizischen Front verwundet wurde. Ende Mai 1915 lag er in einem Wiener Krankenhaus, wo er von einer Ordensschwester beschimpft wurde. Der von ihr genannte Grund war schlicht, aber nicht minder bitter für einen Soldaten, der nur seine Pflicht getan hatte: „Die Italiener haben sich gegen uns erhoben, also seid ihr verflucht!“ Gutterer kommentierte dazu: „Ich lachte darüber, wie diese Ordensfrau, die ein Kreuz um den Hals trug, das größer als ihre Brust war, solche Worte an einen müden, hungrigen und verwundeten Menschen richten konnte!“118 Auf den ersten Seiten seiner autobiografischen Aufzeichnungen schildert Giu­ seppe Masera, ein Bauer aus Besenello, die Ereignisse in einem der vielen Italienerzüge, die nach dem Kriegseintritt Italiens an die Ostfront fuhren. Masera war 117 Wiedergegeben in: Mazzini, „Cose de laltro mondo“ 198, Anmerkung 130. 118 Francescotti, Eutimio Gutterer 37.

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im Juli 1915 an der italienischen Front verwundet und nach einigen Monaten Krankenhaus und Genesung nach Osten versetzt worden. Schon auf der Reise kam es zu Schikanen der Offiziere. Die italienischsprachigen Soldaten wurden vom Oberleutnant als „Schweine oder Getier“ bezeichnet, als „widerspenstige und undisziplinierte Menschen“ betrachtet und von anderen bewaffneten Soldaten streng bewacht – diese bezeichnete Masera ironischerweise als „Schutzengel mit dem Bajonett“119. Die Erfahrung der Versetzung von der italienischen Front wurde als Erniedrigung angesehen, die sich nicht nur auf die Moral der betroffenen Soldaten auswirken sollte, sondern auch auf die Stimmung an der inneren Front. Die Landbevölkerung, die auch für die österreichischen Behörden noch als relativ kaisertreu galt, war angesichts dieser Nachrichten betroffen, verletzt darüber, dass ihre Männer alle ohne Unterschied als Verräter betrachtet wurden120. Da die italienischsprachigen Soldaten in kleine Gruppen ein- und dann auf viele verschiedene Regimenter aufgeteilt wurden, stieg das Gefühl der Isolation, Trennung und Überwachung. In den Tagebüchern finden sich häufig Hinweise auf diese steigende Vereinsamung und die daraus resultierende Belastung, nachdem nun zur schlechten Behandlung und der offensichtlichen Verachtung noch die Tatsache hinzukam, dass man sich mit niemandem mehr Tag für Tag in der Muttersprache austauschen konnte. So entstanden Bedingungen, die für das psychische und moralische Durchhaltevermögen der Soldaten weniger förderlich waren, konnten sie sich doch keinerlei Raum für soziale Kontakte schaffen und auch keinerlei Verbindung zu ihren Kameraden aufbauen, was allerdings notwendig war, um ein gutes Verhalten des Einzelnen und der Einheiten im Kampf zu gewährleisten. Angelo Raffaelli fand sich nun in einer solchen Lage wieder – allein in einem Militärspital im ungarischen Sopron (Ödenburg). Dort war nach einer schrecklichen Erfahrung an der Front „alles gut mit dem Essen und mit dem Schlaf, aber das Problem war, dass alles Deutsche und Magyaren waren [und] ich nicht [d. h. mit niemandem, Anm. d. Ü.] sprechen konnte, und sie hassten mich – wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mich umgebracht, aber ich betete zum Herrn“121. Zur Einsamkeit kamen noch die Schikanen hinzu. Am 6. August 1915 berichtete Ezechiele Marzari von einem stundenlangen Marsch, der Rast und der nach119 Giuseppe Masera, in: Riccardo Malesardi 31–125, hier 35f. 120 Siehe etwa den Brief der Bezirkshauptmannschaft Trient an die Statthalterei Tirol, 30.7.1918, zit. in: Pircher, Militär 141. 121 Angelo Raffaelli, in: Giovanni Bona, Bortolo Busolli, Antonio Giovanazzi, Angelo Raffaelli, Isidoro Simonetti, Angelo Zeni, hrsg. von Quinto Antonelli, Giorgia Pontalti (Trient–Rove­ reto 1997) 129–156, hier 155f.



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folgenden Teilung des Bataillons: „Die eine Hälfte ruhte sich aus, und wir Armen, die wir die andere Sprache sprachen, gehen zum Schützengraben weiter“122. Viele Soldaten schildern, dass die Italiener die schwersten und gefährlichsten Aufgaben erhielten, bei jeder Witterung und jeder Gefahrenlage arbeiten mussten, für jede kleinste Verfehlung bestraft und bei der Gewährung von Urlaub diskriminiert wurden. „Aber das ist gar nichts. Beschimpfungen – Beleidigungen – Respektlosigkeit – und sonstiges Unrecht zeigen, dass es reiner (bedauerlicher) Nationenhass ist“, so Giovanni Bona123. Auch Emilio Fusari erlebte in einem Krankenhaus in der Nähe von Wien die Feindseligkeit von Ordensschwestern, „die uns Italiener bis auf das Äußerste hasste[n]. […Ich erlebte eine unbeschreibliche Parteilichkeit zwischen uns und den Deutschen, es ging sogar bis zu beleidigenden Worten, nachdem ich mein Blut für sie vergossen hatte, diese dummen, verrohten, blöden Verbrecher von Deutschen, und da ich mich wegen meiner Sprache nicht gut verständlich machen konnte, musste ich alles schlucken – wie das Meer, das alles verschlingt und immer schweigt!124“ Wenn wir nun nach den Schilderungen der Einzelnen auf die Berichte der – italienischen und österreichischen – Militärinstitutionen übergehen, bestätigt sich das Bild voll und ganz. In einem streng vertraulichen Bericht der Informationsabteilung der italienischen Marine ist von einer „äußerst harten, bitteren“ Situation der Soldaten italienischer Nationalität im österreichisch-ungarischen Heer die Rede, „die grausamen Behandlungen ausgesetzt sind“. Man wusste genau über die gängige Praxis Bescheid, sie in Kleingruppen auf andere Formationen aufzuteilen und sie nur in der Erstausbildungsphase nicht zu trennen, ebenso über die Verschlechterung der Bedingungen für all diese „Bedauernswerten“ nach dem Kriegseintritt Italiens125. Die diskriminierende Behandlung wurde von den Friauler und Trentiner Abgeordneten sowohl in Briefen an die Zentralbehörden als auch – nach der Wiedereröffnung des Wiener Parlaments im Frühjahr 1917 – in öffentlichen Ansprachen kritisiert. Die Katholiken versuchten ihre eigene Habsburgertreue geltend zu machen, was ihnen heftige Vorwürfe der Liberalen und Nationalisten einbrachte, die sie der Österreichfreundlichkeit bezichtigten. Im Februar 1916 wandte sich der Friauler Giuseppe Bugatto an das Kriegsministerium in Wien und forderte die Verantwortlichen auf, gegen die ungerechte Behandlung der 122 Ezechiele Marzari 25. 123 Giovanni Bona, in: Giovanni Bona 11–67, hier 32. 124 Emilio Fusari, in: Emilio Fusari, Giacinto Giacomolli, Fioravante Gottardi, hrsg. von Quinto Antonelli (Trient–Rovereto 1995) 9–113, hier 95. 125 USMMI, RB, b. 600, fasc. Prigionieri di guerra 1916, Bericht des Informationsreferates der Generalstabsabteilung der Marine, 6.11.1916.

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Italiener im Heer vorzugehen. Dabei zitierte er den Text eines sehr engagierten Briefes, den ein Friauler Soldat in deutscher Sprache verfasst hatte. Dieser war für eine Kriegshandlung gegen die Italiener ausgezeichnet worden und beklagte das mangelnde Vertrauen, die ständigen Versetzungen von der Front und den Hass auf Italien, der sich sinnloserweise auch gegen alle richtete, die Italienisch sprachen126. Dasselbe tat im Oktober 1917 auch der Landeshauptmann der Grafschaft Görz, Luigi Faidutti, in einem an den Ministerpräsidenten gerichteten Brief, der ebenfalls kein konkretes Ergebnis bringen sollte127. Schließlich kritisierte noch der Trentiner Conci in einer sehr engagierten Parlamentsrede vom 17. Juli 1918 die Schikanen128 – für die Wiederherstellung eines Vertrauensverhältnisses hatte sich die Situation allerdings bereits zu sehr zugespitzt. Entwicklung und Niedergang eines Conci und mit ihm der Trentiner Katholiken (Volkspartei) sind in diesem Zusammenhang bezeichnend: Zu Beginn des Krieges hielten sie an ihrer Habsburgtreue fest und waren absolut gegen einen möglichen Souveränitätswechsel im Trentino. In der letzten Kriegsphase kam es dann aber zu einem schmerzlichen Bruch der Trentiner mit der katholischen Führungsriege in Görz, die sich noch mit dem Habsburgerstaat identifizierte129. Concis Konfinierung und die Verfolgung anderer Politiker aus dem Trentino zeigten dieselbe Wirkung wie die Strafaktionen gegen Soldaten und Zivilisten: Sie ließen eine immer tiefere Kluft zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und den Institutionen der Habsburgermonarchie entstehen. 5. Ein Heer von Deserteuren? Nach dem Krieg und der Auflösung der Habsburgermonarchie versuchte Österreich die soeben zu Ende gegangene Tragödie, die Niederlage und ihre Ursachen, zu analysieren. Aus der Bevölkerung wurde immer mehr Kritik an der Kriegsführung und der „Kaste“ der Offiziere laut: Dieser wurde brutales und unmenschliches Verhalten vorgeworfen, und viele machten sie für die Katastrophe verantwortlich. Das Offizierskorps reagierte auf die Vorwürfe und den starken Verlust an gesellschaftlichem Prestige, indem es den öffentlichen Diskurs über den Krieg durch die Veröffentlichung zahlreicher Kriegsmemoiren und militärhistorischer 126 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 22216/1916, Kt. 57, Faidutti an Kriegsministerium, Wien, 24.2.1916. Zur Person Faiduttis vgl. Paolo Caucig, Attività sociale e politica di Luigi Faidutti (1861–1931) (Udine 1977). 127 Vgl. ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 46145/1917, Kt. 135. 128 Ara, Gli austro-italiani 395. 129 Luigi Tavano, La diocesi di Gorizia 1750–1947 (Mariano del Friuli [GO] 2004) 177–186; I cattolici isontini nel XX secolo I, Dalla fine dell’800 al 1918 (Gorizia 1981).



5. Ein Heer von Deserteuren? 

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Schriften monopolisierte, die den Rahmen für spätere Schilderungen des Ersten Weltkrieges darstellen sollten, zum Teil auch im Bereich der Geschichtsschreibung. Die sogenannte „Offiziersgeschichtsschreibung“130 schuf eine Reihe dauerhafter und allgegenwärtiger Mythen, die größtenteils als Rechtfertigung dienten. Im Mittelpunkt stand die Dolchstoßlegende, die besagte, das „im Felde unbesiegte“ Heer habe einen Dolchstoß von hinten erhalten. Die Grundfesten des Kaiserreiches seien auf das Sträflichste von Daheimgebliebenen, Drückebergern, Umstürzlern und besonders nationalen Agitatoren untergraben worden. Das Heer und seine Spitzen seien weniger vom äußeren Feind besiegt, sondern vielmehr vom inneren Feind verraten worden. Die größtenteils deutschsprachigen Offiziere seien die Speerspitze des Reiches gewesen und hätten im Krieg ein Heer einsetzen müssen, das durch nationale Konflikte in seinem Innersten erschüttert gewesen sei. Durch eine solche Interpretation konnten das Heer und seine Spitzen jede Verantwortung für die Niederlage von sich weisen und voll und ganz an den Standpunkt anknüpfen, den das Armeeoberkommando während des Krieges vertreten hatte. So kam einer der „Offiziershistoriker“ 1920 zu dem Schluss, dass im Krieg nur die Deutschen, „die einzig verlässliche Stütze des Staates und des Heeres“, auf sich selbst gestellt waren131. Die Siege wurden den Deutschen zugeschrieben, die Niederlagen allen anderen. Die zeitgenössische Interpretation der Behörden und die in den Jahrzehnten darauf erfolgte Rekonstruktion in der Kriegsmemoiren-Geschichtsschreibung stimmten letztendlich überein, und die „untreuen“ Nationalitäten landeten auf der Anklagebank – es hieß, sie hätten wenig Opferbereitschaft gezeigt und sich 130 Peter Melichar, Die Kämpfe merkwürdig Untoter. K. u. k. Offiziere in der Ersten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1998) 51–84; Oswald Überegger, Vom militärischen Paradigma zur „Kulturgeschichte des Krieges“? Entwicklungslinien der österreichischen Weltkriegsgeschichtsschreibung zwischen politisch-militärischer Instrumentalisierung und universitärer Verwissenschaftlichung, in: Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven, hrsg. von Oswald Überegger (Innsbruck 2004) 63–122, hier 83–92. 131 Alfred Krauss, Die Ursachen unserer Niederlage. Erinnerungen und Urteile aus dem Weltkriege (München 1920) 73, zit. von Oswald Überegger, Politik, Nation und Desertion. Zur Relevanz politisch-nationaler und ideologischer Verweigerungsmotive für die Desertion österreichisch-ungarischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Deserteure, hrsg. von Maria Fritsche, Christa Hämmerle, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/2 (2008) 109–119, hier 113. Zu den Deutschen im Vergleich zu allen anderen Nationalitäten vgl. Christa Hämmerle, „Es ist immer der Mann, der den Kampf entscheidet, und nicht die Waffe …“. Die Männlichkeit des k. u. k. Gebirgskriegers in der soldatischen Erinnerungskultur, in: Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung / La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria, hrsg. von Hermann J. W. Kuprian, Oswald Überegger (Innsbruck 2006) 35–59, hier 49f.

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ihren Pflichten entzogen. Ein Beweis dafür seien die vielen Desertionen, die in dieser Interpretation primär nationalpolitisch motiviert sind. Besonders Tschechen, Italiener, Rumänen und Ruthenen hätten sich freiwillig und in Massen dem Feind ausgeliefert, um sich der Hoheit des Kaiserreiches zu entziehen, dessen Auflösung zugunsten der Gründung oder Erweiterung der jeweiligen Nationalstaaten sie herbeigesehnt hätten. Noch vor wenigen Jahrzehnten spielte in der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg die nationale Motivation der Desertionen nach wie vor eine sehr wichtige Rolle. Man ließ sich von tendenziösen Quellen beeinflussen und übernahm die gebetsmühlenartig wiederholten Beurteilungen, die von den Militärbehörden in ihren Berichten dargelegt wurden, Wort für Wort. In den jüngsten Studien wurde den politischen Gründen allerdings wesentlich weniger Bedeutung beigemessen, womit die Sackgasse einer einseitigen Erklärung überwunden war und eine Reihe verschiedener Faktoren als ursächlich herangezogen wurden – diese waren primär individueller Natur und standen eng mit dem erschütternden Kriegserlebnis in Verbindung, dem es unbedingt zu entkommen galt132. Schreckliche Angst vor der Front, Überlebensinstinkt, der Gedanke an die Familie, nichtvorhandene Identifikation mit den Kriegsgründen sowie Übergriffe durch Vorgesetzte waren die wichtigsten Gründe, von denen die für die Frage der nationalen Identität nicht besonders empfänglichen Bauernsoldaten in die Flucht getrieben wurden. Nicht selten wurden auch ganz andere Fälle, die absolut nichts mit einer freiwilligen und schuldhaften Auslieferung an den Feind zu tun hatten, vorschnell als Desertionen eingestuft. Im Bewegungskrieg an der Ostfront mit seinen schnellen Vorstößen und überstürzten Rückzügen fanden sich einzelne Soldaten, aber auch ganze Abteilungen plötzlich allein jenseits der feindlichen Linien wieder, sodass ihnen nur die Kapitulation und in weiterer Folge die Gefangenschaft blieb. Es wurde bereits erwähnt, dass die Gefangenenzahlen in den ersten Kriegsmonaten sehr hoch und eben auf den besonderen Charakter des Krieges an der russischen Front zurückzuführen waren. Auf dieses erste, riesige Kontingent an Kriegsgefangenen sollten noch weitere folgen. Im März 1915 wurden nach monatelanger Belagerung die Festung Przemyśl erobert, worauf 120.000 österreichisch-ungarische Soldaten gefangengenommen wurden133. Nach der langen Ruhephase, die auf die Schlacht von Gorlice und Tarnów folgte, startete der rus132 Zu Italien siehe Bruna Bianchi, La follia e la fuga. Nevrosi di guerra, diserzioni e disobbedienza nell’esercito italiano (1915–1918) (Rom 2001); zu Deutschland und Großbritannien siehe Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914–1918 (Göttingen 1998); Benjamin Ziemann, Fahnenflucht im deutschen Heer 1914–1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 55/1 (1996) 93–130. 133 Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg 317.



5. Ein Heer von Deserteuren? 

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Abb. 10: Schützengraben in Galizien (Museo storico italiano della guerra, Rovereto, Fondo Luigi Maturi).

sische General Alexej Brussilow im Juni 1916 eine Offensive im mittleren und südlichen Sektor der Front, um Gebiete in der Bukowina sowie in Galizien und Wolhynien zurückzuerobern. Die Russen nutzten die Rückversetzung diverser österreichischer Divisionen an die italienische Front aus, durchbrachen die feindlichen Linien, worauf der Feind etwa hundert Kilometer nach Westen zurückweichen musste, und nahmen etwa 400.000 Mann gefangen, darunter sehr viele Italiener134. Insgesamt wird die Zahl der an allen Fronten gefangengenommenen Männer auf etwa 8,5 Millionen geschätzt. Davon stammten etwa sechs Millionen von der Ostfront, von diesen wiederum kamen die meisten aus dem russischen und dem österreichisch-ungarischen Heer. Enorme Zahlen auf beiden Seiten, die mehr auf das spezielle Kriegsumfeld an der Ostfront und weniger auf Desertionen zurückzuführen sind135. 134 Keegan, Der Erste Weltkrieg 421–425. 135 Reinhard Nachtigal, Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914–1918 (Frankfurt 2005) 13–16;

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Für die Militärbehörden waren die tschechischen Soldaten am wenigsten vertrauenswürdig – sie galten als Sympathisanten der Russen (im Namen der slawischen Bruderschaft sowie des Strebens nach einem unabhängigen Staat). Für jede schwierige Situation im Krieg, an der sie beteiligt waren, gab man ihnen die Schuld. Besonders bekannt wurde der Fall des 28. und 36. Infanterieregiments des gemeinsamen Heeres, die nach monatelangem gutem Verhalten an der Front im Frühjahr 1915 von den Russen zerschlagen wurden. In beiden Fällen war die Niederlage auf die Überlegenheit des Feindes, die fehlende Kompetenz der Offiziere und den Einsatz von rasch ausgebildeten Reservisten an der Front zurückzuführen – da die Regimenter allerdings fast ausschließlich aus Tschechen bestanden, sprach das Armeeoberkommando von Massendesertionen136. Der Mythos verbreitete sich bereits während des Krieges und wurde in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten perpetuiert, auch von der Geschichtsschreibung. Befeuert wurde er auch durch die tschechischen Nationalisten im Exil, die den Ententemächten die angeblichen Desertionsfälle als Massenaufstand eines nach Unabhängigkeit strebenden Volkes gegen die Habsburgermonarchie präsentierten137. Die Darstellung des österreichisch-ungarischen Heeres als im Zuge der nationalen Spannungen zerfallende Einheit wurde in der österreichisch-deutschen Auslegung, die den Verrat der anderen anprangerte und das eigene Heldentum hochlobte, gleichsam Mittel zum Zweck, ebenso in jener der Nationalisten der verschiedenen Minderheiten, von denen das Bild des Soldaten als Deserteur zu einem der Gründungsmythen der nach dem Krieg entstandenen Nationalstaaten gemacht wurde138. Die Situation der Italiener ähnelte hier jener der Tschechen. Auch ihnen wurde sofort das Stigma der Feigheit, der Unzuverlässigkeit und der Neigung zum Verrat aufgedrückt – dieses beruhte weniger auf realen Daten und ihrem tat-

Heather Jones, A Missing Paradigm? Military Captivity and the Prisoner of War, 1914–18, in: Captivity, Forced Labour and Forced Migration in Europe during the First World War, hrsg. von Matthew Stibbe (New York 2009) 19–48. 136 Richard G. Plaschka, Zur Vorgeschichte des Überganges von Einheiten des Infanterieregiments Nr. 28 an der russischen Front 1915, in: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag (Graz 1965) 455–464. 137 Lein, Pflichterfüllung; Christian Reiter, Der Fall des k. u. k. Infanterieregiments 36. Zur Desertionsproblematik der Tschechen an der Ostfront in den Kriegsjahren 1914/15, Dissertation (Universität Wien 2012). 138 Zur Thematik der österreichischen Serben, die freiwillig im serbischen Heer kämpften, und deren Mythologisierung im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit siehe Ivo Banac, South Slav Prisoners of War in Revolutionary Russia, in: Essays on World War I: Origins and Prisoners of War, hrsg. von Samuel R. Williamson, Peter Pastor (New York 1983) 121–148.



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sächlichen Verhalten, sondern vielmehr auf uralten Zweifeln und festgefahrenen Vorurteilen über die Unzuverlässigkeit und Faulheit der Südländer139. Alles, was viele Vertreter der kaiserlichen Behörden mit einem Stigma behafteten, wurde wiederum von den italienischen Nationalisten während des Krieges und nach dem Krieg hochgelobt. Sie waren der Ansicht, die österreichischen Italiener seien gezwungen worden, im Krieg für die Habsburgermonarchie zu kämpfen, was ihrem ausgeprägten Nationalgefühl widerstrebt und dann oft Fluchtversuche ausgelöst habe. So hätten sie versucht, dem Joch des Unterdrückers zu entkommen und sich mit dem Mutterland zu vereinen. Laut Annibale Moli­ gnoni, der von den Russen gefangengenommen worden war und die italienische Gesinnung äußerst engagiert unter seinen Mitgefangenen verbreitete, hatten die Trentiner bei der Einberufung geweint, „und sie weinten umso mehr, als der Krieg, in den sie gerufen wurden, nicht ihr Krieg war. Welch grausame moralische Last für ein Volk, das aufgrund der Laune eines anderen in der Fremde kämpfen muss – gegen seine eigenen Interessen!140“ Das blieb natürlich nicht ohne Folgen: „Die überwiegende Mehrheit der irredenti […], die gegen ihren Willen die graue österreichische Uniform tragen mussten, kämpfte gewiss nicht leidenschaftlich für Österreich – die meisten warteten vielmehr auf die geeignete Gelegenheit und den richtigen Moment, um sich den Russen auszuliefern“141. Virginio Gayda, während des Krieges Russland-Korrespondent der italienischen Tageszeitung „La Stampa“, sollte sich in den 1930er Jahren folgendermaßen über die Italiener äußern: „Sie desertierten aus den österreichischen Stellungen, solange es möglich war – nicht aus Feigheit, sondern aus Treue zur Sache Italiens und der Alliierten [der Ententemächte, Anm. d. Ü.]“, womit ihnen laut Gayda das Verdienst zukam, „auch im Krieg als erste den Prozess der Auflösung Österreichs“ eingeleitet zu haben142. Zu diesen patriotischen Mythen kam bald auch der Ruf des 139 In seinen Memoiren aus dem Jahr 1955 kommentiert der ehemalige Offizier Artur Brosch die Zusammensetzung des 97. Infanterieregimentes folgendermaßen: „Ergänzungsbezirk für das Reg[i] m[e]nt war die Stadt Triest mit Gebiet und Istrien. […] Das Menschenmaterial je zur Hälfte Italiener und Slovenen (Cicen) vom Karst war wie alle Südländer mit wenig soldatischen Eigenschaften geboren, schwer disziplinarbar und dem ‚dolce farniente‘ zugeneigt.“ ÖStA, KA, MS, Manuskripte über die Truppenkörper, Tg 32, Zur Geschichte des IR 97. 140 Annibale Molignoni, Trentini prigionieri in Russia. Agosto 1914–settembre 1916 (Turin 1920) 12. 141 Ebd. 15. 142 Virginio Gayda, Prefazione, in: Bazzani, Soldati italiani 7. Noch 1960 behauptete ein anonymer Herausgeber in der Einleitung zu einem damals veröffentlichten Kriegstagebuch eines Trentiner Soldaten, der im österreichisch-ungarischen Heer gekämpft hatte, dass die Trentiner in Galizien an nichts anderes gedacht hatten, als sich dem Feind als Gefangene auszuliefern. (Ermete Bonapace, Un diario di un irredento trentino nell’esercito austriaco e prigioniero in Russia. 1914–1916, in: Bollettino del Museo trentino del Risorgimento 11/4 [1960] 14–26; 12/1–2, 3 und 4 [1961] 4–14, 11–24, 8–26, hier 11/4 [1960] 14).

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97. Infanterieregiments hinzu, das größtenteils aus Juliern und Friaulern bestand und nach dem Krieg auf demoghéla umgetauft wurde, was dem Italienischen battiamocela (Lasst uns kneifen / Reißaus nehmen!) entspricht und demnach dessen mutmaßliche Tendenz zur „patriotischen“ Desertion betonen sollte143. Die Geschichte dieser Formation wurde auf engagierte Weise neu interpretiert, und zwar ausschließlich durch die irredentistische Brille. Über die ebenfalls belegten Ruhmestaten und die Umstände, die zur Gefangennahme zahlreicher Soldaten geführt hatten, wurde hinweggesehen – dazu kam es während und nach verheerenden Militäroperationen, die auf die Unfähigkeit und mangelnde Organisation der Kommandos zurückzuführen waren144. In diesen Darstellungen der Desertion als national motivierte Handlung wird das mit einem solchen Schritt verbundene Risiko bewusst verschwiegen. Es war kein leichtes Unterfangen, sich dem Feind auszuliefern, und auch nicht ungefährlich. Wenn Kameraden oder Vorgesetzte die Absichten des potenziellen Deserteurs ahnten, hatte das äußerst schlimme Konsequenzen. Aber auch der Feind war all jenen, die sich ihm auslieferten, nicht immer wohlgesinnt. In zahlreichen Erzählungen wird von italienischen Deserteuren berichtet, die von den Russen mit zärtlichen Gesten, Umarmungen und Zigarettengeschenken empfangen wurden145. In anderen Fällen jedoch endete der Versuch, sich den Russen auszuliefern, indem man das Gewehr losließ und mit erhobenen Händen auf den Feind zulief, nicht so glücklich, sondern mit der sofortigen Tötung des Deserteurs146. Das Bild, das die Soldaten von den Russen und besonders den Kosaken hatten – brutal und unmenschlich – war nicht hilfreich. Eine derartige Beschreibung in der österreichischen Kriegspropaganda lud sicherlich nicht zur Kapitulation ein147. Natürlich gab es bei den Italienern wie bei den anderen nationalen Gruppierungen auch Fälle überzeugter und bewusster, nationalpolitisch motivierter Desertion. „Ich bin fertig mit Österreich“, notiert Giuseppe Passerini trocken in seinem Tagebucheintrag vom 15. Juni 1916, jenem Tag, an dem er bei einem Gefecht, statt sich mit seinen Kameraden zurückzuziehen, in einem Schützen143 Lucio Fabi, “Che guerra è questa?”. In trincea sul fronte orientale con i diari e le memorie dei soldati austro-ungarici di lingua italiana, in: Sui campi di Galizia 269–282, hier 271f. 144 Todero, I fanti del Litorale; Rossi, Ranchi, Lontano da dove 111f. 145 Marina Rossi, Nei diari inediti di un maestro di Fiumicello riaffiora la tragedia degli internati italiani a Kirsanov: le “cronache” di Domenico Rizzati (20 ottobre 1914–16 novembre 1916), in: Lontano dalla patria 7–32; Fioravante Gottardi, in: Emilio Fusari 133–219; Giuseppe De Manincor, Dalla Galizia al Piave (Trient 1926) 55f. 146 Quinto Antonelli, Storia intima della Grande Guerra. Lettere, diari e memorie dei soldati dal fronte (Rom 2014) 67. 147 Bonapace, Un diario; Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front (Oxford–New York 2002) 46.



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graben verblieb, um auf die Russen zu warten und sich auszuliefern. „Fertig mit Österreich“ kam dem ersten Schritt eines freiwilligen und aufrichtigen Weges nach Italien gleich, der während Passerinis Gefangenschaft in Russland konkrete Gestalt annehmen sollte148. Es gab auch Soldaten, die sich schon bei der Abreise vorgenommen hatten, Kriegsflucht zu begehen – so auch der Triestiner Eugenio Laurencich, ein Katholik und Kriegsgegner. Er brach im Jänner 1915 vom Bahnhof Laibach (Ljubljana) in die Karpaten auf und teilte seinen Bekannten mit, „dass ich nicht das Zeug zum Krieger habe – bei erster Gelegenheit wird es heißen: ‚demoghella‘ [kneifen, Reißaus nehmen, vgl. oben, Anm. d. Ü.]“. Er ließ sich auch von seiner Frau und seiner Schwester all ihr Geld geben, das er, wie er erörterte, im Falle einer Desertion brauchen würde. Am dritten Tag an der Kampflinie nutze er eine Erkundungsaktion, um sich gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Kameraden den Russen auszuliefern149. Seine Entscheidung war noch vor der Erfahrung an der Front getroffen worden, aber noch öfter kam es dazu, weil die Männer die traumatische Erfahrung des Technologiekrieges gemacht hatten oder sich einer extremen Gefahr und Qualen entziehen mussten, deren Gründe sie nicht verstanden oder nicht akzeptierten. Ein meist unpolitischer Schritt, persönlichen Beweggründen oder den unerträglichen Lebensbedingungen geschuldet. Alfonso Cazzolli fasste bereits in der ersten Nacht den Vorsatz, als er unter ständigem, abschreckendem feindlichen Beschuss im Schützengraben an Selbstmord dachte. Doch dann, „beim Gedanken an meine Lieben, warf ich mich auf die Knie und vergoss, die Hände im Haar vergraben, eine Flut von Tränen, danach war ich müde und bedrückt, meine Augen schlossen sich wie in einer Ohnmacht, und ich verlor für einige Minuten das Bewusstsein“150. Auch die ungerechtfertigten Misshandlungen durch die Vorgesetzten trugen dazu bei, dass sich Soldaten in ihrer Gesinnung von Heer und Kaiserreich distanzierten und sich letztlich vielleicht auch zu einer Desertion entschlossen. Bei vielen lösten sie sofort eine deutschfeindliche Haltung und „Rücknationalisierung“ aus, die man später als reinen und ursprünglichen Irredentismus auszulegen versuchte. Aus einem ähnlichen Empfinden heraus begrüßte der Trentiner Augusto Gaddo die italienischen Flugzeuge auf Erkundung an der Karstfront wie Brüder und schrieb: „Unser Hass war gegen die Deutschen gerichtet, kommt nur an die erste Linie, denn es werden euch nicht die Italiener beseitigen, sondern wir, Mistkerle“151. Eine ähnliche Reaktion zeigte unter völlig anderen Umständen auch 148 Antonelli, I dimenticati 131f. 149 Rossi, Ranchi, Lontano da dove 114. 150 Zit. in: Quinto Antonelli, Chi siamo noi? Autoritratti di combattenti trentini nella Grande Guerra, in: Trento e Trieste. Percorsi 377–394, hier 388. 151 Antonelli, I dimenticati 141.

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Adelia Parisi Bruseghini, eine Trentiner Arbeiterin, die nach Innsbruck evakuiert worden war, wo sie sich mit Vorurteilen gegen Italiener konfrontiert sah und einen Kampf mit den Institutionen führen musste, um ihre sechs Kinder über die Runden zu bringen: Ich verstehe, sie wollen Krieg mit mir, diese gemeinen Kerle, aber ich werde kämpfen, ja, mit aller Kraft! Bei diesen Menschen ohne Herz, ohne Seele und ohne Gott verstehe ich jetzt, dass ich mit sechs Kindern mehr zu kämpfen habe als die auf dem Schlachtfeld. Ha! Wir sind die Welschen152. Ich bin eine Lügnerin, eine Diebin, Dreckskerle, für wen haben die mich bloß gehalten? … Ja, ich stehe meinen Kindern bei, kommt nur näher, ihr werdet keine Frau vorfinden, sondern eine Tigerin, wir sind Welsche, wir können nicht sprechen, aber ich zeige euch die Zähne153!

Ob an der Front, als Flüchtlinge oder Vertriebene, die schmerzhafte Erfahrung der Diskriminierung ließ das Gefühl des Andersseins und die Distanz zu den Institutionen und ihren Vertretern immer größer werden und nährte den Stolz der österreichischen Italiener. Es handelte sich allerdings weniger um die Entstehung eines neuen, gefestigten und tiefen Zugehörigkeitsgefühls im Sinne einer italienischen Gesinnung, sondern vielmehr um einen Identitäts- und Werteverfall, der nicht nur Heimat und Kaiser, sondern oft auch Religion und Gott in Frage stellen konnte154. Also mehr eine Distanzierung von der Habsburgermonarchie und nicht unbedingt eine Annäherung an das Königreich Italien. Diese Art von Desillusionierung, Umdenken und Flucht erlebten sehr viele, andere dagegen betonten ihre Zugehörigkeit und beklagten den Verrat ihrer Landsmänner. Celeste Paoli bezeichnete die flüchtigen Italiener als „Tiere“ und gab ihnen die Schuld für die schlechte Behandlung, über die er sich selbst beschwerte155. Für viele war Desertion eine untragbare Schande, die Vorurteile gegen Italiener nährte und auch für jene, die weiterhin ihre Treue bekundeten, negative Konsequenzen hatte. So sah es auch Giovanni Bona, der die Desertion von einem Dutzend Soldaten seines Bataillons registrierte und sie als „Schande an unserer Nation […], Akt der Untreue und der Beleidigung gegenüber unserer Armee, und allgemein ein schlechtes Beispiel“ bezeichnete. Bona betonte 152 Welsche oder Walsche ist im Deutschen eine abwertende Bezeichnung für die italienischsprachigen Tiroler. 153 Adelia Parisi Bruseghini, in: Valeria Bais, Amabile Maria Broz, Giuseppina Cattoi, Giuseppina Filippi Manfredi, Adelia Parisi Bruseghini, Luigia Senter Dalbosco, hrsg. von Quinto Antonelli, Diego Leoni, Maria Beatrice Marzani, Giorgia Pontalti (Rovereto 1996) 133–191, hier 184. 154 Siehe dazu die Überlegungen in: Antonelli, Chi siamo noi? 393–394. 155 Zit. in: Mazzini, „Cose de laltro mondo“ 198f., Anmerkung 133.



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deutlich, dass „unsere Tiroler“ nicht unter den Verrätern gewesen seien, sondern nur Triestiner und andere Soldaten aus dem Küstenland, obwohl die Tat letztlich trotzdem schwere Konsequenzen für alle Italiener hatte, die sofort auf andere Regimenter aufgeteilt wurden156. In anderen Fällen war zwar eine immer größere Distanzierung von der Habsburgermonarchie zu beobachten, diese führte aber nicht zu Desertionen. Emilio Fusari ergeht sich in seinen wahrscheinlich im Jänner 1917 in einem Wiener Krankenhaus verfassten Memoiren in einer wahren Flut von Beleidigungen gegen die „blöden Deutschen“, also die „dummen, einfältigen und verrohten“ Offiziere, denen es vor allem an „Mitgefühl für ihre Märtyrer“ fehlt; „blinde und grausame“ Menschen, die er mit dem „gesamten deutschen Geschlecht“ verfluchte157. Den Kontrast zu diesen Beschimpfungen bilden ständige fatalistische oder resignierende Kommentare, etwa „So ist es eben!“, „So ist es eben, wir wollen es ertragen!“, „So ist es eben, nur Mut!“, allesamt Ausdruck einer Bereitschaft zum Gehorsam, die Fusari sich bis Kriegsende bewahren sollte158. Gleich nach seiner Ankunft in Galizien war er im August 1914 im Kampf verwundet worden und durfte nach der Erstversorgung der Verletzung drei Wochen zur Genesung nach Hause. Unmittelbar vor der Rückkehr an die Front dachte er ernsthaft daran, sich nicht in der Kaserne zu stellen: Mein einziger Gedanke war, mich hinter diese Berge zu verziehen, nicht aus Angst, mich wieder in Gefahr begeben zu müssen, es war mehr: um diese barbarischen, herzlosen Menschen, die einem dummen Patriotismus huldigen, nicht hören zu müssen und nicht sehen zu müssen, was sie mit uns Italienern machen.

Mit großem Bedauern verwarf er jedoch sofort seine Desertionsvorsätze. Er bestieg ordnungsgemäß den Zug, der ihn von seinem Heimatort Mori nach Trient bringen sollte. Kaum hatte er den Bahnhof verlassen, erblickte der „den großen Dante, den zweiten Vater unserer Nation. Für ihn hätte ich Opfer gebracht und auch mein Leben gegeben, aber nicht für diese Leute, die uns nicht als Verteidiger sehen, sondern als Verräter“159. Aufgrund der beim Heer erfahrenen Diskriminierung hatte er sich von der Idee einer österreichischen Heimat distanziert und der italienischen Gesinnung angenähert, die durch das Dante-Denkmal verkörpert wurde. Dennoch ging er nicht bis zum „Verrat“. Für ihn sollte der

156 157 158 159

Giovanni Bona 37f. Emilio Fusari 21, 26, 34, 37. Ebd. 29, 36f. Ebd. 47f.

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Krieg in Galizien weitergehen, diesmal in den Karpaten, wo er nach einer neuen, schwereren Verwundung endgültig von der Front abgezogen wurde. Bei den österreichischen Militärbehörden setzte sich eine Sicht auf die Dinge durch, in der die Unterschiede nicht erkannt und den zahlreichen Treuebekundungen sowie Bekenntnissen zur Gehorsams- und Opferbereitschaft nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen wurde. Und das, obwohl aus dem Heer selbst Lageanalysen kamen, die weniger Schwarz-Weiß-Malerei betrieben: Darin wurden die organisatorischen und funktionellen Grenzen der österreichisch-ungarischen Streitkräfte sowie die verschiedenen Ursachen der militärischen Misserfolge genau erkannt – und sie waren nicht immer auf Versäumnisse von Soldaten zurückzuführen, die eine bestimmte Sprache beherrschten. In einer etwas mehr als zwei Monate nach Beginn des Krieges gegen Italien verfassten Mitteilung des Kommandos der Südwestfront an das Armeeoberkommando gehen kurioserweise die uralten Vorurteile gegen die Italiener mit komplexeren Lagebeurteilungen, in denen die Gründe für die schlechten Kampfesleistungen der italienischen Soldaten anderswo gesucht werden, Hand in Hand. Der Brief endete mit dem Hinweis, dass das Vertrauen in das „italienische Truppenmaterial“ inzwischen bei allen Kommandos definitiv geschwunden war, weshalb man sich auf die Anweisung einigte, man möge die Soldaten von der italienisch-österreichischen Front abziehen und sie entweder an die Nordfront versetzen oder in den Arbeitsabteilungen für gefährliche Tätigkeiten einsetzen, bei denen sie genau kontrolliert werden könnten. Am Anfang des Schreibens wird jedoch betont, dass die Unzuverlässigkeit einzelner Formationen nicht ausschließlich in der politischen Unzuverlässigkeit ihrer Mitglieder zu suchen sei. Eine wichtige Rolle spielten oft die mangelnde Ausbildung oder die im Verhältnis zu Können und Sprachkenntnissen unzureichende Anleitung: „Eine gründliche, genügend lange militärische Ausbildung, Hand in Hand mit der moralischen Erziehung des Mannes zu bedingungsloser Pflichterfüllung unter der Leitung und Führung tüchtiger, die Regimentssprachen voll beherrschender Offiziere, müsste andere Ergebnisse zeitigen“160. Die zahlreichen begeisterten Zustimmungsbekundungen, die der Empfänger des Schreibens neben diese Ausführungen gesetzt hat, zeigen, dass die Problematik des Niveaus der militärischen wie sprachlichen Kenntnisse auf allen Ebenen der kaiserlichen Militärmaschinerie bekannt war. Das Sprachenproblem manifestierte sich nach den ersten Kriegsmonaten und der darauffolgenden Dezimierung der Berufsoffiziere auf dramatische Weise. Es verschlimmerte sich im Laufe der Jahre, als die zunehmende Schwierigkeit, die enormen Lücken in den diversen Militärformationen zu füllen, zu einer weiteren 160 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 13781/1915, Kt. 32, Kommando der Südostfront an das Armeeoberkommando, 5.8.1915.



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Vermischung der Nationalitäten führte. Folglich stieg die Anzahl der in einem einzelnen Regiment gesprochenen Sprachen, manchmal waren es bis zu 8 in einer Kompanie – eine Situation, die für keinen Offizier zu bewältigen war161. Aufgrund der verschiedenen Sprachen und der ungenügenden Sprachkenntnisse der Offiziere war im Grunde genommen keine Kommunikation mehr möglich, was militärisch betrachtet verheerende Folgen hatte. Offiziere und Soldaten berichten von Szenen babylonischer Sprachverwirrung im Telefon- und Funkverkehr, aber auch während der Einsätze, wie es unter anderem ein Oberleutnant schildert, in dessen Einheit seiner Aussage nach mitten im Kampf wild Kroatisch, Deutsch, Ungarisch und Wienerisch durcheinander gesprochen wurde, was eine koordinierte Aktion sehr schwierig machte. Unter derartigen Bedingungen wurde ein Beschuss aus den eigenen Reihen wahrscheinlicher. Manchmal konnte es zu grotesken Situationen kommen. In der 29. Infanteriebrigade beherrschten nur sehr wenige Offiziere die beiden Regimentssprachen Ungarisch und Slowakisch, sodass einer der deutschsprachigen Hauptmänner mit seinen Soldaten für gewöhnlich auf Englisch kommunizierte – zum Teil kam ihm hier deren Migrationsvergangenheit zugute, denn einige von ihnen hatten vor dem Krieg in den Vereinigten Staaten gearbeitet162. Über Verständnis- und Kommunikationsschwierigkeiten wird auch in den Schriften der Italiener häufig berichtet. Ermete Bonapace, der einem Tiroler Feldjäger-Bataillon zugeteilt worden war, vermerkte in seinem Tagebuch, dass die Offiziere, auch wenn sowohl Deutsche als auch italienische Soldaten zugegen waren, ausschließlich Deutsch sprachen163. Die gleiche Erfahrung machte Giuseppe Scarazzini, der einer gänzlich auf Deutsch gehaltenen Rede des Obersten beiwohnte, ohne ein einziges Wort zu verstehen164. Ebenfalls beachtenswert ist jedoch ein weiteres Detail, das in seinem Bericht erwähnt wird, nämlich das Verhältnis der italienischsprachigen Soldaten zum Regimentspriester, dem eine bedeutende Rolle für die Hebung der Moral der größtenteils sehr religiösen Soldatenzukam. Da der Priester jedoch kein Italienisch konnte, nahm er ihnen die Beichte mithilfe eines Wörterbuchs ab165. Abgesehen von den operativen Auswirkungen hinderten die Kommunikationsmängel die Offiziere an der Ausübung jedes wie auch immer gearteten Einflusses auf die Moral der Soldaten, der deren Stimmung und Motivation hätte heben können. Durch die gängige Praxis, die italienischen Abteilungen zu tren161 162 163 164 165

Schmitz, „Als ob die Welt“ 35. Ebd. 31f. Bonapace, Un diario 12/1–2 (1961) 7. Giuseppe Scarazzini 222f. Ebd. 229.

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nen und die Soldaten auf unzählige anderssprachige Formationen aufzuteilen, wurden die Kommunikationsschwierigkeiten noch schlimmer. Die Ausgrenzung der Italiener, das Misstrauen ihnen gegenüber, das mangelnde Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und zu einer kompakten und solidarischen Gemeinschaft waren die besten Voraussetzungen für eine Zunahme der Desertionen. Unter diesen Bedingungen war das Entstehen einer emotionalen Bindung zwischen Soldaten und Offizieren und in weiterer Folge der „Familie“ im Schützengraben nicht möglich – Elemente, die schon der italienische Militärarzt Agostino Gemelli in seiner Abhandlung zur Schützengrabenpsychologie als entscheidend für den Zusammenhalt einer Kampfgruppe bezeichnet hatte166. Sogar General Conrad von Hötzendorf beobachtete in einem im September 1917 verfassten Bericht über die Desertionen in Tirol eine Verschlechterung der Stimmung und eine entsprechende Zunahme der Desertionen unter jenen Soldaten, die in anderssprachlich dominierten Truppenkörpern dienten und womöglich auch einem Offizier unterstellt waren, der ihrer Sprache nicht mächtig war167. Trotzdem war Conrad nicht in der Lage, seine Beobachtung auf die Situation der bewusst auf Abteilungen anderer Nationalitäten verteilten Italiener anzuwenden, und schrieb die höheren Desertionsraten weiterhin zwanghaft deren mangelndem Patriotismus zu. Es gab dennoch auch konkrete Fälle, die belegen, dass es sehr wohl möglich war, die Kampfmoral der Truppe positiv zu beeinflussen. Im April 1916 beschloss Adolf von Boog, Kommandant der 25. Infanterietruppendivision in Galizien, die in Kleingruppen auf seine Division aufgeteilten Italiener in einer eigenen Abteilung zusammenzulegen, welche dem 4. Infanterieregiment angeschlossen wurde. Es handelte sich um eine vollkommen autonome Initiative, für die aufgrund der geringen Zahl an betroffenen Soldaten – etwa 70 Männer, die vorwiegend aus Triest und dem Litorale stammten – keine Genehmigung des Armeeoberkommandos eingeholt worden war. Die neu geschaffene italienische Einheit erhielt „planmäßig moralischen Unterricht“ besonders zum Thema des Irredentismus und des Verhältnisses zu Italien, begleitet von kleinen Aufmerksamkeiten, darunter etwa die „tägliche Verabreichung der bei ihnen so beliebten Polenta“. Die Resultate ließen nicht lange auf sich warten – in den Schlachten bei Sopanow im Juni 1916 (im Rahmen der vernichtenden Brussilow-Offensive) fielen sie durch außerordentlich mutiges Verhalten auf, das einigen von ihnen eine Auszeichnung einbrachte168. Das Kommando wollte mit den 1.000 italienischen Kaiserjägern, 166 Vgl. Mondini, La guerra italiana 146f.; J. Glenn Gray, The Warriors. Reflections on Men in Battle (Lincoln–London 21998). 167 Überegger, Der andere Krieg 247. 168 ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 27349/1916, Kt. 72, der Kommandant der 25. Infanteriedivision, Adolf von Boog, an das Armeeoberkommando, 1.7.1916. Einige Betrachtungen von Boogs über die wich-



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die schon bald erwartet wurden, genauso arbeiten und war überzeugt, dasselbe Ergebnis zu erzielen. Angesichts der Weisungen des Armeeoberkommandos und der beträchtlichen Anzahl betroffener Männer ist nicht bekannt, ob dies gestattet wurde, doch eines steht fest: Durch von Boogs Experiment wurde allen, die es verstehen wollten, vor Augen geführt, dass durch eine einfache Maßnahme der Anerkennung, und nicht durch die Strafmaßnahme der Ausgrenzung der Italiener als nationale Gruppierung, positive Ergebnisse erreicht werden konnten.

tige Rolle des Gespräches mit den Truppen, der Truppenmotivation und über die hervorragenden Ergebnisse, die durch eine angemessene Behandlung auch der tschechischen Soldaten möglich wurden, finden sich in: ÖStA, KA, AOK, OpAbt, 27354/1916, Kt. 72.

Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

1. Gefangenschaft und Nationalitätenpolitik Kriegsgefangenschaft war eine für den Ersten Weltkrieg typische Erfahrung. Ein europäisches Phänomen, von dem alle am Krieg beteiligten Heere und Länder betroffen waren und das erstmals in der Geschichte zum Massenphänomen wurde. Etwa 8,5 Millionen Männer, fast ein Siebentel aller mobilisierten Soldaten, erlebten Gefangenschaft und Internierung, die für viele bis Kriegsende andauerte. Eine enorme Zahl, kaum niedriger als jene der 9 bis 10 Millionen Soldaten, die während des Krieges ihr Leben verloren1. Die Lebensbedingungen in der Gefangenschaft waren geprägt von schweren Entbehrungen und Misshandlungen, furchtbarem Hunger, fehlender Kleidung und Medikamentenmangel, Epidemien (Typhus und weitere Infektionskrankheiten), wodurch die Insassenzahlen der übervollen Lager innerhalb kürzester Zeit dezimiert werden konnten. Eine harte, häufig dramatische Erfahrung, charakterisiert durch eine Art doppeltes Exil: Die Gefangenen waren weit weg von zu Hause und gleichzeitig auch aus der Kriegsgemeinschaft, der sie trotz allem weiter angehörten, herausgerissen. Oft fielen sie Repressalien des Landes zum Opfer, das sie gefangen hielt2. Zu all dem kam noch ein Gefühl der Scham und der Erniedrigung, gepaart mit dem Eindruck, in der Heimat bereits vergessen zu sein. Trotz der Relevanz des Phänomens wurde das Thema Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg oft an den Rand gedrängt, und zwar sowohl in den Memoiren als auch in der Geschichtsschreibung3. Nach Ende des Krieges hatten die ehemaligen Gefangenen nichts Heldenhaftes zu berichten. Auch wenn sie für die Siegermächte im Einsatz gewesen waren, stand ihre persönliche Geschichte doch im Zeichen der Niederlage. Oft kehrten sie erst Jahre nach Kriegsende in ein völlig verändertes Umfeld zurück, vielleicht als Staatsbürger eines der neuen Länder, 1 Heather Jones, A Missing Paradigm? Military Captivity and the Prisoner of War, 1914–18, in: Captivity, Forced Labour and Forced Migration in Europe during the First World War, hrsg. von Matthew Stibbe (New York 2009) 19–48, hier 20. 2 Annette Becker, Paradoxien in der Situation der Kriegsgefangenen 1914–1918, in: Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Jochen Oltmer (Paderborn 2006) 24–31. 3 Zur verspäteten Erforschung des Phänomens der Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg durch die Geschichtsschreibung vgl. Reinhard Nachtigal, Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen 1914–1918 (Remshalden 2003) 10–16.

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

die nach dem Zerfall der großen Vielvölkerreiche entstanden waren. Sie waren verloren und desillusioniert und wurden selten mit der Dankbarkeit begrüßt, die sie sich erwartet hätten. Viel häufiger bekamen sie die starke Distanziertheit der Menschen zu spüren, die den Krieg endgültig hinter sich lassen wollten und gegen ihren Willen durch die verspätete Heimkehr dieser Soldaten wieder in die Kriegszeit zurückgeholt wurden. In den Jahren darauf war es die Gefallenenverehrung, die in der öffentlichen Erinnerung einen hohen Stellenwert erlangte, und weniger die Anerkennung des Leides all jener, die fern von der Front gelebt hatten und von vielen als Drückeberger oder Verräter angesehen wurden. Schon während des Krieges haftete Kriegsgefangenen das Stigma des Feiglings oder des möglichen Deserteurs an. Die italienischen Gefangenen in Österreich und Deutschland erhielten keinerlei Unterstützung von den militärischen und politischen Behörden in Rom, die sich geweigert hatten, ihnen Lebensmittelhilfen zu schicken – angesichts der verheerenden Wirtschaftslage der Mittelmächte hätten sie diese jedoch dringend benötigt. Eine Bestrafung all jener, die sich – vielleicht freiwillig – dem Frontdienst entzogen hatten, vor allem aber eine Form der Abschreckung vor Desertionen, mit der den Soldaten bewiesen werden sollte, dass es nur eine einzige Alternative zum aufopferungsvollen Kampf gab, nämlich den Erschöpfungstod in einem Gefangenenlager4. Dieses Vorgehen zeigt, mit welchem Misstrauen und welcher Gleichgültigkeit das Schicksal der Gefangenen betrachtet wurde. In gewisser Hinsicht beinhaltet das Phänomen der Kriegsgefangenschaft zahlreiche Elemente des totalen Krieges. Die Gefangenschaft war mit dem individuellen Erleben der Männer, die sie am eigenen Leib erfuhren, noch nicht zu Ende, sondern wurde auch militärisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, außen- und nationalpolitisch sowie im Bereich der inneren Sicherheit äußerst relevant5. Für die Kriegsstaaten, allen voran Österreich-Ungarn, erreichte die Gefangennahme ihrer Soldaten Dimensionen, die ein ernsthaftes militärisches Problem darstellten. Fast ein Drittel aller vom Kaiserreich mobilisierten Männer fiel dem Feind in die Hände, insgesamt waren es etwa 2,77 Millionen Soldaten6. Nur Russland hatte mehr Kriegsgefangene (3,4 Millionen) zu verzeichnen, sie machten allerdings angesichts der enorm vielen Männer, über die es verfügte, „nur“ ein Fünftel aller Einberufenen aus. Aufgrund des dramatischen Mangels an Männern, der überall herrschte, wurden die Gefangenen als wertvolles Reservoir an Arbeitskräften be4 Giovanna Procacci, Soldati e prigionieri italiani nella Grande Guerra. Con una raccolta di lettere inedite (Turin 2000). 5 Jochen Oltmer, Einführung. Funktionen und Erfahrungen von Kriegsgefangenschaft im Europa des Ersten Weltkriegs, in: Kriegsgefangene im Europa 11–23. 6 Rachamimov, POWs 31.



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trachtet, das in jedem Wirtschaftsbereich eingesetzt werden konnte. Gleichzeitig stellten sie eine absolut unvorhergesehene organisatorische und verwaltungstechnische Herausforderung dar, mit der die Regierungen beider Koalitionen nicht gerechnet hatten: Diese mussten ein breites Netz an Gefangenenlagern schaffen, in denen für die Insassen eine Behandlung nach dem Haager Abkommen über humanitäres Recht in Kriegszeiten aus dem Jahr 1907 gewährleistet war, dem fast alle kriegsführenden Länder beigetreten waren. Neben der Versorgung der Gefangenen waren auch deren Kontrolle und eine Trennung von der Zivilbevölkerung organisatorisch zu bewältigen. International betrachtet wurden die Gefangenen zu Geiseln in den Händen des Feindes, die als Druck- und Erpressungsmittel eingesetzt wurden. Wenn eine Nation die Behandlung ihrer vom Feind gefangengenommenen Soldaten für unangemessen hielt, rächte sie sich daraufhin oft an den Gefangenen des jeweiligen Landes, worauf es zu einer Eskalation mit Repressalien und Gegenrepressalien und in weiterer Folge zu einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen sämtlicher beteiligter Gefangenen kam. Ein Grenzfall ist jener der deutschen und österreichisch-ungarischen Gefangenen, von denen die Russen eine große Anzahl beim Bau der Murmanbahn einsetzten – die strategische Eisenbahnlinie sollte über eine Strecke von 1.400 Kilometern die Region Petrograd (St. Petersburg) mit dem Hafen von Murmansk am Arktischen Ozean verbinden. Unter widrigen Umwelt- und Arbeitsbedingungen starben 25.000 Gefangene, und 70 % der 45.000 Überlebenden wurden schwer krank. Auch ein paar Dutzend italienischsprachige Männer verbrachten einen Teil ihrer Gefangenschaft als Zwangsarbeiter im Gebiet um Murmansk und haben äußerst dramatische Berichte über diese Erfahrung hinterlassen7. Deutschland reagierte auf die ersten Augenzeugenberichte mit schweren Repressalien gegen die russischen Gefangenen, und es folgte ein Hin und Her, das erst durch die Vermittlung des Schwedischen und Dänischen Roten Kreuzes beendet wurde8. Noch bezeichnender ist die Rolle, die den Gefangenen im Bereich der Nationalitätenpolitik zukam. Alle kriegsführenden Länder versuchten interne Spannungen im Feindeslager, besonders jene, die durch die Präsenz mehrerer Nationalitäten entstanden waren, zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. In erster Linie war dies in den drei verschiedenen Großreichen der Fall, die im Osten gegeneinander 7 Marina Rossi, I prigionieri dello zar. Soldati italiani dell’esercito austro-ungarico nei lager della Russia (1914–1918) (Mailand 1997) 129. 8 Reinhard Nachtigal, Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotenzial der Kriegsgefangenen (1915 bis 1918) (Grunbach 2001); Gerald H. Davis, National Red Cross Societies and Prisoners of War in Russia, 1914–1918, in: Journal of Contemporary History 28/1 (1993) 31–52, hier 41–42.

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kämpften. Russland setzte die „Nationalitätenwaffe“ besonders rasch ein, um am Gebäude des habsburgischen Feindes zu sägen. Schon im Juli 1914, noch vor dem Kriegseintritt Russlands, ließ Außenminister Sergej Sasonow ein Manifest an die Polen aufsetzen, in dem ihnen die Vereinigung all ihrer Gebiete innerhalb des Zarenreiches (einschließlich jener in der Hand Deutschlands und Österreich-Ungarns) bei gleichzeitiger Gewährung umfassender Verwaltungsautonomie versprochen wurde. Wenige Tage später folgte eine ähnliche Initiative, diesmal mit den Ruthenen Österreich-Ungarns als Zielgruppe. Im September wurde schließlich ein Manifest in neun Sprachen und einer Auflage von 100.000 Exemplaren verbreitet, das an alle „Völker Österreich-Ungarns“ gerichtet war. Die Initiative fiel mit dem heftigen Vorstoß der zaristischen Truppen in österreichisches Hoheitsgebiet zusammen und forderte die Völker im Habsburgerreich auf, die russischen Truppen freundlich zu empfangen, da Russland darum kämpfen würde, „perché le nazioni siano emancipate dal giogo straniero“9. Das Manifest richtete sich an die gesamte Bevölkerung des Habsburgerreiches, ganz besonders aber an die Frontsoldaten, die aufgefordert wurden, den Feind mit anderen Augen zu sehen. Im Falle einer etwaigen Gefangennahme wussten die slawischstämmigen Soldaten, dass die russischen Behörden sie bevorzugt behandeln und ihre Rekrutierung in freiwillige Militärformationen, die gegen den Feind eingesetzt werden sollten, fördern würden. Die Gefangenen nach Sprachen aufzuteilen und verschieden zu behandeln war nicht nur bei den Russen gängige Praxis. Die Österreicher gingen mit den Ruthenen und Polen des russischen Heeres ähnlich um: Diese wurden ebenfalls von den anderen Gefangenen getrennt und kamen in den Genuss besonderer Aufmerksamkeiten, durch die sie politisch beeinflusst werden sollten. Die Deutschen verhielten sich gegenüber den Ruthenen, aber auch gegenüber den Muslimen des französischen und britischen Heeres, den Flamen und vor allem den gefangenen Russlanddeutschen genauso10. Der Zweck dieser Politik war eindeutig: Verschärfung der nationalen Spannungen, die dem Feind sowohl an der inneren Front als auch in den Kampfverbänden zu schaffen machten, und Anstiftung der Minderheitensoldaten zur Desertion. Die Situation der österreichischen Italiener in russischer Gefangenschaft passte perfekt in diese Dynamik. An der Ostfront, wo etwa zwei Drittel aller Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges gemacht wurden, fielen sehr viele Männer dem Feind schon in den ersten Kriegswochen in die Hände, als es zu den ersten großen Vorstößen und den unmittelbar folgenden plötzlichen Rückzügen kam. Mit diesen Einsätzen war die Kampfeserfahrung für hunderttausende Männer auch schon zu Ende, und ihr Dasein als Gefangene begann. Für sie dauerte 9 Leo Valiani, La dissoluzione dell’Austria-Ungheria (Mailand 1966) 145–149. 10 Oltmer, Einführung.



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Abb. 11: Österreichisch-ungarische Kriegsgefangene in Russland (The Russian State Documentary Film & Photo Archive at Krasnogorsk; Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

der Krieg an der Front nur wenige Wochen, die Gefangenschaft aber mehrere Jahre. Unter ihnen waren viele österreichische Italiener, die ebenfalls zur Zielscheibe der Nationalitätenpolitik des Zarenreiches werden sollten. Für sämtliche Männer, die in russische Gefangenschaft geraten waren, ging nach der Gefangennahme dieselbe Prozedur los: die Vorbereitung der Verbringung an einen Internierungsort. Auf den mehr oder weniger anstrengenden Marsch von der Front ins Etappengebiet folgte die lange Bahnfahrt zu den Sammelorten, wo die Gefangenen beruhend auf den von ihnen selbst erteilten Informationen offiziell von den russischen Behörden registriert wurden. In den ersten Kriegsmonaten entstanden vor allem in Ortschaften in Frontnähe spontan zahlreiche Sammel- und Identifikationszentren. Aufgrund des beträchtlichen Anstiegs der Gefangenenzahlen besonders nach der Kapitulation der Festung Przemyśl im Mai 1915 waren diese Erstauffangzentren bald überfüllt, und es wurden große zentrale Sammelstellen in Darnyzja bei Kiew und Ugreshskaya bei Moskau eingerichtet11. Ab dem Frühjahr 1915 kamen alle gefangenen österreichisch-ungarischen Soldaten dorthin und gaben ihre Personendaten sowie ihren Rang und ihre Regimentszugehörigkeit an. Anhand dieser Daten erstellten die Russen Namenslisten, die danach über das internationale Rote Kreuz nach Wien weitergeleitet wurden. Ein dem Anschein nach einfaches Verfahren, das aller11 Nachtigal, Rußland 25–65; Rachamimov, POWs 49–55.

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dings eine logistische Organisation erforderte, die man in Russland nur langsam und auch nur teilweise entwickelte. Aus den uns vorliegenden Beschreibungen des bedeutendsten Sammelzentrums in Darnyzja ergibt sich ein Bild, das nicht nur von völligem Chaos, sondern auch der dramatischen Überfüllung einer völlig inadäquaten Einrichtung zeugt. In den ersten Monaten seines Bestehens war das Lager nichts als ein riesiger umzäunter Wald ohne Baracken und Sanitäranlagen, in dem es von tausenden Menschen wimmelte, die im Freien schlafen mussten und oft an Typhus und Cholera erkrankten. Erst Ende 1915 wurde mit dem Bau dutzender Baracken begonnen, doch die Bedingungen für die Insassen änderten sich kaum. Laut der Schilderung des Triestiners Emilio Stanta dauerte die Essensausteilung den ganzen Tag, und tausende Gefangene drängten zu den großen Töpfen, wo bewaffnete Männer versuchten, Ordnung zu wahren. Die hungrige Menge drängte ständig, „schubste die Bedauernswerten, die hinter den Bäumen waren, und drückte sie gegen diese. Manchmal hörte man die wütenden und schmerzvollen Schreie der Unglücklichen, die ohnmächtig zu Boden sanken und dann von ihren eigenen Kameraden überrannt wurden. Erst das bedrohliche Einschreiten des Wachtpostens mit dem Bajonett rettete sie, und sie wurden zur Krankenstation gebracht. Derartige Szenen wiederholten sich jeden Tag, und manche wurden erdrückt12“. Die interne Organisation im Lager und die Kontrolle über die Gefangenen ließen sehr zu wünschen übrig. Einigen gelang es, das Lager zu verlassen und bei den Bauern in der Umgebung zu arbeiten oder sich zu verstecken, um nicht auf die Züge verladen und an einen unerwünschten Ort gebracht zu werden. Dann kehrten sie zurück und taten so, als seien sie gerade erst angekommen. Andere wiederum schafften es schlicht, zu entkommen und ihre Spuren vollständig zu verwischen13. Die Gefangenen erlebten nun unter solch chaotischen und unzureichenden Bedingungen einen entscheidenden Moment ihres Gefangenendaseins. Die Russen begannen, sie nach Nationalitäten einzuteilen, um insbesondere die Slawen (die etwa die Hälfte der in Russland gefangengenommenen österreichisch-ungarischen Soldaten stellten)14, aber auch Elsässer, Italiener und Rumänen bevorzugt behandeln zu können. Ihnen wurde eine Unterkunft garantiert, in der es um Unterbringung, Kleidung und Essen besser bestellt war, während auf Deutsche 12 Stantas Memoiren werden zitiert in: Rossi, I prigionieri 107f. (hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben). Eine weitere dramatische Beschreibung der Essensausteilung in Darnyzja findet sich in: De Manincor, Dalla Galizia 69–71. Zu diesem Lager siehe Rossi, I prigionieri 99–111; Antonelli, I dimenticati 159–161; Nachtigal, Rußland 43–57. 13 De Manincor, Dalla Galizia 84f. 14 Reinhard Nachtigal, Privilegiensystem und Zwangsrekrutierung. Russische Nationalitätenpolitik gegenüber Kriegsgefangenen aus Österreich-Ungarn, in: Kriegsgefangene im Europa 167–193, hier 170.



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und Ungarn eine wesentlich härtere Behandlung in den eiskalten Ortschaften Sibiriens oder den trockenen und malariageplagten Regionen Turkestans wartete. Außerdem blieb ihnen bis Mai 1916 die Gelegenheit verwehrt, außerhalb der Gefangenenlager zu arbeiten, was bedeutete, dass sie ihren miserablen Sold nicht aufbessern konnten und auch keine Möglichkeit hatten, dem ungesunden und monotonen Alltag in den überfüllten Lagern zu entkommen15. Zwar wurde die Regel der bevorzugten Behandlung bestimmter Nationalitäten aufgrund der enorm hohen Gefangenenzahlen und der Ineffizienz des Verwaltungssystems nicht immer konsequent angewandt, aber den gefangenen Soldaten selbst wurde immer klarer, dass es eine große Bedeutung für die eigenen Überlebenschancen hatte, zu welcher Nationalität man sich bekannte. Die Erfassung der Nationalitäten erfolgte im extrem chaotischen Umfeld der Sammellager, und zwar ohne konsequentes und einheitliches Klassifizierungssystem16. Es wurden jedes Mal andere Kriterien angewandt, und man ging mit unterschiedlich großer Sorgfalt und Genauigkeit vor. Von Anfang an entscheidend für die russischen Behörden war die Unterscheidung zwischen „Slawen“ (ohne Spezifizierung, von Tschechen über Polen bis hin zu Dalmatinern und kroatischsprachigen Istrianern) und allen anderen. In weiterer Folge wurde auch auf Italiener, Elsässer, Rumänen und andere Volksgruppen geachtet. Aufgrund all dieser Vereinfachungen wurden nicht selten sowohl Österreicher als auch (Reichs-) Deutsche als „Deutsche“ registriert. Die Gefangenen selbst bekundeten ihre nationale Zugehörigkeit und zogen dabei verschiedene Kriterien heran – oft wurden Nationalität und Staatsbürgerschaft verwechselt. So kam es, dass sich sowohl Slowaken als auch Rumänen wie die Magyaren als „Ungarn“ definierten, weil sie alle dem Königreich Ungarn angehörten, dass Slowenen den weiten und vagen Begriff „Österreicher“ verwendeten und Polen aus Ostpreußen sich wie die deutschsprachigen Bürger aus Deutschland und Österreich als „Deutsche“ bezeichneten. In einigen Fällen waren unterschiedliche Kriterien und eine mangelnde Präzision der Definitionen vermutlich ein Zeichen dafür, dass viele Gefangene ihre eigene nationale Identität nicht klar definieren konnten und sich daher bei ihnen im Zusammenhang mit ihrer Sprache kein starkes Zugehörigkeitsgefühl herausgebildet hatte. Öfter lag es jedoch schlicht daran, dass ihnen nicht wirklich klar war, was genau unter „Nationalität“ zu verstehen war. Das System zur Erfassung der Nationalität der Gefangenen war also alles andere als konsequent und standardisiert, sondern ließ den Betroffenen viel Spiel15 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Das russische Kriegsgefangenenwesen 1914 bis 1920, in: Österreichische Osthefte 41 (1999) 83–106; Rachamimov, POWs 108. 16 Zur ganz offensichtlich mangelnden Konsequenz bei der Nationalitätenerfassung vgl. Nachtigal, Privilegiensystem 175; Rachamimov, POWs 57f.

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raum. Sie konnten sich etwa auch als „Juden“ deklarieren, was in der Habsburgermonarchie bei Volkszählungen nicht zulässig war, oder im Hinblick auf die slawenfreundliche Politik der Russen sowie deren erbitterten Hass gegen die deutschen und ungarischen Gefangenen eine der Gelegenheit angepasste Erklärung abgeben. Sie konnten die genannte Nationalität auch je nach Entwicklung der allgemeinen Lage ändern. All das macht deutlich, dass das Bekenntnis zu einer bestimmten Nationalität das Ergebnis diverser Abwägungen sowie komplexer und veränderlicher Bedingtheiten war. Zwei Offiziere, der eine aus Triest, der andere aus Mezzocorona bei Trient, schrieben am 5. August 1915 mit einer gewissen Verlegenheit an den italienischen Generalkonsul in Moskau und schilderten ihre besondere Situation. Da sie bei ihrer Gefangennahme verwundet gewesen waren, hatten sie es für besser erachtet, sich als Slawen zu deklarieren, denn sie wussten, dass alle anderen nach Sibirien kommen sollten. Als sich jedoch nach Mai 1915 die Möglichkeit eines Rücktransportes nach Italien abzeichnete, wollten sie ihren „entschuldbaren Fehler“ korrigieren. Doch aus Angst, von ihren Kameraden als Verräter betrachtet zu werden, sahen sie sich gezwungen, die italienischen Behörden um Hilfe zu ersuchen, und baten um eine gewisse Diskretion, da die an sie gerichteten Briefe durch mehrere Hände gingen, bevor sie ihre Empfänger erreichten17. Ein weiteres Anliegen dieser Art hatte Francesco Langer aus Triest, der sich darüber beklagte, fälschlicherweise als „polnischer Israelit“ registriert worden zu sein, und weiter ausführte, dass es ihm nun nicht mehr gelang, als Italiener anerkannt zu werden, und das zu einem Zeitpunkt, an dem er dadurch hätte freikommen können18. Ohne irgendjemanden um Hilfe zu bitten, hatte sich dagegen ein Prager Hauptmann zunächst als Tscheche deklariert, um in den Genuss der Vorteile zu kommen, die den Slawen zustanden, nach dem Rückzug der Russen aus Galizien wurde er jedoch sofort zum begeisterten Deutschen19. Ob es sich nun um die Korrektur praktischer Fehler, ein Umdenken, Opportunismus handelte oder sich bei den Gefangenen womöglich tatsächlich ein Nationalgefühl herausbildete – eine Änderung der in den Lagern angegebenen nationalen Zugehörigkeit war absolut nicht selten, wie die Dokumentation im österreichischen und russischen Militärarchiv zeigt20. 17 ASMAE, Russia, b. 25, fasc. Prigionieri ed internati appartenenti ai territori italiani irredenti, Gianni Metlica und Ugo Gubbo an den Konsul, 5.8.1915. Originalzitate aus den ASMAE-Dokumenten, Zeitungen etc. sind hier und im Folgenden in deutscher Übersetzung wiedergegeben. 18 Ebd., Francesco Langer an das italienische Konsulat, o. D. 19 Rachamimov, POWs 58. 20 Ebd. Man beachte auch den Fall eines Arztes namens Calenda (oder Kalenda), der in der Region Samarkand in Gefangenschaft war. Er deklarierte sich zunächst als Italiener, um von der guten Behandlung durch die Russen zu profitieren. Als er dann allerdings die Nachricht erhielt, dass sein Name auf der Liste der österreichischen Ärzte stand, die für einen Gefangenenaustausch mit



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Durch die direkte Intervention der Kriegsmächte wurden die Gefangenenlager oft zum Schauplatz eines Nationenwettstreites, und die Gefangenen wurden von mehreren Seiten gedrängt, Position zu beziehen. Schon bei der Erstregistrierung in den Auffanglagern traten Emissäre der verschiedenen Kriegsmächte auf den Plan, die die Gefangenen aus umkämpften Gebieten überzeugen sollten, sich für eine Seite zu entscheiden. In Darnyzja standen sich etwa ein Triestiner Hauptmann und ein serbischer Oberleutnant gegenüber – beide versuchten, die Mehrheit der istrischen und dalmatinischen Gefangenen für sich zu gewinnen21. Die italienischen Behörden beschwerten sich bei der russischen Regierung mehrmals über den Aktivismus des jungen serbischen Offiziers: „ [er ist] extrem höflich zu den italienischen Insassen, die ihn nicht stören (Trentiner und Friauler), setzt jedoch das fragwürdige Argument der Beherrschung der slawischen Sprache geschickt bei sämtlichen Personen ein, die er als Angehörige seiner Rasse ausgeben will, indem er sie zu den Serben zählt“22. Die Serben wurden zur Referenz und zum vereinenden Element für alle Südslawen, denn sie wollten alle unter ihrer Führung in einem einzigen Staat vereinen – ein Ziel, das nach dem Krieg in die Tat umgesetzt werden sollte. Somit war ein Großteil der Gefangenen aus Dalmatien und Ostistrien auf Kosten der italienischen Interessen auf die andere Seite geholt worden – eine erste Vorwegnahme des harten Kampfes der beiden Länder um die adriatischen Gebiete. Für den italienischen Offizier, der auf das Problem hinwies, war die Beherrschung der slawischen Sprache im Hinblick auf die „tatsächliche“ nationale Zugehörigkeit dieser Gefangenen überhaupt nicht relevant, denn da sie aus Gebieten stammten, auf die Italien Ansprüche geltend mache, könnten sie ja nur Italiener sein. Später sollten auch die entsprechenden Militärmissionen tätig werden, darunter auch eine italienische. Von ihnen wurden die Gefangenen, die als Angehörige der jeweiligen Nation betrachtet werden konnten, ausgewählt und, wenn nötig, auch einem Umerziehungsprozess unterzogen. Dabei wurden jedoch nur wenige Gefangene erfasst, weil es nicht möglich war, das riesige Gebiet Russlands vollständig abzudecken. Doch für eine beträchtliche Anzahl von Soldaten war es unvermeidlich, sich für eine Seite zu entscheiden, auch für all jene, die gewohnt waren, sich zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen zu bewegen, denen die radikale Konfrontation von Nationalstaaten als gegensätzliche Pole fremd war, in Österreich festgehaltenen russischen Ärzten vorgesehen waren, nutzte er sofort die Gelegenheit, freizukommen, und korrigierte seine ursprünglichen Angaben. ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21 Prigionieri irredenti in Russia, Bericht des Moskauer Konsuls Gazzurelli an Außenministerium, 14.5.1915. 21 ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47 Prigionieri irredenti in Russia, der Petrograder Botschafter Carlotti an Sonnino, 10.1.1917. 22 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Notiz des Leutnants Guido Larcher, 24.11.1916.

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für die Identität eher in Familienbanden und der Zugehörigkeit zu einer örtlichen oder regionalen Gemeinschaft und weniger in der Nation begründet lag. Verständlicherweise entschieden sich viele auch tatsächlich für eine Seite, wobei sie stets ihr Überleben und die Rückkehr in die Heimat als oberste Priorität im Blick hatten. 2. Ein Angebot des Zaren Am 23. Oktober 1914 besuchte der russische Botschafter Anatoli Nikolaevič Krupenski den italienischen Ministerpräsidenten Antonio Salandra – dieser war nach dem Tod von Antonio di San Giuliano auch Außenminister ad interim –, um ihm ein Angebot des Zaren zu machen. Russland erklärte sich bereit, sämtliche in Galizien gefangengenommenen italienischsprachigen Österreicher freizulassen, wenn Italien sich verpflichten würde, sie für die gesamte Dauer des Krieges in Verwahrung zu behalten, damit sie sich nicht wieder dem österreichisch-ungarischen Heer anschließen konnten. Salandra erbat sich Bedenkzeit, gab jedoch sofort zu verstehen, dass er das Angebot „trotz Wertschätzung der freundlichen Absicht S. M. des Zaren“ für nicht annehmbar hielt, und zwar in erster Linie „aufgrund der Neutralitätsverpflichtungen“, aber auch, weil nicht auszuschließen war, dass die genannten Soldaten, die nach ihren Rücktransport nach Italien wieder freie Männer sein würden, auswandern würden, um sich erneut dem habsburgischen Heer anzuschließen23. Die russische Botschaft leitete jedoch den Inhalt ihres Angebots an einige Journalisten weiter, ohne eine offizielle Antwort abzuwarten und ohne die italienische Regierung darüber in Kenntnis zu setzen. So brachte die extrem pro-interventistische24 römische Tageszeitung „Il Messaggero“ bereits am Tag darauf eine ganzseitige Schlagzeile auf dem Titelblatt, in der die Bedingungen der Angelegenheit bewusst verzerrt wiedergegeben waren, sodass die Regierung eine offizielle Mitteilung veröffentlichen musste25. Für den „Messaggero“ bestanden die Bedingungen Russlands in der Verpflichtung Italiens, die Gefangenen nicht an Österreich-Ungarn auszuliefern, während in Wirklichkeit gefordert wurde, dass die Männer mit Gewalt auf italienischem Boden festgehalten werden sollten. Die interventionistische Presse und Russland 23 DDI, V serie, vol. II, n. 36, Salandra an Carlotti, 24.10.1914. 24 La stampa italiana nell’età liberale, hrsg. von Valerio Castronovo, Nicola Tranfaglia (Rom– Bari 1979) 239–277. 25 La Russia restituisce all’Italia gl’irredenti fatti prigionieri in Galizia se il governo s’impegna a non rinviarli in Austria [Russland händigt Italien die in Galizien gefangengenommenen irredenti aus, wenn die Regierung verspricht, sie nicht nach Österreich zurückzuschicken], in: Il Messaggero, 24.10.1914 1.



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drängten die Regierung indirekt zur Annahme eines Angebots, das Italien aus seiner neutralen Position herausmanövrieren sollte. „Ein Fall von nicht gleichgültiger Großzügigkeit“, so Salandra in seinen Memoiren über die Geste Russlands26. Salandra war sehr irritiert über die Vorgehensweise des russischen Botschafters27, bekundete aber offiziell seine Dankbarkeit für die Großzügigkeit des Zaren und ließ das Angebot fallen, ohne wirklich eine formelle Antwort zu geben, die von der Gegenseite auch nicht gefordert worden war28. Salandra interpretierte die russische Initiative als „eine Trouvaille, um uns in größtmögliche Bedrängnis zu bringen und zu einer Entscheidung zu zwingen, die wir zum damaligen Zeitpunkt weder fassen noch offen zum Ausdruck bringen wollten“29. Man wollte Italien auf die Seite der Entente ziehen und bot im Gegenzug die formale Anerkennung des römischen Rechtes auf die italienischsprachige Bevölkerung Österreichs und die von ihr bewohnten Gebiete, wie von diversen Beobachtern und vom russischen Botschafter selbst in einem Gespräch mit der italienischen Tageszeitung „Corriere della Sera“ betont wurde30. Auch der spätere italienische Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass die größte slawische Macht absolut keinen Unterschied zwischen Trentinern und Triestinern, Istrianern und Dalmatinern machte, womit sie implizit deren Zugehörigkeit zur italienischen Welt anerkannte31. Das interpretierte man als Unterstützung der italienischen Ansprüche auf die Adriagebiete gegenüber den konkurrierenden Bestrebungen der Slawen. Die russische Initiative stieß in den irredentistischen Kreisen der italienischen Welt auf Begeisterung. Am Abend des 24. Oktober fanden sich etwa 50 Trentiner feiernd beim russischen Konsulat in Mailand ein und brachen zum Schlachtruf „Es lebe Russland“ eine Demonstration vom Zaun. Die örtliche Sektion der Associazione Trento-Trieste schickte ein Telegramm an Salandra, in dem um sofortige Annahme des Angebotes des Zaren ersucht wurde32. Auch Cesare Battisti 26 Antonio Salandra, La neutralità italiana (1914). Ricordi e pensieri (Mailand 1928) 387. 27 DDI, V serie, vol. II, n. 38, Salandra an Carlotti, 24.10.1914. 28 Salandra, La neutralità 387–392; DDI, V serie, vol. II, n. 38, Carlotti an Sonnino, 6.11.1914. 29 Salandra, La neutralità 390. 30 La Russia riconosce come italiane le terre abitate da italiani in Austria (Nostro colloquio con l’ambasciatore Krupenski), in: Corriere della Sera 25.10.1914 2. 31 Quel che dice l’onor. V. E. Orlando, in: L’idea nazionale 25.10.1914 1. 32 Una dimostrazione dei Trentini al Consolato di Russia, in: Corriere della Sera 25.10.1914 5. Siehe dazu auch den Bericht des österreichischen Konsuls in Mailand an das Ministerium des Äußern in Wien vom 25.10.1914, in: ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 19d Beabsichtigte, aber nicht zu Stande gekommene Entlassung der kriegsgefangenen Österreicher italienischer Zunge aus Russland nach Italien, Oktober 1914–Jänner 1915, Kt. 939.

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lobte die Geste des Zaren am 25. Oktober in einer Rede in Rom33, während sich in den Tagen darauf der Bürgermeister von Mantua und der Gemeinderat von La Spezia offiziell an Salandra wandten und bereit erklärten, einen Teil der „in Russland gefangengenommenen Brüder aus den unerlösten Provinzen“ aufzunehmen34. Der Circolo Trentino in Mailand nahm explizit auf die österreichfeindliche Tradition des Risorgimento Bezug und bedankte sich in einem Brief an die Stadt Mantua, die darin als Stadt der (auf Geheiß Radetzkys zum Tode verurteilten) „Märtyrer von Belfiore“ bezeichnet wird, für das edle Angebot35, während eine Delegation aus Trentinern, Triestinern, Istrianern, Fiumanern und Dalmatinern eine Dankesbotschaft an den russischen Botschafter in Rom schickte, der eine dem Zaren gewidmete Plakette der Associazione Trento e Trieste beigefügt war36. Das frühe Interesse für die italienischsprachigen Gefangenen in Russland ebbte nach einigen Tagen wieder ab; die österreichischen Konsularbehörden verfolgten alles aufmerksam. Dann nahm die Aufmerksamkeit generell ab, und die Frage blieb mangels offizieller Ablehnung der italienischen Seite offen. Dennoch setzten die russischen Behörden die Zusammenführung der italienischen Gefangenen fort. Der Zar beabsichtigte, sie in einem einzigen Gefangenenlager unterzubringen und ihnen ihre Situation durch bevorzugte Behandlung etwas zu erleichtern37. Das geschah jedoch nur auf dem Papier, denn dem riesigen Kontroll- und Verwaltungsapparat für den Bereich der Gefangenen waren organisatorische Grenzen gesetzt, und die allgemeinen Anweisungen aus dem Zentrum wurden in der endlos weiten Peripherie nur zum Teil konsequent erfasst und angewendet. Nicht selten waren die Lebensbedingungen in den sibirischen Lagern, in die Deutsche und Ungarn kamen, besser als in den Lagern im europäischen Teil Russlands, die den Slawen vorbehalten waren. So profitierten auch die Italiener kaum von den ersten vagen und rudimentären Anweisungen zu ihren Gunsten38. Auch die zentrale Internierung wurde nur teilweise umgesetzt, da eine vollumfängliche Kontrolle der enormen Menge feindlicher Soldaten, die gefangengenommen worden waren, unmöglich war. 33 Ernesta Battisti, Con Cesare Battisti attraverso l’Italia. Agosto 1914–maggio 1915 (Mailand 1938) 208–212. In diesem Werk präsentiert Cesare Battistis Witwe die italienischen Gefangenen in Russland auf exemplarische Weise als Heer aus Deserteuren, die im Namen des irredentistischen Ideals eine patriotische Geste der Auflehnung gesetzt haben. 34 Siehe Corriere della Sera 26.10.1914 2 und 27.10.1914 2. 35 ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 19d, österreichischer Konsul in Mailand an Minister des Äußern in Wien, 27.10.1914; Corriere della Sera 27.10.1914 5. 36 Corriere della Sera 29.10.1914 2; ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 19d, österreichischer Konsul in Mailand an Minister des Äußern in Wien, 29.10.1914. 37 Vgl. DDI, V serie, vol. II, n. 40 und n. 99. 38 Rachamimov, POWs 88–97.



2. Ein Angebot des Zaren 

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Bis zum Kriegseintritt Italiens an der Seite der Ententemächte blieb die Lage im Grunde genommen unverändert, doch dann wendete sich das Blatt komplett, was sich auch daran zeigte, dass die italienischen Gefangenen eine allgemeine Arbeitserlaubnis erhielten – ein Privileg, das ihnen ein beschränktes, aber extrem wichtiges Einkommen sicherte und bislang bevorzugt Gefangenen gewährt worden war, die als Slawen klassiert waren39. Ministerpräsident Salandra war der Ansicht, man könne das nunmehr schon länger zurückliegende Angebot des Zaren nicht mehr ablehnen, vorausgesetzt, es gelinge, die Schwierigkeiten zu bewältigen, die der Transport tausender Gefangener nach Italien voraussichtlich mit sich bringe40. Die russischen Behörden beschleunigten die Zusammenführung der Italiener. Besonders in Omsk in Südwestsibirien wurden Anfang Juni mehrere tausend aus dutzenden Lagern in ganz Russland gesammelt41. Zur gleichen Zeit begann eine intensive Korrespondenz zwischen dem italienischen Außenministerium und den italienischen Botschaften in Russland, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland. Darin wurde die Machbarkeit des Vorhabens bewertet, die günstigste Route zur Verbringung der Soldaten nach Italien diskutiert und vor allem geprüft, inwieweit die Balkanländer bereit waren, die Durchreise auf ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet zu gewähren42. Nur Sonnino nahm sich der Sache an, Salandra war im Grunde nicht interessiert und akzeptierte die Vorschläge des Außenministers, ohne ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Russen zeigten großes Engagement beim Sammeln der italienischen Gefangenen und teilten mit, man werde 102 Offiziere und 6.000 Soldaten ausliefern können. Sie schlugen zwei mögliche Routen vor43 – die erste, von Botschafter Carlotti in Petrograd allerdings verworfen, sah die Einschiffung auf der Nördlichen Dwina und eine Fahrt Richtung Norden bis zur Mündung in Archangeľsk, einem wichtigen Hafen am Weißen Meer, vor. Von dort sollten die Gefangenen über eine lange Seeroute mit Umsegelung der skandinavischen Halbinsel und Landung in England nach einer insgesamt etwa dreiwöchigen Reise schließlich Italien erreichen. Kürzer und allem Anschein nach einfacher war die Balkanroute, auf der die Gefangenen an der russisch-rumänischen Grenze ausgehändigt werden sollten, um dann über Rumänien, Bulgarien und Griechenland bis nach Thessaloniki zu fahren und dort auf italienischen Schiffen weitertransportiert zu werden. Diese Variante war allerdings alles andere als einfach, denn 39 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2 Prigionieri irredenti in Russia, Carlotti an Außenministerium in Rom, 27.5.1915. 40 Ebd., Salandra a Sonnino, 29.5.1915. 41 Antonelli, I dimenticati 184f. 42 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2 für die gesamte Dokumentation zum Thema. 43 Ebd., Sonnino an die Botschaft Petrograd und die Gesandtschaft Bukarest, 16.6.1915; DDI, V serie, vol. IV, n. 146, Carlotti an Sonnino, 10.6.1915.

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die neutralen Balkanstaaten, die ihre Grenzen öffnen sollten, wurden sowohl von den Mittelmächten als auch von der Entente unter Druck gesetzt. Auch Wien handelte, und zwar gegen Roms Intervention. Über seine Vertreter in Athen, Sofia und Bukarest gab man zu verstehen, eine etwaige Durchreise der Gefangenen als Verletzung der Neutralität zu betrachten. Österreich-Ungarn wusste genau über das Vorgehen Italiens Bescheid, denn die italienischen Zeitungen boten großzügig eine Fülle genauer und verlässlicher Informationen, die meist von der Tageszeitung „Il Giornale d’Italia“ verbreitet wurden, die als Sprachrohr des Außenministeriums betrachtet werden konnte44. Vergleicht man die Korrespondenz der Balkanstaaten mit Österreich-Ungarn auf der einen und Italien auf der anderen Seite, fällt auf, welche Mühe man sich gab, die beteiligten Parteien irgendwie zufriedenzustellen45. Der rumänische Ministerpräsident Ion Brătianu erklärte, dass er nur Kleingruppen von maximal 20 Personen in Zivil und mit italienischen Dokumenten durchreisen lassen werde – ein Standpunkt, den bald auch die griechische Regierung in Athen vertrat46. Rumänien zog allerdings einen Transport der Gefangenen über die Donau vor: Sie sollten in Reni auf russischem Staatsgebiet eingeschifft und bis nach Prahovo in Serbien gebracht werden, von wo sie wiederum mit dem Zug nach Thessaloniki fahren sollten. Auf diese Weise hoffte man, Beanstandungen Österreich-Ungarns zu vermeiden. Das bedeutete die Einbindung Serbiens, was das Vorhaben zwar einerseits erleichterte, weil sich das Land bereits im Krieg mit Österreich-Ungarn befand, andererseits aber aufgrund der kriegsbedingt schwierigen Lage vor Ort und der Kluft zwischen Belgrad und Rom, die beide Ambitionen auf den mehrsprachigen adriatischen Raum hegten, auch komplizierter machte. Die serbische Regierung erklärte sich bereit, die Gefangenen in Prahovo in Empfang zu nehmen, die griechische Grenze sollten sie allerdings in einem langen Fußmarsch erreichen, weil die überlasteten Bahnlinien für Kriegstransporte reserviert waren47. Wenige Tage später wirkte das Angebot Serbiens 44 Zu dieser Zeitung vgl. Guido Donnini, Il 1917 di Russia nella stampa italiana (Mailand 1976) 2. Als Beispiel siehe: 6000 prigionieri italiani ci verrebbero consegnati dalla Russia, in: Corriere della Sera 11.7.1915 6, wo auf einen Artikel aus Il Giornale d’Italia Bezug genommen wird. 45 Die hier erwähnte Korrespondenz befindet sich in: ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 19f Austausch der von den Gegnern der Zentralmächte gemachten Kriegsgefangenen polnischer, serbischer und italienischer Nationalität zwischen Russland, Serbien und Italien, 1915–1918, Kt. 939 und in: ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2. 46 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, der Regierungsbevollmächtigte (ministre plénipotentiaire) Carlo Fasciotti an das Außenministerium in Rom, 24.6.1915; ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg 19f, Minister des Äußern in Wien an die Botschaften in Bukarest und Athen, 21.7.1915. 47 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, der Regierungsbevollmächtigte (ministre plénipotentiaire) in Niš, Nicola Squitti, an das Außenministerium in Rom, 5.7.1915.



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noch weniger akzeptabel auf Italien, denn der Balkanstaat hatte die Bedingungen näher spezifiziert: „Sollten unter den Gefangenen serbisch-, kroatisch- oder slowenischstämmige Personen sein und diese in Serbien bleiben wollen, kann die serbische Regierung sie nicht zwingen, sich nach Italien zu begeben“48. Damit wurde die Zugehörigkeit sämtlicher von den Russen auszuliefernden 6.000 Soldaten zu Italien beziehungsweise der italienischen Welt zur Diskussion gestellt, denn man vermutete, dass einige aus dem Küstenland und vor allem aus Dalmatien als slawischstämmig einzustufen wären. Es ging hier weniger um das Los der Gefangenen, sondern vielmehr um jenes der Gebiete, aus denen sie stammten. Sie allesamt als Italiener zu betrachten, konnte als Anerkennung der Zugehörigkeit sämtlicher Herkunftsgebiete zu Italien ausgelegt werden. Die Gefangenen wurden also im Namen einer nationalen Zugehörigkeit, deren Feststellung sich die jeweiligen Staaten vorbehielten, zum Streitgegenstand. Doch Sonnino hatte bereits wenige Tage zuvor beschlossen, sich vom Gedanken, alle 6.000 Gefangenen nach Italien zu holen, zu verabschieden – er begründete dies mit den „praktischen Schwierigkeiten, die uns so oder so auf dem Weg erwarten, den diese Gefangenen zurücklegen müssten“. In Wirklichkeit scheiterte dieser frühe Transportplan aber nicht an den durchaus überwindbar wirkenden logistischen Schwierigkeiten und auch nicht am Wettstreit mit Serbien um die slawischstämmigen Soldaten, sondern vielmehr an einer unangenehmen Nachricht aus Russland: Es hieß, viele der 6.000 italienischen Gefangenen hätten bereits erklärt, nach einer Rückkehr nach Italien nicht wieder in den Krieg ziehen zu wollen. Dies war Sonnino von Carlotti mitgeteilt worden, der erläuterte, dass nur einige Offiziere und ein paar hundert Soldaten den Wunsch geäußert hatten, beim italienischen Heer als Kombattanten einzurücken, während die übrigen, „überwiegend Bauern“, eine Befreiung vom Kriegsdienst bevorzugten. Die Situation wurde auch von der russischen Regierung bestätigt, die den Gefangenen im Rahmen der Sammelverfahren aus eigener Initiative hatte mitteilen lassen, dass von ihnen erwartet werde, für Italien gegen Österreich-Ungarn zu kämpfen – die Reaktionen darauf waren jedoch alles andere als begeistert ausgefallen49. Sonnino beschloss, den Kampfeswilligen mitteilen zu lassen, dass ihrem Wunsch im Umfang und nach Maßgabe der von den Militärbehörden festgelegten Bestimmungen entsprochen werde und sie im Hinblick auf den Rücktransport Vorrang hätten. Was die anderen anbelangte, so könne ihr Wunsch, nicht wieder einrücken und gegen die Doppelmonarchie kämpfen zu müssen, berücksichtigt werden, allerdings ohne „sie allzu rasch nach Italien zu holen. Auf diese Weise

48 DDI, V serie, vol. IV, n. 389, Squitti an Sonnino, 10.7.1915. 49 Molignoni, Trentini prigionieri 47f.; Bazzani, Soldati italiani 49f.

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werden der Staatskasse beträchtliche Ausgaben sowohl für den Transport als auch für ihren Unterhalt im Königreich erspart“50. Der Transfer wurde also durch eine bewusste Entscheidung der italienischen Regierung verhindert, denn sie wollte die Italiener, die in italienisches Staatsgebiet verbracht werden sollten, genau auswählen – alle, die nicht bereit waren, erneut einzurücken, sollten nicht zum Transport zugelassen werden. Aus Regierungssicht war eine Rückführung aller Gefangenen auch mit der Gefahr verbunden, sich potenzielle Verräter und Spione nach Italien zu holen, ganz zu schweigen von den beträchtlichen Ausgaben. Den betroffenen Gefangenen, welche die zuvor begonnene Zusammenführung der Italiener als Beginn ihrer Reise in die neue Heimat betrachtet hatten, wurde erklärt, dass die plötzliche Unterbrechung ausschließlich der im Oktober 1915 erfolgten Kriegserklärung Bulgariens an die Ententemächte geschuldet sei, aufgrund der die Balkanroute keine Option mehr darstelle. Das war übrigens auch die offizielle Version, die den Weg in die italienische Presse fand und auch nach dem Krieg von der Memoirenschreibung überzeugt bekräftigt wurde51. Aus gebührendem Respekt vor dem edlen Angebot des Zaren beschloss Sonnino allerdings, zumindest die Rückführung von ein paar hundert Offizieren zu organisieren, womit das Ausmaß des Unternehmens erheblich reduziert wurde – nun war es nicht mehr als ein rein symbolischer Akt der Wertschätzung für die Hilfsbereitschaft des Zaren52. Damit begann auch eine Politik, die von Sonnino als Politik von Fall zu Fall beziehungsweise auf Einzelfallbasis (caso per caso) definiert wurde, was bedeutete, dass die Gefangenen, die nach Italien kommen sollten, sorgfältig ausgewählt wurden. Nur die, die vom nationalen Standpunkt aus als vertrauenswürdig betrachtet werden konnten, kamen für den Transport in Frage. Rom erhielt von den Moskauer Behörden Unterstützung, als es zu verhindern versuchte, dass Serbien die Kolonne der nach Italien kommenden Soldaten abfinge und es in weiterer Folge zu „Diskriminierungen kommt, die auf der Herkunft der Gefangenen beruhen (Trentino, Istrien, Dalmatien etc.)“53. Sonnino erklärte, eine Selektion der Gefangenen durch Serbien nach der bereits durch Russland vorgenommenen Auswahl nicht akzeptieren zu wollen, weil damit zu rechnen sei, dass die dalmatinischen Italiener instrumentalisiert und ausgeschlossen würden: „Statt auf derartige Forderungen einzugehen, teilen wir der russi50 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Carlotti an Sonnino, 7.7.1915, Sonnino an Salandra, 7.7.1915, Salandra an Sonnino, 8.7.1915. 51 Siehe dazu etwa Virginio Gayda, Il dovere nazionale. I prigionieri italiani in Russia, in: La Stampa 20.5.1916 2; Molignoni, Trentini prigionieri 45, 60; Silvio Viezzoli, Un anno e mezzo di prigionia in Russia. (Dal 25 marzo 1915 al 25 settembre 1916) (Triest 1928) 25f. 52 DDI, V serie, vol. IV, n. 386, Sonnino an Carlotti, 10.7.1915. 53 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf 2, Sonnino an Carlotti, 13.8.1915.



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schen Regierung mit, dass wir das Angebot S. M. des Zaren nicht annehmen, denn wenn wir hoheitliche Handlungen der serbischen Regierung gegenüber Dalmatinern dulden, schaffen wir damit einen für uns gefährlichen Präzedenzfall“54. Die Konkurrenz durch Serbien konnte dank der Tatsache überwunden werden, dass die meisten Gefangenen, die nach Italien gebracht werden sollten, Trentiner waren. Nicht umsonst bezeichnete Sonnino die betroffenen Gefangenen während der gesamten Diskussion über deren etwaige Rückführung entlang der Balkanroute regelmäßig als „Trentiner“ und nicht allgemeiner als Italiener: So wurde jede Bezugnahme auf jene, die aus dem Litorale oder Dalmatien stammten, vermieden55. Wir wissen heute, dass die Trentiner in der Mehrzahl waren, aber sie waren natürlich nicht allein. Die Tatsache, dass sie voll und ganz Italiener waren, sollte anscheinend von niemandem angezweifelt werden – hätte Sonnino betont, dass sie aus einem ethnisch gemischten Gebiet stammten, wäre jedoch genau das passiert. Da man sich zwischen Rom und Belgrad über die die nationale Zugehörigkeit der dalmatinischen Gefangenen uneinig war, wurde das Thema eines möglichen Gefangenenaustausches zwischen den Bündnispartnern Italien und Serbien, die beide gegen Österreich-Ungarn gekämpft und Soldaten sämtlicher Nationalitäten des Habsburgerreiches gefangen genommen hatten, nicht einmal angesprochen. Sonnino forderte den Vertreter der italienischen Gesandtschaft in Serbien nachdrücklich auf, besagte Frage niemals gegenüber der serbischen Regierung zu erwähnen, nachdem dieser von sich aus private und vertrauliche Gespräche darüber geführt hatte56. Natürlich wurden nur die Gefangenen mit Dienstgrad einer staatlichen Intervention für würdig erachtet, auch weil in ihren Reihen mehr Unterstützer Italiens zu finden waren. Von ihnen wiederum wurden jene bevorzugt, die sich dem italienischen Heer anschließen wollten57. Im Verhältnis zu den 6.000 Soldaten, die Russland ausliefern wollte, war dies nur eine Handvoll Männer, doch Sonnino erteilte die Anweisung, auch unter ihnen stark zu selektieren, auch wenn der Transport dadurch um einiges länger dauern würde. Er forderte Botschafter Carlotti auf, ihm die „offizielle Namensliste der gefangenen Trentiner, die nach Italien kommen werden, und möglichst genaue Informationen über deren italienische 54 Ebd., Sonnino an die Botschaft in Petrograd und die Gesandtschaft in Niš, undatiertes und zurückgehaltenes Telegramm, das allerdings im August 1915 verfasst wurde. Die Problematik fand fast ungefiltert ihren Weg in die italienische Presse, vgl. dazu etwa den Artikel I prigionieri italia­ ­ni in Russia e l’ostacolo del passaggio in Serbia, in: Il Giornale d’Italia 5.8.1915. 55 Siehe etwa DDI, V serie, vol. IV, n. 119, Sonnino an Carlotti, 8.6.1915; ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Sonnino an Carlotti, 1.9.1915. 56 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Squitti an Sonnino, 23.7.1915 und 7.8.1915. 57 Ebd., Salandra an Sonnino, 2.10.1915.

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Gesinnung“ zu übermitteln58. In Erwiderung dieser Aufforderung schickte der Botschafter ein beim russischen Generalstab akkreditiertes Mitglied der italienischen Militärmission zu den Rückführungskandidaten unter den Offizieren. Dieser Mann sollte mit ihnen sprechen, um so „grobe Unannehmlichkeiten“ und in weiterer Folge „eine Verbringung von Personen nach Italien, auf die nicht ausreichend Verlass ist“, zu verhindern59. Doch nicht nur die einhundert Auserwählten durften die Reise nach Italien antreten. Eine Maßnahme der Regierung gestattete allen italienischen Gefangenen mit Offiziersgrad die Einreise ins Königreich, wobei die Reisekosten vollständig von den Rückkehrern zu tragen waren60. Die italienischen Konsularbehörden intervenierten, um die Freilassung zu erleichtern, und stellten ihnen reguläre Reisepapiere aus, danach oblag es allerdings dem jeweiligen Dienstgradinhaber, die Route auszuwählen und die benötigten Fahrkarten zu besorgen. In den darauffolgenden Monaten gelangte eine nicht näher bekannte Anzahl dieser Gefangenen auf verschiedenen Wegen nach Italien – über den Balkan, aber auch über Schweden oder England, und das ohne jede Koordinierung oder Organisation. Darüber beschwerte sich die italienische Botschaft in London, die einigen von Russland per Schiff nach Newcastle gereisten Offizieren völlig unerwartet Geld zur Verfügung stellen musste, weil die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel nicht mehr genügten, um die Reise zu beenden61. Nur Offiziere konnten sich die notwendigen Ausgaben leisten, weil sie durch die Haager Abkommen einige Privilegien genossen, darunter einen monatlichen Sold, der demjenigen der Inhaber desselben Dienstgrades in jenem Land entsprach, in dem sie jeweils festgehalten wurden. Dafür mussten sie noch nicht einmal eine Gegenleistung erbringen62. Vor allem aber waren es die herkunftsbedingte gesellschaftliche Stellung und die Möglichkeit, sich von der Familie Geld schicken zu lassen, die letztlich den Unterschied gegenüber einem einfachen Soldaten ausmachten. Trotzdem war es nicht leicht, die entsprechende Summe zusammenzubekommen, denn es waren immer mindestens 500 bis 600 Lire, für die die Gefangenen um einen Vorschuss der Regierung ersuchten, den sie später verpflichtend zurückzahlen wollten. Dieser wurde ihnen jedoch nicht gewährt63. Die Entscheidung, nur die Offiziere zu befreien und ihnen die Rückreise zu gestatten, war gegenüber der großen Masse der Soldaten doppelt diskriminie58 59 60 61 62 63

Ebd., Sonnino an Carlotti, 1.9.1915. Ebd., Carlotti an Sonnino, 8.9.1915. ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Sonnino an Carlotti, 5.1.1916. Ebd., der Botschafter in London, Guglielmo Imperiali, an Sonnino, 20.6.1916. Rachamimov, POWs 73. ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Riccardo Zanella an Carlotti, 16.1.1916.



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rend. Einerseits wurde dadurch das Desinteresse deutlich, das die italienischen Institutionen ihnen gegenüber zeigten. Ihnen war nämlich bewusst, dass sie in der Elite der Dienstgradinhaber auf eine größere patriotische Begeisterung stoßen würden als unter den Soldaten allgemein. Gaetano Bazzani, ein Trentiner Offizier des Königlichen Heeres und Mitglied der italienischen Militärmission in Russland, auf die später noch genauer eingegangen werden soll, beschrieb die Masse der Gefangenen sehr treffend als „Leute, die Italien nur aus der Beschreibung der österreichischen Behörden kannten. […] Es handelte sich um einfache Menschen mit langsamer politischer Wahrnehmung“64. Andererseits wurde den zurückbleibenden italienischen Gefangenen durch die Abreise eines beträchtlichen Anteils der Offiziere ein wichtiger Bezugspunkt genommen. Außerdem waren diese für die Kommunikation mit den russischen Behörden und für die Vermittlung zu ihnen äußerst wichtig gewesen. Der einfache Soldat konnte seine Bedürfnisse ausschließlich über die Dienstgradinhaber mitteilen, weil diese als einzige in den Lagerkommandos Gehör fanden. Oft hatten die Offiziere zudem eigene Mittel zur Verfügung gestellt, um die unerträglichen Bedingungen in den Gefangenenlagern etwa durch den Erwerb von Medikamenten und Lebensmitteln zu verbessern. Ohne diese Ressourcen hatten die gefangenen Soldaten einen noch schlechteren Stand. Die sorgfältige Selektion in Russland stellte allerdings für die auserkorenen Offiziere noch keine Garantie für eine problemlose Einreise in das Königreich Italien dar. Obwohl sie als Italiener anerkannt wurden und einige von ihnen bereit waren, sofort ins italienische Heer einzurücken, kamen sie unmittelbar nach Betreten italienischen Bodens unter strenge Beobachtung. Extrem, aber bezeichnend ist der Fall von drei Offizieren, von denen zwei aus Triest und einer aus Zadar stammten. Sie waren am 25. September 1915 mit einem Dampfer nach Syrakus gekommen, nachdem sie zuvor mit regulären, von der italienischen Gesandtschaft in Bukarest ausgestellten Reisepapieren auf dem Landweg nach Thessaloniki gereist waren. Zwei von ihnen waren durch Intervention des Triestiners Salvatore Barzilai, Minister für die befreiten Gebiete (terre liberate), aus der Gefangenschaft entlassen worden, der dritte durch die Vermittlung eines Florentiner Dozenten, und alle ersuchten um Einziehung ins italienische Heer. Der Ausschuss für Kriegsgefangene im italienischen Kriegsministerium ordnete jedoch im Sinne der für gefangene Offiziere vorgesehenen Behandlung ihre sofortige Internierung im Castello Ursino in Catania an65. Ihre Proteste und die Intervention der Regierung führten zu einer baldigen Entlassung, jedoch nicht 64 Bazzani, Soldati italiani 50. 65 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Vorsitzender des Kriegsgefangenenausschusses an Außenministerium, 30.9.1915.

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Abb. 12: Trentiner Kriegsgefangene in Russland (Laboratorio di storia di Rovereto).

zu einer Einziehung, die das Kriegsministerium für unangebracht hielt – auch aufgrund der Grundsatzentscheidung, die für alle galt, die aus den terre irredente stammten, und gemäß der aktive österreichische Offiziere nicht einrücken durften66. Die Bereitschaft zu einer erneuten Einrückung, welche die Rückführungskandidaten bekundeten, wurde von den italienischen Behörden sofort registriert, diente allerdings nur als Gradmesser für den Patriotismus der Gefangenen und stellte keinesfalls den ersten Schritt zu einer tatsächlichen Einziehung dar. In dieser Sache war der Standpunkt der italienischen Regierung und des Oberkommandos lange Zeit unklar und mehr oder weniger bewusst diffus. Was sollte mit den Gefangenen nach ihrer Ankunft in Italien passieren? Sollten sie ins italienische Heer eingezogen werden? Alle oder nur Freiwillige? Sollten sie im Falle einer Einrückung an die Front kommen und dort gegen ihre ehemaligen Kameraden kämpfen oder im Etappengebiet eingesetzt werden? Diese Fragen stellten die italienischsprachigen Gefangenen immer wieder aufs Neue, erhiel66 Ebd., Kriegsminister Vittorio Zupelli an Außenministerium, 7.10.1915.



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ten jedoch monatelang nur ausweichende oder widersprüchliche Antworten. Es handelte sich jedoch um Informationen, die unverzichtbar waren, um eine bewusste Entscheidung zu treffen. Die Annahme der Militärführung, dass Soldaten, die Hab und Gut zurückgelassen hatten, dem Schrecken des Krieges – ob nun bewusst vorgehend oder nicht – entkommen waren, die Vorstellung begrüßen würden, möglicherweise in die Schützengräben zurückzukehren und dort auf ihre ehemaligen Kameraden schießen zu müssen und sich somit radikal gegen jenes Land zu stellen, in dem sie ihre Familie und ihr Hab und Gut zurückgelassen hatten, erwies sich als blauäugig. Die österreichische Gegenpropaganda betonte unverzüglich die Folgen einer derartigen Entscheidung: Alle Verräter, die auf dem Schlachtfeld ertappt würden, erwarte der Galgen, hieß es, sowie generell die Beschlagnahmung ihres Vermögens. Die Gefangenen wandten sich vergebens an die italienischen Behörden in Russland, um genauere Informationen zu erhalten. Ab Juni 1915 erhielt der italienische Konsul in Moskau, Adelchi Gazzurelli, Unmengen von Briefen, in denen die Ängste all jener, die sich für Italien entschieden hatten oder dies zu tun gedachten, mehr als deutlich zum Ausdruck kamen. Vier Trentiner, drei davon Reserveoffiziere, bezeichneten sich in gutem Italienisch als „echte Italiener“ und Deserteure aus Überzeugung und baten darum, so schnell als möglich und ohne gröbere Schwierigkeiten die italienische Staatsbürgerschaft zu erhalten, „um mit dem Gewehr in der Hand unsere Pflicht zu tun“67. Ohne eine solch schwerwiegende Verpflichtung einzugehen, bezeichneten sich ein Friauler und ein Istrianer unter Verwendung eines völlig anderen Sprachregisters in dürftigem Italienisch als „hoffentlich italienische Untertanen“ und äußersten den Wunsch, „von den Ketten Österreichs befreit zu werden, von denen wir seit Jahren befreit werden wollen, durch Euch, Exzellenz!68“ Dazu kamen noch all jene, die grundsätzlich bezüglich ihrer Entscheidung keinerlei Zweifel hatten, aber dennoch um weitere Informationen ersuchten, „da wir die ersten Schritte nicht auf die leichte Schulter nehmen wollen, denn sie könnten uns zum Nachteil gereichen“69. Einige wandten sich bereits zum zweiten Mal an den Konsul und erklärten, von einem russischen Offizier über die Möglichkeit einer Befreiung und Verbringung nach Italien informiert worden zu sein, „er konnte allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob wir dort dann völlig frei sind oder ins Heer gegen Österreich eingezogen werden, sodass ich nach meiner Ankunft dort nicht verpflichtet sein möchte, erneut in den Krieg zu ziehen“. Verlangt wurde also „eine Garantie, denn ich 67 ASMAE, Russia, b. 25, fasc. Prigionieri ed internati, vier Trentiner Gefangene an Gazzurelli, 12.7.1915. 68 Ebd., Davide Zappador und Romano Spagnul an Gazzurelli, 6.10.[1915]. 69 Ebd., Gefangene aus Atschinsk an Gazzurelli, 14.6.1915.

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möchte nicht eines Tages bereuen, was ich getan habe“70. Neben diese explizite Aufforderung setzte der Konsul drei Rufzeichen und den eindeutigen Vermerk „verdient keine Antwort“, was deutlich machte, dass er den eigennützigen Ton dieser Fragen absolut geringschätzte. Doch auch allen, die sich respektvoller an ihn wandten und lediglich nachfragten, ob die Einziehung verpflichtend sei, musste er schließlich am 22. Juni mitteilen, dass noch keine endgültige Entscheidung getroffen worden war71. In den nächsten Wochen schien sich zwischen Regierung und Militär die Linie herauszukristallisieren, dass ein Einsatz der Gefangenen im Kampf unangebracht sei. Der Kriegsminister äußerste sich als Erster dazu und erläuterte, dass die Gefangenen mit italienischer Nationalität, die aus Russland nach Italien kommen würden, „nicht nur keinerlei Verpflichtung haben sollten, gegen die Doppelmonarchie zu kämpfen, sondern nicht einmal dazu berechtigt sein sollten“72. Diese Entscheidung wurde primär damit begründet, dass die Gefangenen nicht als Verräter hingerichtet werden sollten, falls sie den Österreichern in die Hände fielen, und weniger damit, dass man nicht allen, die zuvor auf der Seite des Feindes gekämpft hatten, vertrauen könne. Salandra sollte daraus auch eine Frage des „Stils“ machen, als er auf die Bitte eines von den Italienern gefangengenommenen italo-österreichischen Leutnants, der um Einziehung ins italienische Heer bat, erwiderte, er halte es für moralisch untragbar, „dass ein Offizier, auch wenn seine Nationalität italienisch ist, zuerst in einem Heer kämpft und dann im gegnerischen“73. Schon zuvor hatte das Kriegsministerium ähnlich geartete Anfragen österreichischer Deserteure und gefangener Offiziere, die von den Russen befreit worden waren, abgewiesen74. Tatsächlich war der offizielle Standpunkt weiterhin diffus und schwankend und die Nachrichten an die Gefangenen verschieden und widersprüchlich, sodass viele lange davon ausgingen, in Italien eingerückt und an die Front geschickt zu werden. Darüber beschwerten sich die Gefangenen selbst75, aber auch Persönlichkeiten aus irredentistischen Kreisen (etwa Riccardo Zanella, ehemaliger Bürgermeister von Fiume, der Ende 1915 aus

70 71 72 73

Ebd., Umberto Rizzian an Gazzurelli, o. D. Ebd., Entwurf der Antwort Gazzurellis an zwei Gefangene, 22.6.1915. ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Zupelli an Sonnino, 16.7.1915. ACS, PCM, GE, b. 99, fasc. 19/4–6/35 Militari dell’Esercito austriaco prigionieri, disertori ecc. Domande per essere assunti in servizio nell’Esercito italiano, Salandra an Zupelli, 25.11.1915, zit. in: Alessandro Tortato, La prigionia di guerra in Italia. 1915–1919 (Mailand 2004) 127 und später in: Mondini, La guerra italiana 307. 74 ACS, PCM, GE, b. 99, fasc. 19/4–6/35, Zupelli an PCM, 18.11.1915. 75 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Ausschuss italienischer Gefangener in Kirsanow an die italienische Botschaft Petrograd, 21.10.1915.



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russischer Kriegsgefangenschaft befreit wurde)76 und sogar der stellvertretende Stabschef Italiens, Carlo Porro77. Während ein paar hundert Offiziere nach Italien gelangten, begann für den Großteil der Gefangenen eine lange Zeit der Ungewissheit, geprägt von der Hoffnung auf ein rasches Ende der Gefangenschaft, die jedoch immer mehr schwand. Aufgrund der „Schwierigkeiten auf dem Balkan“ schlugen die Russen erneut eine Verbringung über den Seeweg von Archangeľsk aus vor, doch die italienische Regierung spielte auf Zeit – ihre Ausrede lautete, dass kein Flottenbegleitschutz gewährleistet werden könne, doch der wahre, von ihr auch explizit dargelegte Grund für den Stopp des Transfers war die Notwendigkeit einer „sorgfältigen und überlegten Selektion der zu befreienden Personen“78. Man erklärte den Russen, dass vor jedem Transferplan die Zusammenführung sämtlicher Italiener erfolgen müsse, um deren Gesamtanzahl zu ermitteln und herauszufinden, wie viele von ihnen nach Italien wollten79. Das Sammeln der Italiener erfolgte weiterhin nach sehr unterschiedlichen Kriterien, je nach Entscheidung der Zonenkommandos, von denen einige nur die Freiwilligen für die Front zusammenführten, andere alle, die als Gefangene nach Italien wollten, andere wiederum alle Italienischsprachigen, darunter auch Österreichtreue. In den Tagebüchern und Erinnerungen der Soldaten wird oft die Ungewissheit und Verwirrung jenes Schicksalsmomentes spürbar, in dem sie alle versammelt waren und gefragt wurden, ob sie auf die Seite Italiens wechseln wollten. Oft wurde die schwierige Frage von einem russischen Offizier gestellt, manchmal aber auch vom Besitzer oder Leiter des landwirtschaftlichen Betriebes, in dem die Gefangenen arbeiteten. Es kam nicht selten zu Verständigungsschwierigkeiten, und häufig war nicht klar, unter welchen Voraussetzungen die Reise nach Italien angetreten werden durfte. Sehr oft kam es auch dazu, dass in den streng genommen nur für die nach Italien zu verbringenden Gefangenen bestimmten Lagern sowohl italianissimi als auch austriacanti untergebracht waren, wenn auch in getrennten Bereichen. Nicht selten kamen die beiden Gruppierungen überhaupt nicht miteinander aus, und es kam zu verbalen sowie körperlichen Auseinandersetzungen, aber auch zu Versuchen, die Entscheidung der Kameraden zu beeinflussen. Man kämpfte um die Unentschlossenen oder äußerte sich verächtlich gegenüber all jenen, die die „falsche“ Entscheidung getroffen hatten. Der Trentiner De Manincor berichtet darüber, wie einige hundert überzeugte Irredentisten, die alle unbedingt ins ita76 77 78 79

ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Zanella an Carlotti, 16.1.1916. Ebd., Porro an Ministerpräsident Paolo Boselli, 24.7.1916. ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Sonnino an Carlotti, 20.10.1915. Ebd., Generalsekretär des Außenministeriums De Martino an Barzilai, 25.10.1915.

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

lienische Heer einrücken wollten, von Darnyzja nach Tambow gebracht wurden. Nachdem sie in der Stadt angelangt waren, wurden sie beim Theater abgesetzt, das zum Gefangenenlager umfunktioniert worden war. Gerade waren etwa 200 weitere Freiwillige für das italienische Heer aus dem Theater nach Kirsanow gebracht worden und somit noch 2.000 Italiener vor Ort, die allerdings „durch und durch Österreicher“ waren. Die neu angekommenen Gefangenen beschlossen, sich herauszuhalten und im Hof zu schlafen, entschieden sich dann am Morgen aber doch dafür, die italienische Trikolore zu schwingen, was die anderen mit wütenden Reaktionen sowie lauten österreichfreundlichen und italienfeindlichen Rufen quittierten. Und mitten im verbündeten Russland schrien sie uns ins Gesicht, dass sie unsere Fahnen zerreißen und unsere Namen der österreichischen Regierung verraten würden. Ein elendiger Sergeant namens Ronchi, früher Polizeibeamter in Pula […], der große Rädelsführer dieses Gesindels, fuhr wie einige weitere Halunken alle Geschütze auf – Drohungen und Schmeicheleien, Lügen und Gemeinheiten, um die Schwachen in unseren Reihen auf seine Seite zu bekommen. Das hier ist ein Nest voller Bestien, alle, die vom Ortler bis zum Lovćen das Mutterland verkennen, sind hier versammelt. Weil sie sich nie saubermachen, weil sie im ekelhaftesten Dreck dahinvegetieren, weil sie austriacanti sind, Österreichtreue, bekommen sie wunderbares Essen, Fleisch und Suppe, die wir Freiwilligen bislang nicht einmal im Traum zu Gesicht bekommen haben. Schon gab es die ersten Hiebe, doch als die guten karaù bemerkten, dass wir uns nicht vertragen wollten, verbannten sie uns, die wir rebellisch und stürmisch waren, auf die Galerie des Theaters. Wir zählten durch: vierzig von vierhundert, die wir gewesen waren, fehlten schon, und das wegen einer schändlichen Propaganda, die gerade einmal ein paar Stunden gedauert hatte. Gegen diese ungebildete, rüpelhafte und blöde Menge, die nicht nach Italien kommen will, weil sie alle Angst haben, die zwölf Kronen Pension für ihre „Tapferkeitsmedaille“ zu verlieren oder weil ihre Landsmänner nicht hingehen, hissten wir die Trikolore. Im Parkett spie man Feuer und rief den ganzen Tag: „Anzünden! Anzünden!80

In seiner Abneigung gegenüber den austriacanti, den Schwachen und Unentschlossenen verdeutlicht der Irredentist De Manincor, wie radikal die Auseinandersetzung in den Reihen der österreichischen Italiener ausfiel. Sie war durch Interventionen und gegenseitigen Druck der österreichischen, italienischen und russischen Behörden ausgelöst worden und wurde noch weiter befeuert. Ende September 1915 hatten die Russen 6.194 Soldaten und 120 Offiziere italienischer Nationalität isoliert, von den nur 1.633 beziehungsweise 48 nach 80 De Manincor, Dalla Galizia 90–92.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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Italien wollten81. Gemäß den Vereinbarungen zwischen den beiden Ländern sollten die 48 Offiziere ins Lager Kirsanow im Gouvernement Tambow etwa 600 Kilometer südöstlich von Moskau gebracht werden und dort während der kurzen Wartezeit auf die Reise nach Italien eine bevorzugte Behandlung genießen, doch letztlich kam alles ganz anders: Die Italiener wurden auf zahlreiche andere Gefangenenlager aufgeteilt, etwa Poltawa und Orlow in der Ukraine 82, fanden sich aber auch in Klein- oder Kleinstgruppen im riesigen russischen Reich wieder, oft ohne über die neue Situation, die durch Italiens Kriegseintritt entstanden war, Bescheid zu wissen. Die österreichischen Italiener mussten für das Desinteresse und die mangelnde Organisation der russischen, aber auch das Zögern und Misstrauen der italienischen Behörden büßen – und das, während sie von österreichischer Seite durch Briefzensur streng kontrolliert und von italienischer Seite patriotischen Erziehungsversuchen unterzogen wurden. 3. Unruhe in den Gefangenenlagern Die Lebensbedingungen in den Gefangenenlagern waren sehr unterschiedlich, auch innerhalb der italienischen Kriegsgefangenen. Sehr viel hing von den Insassenzahlen, den Umwelt- und Witterungsbedingungen, aber auch vom Verhalten der Kommandanten ab, die in einigen Fällen auch jene Italiener, die mit Österreich bereits gebrochen hatten, weiterhin voll und ganz als Gefangene betrachteten und ihnen keine bevorzugte Behandlung zuteilwerden ließen. Oft bedeutete die Verbringung in ein großes Auffanglager eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen. Nachdem die Gefangenen zuvor auf Bauernhöfen und bei Bauernfamilien gearbeitet und gelebt hatten, wo sie zu essen bekamen und einen angemessenen Lohn erhielten, waren sie nun in notdürftigen und überfüllten Unterkünften untergebracht, wo die Verpflegung oft nicht ausreichte. Das Risiko, sich mit Infektionskrankheiten anzustecken oder aufgrund der großen Zahl an Arbeitssuchenden keine Beschäftigung zu finden, war sehr groß. In einem Brief an den italienischen Konsul in Moskau beschrieben mehrere Gefangene aus Orlow die Verschlechterung ihrer Situation durch die Verbringung in das große Sammellager in so dramatischen Tönen, dass ihre frühere Situation im Vergleich dazu paradiesisch wirkte.

81 Die Daten stammen aus: DDI, V serie, vol. IV, n. 821, Sonnino an Carlotti, 28.9.1915, und aus dem Schreiben mit den korrigierten Zahlen in: ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Carlotti an Sonnino, 30.9.1915. 82 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, interner Bericht für den Außenminister, 22.11.1915.

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Von wenigen Ausnahmen abgesehen ging es den italienischen Gefangenen unter den slawischen Gefangenen relativ gut, sehr oft überhaupt hervorragend. Durch die Unterbringung bei Privatpersonen, die sie häufig wie ihre eigenen Kinder oder Brüder behandelten, mussten sie sich um nichts sorgen, konnten bisweilen auch Sport treiben oder sogar jagen; je nach Beruf waren sie in Werkstätten, beim Bau der Eisenbahnlinien oder auf dem Land beschäftigt und bekamen somit auch einen angemessenen Lohn; da sie in der Stadt kaserniert waren, hatten sie mehr als genug zu essen und genossen relative Freiheit, sodass sie sich tagsüber in der Stadt und ihrer Umgebung frei bewegen konnten […]. All das ist für uns nun vorbei!83

Gerade die Vereinbarungen zwischen Italien und Russland, deren Ziel eigentlich eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die italienischen Gefangenen gewesen war, hatten diesem Idyll also paradoxerweise ein Ende gesetzt. Auffangzentren, die mit Blick auf einen raschen Transport der Gefangenen nach Italien eingerichtet worden waren, wurden zu Lagern, in denen tausende Männer auf unbestimmte Zeit und unter immer schwierigeren Lebensbedingungen untergebracht waren. Dazu kam es vor allem in Kirsanow, das als Abfertigungs- und Auffangzentrum für die auf den Transport nach Italien wartenden Italiener ausgewählt worden war. Es war aufgrund der steigenden Gefangenenzahlen bald überfüllt, und da die Aussichten auf die Reise in immer weitere Ferne rückten, waren die Bedingungen bald unerträglich. Dementsprechend war die Stimmung in den Gefangenenlagern bald extrem schlecht – das spiegelt sich in den zahlreichen Briefen und Bittgesuchen an die italienischen Behörden wider. „Es lässt sich nicht leugnen: Nach all der Begeisterung und Hoffnung macht mir dieses furchtbare Elend Angst“, schreibt etwa der Trentiner Giuseppe Angelini aus dem Lager Poltawa und bezeichnet die Situation, in der er sich nun vor der Abreise, die in immer weitere Ferne zu rücken schien, wiederfand, als „bedauernswert“84. Der in Omsk untergebrachte Romano Pini schlug in dieselbe Kerbe, als er in einem Brief an Cesare Battisti um Vermittlung und Hilfe bat. Pini berichtete mit bitterer Ironie darüber, wie die Italiener nach dem Kriegseintritt Italiens hastig gesammelt wurden und ihnen einige Kommandanten gerade einmal ein paar Stunden Zeit gaben, um sich reisefertig zu machen, „man hätte den Zug nach Italien versäumen können“. Danach folgte eine Phase, die von schlechter Stimmung und materiellem Elend, Erniedrigungen der österreichtreuen Gefangenen durch die Offiziere sowie langem Schweigen der italienischen und russischen Behörden geprägt war – der Zug 83 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Anlage Nr. 2 zum dritten Bericht Gazzurellis an den Außenminister, 22.12.1915. 84 ASMAE, Russia, b. 25, fasc. Prigionieri ed internati, Angelini an Konsul in Moskau, 29.7.1915.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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nach Italien schien nunmehr für immer abgefahren zu sein85. Nicht anders die Briefe aus anderen Haftorten, vom europäischen Teil Russlands bis Sibirien. Man beschwerte sich überall über die keineswegs bevorzugende Behandlung, den Essensmangel, die für den Winter unpassende Kleidung usw.86 Einige im Namen hunderter Offiziere und Soldaten aus Kirsanow verschickte Bittgesuche führten schließlich zu konkreten Ergebnissen und einer Änderung der Linie der italienischen Regierung. Im ersten, von 35 Offizieren auch im Namen von 500 Soldaten unterzeichneten Gesuch wurde auf das schwierige Zusammenleben zwischen den Gefangenen, die sich für Italien entschieden hatten, und jenen, die zwar Italienisch sprachen, aber Österreich-Ungarn treu geblieben waren, hingewiesen. In erster Linie aber wurde über ihre Lebensumstände informiert: unangemessene Unterkünfte ohne Ausgangsmöglichkeit und ohne Bett sowie – vor allem für die Soldaten – erbärmliche Bedingungen, unter denen sie auf erniedrigende Weise und wie Sklaven behandelt wurden und teilweise sogar geschlagen wurden. Sie wurden noch voll und ganz als Gefangene aus dem feindlichen Lager angesehen, vielleicht – so im Brief erörtert –, weil das Lagerkommando über die zwischen Italien und Russland getroffenen Vereinbarungen nicht Bescheid wusste87. Es war klar, dass die russischen Behörden in der Überzeugung, die italienischen Gefangenen in Kirsanow würden bald nach Italien aufbrechen, nicht die entsprechenden Vorkehrungen getroffen hatten, um angemessene Lebensbedingungen für tausende Menschen zu gewährleisten88. Im gleichen Ton war ein etwas späterer Appell gehalten, in dem die Gefangen erklärten, alles für eine Verbringung nach Italien tun zu wollen. Sie betonten, dass serbische und französische Delegierte die jeweiligen Gefangenen regelmäßig besuchten, und ersuchten Italien, es diesen gleichzutun. Weiters kündigten sie an, in der italienischen Presse eine aktive Propagandakampagne starten und um die Fürsprache hochrangiger Persönlichkeiten bitten zu wollen, in erster Linie jene von Minister Barzilai89. Der Minister erwiderte den Brief, indem er den Konsul in Moskau in die Gefangenenunterbringungen schickte, um deren Lage überprüfen zu lassen und Hilfe leisten zu können. Gazzurelli unternahm vier verschie85 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Pini an Battisti (in Kopie), 4.9.1915. Pinis Brief befand sich in einem Paket mit Korrespondenz italienischsprachiger Kriegsgefangener aus Österreich-Ungarn, die in Russland interniert waren – es war vom italienischen Außenministerium an das italienische Post- und Telegrafenministerium geschickt worden, damit dieses seine Zensurtätigkeit verrichten konnte. Da Minister Vincenzo Riccio den Brief für besonders interessant hielt, schickte er eine Kopie an Sonnino. 86 Weitere Beispiele in: ebd. 87 Ebd., Bittgesuch an das Konsulat in Moskau (in Kopie), 1.10.1915. 88 Ebd., Carlotti an Außenminister, 7.11.1915. 89 Ebd., Carlotti an Außenminister, 28.10.1915.

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dene Inspektionsreisen, zunächst zwischen November und Dezember 1915 nach Kirsanow, Orlow und Omsk, dann, im Mai 1916, nach Turkestan. Er verfasste lange Berichte mit detaillierten Informationen über die Lebensbedingungen und Spannungen innerhalb der Gefangenen, die oft zwischen der schwierigen Entscheidung für Österreich oder Italien hin- und hergerissen waren90. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Kirsanow teilte Gazzurelli dem Ministerium unverzüglich mit, „dass unsere irredentistischen Offiziere und Soldaten dort im Hinblick auf ihre Moral wie auch auf das Materielle absolut noch nicht wie Gefangene einer verbündeten Nation behandelt werden, sondern schlechter als [jene] eine[r] Feindesnation“, an Barzilai ergänzte er noch „wie gemeine Verbrecher“91. Im Bericht sind die Maßnahmen aufgezählt, die Gazzurelli bereits während des Lagerbesuchs durchgesetzt hatte und durch die das schlimmste Leid der Gefangenen hatte gemildert werden können, etwa Ausgang für einige Stunden pro Tag, besseres Essen usw. Für die Botschaft erstellte er eine Liste mit Forderungen zur offiziellen Vorlage an die russischen Behörden. Sollten sie angenommen werden, könne dadurch eine dauerhafte Verbesserung der Bedingungen für die Gefangenen erreicht werden. So sollte etwa der Lagerkommandant ausgetauscht werden, der beschuldigt wurde, die Italiener schlechter als die Deutschösterreicher zu behandeln und sie ausdrücklich als Verräter zu betrachten. Für ihn kam natürlich die „Moral“ der Soldaten vor den Anweisungen der Vorgesetzten. Neben der Sorge um die Lebensbedingungen der Gefangenen erstellte Gazzurelli Listen mit den Namen sämtlicher 1.267 Italiener, die er in drei Gruppen einteilte. Die erste bestand aus all jenen, „die vom ersten Tag an glühende Patrioten gewesen waren, irredenti voller Poesie, Mut und Heldentum: Ihr einziger Wunsch war es, an die italienische Front zurückzukehren und mit ihren Brüdern für den Ruhm und Glanz Italiens zu kämpfen“. Es waren dies 303 Männer, davon 37 Offiziere. Sie waren bereit, Aufruhr zu machen, mit Barzilai zu kommunizieren, die Presse zu mobilisieren und sogar ihre Namen veröffentlichen zu lassen, und kümmerten sich nicht um die österreichischen Repressalien, die ohne Zweifel gegen sie und ihre Angehörigen verhängt werden würden. Es folgte die zweite und größte Gruppe mit 895 Gefangenen, die ebenfalls patriotisch gesinnt waren, allerdings auch vorsichtiger, sodass sie sich nicht zu erkennen geben wollten. Schließlich gab es noch 66 austriacanti, die sich der Spionage und der italienfeindlichen Propaganda verschrieben hatten. Es handelte sich um die erste 90 Die vier Berichte sind mit 25.11.1915 (Kirsanow), 18.12.1915 (Orlow), 22.12.1915 (Omsk) und 14.5.1916 (Turkestan) datiert. Der erste Bericht befindet sich in: ebd., die übrigen in: ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21. 91 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Gazzurelli an Außenminister, 26.11.1915, und Gazzurelli an Barzilai, 29.11.1915.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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Abb. 13: Soldaten aus dem Trentino, Kirsanov, 26. Jänner 1916 (Collezione Graziella Menato, Trient).

Erfassung der italienischen Gefangenen, die auf deren mutmaßlichem Nationalgefühl beruhte – der Beginn einer Praxis, die in Zukunft bei den Rückführungen eine entscheidende Rolle spielen sollte. Die Informationen zur Erstellung der drei Listen waren von der Elite der italianissimi zur Verfügung gestellt worden, was einer formalen Anerkennung ihrer Führungsrolle in den Gefangenenlagern gleichkam. Aus den Zahlen wurde deutlich, dass es im Lager Kirsanow die meisten Italiener mit „guten Intentionen“ gab, allen voran eine große und engagierte Gruppe von Offizieren, die ihresgleichen suchte. In Orlow zählte Gazzurelli 1.484 Gefangene, die dort nur gemeinsam untergebracht worden waren, weil sie alle Italienisch sprachen, wobei ein beträchtlicher Anteil äußerst österreichtreu gesinnt war. 929 baten darum, nach Italien gebracht zu werden, 71 davon waren bereit, einzurücken. Auf besagte Einrückungswillige konzentrierten sich die phrasenhaft anmutenden Ausführungen des Konsuls: „Diese kühnen jungen Männer sind von mächtiger Heimatliebe erfüllt, die sie groß und schön macht. […] In ihren schwarzen, lebendigen Augen spiegelt sich ihr Heldenmut wider, und sie leiden mehr als die anderen unter Gefangenschaft und Müßiggang, während ihre Brüder kämpfen, bis sich der Boden der Heimat rot färbt.“ Von den 18 Offizieren hatte allerdings „nicht einer den Mut, sich als ‚Italiener‘ zu deklarieren“, und einige von ihnen verbreiteten bewusst Falschmeldungen, um die Soldaten zu überzeugen, auf österreichischer Seite zu bleiben. Es fehlte also eine in irgendeiner Form mit jener in Kirsanow vergleichbaren treibende und organisierende Kraft – dort hatte wahrscheinlich eine beträchtliche Anzahl von italientreuen Offizieren auch den Großteil der Soldaten auf die Seite

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Italiens gebracht. In Orlow wurden all jene, die sich für Italien entschieden hatten, weiter als feindliche Gefangene betrachtet, weshalb sie Opfer der Repressalien wurden, von denen alle österreichischen Gefangenen betroffen waren – so waren etwa auch ihnen die Essensrationen gekürzt worden, weil die in Österreich-Ungarn festgehaltenen russischen Kriegsgefangenen dieselbe Behandlung erdulden mussten. Ganz anders die Situation in Omsk in Sibirien, wo die regionalen Behörden angeordnet hatten, dass die italientreuen Gefangenen wie die russischen Soldaten behandelt werden sollten. Das bedeutete eine Verbesserung ihrer Lebensumstände – ein Beweis, dass die Anordnungen aus dem Zentrum des Zarenreichs an den verschiedenen Internierungsorten äußerst locker umgesetzt (oder eben nicht umgesetzt) wurden. Doch auch in Omsk war kein Offizier auf der Seite Italiens, und die Zahlen waren noch trauriger: Nur 83 von 609 Gefangenen deklarierten sich offen als Italiener. Noch enttäuschender fielen die Zahlen in den verschiedenen Lagern in Turkestan aus, wo nur 70 von 699 Gefangenen nach Italien gebracht werden wollten. Über diese Zahlen war man in Rom verblüfft, wie die Unterstreichungen und Rufzeichen am Rand des Berichtes an das Außenministerium und die Mitteilung an den Generalstab zeigen92. Gazzurelli versuchte zu erklären, warum nur dürftige 10 % der Gefangenen das Angebot Italiens angenommen hatten, und berichtete von Zweifeln, die sich in ihren Herzen regten, wo „sich heftige Gefühlskämpfe, echte seelische Tragödien abspielten“. Es quälte sie die Sorge um ihre in Österreich verbliebenen Familien und ihr Hab und Gut. Noch mehr belastete sie allerdings die ungewisse Lage im Krieg, denn nach einem Jahr waren Trient und Triest noch lange nicht in italienischer Hand. Die Entscheidung für Italien schien ein äußerst gewagtes Unterfangen zu sein, das im Falle einer Niederlage tragische Konsequenzen haben konnte – sie würden nicht mehr in ihre Häuser und an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, nicht mehr mit ihren Familien vereint werden können. Es war sicher weniger riskant, bis zum Ausgang des Krieges zu warten, denn ein etwaiger Sieg Italiens hätte sie automatisch zu Bürgern des Königreiches Italien gemacht. Alles völlig rationale Überlegungen, die wenig mit einem Nationalgefühl zu tun hatten und von den Gefangenen selbst auch so präsentiert wurden: Sie gaben offen zu, dass sie sich sofort für Italien entschieden hätten, wenn das Angebot des Königreiches ein Jahr früher gekommen wäre – während des großen russischen Vorstoßes in Galizien, als Österreichs Niederlage unmittelbar bevorzustehen schien.

92 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42 Rilascio di prigionieri irredenti in Russia, De Martino an Oberkommando, 10.5.1916.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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Das von Gazzurelli in seinen Berichten gezeichnete Bild der italienischen Gefangenen war vom nationalen Standpunkt aus betrachtet im Grunde genommen ermutigend. In seinem Urteil waren auch die Standpunkte all jener berücksichtigt, die sich nicht für Italien entscheiden wollten. Mit Ausnahme derer, die er als Nattern bezeichnete, zumal sie bereits vor dem Krieg in Spionageaktionen gegen Italien verwickelt gewesen waren93, handelte es sich um einfache Leute, Bauern und Arbeiter, die auch als Gefangene noch unter dem Einfluss ihrer Offiziere standen, die „diesen ahnungslosen Gemütern tröpfchenweise Tag für Tag die absolute und mathematisch sichere Überzeugung von einem österreichischen Sieg eintrichterten“94. Männer, die von Italien nur das Bild kannten, das ihnen im Laufe der Jahre durch die Wiener Propaganda vermittelt worden war, die allerdings tief in ihrem Herzen „leidenschaftlich gern Italiener werden wollten“ und den Sieg Roms herbeisehnten, der sie endlich aus der österreichischen Knechtschaft befreien sollte. Diese Interpretation sollte sich auch bald in den großen italienischen Zeitungen durchsetzen, die von der ansehnlichen Gruppe „patriotischer“ Gefangener in Kirsanow geschickt mobilisiert worden waren. Gazzurelli selbst verfasste einen kurzen Bericht über seine von November bis Dezember 1915 durchgeführten Inspektionen, der in der italienischen Wochenzeitung „La Domenica del Corriere“ veröffentlicht wurde. Er schilderte darin erhebende Situationen, die er selbst erlebt hatte (und die auch in seinen offiziellen Berichten zu finden sind) – von der Illustrierten wurden sie als „bewegende Beweise für den Geist des hehren, unauslöschlichen Patriotismus, von dem unsere Brüder, die durch die österreichische Tyrannei unter einer verhassten Fahne gegen einen keinesfalls verhassten Feind kämpfen mussten, trotz des Leides in der Gefangenschaft geleitet werden“, präsentiert95. Durch die Intervention des Konsuls verbesserten sich die Bedingungen in den von ihm besuchten Lagern (besonders in Kirsanow), wobei die Gefangenen sie als Zeichen einer baldigen Abreise sahen. Als in den Wochen darauf nicht viel passierte, waren die Gemüter daher noch erregter. Nach der Lektüre von Gazzurellis erstem Bericht bekräftigte Sonnino seine abwartende Haltung: Wenn die Russen alle Gefangenen gesammelt hätten, könne man in Ruhe auswählen96. Da es keinerlei Hinweise auf eine Änderung der Lage gab, setzten die Gefangenen in die Tat um, was sie bereits angedroht hatten, und widmeten sich der Sensibilisierung 93 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, dritter Bericht Gazzurellis an das Außenministerium, 22.12.1915. 94 Ebd., vierter Bericht Gazzurellis an das Außenministerium, 14.05.1916. 95 Das Zitat stammt aus der Einleitung zum Text von Adelchi Gazzurelli, Tra i nostri fratelli prigionieri in Russia. Una visita al campo di Kirsanoff, in: La Domenica del Corriere 16.–23.1.1916 4. 96 ASMAE, AG, b. 337, fasc. 72, sf. 2, Gazzurelli an Außenminister, Sonnino an Salandra, 21.12.1915.

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der italienischen Öffentlichkeit für ihr Anliegen. Es ist überraschend, wie gut sie die Medien zu mobilisieren vermochten, besonders in Anbetracht ihrer Situation – tausende Kilometer von Italien entfernte Gefangene, die noch dazu unter österreichischer Fahne gekämpft hatten. Vergleicht man die Unterlagen der Institutionen, den Briefwechsel zwischen Regierung und irredentistischen Vereinigungen, Zeitungsberichte und die öffentliche Debatte, werden auf erstaunliche Weise die Dimensionen des Netzwerkes deutlich, durch das die Interessen der italienischen Gefangenen zwischen Italien und Russland gebündelt und gefördert wurden. Es entsteht das Bild einer vielschichtigen und verzweigten, grenzüberschreitenden Kriegsgesellschaft, die auf verschiedene Einflüsse reagierte, die nicht nur institutioneller Natur waren, sondern auch von der Basis kamen, etwa aus einem abgelegenen Gefangenenlager in weiter Ferne. Die „unerlösten“ Gefangenen aus der Irredenta und ihr Leid waren ein Thema, das den Zielen der bürgerlichen Presse, von der das Kriegsengagement Italiens unterstützt wurde, perfekt entsprach. Durch die Betonung des „Martyriums“ der Italiener jenseits der Grenze sowie der notwendigen Hilfe konnte Italiens Kriegseintritt idealisiert werden, sodass die Appelle der Gefangenen in den Tageszeitungen auf großes Echo stießen. Es wurden Briefe und Appelle der Gefangenen in Russland veröffentlicht und deren aufrichtige Italientreue sowie der Wunsch der Verfasser, unter italienischer Fahne zu kämpfen, betont. Ein Beispiel von vielen ist der gegenüber den unergiebigen Regierungsaktionen äußerst kritische Brief, den eine Gruppe von Gefangenen aus Kirsanow am 30. März 1916 an die italienische Wochenzeitung „L’idea nazionale“ schickte. Darin wurden schwere Vorwürfe gegen die italienischen Behörden, ihre Versprechungen und ihre verspäteten Reaktionen erhoben – sogar die Abreise der wenigen Offiziere, die die Reise selbst zahlen wollten, war verspätet genehmigt worden97. Derartige Initiativen lösten empörte Reaktionen der irredentistischen Vereinigungen in Italien aus – jener Verbindungen, die von aus Österreich emigrierten Italienern gegründet worden waren, die zugunsten des italienischen Kriegseintritts mobilisiert hatten und sich als Vertreter der „neuen Provinzen“ präsentierten: Diese sollten, wie sie erklärten, nach Kriegsende Italien angeschlossen werden. Sie weckten auch das Interesse der italienischen Presse, die ihre eigenen Korrespondenten nach Russland schickte, wo sie die Lager besuchten und dramatisch gehaltene Reportagen veröffentlichten98. Hier ist vor allem Virginio Gayda von „La Stampa“

97 Vgl. Gli irredenti prigionieri in Russia invocano la propria liberazione per combattere nelle file del nostro esercito, in: L’Idea nazionale 13.5.1916 3. 98 Renzo Francescotti, Italianski. L’epopea degli italiani dell’esercito austroungarico prigionieri in Russia nella Grande Guerra (1914–1918) (Valdagno [VI] 1994) 61.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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zu erwähnen, der unter anderem im April 1916 zwei lange Artikel verfasste, in denen er über seine Reise nach Kirsanow berichtete. Gayda war nicht irgendein Journalist, sondern ein langjähriger Propagandist der irredentistischen Causa. 1911 war er als Auslandskorrespondent nach Wien entsandt worden, wo er sich insbesondere dem Schicksal der österreichischen Italiener und deren Kampf gegen den aggressiven slawischen Aktivismus widmete. Er schrieb ein erfolgreiches, vor dem Krieg veröffentlichtes Buch zum Thema und befasste sich auch während des Konfliktes weiter damit 99. Seine Anwesenheit in Russland war nicht ausschließlich auf seine Zusammenarbeit mit „La Stampa“ zurückzuführen, sondern auch das Ergebnis einer Vereinbarung mit dem irredentistischen Vereinsweisen im adriatischen Raum, insbesondere mit der Vereinigung Pro Dalmazia, die ihn unterstützte, um in weiterer Folge Unterstützung für die Bestrebungen Italiens im adriatischen Raum gewinnen zu können100. Über die Società Dante Alighieri ließ Gayda Minister Sonnino einen Bericht zukommen, in welchem er ihm zu intensiverer Propaganda in Russland riet, durch die dem jugoslawischen Aktivismus entgegengewirkt werden sollte. Letzterer stieß dort nämlich auf große Zustimmung, was absolut nicht im Interesse Roms war, dessen Kriegsengagement in Russland nicht bekannt war oder mit Geringschätzung bedacht wurde101. Durch seine engen Kontakte zu den einflussreichen Kreisen des adriatischen Irredentismus, seinen Aktivismus und seine beruflichen Fähigkeiten erhielt er eine offizielle Stelle als italienischer Propagandabeauftragter in Russland102. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass er sich sofort für das Thema der italienischsprachigen Gefangenen aus Österreich begeisterte – für ihn der lebende Beweis für die Ansprüche Roms auf die Gebiete jenseits der Grenze. Seiner Schilderung nach waren diese Männer alle ein Heer aus Deserteuren, die vor dem räuberischen habsburgischen Adler geflohen waren und es nun nicht erwarten konnten, vereint mit ihren Brüdern aus dem Königreich Italien die letzte Schlacht gegen Österreich-Ungarn zu kämpfen. Nach seinem Besuch in Kirsanow im Februar 1916 beschrieb er sie als Soldaten, die nach einem Jahr Gefangenschaft nur mehr die 99 Virginio Gayda, L’Italia d’oltre confine. Le provincie italiane d’Austria (Turin 1914); ders., Gli slavi della Venezia Giulia (Mailand 1915). 100 Vgl. Arturo Lancellotti, Giornalismo eroico (Rom 1924) 179f. 101 Luciano Tosi, La propaganda italiana all’estero nella prima guerra mondiale. Rivendicazioni territoriali e politica delle nazionalità (Udine 1977) 41. 102 Ebd. 92; Antonello F. M. Biagini, In Russia tra guerra e rivoluzione. La missione militare italia­na 1915–1918 (Rom 1983) 88–92. Für ein biografisches Profil Gaydas, der während des Faschismus von 1926 bis 1943 ohne Unterbrechung Leiter der bedeutenden italienischen Tageszeitung Il Giornale d’Italia war, siehe Mauro Canali, Virginio Gayda, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 52 (Rom 1999) 734–737.

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Lumpen ihrer ehemaligen Uniform am Leib trugen. Im hohen Schnee trugen viele nur kleine Strohkörbe an ihren nackten Füßen. „Gefangen und vergessen denken diese armen österreichischen Italiener, die große Qual erdulden müssen, in ihrer jüngsten Verbannung immer noch an Italien“103. Tatsächlich hatten nur äußerst wenige von ihnen Italien überhaupt je gesehen, doch die in der italienischen Presse vermittelte Botschaft war eindeutig: Diese Brüder waren in Gefahr und durften nicht ignoriert werden, zumal der Kriegseintritt durch die Absicht motiviert gewesen war, sie und ihre Gebiete von der österreichischen Herrschaft zu befreien. Die Beschreibung der Offiziere war noch patriotischer gehalten. Sie wurden als ehemalige Protagonisten der nationalistischen Studentenauseinandersetzungen in Wien und Innsbruck bezeichnet, die bereit seien, nach dem Krieg zu „begeisterten Bürgern Italiens“ zu werden104. Insgesamt vermittelte Gayda ein Bild von Männern reinster italienischer Gesinnung, die in einem Klima immer größerer Niedergeschlagenheit auf die Befreiung warteten. Gaydas bedingungslose Unterstützung der italienischsprachigen Gefangenen kam einer impliziten Kritik an der bisher geleisteten Regierungsarbeit mit allem Zuwarten und allen Verzögerungen gleich, die in anderen Zeitungen unerwartet offen geäußert wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang der im Februar 1916 erfolgte Schlagabtausch zwischen der dem Außenministerium verbundenen Tageszeitung Il Giornale d’Italia und Il Messaggero. Erstere berichtete mit einem Artikel ihres Russlandkorrespondenten Armando Zanetti auf der Titelseite ausführlich über die „unerlösten“ Gefangenen aus der Irredenta. Zanetti betonte deren schwierige Situation und die objektiv feststellbaren Schwierigkeiten, die ihre Verbringung nach Italien verhinderten, ohne sich kritisch über die Handlungsweise der italienischen Regierung zu äußern. Zum Abschluss seines Artikels rief er zu einer Sammelaktion auf, „um diesen unseren Brüdern zu helfen105“. Es folgte prompt die äußerst harte Replik der römischen Tageszeitung auf Zanettis Artikel und seine Versuche, „die unerklärlichen Hindernisse und den unglaublichen Amtsschimmel zu rechtfertigen“, die eine Annahme des Angebotes des Zaren verhindert hatten. Die Möglichkeit, die Angelegenheit mit einer öffentlichen Sammelaktion zur Linderung des Leides der Gefangenen abschließen zu können, wurde negiert: „In erster Linie ist ein entgegenkommendes und rasches Handeln der Regierung nötig“106. Zum Abschluss nahm der Messaggero noch auf die leidenschaftlichen Worte eines anderen Mediums Bezug, nämlich 103 Virginio Gayda, I prigionieri italiani: i soldati, in: La Stampa (4.4.1916) 3. 104 Ders., Prigionieri italiani: gli ufficiali, in: La Stampa (6.4.1916) 3. 105 Armando Zanetti, Gli italiani irredenti prigionieri in Russia in attesa del ritorno in patria, in: Il Giornale d’Italia 19.2.1916 1. 106 Non dimentichiamo!, in: Il Messaggero 19.2.1916 1.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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der Zeitschrift L’Iniziativa. Deren Aussage nach war es Aufgabe der italienischen Regierung, moralische und finanzielle Unterstützung für die Gefangenen zu leisten, womit indirekt die Entscheidung kritisiert wurde, ausschließlich jenen die „Repatriierung“ zu gestatten, die sich die Reise selbst bezahlen konnten. So entstand unter den Gefangenen aus der Irredenta das Bild eines ineffizienten italienischen Staates, der sich wenig für ihre Geschicke interessierte. Denselben Eindruck hatten auch viele ihrer Verwandten und Mitbürger aus ihrer jeweiligen Region, die zur gleichen Zeit die traumatische Erfahrung der Evakuierung ins Königreich Italien machen mussten. Die Erinnerung an beide Erfahrungen sollte die schwierige Integration der „neuen Provinzen“ im Italien der Zwischenkriegszeit negativ beeinflussen. Mit diesem negativen Bild der Institutionen ging die Mythisierung einzelner Persönlichkeiten einher, die wesentlich rascher dafür sorgten, dass materielle Hilfe geleistet und die Verbringung der Gefangenen nach Italien erleichtert wurde. Die späteren Rekonstruktionen, die größtenteils im Rahmen der Memoirenschreibung erfolgten, wurden nach dem Krieg veröffentlicht und sollten sowohl den öffentlichen Diskurs als auch jenen der Geschichtsschreibung noch lange beeinflussen. Damit wurde das erwähnte Staatsbild durch die Schaffung von „Ikonen“, die regelmäßig den ineffizienten öffentlichen Ämtern gegenübergestellt wurden, gefestigt und perpetuiert. Gayda wurde bereits erwähnt. Neben ihm gab es noch Vigilio Ceccato, einen Trentiner Emigranten aus bescheidenen Verhältnissen, der in Moskau reich geworden war und die italienische Gemeinschaft in Russland für die Causa der Gefangenen mobilisierte. Er verteilte kleine Geldbeträge an sie, unterstützte sie im Kontakt mit den Institutionen und dolmetschte für Beamte der Botschaft, wenn sie die Gefangenenlager besuchten. Bezeichnenderweise wurden seine Person und sein Engagement auf italienischer Seite nicht immer geschätzt. Einige warfen ihm vor, nichts als ein auf seinen Gewinn bedachter Geschäftsmann zu sein, der jahrzehntelang in Russland geblieben war, ohne je die italienische Staatsbürgerschaft beantragt zu haben, und seinen österreichischen Pass erst abgab, als „wir ihn ihm mit Gewalt weggenommen haben“107. Ceccato hatte rasch um die italienische Staatsbürgerschaft angesucht, als der Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Russland ausbrach, um so der Internierung und dem wirtschaftlichen Ruin zu entgehen108. Die Dritte im Bunde war Marchesa Gemma Guerrieri Gonzaga, eine mit einem italienischen Offizier verheiratete Trentinerin, mütterlicherseits Russin. Sie leistete wichtige Unterstützungs- und Vermittlungsarbeit für Gefangene, Familien 107 ACS, PCM, UCNP, b. 141, fasc. 55 Missione civile per il rimpatrio di prigionieri dalla Russia. Finanziamento, Notiz für Francesco Salata, Leiter des UCNP, mit Anhängen, 28.8.1921. 108 Seine Bittgesuche an die italienischen Konsularbehörden in Russland befinden sich in: ASMAE, Russia, b. 25, fasc. Prigionieri ed internati.

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

und das irredentistische Vereinswesen, so half sie etwa auch vielen ehemaligen Gefangenen nach deren Verbringung nach Italien bei der Arbeitssuche109. Gaetano Bazzani beschrieb das Wirken dieses Dreigestirns wie folgt: Virginio Gayda, die Marchesa Gonzaga und Ceccato dürfen sich rühmen, die Herzen der in Russland gefangengehaltenen Trentiner und Julier mit dem ersten Strahl italischer Sonne erfüllt und die Idee, sie möglichst bald nach Italien zu bringen, zu neuem Leben erweckt zu haben110.

Ähnliche Urteile finden sich in den Memoiren der zwei ehemaligen Gefangenen Annibale Molignoni und Giuseppe De Manincor, die auf großes Interesse stießen111. Alle würdigten die entscheidende Rolle dieser drei Wohltäter und betonten gleichzeitig die Unzulänglichkeiten der Regierungsintervention, wodurch ein äußerst erfolgreicher und sich lange haltender Topos geschaffen wurde. Die neu erlangte Aufmerksamkeit der italienischen Presse und insbesondere Gaydas wurde von den Gefangenen in Kirsanow mit Dankbarkeit aufgenommen112. Parallel dazu wurde den italienischen Behörden in Russland immer mehr bewusst, dass sich das Klima in den Gefangenenlagern verschlechtert hatte. Im Februar 1916 wies Botschafter Carlotti auf die Ungeduld der Gefangenen hin, die immer zahlreicher einlangenden Briefe vor allem aus Kirsanow, die zunehmende Irritation über die Bevorzugung, die ausschließlich den Offizieren mit ausreichend Eigenmitteln für die Rückreise nach Italien zuteilwurde sowie die Reue über die frühzeitige Entscheidung, sich zu Italien zu bekennen, die von vielen an den Tag gelegt wurde. Carlotti bemerkte eine immer stärker werdende „Situation der schlechten Stimmung bei unseren zukünftigen Mitbürgern, die nicht lange anhalten kann, ohne Schaden und Gefahren für sie und unser Prestige mit sich zu bringen“, und forderte die Regierung auf, das Problem, das nicht länger ungelöst bleiben könne, anzupacken. Er schlug vor, zu warten, bis der Hafen von Archangeľsk nach der Eisschmelze wieder offen war, um danach den Transfer einiger tausend italienischer Gefangener über den Seeweg zu organisieren113. Erschreckend waren auch die immer stärker werdenden Spannungen in den Gefangenenlagern, wo die Zahl der Italiener immer mehr zunahm, während die Lebensbedingungen sich verschlechterten und gleichzeitig die Mög109 Zu ihrer Person siehe Patrizia Marchesoni, L’archivio della marchesa Gemma Gonzaga, in: Bollettino del Museo trentino del Risorgimento 38/1 (1989) 13–23; Luisa Pachera, La marchesa Gemma Guerrieri Gonzaga nata de Gresti di San Leonardo (Rovereto 2008). 110 Bazzani, Soldati italiani 47. 111 Molignoni, Trentini prigionieri 110; De Manincor, Dalla Galizia 101. 112 Molignoni, Trentini prigionieri 62–73. 113 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Carlotti an Außenministerium, 2.2.1916.



3. Unruhe in den Gefangenenlagern 

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lichkeiten, auch nur irgendeine gering entlohnte Beschäftigung zu finden, stetig zurückgingen114. Dass die Situation in den Lagern bald nicht mehr zu bewältigen sein würde, schien nicht abwegig. Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit hätten Nachrichten von gewaltsamen Handlungen, die von oder an Italienern verübt würden, Italien erreicht und extrem negative Folgen für die Regierung gehabt. Aufgrund dieser Überlegungen änderte die Regierung daher ihren Kurs und stand nun Massentransporten positiv gegenüber – die Rückführung sollte nicht mehr ausschließlich jenen vorbehalten sein, die sich die Reise selbst bezahlen konnten. Abermals ging die Initiative von Sonnino aus, der sie Salandra folgendermaßen präsentierte: Das Problem der Verbringung der in Russland festgehaltenen „unerlösten“ Kriegsgefangenen nach Italien ist nunmehr reif für eine Lösung. Das bisher befolgte Kriterium der Entscheidung auf Einzelfallbasis könnte nicht länger zur Anwendung kommen, ohne Unmut und Proteste hervorzurufen, die auch nicht völlig unbegründet wären. Jede weitere Verzögerungsmaßnahme entspräche nun, da sich jene kurze Saison nähert, die für die Durchführung der Reise günstig sein könnte, nicht den momentanen Erfordernissen und würde als Beweis für das Desinteresse präsentiert werden, das die k. Regierung einem Problem entgegenbringt, welches zahlreiche Interessen betrifft – die politischen Folgen würden gewiss nicht ausbleiben115.

Sonnino schlug vor, den Transfer über den Seeweg zu organisieren, ohne ein Problem, das zuvor als Hinderungsgrund gegolten hatte, überhaupt noch zu erwähnen, nämlich den fehlenden Flottenbegleitschutz. Die Regierung befürchtete, an den Pranger gestellt zu werden, weil sie sich nicht ausreichend mit der Lage dieser Männer befasst hatte, und war der Ansicht, nicht mehr an ihrem vorsichtigen und abwartenden Kurs festhalten zu können. Dieser hatte auf einem grundlegenden Misstrauen gegenüber allen, die zwar Italienisch sprachen, aber unter der Flagge des Feindes gekämpft hatten und deren Gesinnung schwer zu ermitteln war, beruht. Der neue, im Frühjahr und Sommer 1916 eingeschlagene Kurs setzte diesem Misstrauen allerdings kein Ende, sondern machte deutlich, dass in den zivilen wie militärischen Regierungsstellen gegensätzliche Standpunkte herrschten. Zumindest anfänglich überwog eine vorsichtige Linie, die für eine sorgfältige Auswahl der für den Transport nach Italien vorgesehenen Gefangenen eintrat.

114 Ebd., Carlotti an Sonnino, 29.2.1916. 115 Ebd., Sonnino an Salandra (Kopie), 14.4.1916.

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4. Selektion und Erziehung zur italienischen Gesinnung Mit der Entscheidung, einen Massentransfer zu organisieren, begann eine neue Phase in der Bewältigung des heiklen Problems der italienischen Gefangenen in Russland. Die Frage, wie viele von ihnen nach Italien gebracht werden sollten und welche Kriterien für die Auswahl zur Anwendung kommen würden, blieb offen. Sonnino war ein weiteres Mal darauf bedacht, einen allgemeinen Transport zu vermeiden. Selektion hieß das vom Außenminister gebetsmühlenartig wiederholte Mantra – auf Vorschlag von Botschafter Carlotti orientierte er sich für Italiens Vorgehensweise am Umgang der Franzosen mit den elsässischen Gefangenen, der später noch oft als Beispiel erwähnt werden sollte. Die Elsässer und Lothringer, die im deutschen Heer kämpften und von den Russen gefangengenommen worden waren, befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die österreichischen Italiener und wurden wie diese dem „Mutterland“ zur Rückholung angeboten. Bereits im Sommer 1915 hatte die französische Regierung ihre Militärmission in Russland beauftragt, die Gefangenenlager zu besuchen und jeden Franzosen „Sonderverhören“ zu unterziehen, durch die bestimmt werden sollte, wer für eine Repatriierung in Frage kam. Dadurch ging alles sehr langsam, und die Abreise erfolgte mit großer Verspätung. Italien beschloss, genauso vorzugehen, und griff dafür auf die beim russischen Oberkommando akkreditierte italienische Militärmission zurück116. Anfang August wurde ein Offizier der Militärmission, Hauptmann Oscar Tonelli, nach Kirsanow und Tambow entsandt, um die ersten Verhöre durchzuführen – als Referenz wurden die von Konsul Gazzurelli bereits erstellten Listen herangezogen117. Unterstützt wurde Tonelli vom höchstrangigen Offizier unter jenen Gefangenen, die sich für Italien entschieden hatten, dem Trentiner Oberstleutnant Ernesto De Varda118. In der Zwischenzeit wurde in Italien eine eigene Militärmission für die Kriegsgefangenen in Russland eingerichtet. Geleitet wurde sie von Oberst Achille Bassignano, der im August nach Russland reiste, um die Erhebungs- und Selektionsarbeit fortzusetzen. Unterstützt wurde er dabei auch von einigen Offizieren des königlichen Heeres, die aus der Irredenta stammten und deren Hilfe geeignet erschien, um festzustellen, „ob unter den Repatriierungs116 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Sonnino an CS, SGAC, 9.5.1916. Die französische Vorgehensweise diente auch als Vorbild für die Behandlung der Freiwilligen aus der Irredenta, die im italienischen Heer kämpften. Siehe dazu ACS, PCM, GE, b. 99, fasc. 19/4.6/52 Italiani irredenti combattenti volontari nel Trentino, fatti prigionieri in Austria. 117 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Bericht über den Besuch der Lager (Hauptmann Tonelli an Carlotti), 9.7.1916; De Manincor, Dalla Galizia 143. 118 ACS, PCM, GE, b. 98, fasc. 19/4.6/1 Russia. Prigionieri di guerra italiani internati in Russia, Notiz für den Ministerpräsidenten, 11.4.1916.



4. Selektion und Erziehung zur italienischen Gesinnung 

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Abb. 14: An Bord des Dampfschiffes Huntspeal bei dessen Abreise aus Archangel’sk im September 1916 (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

willigen Leute sind, welche die erleichterte Rückkehr nach Italien für Zwecke zu nützen versuchen, die nicht unserer militärischen Verteidigung entsprechen“119. Ebenfalls nach französischem Vorbild teilten die Mitglieder der Militärmission die Auserwählten auch militärisch ein beziehungsweise in Staffeln auf, um sie dann auf der Reise zu begleiten, die sie zunächst über den Landweg von Kirsanow nach Archangeľsk und dann über den Seeweg nach England führen sollte, von wo es nach Frankreich und schließlich nach Italien weiterging. Im Rahmen von drei Transporten zwischen September und November 1916 brachen 4.051 Männer aus Russland nach Italien auf120. Das französische Vorbild trug auch entscheidend dazu bei, dass schließlich endgültig entschieden wurde, die Gefangenen, die nach Italien gebracht worden waren und sich als Freiwillige beim italienischen Heer gemeldet hatten, von der Front fernzuhalten121. Das Verhalten der französischen Regierung passte sehr gut zum vorsichtigen Kurs Sonninos, der die zuvor praktizierte Politik auf Einzelfallbasis hinter sich lassen musste, allerdings deshalb noch lange nicht bereit war, zu viele Gefangene ins Land zu lassen. Das Oberkommando stellte sich Sonninos restriktiver Haltung vergeblich entgegen. Sprachrohr des Oberkommandos war hier das Generalsekretariat für Zivilangelegenheiten (Segretariato generale per gli affari civili), das 1915 als Regierungsorgan für jene Gebiete eingerichtet wurde, die gegebenenfalls vom italienischen Heer besetzt werden könnten, und daher auch Referenz für alle Fragen zu den Provinzen war, die annektiert werden sollten122. 119 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Agostino D’Adamo an das Ufficio ordinamento e mobilitazione des CS, 22.5.1916. 120 Der Wert stammt aus USSME, F-3, b. 271, cart. 4, Specchio dimostrativo del movimento irredenti italiani in Russia ed E.O., o. D. Etwas niedriger (4.048) die Gesamtanzahl der nach Italien verbrachten Personen laut Ministero della Guerra – Ufficio storico, L’esercito italiano nella Grande Guerra (1915–1918) VII/1, Le operazioni fuori del territorio nazionale, Il corpo di spedizione italiano in Estremo oriente (Rom 1934) 18f. 121 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Sonnino an SGAC, 21.6.1916. 122 Alessandra Staderini, La gestione dei territori austriaci occupati durante la prima guerra mon-

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Die Linie dieser Abteilung wurde von ihrem Leiter Agostino D’Adamo, aber mit noch größerer Beständigkeit vom stellvertretenden Stabschef Carlo Porro zum Ausdruck gebracht, dem das Sekretariat unterstellt war. Porro erkannte scharfsinnig die Konsequenzen, eine zurückhaltende Haltung in dieser Frage für Politik und Propaganda hätte haben können. Seiner Meinung nach war eine lediglich teilweise und bedingte Repatriierung der Gefangenen mit Folgen verbunden, die den nationalen Interessen zuwiderlaufen würden. Sollte öffentlich bekannt werden, dass nur ein Teil (und nicht einmal die Mehrheit) der Männer zu jedem Risiko bereit sei und auch angesichts aller möglichen Konsequenzen auf italienischer Seite bleiben wollte, werde der Feind damit argumentieren können, dass nicht alle Italienischsprachigen italienfreundlich seien, so Porro, womit die Legitimität der territorialen Ansprüche Italiens geschmälert werde. Man könnte leicht daraus schließen, dass die Gesinnung der irredenti gegen uns gerichtet ist und zumindest die Hälfte von ihnen der Freiheit in Italien die Gefangenschaft in Russland vorzieht. Auf diese Weise würde die Bedeutung unserer Kriegsziele künstlich geschmälert, was schon an sich nicht zu begrüßen ist und nicht ohne Folgen für unser weiteres diplomatisches Handeln bliebe123.

Porro war der Ansicht, dass die von Sonnino angeordnete Selektion auch bei der Bevölkerung der besetzten Gebiete großen Unmut auslösen würde, da dies deren Entfremdung gegenüber Italien und den Verlust der „immensen Vorteile für die Moral“ bedeute, die mit einer Repatriierung aller Gefangener verbunden seien. Er hielt es für vorteilhafter, alle Gefangenen zu akzeptieren und dabei als einziges Kriterium die „Zugehörigkeit zu den von unseren nationalen Ansprüchen betroffenen Gebieten“ zur Anwendung zu bringen, „wobei nur jenen, die angesichts ihrer nationalen Gesinnung als dessen würdig erachtet werden, in Italien tatsächlich die Freiheit geschenkt werden soll“124. Ein radikaler Perspektivenwechsel, der den Kreis aller Gefangenen, die als „Italiener“ betrachtet wurden und daher für eine Verbringung nach Italien in Frage kommen konnten, beträchtlich erweiterte. Alle Bewohner derjenigen Gebiete, die nach dem Krieg an Italien angeschlossen werden sollten, waren demnach aus der russischen Gefangenschaft zu befreien und der Kontrolle Roms zu unterstellen. Die kollektive Mitnahme sämtlicher diale: aspetti politici e giuridici, in: Militarizzazione e nazionalizzazione nella storia d’Italia, hrsg. von Piero Del Negro, Nicola Labanca, Alessandra Staderini (Mailand 2005) 167–178; Daniele Ceschin, La diarchia imperfetta. Esercito e politica nella Grande Guerra, in: Armi e politica. Esercito e società nell’Europa contemporanea, hrsg. von Marco Mondini, in: Memoria e ricerca 28 (2008) 41–54. 123 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Porro an Ministerpräsident Boselli, 24.7.1916. 124 Ebd., Porro an Außenministerium, 18.3.1917.



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Gefangener hätte bedeutet, dass potenziell auch die Städte und Länder eingenommen werden konnten, aus denen diese Gefangenen stammten, unabhängig von der Sprache, die sie vornehmlich sprachen. Sollten hingegen nicht alle Gefangenen, auf die dieses Kriterium zutraf, mitgenommen werden, würden viele von den Russen als Slowenen oder Kroaten registriert werden und letztlich in den Händen Serbiens landen – zum Schaden Italiens, das die terre irredente international als rein italienisch präsentierte. Daher war jeder, der aus den von Italien beanspruchten Gebieten stammte, als Italiener zu betrachten – nicht nur, wie von Sonnino gewünscht, jene, die bereit waren, ihre italienische Gesinnung explizit zu deklarieren. Der Wunsch der Gefangenen war in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen, ob sie nun nach Italien wollten oder nicht – wer dagegen war, musste trotzdem mitkommen, wenn er als Italiener betrachtet wurde125. Das bedeutete nicht, dass man sich gänzlich von der Idee einer Selektion verabschieden sollte, diese war jedoch in Italien vorzunehmen, wo man großzügig die Verdientesten auswählen würde, welche bedingte Freiheit in Italien erlangen oder eventuell wieder mit ihrer Familie zusammengeführt werden konnten126. Porro hatte einen völlig anderen Standpunkt als Sonnino, der traditioneller eingestellt war. Vielleicht ließ sich der stellvertretende Stabschef von D’Adamo inspirieren, der zwischen 1918 und 1919 eine wichtige Rolle in der Verwaltung der „neuen Provinzen“ spielen sollte127, denn er dachte bereits an die Zeit nach dem Krieg und die Friedensverhandlungen, bei denen die Ansprüche auf Gebiete mit anderssprachiger Bevölkerung zu rechtfertigen sein würden, und an die Tatsache, dass die Slowenen und Kroaten aus diesen Gebieten dann zu italienischen Staatsbürgern werden sollten. Je konkreter die Aussicht auf ein Ende des Krieges wurde, desto näher rückte der Zeitpunkt, zu dem eine Annexion sie zu königlichen Untertanen machen würde. Früher oder später mussten alle nach Hause gebracht werden, ob sie nun als italianissimi extrem italienfreundlich oder völlig gegen die neue Heimat eingestellt waren. Sie sofort zu diskriminieren und in einem beliebigen Gefangenenlager in Russland verschmachten zu lassen, würde ihre spätere Integration nicht erleichtern. Es sei hier erwähnt, wie häufig in der Diskussion auf die Slawen aus dem Küstenland und die „serbische Konkurrenz“ Bezug genommen wurde, während die Frage der deutschsprachigen Südtiroler, die bei Annahme der italienischen Forderung nach der Brennergrenze voraussichtlich ebenfalls italienische Staatsbürger werden würden, völlig ausgespart wurde. Von ihnen sprach man nie, weil klar war, 125 Ebd., Porro an Kriegsministerium, 28.11.1916. 126 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Porro an Boselli, 25.8.1916. 127 Vgl. Andrea Di Michele, Die unvollkommene Italianisierung. Politik und Verwaltung in Südtirol 1918–1943 (Innsbruck 2008) 13-65.

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dass nach dem Krieg die Ostgrenze die meisten Probleme bereiten würde, weil dort die Konfrontation um die jeweiligen Gebietsansprüche zwischen den beiden Siegerstaaten Italien und Serbien erfolgen würde, während Italien im Norden mit keinen gröberen Schwierigkeiten rechnete und davon ausging, sich gegenüber der Verlierermacht Vorteile verschaffen zu können. Hinzu kam noch, dass man die Slawen des Küstenlandes als Bevölkerung mit nicht klar definiertem und schwachem Nationalprofil betrachtete, auf die die „überlegene italienische Kultur“ auf natürliche Weise anziehend wirken würde. Dass sie eine andere Sprache sprachen und von den Serben Ansprüche auf sie erhoben wurden, machte sie noch nicht zu einem völlig italienfremden Element, sondern nur zu einer umstrittenen Komponente, die leicht zur italienischen Gesinnung zu bekehren sein würde. Ganz anders wurden dagegen die Tiroler gesehen: Sie galten als Archetyp einer eindeutig „deutsch“ gesinnten Bevölkerung, die eine tiefe Abneigung gegenüber Italien hegte und über deren Bereitschaft einer Bekehrung zur italienischen Gesinnung man sich keine großen Illusionen machte. Sie wurden nicht aus demselben rassistischen Blickwinkel betrachtet wie die Südslawen, denn diese galten als geschichts- und kulturlose Völker, die dem Druck einer Sprache und einer Kultur, welche sich als überlegen präsentierten, nicht standzuhalten vermochten. Auf Porros Betrachtungen erwiderte Sonnino, er stimme zu, dass aus politischen Gründen möglichst viele Italiener aus der Irredenta nach Italien gebracht werden sollten, man dabei aber niemals „unser großes Interesse, damit keine Gefahren in Italien zu schaffen“, vergessen dürfe, wozu es jedoch durch die Aufnahme von Personen, „die möglicherweise dazu tendieren könnten, nach Österreich-Ungarn zurückzukehren und, wenn sie in ihrer Heimat bleiben, der Sache des Feindes zu dienen“, kommen würde128. Es überwog also die Angst, sich den Feind, den Spion und Saboteur, ins eigene Land zu holen, sodass es notwendig war, jeden Kandidaten für eine Verbringung nach Italien genau zu überprüfen. Inzwischen war die Gruppe der glühendsten Patrioten unter den Gefangenen in Kirsanow zu „Aposteln italienischer Gesinnung“ geworden und rief eine Reihe von Initiativen ins Leben, die den Lageralltag bestimmten. Einerseits mussten die langen und müßigen Tage der Männer, deren Verbitterung immer größer und daher gefährlicher wurde, ausgefüllt werden, andererseits wollte man bewusst nationalerzieherisch tätig werden. Von Februar bis März 1916 wurde eine kleine patriotische Zeitung mit dem Titel La nostra fede (Unsere Treue) herausgegeben, deren Titelseite mit einem Spruch Dantes eröffnete: Non sbigottir ch’io vincerò la prova („Nicht mög’ es dich verstören […] – ich siege doch“)129. Herausgege128 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Sonnino an Boselli (Kopie), 4.8.1916. 129 Zur Zeitung siehe Antonelli, I dimenticati 196–199; De Manincor, Dalla Galizia 101–115; Viezzoli, Un anno 40–43; Alice Manzi, La nostra fede. Un giornale dei prigionieri irredenti in



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ben wurde sie von zwei Professoren – Clemente Marassi aus Fiume und Silvio Viezzoli aus Triest –, drei Studenten aus dem Trentino – Annibale Molignoni, Luigi Morghen und Arturo Pezzi –, sowie einem Bildhauer, Ermete Bonapace, ebenfalls aus dem Trentino. Zur Hebung der Moral ihrer Leser befasste sich die Zeitung mit den militärischen Ereignissen und konterkarierte die gegnerische Propaganda. In pädagogischer Manier berichtete sie über die Ruhmestaten der italienischen Geschichte, mit besonderem Augenmerk auf dem Risorgimento und dem Irredentismus. Außerdem erörterte sie die Gründe für den italienischen Kriegseintritt und dessen Berechtigung, wetterte heftig und unter Gewaltandrohungen gegen die austriacanti und förderte bei den Gefangenen das Bewusstsein um die bald von ihnen verlangte „Offenbarung“ ihrer italienischen Gesinnung, wie ein Ausschnitt aus der Parodie auf die Göttliche Komödie belegt, in der Dante in Begleitung Vergils Kirsanow besucht und darauf Bezug nimmt, dass die Insassen im Limbus zwischen Hölle und Paradies schweben, also weder Österreicher noch Italiener sind, ihre Gesinnung aber italienisch ist: „Costoro son sospesi / Non sono austriaci e non sono italiani / Non son soldati e non sono borghesi / Austriaci sono detti dai profani / E grigio hanno indosso ancora il saio / Ma l’anima di lor li fa romani”130. Die patriotische Erziehung erfolgte auch über die Annahme nationaler Symbole. Dank einer unter den Gefangenen selbst organisierten Sammelaktion konnte man „die italische Trikolore, die Wappen der sechs unerlösten Provinzen in den Mast aus Eichenholz geschnitzt“, auf japanische Seide sticken lassen131. Die Fahne und die Wappentücher der Provinzen wurden im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung eingeweiht, bei der Chor und Orchester der Gefangenen auftraten und die Marcia reale (Nationalhymne des Königreiches Italien) sowie den Inno di Garibaldi (Garibaldi-Hymne, Gesang des Risorgimento) zum Besten gaben – sie traten regelmäßig mit einem rein patriotischen Repertoire auf. Durch regelmäßige Vorträge über Geschichte und aktuelle Ereignisse, einen Wettbewerb zur Wahl einer eigenen Hymne sowie den Bau eines Grabdenkmals für die in Kirsanow verstorbenen Kameraden nahm der Alltag der Gefangenen eine nationale Prägung an, womit eine rasche kulturelle Anpassung im Sinne eines italienischen Patriotismus vorgenommen wurde. Die Tagebücher dieser Gefangenen mit Transkriptionen von Artikeln aus „La nostra fede“ sowie die realistischen und Russia, in: Atti del VII congresso nazionale di storia del giornalismo, Trento–Trieste 1968 (Triest 1972) 203–216. 130 Silvio Viezzoli, Canto I° della Divina Commedia rifatto, in: La nostra fede (1.4.1916) Nr. 6. Inhaltlich etwa: „Sie schweben zwischen Paradies und Hölle / Sind weder Österreicher noch Italiener / Weder Soldaten noch Bürger / Österreicher nennen sie die Heiden / Noch tragen sie die graue Kutte [die habsburgische Uniform, Anm. d. Ü.]/ Doch im Herzen sind sie Römer.“ 131 De Manincor, Dalla Galizia 133f.

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Abb. 15: „Russland: Kirsanov 1916 – Einweihung des Denkmals für die in Erwartung ihrer Heimkehr in die befreite Heimat verstorbenen italienischen Irredentisten – 2.700 Kriegsgefangene anwesend“ (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

engagierten Schilderungen der von ihnen erlebten patriotischen Zeremonien zeigen, wie effektiv die in Kirsanow praktizierte Nationalpädagogik war132. Wegbereiter der Nationalisierung in Kirsanow war also die Elite der italianissimi unter den Gefangenen, die bisweilen von oben Unterstützung durch die nationalen Institutionen in Italien und Russland und von unten durch die philoirredentistischen gesellschaftlichen Kreise erhielt. Der Botschafter und der Konsul in Russland waren bei den im Lager organisierten Sammlungen großzügig, während Ceccato in seinem Namen und im Namen der italienischen Gemeinschaft in Russland Geld verteilte, das Außenministerium dutzende Abonnements italienischer Tageszeitungen und Zeitschriften erwarb und die öffentlichen Bibliotheken im fernen Italien hunderte Bücher sammelten und versandten (zum Beispiel 545 Exemplare von Silvio Pellicos Werk „Meine Gefängnisse“, die im März 1916 von der Gemeinde Mailand zur Verfügung gestellt wurden)133. 132 Rasera, Zadra, Patrie lontane. Als Beispiel siehe etwa die Tagebuchnotizen von Bresciani, Una generazione di confine. 133 ASMAE, AG, b. 343, fasc. 72, sf. 22 Prigionieri irredenti in Russia. Libri per irredenti prigionieri



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Trotz der Erfolge registrierte die Zeitung, dass innerhalb der Gemeinschaft der Gefangenen eine örtliche Spaltung herrschte: „Heute ist es schädlich, ja antipatriotisch, diese kleinen Lästereien fortzusetzen. Heute sind wir nicht mehr aus dem Trentino oder aus dem Küstenland, sondern einzig und allein Italiener“134. Trotz laufender Nationalisierungsbemühungen hielten viele Soldaten eher an Formen lokaler und regionaler Identifikation fest. In der Gefangenschaft suchte man sich unter Italienern gegenseitig, um endlich miteinander reden zu können, am liebsten traf man sich jedoch mit Leuten aus dem gleichen Ort oder dem gleichen Tal. In seinen Memoiren betont der Kaiserjäger Iginio Delmarco, dass die Gruppe, zu der er gehörte, natürlich größtenteils aus Fiammazzi bestand, also Bewohnern der Val di Fiemme (Fleimstal) im Trentino135. Vor allem zwischen Trentinern und Bewohnern des Küstenlandes war die Distanz spürbar – Ausdruck zweier Welten, die oft als völlig verschieden oder gar unvereinbar wahrgenommen wurden, ganz anders als in all den hochtrabenden Reden von den terre irredente. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. Daniele Bernardi etwa beklagte sich, als einziger Trentiner „unter Triestinern, Istrianern, Slowenen und Kroaten“ übriggeblieben zu sein, und stellte seine Brüder aus der Irredenta damit auf eine Ebene mit den anderen Nationalitäten der Habsburgermonarchie136. Für Isidoro Simonetti waren die Triestiner in seiner Stube im Gefangenenlager die Diebe, die den anderen Bedauernswerten jeden Tag Dinge stahlen, „denn zuerst waren wir nur Tiroler, und über das gesamte Jahr, in dem wir Stubengefährten waren, hatte es nie Beschwerden über Diebstahl gegeben“137. Die Distanz zwischen den beiden Gruppen blieb oft auch unter den nach Italien aufgebrochenen Freiwilligen, die sich dem königlichen Heer angeschlossen hatten, bestehen. Die Trentiner unter ihnen beklagten, fast schon an einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Triestinern zu leiden, da diese politisch aktiver und einflussreicher und in den institutionellen Kreisen in Rom stärker vertreten waren. Cesare Battistis Urteil über den Triestiner Salvatore Barzilai, der zum Minister für die terre irredente ernannt worden war, fiel auch nicht allzu freundlich aus: Für Battisti hatte er „eine wahre Abneigung gegen die Trentiner“ und interessierte sich nur für Julisch Venetien138. Schon vor Kriegsausbruch war in Russia; ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47; Il Secolo 5.5.1916. 134 Clemente Marassi, Screzi, in: La nostra fede 1.4.1916 Nr. 6. 135 Memorie del Tiroler-Kaiserjäger Iginio Delmarco, hrsg. von Renzo Francescotti, in: Bollettino del Museo trentino del Risorgimento 36/2 (1987) 20–47, hier 38. 136 Zit. in: Mazzini, “Cose de laltro mondo” 149, Anmerkung 125. 137 Isidoro Simonetti, in: Giovanni Bona, Bortolo Busolli, Antonio Giovanazzi, Angelo Raffaelli, Isidoro Simonetti, Angelo Zeni, hrsg. von Quinto Antonelli, Giorgia Pontalti (Trient–Rovereto 1997) 159–192, hier 179. 138 Miria Manzana, La vita al fronte nelle lettere dei volontari trentini (1915–1918), in: Bollettino del

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es um die Beziehungen zwischen der politischen Vertretung des Trentino und jener des Küstenlandes nicht wirklich zum Besten bestellt gewesen. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hatte sich der junge Degasperi sehr heftig mit den Studentenvertretern aus dem Küstenland angelegt, die auf Triest als Standort der italienischsprachigen Universität bestanden und sich vehement gegen jede andere Stadt – etwa Trient oder Rovereto – aussprachen. Der spätere Parteichef der Katholiken (Volkspartei) bezeichnete die Studenten aus dem Küstenland abfällig als gente di mare (Seeleute), dem Radikalismus und Nihilismus verhaftete Sektierer, die, wie er meinte, nicht in der Lage wären, die Interessen der österreichischen Italiener zu vertreten139. Aufgrund der mangelnden Kompromissbereitschaft der Julier in der Universitätsfrage verließ Degasperi letztlich die Gruppierung der italienischen Abgeordneten in Wien, die er bei dieser Gelegenheit als „adriatische Camorra“ bezeichnete140. Nach Sonninos Wunsch sollte die Militärmission eine strenge und genaue Auswahl der Repatriierungswürdigen vornehmen, was allerdings aus verschiedenen Gründen nur teilweise geschah. Die Mission war erst im August mit ihren Leuten nach Russland gekommen und hatte ihre Aufgaben äußerst rasch abzuwickeln. Es galt, die wenigen Monate zu nutzen, die noch zur Verfügung standen, bevor das Meer im Hafen von Archangeľsk zufrieren und ein Auslaufen daher unmöglich machen würde. Außerdem war die Zahl der Italiener in den Lagern nach der Brussilow-Offensive, mit der die Russen im Juni die österreichischen Linien in Galizien durchbrochen hatten, deutlich gestiegen, als die Mission vor Ort war. Im August hatten sich dann immer mehr Gefangene, die zunächst unentschlossen gewesen waren, aufgrund der Eroberung von Görz durch das italienische Heer für Italien entschieden. Während laut ursprünglichen Plänen nur 3.000 Gefangene nach Italien transportiert werden sollten, ging Bassignano im Oktober davon aus, dass es doppelt so viele sein würden141. Angesichts solcher Zahlen schien es unmöglich, sorgfältige Befragungen durchzuführen und eine genaue Auswahl vorzunehmen. De facto schloss die Mission nur jene vielen tausenden Gefangene aus, die sich weigerten, abzureisen, und eine „ausgeprägte Österreichfreundlichkeit“ an den Tag legten. Vervollständigt wurden die Listen dagegen nach und nach mit den Namen all jener, die das Angebot angenommen und eine Erklärung unterzeichnet hatten, in der sie sich formell Italien überantMuseo trentino del Risorgimento 1 (1987) 51–63, hier 62. 139 Maurizio Cau, Il cattolicesimo politico trentino e gli “adriatici”, in: Trento e Trieste. Percorsi 219–236. 140 Paolo Pombeni, Der junge De Gasperi. Werdegang eines Politikers (Berlin 2012) 119. 141 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Notiz Bassignanos für das Außenministerium, 23.6.1916, und Bassignano an Außenministerium, 5.10.1916.



4. Selektion und Erziehung zur italienischen Gesinnung 

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worteten142. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass in solch einer verzweifelten Situation in den Gefangenenlagern das Nationalgefühl jedes Einzelnen ermittelt werden konnte. In ihren Berichten wiesen sowohl Tonelli als auch De Varda darauf hin, wie schwierig die Auswahl der Gefangenen war, und betonten vor allem, dass Einzelne möglicherweise aufgrund von Unterstellungen und Verleumdungen nicht auf die Liste kommen könnten. Während der Befragungen brachten nämlich einige Gefangene aus persönlicher Abneigung Anschuldigungen gegen ihre Kameraden vor, die jeglicher Grundlage entbehrten. Vor allem De Varda ersuchte darum, sechs Offiziere und 71 Soldaten, die nach widersprüchlichen und böswilligen Anschuldigungen ihrer Gefährten der Österreichfreundlichkeit verdächtigt wurden, nicht von der „Repatriierung“ auszuschließen – er schlug vor, sie nach Italien mitzunehmen, dort aber „einer strengen Prüfung“ zu unterziehen und sie gegebenenfalls als Kriegsgefangene zu behandeln143. Bei der Abreise hatte dennoch die Elite der italianissimi Vorrang. Nicht ohne Grund war die gesamte Redaktion von „La nostra fede“ an Bord des ersten Konvois, der aus Archangeľsk ablegte144. Unter ihnen befand sich auch Annibale Molignoni, der nach dem Krieg noch lange über sein patriotisches Engagement in Russland schreiben sollte. Seine Geschichte zeigt, wie schwierig es war (und ist), ein Urteil über das Nationalgefühl der Gefangenen abzugeben. Obwohl er treibende Kraft hinter dem „patriotischen Erwachen“ der Gefangenen in Kirsanow gewesen war, erschien Molignonis Name auf einer Liste Verdächtiger, die nach ihrer Ankunft in Italien überwacht werden sollten. Er war hier in Gesellschaft einiger dutzend Kollegen, denen verschiedenste Dinge zur Last gelegt wurden: Opportunismus, Diebstahl, Antimilitarismus, Österreich- oder Slawenfreundlichkeit, ehemalige Tätigkeit als österreichischer Gendarm, Beleidigung Italiens, lange und verdächtige Arbeitsaufenthalte in Wien oder schlicht mangelnde Italienischkenntnisse145. Nichts von all dem betraf Molignoni, der jedoch für einen peinlichen Vorfall zu Beginn seiner Gefangenschaft verantwortlich war, der im Juni 1916 der Redaktion von „La nostra fede“ zugetragen wurde. Ende 1914 war Molignoni im Norden Russlands in einem Barackenlager mit etwa einhundert Deutschen und Slawen sowie 13 Italienern interniert gewesen. Laut einem Zeugen hielt Molignoni am 2. Dezember 1914 anlässlich des Krönungsjubiläums Kaiser Franz 142 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Bericht über den Besuch der Lager (Hauptmann Tonelli an Carlotti), 9.7.1916. 143 USSME, E-11, Siberia, b. 91, cart. 1, De Varda an einen nicht näher identifizierten Major, 19.7.1916. 144 Manzi, La nostra fede 210. 145 Diese und weitere Listen mit Verdächtigen befinden sich in: USSME, F-3, b. 272, cart. 6, Corpo spedizione Estremo Oriente. Corrispondenza, operazioni, relazioni.

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

Josephs auf Anregung eines österreichischen Offiziers eine bewegende Rede und forderte seine italienischen Mitgefangenen zum Schluss dazu auf, die österreichische Hymne zu singen. Kaum hatten die Redaktionsmitglieder davon erfahren, befragten sie ihren Kollegen dazu. Dieser bekräftigte seine italienische Gesinnung und gab zu, einen „Leichtsinn“ begangen zu haben, jedoch nur aus Angst vor Repressalien durch die deutschsprachigen Offiziere146. Seine Kollegen wussten, welch wichtige Rolle Molignoni in der Nationalitätenfrage in Kirsanow gespielt hatte, und wollten die Sache daher verschweigen, sie hatten ihn allerdings laut eigener Aussage dazu gezwungen, die Redaktion zu verlassen. In ihrem Bericht über den gesamten Vorfall behaupteten sie, sein Rücktritt sei im Bulletin von La nostra fede als freiwillige Entscheidung präsentiert worden, die auf den von seinen Kollegen nicht geteilten Wunsch zurückzuführen gewesen sei, der Zeitung eine wesentlich deutlichere politische Stoßrichtung zu geben147. Die Wahrheit wurde von Molignoni und seinen Trentiner Kollegen, die seinen wahrscheinlich mit den Italienern des Küstenlandes abgesprochenen Abgang „organisierten“, immer verschwiegen. Letztere besetzten den vakanten Posten in der Redaktion sofort mit dem Triestiner Ferruccio Spazzali nach. Wer war Molignoni also? Ein austriacante? Ein Opportunist? Ein Feigling? War er zur italienischen Gesinnung konvertiert? Ist es überhaupt sinnvoll, als Erklärung für seinen Wankelmut das Thema der nationalen Identität zu bemühen? Oder ist es wie bei den tausend anderen Männern, die dasselbe erlebt haben, angemessener, in diesem Zusammenhang an das dramatische und veränderliche Umfeld der Gefangenschaft zu denken? 5. Wiens wachsames Auge Im Laufe des Jahres 1916 bekam ich insgesamt 81 Postkarten und Briefe, die meisten davon von meiner Familie. Im Durchschnitt kam alle 5 Tage eine Karte; wenn es dieses Jahr so bleibt, bin ich vollauf zufrieden148.

146 Ebd., Bericht über den Streitfall Molignoni, unterzeichnet von acht Personen, darunter Umberto Artel, Ermete Bonapace, Luigi Morghen, Arturo Pezzi, 28.6.1916. 147 Im zitierten Bericht heißt es, die Nachricht sei im Bulletin Nr. 100 vom 8.6.1916 veröffentlicht worden. Tatsächlich ist sie weder in Nr. 100, die eigentlich vom 7.6.1916 ist, noch in Nr. 101 vom 8.6.1916 zu finden (letztere ist, vielleicht nicht vollständig, auf der Rückseite von Nr. 94 abgedruckt). Die gesammelten Bulletins (deren Großteil) befinden sich in: FMST, Bonapace, fasc. 8.4; die gesammelten Zeitungen und ein Teil der Bulletinnummern befinden sich in: FMST, E, b. 58, fasc. 3. 148 G. Z., in: Ezechiele Marzari 141–230, hier 183.



5. Wiens wachsames Auge 

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Dies notierte Gabriele Zambelli zu Silvester  1916 in Nowhorod-Siwerskyj nordöstlich von Kiew in seinem Gefangenentagebuch. Er führte genau Buch über die Korrespondenz mit seinen Angehörigen und Freunden, was zeigt, wie wichtig diese für die Soldaten im Krieg war, ob sie sich nun an der Front oder in Gefangenschaft befanden. Unzählige Briefe, deren Verfassen und Lektüre einen beträchtlichen Teil der Zeit der Soldaten in Anspruch nahm, wurden zwischen 1914 und 1918 in ganz Europa verschickt 149. Für Italien belief sich die Gesamtzahl der im Laufe des Krieges versandten Korrespondenzen auf fast 4 Milliarden (eingehend und ausgehend, wobei die von den Soldaten versandten Dokumente eindeutig in der Überzahl waren)150. Noch höher fiel sie in anderen Ländern aus, so waren es beispielsweise in Frankreich etwa 10 Milliarden und in Deutschland 30 Milliarden151. Zum Schriftwechsel kam noch die ebenfalls beträchtliche Anzahl von Tagebüchern, Notizen, autobiografischen Memoiren und Chroniken, und zwar besonders unter den österreichischen Italienern, deren Alphabetisierungsgrad wesentlich höher war als jener der Reichsitaliener152. Durch den Ersten Weltkrieg wurde Schreiben zum Massenphänomen in allen Gesellschaftsschichten, unabhängig vom jeweiligen Alphabetisierungsgrad. Für die Soldaten war das Schreiben ein extrem wichtiger Moment, um ihre tragischen Erlebnisse verarbeiten zu können, ein Moment der Rationalisierung, der Ereignissen, welche einen deutlichen Bruch mit ihrem bisherigen Leben darstellten, erneut einen Sinn verlieh. Wenn sie schrieben und Nachrichten von daheim lasen, hielten sie den Kontakt zu ihren Lieben aufrecht, und ihre Gedanken kehrten zur Normalität zurück, die ihnen zwar genommen war, an die sie jedoch möglichst bald wieder anknüpfen wollten. Daher erkundigten sich tausende Kilometer weit von ihren Ehefrauen und Eltern entfernte Gefangene nach Informationen über Wetter, Jahreszeiten, die Qualität der Ernte sowie die Entwicklung der Geschäfte, erteilten Rat und gaben Empfehlungen153. Doch vor allem war das Schreiben ein Schutz vor dem täglichen Grauen und den Entbehrungen des Krieges, ein Selbsterhaltungsmittel, mit dem man seine gebrochene Identität wiederherzustellen suchte154. 149 Antonelli, Scritture di confine 76. 150 Beniamino Cadioli, Aldo Cecchi, La posta militare italiana nella prima guerra mondiale (Rom 1978) 274f. 151 Fabio Caffarena, Armed with pen and paper. Soldiers writings between story, memory and the history of the Great War, in: The Great War in Italy. Representation and Interpretation, hrsg. von Patrizia Piredda (Leicester 2013) 167f. 152 Antonelli, Storia della scuola trentina. 153 Antonelli, Storia intima 223. 154 Antonio Gibelli, Per una storia dell’esperienza di guerra dei contadini, in: Movimento operaio e socialista 1 (1986) 7–20; Lucio Fabi, Guerre sulla carta. Appunti per una storia del soldato in

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Zwischen Österreich und Italien: Kriegsgefangenschaft in Russland

Doch der Schriftverkehr war im Krieg nicht nur Privatangelegenheit. In den Lagern wurde die ein- und ausgehende Korrespondenz sehr genau von der Zensur begutachtet. Es handelte sich um eine doppelte Kontrolle, einmal durch die russische Seite und einmal durch die österreichische (oder – bei den Gefangenen, die mit Verwandten oder Bekannten im Königreich Italien kommunizierten, weil sie vielleicht dorthin evakuiert worden waren – die italienische). Die Russen beschränkten sich auf stichprobenartige Kontrollen und waren besonders an der Post der Angehörigen der Gefangenen interessiert, die manchmal wertvolle Informationen über die innere Front des gegnerischen Landes enthielten. Doch der von den Gefangenen verfasste Schriftverkehr wurde ebenfalls genau kontrolliert, sodass diese sehr darauf achten mussten, ihre Lebensumstände nicht allzu düster darzustellen155. Wesentlich systematischer gingen die Österreicher vor, deren Ziel die Kontrolle des gesamten Schriftverkehrs war, eingehend wie ausgehend. Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß dieses Ziel erreicht werden konnte und inwieweit die Gefangenen über die Dimensionen der Kontrolle Bescheid wussten. In Österreich unterstand die Zensurmaschinerie dem Kriegsüberwachungsamt, das bereits im Zusammenhang mit der Überwachung der Kontrolle und Militarisierung der inneren Front erwähnt wurde. Das Amt war in perfekter habsburgischer Manier gestaltet und verfügte über eine sehr gut gegliederte Struktur mit fünf Tätigkeitsgruppen, darunter eine Zensurgruppe, die wiederum in drei Bereiche mit speziellen Zuständigkeiten unterteilt war: Pressezensur, Briefzensur und Telegrammzensur. Die Briefzensur selbst war in vier unterschiedliche Bereiche gegliedert, darunter jener der Kriegsgefangenenkorrespondenz, der auch als der effizienteste galt156. 1916 wurde der gesamte Postüberwachungsapparat nach dem Vorbild der Kriegsgefangenenzensur neu organisiert – diese beruhte auf einer sehr zentralistischen Struktur mit über 1.150 Zensoren, welche in 15 Sprachgruppen eingeteilt waren und die in ungefähr 35 verschiedenen Sprachen verfasste Post lesen konnten157. Anfangs diente die Zensur vor allem der Verteidigung: Es sollte vermieden werden, dass vertrauliche militärische Informationen, die dem Feind nutzen konnten und für die Interessen des Staates potenziell gefährlich waren, in Umlauf gelangten oder dass Institutionen und Kriegsverhalten auf eine Art kritisiert guerra, sul fronte dell’Isonzo, in: Questioni di guerra (Gorizia 1990) 83–95; Antonio Gibelli, L’officina della guerra. La Grande Guerra e le trasformazioni del mondo mentale (Turin 2007) 51–56, 99–103. 155 Rossi, I prigionieri 67, 77–81; Rachamimov, POWs 136. 156 Gustav Spann, Zensur in Österreich während des I. Weltkrieges 1914–1918 (Dissertation, Universität Wien 1972) 51–61, 113–115. Zum Vergleich mit der Funktionsweise der Zensur in Italien vgl. Procacci, Soldati 28–42. 157 Spann, Zensur 124–132; Rachamimov, POWs 138f.



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Abb. 16: Postkarte, abgesandt in Cles (Trentino), an einen Kriegsgefangenen aus dem Trentino im Lager Orlov. Abgesehen von den Stempeln des Absende- und Empfängerpostamts sind die Stempel der russischen und österreichischen Zensurbehörde sowie die Unterschrift des österreichischen Zensors zu sehen (Collezione Franco Trentini, Arco [TN]).

wurden, die die Sicherheit der inneren Front kompromittieren konnte. Im Laufe der Monate wurden der Briefzensur neue, erkennungsdienstliche Aufgaben zugeteilt. Betroffen davon war besonders die Post der Kriegsgefangenen aus Österreich-Ungarn, die aus feindlicher Gefangenschaft heraus im Brief- und Postkartenverkehr mit ihren Verwandten zu Hause standen, aber auch jener aus dem Ausland, die aus den Feldlagern der Monarchie mit ihren Herkunftsländern korrespondierten. Briefe und Postkarten aus dem Kaiserreich und aus dem Ausland wurden mit der Zeit zur nützlichen Informationsquelle für kriegerische Zwecke. Die aufmerksame und genaue Überprüfung der gesamten Gefangenenpost war nun ein wichtiges Instrument für den Erwerb von militärischen, politischen und wirtschaftlichen Informationen sowie von Hinweisen auf die Stabilität und Aufstellung des feindlichen Heeres, die Deckung der Lebenshaltungskosten, die öffentliche Stimmung innerhalb und außerhalb des Kaiserreiches und anderes mehr. Besonders interessierte die Militärbehörden die Einstellung der verschiedenen nationalen Gruppierungen zum Krieg und ihre Loyalität zu den Institutionen. Nach der Sichtung der Privatkorrespondenz zwischen den österreichisch-ungarischen Gefangenen und ihren Familien wurden regelmäßig Berichte über das Verhalten der verschiedenen Nationalitäten der Habsburgermonarchie erstellt. Anhand dieser sollten die Loyalität der österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen und die Stimmung in der Zivilbevölkerung beurteilt werden. Manchmal

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wurden die Überprüfungen in einem allgemeinen und vergleichenden Überblick zusammengefasst, so etwa auch im Juni 1915, als die Zensurabteilung für Kriegsgefangenenkorrespondenz nach der Sichtung von über sieben Millionen Briefen einen detaillierten Bericht über die Gesinnung der Gefangenen nach Nationalität erstellte – ein Beispiel für den modernen Einsatz der Zensur als Informationsinstrument und nicht nur als Mittel zur Kontrolle und eventuell auch Zurückhaltung vertraulicher Informationen158. Die Überprüfung der Gefangenenbriefe brachte wertvolle Details über den schlechten Zustand des russischen Heeres und über Russlands schwierige Wirtschaftslage zutage und ermöglichte die Erstellung eines Profils der zwölf Ethnien bzw. Sprachgruppen der Habsburgermonarchie. Alles beruhte auf der Überzeugung, dass durch die besondere Situation der Gefangenschaft bei den Soldaten jede Art von Hemmung und Selbstzensur fallen würde, sodass sich der Charakter der Gefangenen in seiner authentischsten Form offenbarte. Den Briefen wurden sämtliche für nützlich befundene Informationen entnommen, die dann nach Nationen geordnet neu zusammengestellt wurden. Man legte etwa Statistiken über den Anteil der Verwundeten an der Gesamtanzahl der Gefangenen jeder Ethnie an, anhand derer dann ihre Loyalität beurteilt wurde. Nur Verwundeten wurde nachgesehen, wenn sie dem Feind in die Hände gefallen waren: Eine zu hohe Anzahl an gesunden Gefangenen wurde dagegen als Hinweis auf Massendesertionen interpretiert159. Nach Überprüfung dieser und weiterer Kriterien wurden die Tschechen als „die schlimmsten Elemente“ eingestuft, bei den Serben deren „pathologische Tendenz zur Falschheit und zum Doppelspiel“ betont, während die Bewohner des Alpenraums, allen voran die Tiroler, aus der Statistik als die Kaisertreuesten hervorgingen. In dieser Wiederholung klassischer Vorurteile gegenüber den einzelnen Nationalitäten ließe sich eigentlich mit Blick auf die Italiener ein negatives Urteil erwarten. Genau das Gegenteil war allerdings der Fall: Die Zensurleitung hält es für ihre Pflicht, auf Grund rigoros gesichteten Materiales bezüglich dieses Volkes Tatsachen festzustellen, welche mit den allgemein, auch vielleicht in maßgebenden Kreisen herrschenden Anschauungen n i c h t übereinstimmen. Gegenüber der Meinung, das Trento und das österreichische Küstenland beherberge vorherrschend Irredentisten, die Bevölkerung sei austrophob und unzuverlässig, muß 158 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 1128, 1915, Kt. 3727, Bericht des Leiters der Zensur-Abteilung für Kriegsgefangenen-Korrespondenz, Major Theodor Primavesi, 20.6.1915. 159 Dass die Anzahl verwundeter Gefangener für die Beurteilung der Loyalität nationaler Gruppierungen keine verlässliche Referenz ist, wird von Rachamimov erörtert, vgl. Rachamimov, POWs 145–148.



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konstatiert werden, daß sich Korrespondenzen irredentistischen Inhaltes lediglich wieder nur aus ganz bestimmten Zirkeln der Stadtbewohner (Triest, Görz, Rovereto, Trient, Ala) vorfinden. Der Kern des Volkes ist gesund, keineswegs austrophob angekränkelt, sondern in den allermeisten Fällen streng dynastisch und absolut loyal gesinnt.160

Im Bericht wurde darauf hingewiesen, dass keine Fälle von Massendesertionen unter den Italienern bekannt waren, und weiters voller Überzeugung betont, dass eine etwaige Volksabstimmung in den von den Italienern beanspruchten Grenzgebieten mit überwältigender Mehrheit zugunsten Österreichs ausgehen würde. In diesem Fall und auch sonst fiel das Urteil über die italienischsprachigen Soldaten eindeutig positiv aus, was beweist, dass es auch innerhalb der Ämter verschiedene Ansichten in dieser Frage gab. Bei dieser und anderer Gelegenheit bewies die Militärführung, dass derartige Berichte ignoriert wurden, wenn sie ihren Vorurteilen gegenüber den verschiedenen Nationalitäten widersprachen, aber darauf Bezug genommen wurde, wenn sie die Vorurteile bestätigten161. Dieser pflichtbewusste Kontrollapparat widmete sich der Überwachung der italienischsprachigen Gefangenen in den russischen Lagern. Sein Interesse stieg mit der zunehmenden Konkretisierung der Vereinbarungen zwischen Italien und Russland über ihre Befreiung. Besonders durch die italienische Presse, die zahlreiche Informationen über die Kontakte zwischen Rom und Petrograd, die Zusammenführung der italienischen Gefangenen und die Ankunft der ersten Gefangenenkonvois in Italien veröffentlichte, wusste man in Wien bestens darüber Bescheid, was organisiert wurde. Folglich achtete man genau auf die italienischsprachigen Gefangenen und hatte bald Kirsanow als deren wichtigste Sammelstelle identifiziert, obwohl die Zensur im August und September 1915 269 Internierungsorte gezählt hatte, von denen Briefe italienischer Gefangener abgeschickt worden waren – diese waren also noch lange nicht wie geplant an einigen wenigen Orten zusammengeführt162. Das Armeeoberkommando erteilte deshalb den Zensurverantwortlichen die Weisung, die Gefangenenkorrespondenz genau zu kontrollieren, um die Namen jener Soldaten eruieren zu können, die sich in dem Lager befanden163. In den darauffolgenden Monaten wurde eine sehr umfangreiche Namenskartei sämtlicher italienischer Gefangener in Russ160 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 1128, 1915, Kt. 3727, Bericht des Leiters der Zensur-Abteilung für Kriegsgefangenen-Korrespondenz, Major Theodor Primavesi, 20.6.1915. 161 Spann, Zensur 256; Luciana Palla, L’irredentismo dei prigionieri trentini in Russia nelle relazioni della censura austriaca, in: Archivio trentino di storia contemporanea 1 (1993) 61–75. 162 ÖStA, KA, KM, KÜA, 1915, 44635, Kt. 82, Allgemeiner Bericht der italienischen Gruppe C, 11.9.1915. 163 ÖStA, HHStA, PA I, Liasse Krieg, 19f, Vertreter des Außenministeriums beim Armeeoberkommando an Außenministerium, 31.3.1916.

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land erstellt, die auf der Grundlage der abgefangenen Briefe laufend aktualisiert wurde. Parallel dazu sammelten die österreichischen Behörden detaillierte Informationen über die Tätigkeit der italienischen Regierung, unter anderem üer die Bekehrungstätigkeit von Abgesandten in den Gefangenenlagern und über die Reaktionen innerhalb der Kriegsgefangenengemeinschaft. Dadurch konnte die gesamte Situation äußerst präzise und sorgfältig rekonstruiert und in Buchform zusammengefasst werden (57 Seiten, gebunden und mit Namensregister versehen). Dieser Bericht war für verschiedene Behörden bestimmt, die in unterschiedlicher Form mit Italien-Agenden zu tun hatten164. Die Auswertung der Korrespondenz diente in erster Linie dazu, die „Verräter“ zu identifizieren, um den Militärgerichten Beweismaterial für die Einleitung von Hochverratsprozessen und Desertionsverfahren zu liefern. Nach Kriegsende sollte die umfangreiche Kartei der sogenannten „Kirsanower“ als Mittel zur „Verhinderung der Rückkehr unzuverlässlicher politischer Elemente nach Oesterreich“165 dienen, um so das Problem des Irredentismus ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Schon während des Krieges wurden Prozesse abgehalten, die mit der Verurteilung dutzender dieser Soldaten endeten. Einige von ihnen wurden freigelassen und nach Italien gebracht, die meisten aber blieben als Gefangene in Russland. Die Beweise zu ihren Lasten wurden der Korrespondenz selbst entnommen, wobei der Sammel- und Auslegungstätigkeit durch den Zensurapparat eine entscheidende Rolle zukam. Es reichte, nach Kirsanow geschickt worden zu sein, um der Tatsache beschuldigt zu werden, sich frei für Italien entschieden zu haben, und schon eine einzige Bemerkung gegen die Doppelmonarchie und ihren Krieg konnte zur Beschlagnahmung sämtlichen beweglichen und unbeweglichen Vermögens führen, das die jeweilige Person im Kaiserreich besaß166. In den Zeitungen der Monarchie wurden als Abschreckung regelmäßig die Listen der Deserteure veröffentlicht, die von Beschlagnahmungsmaßnahmen betroffen waren167. Die Unterlagen der für die italienischsprachigen Soldaten zuständigen Zensurabteilung sind besonders interessant, vor allem, weil sie zeigen, wie systema164 ÖStA, KA, KM, KÜA, 1918, 27536, Kt. 262, Bericht über den Abtransport ö. u. Kriegsgefangener italienischer Nationalität von Rußland nach Italien, am 10.4.1918 verfasst und am selben Tag vom Chef des Generalstabes des AOK an diverse militärische und zivile Ämter versendet. 165 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4713, 1917, Kt. 3752, Zensurstelle in Feldkirch, Subbeilage d zur Beilage VI des Monatsberichtes pro Juni 1917. 166 Palla, L’irredentismo 66; Pina Pedron, In nome di Sua Maestà l’Imperatore d’Austria! Il fondo “Processi di guerra” 1914–18 dell’Archivio di Stato di Trento, in: Materiali di lavoro 1–3 (1985) 3–113; Augusto Tommasini, Ricordi del tribunale di guerra a Trento 1914–1918 (Trient 2 1926). 167 Siehe etwa Salzburger Volksblatt 31.8.1916 4.



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tisch und obsessiv jeder auch nur im Entferntesten verdächtige Hinweis in der von den Gefangenen versandten oder empfangenen Post ausgewählt wurde. Darüber hinaus wurden Ausschnitte aus Postkarten und Briefen mit Bezugnahme auf möglicherweise irredentistisch eingestellte Personen oder irredentistisch geprägte Verhaltensweisen regelmäßig von der Abteilung gesammelt und ins Deutsche übersetzt. Eine Frau aus Denno (Thenn) im Trentino schrieb an ihren gefangenen Bruder einen scheinbar harmlosen Satz: „Vielleicht hast du von Oreste erfahren. Er hat einen Fehler begangen.“ Sofort wurde der Befehl erteilt, Ermittlungen zur Person Orestes anzustellen – der Verdacht lautete, dass sein Fehler darin lag, sich möglicherweise für Italien entschieden zu haben, und dass er vielleicht mit einem von den italienischen Behörden organisierten Konvoi dorthin gelangt war. In einem anderen Fall schrieb ein Gefangener an seinen in die Gegend um Wien evakuierten Bruder und erwähnte dabei einen gemeinsamen Freund, der seine Tante in Turin besucht hatte. Da die Hauptstadt des Piemont der wichtigste Bestimmungsort für die Kirsanower war, hielt man es für nötig, seine Identität zu ermitteln und festzustellen, ob es sich nicht um einen ehemaligen Gefangenen handelte, der aus Russland nach Turin gebracht worden war168. Die Korrespondenz wurde also äußerst aufmerksam überprüft, und es war fast unmöglich, dass den Zuständigen Informationen von einer gewissen Relevanz entgingen. Wesentlich wahrscheinlicher war, dass eigentlich unbedeutenden Nachrichten eine Bedeutung attestiert wurde, die sie überhaupt nicht hatten, weil zwanghaft von Verrat ausgegangen wurde. Doch die Unterlagen sind umso faszinierender, als sie – wenn auch nur in einer ins Deutsche übersetzten Auswahl – eine wertvolle, im italienischen Original leider nicht mehr verfügbare Quelle darstellen. Es handelt sich um Ausschnitte aus unzähligen Briefen und Postkarten, die Eingang in die regelmäßigen Berichte der Zensur fanden, weil der Kontrollapparat sie für besonders relevant hielt, und die daher erhalten geblieben sind. So finden sich darin eindeutig österreichfeindliche Erklärungen, Vorsätze, das Angebot Italiens anzunehmen, Hinweise auf Personen, die diese Entscheidung bereits gefasst oder abgelehnt hatten, positive oder negative Gedanken zum „Frontwechsel“ oder im Familienkreis abgegebene Kommentare zum Thema. Diese Ausschnitte stellen zweifelsohne eine begrenzte und einseitige Quelle dar. Begrenzt, weil sie nur ein Puzzleteil in der umfangreichen Korrespondenz der italienischsprachigen Gefangenen sind – einige hundert Ausschnitte aus einer nicht genauer definierbaren Anzahl von Nachrichten. Einseitig, weil sie mit einem konkreten Interesse ausgewählt wurden, nämlich Schul168 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4553, 1917, Kt. 3749, ff. 87 (30.4.1917) und 47 (4.4.1917). Die Ausschnitte aus den im Original auf Italienisch verfassten Briefen sind hier und im Folgenden immer in der deutschen Übersetzung der Zensurabteilung wiedergegeben.

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dige zu suchen und zu finden (weshalb sich die Verfasser der Briefe und Karten hier häufiger von Österreich distanzieren und weniger ihre Loyalität bekunden), aber vor allem, weil die wesentlich zahlreicheren Briefe ohne nationalpolitische Bezugnahmen absolut nicht berücksichtigt sind. Hier wurden vor allem die kompromittierendsten Passagen gesammelt, Beispiele für eine grundsätzliche Gleichgültigkeit gegenüber der Nationenfrage fehlen völlig. Es wäre abwegig, diese Ausschnitte als repräsentativ für die gesamte Gefangenenkorrespondenz zu betrachten, denn damit würde den Themen Loyalität und Verrat unter allen in den Briefen der Gefangenen und ihrer Angehörigen behandelten Themen eine zentrale Bedeutung eingeräumt – diese ist jedoch nicht gegeben169. Doch gerade wegen ihres einseitigen und selektiven Charakters sind diese Ausschnitte für die Forschung sehr nützlich. Sie können zwar die komplexe Welt der Kriegserfahrungen, welche die Soldaten gemacht haben, nicht wiedergeben, zeigen jedoch, wie diese auf das italienische Angebot und die gegensätzliche Propaganda in den Lagern reagierten. Aufgrund der Gründlichkeit, mit der die österreichischen Behörden jede ihrer Ansicht nach relevante Passage auswählten, kann man sicher sein, dass die Quelle für ihre Zwecke repräsentativ war und dies daher auch für die vorliegenden Zwecke ist. Außerdem stellen die von der österreichischen Zensur ausgewählten Ausschnitte nicht irgendeine Quelle dar, sondern die Quelle schlechthin: Auf ihrer Grundlage bildeten sich die Behörden ein Gesamturteil über das Verhalten der italienischen Gefangenen, ihren Loyalitätsgrad und die Beweggründe für ihre Entscheidung. Durch den Vergleich der Soldatenkorrespondenz mit den zusammenfassenden Berichten der Zensur kann festgestellt werden, wie angemessen und stichhaltig letztere waren. Doch was schrieben diese Italiener über die den Gefangenen gebotene Möglichkeit, aus der Gefangenschaft freizukommen und die lange Reise nach Italien anzutreten? Zunächst versuchten sie für gewöhnlich, ein so kompromittierendes Thema hinter scheinbar harmlosen Zeilen zu verbergen. Es war ihnen bewusst, dass die Korrespondenz genau kontrolliert wurde, weshalb sie es vermieden, auch nur den Namen des gegnerischen Landes zu nennen, wenn sie über ihre eigenen Absichten oder jene von Freunden und Verwandten berichteten, die schon nach Italien aufgebrochen waren oder dies vorhatten. Sie wichen daher auf unbedarfte und erheiternde Formulierungen aus, die ihrer Meinung nach zur Irreführung der Zensur genügen sollten. So wurde das verbotene Bestimmungsland folgendermaßen umschrieben: „wo unser schöner Fluß mündet“, „wo das Klima besser ist“, „dort unten …“, „unter einer helleren Sonne“, „ in wärmere und schönere Gegen-

169 Siehe dazu Rasera, Zadra, Patrie lontane.



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den“, „um den grünen Salat zu essen“, „mit den magnasivole [Zwiebelfressern]“, „mit denen, die Polenta essen“, „den Onkel Biricchino besuchen“170. Was die Aussicht auf die Verbringung nach Italien und das Urteil über alle jene anbelangt, die sich dafür entschieden hatten, war im Schriftverkehr der Gefangenen das gesamte Spektrum möglicher Standpunkte anzutreffen. Auf der einen Seite stand die offen bekundete italienische Gesinnung jener, die aus tiefstem Hass auf Österreich und alles Deutsche bzw. Deutsch-Österreichische auf die andere Seite gewechselt waren („Wir gehen zusammen, vereint, voll italienischer Gesinnung, um das Benehmen der Barbaren zu rächen“)171. Doch nur eine geringe Minderheit hatte ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu Italien entwickelt – vielleicht durch die Erfahrung in Kirsanow, das bald zu einem patriotischen Erziehungslager geworden war. Viel häufiger war die Entscheidung oder das Urteil darüber allerdings durch Erwägungen motiviert, die nur wenig mit der Frage der nationalen Zugehörigkeit zu tun hatten: „[…] es wird für ihn besser sein. Besser am Leben als tot, ungeachtet der Unehre“ – so die Schwester eines Gefangenen über einen Bekannten, der nach Italien aufbrach. Der Aspekt der Uniformtreue war ihr also nicht gleichgültig, doch war sie überzeugt, dass das Recht, das eigene Leben zu retten, an erster Stelle zu stehen hatte172. „Ich werde schwerlich noch einen Winter in Rußland bleiben. Auch ich werde wahrscheinlich nach Italien, unserm Vaterland, abreisen, da ich sehr müde bin, in Rußland zu bleiben. Die Kälte ist im Winter zu streng“, schlägt ein Gefangener in Kirsanow in dieselbe Kerbe und offenbart dabei den wahren Grund für seine Entscheidung, wobei er ihn hinter einer Bezugnahme auf die Heimat verbirgt173. Die wichtigsten Beweggründe für die Flucht sind die untragbaren Lebensumstände und vor allem die unerträgliche Kälte. Doch diese Entscheidung war selten einfach. Oft wird deutlich, wie extrem schwer sie den Betroffenen fiel, und dass diese versuchten, die Folgen vorauszusehen oder ihre Unentschlossenheit zu überwinden, indem sie den Rat ihrer Angehörigen und Freunde einholten. So schrieb etwa ein Gefangener aus Omsk, der es möglicherweise bereute, nicht mit den anderen aufgebrochen zu sein: „Ach, wenn ich nur wüßte! … Wieviele Gedanken quälen mich. […] O, wenn ich doch in die Zukunft blicken könnte! …“174 Ein anderer bat seinen Bruder um Rat, wie er weiter vorgehen sollte, ein dritter schließlich gestand seinem Vater, an nichts 170 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4553, 1917, Kt. 3749, ff. 278 (29.7.1917), 284 (26.7.1917), 324 (25.7.1917), 342 (3.10.1917), 319 (12.10.1917), 363 (21.8.1917), 343 (1.8.1917), 192f. (15.4.1917), 379 (10.9.1917). 171 Ebd., f. 319 (10.10.1917). 172 Ebd., f. 285 (22.10.1917). 173 Ebd., f. 221 (2.6.1917). 174 Ebd., ff. 62f. (1.1917).

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anderes zu denken als an die mögliche Abreise175. Viele äußerten sich besorgt über die Folgen, die ihre Entscheidung für ihre Angehörigen haben würde („Ich erfahre eben, was die Familien derjenigen, die nach Italien abreisten, zu leiden haben …“)176. Doch öfter waren es die Familien, die überstürzte Entscheidungen des jeweiligen Verwandten durch entschiedene Worte zu verhindern versuchten. In erster Linie warnten die Ehefrauen ihre Männer und forderten sie auf, zu bleiben, wo sie waren. Eine Frau aus dem Trentino fragte ihren in Kirsanow gefangenen Mann, ob er denn erfahren habe, was geschehen war, nachdem ein Verwandter oder Bekannter nach Italien aufgebrochen sei; seiner Familie war alles genommen worden: „Laß dich nicht betören […] denn das wäre dein und unser Ruin“177. Eine Frau aus Triest dagegen schüchterte ihren in Omsk gefangenen Mann stark ein, indem sie die Entscheidung des Bruders kritisierte: „Geh ja nicht hin, wo Bruno ist, sonst hab ich kein Geld mehr. Sei vorsichtig, da ich vier Kinder zu ernähren habe“178. Die Beschlagnahmung des Vermögens, die sogar ohne Prozess umgesetzt werden konnte179, die sofortige Einstellung jeder finanziellen Unterstützung für die Angehörigen der Soldaten und weitere Arten von Repressalien stellten eine effiziente Abschreckung vor Versuchungen antinationaler Natur dar. In der Presse wurde oft daran erinnert, dass „die herzlichste Aufnahme des Deserteurs in Italien kann nie das Unheil, in das seine Familie fällt, die aller Rechte beraubt wird sowie das drohende Todesurteil wegen Verrats und die ewigen Trennung von der Heimaterde aufwiegen“180. Viel öfter war die Entscheidung für die eine oder andere Seite letztlich das Ergebnis einer handfesten Konfrontation mit den Angehörigen und wurde nach sorgfältiger Abwägung der Folgen für alle Familienmitglieder (nicht nur für den Gefangenen) gemeinsam getroffen. Die Widerstands- und Reaktionsfähigkeit der durch den Krieg stark belasteten Familienkreise ist beeindruckend. Angehörige, die über tausende Kilometer verstreut waren, sich entweder in russischen Gefangenenlagern, ihren Herkunftsländern oder in Evakuierungs- und Internierungsstätten in Österreich-Ungarn und Italien befanden, trafen gemeinsame Entscheidungen und beeinflussten sich gegenseitig. Obwohl etwas instabil geworden, war das soziale Gefüge nach wie vor vorhanden und passte sich unmittelbar den Kriegseinflüssen an. Manchmal ist jedoch im Ton eine spürbare Spannung zwischen den Fronten zu erkennen, welche beide ihre eigenen und 175 Ebd., ff. 69 (28.12.1916), 102f. (8.1.1917). 176 Ebd., ff. 56f. (6.2.1917). 177 Ebd., f. 27 (23.2.1917). 178 Ebd., f. 86 (22.3.1917). 179 Pedron, In nome di Sua Maestà 27. 180 Mitteilung der österreichischen Pressagentur, veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3.9.1916.



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schwer miteinander vereinbaren Ansprüche hatten. Ein Mann schrieb aus dem Trentino im Namen der Familie an den im Lager Lichaja in der Ostukraine gefangenen Bruder, dass sie seine letzten drei Postkarten erhalten und verstanden hätten, welch furchtbares Leben er dort führen müsse. Der Schluss fällt allerdings relativ deutlich und wahrscheinlich enttäuschend für den Gefangenen aus: „Aber bleibe trotzdem, wo du bist, und geh nicht, wohin Celeste gegangen ist“181. Zu den zahlreichen Warnungen hinsichtlich „unternommener unrechter Schritte“182 kamen auch gegenteilige Appelle, in denen den Gefangenen geraten wurde, den großen Schritt zu tun, oder ihnen sogar vorgeworfen wurde, diesen im Gegensatz zu Anderen noch nicht getan zu haben („Hättest auch du, wie sie, gehandelt, dann wären wir beisammen)183. Auch von wo jeweils geschrieben wurde, stellt einen wichtigen Hinweis dar, um zu verstehen, warum die Familien so gegensätzliche reagierten. Diejenigen, die die Gefangenen inständig baten, in Russland zu bleiben, lebten entweder in Städten und Orten, die nach wie vor unter österreichischer Kontrolle standen, oder waren in andere Regionen der Donaumonarchie evakuiert worden. Ihr Schicksal lag in den Händen der habsburgischen Behörden, und sie wussten, dass sie deren Repressalien als Erstes zum Opfer fallen würden. Zur Abreise aufgefordert wurden die Gefangenen dagegen von Verwandten, die sich nicht mehr unter österreichischer Herrschaft befanden, ob freiwillig oder nicht. Einige schrieben aus Städten des Königreiches Italien, weil sie aus unter italienischer Kontrolle stehenden Kriegsgebieten geflüchtet waren oder evakuiert worden waren, oder sie lebten weiter in ihren Heimatorten, die jedoch bereits vom italienischen Heer besetzt waren. Sie fürchteten keine österreichische Rache mehr, obwohl sie nicht wissen konnten, wie der Krieg letztlich ausgehen würde184. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Entscheidung für Österreich oder Italien nur wenig mit dem von den Verwaltungen der beiden Kriegsgegner so genau unter die Lupe genommenen Nationalgefühl zu tun hatte. Dennoch stellten sich einige Familien auch deutlich auf die Seite Österreich-Ungarns, was ihren Gehorsam und ihre Identifikation mit ihrem Staat und weniger die Angst vor den Folgen eines etwaigen Verrates offenbarte185. Sie beteuerten etwa, dass sie „den Eid nicht brechen wollen“ und dort sterben wollten, 181 182 183 184

ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4553, 1917, Kt. 3749, f. 55 (10.3.1917). Ebd., f. 61 (25.3.1917). Ebd., ff. 197f. (17.1.1917). Siehe ebd., ff. 196–198 mit Ausschnitten aus zwischen Dezember 1916 und Mitte 1917 verfassten Briefen aus der Toskana, aus Mailand und anderen italienischen Orten, aber auch aus Görz (im August 1916 vom italienischen Heer eingenommen) und Aiello del Friuli (in den ersten Kriegstagen von den Italienern besetzt). 185 Ebd., ff. 192 (4.3.1917), 216 (1.2.1917), 140 (30.3.1917), 83 (19.12.1916).

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wo sie geboren waren, also „unter der schwarz-gelben Fahne“ der österreichischen Hälfte der Monarchie – wer zu Italien ging, wurde von ihnen als „schändlicher Verräter“ oder „verlorene Leute“ tituliert. Die Distanz zu den Reichsitalienern wurde in den beleidigenden Spitznamen dialektalen Ursprungs deutlich, mit denen diese bisweilen bezeichnet wurden (balsabini, paparele, zigholeri)186. In anderen Fällen trat eine alte Verachtung für Italien zutage. Ein Mann aus Saone im Trentino riet einem Freund, zu bleiben, wo er war, also Gefangener in Russland, und ja nicht daran zu denken, es einigen Bekannten gleichzutun, die in jenes Land aufgebrochen waren, „das wir scherzend das ‚lausige‘ nannten“187. Dem von den Irredentisten hochgelobten Italien stand ein völlig gegensätzliches Italienbild gegenüber, das stark im Bewusstsein der meisten österreichischen Italiener verankert war. Diese waren täglich den Vorurteilen der Deutschösterreicher ausgesetzt und versuchten, diese Tatsache an anderen auszulassen, nämlich an den Reichsitalienern. Vor allem im Trentino wurden diese Reichsitaliener mit der Schar von auswandernden Arbeitern und Arbeitern aus dem Süden gleichgesetzt, die aufgrund ihrer bitteren Armut sehr geringe Löhne akzeptierten188. Das war also das Italienbild der Deutschösterreicher, angesichts dessen sie eine eigene, gegensätzliche Identität entwickelten, nämlich jene der „anderen“ Italiener. Insgesamt sind allerdings im abgefangenen Schriftverkehr die über die Entscheidung für Italien empörten Stimmen zahlenmäßig kaum relevant und viel weniger häufig als jene, die das Überlaufen zu Italien nicht aufgrund ihrer Ideale, sondern aufgrund der belastenden Folgen für die Familie kritisierten. Aus der Überprüfung der abgefangenen Korrespondenz ergibt sich das Bild einer Masse von Soldaten, die unter extremen Entbehrungen gleichsam zwei Fronten gebildet hatte, was jedoch nur teilweise auf die Frage der nationalen Identität zurückzuführen war: Österreichtreue auf der einen und zu Italien Übergelaufene auf der anderen Seite. In den meisten Fällen war die Entscheidung nicht auf ideelle Gründe, sondern auf wesentlich konkretere Überlegungen zurückzuführen, in denen das Überleben der Soldaten und ihrer Familien berücksichtigt werden musste. Man brach weniger aus Liebe zu Italien dorthin auf, sondern weil man die unerträglichen Umstände nicht mehr aushielt, dem Krieg entkommen wollte, die Möglichkeit sah, auf diese Weise seine Lieben wieder in die Arme schließen und unbeschadet davonkommen zu können, oder weil man aufgrund der Schikanen der deutsch-österreichischen Offiziere einen tiefen Hass auf Österreich 186 Ebd., ff. 101 (18.3.1917), 125f. (25.1.1917), 188 (30.4.1917), 208 (27.5.1917). 187 Ebd., f. 227 (1.7.1917). 188 Diego Leoni, Camillo Zadra, Classi popolari e questione nazionale al tempo della prima guerra mondiale: spunti di ricerca nell’area trentina, in: Materiali di lavoro, nuova serie 1/1 (1983) 5–26, hier 21.



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entwickelt hatte. Und man blieb weniger aus Verbundenheit zu Österreich, sondern aus Angst vor Repressalien gegenüber den Angehörigen, wegen der Gefahr, sein Hab und Gut durch Enteignung zu verlieren, aus jenem Pflichtbewusstsein heraus, das einst dazu geführt hatte, dass sie – wenn auch ohne Begeisterung – an die Front aufgebrochen waren. Wie wurden derartige Äußerungen nun von den österreichischen Behörden interpretiert? Auch in diesem Fall fiel die Auslegung nicht eindeutig aus, doch es setzte sich abermals eine repressive Linie durch. In zwei intelligenten und ausgewogenen Berichten aus dem Zeitraum zwischen Juni und Juli 1917 analysierte Konsul von Stiassny von der Zensurabteilung in Wien den Umgang mit den italienischen Gefangenen in Russland ausführlich. Im ersten Bericht kritisierte er in seiner Vorbemerkung die Haltung gegenüber der gesamten italienischen Minderheit, die sich nach dem Treubruch Italiens in ganz Österreich-Ungarn durchgesetzt hatte. Es herrschte ein Klima des allgemeinen Misstrauens den Italienern gegenüber, das seiner Meinung nach besonders angesichts des nahenden Kriegsendes sehr zu überdenken wäre. Das „italienische Problem“ könne nicht ewig als eine Frage der öffentlichen Ordnung betrachtet werden. Der Krieg würde zu Ende gehen, die Italiener würden Teil der Monarchie bleiben, man könne ihnen aber nicht weiter das Gefühl geben, dass der Staat gegen sie sei, wenn sie sich Österreich zugehörig fühlen sollten. Von Stiassny erklärte deutlich seine Intention, „den Italienern, unbekümmert um das gegen sie herrschende allgemeine Vorurteil, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“189. Eine Vision mit Weitblick, die den Italienern nach dem Krieg eine gebührende Rolle zugestehen wollte und ganz klar die kontraproduktiven Auswirkungen einer Politik erkannte, die auf Verdächtigungen und nationalem Eifer beruhte. Was die Entscheidung der Kirsanower betraf, stimmte der Autor nicht mit der vorherrschenden Meinung überein, „dass die von Russland nach Italien transportierten österr.-ung. Kriegsgefangenen italienischer Nationalität durchweg als Irredentisten und Hochverräter zu qualifizieren seien“. Es handelte sich größtenteils um „ganz einfache, ungebildete Leute […], auf die all diese Momente leicht einwirken können“, denen erzählt worden war, dass Italien alle „unerlösten“ Gebiete eingenommen hatte, die nur ihre Familie wiedersehen wollten und die in einigen Fällen glaubten, an Gefangenenaustauschen teilnehmen zu können. Im zweiten Bericht rekonstruierte von Stiassny im Detail die italienische Propaganda gegenüber den Gefangenen, welche die Intervention der diplomatischen Behörden, die Entsendung einer eigenen Militärmission und die Verteilung von Hilfsmitteln und Geld beinhaltet hatte. Als dies nicht ausreichte, um die Gefan189 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4658, 1917, Kt. 3751, Irredenta. Mai-Bericht des Konsuls von Stiassny, Wien, 1.6.1917.

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genen zu überzeugen, begannen die russischen Behörden jene, die zögerten, unter Druck zu setzen und zu misshandeln. Es handelte sich also um eine mit Russland abgesprochene „planmäßige und zielbewusste Werbe- und Wühlarbeit“190. Verlockungen und Drohungen in einer extrem schwierigen Situation hatten viele Gefangene dazu bewogen, das Angebot anzunehmen, aber – so von Stiassnys Schlussfolgerung – ihre Entscheidung war in den meisten Fällen nicht durch irredentistisch oder österreichfeindlich geprägte Gründe motiviert. Schließlich bemerkte der Konsul, dass nicht wenige der von der Zensur überprüften Briefe der italienischen Gefangenen bewegende Patriotismusbekundungen enthielten. Zu einem völlig anderen Ergebnis kam der Leiter jener Abteilung, der auch von Stiassny angehörte, nach seiner eigenen Überprüfung – allem Anschein nach wollte er den Schlussfolgerungen des Konsuls widersprechen. Der Bericht des Abteilungsleiters begann mit der Feststellung, dass die Vereinbarung zwischen Italien und Russland keinen Zwangstransfer sämtlicher italienischsprachiger Soldaten vorsah, sondern nur derjenigen, die spontan zugestimmt hatten – somit war jeder, der sich zur Abreise entschlossen hatte, für ihn ein „Hochverräter“. Angesichts der zahlreichen Vermögensbeschlagnahmungen, die ausschließlich auf Grundlage der Korrespondenz durchgeführt wurden, wird klar, dass sich diese Linie durchsetzte. Von Stiassnys Pläne – den Italienischsprachigen gegenüber wesentlich wohlwollender und angesichts der herrschenden Kriegssituation vielleicht auch etwas naiv – sahen die Überwindung der repressiven Einstellung gegenüber dieser Minderheit vor, sie berücksichtigten, was später in Friedenszeiten geschehen sollte, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Reichszentrum und Peripherie unbedingt wiederhergestellt werden musste. Dafür mussten die zahlreichen Beispiele von Habsburgtreue, auf die man sowohl unter den Frontsoldaten als auch in der Zivilbevölkerung stieß, den entsprechenden Stellenwert erhalten. Andererseits entstand aber auch der Eindruck einer bereits belasteten Beziehung, die sich aufgrund des „Verrates“ tausender Gefangener in Russland noch weiter verschlechtern würde.

190 ÖStA, KA, AOK, GZNB, Zensurabt. Res 4703, 1917, Kt. 3752, Irredenta. Juni-Bericht des Konsuls von Stiassny, Wien, 3.7.1917.



Italiener werden

1. Aufnahme in Italien Über die Fahrt, auf der im Herbst 1916 über 4.000 Gefangene von Kirsanow nach Italien verbracht wurden, finden sich bei all jenen, die sie miterlebt haben, verständlicherweise die meisten Tagebucheinträge. Der Friauler Raimondo Castellan, der auf dem ersten der drei Konvois transportiert wurde, schildert die wichtigsten Momente und Etappen dieser langen Route sehr genau. Sechs Tage Zugfahrt über Tambow, Moskau und Wologda nach Archangeľsk, von dort zehn Tage Schifffahrt auf einem englischen Dampfer. Diese Etappe war geprägt von der Angst vor Minen an der finnischen Küste, Schnee, Kälte und einer „sehr schlimmen See“, die den Passagieren zu schaffen machte; Landung in Glasgow, dann eine weitere Zugfahrt nach Southampton; nächtliche Überquerung des Ärmelkanals mit ausgeschalteten Positionslichtern und Ankunft in Cherbourg in Frankreich, wo Castellan unmittelbar nach der Ausschiffung seinen alten österreichischen Mantel wegwerfen konnte; letzter Zugtransport in der zweiten Klasse, auf dem die Gefangenen Decken, Fleisch und Tabak erhielten; Fahrt durch Frankreich, wo die Soldaten in jedem Bahnhof Blumen, Wein, Kaffee und Postkarten geschenkt bekamen, am Vormittag des 9. Oktober 1916 dann schließlich Ankunft in Turin1. Der Empfang im dortigen Bahnhof war besonders feierlich. Die „irredentistischen Brüder aus dem fernen Russland“ wurden „mit höchster und bewegender Begeisterung“ begrüßt – es empfingen sie der Minister Ubaldo Comandini, der Präfekt, viele weitere Würdenträger des Staates und der Stadt Turin, aber auch Vertreter der Entente und vor allem Spaliere unzähliger Begeisterter, die sie durch die Straßen der Stadt zu ihren Unterkünften brachten2. „Das ist die Begrüßung eurer Heimat, die euch liebevoll aufnimmt“, verkündete der Minister, und mit seinen Worten wurde ein neues Kapitel im Leben dieser Männer aufgeschlagen. Mit ihrer Ankunft in Italien war ihr Gefangenenstatus offiziell zu Ende – während der Fahrt war er dagegen noch aufrecht gewesen, weshalb sie von einer bewaffneten Eskorte begleitet wurden. Vorgeschlagen hatte das der Kommandant der Militärmission, Achille Bassignano, um im Notfall die Militärdiszi1 2

Castellans Bericht findet sich in: Friulani in Russia e in Siberia 1914–1919, hrsg. von Camillo Medeot, Benno Pelican (Gorizia 1978) 72–76. L’entusiastica accoglienza di Torino ai fratelli irredenti, in: La Stampa 10.10.1916 3.

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plin der Kriegszeit in ihrer ganzen Härte zur Anwendung zu bringen3. Man wusste genau um die internationale Aufmerksamkeit, die dieser Operation zuteilwerden sollte, weshalb die ganze Fahrt über darauf geachtet wurde, dass die irredenti sich nicht vom Konvoi entfernten. Besonders in Großbritannien und Frankreichwurde in höchstem Grade auf Disziplin und Hygiene geachtet, um zu vermeiden, „dass es zu Vorfällen und Unannehmlichkeiten kommt, die unserem Land zur Unehre gereichen oder zumindest die politische Wirkung schmälern, die diese Repatriierung auch angesichts des Eindrucks, den die Alliierten von den Gefühlen der Bewohner der Irredenta bekommen sollen, auslösen muss“4. Es sollte das Bild disziplinierter Männer entstehen, die gegenüber den italienischen Behörden Gehorsam an den Tag legten und wieder mit dem Mutterland vereint werden wollten, sodass die moralische Legitimität der italienischen Gebietsansprüche gewährleistet war. Doch trotz dieser Bestrebungen konnten die 4.000 italienischen Soldaten auch nach ihrer Ankunft in Italien nicht weiter als Gefangene betrachtet werden. Im Juni 1916 forderte der Generaldirektor für politische Angelegenheiten im Außenministerium Sonnino auf, in dieser Frage klar Stellung zu beziehen, um die „bereits eingetretene Unannehmlichkeit“, dass diese Soldaten, weil sie weiter als Gefangene angesehen wurden, im Gefängnis landeten oder ihnen eine Verschickung nach Sardinien angedroht wurde, zu vermeiden5. Das bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine endgültige Entscheidung in dieser Angelegenheit getroffen worden war, und bestätigt, dass zuvor einige der früher aus Russland abgereisten Gefangenen in Italien ins Gefängnis gekommen waren. Letztlich wurde beschlossen, sie als Geflüchtete (fuoriusciti) zu betrachten, also als Italiener aus der Irredenta, die freiwillig nach Italien gekommen waren6. Damit unterstanden sie dem Innenministerium, das sie bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Beschäftigung unterstützte. Nur sehr wenige kehrten an die Front zurück, womit dem Rundschreiben des Oberkommandos vom 15. August 1916 Rechnung getragen wurde, das nach der Hinrichtung der Irredentisten Damiano Chiesa und später Cesare Battisti und Fabio Filzi den Abzug der aus der 3

ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21 Prigionieri irredenti in Russia, Notiz Bassignanos für das Außenministerium, 23.6.1916 und Sonnino an Innenministerium, Kriegsministerium und Oberkommando, 1.7.1916. 4 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42 Rilascio di prigionieri irredenti in Russia, Notiz von D’Adamo, 8.6.1916. 5 ASMAE, AG, b. 342, fasc. 72, sf. 21, Notiz des Generaldirektors an Sonnino, 27.6.1916. 6 Vgl. die Antwort von Kriegsminister Paolo Morrone auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Giovanni Antonio Colonna di Cesarò bezüglich der Behandlung der aus Russland gekommenen Gefangenen in: Camera dei Deputati, Atti parlamentari. Discussioni. Legislatura XXIV (Rom 1917), Sitzung vom 28.2.1917, 12257.



1. Aufnahme in Italien 

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Irredenta stammenden Freiwilligen aus den Einsatzgebieten besiegelte 7. Das Verbot wurde nicht zu streng ausgelegt, sodass einige der motiviertesten Freiwilligen trotzdem wieder kämpften; dasselbe gilt für eine begrenzte Anzahl von Gefangenen, die aus Russland zurückgekehrt waren. So etwa für Giuseppe Angelini aus dem Trentino, der in Galizien desertiert hatte. Er wurde im Herbst 1916 nach Italien gebracht, im Oktober 1917 ins italienische Heer eingezogen und im Juli 1918 zum Fronteinsatz bestimmt, bevor er am Ende des Krieges an Tuberkulose starb8. Die überwiegende Mehrheit zog jedoch nicht wieder in den Krieg, sondern wurde im Rahmen von Bauarbeiten eingesetzt oder, sofern dies möglich war, mit ihrer Familie zusammengeführt. Nachdem festgelegt worden war, dass die Männer nicht als Gefangene, sondern als Geflüchtete behandelt werden sollten, war noch zu klären, wieviel Freiheit man ihnen bei der Wahl ihres Wohnsitzes einräumen sollte. Das Innenministerium, das Ministerpräsident Salandra unterstand, hatte zuvor in den wenigen Fällen, in denen aus Russland kommende Gefangenen im Königreich Italien aufgenommen worden waren, darauf bestanden, dass sie einen Wohnsitz außerhalb des Kriegsgebietes wählten9. Auch hier wollte man die Linie nicht ändern und die Geflüchteten daher wie alle behandeln, die auf Anweisung der Militärbehörden aus dem Kriegsgebiet abgezogen und in Italien interniert wurden – sie benötigten eine „Sonderüberwachung“ durch die Behörden für öffentliche Sicherheit10. Es sei hier betont, dass das Kriegsgebiet nicht ausschließlich das Kampfgebiet (auch Operationsgebiet genannt) umfasste, sondern größer war – es reichte von den Provinzen Venetiens bis nach Mantua, Ferrara, Bologna, Ravenna und Forlì und umfasste nach der italienischen Niederlage von Caporetto praktisch ganz Norditalien sowie die Provinzen Reggio Calabria und Messina in Süditalien11. Ein sehr weit gefasster Bereich, zu dem natürlich auch die von Italien besetzten österreichischen Gebiete gehörten. Dorthin wollten viele der 7

Zu den aus der Irredenta stammenden Mitgliedern des italienischen Heeres siehe Daniele Ceschin, I volontari per l’Italia: giovani irredenti in guerra (1914–1918), in: Dalla trincea alla piazza. L’irruzione dei giovani nel Novecento, hrsg. von Marco De Nicolò (Rom 2011) 107–122; Volontari italiani nella Grande Guerra, hrsg. von Fabrizio Rasera, Camillo Zadra (Rovereto 2008); Patrizia Dogliani, Gilles Pécout, Alessio Quercioli, La scelta della Patria. Giovani volontari nella Grande Guerra (Rovereto 2006); Fabio Todero, Morire per la patria. I volontari del Litorale austriaco nella Grande Guerra, 1915–1918 (Udine 2005); Manzana, La vita al fronte; dies., Lettere di volontari trentini nell’esercito italiano (1915–1918) in: Venetica 1 (1986) 28–55. 8 Lia De Finis, Maria Garbari, Morire a vent’anni (Trient 1998) 88f. 9 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Sonnino an SGAC, 26.4.1916. 10 Ebd., Innenministerium an SGAC, 5.5.1916. 11 Nicola Labanca, Zona di guerra, in: Gli Italiani in guerra. Conflitti, identità, memorie dal Risorgimento ai nostri giorni, III/2, La Grande Guerra: dall’Intervento alla “vittoria mutilata”, hrsg. von Mario Isnenghi, Daniele Ceschin (Turin 2008) 606–619.

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ehemaligen Gefangenen allein oder mit der zuvor evakuierten Familie zurückkehren, um ihre vor dem Krieg ausgeübte Arbeit, meist landwirtschaftliche Aktivitäten, wiederaufzunehmen. Das Oberkommando versuchte, dem restriktiven Kurs des Innenministeriums gegenzusteuern, der die politischen Vorteile der gesamten Operation kompromittiert hätte. Für das Oberkommando war es sinnlos und kontraproduktiv, die Gefangenen, die der Freiheit für würdig befunden und daher repatriiert worden waren, wie Verdächtige zu behandeln. Sie waren Personen, die in den besetzten Gebieten einen positiven Einfluss ausüben konnten und daher sofort mit ihrer Familie zusammenzuführen waren, indem man sie in ihre Heimatorte zurückehren ließ, wenn diese schon von den italienischen Truppen „befreit“ worden waren12. Auch in diesem Zusammenhang bewies das Armeeoberkommando mehr Weitblick im Umgang mit der Gefangenenproblematik als die Regierung. Die Repatriierung sollte nicht nur auf internationaler Bühne genutzt werden, sondern auch innenpolitisch, um der Bevölkerung aus der unbefreiten Irredenta die Heimat näherzubringen. Schließlich gelangte man zu einer Kompromisslösung, die auch hier die Anwendung einer Entscheidung auf Einzelfallbasis vorsah, also die Möglichkeit für die ehemaligen Gefangenen, sich nach einer genauen Prüfung ihres Nationalgefühls in den befreiten (redenti) Orten niederzulassen13. Dieses Prinzip galt bereits für die anderen italienischsprachigen Soldaten aus Österreich, die vom italienischen Heer gefangengenommen worden waren, und für die Deserteure des gegnerischen Heeres, die sich Italien ausgeliefert hatten. Anfangs konnten diese beruhend auf einem Rundschreiben des Ausschusses für Kriegsgefangene im Kriegsministerium vom 8. September 1915 einen Antrag auf bedingte Freilassung stellen, hatten dann jedoch einen Wohnsitz weit außerhalb des Kriegsgebietes zu wählen. In einem späteren Rundschreiben vom 6. März 1916 war dieses Verbot jedoch gelockert worden – für Gefangene und Deserteure „mit tadelloser italienischer Gesinnung, die absolut keine Gefahr darstellen konnten“, war nun eine Verbringung in das Kriegsgebiet vorgesehen, wenn spezielle familiäre oder arbeitsbedingte Gründe vorlagen14. Die endgültige Entscheidung oblag jedoch dem jeweiligen Gebietskommando, das ihnen gegenüber oft voreingenommen und misstrauisch war – so etwa auch auf sehr deutliche Weise das Kommando der dritten Armee, das daran erinnerte, bei der Zustimmung zur Repatriierung der betroffenen Gefangenen äußerste Vorsicht walten zu lassen, „weil ihre Rückkehr ins Kriegsgebiet, wenn es auch nur das Etappengebiet ist, 12 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, D’Adamo an Außenministerium, 3.5.1916. 13 Ebd., Innenministerium an SGAC, 19.5.1916. 14 Die Unterlagen dazu befinden sich in: ACS, MG, CS, SGAC, b. 435, fasc. 105 Disertori austriaci. Rimpatrio. Prigionieri di guerra e internati civili. F.lo Gen.le.



1. Aufnahme in Italien 

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sehr schädlich sein kann, besonders im Falle von Kontakten mit leicht zu beeindruckenden Truppen, denn Gefangene und Deserteure aus den terre irredente mit wirklich tadelloser italienischer Gesinnung gibt es bekanntlich recht wenige, wenn nicht sogar sehr wenige“15. Die Gefangenen aus Russland befanden sich fast in einer ähnlichen Situation. Auch ihr Schicksal lag in den Händen der zuständigen Gebietskommandos, deren Urteil auf sehr unterschiedlichen Linien beruhte. Das Kommando der zweiten Armee an der Isonzofront wandte sehr strenge Kriterien an und wurde aus diesem Grund sogar vom Generalsekretariat für Zivilangelegenheiten um mehr Wohlwollen ersucht, denn dieses hatte festgestellt, dass fast sämtliche Repatriierungsanfragen im Ort Cormòns bei Görz abgelehnt worden waren. Gründe für diese Ablehnung waren entweder das zweifelhafte Verhalten der ehemaligen Gefangenen vor dem Krieg oder die Tatsache, dass sie Verwandte im gegnerischen Heer hatten. Zum ersten Grund bemerkte das Sekretariat, dass es sich um Männer handelte, die bereits im Vorfeld von der Militärmission in Russland ausgewählt worden waren, zum zweiten, dass Personen aus diesen Gebieten zwangsläufig Verwandte in den Streitkräften hatten. Schließlich verwies es auf den politischen Zweck des Transportes der Männer nach Italien: Man wollte sie „ihren Familien zurückgeben, um ihnen nicht nur moralische und materielle Unterstützung zu gewähren, sondern auch den Beweis dafür zu erbringen, dass der italienischen Regierung an ihnen liegt“16. Die Kritik des Sekretariats führte zu keiner Kursänderung im Verhalten des Kommandos, wie die Geschichte von Callisto Tirel zeigt. Dieser war nach seiner Rückkehr aus Russland in Turin wohnhaft gewesen und hatte im Februar 1917 darum ersucht, nach Cormòns zurückkehren zu dürfen. Das Militärkommando hatte jedoch unter Verweis auf die frühere Tätigkeit seines Vaters und seines Bruders im Verein Giovane Friuli, der den habsburgerfreundlichen katholischen Kreisen nahestand, abgelehnt. Im Mai desselben Jahres stellte er den Antrag ein zweites Mal, worauf sich sowohl der Emigrationsausschuss für Julisch Venetien als auch der Zivilkommissar für den Bezirk Gradisca für ihn einsetzten – diese bestätigten die Militanz seiner Angehörigen in Kirchenkreisen, die allerdings nie auf den Antragssteller zugetroffen hatte. Auch nach der Aufforderung des Sekretariats, seinen Standpunkt zu überdenken, bekräftige das Kommando der zweiten Armee jedoch seine absolute Ablehnung17. Auch nach der Ankunft der Gefangenen in Italien waren einzelne Vertreter der Institutionen weiterhin generell misstrauisch gegenüber den Soldaten, die für 15 Ebd., Kommando der dritten Armee an SGAC, 16.9.1917. 16 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, SGAC an Kommando der zweiten Armee, 8.2.1917. 17 ACS, MG, CS, SGAC, b. 435, fasc. 106 Fascicoli complessivi.

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den Feind gekämpft hatten. Nicht selten verhielt sich die Bevölkerung der Städte und Ortschaften, aus denen sie stammten, genauso. Die ehemaligen Russlandkämpfer machten dieselbe Erfahrung wie die ungefähr 30.000 Zivilisten, die in den vom Heer besetzten Gebieten gewohnt hatten und aus militärischen und politischen Gründen ins Königreich Italien evakuiert worden waren. Sie beklagten sich oft über eine gewisse Abneigung der lokalen Bevölkerung ihnen gegenüber, die ihnen Arbeitsunwilligkeit und Unredlichkeit vorwarf. Sie wurden um die ihnen gewährte finanzielle Unterstützung beneidet, für die immer größere Lebensmittelknappheit verantwortlich gemacht, und waren zudem Opfer eines undifferenzierten nationalpolitischen Vorurteils18. Man beschuldigte sie oft, „Spione“ und „Schmarotzer“ zu sein – ein Vorwurf, der manchmal auch den ehemaligen Gefangenen gemacht wurde. Dem irredentistischen Vereinswesen Julisch Venetiens wurde Kritik über die Behandlung der ehemaligen Gefangenen in Turin zugetragen: Nachdem diese von den Behörden zu „erlösten Söhnen des Mutterlandes“ erklärt worden seien, habe man sie unter dem Vorwurf, Verräter, Spione und Österreicher zu sein, „verfolgt, verleumdet und bedroht“19. Der dazu befragte Präfekt von Turin wies die Vorwürfe entschieden zurück, bestätigte jedoch das schwierige Verhältnis zur Bevölkerung und äußerste sich selbst negativ über die Männer. Er bestätigte also, dass die Bewohner der Stadt ihnen gegenüber relativ misstrauisch waren, weil sie befürchteten, dass sich „irgendein bösartiges Subjekt“ unter ihnen verberge. Er fügte zudem hinzu, dass viele eine Anstellung in Fabriken erhalten hatten, die keine Reservefabriken waren, ohne jedoch eine „übermäßige Arbeitswilligkeit“ an den Tag zu legen. Sie hatten sich oft als „lustlos“ erwiesen, einige von ihnen hatten die Forderung vorgebracht, nicht arbeiten gehen zu müssen und vom italienischen Staat erhalten zu werden. Die vom Wehrdienst befreiten ortsansässigen Arbeiter befürchteten, dass sie möglicherweise in der Fabrikarbeit durch die Neuankömmlinge ersetzt und daher selbst einberufen werden könnten. Gerüchteweise wurde ihnen auch Sabotage vorgeworfen20. Die Zurückweisung des Präfekten war also kurios, weil sie die Vorwürfe über die Behandlung und die Aufnahme der ehemaligen Gefangenen im Grunde genommen bestätigte. Wie der Präfekt von Turin erwähnt hatte, konnten die Rückkehrer aus Russland nur in Industriebetrieben arbeiten, die nicht in die Kriegsproduktion involviert waren. Aus dem Oberkommando waren nämlich zahlreiche Stimmen

18 Malni, La storia 283–288. 19 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Emigrationsausschuss für Julisch Venetien an Cavalier Galli vom SGAC, 9.12.1916. 20 Ebd., Präfekt von Turin an SGAC, 11.1.1917.



1. Aufnahme in Italien 

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laut geworden, die gegen ihren Einsatz in der militärischen Produktion waren21. Auch diese Beschränkung löste bei vielen Frust aus, der für die enthusiastischsten Anhänger der nationalen Sache noch stärker wurde, als sie die Enttäuschung hinnehmen mussten, der Heimat nicht an der Front dienen zu dürfen. Michele Candutti, der in den mazzinianischen Kreisen in Görz groß geworden war, tat seine Verbitterung in einem Brief kund, den er nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft im Dezember 1916 in Turin verfasste: Ich habe Italien immer geliebt, seit ich denken kann … nun weiß ich nicht … ich habe mich als Freiwilliger für den Frontdienst gemeldet: Sie wollen mich aber nicht … auch nicht in den Fabriken. Ich möchte gern etwas für dieses Italien tun, das uns zuerst vor Österreich gerettet hat und dann vor Typhus und Skorbut22.

Ähnlich empfanden es zwei Freunde aus Riva del Garda, Giuseppe Bresciani und Umberto Artel, beide aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt und schon lange vor Kriegsausbruch treue Irredentisten. Brescianis Ernüchterung war darauf zurückzuführen, dass er seinen voller Überzeugung in Russland gefassten Vorsatz, unter italienischer Fahne an der Front zu kämpfen, „[sich] im Kampfesfeuer zu läutern“ und seiner Wahlheimat „in der so lange herbeigesehnten Stunde der […] Befreiung“ zu dienen, nicht verwirklichen konnte. Artel schlug in dieselbe Kerbe und war der Ansicht, das Einrückungsverbot gehe Hand in Hand mit der Tatsache, dass die ehemaligen Gefangenen keine Anstellung „in den Reservewerken“ bekommen konnten. Seine Schlussfolgerung fiel deutlich aus: „Sie wollen uns, wie auch zahlreiche Österreichfreundliche, um keinen Preis“23. Es handelt sich um übertriebene Vorwürfe, Ergebnis der Überempfindlichkeit der vom nationalen Gesichtspunkt aus politisierteren Minderheit sowie der im Vorfeld gewachsenen Idealisierung Italiens. Diese Behauptungen sind jedoch bezeichnend für das – übertriebene – Empfinden all jener, die aus Russland davongekommen waren: Ihrer Ansicht nach verhielten sich Institutionen und Bevölkerung ihnen gegenüber distanziert, kühl und misstrauisch, was dem propagierten Bild vom liebenden Mutterland, das seine Kinder aufnahm, diametral entgegengesetzt war. Die Integration der neuen Bürger stand erst ganz am Anfang und erwies sich sofort als kompliziert.

21 Ebd., vorbereitende Korrespondenz für den Brief von Porro an Boselli, 8.10.1916. 22 Der Bericht findet sich in: Medeot, Pelicani, Friulani 183. 23 Die Zitate stammen aus: Bresciani, Una generazione di confine 99, 101.

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2. Flucht nach Fernost Nach der Abreise der 4.000 irredenti im Herbst 1916 blieb das Lager Kirsanow weiterhin „eine Oase italienischer Gesinnung mitten in Russland, ersehntes Ziel unserer Landsmänner, die im so großen Reich zerstreut sind, Flamme der Hoffnung und erste Etappe zur Erlösung“, wie es Oberleutnant Gaetano Bazzani von der italienischen Militärmission beschrieb24. Das Lager diente weiterhin als Sammelstätte für alte und neue Gefangene aus verschiedenen Frontsektoren und sämtlichen Regionen Russlands. Im März teilte Botschafter Carlotti aus Petrograd mit, dass allein im Februar 857 Repatriierungsanträge italienischsprachiger Gefangener in der Militärmission eingegangen waren, während man jeden Tag von der Existenz neuer Gruppen erfuhr. Man nehme sich immer wieder vor, diese zu kontaktieren, um sich ein Bild über ihre Absichten und ihre Gesinnung zu machen, so Carlotti weiter25. In Kirsanow stiegen die Gefangenenzahlen wieder, sodass Anfang 1917 Major Cosmo Manera mit der Neuorganisation der Lagerverwaltung betraut wurde, während zwei weitere Offiziere, Icilio Baccich und Gaetano Bazzani, nach weiteren Italienern in Westrussland suchen sollten. So war die Militärmission weiterhin operativ, obwohl sie einschließlich ihres Leiters, Oberst Bassignano, nur aus vier Männern bestand26. Manera stellte die patriotischen Aktivitäten, die vor Beginn der Gefangenenrücktransporte das Lagerleben bestimmt hatten, erneut in den Mittelpunkt – Darbietung patriotischer Gesänge, festlich begangene Nationalfeierlichkeiten, Herausgabe einer neuen Propagandazeitung. Dazu kam eine neue militärische Einstufung, im Rahmen derer Kompanien aus 200 Mann geschaffen und täglich Übungen durchgeführt wurden27. Auf diese Weise sollte die Moral der Männer, die nun schon seit Jahren auf ihre Befreiung hofften, so lange aufrechterhalten werden, bis der Sommer und die Eisschmelze wieder neue Rücktransporte aus Archangeľsk ermöglichen würden, für deren Organisation genügend Zeit zur Verfügung stand. Es sollte jedoch anders kommen, und nur einige wenige Männer sollten jenen 4.000 nachfolgen, die im Jahr zuvor aufgebrochen waren. Dass man sich für eine Beendigung der Transfers entschied, war zweifelsohne auch der komplizierten innenpolitischen Lage in Russland geschuldet. Die Februarrevolution, im Zuge derer der Zar gestürzt wurde, der Beginn eines intensiv bekämpften demokratischen Experimentes sowie die Machtaufteilung zwischen Regierung und Sowjets, 24 Bazzani, Soldati italiani 111. 25 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Carlotti an Generalstab, 9.3.1917. 26 ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47 Prigionieri irredenti in Russia, Kriegsminister an Außenministerium, 15.1.1917. 27 Bazzani, Soldati italiani 119–121; Antonelli, I dimenticati 211f.



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die alles zum Erliegen brachte, verkomplizierten die Situation für die Militärmission, welche mit schwachen und unsicheren Gesprächspartnern der Institutionen zu tun hatte28. Bazzani, Hauptakteur und „Historiker“ der Militärmission, führte das Scheitern der neuen Transportpläne ausschließlich auf die schwierige politische Situation in Russland zurück – seine Rekonstruktion der damaligen Geschehnisse wurde von der Memoiren- und Geschichtsschreibung unzählige Male wieder aufgegriffen29. Eigentlich spielten jedoch auch in dieser Angelegenheit die internen Divergenzen unter den italienischen Regierungsmitgliedern, das Fehlen einer eindeutigen und entschiedenen Positionierung zugunsten einer raschen und allgemeinen Repatriierung sowie das daraus resultierende mangelnde Engagement bei der Organisation des Rücktransports eine gewisse Rolle. Im Juni 1917 wies der stellvertretende Stabschef Porro den italienischen Ministerpräsidenten Boselli darauf hin, dass die Jahreszeit für die Rücktransporte aus Russland näher rücke. Er nutzte die Gelegenheit und zählte sämtliche Vorteile auf, die sich für Italien durch die Gefangenenrückführungen ergeben hatten: Vor allem sei in den besetzten Gebieten „ein greifbares und eindeutiges Zeichen für die liebevolle Fürsorge, welche die italienische Regierung der Bevölkerung der befreiten Gebiete zuteilwerden lässt, womit auch in den weniger gebildeten Bevölkerungsschichten das Gefühl nationaler Solidarität gestärkt wird, gegen das die Bemühungen der italienfeindlichen Propaganda früher gerichtet waren“, gesetzt worden30. Die neue Phase sollte sich durch die Repatriierung aller Italiener auszeichnen, unabhängig von ihrer politischen Vorgeschichte und sogar von ihren persönlichen Wünschen. Diese Linie, gegen die Sonnino bereits in der Vergangenheit protestiert hatte, hatte sich dennoch im Zuge der Transporte Ende 1916 zumindest zum Teil durchgesetzt. Die Missbilligung des Außenministers schlug sich in seiner Stellungnahme nieder, in der er sich gegen die Erhöhung der Offizierszahlen der Militärmission aussprach, die vom Kriegsministerium im Sinne einer effizienteren Durchführung der Operationen gefordert worden war, außerdem in seinem Vorschlag, die Transporte zu verschieben und die Bassignano-Mission nach Italien zurückzurufen31. Diese Rückrufung war eine Forderung, die Sonnino lieber nicht schriftlich 28 Zur Februarrevolution, der bolschewistischen Oktoberrevolution und die Geschichte des Bürgerkrieges siehe Edward Hallett Carr, Die Russische Revolution. Lenin und Stalin 1917–1929 (Stuttgart 1980); Anthony Wood, The Russian Revolution (London 22014); Andrea Graziosi, L’Urss di Lenin e Stalin. Storia dell’Unione Sovietica 1914–1945 (Bologna 2007); Marcello Flores, 1917. La Rivoluzione (Turin 2007). 29 Zuletzt in: Simone Attilio Bellezza, Tornare in Italia. Come i prigionieri trentini in Russia divennero italiani (1914–1920) (Bologna 2016) 117; Bazzani, Soldati italiani 131–148. 30 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Porro an Ministerpräsidenten, 4.6.1917. 31 ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47, Sonnino an Kriegsministerium, 14.5.1917 und Bericht an den

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vorbringen wollte, sodass er sie dem Kriegsministerium nur mündlich präsentierte. Als Gründe nannte er organisatorische Schwierigkeiten und Transportrisiken (wie schon 1916), aber auch die „Folgen, die zugunsten der Befreiung der slawischen Gefangenen ausfallen, welche sich in unserer Hand befinden“. Mit anderen Worten befürchtete der Minister, dass die italienische Regierung bei neuen Gefangenentransporten nach Italien die Freilassung der von der serbischen Regierung beanspruchten slawischsprachigen Gefangenen aus Österreich nicht ablehnen könne, gegen die Sonnino voll und ganz war. Im Jänner 1917 hatte er Cadornas und Porros Vorschlag einer Aufstockung der wenigen Mitglieder des mit Italien verbündeten serbischen Heeres durch Gefangene in alliierter Hand vehement abgelehnt32. Die Russen beschwerten sich offiziell über die italienische Haltung, die nur schrittweise erfolgende Freilassung der slawischen Gefangenen und das Verbot, ihnen gegenüber aktiv Propaganda zu betreiben und sie so dazu zu bewegen, gegen Österreich zu kämpfen. Doch Sonnino stellte sich dem Drängen der Russen entgegen – er lehnte die Zulassung einer serbischen Rekrutierungskommission in den italienischen Gefangenenlagern ab und erkannte die serbische Regierung nicht als Vertreter der jugoslawischen Elemente an33. Sonnino hatte sich im Sommer des Vorjahres genauso geweigert und dies damit begründet, man könne von Italien nicht die Befreiung von Menschen fordern, „die nicht nur mit Waffen gegen uns gekämpft haben, sondern auch in Zukunft mit allen erdenklichen Mitteln gegen uns weiterkämpfen werden“34. Abermals spielten die Rivalität mit Serbien und die mögliche Zuspitzung der bilateralen Spannungen nach dem Krieg in die Problematik der „unerlösten“ Gefangenen in Russland hinein und wirkten sich negativ auf die Bemühungen um deren Befreiung aus. Zur Problematik der Beziehungen zwischen Italien und Serbien kam noch Sonninos Misstrauen gegenüber einer Militärmission, die sich seiner direkten Kontrolle entzog und in der Vergangenheit zu sehr auf einer Linie mit dem Oberkommando gewesen war, das für eine allgemeine Repatriierung eintrat. Der Ausgang der Angelegenheit scheint mehr auf mangelnde Vorbereitung sowie unzureichende und verspätete Bemühungen und weniger auf die schwierige politische Situation in Russland zurückzuführen zu sein. Zweifelsohne Minister, 11.4.1917. 32 DDI, V serie, vol. VII, n. 25, Porro an Sonnino, 4.1.1917 und n. 34, Sonnino an Cadorna, 5.1.1917. Zu den von Russland unterstützten Forderungen Serbiens, die Gefangenen in italienischer Hand freizulassen, siehe auch den Bericht des Kabinettschefs von Außenminister Sonnino in: Luigi Aldrovandi Marescotti, Der Krieg der Diplomaten. Erinnerungen und Tagebuchauszüge (1914–1919) (München 1940) 114. 33 Giorgio Petracchi, Diplomazia di guerra e rivoluzione. Italia e Russia dall’ottobre 1916 al maggio 1917 (Bologna 1974) 71f. 34 DDI, V serie, vol. VI, n. 65, Sonnino an Carlotti, 4.7.1916.



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trug das dortige politische und militärische Chaos sehr dazu bei, dass sich das Sammeln der Gefangenen für die Militärmission schwierig gestaltete, doch eigentlich war die unzureichende Unterstützung der italienischen Regierung bei der Suche nach den benötigten Schiffen ausschlaggebend. Die Militärmission sammelte immer mehr Männer und schien absolut in der Lage zu sein, die Zugfahrt zum Hafen zu organisieren. Das Unterfangen scheiterte ausschließlich daran, dass kein Dampfer für die Fahrt nach England zur Verfügung stand35. Aus den zahlreichen Telegrammen, die Bassignano ab dem Frühjahr 1917 nach Rom schickte, geht hervor, dass die Arbeit der Militärmission trotz der Schwierigkeiten zügig voranging. Immer mehr Gefangene stellten aus 60 verschiedenen Gouvernements einen Antrag auf Repatriierung und wurden trotz des Widerstandes ihrer Arbeitgeber, die sie nicht entbehren wollten, von den drei zuständigen Offizieren in Zusammenarbeit mit den russischen Militärbehörden regelmäßig nach Kirsanow verbracht. Bassignano wollte die Zusammenführung der Gefangenen im August zu Ende bringen und sie Ende des Monats abreisen lassen36. Er bat jedoch vergeblich um Nachrichten bezüglich des Dampfers, denn mit diesem hatte sich das italienische Außenministerium erst sehr spät befasst, sodass die Anfrage an Großbritannien, einen solchen zur Verfügung zu stellen, vergeblich war. Bei 3.000 Repatriierungsanträgen und 1.900 Männern, die bereits in Kirsanow zusammengeführt worden waren, warnte Bassignano am 1. September, dass es nach all den Versprechungen und aufgrund der Lebensbedingungen für die Gefangenen „in jeder Hinsicht verheerend [wäre], den hier und in Italien so sehnsüchtig erwarteten Transport nicht durchzuführen“37. Doch Großbritannien und Frankreich hatten keine Schiffe, die sofort zur Verfügung gestanden hätten, und Bassignanos Forderung nach italienischen Dampfern war für das Kriegs- wie das Außenministerium absolut unvereinbar mit der „Situation und den aktuellen dringenden Bedürfnissen unserer Schifffahrt“38.

35 Siehe dazu Biagini, In Russia tra guerra e rivoluzione 121–124. Der Autor schildert die gesamte Begebenheit, und es werden offizielle Berichte von Manera wortgetreu wiedergegeben, besonders jener, der am 5.9.1918 aus Tianjin an die Propagandaabteilung des Oberkommandos erging und bezeichnenderweise auch in Bazzani, Soldati italiani 111–157 zitiert wird. Es handelte sich um eine Art offizielle, für die Verbreitung durch die Presse bestimmte Version, in der vor allem das Chaos der Revolution betont wird, während die Mängel auf italienischer Seite außen vor gelassen werden. Maneras Bericht befindet sich in: USSME, E-11, Siberia, b. 11, cart. 15. 36 Bassignanos Telegramme befinden sich in: ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47 und in: ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42. 37 ACS, MG, CS, SGAC, b. 468, fasc. 42, Bassignano an Kriegsministerium, 1.9.1917. 38 ASMAE, AG, b. 349, fasc. 72, sf. 47, Kriegsministerium an Außenministerium, 16.9.1917, und am nächsten Tag verfasste Antwort.

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Die Diskussion sollte bald darauf durch den Wintereinbruch beendet werden. Gleichzeitig schenkten die italienischen Behörden dem so fernen Problem der Gefangenen in Russland nach der verheerenden italienischen Niederlage in Caporetto noch weniger Beachtung. Ende November war die Zahl der in Kirsanow zusammengeführten Gefangenen bereits auf 2.400 gestiegen39. Es handelte sich um Männer, die mit Aussicht auf eine sofortige Abreise aus akzeptablen Beschäftigungsverhältnissen und Lebensbedingungen herausgerissen worden waren und sich nun in einer dramatischen Situation befanden: ohne passende Kleidung für einen weiteren Winter und ohne das wenige Geld, das sie während ihres vergeblichen Wartens ausgegeben hatten. Wie der Triestiner Francesco Marchio und weitere seiner Kameraden berichteten, riet ihnen Manera selbst, all ihre Rubel rasch auszugeben, „denn in Italien sind sie nur wenig wert, jetzt, wo wir in wenigen Tagen aufbrechen“40. Ende Oktober beschrieb Bassi­ gnano den erbärmlichen materiellen und moralischen Zustand der Soldaten, zu dem noch die immer größere Angst, „den Repressalien und der Bösartigkeit der russischen Soldaten zum Opfer zu fallen“, hinzukam. Er erörterte weiter, dass die Abreise für viele eine Notwendigkeit darstelle, weil sie einen weiteren Winter körperlich nicht ertragen würden, ganz zu schweigen davon, dass ein Scheitern der Rückreise die österreichische Propaganda erstarken lassen und damit alle bisherigen Bemühungen, die Bevölkerung der Irredenta zu gewinnen, zunichtemachen würde41. In den nächsten Wochen wurde die Kommunikation immer intensiver und ihr Ton aufgrund der durch die Machtübernahme der Bolschewisten entstandenen Situation immer dramatischer. Es wurde berichtet, dass die Gefangenen sich selbst überlassen waren, nicht genug zu essen für sie da war und man aufgrund der herrschenden Hungersnot mit immer größerer Feindseligkeit der Bevölkerung rechnen musste. Am besorgtesten war man jedoch darüber, dass die Gefangenen in den Händen der Österreicher landen könnten. Brussilows spektakuläre Siege gegen Österreich-Ungarn im Sommer 1916 waren die letzten, vergänglichen Erfolge eines wenige Monate später bereits in Auflösung begriffenen Heeres, in dem sich hunderttausende Männer zerstreuten oder desertierten. Die im März 1917 nach dem Sturz des Zaren gebildete Regierung hatte sich um eine Fortsetzung des Kriegsengagements bemüht, während die Bolschewisten, die einen sofortigen und bedingungslosen Frieden forderten, im Land immer mehr Anhänger gewannen. Im September 1917 wurde Riga von den Deutschen einge39 Ebd., Carlotti an Außenministerium, 29.11.1917. 40 Francesco Marchio, Disertore a Vladivostok (Florenz 1995) 49. 41 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67 Prigionieri irredenti in Russia. Liberazione, Bericht Bassignanos an Carlotti, 23.10.1917.



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nommen; und schon bald kam es im Zuge der Oktoberrevolution und der Machtübernahme durch die Bolschewisten zu Verhandlungen über eine Waffenruhe mit den Mittelmächten42. Die Gefahr, dass der Zusammenbruch Russlands die Eroberung weiter Gebiete durch Teile des deutschen und österreichisch-ungarischen Heeres nach sich ziehen könnte, war sehr konkret – auch jener Gebiete, in denen sich die italienischen Gefangenen befanden. Auch der Abschluss eines Friedensvertrages konnte dramatische Folgen haben, etwa einen Gefangenenaustausch und die Auslieferung der österreichischen Italiener nach Wien, denn diese waren nicht mehr durch die Vereinbarungen zwischen der italienischen Regierung und dem Zaren geschützt. Für alle, die sich Italien überantwortet hatten, ließ die Möglichkeit, in österreichischen Händen zu landen, dramatische Folgen erahnen43. Der Stillstand wurde durch einen Vorschlag Cosmo Maneras beendet – jenes Offiziers der Militärmission, der in Kirsanow vor Ort war. Manera schickte ohne das Wissen des Kommandanten Bassignano, der sich in Petrograd befand, ein lakonisches Telegramm an die Kommission für das Hilfswerk zugunsten der Geflüchteten aus dem Trentino und den adriatischen Gebieten (Commissione patro­ nato fuorusciti adriatici e trentini) in Rom: „Weiterer Winter unmöglich, mangels Schiffen Verbringung der irredenti nach Japan dringend erforderlich, von dort Repatriierung möglich“44. Maneras Vorgehensweise – vom Kriegsministerium sofort heftig kritisiert45 – war völlig unüblich, weil er nicht nur die Befehlskette ignorierte, sondern sich direkt an den Geflüchtetenverein wandte, wahrscheinlich im Bewusstsein, dass dieser bei Bedarf alles öffentlich machen und so die Regierung in Schwierigkeiten bringen könnte. Zunächst hielt Sonnino den Vorschlag, eine regelrechte Flucht nach Osten zu organisieren, „aufgrund der Transportschwierigkeiten und der beträchtlichen Reisekosten“ weder für praktikabel noch für umsetzbar46. Dass er letztlich doch seine Meinung änderte, war auf die immer dramatischeren Nachrichten aus Russland und Bassignanos Überlegungen zurückzuführen. Dieser betonte, dass dies die einzige Möglichkeit sei, alle Männer zu retten, und dass sämtliche Ausgaben geringer seien als jene, die für ihre Verpflegung in Kirsanow aufzuwenden wären, wo sie von den Russen fast nichts mehr bekämen47. „Sie vor dem Galgen der Österreicher zu retten“ wurde oberste Priorität der italienischen Regierung, die sich der verheerenden Folgen, die eine 42 Oliver Janz, 14 – Der große Krieg (Frankfurt 2013) 292–298. 43 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Carlotti an Außenministerium, 3.12.1917 und weitere Korrespondenz im selben Akt. 44 Ebd., Innenminister an Außenminister, 1.11.1917. 45 Ebd., Kriegsminister an Bassignano, 5.11.1917. 46 Ebd., Sonnino an Innenminister, 3.11.1917. 47 Ebd., Carlotti an Außenministerium, 3.12.1917.

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etwaige Gefangennahme durch den Feind für das Bild und die Interessen Italiens haben könnte, völlig bewusst war48. Bassignano wurden 300.000 Rubel für den Transfer „der eindeutigen irredenti“ zur Verfügung gestellt, ganz als ob unter diesen Bedingungen eine erneute und genaue Überprüfung ihrer italienischen Gesinnung möglich wäre 49. Jeder von ihnen erhielt einen kleinen Geldbetrag und von der italienischen Botschaft ausgestellte Reisepapiere, die drei Monate gültig waren und ihnen die Reise erleichtern sollten. Da kein einziger großer Transfer organisiert werden konnte, beschloss man, die Gefangenen in Kleingruppen zu etwa zwölf Personen einzuteilen und sie nach und nach in die täglich über die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn nach Fernost fahrenden Züge zu verladen. Die ersten Gruppen fuhren vor Weihnachten von Wologda ab, wo sich etwa 600 Gefangene befanden, die ein paar Monate vorher aus Kirsanow aufgebrochen waren, um in Archangeľsk eingeschifft zu werden, wozu es jedoch letztlich nicht kam50. Dann folgten schrittweise alle anderen. In den darauffolgenden Tagen und Wochen traten etwa 2.600 Männer die Reise an, bei der sie auf einer Strecke von über 9.000 Kilometern im eiskalten Winter durch das von der Revolution erschütterte Russland fuhren. Angelo Zeni beschrieb sie in seinem Tagebuch als „die verzweifelte Reise durch Sibirien“51. Zahlreiche Gefangene fuhren die lange Strecke, über die sie in den Vormonaten von den Orten ihrer Gefangenschaft nach Kirsanow ins Sammellager gekommen waren, wieder zurück. In überfüllten Waggons durchquerten sie neben den im ganzen Land verstreuten russischen Soldaten, die in ihre Heimatorte zurückkehrten, zum dritten Mal den gesamten riesigen russischen Kontinent. So auch Fioravante Gottardi: Tief bewegt erblickte er vom Zug aus das Sammellager bei Tschita, in dem er eineinhalb Jahre gefangen gewesen war, und den Hügel, auf dem tausende Gefangene begraben waren, darunter auch einige seiner Kameraden52. Abermals wird in den Soldatentagebüchern vor allem die Kälte beschrieben, „eine Kälte, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt hatte“, so Arturo Dellai, ein Bäcker aus Pergine (Persen). Viele brachen bei minus 40 Grad in 48 Ebd., interne Notiz für Minister Sonnino, 7.12.1917. Giorgio Petracchi, La Russia rivoluzionaria nella politica italiana. Le relazioni italo-sovietiche 1917–1925 (Rom–Bari 1982) 85–97. 49 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67., Sonnino an Presidenza del Consiglio (Ministerpräsidium), 13.12.1917. 50 Ebd., Bassignano an Kriegsministerium, 26.12.1917; Bazzani, Soldati italiani 155–157. 51 Angelo Zeni, in: Giovanni Bona, Bortolo Busolli, Antonio Giovanazzi, Angelo Raffaelli, Isidoro Simonetti, Angelo Zeni, hrsg. von Quinto Antonelli, Giorgia Pontalti (Trient–Rovereto 1997) 195–253, hier 243. 52 Fioravante Gottardi, in: Emilio Fusari, Giacinto Giacomolli, Fioravante Gottardi, hrsg. von Quinto Antonelli (Rovereto 1995) 133–219, hier 183.

Karte 3: Die Routen der italienischsprachigen Gefangen aus dem europäischen Teil Russlands zum Pazifik und weiter nach Italien.

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Sommerkleidung auf oder hatten höchstens Pullover an. Bei jedem Halt mussten sie sich Brennholz für die Öfen in der Mitte der Waggons verschaffen und etwas zu essen kaufen. Zu den Unannehmlichkeiten der Reise kamen die Gefahren, die durch das Chaos in Russland entstanden waren: Manche Gebiete wurden von den Bolschewisten kontrolliert, andere befanden sich in der Hand der kontrarevolutionären Kräfte, in weiteren wiederum fehlte jegliche Kontrolle, und sie wurden von Plünderern heimgesucht. Eine extrem gefährliche Situation für Ausländer, die leicht als ehemalige Feinde zu erkennen waren und sich, wie Adolfo Galvagni schildert, je nach Bedarf als italienische Arbeiter, rumänische Flüchtlinge oder österreichische Gefangene ausgaben und ihr Verhalten jedes Mal an das Gebiet, das sie durchquerten, anpassten: „Man musste Bolschewist, Republikaner, Gemäßigter, automilitaristischer Imperialist und so weiter sein“53. Gegen Februar konnte der Transfer mit der Ankunft von 2.350 Männern in Fernost als beendet betrachtet werden54. Eine nicht näher bestimmte Anzahl von Gefangenen war auf dem Weg verloren gegangen, verstorben oder hatte beschlossen, die Konvois auf einer Reise, die vielen von ihnen sinnlos erschien, zu verlassen. Zunächst war beabsichtigt worden, die Gefangenen nach Wladiwostok zu bringen und von dort nach Japan zu überführen. Die Kasernierung und Versorgung in der russischen Stadt erwiesen sich jedoch sofort als extrem schwierig und die Hoffnung, Schiffe für die Reise nach Japan zu finden, schien überhaupt illusorisch55. Die irredenti wurden daher zunächst nach Harbin gebracht – eine Stadt in der chinesischen Mandschurei an der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn –, danach erfolgte ein weiterer Transfer nach Peking und Tianjin, wo Italien neben anderen europäischen Ländern nach der Intervention gegen die Rebellen des Boxeraufstandes über eine eigene Militärkonzession verfügte56. Carlo Alberto Aliotti, damals italienischer Gesandter in China und mit Vizekonsul Daniele Varé für die Unterbringung der Gefangenen zuständig, beschreibt den Zustand, in dem sich die Gefangenen nach Monaten der Entbehrungen

53 Der am 5.1.1919 aus Krasnojarsk abgeschickte Brief Galvagnis an seine Mutter findet sich in: Bollettino del Museo trentino del Risorgimento 3 (1972) 16–23, hier 19. 54 Diese Zahl wird genannt in: USSME, F-3, b. 271, cart. 4, Specchio dimostrativo del movimento irredenti italiani in Russia ed E.O., o. D. 55 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Bassignano an Kriegsministerium, 15.12.1917 und ACS, MG, CS, SGAC, b. 774, fasc. 116 Varie, Bassignano an Kriegsministerium, 19.1.1918. 56 Ciro Paoletti, La Marina italiana in Estremo Oriente 1866–2000 (Rom 2000); Maurizio Marinelli, The Genesis of the Italian Concession in Tianjin: A Combination of Wishful Thinking and Realpolitik, in: Journal of Modern Italian Studies 15/4 (2010) 536–556; Sabina Donati, Italy’s informal Imperialism in Tianjin during the Liberal Epoch, 1902–1922, in: The Historical Journal 59/2 (2016) 447–468.



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und einer furchtbar beschwerlichen Reise befanden57. Völlig zerlumpt und in einem katastrophalen hygienischen Zustand waren viele von den Krankheiten gezeichnet, die sie sich durch Kälte, Unterernährung und Schmutz zugezogen hatten. Doch nach ersten Behandlungen, einer Erholungsphase und angemessener Verköstigung schöpften die Gefangenen rasch wieder Kraft: „Ihre Dankbarkeit gegenüber Italien ist aufrichtig und offensichtlich“, so der Diplomat58. Die Schilderungen zahlreicher Betroffener bestätigen die Überraschung angesichts der guten Behandlung, die Freude, die eigene Würde wiedererlangt zu haben, und ein aufrichtiges Gefühl der Dankbarkeit. „Es war höchste Zeit! Ja, wir haben gelitten, doch nun ist alles vorbei, und für uns beginnt ein neues Leben“, freute sich Fioravante Gottardi nach seiner Ankunft in Tianjin. Er war dort sofort mit einem gedeckten Tisch begrüßt worden, auf dem verlockend eine Suppe dampfte, hatte frische Wäsche und Seife erhalten, sich nach Ablegen der schmutzigen und verlausten Lumpen gewaschen und war zu einem Zimmer mit Betten und blütenweißen Laken geführt worden59, nach Jahren des Leidens ein Idyll für ihn und seine Kameraden. Eutimio Gutterer spricht von „Paradies auf Erden“ und einem „Traum“, wenn er an den Teller Pasta asciutta denkt, mit dem er und seine Kameraden in Peking empfangen worden waren. „Man stelle sich das vor, eine warme Mahlzeit nach einem Monat Hungern!!“60 Noch deutlicher wird Giuseppe Passerini, ein Bäcker aus Mori (Moor), der in einem im Februar 1918 verfassten Brief an seine Familie deutlich beschrieb, wie er in Tianjin wiederaufblühte: „Nun atme ich auf; endlich fühle ich mich wieder wie ein Mensch, ich bin kein Sklave, keine Arbeitsmaschine, kein geduldetes und ungewolltes Wesen mehr. […] Hier sind wir unter uns; wir warten bei bequemer Unterbringung, guter Verköstigung und zuvorkommender Behandlung auf unsere Abreise nach Italien“61. Die gebührende Dankbarkeit der Gefangenen gegenüber Italien, das sie zunächst aus der russischen Gefangenschaft gerettet und dann in Fernost für einen so guten Empfang gesorgt hatte, war ein Aspekt, den die Militärbehörden sofort zu nutzen wussten. Schon bald stellte das, was eigentlich als Zwischenstation vor einer raschen Rückkehr nach Europa gedacht gewesen war, den Beginn einer neuen Kriegserfahrung dar. Am 3. März 1918 hatte das bolschewistische Russland in Brest-Litowsk den Friedensvertrag mit den Mittelmächten unterzeichnet, womit es sich endgültig aus dem Krieg in Europa zurückzog und somit nicht 57 58 59 60 61

Vgl. Daniele Varè, Der lachende Diplomat (Wien 1951) 177–181. ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Aliotti an Sonnino, 28.1.1918. Fioravante Gottardi 188. Francescotti, Eutimio Gutterer 42. Il diario di Giuseppe Passerini (1915–1919), hrsg. von Diego Leoni, in: Materiali di lavoro, nuova serie 1–2 (1986) 135–173, hier 170f.

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mehr der Entente angehörte. Der Vertrag brachte für Russland beträchtliche Gebietsverluste im Westen mit sich, während seine Autorität in zahlreichen Gebieten des Landes aufgrund der Entstehung neuer Staaten, die ihre Unabhängigkeit ausriefen, in Frage gestellt war. In diesem Umfeld beschloss die Entente rasch, in Russland zugunsten der konterrevolutionären Kräfte militärisch zu intervenieren. Sie fasste diesen Entschluss sogar vor Unterzeichnung des Friedens von Brest-Litowsk, und ihre Pläne sahen sofort eine Verwendung der irredenti vor. Bereits im Jänner wurde auf Anregung Frankreichs mit der Abstimmung einer auf den Raum Irkutsk in Ostsibirien beschränkten Intervention begonnen, wo nach Zwischenfällen einige französische Offiziere getötet worden waren. Mit der scheinbar begrenzten Intervention wurde ein ehrgeiziges Ziel verfolgt: die Erlangung der Kontrolle über die Transsibirische Eisenbahn, um die Kommunikation mit Südrussland aufrechtzuerhalten, das wiederum von den antibolschewistischen Kräften kontrolliert wurde62. Der italienische Gesandte in Peking schlug sofort vor, zu diesem Zwecke „eine Kompanie mit einem Teil der aus Russland erwarteten irredenti“ einzusetzen, und wenige Tage später verlangte der französische Botschafter dasselbe von Sonnino63. Der eilige Transfer der irredenti von Kirsanow und Wologda war noch nicht einmal abgeschlossen, als sich bereits der Plan einer militärischen Wiedereinsetzung dieser Männer abzeichnete. Aufgrund der ungewissen Lage, die schon bald zur Unterzeichnung des Separatfriedens zwischen Russland und den Mittelmächten führen sollte, wurde das Projekt zunächst auf Eis gelegt, danach jedoch sofort in größerem Rahmen neu lanciert. Die Gelegenheit zur Intervention ergab sich durch den Aufstand der tschechoslowakischen Legion – diese bestand aus etwa 40.000 bis 70.000 ehemaligen Gefangenen des österreichisch-ungarischen Heeres, die in den Jahren zuvor an der Seite der Russen gekämpft hatten, um zur Auflösung der Habsburgermonarchie beizutragen und die Gründung eines Nationalstaates zu erleichtern. Da sie ihren Kampf auch nach Beendigung des Einsatzes an der russischen Front fortsetzten wollten, planten auch sie eine lange Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, von wo aus sie an die französische Front gebracht werden sollten. Die anfängliche Vereinbarung, die sie diesbezüglich mit den Bolschewisten getroffen hatten, scheiterte, nachdem es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den über den langsamen Transport empörten tschechoslowakischen Soldaten und den sowjetischen Abteilungen gekommen war – letztere erfüllte die Tatsache, dass sich ein effizientes ausländischen Heeres auf ihrem Ge62 Petracchi, La Russia 57; ASMAE, AG, b. 238, fasc. 33 Contingente italiano costituito dagli irredenti a Pechino da inviarsi in Siberia, Sonnino an die italienischen Botschaften in Paris, London und Washington und an die italienische Gesandtschaft in Peking, 8.1.1918. 63 Ebd., Sonnino an Marineminister, 12.1.1918 und Sonnino an Orlando, 18.1.1918.



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biet befand, mit Sorge, und sie forderten dessen Entwaffnung64. Nach erbitterten Kämpfen erlangten die Tschechen die Kontrolle über lange Streckenabschnitte der Transsibirischen Eisenbahn und die Stadt Wladiwostok selbst, womit sie aktiver Teil des schweren Bürgerkrieges wurden, der nunmehr in Russland wütete. Im Sommer beschloss die Entente, einzuschreiten, verbarg allerdings die wahren Gründe, nämlich die Bekämpfung der Bolschewiken und Unterstützung der konterrevolutionären Kräfte, und rechtfertigte die Intervention damit, dass die tschechoslowakischen Verbündeten Hilfe benötigten. Für die italienische Regierung ging es einzig und allein um „Gerechtigkeit und Humanität“, man wollte sich nicht in die innenpolitischen Angelegenheiten Russlands einmischen65. Aus politischen und militärischen Gründen trug Italien die Initiativen der Entente sowohl in Sibirien als auch im Gebiet um Murmansk mit, wohin ein weiteres Expeditionskorps aus britischen, französischen, amerikanischen und italienischen Truppen entsandt wurde, um die strategischen Häfen von Murmansk und Archangeľsk vor den Deutschen zu schützen66. Italien war der Ansicht, an so heiklen und bedeutenden Kriegsschauplätzen präsent sein zu müssen, „um sich jenen Platz zu wahren, der ihm zum Schutz der eigenen Interessen zusteht“, wie der Geschäftsträger in Moskau betonte67. Doch Italiens Verfügbarkeiten an Männern und Mitteln sowie sein militärisches Engagement gestatteten keinen Truppentransfer in größerem Ausmaß, sodass die Idee heranreifte, im fernen Sibirien jene Schar Bedauernswerter einzusetzen, die man aus den russischen Gefangenenlagern herausgeholt hatte. Im März 1918 stimmten der Kriegs- und der Marineminister Sonninos Vorschlag zu, die Repatriierung der – nunmehr ehemaligen – italienischen Gefangenen „angesichts der möglichen Beteiligung Italiens an einer etwaigen Aktion der Entente im asiatischen Teil Russlands“68 auszusetzen. Da klar war, dass Italien nicht genug Transportkapazitäten besaß, um eine ganze Expedition aus Italien zu entsenden, wurde beschlossen, ein paar tausend irredenti dafür auszuwählen, 64 Margarete Klante, Von der Wolga zum Amur. Die tschechische Legion und der russische Bürgerkrieg (Berlin–Königsberg 1931); Karel Pichlík, Bohumír Klípa, Jitka Zabloudilová, I legionari cecoslovacchi (1914–1920) (Trient 1997) 177–195. 65 ASMAE, AG, b. 238, fasc. 33, offizielle Erklärung Sonninos, 5.10.1918. 66 Zur Intervention der Entente siehe Liudmila G. Novikova, An anti-Bolshevik alternative: The White movement and the Civil War in the Russian north (Madison 2018); Francesco Randazzo, Alle origini dello Stato sovietico. Missioni militari e Corpi di spedizione italiani in Russia (1917– 1921) (Rom 2008); Giuseppe Cacciaguerra, Il corpo di spedizione italiano in Murmania 1918– 1919 (Rom 2014). 67 ASMAE, AG, b. 238, fasc. 32 Contingente italiano da inviarsi a Murmann, Außenminister an Kriegsministerium, 25.6.1918. 68 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Kriegsminister an Außenministerium, 21.3.1918.

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ergänzt durch eine Einheit aus Füsilieren, Maschinengewehrschützen und Artilleristen aus Italien, die das zur Bewaffnung und Einteilung der ehemaligen österreichischen Gefangenen benötigte Material und Personal mitzuführen hatten69. Weiters wurde vereinbart, dass „zur Gewährleistung einer standhaften Moral der Einheiten sowie zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten“ die Einheiten ausschließlich aus irredenti gebildet werden sollten, „die zu einem günstigen Zeitpunkt und nach entsprechender Gesinnungsvorbereitung den Wunsch äußern, auch in Russland kämpfen zu dürfen“70. Es war klar, dass es nicht leicht sein würde, aus einer Masse an Männern, die nach Jahren in Russland einfach nur nach Italien zurückwollten, eine angemessene Zahl an Freiwilligen zu gewinnen. Dafür brauchte es einiges an Überzeugungsarbeit und Überredungskunst, auch musste den irredenti eine bevorzugte Behandlung gewährt werden, damit sie die Bemühungen des Mutterlandes um sie schätzen lernen und ein natürliches Dankbarkeitsgefühl entwickeln konnten. Wie Bazzani als einer der Initiatoren dieser Überzeugungsarbeit schrieb, galt es in erster Linie, „den irredenti Zeit zur Erholung und zum Nachdenken sowie das Gefühl zu geben, dass sie als freie italienische Bürger über sich selbst bestimmen können, also bei ihnen eine radikale Lebensänderung zu erwirken, sie wieder zu Kräften kommen zu lassen und ihre Moral zu heben“71. Die Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten: Etwa tausend Mann meldeten sich freiwillig, und von ihnen wurden zehn Offiziere und 843 Soldaten für tauglich befunden72. Hinzu kam schon bald das Kontingent aus Italien mit 636 Mann, von denen die meisten Sizilianer oder Sarden aus den in Eritrea stationierten Kolonialtruppen waren – aus diesen waren sie auf der Reise nach China, die am 30. August 1918 zu Ende war, abgezogen worden73. Alle zusammen bildeten das italienische Expeditionskorps in Fernost, das aufgrund der Farbe der Kragenspiegel, die an jene der Arditi (Sturmtruppen) erinnerten, auch als Battaglioni neri bekannt wurde. Wie war es möglich, dass etwa 1.000 dieser so heruntergekommenen und entmutigten Gefangenen Maneras Angebot annahmen und sich einer Militärexpedition anschlossen, mit der sie im Winter nach Sibirien zurückkehren und wahrscheinlich auch tausende Kilometer von ihren Heimatländern entfernt kämpfen mussten, obwohl sie seit geraumer Zeit den prekären Bedingungen und dem Leid entkommen wollten, die sie nun schon seit Jahren plagten? Für Manera bestand 69 70 71 72

Ebd., Kriegsminister an Außenministerium, 14.4.1918. ASMAE, AG, b. 238, fasc. 32, Manera an Bassignano, 2.4.1918. Bazzani, Soldati italiani 179. USSME, E-11, Siberia, b. 11, cart. 40, Bericht des Leiters der italienischen Militärmission in Sibirien, Oberst Filippi, 1.9.1919. 73 Ministero della Guerra – Ufficio storico, L’esercito italiano nella Grande Guerra (1915–1918) VII/1 51–56.



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Abb. 17: Eidesleistung des italienischen Corps im Fernen Osten, Tianjin, 15. August 1918 (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

kein Zweifel: Es handelte sich um eine völlig freiwillige Entscheidung, getroffen „mit begeistertem und heimatliebendem Herzen, voll glühender Sehnsucht, an unserer Front gegen den Erbfeind zu kämpfen, und mit unerschütterlichem Vertrauen in die Geschicke Italiens“74. Die Dankbarkeit gegenüber Manera und Italien für die Befreiung aus der Gefangenschaft, die Verbringung an einen sicheren Ort und die wohlwollende Behandlung spielten zweifelsohne eine wichtige Rolle. Dasselbe gilt für das absolute Abhängigkeitsverhältnis, das nunmehr zwischen irredenti und den italienischen Militärbehörden bestand. Im Vergleich zu ihrer Situation in Russland, wo sie sich formal in Gefangenschaft befunden und somit den russischen Behörden unterstanden hatten, war in China ausschließlich das römische Heer für sie zuständig. Dieses hatte sie ungeachtet ihrer Intentionen rasch militärisch eingeteilt und somit die bereits in den Vormonaten in Kirsanow begonnene Operation zu Ende gebracht. Kaum hatten sie sich gewaschen und zu essen bekommen, waren sie in Tianjin von Gefangenen wieder zu Soldaten geworden und mussten ein Kasernenleben führen, das sich durch Märsche, Übungen und militärische Instruktion auszeichnete. Zweihundert von der französischen Garnison geliehene Gewehre ermöglichten die Bewaffnung ebenso vieler Männer, die alle offiziell zu Mitgliedern des neu geschaffenen Distaccamento Irredenti (Irredenti-Abteilung bzw. Detachement) erklärt wurden75. Das Einrückungsangebot erfolgte also in einer absolut ungewöhnlichen Situation, in der die Untertanen des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches de facto bereits von Italien militarisiert waren und seiner Autorität unterstanden. In der Art, in der auf sie eingewirkt wurde, ging patriotisches Bewusstsein mit Dankbarkeitspflicht und das Versprechen einer besseren Behandlung der Freiwilligen mit leichten Drohungen gegenüber all jenen einher, die sich weigerten. Die Lektüre der Tagebücher einiger Soldaten legt außerdem nahe, dass darüber hinaus noch unklare, wenn nicht gar erlogene Informationen hinzukamen, die eine frühere 74 USSME, F-3, b. 271, cart. 4, Manera an Kriegsministerium, 28.9.1918. 75 Bazzani, Soldati italiani 186f.

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Verschiffung der Einrückungswilligen nach Italien nahelegten. Der Trentiner Giu­lio Garbari schilderte die Vorkommnisse eines Abends im Juni 1918 ganz genau: Manera und Bazzani erschienen in der Kaserne von Tianjin, um die Insassen zum Einrücken ins italienische Heer aufzufordern. Manera kündigte vage an, dass die Freiwilligen „hier, in Italien oder anderswo“ ihren Dienst leisten sollten. Er erwähnte Sibirien nicht, obwohl er genau wusste, wohin es für die Männer gehen würde. Bazzani wiederum beendete seine leidenschaftliche Ansprache als Kriegsfreiwilliger mit dem wenig beruhigenden Satz: „Wir werden sehen, wer die guten Italiener sind und wer die austriacanti.“ Der Schluss – von Garbari sarkastischerweise als „bewegend“ definiert – zeigte seine Wirkung, denn es konnten deutlich mehr Männer als erwartet überzeugt werden, sofort einzurücken76. In einigen von den italienischen Soldaten zusammengestellten Liedersammlungen findet sich ein Gedicht, das auf ironische Weise die wahren Gründe der Entscheidung für Italien beleuchtet, bei der durchaus auch falsche Versprechungen auf eine frühere Rückkehr eine Rolle spielten: Quei che tosto saran soldati / Avranno i viveri assai miliorati / E in più due dollari alla cinquina / Di quei della Cina Se poi in Italia qual’cun vien manda / Sara certamente che un aruola / L’unico mezzo per partir sul mare / Non v’è che firmare […] Ecco la rete che pronta e distesa / Per far d’ucellini una gran presa / Ecco che intorno cascan dentro / A cento a cento. [Alle, die bald Soldaten werden / Bekommen besseres Essen / Und zwei Dollar mehr Sold / Als die aus China Wenn einer nach Italien geschickt wird / Ist es bestimmt ein Eingerückter / Für eine Überfahrt auf See / Muss man bloß unterschreiben […] Das Netz ist schon bereit und gespannt / Um viele Vögel zu fangen / Und schon gehen sie hinein / In übergroßer Zahl.]

Dass die Versprechungen sehr weit von der späteren Realität entfernt waren, wird ebenfalls mit treffender Offenheit zum Ausdruck gebracht: Quei che non vollero farsi soldati / Furon in Italia presto mandati / E noi poveri ucelli presi / Restiam fra i Cinesi Un mese dopo a tientsin furon mandati / Ci siam uniti coi altri soldati / E cian mandati nella Siberia / Porca miseria [Alle, die nicht einrücken wollten / Wurden eilig nach Italien geschickt / Und wir armen gefangenen Vögel / Bleiben bei den Chinesen Nach einem Monat wurden sie nach

76 Giulio Garbari, In Russia ed in Cina. Diario di un prigioniero di guerra trentino, in: Corrado Pasquali, Irredenti. Dal Tirolo all’Italia via Russia–Cina–America. 1914–1918 (Bozen 1995) 49–160, hier 140–142.



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Abb. 18: Italienische Soldaten bei der Bewachung eines Zuges, Krasnojarsk, Sibirien, Jänner 1919 (Fondazione Museo storico del Trentino, Trient).

Tientsin geschickt / Wir anderen Soldaten schlossen uns an / Und sie schickten uns nach Sibirien / Verdammt nochmal!]77.

Zahlreiche weitere Tagebücher und Zeugnisse weisen auf die Ahnungslosigkeit hin, mit der viele Männer ihre Entscheidung trafen: Oft verstanden sie erst im letzten Moment und nach dem förmlichen Eid, durch den sie zu Gehorsam verpflichtet waren, dass es für sie nach Sibirien und nicht nach Italien gehen würde78. Unter ihnen war auch Arturo Dellai, der erst Ende Oktober, als er bereits in Harbin und auf dem Weg nach Krasnojarsk war, von seinen Vorgesetzten erfuhr, dass sie den „Weißen“ gegen die Bolschewisten zu Hilfe eilen sollten: „Verdammt, da fanden wir uns gerade in den kältesten Monaten nochmals in der Transsibirischen Eisenbahn nach Sibirien wieder, von wegen Rückkehr nach Italien! Ich glaube, sie halten uns zum Narren“. Extrem war die Enttäuschung bei ihm und seinen Kameraden dann, als sie nach ihrer Ankunft in Krasnojarsk erfuhren, dass der Krieg zu Ende war und sich Trient und Triest nunmehr in italienischer Hand befanden, während für sie alle eine neue Kriegssaison begann. Sein Kommentar 77 Antonelli, Storie da quattro soldi 347. 78 Vgl. Francescotti, Italianski 96–98, 118; Mazzini, “Cose de laltro mondo” 132–135; Bellezza, Tornare in Italia 145–158.

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dazu war ein weiteres Mal äußerst klar: „Ich bereue es fast, dieses verdammte Papier unterzeichnet zu haben, in dem uns eine Fahrt nach Italien und das Blaue vom Himmel versprochen wurden. Vielleicht hat Italien uns im Stich gelassen; ich habe keine Ahnung, was wir so weit weg von Italien in Sibirien machen“79. Die Battaglioni neri unter der Führung von Oberstleutnant Edoardo Fassini Camossi stellten den italienischen Beitrag im internationalen Kampf gegen den Bolschewismus dar. De facto waren sie am russischen Bürgerkrieg nur marginal beteiligt, ihre Rolle beschränkte sich im Grunde genommen auf Wachdienste in den Gefängnissen und weiteren öffentlichen Gebäuden in Krasnojarsk in Mittelsibirien sowie auf die Kontrolle einiger Streckenabschnitte der Transsibirischen Eisenbahn. Sie waren an Feuergefechten begrenzten Ausmaßes und ebenso an begrenzten Militäreinsätzen an der Seite der tschechoslowakischen Einheiten beteiligt – was deren Reichweite anbelangt, sei nur gesagt, dass in den zehn Monaten in Sibirien nur drei Mann gefallen waren: Zwei waren bei der Durchquerung eines Flusses ertrunken, ein dritter durch eine zufällig losgegangene Handgranate, mit der er selbst ausgestattet war, ums Leben gekommen80. Italien folgte bald dem Beispiel der Amerikaner, Franzosen und Briten und zog sein Kontingent ab, da es erkannt hatte, die internen Dynamiken in Russland kaum beeinflussen zu können. Unmittelbar nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten kündigte Francesco Saverio Nitti am 14. Juli 1919 im Parlament seine Entscheidung an, sämtliche italienischen Truppen im Ausland abzuziehen und sich nicht mehr in die innenpolitischen Angelegenheiten Russlands einzumischen. Er bewies damit eindeutig, dass er sich wieder auf die schweren innenpolitischen Probleme Italiens besinnen wollte. Das bedeutete, dass vom militärischen Geltungsdrang Abstand genommen werden musste, denn diesen konnte sich das Land nicht mehr leisten81. Gleichzeitig reagierte er mit seiner Ansprache jedoch auch auf die Informationen aus den Militärkommandos der Missionen bei Murmansk und in Sibirien, die von einer absolut miserablen Truppenmoral, der Gefahr einer Beeinflussung durch die Bolschewisten und (sofern Italien sich dafür entscheiden wollte, in Russland zu bleiben) der Notwendigkeit eines vollständigen Ersatzes der Kontingente durch gut bezahlte Freiwillige berichteten82. Das Unbehagen der 79 Dellais Tagebuch wird zitiert in: Antonelli, I dimenticati 222–223 und Mazzini, “Cose de laltro mondo” 134f. 80 USSME, B-1, 129/S, vol. 29c, Corpo di Spedizione Estremo Oriente (Siberia), Tagebuch und Berichte von Juli 1918 bis April 1920, Tagebuch, 13.5.1918. 81 Nittis Parlamentsrede findet sich in: Italia–Urss. Pagine di storia 1917–1984. Documenti (Rom 1985) 14–16. 82 ACS, PCM, GE, b. 208 bis, fasc. 19.29.9 Corpo di spedizione italiano in Murmania ed in Estremo Oriente (Siberia); Petracchi, La Russia 94.



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Abb. 19: Auf dem Schiff Nippon bei der Rückkehr nach Italien, November 1919 (Museo storico italiano della guerra, Rovereto).

Soldaten, die darüber irritiert waren, dass die Expedition auch nach Kriegsende fortgesetzt wurde, manifestierte sich in echten Gehorsamsverweigerungen, wie Giuseppe Orobello, einer der von Italien nach Sibirien geschickten Infanteristen, berichtet83. Im August 1919 verließ das Expeditionskorps Sibirien und kehrte nach Tianjin zurück, wo die Soldaten auf eine endgültige Abreise nach Europa warteten, welche sich allerdings noch um einige Monate verzögerte. Die irredenti, müde und entmutigt, sahen sich gezwungen, den Jahrestag des Kriegsendes sowie des Einmarsches italienischer Truppen in Trient und Triest in China zu feiern. Schließlich legte Ende November der Dampfer „Nippon“ an, der sie nach Hause bringen sollte – die Ankunft war für Februar 1920 in Triest vorgesehen. Da allerdings nicht genügend Platz für alle war, brachen nur etwa tausend ältere Jahrgänge auf. Die Nachricht sorgte für Aufregung unter den Verbliebenen, die einen Aufstand inszenierten, indem sie sich weigerten, den Monatssold zu kassieren. Als ihnen mit einem Prozess und der Ausschiffung in Massaua auf dem Rückweg gedroht wurde, gaben die Aufständischen nach84. Allerdings nicht alle, wie aus dem Tagebuch des Expeditionskorps deutlich wird: So ist darin verzeichnet, dass sogar während des Protestes, also Anfang Dezember, fünf Soldaten desertierten, von denen vier irredenti waren85. Die weniger als 500 zurückgebliebenen Män83 Antonio Di Sclafani, Giuseppe Orobello, Memorie parallele. Soldati siciliani in Estremo Oriente 1918–19 (Palermo 1998) 77f. 84 Rossi, Irredenti giuliani 89f. 85 USSME, B-1, 129/S, vol. 29c, Corpo di Spedizione Estremo Oriente (Siberia), Diario e Relazioni

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ner, deren Gesinnung wesentlich weniger patriotisch war als von Manera und Bazzani propagiert, sollten erst im Februar 1920 an Bord des Dampfers „French Maru“ nach Neapel aufbrechen, wo sie im April ankamen86. Viel früher als sie hatten all jene Italien erreichen können, die das Einziehungsangebot abgelehnt hatten oder für untauglich befunden worden waren. Da sie im Hinblick auf die vorgesehene Militärintervention in Sibirien als „nicht einsetzbar“ definiert worden waren, galten sie bald als eine unnötige Last, derer man sich entledigen wollte87. Die ersten, die Asien verließen, waren hundert der ältesten Männer, deren Zustand am schlechtesten war. Sie wurden 1918 mit einem Dampfer nach San Francisco gebracht und reisten dann entlang der Ostküste durch die gesamten Vereinigten Staaten, um von dort schließlich Ende Juni erneut in See zu stechen und nach Genua gebracht zu werden. Als sie Jahre zuvor aus ihren Heimatorten an die Front aufgebrochen waren und unter österreichischer Fahne gekämpft hatten, hatten sie ohne Zweifel nicht erwartet, dass sie nach einer regelrechten Weltreise als italienische Staatsbürger dorthin zurückkehren würden. Die Reise durch die Vereinigten Staaten verweist auf einen weiteren Aspekt der skrupellosen Behandlung der ehemaligen Gefangenen durch die italienischen Behörden. Die Idee einer Verbringung nach Übersee stammte auch diesmal vom italienischen Gesandten in China, Aliotti, der vorschlug, sie zu Propagandazwecken auf internationaler Bühne als „lebende Zeugnisse für unsere Rechte auf die Adria“ einzusetzen. Dafür hatte Aliotti bereits Vizekonsul Varé beauftragt, unter einem Pseudonym einen Artikel in englischer Sprache zu verfassen, der verschiedenen amerikanischen Zeitungen vorgeschlagen werden sollte. Doch seiner Meinung nach würde es beim „angelsächsischen Publikum“ einen wesentlich nachhaltigeren Eindruck hinterlassen, wenn man die befreiten Kriegsgefangenen durch das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten ziehen ließe und bei dieser Gelegenheit über „unsere ethnographischen Rechte in Österreich-Ungarn“ informiere. Im Tonfall eines erfahrenen Kommunikationsexperten schlug der Gesandte vor, „Interviews, Erzählungen von Abenteuern über die Schlachten zwischen Österreich und Russland, Proteste gegen das Verhalten unserer Feinde, alles für Leser, denen humanitäre Emotionen nicht fremd sind“, zu organisieren88. Die Reise der irredenti durch die Vereinigten Staaten sorgte tatsächlich für ein mediales Echo – es kam zu Interesse- und Sympathiebekundungen durch die Bevölkerung, einem herzlichen Empfang durch Vertreter der italienischen dal luglio 1918 all’aprile 1920, Tagebuch, 11.12.1919. 86 Bazzani, Soldati italiani 367f., 414, 421. 87 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Sonnino an Kriegsministerium, 11.4.1918. 88 Ebd., Aliotti an Sonnino, 28.1.1918. Der Text des in englischer Sprache verfassten Artikels befindet sich in: ASMAE, Cina, b. 93, fasc. 1187 Irredenti.



3. Gefangene der Revolution 

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Abb. 20: „370 aus dem österreichischen Heer ausgetretene Italiener in Camp Dix“, New Jersey, USA (aus Camp Dix Pictorial Review, Bd. I, Nr. 8, 20. August 1918, Laboratorio di storia di Rovereto).

Gemeinschaft und einer Begegnung mit dem internationalen Gesangsstar Enrico Caruso89. Angesichts des erfolgreichen Einsatzes wurde im Juni ein weiteres, aus 370 Mann bestehendes Gefangenenkontingent durch die Vereinigten Staaten geschickt. Am 10. September brachen weitere 725 Mann, die als „nicht einsatzfähig“ für die neue Kriegsintervention eingestuft worden waren, auf, und zwar an Bord des Dampfers „Rom“, der wenige Tage zuvor die für das Expeditionskorps vorgesehenen Soldaten ausgeschifft hatte. Die hier gewählte Schiffsroute sollte von kleineren Abweichungen abgesehen auch von sämtlichen späteren Gefangenenkonvois eingehalten werden – entlang der Küste Chinas und Indochinas ging es über den Indischen Ozean, das Rote Meer und das Mittelmeer nach Neapel90. 3. Gefangene der Revolution Die Umbrüche des Jahres 1917 in Russland beeinflussten das Leben der Gefangenen nachhaltig. Die Februarrevolution, der darauf folgende Sturz des Zaren und die Errichtung einer republikanischen Regierung sorgten im Land und unter den Gefangenen, die auf ein Ende des Krieges und ihre Rückkehr in die Heimat hofften, für große Aufregung. Doch während sich die Bolschewisten und weitere linke Gruppierungen für den Kriegsaustritt Russlands einsetzten, bemühten sich die gemäßigten Kräfte um eine Fortsetzung der Kriegsbeteiligung. Trotzdem schienen sich die Bedingungen für die Gefangenen anfangs zu verbes89 Bazzani, Soldati italiani 194–196. 90 ASMAE, AG, b. 358, fasc. 72, sf. 67, Verkehrsministerium an Außenministerium, 17.10.1918; Bazzani, Soldati italiani 232.

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sern. Während das Chaos im Land immer größer wurde und die Soldaten und Gendarmen in ihre Häuser zurückkehrten, konnten sie sich gleichzeitig freier bewegen, außerdem wurden die Löhne erhöht und ein Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt. Doch die immer chaotischeren Zustände sorgten bald für eine generelle Verschlechterung ihrer Situation und einen immer größeren Mangel an Lebensmitteln und lebensnotwendigen Gütern bei gleichzeitiger Entwertung des Rubels, der ihre ohnehin niedrigen Löhne zu Hungerlöhnen machte. Die Zivilbevölkerung begann sich gegenüber den Gefangenen aggressiv zu verhalten, weil sie diese immer mehr für den Ressourcenmangel verantwortlich machte91. Eine weitere wichtige Konsequenz der Februarrevolution war die Teilhabe der Gefangenen am politischen Leben in Russland. Sie beteiligten sich an Diskussionen, die man an den jeweiligen Arbeitsplätzen organisierte, wurden zum Instrument der Parteienpropaganda und organisierten sich, indem sie den revolutionären und kriegsfeindlichen Parolen folgten. Teilweise nahmen sie an Maiaufmärschen teil92, wie auch zahlreiche italienischsprachige Gefangene berichten. Unter diesen war auch Oskar Ferlan, ein Offizier aus Fiume, der während der revolutionsbedingten Unruhen in Kirsanow im März 1917 in der Stadt war. Was die neuen Machthaber anbelangte, beschloss die Offiziersversammlung, „mit der neuen Regierung zu sympathisieren“. Für den ersten Mai wurde sogar festgelegt, dass die rote Fahne gehisst werden und man mit den Soldaten am sozialistischen Aufmarsch teilnehmen sollte93. Weitere Soldaten berichteten über ihre aktive Teilnahme an den sozialistischen Veranstaltungen und schätzten die durch die Revolution verbesserten Arbeitsbedingungen. Der Triestiner Basilio Waiz (sein Nachname wurde dann während des Faschismus zu Bianchi italianisiert) berichtet in seinem Tagebuch darüber, dass Italiener bei den Veranstaltungen in Juzovka waren, wo unter den zahlreichen roten Fahnen auch jene Triests geschwenkt wurde, ebenfalls rot, mit weißer Hellebarde in der Mitte, und dass sie die Neugier der Russen weckte94. Für viele stellten die schwierigen Umstände nach der ersten

91 Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg (Göttingen 2005). 92 Gerald H. Davis, The Life of Prisoners of War in Russia, 1914–1921, in: Essays on World War I. Origins and Prisoners of War, hrsg. von Samuel R. Williamson, Peter Pastor (New York 1983), 163–196, hier 180. 93 Zit. in: Paolo Privitera, Un ufficiale austro-ungarico alla frontiera cinese tra rivoluzione e controrivoluzione: il diario di Oskar Ferlan, in: Lontano dalla patria, ai confini del mondo. Diari, memorie, testimonianze di internati militari e civili nella Grande Guerra (1914–1920), hrsg. von Marina Rossi, in: Qualestoria 20/3 (1992), 87–106, hier 92. 94 Zit. in: Rossi, Irredenti giuliani 49.



3. Gefangene der Revolution 

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Revolution den Anfang eines noch nie dagewesenen Politisierungsprozesses und einen deutlichen Bruch mit der zuvor gemachten Erfahrung als Gefangene dar95. Endgültig änderte sich der Status der Gefangenen jedoch durch die Oktoberrevolution. Die Bolschewisten befreiten die Soldaten, aber nicht die „bürgerlichen Offiziere“. Letztere, die zuvor gegenüber der einfachen Truppe privilegiert gewesen waren, wurden nun zu „Volksfeinden“, Opfer von Brutalität und Repressalien, auch wurden sie ein weiteres Mal zu Gefangenen gemacht und erhielten einen abgewerteten Sold, der auch für die Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht ausreichte. Die von den Soldaten gewonnene Freiheit hatte allerdings auch eine Kehrseite. Als freie Bürger hatten sie kein Recht auf Unterhalt durch die russische Regierung mehr, sondern mussten sich eine ausreichend entlohnte Arbeit suchen, was aufgrund des zusammenbrechenden Wirtschaftssystems und der Rückkehr der Russen, die ihre zuvor ausgeübte Beschäftigung wieder aufnahmen, immer schwieriger wurde. Die Bolschewisten verstanden sofort, wie wichtig es war, diese Millionen ehemaliger Gefangener auf ihrer Seite zu haben, und betrieben aktiv Propaganda, teilten sie etwa in eigene proletarische Räte ein, aus denen dann Führerfiguren hervorgingen, die für die Entwicklung der kommunistischen Bewegung in ihren jeweiligen Ländern eine entscheidende Rolle spielen sollten – unter ihnen waren etwa der Ungar Béla Kun und die Österreicher Karl Tomann und Johann Koplenig. Die bolschewistischen Organisationen kümmerten sich um die „politische Erziehung“ der Soldaten und förderten nach Ausbruch des Bürgerkrieges deren Einziehung in die Rote Armee. So war die Lage in den von den Bolschewisten kontrollierten Gebieten, also primär in Westrussland, aber nicht dort, wo Republiken unterschiedlicher politischer Ausrichtung entstanden waren, die nicht einer zentralen Kontrolle unterlagen. Besonders in weiten Teilen Sibiriens – bis 1920 wichtigster Kriegsschauplatz – lag die Machtausübung in den Händen der Expeditionskorps der Entente sowie vor allem der „Weißen“. Letztere weigerten sich, die Gefangenen freizulassen, schickten sie in die Lager zurück und beendeten sogar die laut Frieden von Brest-Litowsk vorgesehenen Teilrückführungen96. Ein beträchtlicher Teil der Gefangenen war nur halb in die Auseinandersetzung involviert – man wollte sich nicht auf eine Seite stellen oder wurde nicht dazu gezwungen, sondern suchte vor allem nach einer Möglichkeit, Russland ver95 Judith Kreiner, Von Brest-Litowsk nach Kopenhagen. Die österreichischen Kriegsgefangenen in Rußland im und nach dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsgefangenenmissionen in Rußland (Diplomarbeit, Universität Wien 1996). 96 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920 (Wien–Köln–Weimar 2003).

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lassen zu können. Manchmal gelang das diesen Gefangenen völlig eigenständig, manchmal im Rahmen eines Gefangenenaustausches. Andere dagegen konnten den Ereignissen des Bürgerkrieges nicht entkommen und wurden von den gegnerischen Parteien förmlich hineingezogen. Ihr Verhalten beruhte nur zum Teil auf freien politischen und ideologischen Entscheidungen, sondern war viel häufiger das Ergebnis von äußeren Umständen. Viele rückten in die Rote Armee ein, weil der gute Sold ihrer Ansicht nach die einzige Möglichkeit darstellte, über die Runden zu kommen, andere taten es, um den von der Tschechoslowakischen Legion willkürlich gegen die deutsch- und ungarischsprachigen Gefangenen aus Österreich-Ungarn verübten Gewalttaten zu entgehen – diese Gefangenen wurden nämlich nach wie vor als die ehemaligen Feinde im Kampf um die nationale Selbstbestimmung gesehen. Es wurde also Druck ausgeübt, und es kam zu regelrechten Zwangseinrückungen. Manchmal wechselten die Gefangenen bei Änderung der militärischen Situation das Lager, um auf der Seite jener zu stehen, die ihre Repatriierung ermöglichen konnten, wobei ihnen die häufig widersprüchlichen politischen Projekte gleichgültig waren97. Dennoch identifizierten sich einige (die genaue Zahl lässt sich schwer ermitteln) ganz aufrichtig mit den Konfliktparteien und besonders mit den Ursachen der bolschewistischen Revolution, was sich auch in den Berichten einiger italienischer Gefangener niederschlug. So war etwa Adriano Oliva, der spätere Mitbegründer der kommunistischen Partei Italiens in Triest, aktiv an der Revolution beteiligt – er stellte seine berufliche Kompetenz als Setzer für die Drucklegung des ersten bolschewistischen Manifests in Schatzkij in Mittelrussland zur Verfügung und kämpfte gegen die „Weißen“ mit98. Ähnliche Schilderungen finden sich auch auf Trentiner Seite – so trat etwa Vigilio Devigili spontan den „Roten Garden“ bei, wurde Kommunist und kämpfte mit anderen Italienern, Deutschen und Ungarn in internationalen Bataillons, „diesmal auf der anderen Seite, diesmal auf der richtigen Seite“99. Es ist schwer zu sagen, wie viele Italiener zu Kämpfern für die Revolution wurden und wie viele von ihnen ehemalige Gefangene aus der Irredenta waren100. An andere Kriege sowie vor allem an die Geschehnisse in Spanien und insbesondere in Guadalajara fast 20 Jahre später erinnerte vor allem eine Passage aus dem Bericht, der vom Kommando des italienischen Expediti97 Marco Buttino, Prefazione, in: Liudmila G. Novikova, La “controrivoluzione” in provincia. Movimento bianco e Guerra civile nella Russia del nord, 1917–1920 (Rom 2015) 7–19, hier 17. 98 Olivas Bericht findet sich in: Rossi, Irredenti giuliani 141–167. 99 Soldati trentini tra i bolsceviki nel 1917, in: Bollettino del Museo trentino del Risorgimento 2 (1973) 21–26, hier 22. 100 Einige Informationen finden sich bei Antonio Rubbi, Internazionalisti italiani in difesa del potere sovietico 1918–1920, in: Rinascita 45 (17.11.1967) 15–18 und ebd., Contro i “bianchi” e gli aggressori imperialisti, in: Rinascita 46 (24.11.1967) 21ff.



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onskorps in Sibirien verfasst worden war. Darin wurden die im Mai 1917 durchgeführten Kriegseinsätze rekonstruiert und im Zuge dessen festgestellt, dass sich zahlreiche ehemalige Gefangene in den feindlichen Reihen befanden, von wo aus die italienischen Soldaten auf Italienisch beschimpft worden waren101. Die Gefahr einer „bolschewistischen Ansteckung“ der Gefangenen wurde bald zu einer der größten Sorgen der Kriegsparteien. Österreich-Ungarn sah der Rückkehr der Gefangenen nach dem Friedensschluss mit Russland sowie deren Befreiung mit einiger Besorgnis entgegen. Tausende von ihnen, die sich im europäischen Teil Russlands befanden, machten sich eigenständig nach Westen auf und versuchten, ihre Heimatorte in Deutschland und Österreich-Ungarn zu erreichen. Der Empfang fiel völlig anders aus als erwartet. Eigentlich waren sie nach dem Krieg und im Zuge des bereits chronischen Mangels an Lebensmittelvorräten, der sich mit ihrer Rückkehr noch verschlimmerte, völlig am Ende ihrer Kräfte. Vor allem aber lastete ein doppelter Verdacht auf ihnen: dass sie Deserteure waren, die sich dem Feind freiwillig als Gefangene ausgeliefert hatten, und dass sie zu bolschewistischen Agitatoren geworden waren. In Österreich-Ungarn wurden spezielle Verifizierungs- und Kontrollmechanismen zur Überprüfung der Einstellung jedes heimgekehrten Gefangenen geschaffen. Nachdem sie ihre Gefangenschaft quasi „gerechtfertigt“ und sich als politisch wie national vertrauenswürdig erwiesen hatten, wurden die ehemaligen Gefangenen disziplinarisch und militärisch umerzogen und dann in Reserveeinheiten eingeteilt, bisweilen auch ein weiteres Mal an der Front eingesetzt. Eigentlich waren sie nach ihrer Freilassung in Russland überzeugt gewesen, dass der Krieg endlich zu Ende sei, doch nun wurden sie unerwarteter Weise ein weiteres Mal Teil der österreichisch-ungarischen Kriegsmaschinerie. Das belastende Verdachtsklima, die harten Lebensbedingungen in den Aufnahmelagern und die rasche Wiedereinziehung lösten große Unzufriedenheit unter den Soldaten aus, und es kam zu Meutereien und Aufständen. In den Berichten der Militärbehörden und der Polizei wurde oft betont, welch wichtige Rolle die aus Russland heimgekehrten Soldaten im Rahmen der Aufstände spielten, zu denen es im kaiserlichen Heer in den letzten Kriegsmonaten kam. Der schwerste brach im Juni 1918 in der serbischen Stadt Kragujevac aus, wo Reservebataillons aus größtenteils slowakischen Soldaten garnisoniert waren, unter denen sich 2.400 Russlandheimkehrer befanden. Während des Aufstandes wurden neben nationalistischen und antisemitischen Slogans auch Parolen laut, die an die Erfahrung in Sowjetrussland erinnerten. Er wurde brutal niederge101 USSME, B-1, 129/S, vol. 29c, Corpo di Spedizione Estremo Oriente (Siberia), Diario e Relazioni dal luglio 1918 all’aprile 1920, Fassini Camossi an das Kommando der italienischen Militärmission in Sibirien, 26.6.1919.

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schlagen und endete mit der Hinrichtung von 44 Männern, von denen fast alle aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren102. Im Mai 1918 kam es in Radkersburg in der Südsteiermark unter italienisch- und slowenischsprachigen Soldaten des 97. Infanterieregiments zu einer Meuterei. Nachdem die Aufständischen Geschäfte geplündert und Offiziere verprügelt hatten, zogen sie durch die Stadt und schwangen dabei rote Fahnen und die nationalen Trikoloren, während sie die Revolution und das Kriegsende feierten. Auch dieser Aufstand ging blutig zu Ende: 15 Mann unter den Unteroffizieren und Soldaten wurden durch Erschießen hingerichtet103. Grund für diese Erhebungen war der enorme Unmut über die erlittene Behandlung und die immer größeren Entbehrungen besonders in der Lebensmittelversorgung, die auch die Soldaten zu erdulden hatten. Diese Revolten waren Ausdruck der Endkrise der Habsburgermonarchie und kaum ideologiepolitisch motiviert. Doch damals befürchtete die politische Führungsriege in Europa, die bolschewistische Revolution könne sich weiter ausbreiten, sodass dieses Aufbegehren hauptsächlich politisch interpretiert wurde. Ähnliche Sorgen bestimmten auch das Verhalten der italienischen Behörden gegenüber den in Russland befindlichen Gefangenen. Hier handelte es sich nicht nur um Männer aus der Irredenta – eine nicht näher bekannte Anzahl von ihnen stammte aus dem Heer des Königreiches Italien. Diese Soldaten waren an der italienischen Front von den Österreichern gefangengenommen und dann in die östlichen Regionen versetzt worden, um als Arbeitskräfte hinter den Kampflinien eingesetzt zu werden. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk befanden sich viele gerade in Galizien oder im ehemals russischen Polen, von wo aus es ihnen unter Ausnutzung der schlechten Kontrolle gelang, Richtung Osten zu flüchten. Dort wurden sie von der italienischen Militärmission beim russischen Oberkommando zusammengeführt, die von General Giovanni Romei Longhena geleitet wurde – dieser war nach Abreise des italienischen Botschafters im März 1918 der einzige Vertreter der römischen Regierung bei der bolschewistischen Regierung, bevor schließlich auch er im August in die Heimat zurückgeschickt wurde. General Romei äußerste sich sehr negativ über die aus der österreichischen Gefangenschaft entkommenen italienischen Soldaten. Seiner Meinung nach handelte es sich um Elemente, die die Militärdisziplin ablehnten und voller revolutionärer Ideen waren104. Er äußerste sogar den Verdacht, dass Österreich sie möglicher102 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Österreich-Ungarn und die Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft im Jahr 1918, in: Österreich in Geschichte und Literatur 41/6 (1997) 385–403. 103 Sondhaus, In the Service 111f.; Marina Rossi, Sergio Ranchi, Proletari del Litorale fra lotte e speranze rivoluzionarie (marzo 1917–novembre 1918), in: Il mito dell’ottobre rosso dal nord-est d’Italia al litorale adriatico, hrsg. von Marcello Flores, in: Qualestoria 16/3 (1988) 9–37, hier 25ff. 104 Biagini, In Russia 132–134.



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weise absichtlich hatte fliehen lassen, um „Elemente, die mit österreichischer und maximalistischer Propaganda infiziert sind, nach Italien zu holen“105. Angesichts ihrer mutmaßlichen Gefährlichkeit schlug das italienische Oberkommando vor, die einberufenen Untertanen des Königreiches Italien, die in Russland ansässig waren, sowie die den Österreichern entkommenen Gefangenen nach Libyen zu verbannen – die italienische Regierung stimmte diesem Vorschlag zu. Sie alle, hieß es, könnten in Zukunft in Italien bloß aufgrund der Tatsache, „lange mit revolutionären Elementen aus Russland in Kontakt gewesen zu sein [...] eine große Gefahr für die Moral des Heeres und des Volkes“ darstellen106. Für das Kriegsministerium lag die beste Lösung darin, die Repatriierung der Untertanen des Königreiches Italien aus dem zivilen wie militärischen Bereich, die aus Russland oder Rumänien kamen, nicht mehr zu erleichtern, „indem man sich auf berechtigte Gründe wie etwa die geringe Tonnage etc. bezieht“. Nur wenige von den bisherigen Heimkehrern hatten sich als gefährlich herausgestellt, doch war es für den Minister äußerst wahrscheinlich, dass unter ihnen „die revolutionäre Idee“ Fuß gefasst haben könnte107. Sonnino und Orlando lehnten das von Zupelli als „radikale Vorsichtsmaßnahme“ bezeichnete Vorgehen ab – der Ministerpräsident betonte, es handle sich um ein Instrument, „das man einsetzen, aber nicht missbrauchen soll, das heißt, es muss schon ein tatsächliches Hindernis vorliegen“108. Diese Aussage scheint auf die Begebenheiten Bezug zu nehmen, welche – neben objektiven Hindernissen, Desorganisation und geringem Interesse der italienischen Institutionen – die Repatriierung zahlreicher Gefangener aus der Irredenta verhindert hatten. Trotz der unterschiedlichen Ansichten bereitete die mögliche Rückkehr jener Gefangener, die aus dem Heer des Königreiches Italien stammten und nach Russland geflüchtet waren, allen Beteiligten große Sorge. Ähnlich besorgt war man über die Gefangenen aus der Irredenta, die nach den ersten Repatriierungsmaßnahmen in Russland geblieben und so Zeugen der Revolutionsaufstände geworden waren. Um sie kümmerte sich ein weiteres Mal Major Manera: Nachdem er die aus Kirsanow aufgebrochenen Italiener nach Fernost geführt und einige von ihnen zum Expeditionskorps eingezogen hatte, wurde er mit der Leitung der italienischen Militärmission betraut, die Gefangene 105 USSME, E-11, Siberia, b. 98, cart. 1, Romei an Oberkommando, 29.5.1918. 106 ACS, PCM, GE, b. 98, fasc. 19/4.6/1 Russia. Prigionieri di guerra italiani internati in Russia, Generalstabschef des Heeres Armando Diaz an Ministerpräsidenten und Kriegsminister, 7.3.1918; Giovanna Procacci, Soldati e prigionieri italiani nella Grande Guerra. Con una raccolta di lettere inedite (Turin 2000) 361–365. 107 ACS, PCM, GE, b. 98, fasc. 19/4.6/1, Zupelli an Orlando, 24.5.1918. 108 Ebd., Orlando an Zupelli, 25.5.1918.

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italienischer Nationalität in Sibirien ausfindig machen sollte109. Manera durchsuchte die zahlreichen sibirischen Gefangenenlager mit seinen Männern nach den vermissten irredenti, also all jenen, die nie mit Vertretern der italienischen Institutionen in Kontakt getreten waren oder ihre Angebote nicht hatten annehmen wollen. In den Anweisungen an seine Offiziere zeichnete Manera ein Bild von den Männern, die gewonnen und überzeugt werden sollten, sich für Italien zu entscheiden. Es handelte sich um Menschen, die am Ende ihrer Kräfte waren, desillusioniert und misstrauisch, die die Auswüchse der Revolution erlebt hatten, aufgrund derer die durch das Leid der Gefangenschaft entstandene „moralische Zersetzung“ immer schlimmer wurde. „Diese Menschen haben gegen Hunger und Elend gekämpft, den Tod häufig aus der Nähe gesehen, betrachten sich moralisch gesehen als verloren, auch ist ihr Nervensystem durch leidvolle Ereignisse erschüttert worden, sodass sie tief in sich eine starke Abneigung gegen die Menschheit und insbesondere die geschaffenen Behörden entwickelt haben“110. Da bereits Russen, Bolschewisten, Tschechen und Serben versucht hätten, sie einzuziehen, würden sie auf jegliche Strategie, der darauf ausgerichtet war, sie schnell unter italienischen Schutz zu stellen, mit Misstrauen reagieren. Man würde sie mit Ruhe und Besonnenheit gewinnen müssen, ihnen zeigen, dass endlich der Kontakt zu ihren Familien hergestellt werden könne, und sie davon überzeugen, dass Italien sie nur aus ihrer Gefangenschaft befreien wolle, ohne eine Gegenleistung dafür einzufordern. Sobald sie dann einwilligen würden, sich unter den Schutz der italienischen Militärmission zu stellen, sollten sie ins Sammellager Wladiwostok gebracht werden, wo sich Ende 1919 dank der Arbeit der zuständigen Offiziere schließlich ganze 2.500 Insassen befanden111. Es war das letzte Mal, dass irredenti auf russischem Boden gesammelt wurden, und die „Ausbeute“ wurde von den italienischen Behörden als eher qualitativ minderwertig eingestuft, sodass eine schnelle Verbringung nach Italien nicht möglich war. Manera selbst betonte energisch den großen Unterschied zwischen den ab 1915 in Kirsanow zusammengeführten und den neuen Gefangenen, die über ganz Sibirien verstreut gewesen waren, die einen in Lagern, die anderen verschiedenen Beschäftigungen nachgehend oder einfach ziellos umherirrend: „Erstere kamen voller Begeisterung und voller Vertrauen in die Geschicke Italiens zu uns, als der Ausgang des Krieges noch ungewiss war; […] sie erbrachten im Namen Italiens jedes Opfer und gingen jede Gefahr ein; […] sie weinten mit 109 Ministero della Guerra – Ufficio storico, L’esercito italiano 36–39. 110 USSME, F-3, b. 271, cart. 4, Anweisungen Maneras zu Suche und Sammeln der redenti („Erlösten“), 1.5.1919, zu finden auch in: Ministero della Guerra – Ufficio storico, L’esercito italiano 211–215. 111 Ebd. 37.



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uns über das Unglück von Caporetto, ohne jedoch das Vertrauen zu verlieren“, und beschlossen dann, bei den Battaglioni neri zu kämpfen. Ganz anders war der Großteil derer eingestellt, die ab 1918 in Sibirien ausfindig gemacht wurden, besonders jener, die nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes vorstellig geworden waren – Manera definierte letztere als die Menge der Feiglinge und Gleichgültigen, die nunmehr von Österreich nichts mehr zu erhoffen oder zu befürchten hatten und glaubten, im eigenen Interesse zu handeln, wenn sie um Italiens Protektion ansuchten, wie sie es bereits zuvor geglaubt hatten, als sie beharrlich unter österreichischer Protektion geblieben waren. […] Diese Menschen kamen ohne Vertrauen, ohne Begeisterung und mit den Keimen der Rebellion, der Disziplinlosigkeit, der Unordnung und des Lasters, mit denen sie sich in Russland infiziert hatten, zu uns112.

Es handelte sich um Personen, die vom nationalen Gesichtspunkt aus als völlig unzuverlässig galten und daher in Sibirien lange in einer Art Quarantäne gehalten und einer schwierigen „Umerziehung“ unterzogen wurden. Manera bereitete die Namenslisten der in Sibirien gesammelten Gefangenen vor, die in zwei Kategorien eingeteilt wurden: auf der einen Seite die wenigen „besseren Elemente“, die sofort nach Italien verbracht werden konnten, auf der anderen Seite die Mehrheit aus „jenen, für die zwecks Vollendung der moralischen Erneuerung, die unsere Mission zu ihren Gunsten vornimmt, ein längerer Aufenthalt erforderlich ist“113. Abermals wurde das Versprechen auf eine rasche und bedingungslose Repatriierung gegenüber den Gefangenen nicht erfüllt, sondern es kam stattdessen zu einer Zwangsmilitarisierung. Manera wurde mit ihrer militärischen Einteilung betraut und gründete zu diesem Zweck die Legione Redenti in Siberia mit den „Erlösten“ (redenti) aus den ehemals „unerlösten“ Gebieten – ein wenig mit dem Hintergedanken, diese als Unterstützung des in Krasnojarsk stationierten Expeditionskorps einzusetzen. Tatsächlich kam es jedoch nie dazu, und die neue Militärformation wurde ausschließlich mit Gebietsüberwachungsaufgaben betraut (Militäreinrichtungen, Eisenbahnlinien). Die Legione Redenti wurde in acht Kompanien eingeteilt, hinzu kam noch eine sogenannte Kriegsgefangenenabteilung, der all jene angehörten, die sich weigerten, um die italienische Staatsbürgerschaft anzusuchen – weil sie befürchteten, wieder kämpfen zu müssen, weil sie nicht glauben konnten, dass der Krieg 112 ASMAE, AG, b. 367, fasc. 72, sf. 87 Rimpatrio prigionieri irredenti in Russia, Bericht Maneras an das Kriegsministerium und das Oberkommando, 1.9.1919. 113 ACS, PCM, UCNP, b. 141, fasc. 103 Prigionieri di guerra raccolti dalla Missione Militare Italiana in Russia, Manera an SGAC, 15.5.1919.

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wirklich zu Ende war und ihre Heimatorte nun italienisch waren, oder weil sie sich noch durch ihren dereinst für Österreich geleisteten Eid gebunden fühlten. Neben den Soldaten und Gefangenen stand die Mehrheit der einfachen redenti, also all jener, die um die Staatsbürgerschaft ersucht hatten, aber nicht eingezogen werden wollten. Manera versuchte, die Zahl der eingezogenen Soldaten schrittweise zu erhöhen und vor allem die Zahl der Gefangenen zu reduzieren, indem er ihnen eine bessere Behandlung sowie eine vorzeitige Repatriierung versprach. Tatsächlich konnten einige Mitglieder der Legione Redenti bereits im Sommer 1919 aufbrechen, während die übrigen 2.200 Mann erst im Februar 1920 eingeschifft wurden (zur gleichen Zeit, als das „Expeditionskorps in Fernost“ aus dem Fernen Osten zurückkehrte)114. Nach der langen Arbeit der „moralischen Erneuerung“ kehrte auch Manera nach Italien zurück, bereit, die Ergebnisse seiner Arbeit in Worten zu beschreiben, die fast an ein Wunder gemahnten. Offensichtlich verbargen sich im Gemüt dieser so schlechten Elemente – „wenn auch bloß latent vorhanden“ – „die großartigen Tugenden unserer Rasse“, sodass Menschen repatriiert werden konnten, die „in das zivile Leben unserer Gesellschaft Sinn für Disziplin, Arbeitstreue und Liebe zur neuen Heimat“ hineinbringen würden, wodurch „ein nicht zu verachtendes Element der Ordnung“ geschaffen werde115. 4. Zwanzig Jahre Rückkehr Von allen Italienern im Krieg kehrten die in Fernost gelandeten irredenti, die sich den aus Rom entsandten Militärbehörden anvertraut hatten, als letzte in ihre Heimatorte zurück. Die Gefangenen aus dem Heer des Königreiches Italien, die sich zu Kriegsende in den Lagern Österreich-Ungarns befanden, wurden dagegen sofort freigelassen und stürmten bereits im November 1918 die Grenzposten an der italienischen Grenze. Etwas länger hatten sich die Gefangenen in Deutschland und auf dem Balkan gedulden müssen116. Zuerst waren auch jene tausende von Männern heimgekehrt, die unter österreichischer Fahne gekämpft und sich dann, als sie in Russland von der Revolution überrascht worden waren, die nach dem Frieden von Brest-Litowsk zwischen Österreich-Ungarn und den Bolschewisten getroffenen Abkommen über den Gefangenenaustausch zunutze gemacht hatten. Vor Ausbruch des Bürgerkrieges wurden viele dank des 114 Ebd., Listen der Repatriierten mit Spezifizierung ihres Status (soldati – Soldaten – oder redenti). 115 ACS, PCM, UCNP, b. 142, fasc. 102 Rimpatrio dalla Russia di prigionieri di guerra a.u. appartenenti ai territori occupati dall’Italia, Bericht Maneras an UCNP, 26.8.1920. 116 Procacci, Soldati 352–359.



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Engagements des Roten Kreuzes repatriiert. Zahlreiche Gefangene machten sich außerdem eigenmächtig auf den Weg Richtung Westen und kehrten ohne institutionelle Intervention nach Hause zurück. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Italienischsprachige über organisierte Transporte oder allein und nach und nach auf dem Landweg gen Westen aufbrachen, es waren aber zweifelsohne mehr als die wenigen tausend, die nach Kriegsende über die Transporte der italienischen Militärmission heimkehrten. In den ersten Monaten nach dem Waffenstillstand vom 4. November war Italien absolut nicht an ihrer Repatriierung beteiligt. Zum Zeitpunkt ihres Aufbruches aus Russland erhielten die österreichischen Italiener keinerlei Unterstützung in Form von Nahrungsmitteln oder Geld, weil Italien im Gegensatz zu anderen Ländern noch keine Hilfsmittel bereitgestellt hatte 117. Später einigte sich die italienische Regierung mit dem Internationalen Roten Kreuz darauf, einen Teil der Transportkosten dieser Männer zurückzuerstatten, denn diese stammten aus den Gebieten, die mit dem im September 1919 abgeschlossenen Vertrag von Saint-Germain an Italien gefallen waren, sodass sie nunmehr als Italiener angesehen werden konnten118. Am Ende der langen Reise durch Mittel- und Osteuropa kamen sie für gewöhnlich in Passau oder Stettin an, wo sie jedoch lange Zeit von keinem italienischen Beauftragten in Empfang genommen wurden, anders als die Österreicher, die unterstützt und mit Essen versorgt wurden. Die Gefangenen aus den sogenannten „neuen Provinzen“ fanden sich somit „in einer erniedrigenden Situation der Minderwertigkeit gegenüber den anderen“ wieder und hatten „den leidvollen Eindruck, von ihrer neuen Heimat im Stich gelassen zu werden“119. Erst im Oktober 1921 wurde in Stettin aus humanitären Gründen sowie „aus Erwägungen nationaler Würde und politischer Angemessenheit“ eine Sammelstelle für die aus Russland kommenden Gefangenen eingerichtet120. Ebenso ihrem Schicksal überlassen fühlten sich die Gefangenen, die dem Heer des Königreiches Italien angehörten und aus Österreich und Deutschland heim117 Bellezza, Tornare in Italia 91–94. 118 ACS, PCM, UCNP, b. 142, fasc. 101 Rimpatrio prigionieri dalla Russia, Außenministerium an UCNP, 20.5.1922. 119 ACS, PCM, UCNP, b. 142, fasc. 94 Stettino. Porto di soccorso per ex militari prigionieri di guerra rimpatrianti dalla Russia, der zivile Generalkommissar für Tridentinisch Venetien [damalige Bezeichnung für die südlich des Brenners gelegenen Teile Tirols, Anm. d. Ü.], Luigi Credaro, an Kriegsministerium und Außenministerium, 30.7.1921. 120 Kriegsministerium (Ministero della Guerra), Ex prigionieri di guerra italiani dati per dispersi o morti. Relazione sull’azione svolta per le ricerche all’estero e sui mezzi tuttora occorrenti per accelerare la soluzione del complesso problema (Rom 1922) 7, zu finden in: ACS, PCM, GE, b. 168 bis, fasc. 19.19/5 Ricerche all’estero di militari italiani dispersi in guerra. Zwischen 1920 und 1921 wurden insgesamt 1.260 Kriegsgefangene aus Russland über Stettin repatriiert.

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kehrt waren: An der italienischen Grenze erwartete sie keinerlei materielle Unterstützung, sondern nur jene Erniedrigung, die allen zuteilwurde, die offen als Deserteure betrachtet wurden. Alle – alte und neue Italiener – kamen in eigene Sammellager und wurden dort Verhören unterzogen, um den Standpunkt jedes einzelnen Gefangenen zu klären – wer von ihnen als verdächtig oder gefährlich galt, wurde zwecks strafrechtlicher Verfolgung isoliert. Die im November 1918 in Massen eingetroffenen Gefangenen aus dem italienischen Heer verließen die Lager bis Mitte Jänner 1919121, während die oft auch später eintreffenden irredenti in vielen Fällen länger interniert wurden, ganz besonders die Berufsoffiziere und -unteroffiziere, die ehemaligen österreichischen Gendarmen sowie natürlich die „Verdächtigen“122. Allein die Tatsache, dass sie aus dem Russland der Revolution kamen, war schon ein erschwerender Umstand – dieser traf auf die italienischsprachigen Gefangenen aus Österreich allerdings nicht zu. Im Jänner 1919 führte Minister Zupelli aus, dass die aus der österreichischen Gefangenschaft geflohenen und aus Russland kommenden Gefangenen „alle ohne Ausnahme im Sinne der politischen Angemessenheit auf der Asinara“ vor Sardinien zusammengeführt wurden – dasselbe Schicksal, so der Minister weiter, sollte 700 aus der Irredenta stammenden Gefangenen zuteilwerden, die soeben von Odessa nach Ancona gebracht worden und dort von Bord gegangen waren. Unter welcher Fahne sie auch immer gekämpft hatten, alle, die mit dem „Keim des Bolschewismus“ infiziert waren, bedurften besonderer Isolierungsmaßnahmen123. Maßnahmen mit strafendem Charakter wurden auch gegen die anderssprachigen Soldaten aus den besetzten Gebieten verhängt – also Slowenen und Kroaten aus Julisch Venetien und Dalmatien sowie Deutsche aus Südtirol, die verdächtigt wurden, von vornherein gegen die italienische Nation zu sein. Im Hinblick auf eine mögliche Gewährung einer unbegrenzten Anzahl landwirtschaftlicher Lizenzen für ehemalige Soldaten des österreichisch-ungarischen Heeres, um deren Heimkehr zu ermöglichen, forderte das Oberkommando in einem Rundschreiben zu großzügigen Begünstigungsmaßnahmen „gegenüber Elementen italienischer Nationalität“ auf, „während gegenüber Elementen anderer Nationalitäten äußerste Strenge zu walten ist“124. 121 Procacci, Soldati 384f. 122 ACS, PCM, GE, b. 169, fasc. 19.19.6/13 Internati. 123 ACS, PCM, GE, b. 169, fasc. 19.19.6/19 Prigionieri nemici di nazionalità italiana. Trattamento, Zupelli an PCM und Innenministerium, 9.1.1919. Luciana Palla, Il Trentino orientale e la Grande Guerra. Combattenti, internati, profughi di Valsugana, Primiero e Tesino (1914–1920) (Trient 1994) 365f.; dies., Reduci trentini prigionieri ad Isernia (1918–1920) (Seren del Grappa [BL] 2015); Lodovico Tavernini, Prigionieri austro-ungarici nei campi di concentramento italia­­ni 1915–1920, in: Annali Museo storico italiano della guerra IX–X–XI 2001–2003 57–81. 124 ACS, MG, CS, SGAC, b. 774, fasc. 116, Rundschreiben des Oberkommandos, 5.12.1918.



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Mit Antritt der Regierung Nitti im Juni 1919 wurde endlich mit einer entschiedenen militärischen Demobilisierung sowie der Übertragung zahlreicher ehemals bei den Streitkräften liegender Kompetenzen an die politischen Organe begonnen. In diesem Zusammenhang wurden die Zivilbehörden in einem vom Ministerpräsidenten unterzeichneten, im August 1919 verfassten Rundschreiben aufgefordert, die Heimkehr sämtlicher Personen zu fördern, die zu Beginn der italienischen Besatzungszeit evakuiert worden waren und auf denen keine Anschuldigungen besonders schwerwiegender Natur lasteten. Oft kannten die zivilen Generalkommissare, von denen die „neuen Provinzen“ provisorisch regiert wurden, die Gründe für die Internierungen gar nicht, weil sie keinen Zugang zu den seinerzeit durch das Militär erstellten Akten hatten125. Diese die Zivilbevölkerung betreffende Maßnahme ging mit einer wohlwollenderen Haltung gegenüber den ehemaligen österreichischen Soldaten einher, welche nach und nach zu deren Befreiung führte. Nach der Rückkehr Maneras und seiner Männer im April 1920 waren seit den ersten Schiffstransporten 1916 insgesamt etwa 10.000 Gefangene nach Italien verbracht worden126. Man wusste jedoch, dass nicht alle italienischsprachigen Männer heimgebracht worden waren. Besonders aus dem Trentino wurden schwere Vorwürfe gegen die Regierung laut – dort war man der Ansicht, dass deren Bemühungen bei der Suche nach den vermissten Gefangenen nicht ausreichend gewesen seien. Die Kombattantenvereine, die auch die Behandlung der Rückkehrer kritisch sahen, forderten mit Nachdruck und durchaus streitbar die Organisation einer neuen Militärmission, die nach Russland entsandt werden sollte. Die entsprechende Unterstützungsstelle für die Kämpfer in Trient (Ufficio provinciale d’assistenza per i combattenti di Trento) war allerdings der Ansicht, dass nicht ein weiteres Mal das Militär damit betraut werden sollte, dessen vergangenes Handeln äußerst kritisch beurteilt wurde. Ihm wurde vorgeworfen, schlecht gearbeitet und die Rückkehr der Soldaten hinausgezögert zu haben, denn diese sei durch sein Handeln behindert worden und nicht, „wie man versucht zu behaupten, durch höhere Gewalt“. Für die Vereinigung stand fest: Eine Mission, die wirklich arbeiten möchte, hätte innerhalb weniger Monate nach ihrer Ankunft in Russland wesentlich mehr redenti nach Italien bringen können, während die Militärmission die Dinge nur hinausgezögert und so das Schicksal sehr vieler unserer Gefangener, die sich dort befanden, gefährdet hat127. 125 ACS, PCM, UCNP, b. 138, fasc. Norme generali e circolare 25 agosto 1919 n. 1078-101. 126 ACS, PCM, UCNP, b. 141, fasc. 55 Missione civile per il rimpatrio di prigionieri dalla Russia. Finanziamento, Salata an Credaro, 6.11.1920. 127 Ebd., Bruno Bonfioli, zuständiger Rat (consigliere delegato) des Ufficio provinciale d’assistenza per

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Dieses Urteil war bis zu einem gewissen Grad zutreffend und stand im Widerspruch zu den heroisierenden Schilderungen der Tätigkeit Maneras und seines Vorgängers Bassignano, die von da an auf großes Echo stoßen sollte. Wie bereits erwähnt, war das eingeschränkte Handeln der Mission jedoch weniger auf ihren militärischen Charakter zurückzuführen, sondern eher auf die durch die Regierungsspitzen diktierte Ausrichtung. Auf jeden Fall entschied man sich für einen weiteren Einsatz des Militärs und auch Maneras, da sie als einzige für geeignet erachtet wurden, die hunderten irredenti, die sich noch in Russland befanden und „oft fast verwildert wirkten“, zu sammeln und anzuführen128. So wurden Manera und sieben Offiziere im Oktober 1920 nach Tiflis in Georgien entsandt, wo Nationalisten und Menschewiki einen von Moskau unabhängigen Staat gegründet hatten. Ihr Ziel war es, nach Turkestan zu gelangen – auf diese Region sollte die neue Mission ihre Nachforschungen konzentrieren, denn gemäß vergangenen Meldungen war der Großteil der 4.000 Italiener, die sich laut Schätzungen noch in Russland befanden, dort verblieben129. Manera wurde auf äußerst diskrete Weise vom Außenministerium mit der Aufgabe betraut, sämtliche in den von ihm besuchten Ländern erlangten politischen Informationen weiterzuleiten, hatte also parallel noch einen Informationsauftrag, wie von den Sowjets befürchtet und offiziell von Rom dementiert worden war130. Manera erfüllte den Auftrag und schickte Berichte ans Außenministerium, in denen er von großen Unterstützungsaktionen für die antibolschewistischen Kräfte träumte, denen man von italienischer Seite zu Hilfe kommen sollte, da sie seiner Meinung nach den Sieg davontragen würden. Er rechnete damit, seine eigenen Männer bald in den gesamten kaukasischen Raum verbringen zu können, damit sie dort „unter dem Vorwand, den Kriegsgefangenen zu helfen“, ganz im Sinne der nationalen Interessen philanthropisch tätig werden konnten131. Abermals waren die Schicksale der Gefangenen und die Repatriierungspläne letztlich mit Fragen von wesentlich größerer Tragweite verbunden. Man rechnete damit, dass zumindest um die tausend Gefangene deutschsprachige Südtiroler waren, die nun als italienische Staatsbürger anzusehen waren, nachdem der Brenner durch den Vertrag von Saint-Germain endgültig als Grenze zwischen Italien und Österreich festgelegt worden war. Viele von ihnen wussten nicht über die neue Situation nach dem Friedensschluss und auch nicht i combattenti di Trento an Außenministerium, 30.9.1919. 128 Ebd., Salata an Credaro, 6.11.1920. 129 ACS, PCM, UCNP, b. 142, fasc. 101, undatierte Notiz. 130 Ebd., Außenministerium an PCM, 11.7.1920; ASMAE, AG, b. 366, fasc. 72, sf. 82 Missione Manera nel Turchestan, UCNP an Außenministerium, 17.7.1920. 131 Ebd., Manera an Außenministerium, 28.1.1921.



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über die Tatsache Bescheid, dass sie durch den Vertrag automatisch zu italienischen Staatsbürgern geworden waren. Es galt, an sie heranzutreten und ihnen zu erklären, dass Italien nicht mehr der Feind war, den sie einst so beharrlich bekämpft hatten. Ein Gelingen ihres Rücktransportes hätte einen bedeutenden propagandistischen Erfolg und in weiterer Folge eine Annäherung dieser völlig gegen den Souveränitätswechsel eingestellten Bevölkerung an die Regierung in Rom bedeutet. Die Tatsache, dass viele durch Intervention der österreichischen Behörden heimkehrten, schwächte das Bild, das die neuen Staatsbürger vom italienischen Staat hatten, und stärkte gleichzeitig die großdeutsche Propaganda südlich des Brenners132. Die Manera-Mission vermochte dagegen äußerst wenig auszurichten. Sie wurde an der Grenze zu Turkestan aufgehalten, wo ihnen der Grenzübertritt durch die russischen Behörden verwehrt wurde, und dann bereits im März 1921, als erst 161 Mann nach Italien gebracht worden waren und der Einmarsch der Roten Armee in Georgien dessen Unabhängigkeit ein Ende bereitet hatte, nach Italien zurückgeschickt133. Das Scheitern der Expedition ließ die Kritik und die Forderungen nach einer vom Kombattantenwesen und dem italienischen Roten Kreuz organisierten Zivilmission lauter werden. Zwischen 1921 und 1922 wurde lange darüber diskutiert, doch die Mission konkretisierte sich aus zwei Gründen nicht: einerseits wegen der schwierigen diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und dem bolschewistischen Russland, andererseits auch, weil das Finanzministerium nicht bereit war, „unter den aktuell äußerst schwierigen Haushaltsbedingungen“134 die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen, und weil das Außenministerium zögerte, einer von privaten Organisationen kontrollierten Mission einen offiziellen Charakter zuzuerkennen135. Im November 1922 wurden die Verhandlungen durch den neuen Ministerpräsidenten Benito Mussolini beendet, der die Ausgaben für eine Mission, die nur einige hundert Gefangene repatriieren sollte, für nicht gerechtfertigt hielt136. Doch genau in den Tagen, in denen Mussolini 132 ASMAE, AG, b. 367, fasc. 72, sf. 86 Rimpatrio prigionieri ex irredenti dalla Russia. Rimborso spese, Bonfioli an Salata, 15.9.1921. 133 ACS, PCM, UCNP, b. 142, fasc. 101, Manera an UCNP, 24.7.1921; Graziosi, L’Urss 145. 134 ACS, PCM, UCNP, b. 141, fasc. 55, Finanzminister an UCNP, 10.8.1921. 135 Dazu wurde in der italienischen Abgeordnetenkammer (Camera dei deputati) im Dezember 1921 eine interessante und sorgfältige Parlamentsdebatte geführt, nachzulesen in: Camera dei Deputati, Atti parlamentari. Discussioni. Legislatura XXVI (Rom 1921), Sitzung vom 19. Dezember 1921 2681–2711. 136 Alessandro Salvador, Considerazioni sul rimpatrio e la smobilitazione dei soldati austro-ungarici di nazionalità italiana nel primo dopoguerra, in: La Grande Guerra ai confini: italiani d’Austria e comunità di frontiera 1914–18, hrsg. von Marco Mondini, Fabio Todero, in: Qualestoria 42/1–2 (2014) 59–75, hier 66–70.

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der Aussicht auf Entsendung einer neuen Mission ein Ende setzte, wurde in den Zeitungen von Italienern berichtet, die auf abenteuerliche Weise aus Russland heimgekehrt waren, wo sich laut ihren Berichten noch tausende Italiener befanden, die schlimmste Strapazen ertragen mussten, nicht genug zu essen hatten und von Cholera und Typhus dahingerafft wurden. Das hatte unter anderem Alessandro Colman aus Fiume berichtet, der 1922 aus der Don-Region nach Triest heimgekehrt war: Seiner Schilderung nach waren dort 20.000 Italiener völlig sich selbst überlassen und vom Rest der Welt abgeschnitten137. Die entsprechenden italienischen Militärmissionen, so Colman, seien durch Falschinformationen der russischen Behörden getäuscht worden und daher über diese Italiener nicht unterrichtet gewesen. Diese Nachrichten, die von den Regierungsbehörden nur trocken dementiert wurden138, ließen bei den Angehörigen der Vermissten wieder Hoffnung aufkommen, denn sie waren ohne jede Nachricht über das Schicksal ihrer Lieben und weigerten sich daher, sie für tot zu halten. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurden immer mehr Bittgesuche von Ausschüssen, Vereinen und einzelnen Angehörigen an die zuständigen Behörden geschickt, in denen um Nachforschungen und Klärung ersucht wurde. Wenn aus den fernen, unbekannten Weiten Russlands unerwartet ein totgeglaubter Soldat wiederauftauchte, häuften sich die vehementen Forderungen nach neuen Erkundungsexpeditionen. Einer der totgeglaubten Rückkehrer war Anselmo Fiamozzi aus Mezzocorona bei Trient. Seine Familie hatte seit 1917 nichts von ihm gehört, als er 1924 plötzlich einen Brief nach Hause schrieb, um Hilfe ersuchte und seine Angehörigen bat, ihn heimzuholen. „Ich bin seit zehn Jahren in Gefangenschaft“, so Fiamozzi an die italienische Botschaft Moskau, wo er um Unterstützung für seine Repatriierung bat und vielleicht tatsächlich glaubte, so lange seiner Freiheit beraubt worden zu sein. Im Jahr darauf brach er nach Intervention der italienischen Behörden mit der Bahn über die Strecke Warschau–Wien–Brenner nach Mezzocorona auf139. Die Rückkehr Fiamozzis und weiterer ehemaliger Gefangener erfolgte in einem Umfeld, das sich durch fast freundschaftliche diplomatische Beziehungen zwischen Sowjetrussland und dem faschistischen Italien auszeichnete – letzteres hatte die von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Nitti begonnene Politik der Öffnung gegenüber Moskau fortgesetzt. 1923 war der neue Staat offiziell anerkannt worden, in weiterer Folge wurde das konsularische Netz Italiens in der So-

137 Ventimila italiani ancora prigionieri in Russia?, in: Il Mattino 30.11.1922. 138 ACS, PCM, GE, b. 207, fasc. 19.29.9 Rintraccio di militari dispersi. Istanze varie, Außenministerium an PCM, 7.2.1923. 139 ASMAE, Russia, b. 68, fasc. 1 Prigionieri di guerra e cittadini italiani (ricerche e rimpatri).



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wjetunion wiederhergestellt140. Die russischen Behörden verhielten sich äußerst kooperativ, indem sie die bürokratischen Praktiken erleichterten, die für die Expatriierung jener nun mehr zu Italienern gewordenen Soldaten notwendig waren. Dank der guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern konnte Italien sogar im Mai 1925 einen ehemaligen Soldaten des 97. Regimentes heimholen, nämlich den aus Idria (dem heutigen Idrija) stammenden Giuseppe Horvat, der 1919 zum Tod durch Erschießen verurteilt worden war, weil er an der Seite der „Weißen“ gekämpft hatte. Nach seiner Flucht und einer weiteren Gefangennahme zwischen 1923 und 1924 war er schließlich bereits als italienischer Staatsbürger zu betrachten. Trotz der Bestätigung seines Todesurteils wurde Horvat wahrscheinlich im Zuge eines Gefangenenaustausches unter strenger Geheimhaltung auf einem Dampfer des Triestiner Lloyd nach Italien gebracht141. In Italien jedoch versetzten die wilden und jeglicher Grundlage entbehrenden Gerüchte, dass sich tausende Gefangene in Asien befänden, die ohnehin mit antikommunistischer Propaganda überhäufte Öffentlichkeit weiterhin regelmäßig in helle Aufregung. Am 1. Jänner 1925 berichtete die Triestiner Tageszeitung „Il Piccolo“ von „sensationellen Enthüllungen“ eines nach Italien zurückgekehrten Gefangenen, der von 50.000 österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen sprach, die von den Russen als Sklaven an die Chinesen der Mandschurei verkauft und wie Arbeitstiere vor den Pflug gespannt worden seien – neue Leibeigene, die „unter der Tyrannei der Gelben“ zu unsagbaren Qualen gezwungen worden seien142. Noch bezeichnender als die Hysterie der Öffentlichkeit und der Medien in der Vermisstenthematik ist die zwei Monate später veröffentlichte Meldung, zwölf Gefangene aus der Provinz Udine seien nach Jahren der Isolation in Sibirien in einem solch erbärmlichen Zustand nach Italien gekommen, dass man sie unverzüglich in eine Irrenanstalt habe einweisen müssen. Tatsächlich handelte es sich um psychisch kranke Görzer, die während des Krieges vertrieben worden waren und schließlich in die Region zurückkehrten143. Um den Unmengen an unkontrollierbaren Gerüchten und dem besonders von Trentiner Seite kommenden Drängen auf eine neue Suchexpedition ein Ende zu machen, unterstützte das Außenministerium eine entsprechende Mission, organisiert von der Associazione reduci dalla Russia (Vereinigung der Russland-Heim140 Enrico Serra, Nitti e la Russia (Bari 1975); Petracchi, La Russia; Elena Dundovich, Bandiera rossa trionferà? L’Italia, la Rivoluzione di Ottobre e i rapporti con Mosca 1917–1927 (Mailand 2017). 141 Giorgio Fabre, Lo scambio. Come Gramsci non fu liberato (Palermo 2015) 131ff. 142 50 mila prigionieri di guerra venduti come schiavi alla Cina, in: Il Piccolo 1.1.1925. 143 Triste ritorno di soldati italiani dopo dieci anni di prigionia in Siberia, in: La Nazione 15. –16.3.1925. Die Widerrufe der oben erwähnten Meldungen befinden sich in: ASMAE, Russia, b. 68, fasc. 1.

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kehrer) mit Sitz in Trient. Durchgeführt wurde die Mission vom ehemaligen Kriegsgefangenen Attilio Arlanch, der zwischen 1925 und 1926 zweimal nach Russland aufbrach, zuerst in die Provinzen südöstlich der Hauptstadt (in jenem Gebiet, wo sich einst das Lager Kirsanow befunden hatte), dann ins Uralgebirge und nach Sibirien144. In seinen während und nach der Mission verfassten Berichten dementierte Arlanch die Gerüchte, in denen von tausenden Gefangenen die Rede war, die, so hieß es, nach wie vor in Russland waren und entweder nicht zurückkehren konnten oder dort überhaupt gefangen gehalten wurden. Er erinnerte an die tausenden Toten, die vor der Revolution in den Gefangenenlagern an Epidemien gestorben und ohne jede Registrierung in Massengräbern beerdigt worden waren. Weiters verwies er auf das Schicksal all jener, die später ebenso zahlreich auf ihren verzweifelten Reisen nach Westen durch Unfälle oder an Hunger und Krankheiten verstarben, schließlich auch jener, die im Bürgerkrieg umgekommen waren, vielleicht sogar im Kampf für eine der Kriegsparteien. Von allen fehlte auf den Friedhöfen oder in den Totenbüchern jede Spur, was bei den Angehörigen Hoffnung weckte. Laut Arlanchs Berechnungen befanden sich im Gebiet vom Ural bis nach Sibirien nach wie vor 55.000 ehemalige Gefangene, doch waren sehr wenige von ihnen Italiener, und wenn sie nicht heimkehrten, war es ihre freie Entscheidung. Viele hatten eine neue Familie in Russland gegründet, obwohl sie vor dem Krieg bereits verheiratet gewesen waren, und wussten nun nicht, wie sie sich verhalten sollten. Andere nahmen sich Zeit und erklärten, noch ihren Besitz auflösen zu wollen, bevor sie sich aufmachten, wieder andere flohen quasi vor den Kontaktpersonen der italienischen Mission, weil sie befürchteten, womöglich diverse Verpflichtungen aufgebürdet zu bekommen. Einige hatten anscheinend Angst, in ein Umfeld zurückzukehren, das sie inzwischen gar nicht mehr kannten – wie jener Gefangene, der Arlanchs Angebot trotz schwieriger Lebensumstände ablehnte: „Es schien ihm ein zu großer Schritt, nach zehn Jahren in Sibirien nach Italien zurückzukehren“145. Einige der Gefangenen nahmen die Einladung der Mission an und kehrten heim, doch Arlanchs Berichte versetzten den Hoffnungen der Angehörigen jener, die noch vermisst wurden, einen beträchtlichen Dämpfer – sie mussten sich letztlich mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Lieben möglicherweise tot waren. Dennoch kehrten auch wesentlich später noch einige zurück, was zumeist den mittlerweile unerträglichen Lebensbedingungen in Russland geschuldet war. Zwischen 1929 und 1932 führte das Sowjetregime über Maßnahmen der 144 Antonelli, I dimenticati 242–245; Francescotti, Italianski 132–134. 145 ASMAE, Russia, b. 83, fasc. 2 Ricerche e rimpatri di ex prigionieri ed internati, Bericht Arlanchs, 10.9.1926. Außerdem sei auf die Berichte vom 5.1.1926 sowie vom 30.8.1926 im selben Faszikel verwiesen.



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Zwangskollektivierung, der Entkulakisierung und des Ablieferungszwanges einen großen Krieg gegen die Bauern, der zu einer erschreckenden Hungersnot in der Ukraine und im Nordkaukasus führte, die Millionen Hungertote forderte und im Zuge derer es sogar zu Fällen von Kannibalismus kam146. In den nächsten Jahren waren noch andere „Kornkammern“ der Sowjetunion von der Hungersnot betroffen, sodass Hunderttausende in die Nachbarländer oder noch weiter weg flohen. Auch einige Italiener, die für Österreich-Ungarn gekämpft hatten, versuchten zu entkommen – sie wurden bei den italienischen Konsularbehörden vorstellig und baten um Repatriierung. Im Februar 1930 präsentierte sich einer von ihnen in der italienischen Botschaft in Moskau und berichtete, nach der Teilnahme an einem Bauernaufstand, der brutal mit Massenhinrichtungen niedergeschlagen worden war, aus Rjasan in Westrussland geflohen zu sein. Zwei Jahre später kam ein weiterer Italiener, der früher Untertan der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen war und sich unweit der mongolischen Grenze in Sibirien niedergelassen hatte, mit einem Brot zur Botschaft, das aus Birkenrinde, Kleie und Flechten bestand und für 25 Rubel pro Kilogramm verkauft wurde – es verursachte schlimme Magenbeschwerden, war aber das einzige Nahrungsmittel, an das diese Bauern gelangten147. 1930 wurde Angelo Goss aus Aquileia in der Botschaft vorstellig, und die Beamten waren von seinem Anblick erschüttert: völlig verarmt, in Lumpen gehüllt und nur mehr Haut und Knochen148. Einige ehemalige Gefangene machten sich sogar gemeinsam mit ihrer in Russland gegründeten Familie in die Heimat auf, so auch Giuseppe Fonzar, der im Jänner 1935 in Begleitung seiner Frau und seiner fünf Kinder nach Cavenzano im Friaul zurückkehrte – allesamt sowjetische Staatsbürger, die keinerlei Schwierigkeiten hatten, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten149. In der Hoffnung, aus der Ukraine zu entkommen, meldete sich 1934 auch ein ehemaliger Soldat aus dem Heer des Königreiches Italien, Serafino Milani aus der Provinz Rovigo. Milani war im Juli 1916 gefangengenommen worden, dann ins Gefangenenlager Mauthausen gekommen und von dort Richtung Osten geflohen. Schließlich ließ er sich in einem 200 Kilometer von Odessa entfernten ukrainischen Dorf als Bauer nieder und blieb dort ganze 17 Jahre. Als er beim Konsulat in Odessa vorstellig wurde, sprach er fast nur Russisch und erweckte den Eindruck, sein Gedächtnis fast komplett verloren zu haben, ja sogar „ein we146 Lettere da Kharkov. La carestia in Ucraina e nel Caucaso del Nord nei rapporti dei diplomatici italiani, 1932–33, hrsg. von Andrea Graziosi (Turin 1991). 147 Ebd. 72f., 119. 148 ASMAE, Russia, b. 120, fasc. 4 Ex prigionieri di guerra e rimpatri, Notiz der Botschaft, 28.2.1930. 149 ASMAE, Russia, b. 180, fasc. 3 Ex prigionieri di guerra e rimpatri; Un exirredento che torna dalla Russia dopo vent’anni di prigionia e di pene, in: Corriere della Sera 5.1.1935 2.

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nig schwachsinnig“ zu sein, „ohne Zweifel aufgrund seines äußerst entbehrungsreichen Lebens“150. Nach seiner Identifizierung und der Bestätigung durch die ungläubigen Angehörigen wurde Serafini im November 1935 nach einem Aufenthalt im italienischen Konsulat, im Zuge dessen er sich erholt und seinen normalen Geisteszustand wiedererlangt hatte, nach Italien zurückgebracht. Ebenfalls in einem erbärmlichen Zustand war 1933 auch Bortolo Polla aus Caldonazzo – er befand sich seit 1915 in Russland und hatte jeden Briefkontakt zu seinen Angehörigen im Trentino abgebrochen. Er hatte eine Frau gefunden, mit ihr zwei Kinder bekommen, und es war ihm gelungen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Dann hatte sich die Lage jedoch drastisch geändert: Seine Kinder waren gestorben, er war an Malaria erkrankt und befand sich körperlich wie mental in keinem guten Zustand, sodass er beschloss, zur italienischen Botschaft zu gehen und um Hilfe zu ersuchen. 1934 wurde ihm der Schiffstransport nach Italien auf Regierungskosten zwar gewährt, doch er musste vorher einer Erklärung unterzeichnen, in der er sich zur Rückerstattung der Kosten an die Staatskasse verpflichtete – solange der Betrag nicht vollständig beglichen war, würde über ihn ein Ausreiseverbot verhängt151. Dank der Archivmaterialen kommen solche und andere Schicksale ans Licht – es sind quasi Epiloge einer Geschichte, die zwanzig Jahre zuvor begonnenen hatte. Bis mindestens Mitte der 1930er Jahre tauchten immer wieder einzelne österreichisch-ungarische Soldaten unerwartet aus den so fernen Weiten der Sowjetunion auf. Einige kehrten allein oder mit einer neuen Familie nach Hause zurück, sodass ihr Name vom Gedenkstein für die Gefallenen auf dem Friedhof ihres jeweiligen Heimatortes entfernt werden musste152. Andere wiederum schrieben zwar immer wieder an die italienische Botschaft oder die italienischen Konsulate, tauchten letztlich jedoch mehr oder weniger freiwillig unter, denn sie schoben ihre Rückreise ständig auf und traten sie dann nie an. Ihre Wege sollten sich schließlich mit denen anderer Italiener kreuzen, die wiederum noch einige Jahre später im Zuge eines weiteren Krieges nach Russland kommen sollten.

150 ASMAE, Russia, b. 207, fasc. 3 Ex prigionieri di guerra (rimpatri), Konsul in Odessa an Außenministerium, 16.2.1937. 151 ASMAE, Russia, b. 169, fasc. 2 Ex prigionieri di guerra e rimpatri. 152 So etwa im Fall von Giuseppe Gelbmann, der 1931 nach Malborghetto in der Nähe von Udine zurückkehrte. Vgl. ASMAE, Russia, b. 180, fasc. 3. Seine Geschichte wird auch im Artikel Il “redivivo” di Malborghetto tornato alla domestica intimità, in: Corriere della Sera 27.12.1931 2, erzählt.



Schlussbemerkung Die Kriegserfahrung der für Österreich kämpfenden italienischsprachigen Soldaten ist im Bereich zwischen regionaler Geschichte und Weltgeschichte anzusiedeln. Sie beginnt in den Peripherieregionen der Habsburgermonarchie, wo die Soldaten geboren und aufgewachsen waren. Doch schon bald spielt sich alles vor einer anderen Kulisse ab: an den Grenzen des Kaiserreiches, im zaristischen und bolschewistischen Russland, in China und in Sibirien, Schauplatz der Militäraktionen der Westmächte gegen die Sowjetregierung, und somit mitten in den Beziehungen zwischen einigen der bedeutendsten Kriegsparteien des Ersten Weltkrieges. Letztlich landeten die Soldaten nach langen Reisen durch fremde Gegenden wieder in den Regionen, aus denen sie einst aufgebrochen waren, die allerdings nach der Auflösung der Habsburgermonarchie zu einer völlig neuen Welt mit verschiedenen Staaten geworden waren. Diese Staaten strebten eine ethnolinguistische Homogenität an, die mit den Realitäten, aus denen diese Männer ursprünglich kamen, kaum etwas gemeinhatte. Durch das Kriegsgeschehen kam den Kämpfern aus dem Trentino und dem österreichischen Küstenland im Rahmen der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Russland eine durchaus wichtige Rolle zu. In den russischen Gefangenenlagern versuchten sich Wien und Rom in ihrer Kontrollund Überzeugungsarbeit gegenseitig zu übertreffen, indem sie auf Zensur, die Tätigkeit von Abgesandten und organisierte Interventionen der Militärmissionen setzten. Die Soldaten wurden Gegenstand der Nationalitätenpolitik der russischen Regierung, von der sie schamlos ausgenutzt und Italien angeboten wurden, um dessen Bruch mit Österreich zu besiegeln. Ebenso dreist verfuhren die italienischen Behörden mit ihnen: Bei Bedarf wurden sie rasch zu Soldaten des Königreiches Italien gemacht, um den italienischen Großmachtsansprüchen zu genügen, denn trotz beschränkter Mittel wollte man bei der interalliierten antibolschewistischen Expedition nicht außen vor gelassen werden. Auch mit der Reise mehrerer hundert Soldaten durch die Vereinigten Staaten wurde außenpolitischen Bedürfnissen Rechnung getragen – sie sollten der internationalen Öffentlichkeit als lebender Beweis der Ansprüche Italiens auf die terre irredente, das „unerlöste Land“ unter Fremdherrschaft, präsentiert werden. Allgemeine Überlegungen mit außenpolitischem Bezug prägten auch den Standpunkt des während des Krieges amtierenden Außenministers Sidney Sonnino: Er sprach sich gegen einen Transport der Gefangenen durch Serbien aus, um zu vermeiden, dass ein Teil von ihnen deshalb aufgehalten würde, weil sie Slawen seien, wodurch die italienischen Gebietsansprüche in Frage gestellt worden wären. Auch die Verspätungen und Verzögerungen im Zusammenhang mit den späteren Plänen zur

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Schlussbemerkung

Repatriierung der italienischsprachigen Gefangenen in Russland sind teilweise auf die „slawische Frage“ sowie die Tatsache zurückzuführen, dass Sonnino voll und ganz dagegen war, die kroatischen und slowenischen Gefangenen, die sich in italienischer Hand befanden, an Serbien oder andere auf Unabhängigkeit spekulierende Staatsgebilde abzutreten. Außerdem lieferten sich Rom und Belgrad schon in den russischen Gefangenenlagern einen offenen Kampf um die Soldaten aus Dalmatien, Istrien und Julisch Venetien, die für die einen Italiener, für die anderen dagegen Slawen waren – ein Vorgeschmack auf die späteren Spannungen zwischen Italien und Jugoslawien. Protagonisten in dieser Angelegenheit waren demnach die Institutionen der beteiligten Länder auf der einen und die Soldatengemeinschaft auf der anderen Seite. Für die Soldaten führte die bloße Tatsache, dass sie Italienisch sprachen, dazu, dass sie negativen Vorurteilen der Militärbehörden Österreich-Ungarns ausgesetzt waren. Die Misshandlungen und die Ausgrenzung, die sie beim Heer erfahren hatten, trugen dazu bei, dass sich viele von der Idee eines österreichischen Vaterlandes distanzierten. Dennoch gilt es hier zu differenzieren: Vorurteile gegen Italiener waren besonders innerhalb der österreichischen Militärbehörden stark verbreitet, während in wichtigen Bereichen der Zivilverwaltung weiter vernünftigere und ausgeglichenere Meinungen anzutreffen waren. Die konkrete Machtausübung war jedoch mehr und mehr auf das Militär übergegangen. Ein solcher Prozess war auch auf italienischer Seite zu beobachten, allerdings mit vertauschten Rollen. Die vorsichtige und traditionalistische Haltung Sonninos, der unter den Gefangenen aus der Irredenta, die für eine Verbringung nach Italien in Frage kamen, eine genaue Auswahl treffen wollte, war dem weniger zurückhaltenden Standpunkt des stellvertretenden Stabschefs Carlo Porro sowie des Generalsekretariates für Zivilangelegenheiten diametral entgegengesetzt – letztere hätten am liebsten alle Gefangenen „repatriiert“, um so endgültig ein Recht auf die beanspruchten Gebiete zu erlangen. Eine Haltung, die mehr Weitblick bewies als jene des Außenministers, weil sie auch an die Zeit nach dem Krieg, an die Friedensverhandlungen und an die unvermeidliche Integration sämtlicher neuer Untertanen in das Königreich Italien dachten. Auch über die Behandlung der „repatriierten“ Gefangenen gab es unterschiedliche und nicht immer klar voneinander abzugrenzende Ansichten, und das oft schon innerhalb der militärischen Kreise. Während für einzelne Kommandos ausschließlich die Sicherheit in den Kriegsgebieten zählte, von denen sie die ehemaligen Gefangenen fernhalten wollten, waren für das Oberkommando auch politische Aspekte relevant, etwa, dass die Rückkehr der Männer in ihre Heimatorte und die Zusammenführung von Familien, die lang getrennt gewesen waren, die öffentliche Stimmung heben könnten.



Schlussbemerkung 

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Hintergrund waren allgemeine Urteile über die Soldaten aus der Irredenta, egal, ob sie von der Zivilbevölkerung oder aus militärischen Kreisen geäußert wurden. Die italienische Regierung beschloss unter Sonninos Führung sehr bald, auf die Durchführung des geplanten Gefangenentransfers über die Balkanroute zu verzichten, weil man bei den Männern eine zu wenig ausgeprägte patriotische Gesinnung vermutete und eine sorgfältige Selektion für notwendig hielt. Diese Meinung über die Soldaten deckte sich mit jener, die sich schon nach Kriegsausbruch und nach der Besetzung einzelner Gebiete im Friaul und im Trentino durchgesetzt hatte, wo die lokale Bevölkerung weniger begeistert gewesen war, alses die italienischen Behörden erwartet hatten. Für Generalmajor Antonio Cantore, der unmittelbar nach Kriegseintritt Italiens einige Ortschaften im südlichen Trentino besetzte, waren die Bewohner alle austriacanti (österreichtreu), sodass er den Eindruck gewann, eher einen Besatzungs- als einen Befreiungskrieg zu führen1. Ähnlich äußerte sich auch Major Mario Fiore, der im von Italien eroberten Ostfriaul aktiv war – er sprach von einem „italienfeindlichen Gesindel“ (turba italofoba), unter dem auch Verräter und Spione zu finden seien2. Somit sind die Distanziertheit und der Argwohn, die den aus Russland nach Italien verbrachten Gefangenen bereits 1916 entgegenschlugen, nicht weiter erstaunlich. Im Übrigen waren sogar die Freiwilligen im italienischen Heer mit Argwohn bedacht worden, denn sie beklagten sich oft über die im Zuge der Kriegserfahrung erlittene Isolierung und das ihnen entgegengebrachte Misstrauen3. Doch auch ihnen gegenüber verhielt man sich durchaus anders – das Militär vertrat hier nicht unbedingt die härteste Haltung, obwohl man jede Art von bewaffnetem Freiwilligendienst generell misstrauisch betrachtete. Während einige meinten, dass es diese Soldaten zu beobachten galt, waren andere der Ansicht, dass sie Treue, Mut und Begeisterung bewiesen und somit „zur Herausbildung jenes Kampfgeistes, jenes hehren moralischen Gefühls, das es innerhalb der Truppen um jeden Preis zu wahren gilt“, einen guten Beitrag leisteten4. Ziel der Aufmerksamkeit der beteiligten Länder und Protagonisten der hier geschilderten Geschehnisse sind die italienischsprachigen Soldaten, die ihre 1 2 3 4

Zit. in: Diego Leoni, Camillo Zadra, Classi popolari e questione nazionale al tempo della prima guerra mondiale: spunti di ricerca nell’area trentina, in: Materiali di lavoro, nuova serie 1/1 (1983) 5–26, hier 7. Zit. in: Piero Melograni, Storia politica della Grande Guerra. 1915–1918 (Bari 1969) 30. Siehe unter anderem Giani Stuparich, Guerra del ’15 (1931) (Turin 1978) 31, 111. Zum Thema allgemein sei auf die bibliographischen Angaben in Anmerkung 7 zu Kapitel 4 verwiesen. ACS, MG, CS, SGAC, b. 774, fasc. 116 Varie, Porro an Außenminister, 12.7.1916. Darüber hinaus wird auch bei Stuparich beschrieben, wie die Freiwilligen aus der Irredenta auf verschiedene Kompanien aufgeteilt wurden, damit die Moral der Truppen gewahrt blieb. Stuparich, Guerra del ’15 19.

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Schlussbemerkung

Kriegserlebnisse in mehreren hundert Tagebüchern und Memoiren festgehalten haben. Diese wichtige Sammlung von Schriftstücken gibt allerdings nur einen kleinen Bruchteil der Erfahrungen zehntausender Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft wieder, von denen jeder seine ganz persönliche Kriegsgeschichte hatte. Es wäre falsch, hier Verallgemeinerungsversuche anzustellen. Eines scheint lässt sich jedoch nicht leugnen: die starke Bedingtheit, durch welche die Handlungen und einige scheinbar freie Entscheidungen der Soldaten beeinflusst wurden. Gemeint ist hier in erster Linie ihre Entscheidung, ob sie weiter Österreich-Ungarn die Treue halten oder eher die Seiten wechseln wollten – viele mussten diese während ihrer Gefangenschaft treffen. Eine äußerst schwierige Wahl, beeinflusst durch mehrere Faktoren, die deutlich über das bloße nationale Zugehörigkeitsgefühl hinausgingen. Sie wurde weniger beziehungsweise nicht ausschließlich anhand der Frage getroffen, inwieweit man sich mit einem bestimmten Land identifizierte, sondern vielmehr unter Abwägung der Folgen für sich und die eigene Familie. Dagegen wurde diesen Entscheidungen durch Zensur- und Kontrollstellen, durch Regierungen und sogar in so manch historischer Rekonstruktion zumeist eine vorwiegend nationalpolitische Bedeutung zugeschrieben. Oft ist es der Schriftverkehr der Gefangenen selbst, der die Komplexität und die Schwierigkeit dieser Entscheidung sowie deren ambivalenten Zusammenhang mit dem jeweiligen Zugehörigkeitsgefühl verdeutlicht. Im Oktober 1918 war sich Guido Mondolfo aus Görz nicht darüber im Klaren, was er am besten tun sollte – im Gegensatz zu seinen Kameraden beschloss er schließlich, nicht auf die Seite Italiens zu wechseln, weil er befürchtete, mit einer solchen Entscheidung möglicherweise seiner Mutter und seiner Verlobten zu schaden, die beide in Görz geblieben waren. O Ninucci, o Mama, nur für euch bin ich der Einladung nicht gefolgt! Also verliere ich meine besten Freunde und bleibe hier allein mit meinen traurigen Gedanken zurück. Ich werde sehr, sehr leiden, weil ich bald keinen Menschen mehr habe, dem ich mein Herz ausschütten kann. Wie gesagt, ich bleibe nur für euch beide hier und erbringe damit – glaubt es mir – das größte Opfer, das ich je zu tragen hatte. Evviva l’Italia!5

Für das Gegenteil entschied sich Giuseppe Cisilin, ein ebenfalls aus der Region Görz stammender Bauer: Er hatte sich bereits im Juni 1915 für Italien entschieden und war Ende 1916 in Archangeľsk eingeschifft worden. Auch ihm fiel die Wahl alles andere als leicht – sie war vor allem durch seine Enttäuschung darüber 5

Medeot, Pelican, Friulani 263.



Schlussbemerkung 

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bedingt, dass Italiener wie „Tiere“ behandelt wurden, nur weil sie Italiener waren, „als ob wir nicht ganz genauso österreichische Patrioten wären“. Also dachte ich, dass ich niemandem schade, wenn ich meiner Verbringung nach Italien zustimme – nach wie vor als Kriegsgefangener –, um von meinen österreichischen Brüdern wegzukommen, die mich ohne jeden Grund schlecht behandeln, denn ich habe mich weder ihnen noch meinem geliebten österreichischen Kaiserreich gegenüber schlecht verhalten. Wenn ich niemandem damit wehtue, habe ich auch keine Angst. Weh tun uns dagegen unsere Kameraden, die erklären, dass sie uns den Kopf abschneiden wollen, wenn wir nach Österreich zurückkehren, weil wir in ihren Augen nach Italien gehen, um gegen unser geliebtes Kaiserreich zu kämpfen, doch ich habe gesagt, dass mein Herz nie so unverschämt sein könnte und ich mich lieber von den Italienern erschießen lassen würde, als gegen meine Brüder zu kämpfen. Obwohl ich aus bescheidenen Verhältnissen komme, weiß ich genau, was meine Pflicht als Patriot ist, nämlich, meine Regierung und mein Kaiserreich auf Händen zu tragen – das habe ich erwiesenermaßen getan, denn ich habe als echter Österreicher gekämpft6.

Mondolfo entschied sich für Österreich, während er gleichzeitig Italien hochleben ließ (Evviva l’Italia!), Cisilin „als echter Österreicher“ dagegen für Italien. Diese Beispiele verdeutlichen die äußerst komplexe Lage, in der die Entscheidungen der Gefangenen zustande kamen, mehr als zur Genüge – verständlich wird ihre Wahl nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Umfeldes, das durch den Krieg und die Gefangenschaft von Gewalt, Kontrolle und Zwängen bestimmt war. Genau aus diesem Grund erschien es hier unerlässlich, die Geschichte der „österreichischen Italiener“ im habsburgischen Heer von beiden Seiten zu beleuchten: „von oben“ aus der Sicht der Institutionen und „von unten“ aus der Sicht der Soldaten.

6

Ebd. 108.

Abkürzungsverzeichnis

Archive und Archivbestände ÖStA: Österreichisches Staatsarchiv, Wien AVA, MdI, Präs: Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Inneren, Präsidium HHStA, PA I: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Ministerium des Äußern, Politisches Archiv (1848–1918), Allgemeines und Österreich-Ungarn KA, AOK, GZNB: Kriegsarchiv, Armeeoberkommando, Gemeinsames Zentralnachweisbüro des Roten Kreuzes KA, AOK, OpAbt: Kriegsarchiv, Armeeoberkommando, Operationsabteilung KA, KM, KÜA: Kriegsarchiv, Kriegsministerium, Kriegsüberwachungsamt KA, KM, Präs: Kriegsarchiv, Kriegsministerium, Präsidialbüro KA, MS: Kriegsarchiv, Manuskripte ACS: Archivio Centrale dello Stato, Rom MG, CS, SGAC: ministero della Guerra, Comando supremo, Segretariato generale per gli affari civili MI, PS, A5G: ministero dell’Interno, Direzione generale di pubblica sicurezza, Divi­ sio­ne affari generali e riservati, categoria A5G Prima guerra mondiale PCM, GE: presidenza del Consiglio dei ministri, Guerra europea 1915–1918 PCM, UCNP: presidenza del Consiglio dei ministri, Ufficio centrale per le nuove province ASMAE: Archivio storico diplomatico del ministero degli Affari esteri, Rom AG: Archivio politico e ordinario di Gabinetto 1915–1918 Cina: Rappresentanze diplomatiche e consolari d’Italia a Pechino 1870–1952 Russia: Rappresentanze diplomatiche Russia (URSS) 1861–1950 USMMI: Ufficio storico della Marina militare italiana, Rom RB: Raccolta di base USSME: Ufficio storico dello Stato maggiore dell’esercito, Rom B-1: B-1, Diari storici della prima guerra mondiale E-11, Siberia: E-11, Missioni militari varie presso gli alleati e missioni militari italiane all’estero, Comando RR. Truppe in Estremo Oriente. Missione militare italiana in Siberia F-3: F-3, Carteggio sussidiario prima guerra mondiale FMST: Fondazione Museo storico del Trentino, Trient Bonapace: Fondo Ermete Bonapace E: Archivio E



Archivalische Abkürzungen 

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Archivalische Abkürzungen b.: busta cart.: cartella fasc.: fascicolo f.: foglio ff.: fogli Kt.: Karton Nr.: Nummer scat.: scatola sf.: sottofascicolo

Gedruckte Quellen Camera dei Deputati, Atti parlamentari. Discussioni. Legislatura XXIV (Rom 1917) Camera dei Deputati, Atti parlamentari. Discussioni. Legislatura XXVI (Rom 1921) DDI: Ministero degli Affari esteri, Commissione per la pubblicazione dei documenti diplomatici, I documenti diplomatici italiani, V serie: 1914–1918, voll. II, IV, VI, VII, Istituto poligrafico e zecca dello Stato, Rom 1984, 1973, 1988, 1978 Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848–1918 II/6 (Wien 1973)

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Literatur

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Literatur

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Literatur 

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Literatur

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Literatur 

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Literatur

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Literatur 

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Literatur

Anthony Wood, The Russian Revolution (London 22014) Marion Wullschleger, „Gut österreichische Gesinnung“. Imperiale Identitäten und Reichsbilder der letzten österreichischen Statthalter in Triest (1904–1918), in: Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918) / Elites and Empire. Imperial Biographies in Russia and Austria-Hungary (1850–1918), hrsg. von Tim Buchen, Malte Rolf (Berlin–Boston 2015) 90–106 Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg (Göttingen 2005) Davide Zaffi, Die deutschen nationalen Schutzvereine in Tirol und im Küstenland, in: Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen. Elsaß-Lothringen / Trient-Triest, 1870–1914, hrsg. von Angelo Ara, Eberhard Kolb (Berlin 1998) 257–284 Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948 (Ithaca [NY]–London 2008) Francesca Zantedeschi, Lingua e nazione in Europa, in: Passato e presente 18/79 (2010) 155–167 Benjamin Ziemann, Fahnenflucht im deutschen Heer 1914–1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 55/1 (1996) 93–130 Paolo Ziller, Stato asburgico e rappresentanza politica. Sistema elettorale, rappresentanze comunali e Dieta provinciale dell’Istria nell’ultima Austria, in: ders., Giuliani, istriani e trentini dall’Impero asburgico al Regno d’Italia (Udine 1997) 31–50

Zeitungen und Zeitschriften Corriere della Sera La Domenica del Corriere Il Giornale d’Italia L’idea nazionale Il Mattino Il Messaggero La Nazione Neue Zürcher Zeitung La nostra fede Il Piccolo Salzburger Volksblatt Il Secolo La Stampa





Personenregister

Alighieri, Dante 34, 40 Aliotti, Carlo Alberto 188–189, 198 Angelini, Giuseppe 136, 175 Antonelli, Quinto 14 Arlanch, Attilio 216 Artel, Umberto158, 179 Baccich, Icilio 180 Badeni, Kazimierz 31–33 Barzilai, Salvatore 129, 133, 137–138, 155 Bassignano, Achille 148, 156, 173–174, 180– 181, 183–186, 188, 192, 212 Battisti, Cesare 44, 50–51, 88, 121–122, 136–137, 155, 174 Battisti, Ernesta 122 Bazzani, Gaetano 9, 129, 146, 180–181, 192, 194, 198 Benco, Silvio 65 Bernardi, Daniele 155 Bolner, Rodolfo 79, 83 Bona, Giovanni 95, 104 Bonapace, Ermete 107, 153, 158 Boog, Adolf von 108–109 Botteri, Guerrino 79, 83 Brǎtianu, Ion 124 Bresciani, Giuseppe 179 Brosch, Artur 101 Brussilow, Aleksej 99, 108, 156, 184 Bugatto, Giuseppe 95 Buszko, Józef 76 Cadorna, Luigi 182 Calenda (Arzt) 118 Candutti, Michele 179 Cantore, Antonio 221 Carlotti di Riparbella, Andrea 119–121, 123, 125–128, 133, 135, 137, 146–148, 157, 180, 182, 184–185

Caruso, Enrico 199 Castellan, Raimondo 173 Cazzolli, Alfonso 103 Ceccato, Vigilio 145–146, 154 Chiesa, Damiano 174 Cisilin, Giuseppe 222–223 Colman, Alessandro 214 Colonna di Cesarò, Giovanni Antonio 174 Comandini, Ubaldo 173 Conci, Enrico 32, 88, 96 Conrad von Hötzendorf, Franz 60, 88–89, 91, 108 Crispi, Francesco 48 D’Adamo, Agostino 149–151, 174, 176 Danielis, Antonio 80 Dankl von Krasnik, Viktor 70 De Gasperi, Alcide siehe Degasperi, Alcide Degasperi, Alcide 49–50, 156 de Gentili, Guido 88 Dellai, Arturo 186, 195–196 Delmarco, Iginio 155 De Manincor, Giuseppe 133–134, 146 De Varda, Ernesto 148, 157 Devigili, Vigilio 202 Domokos, Lajos 26 Egger, Matthias 14 Endrici, Celestino 88 Eugen von Österreich-Teschen, Erzherzog 88 Fabi, Lucio 11 Faidutti, Luigi 96 Fassini-Camossi, Edoardo 196, 203 Ferdinand I., Kaiser 38 Ferlan, Oskar 200

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Personenregister

Fiamozzi, Anselmo 214 Filzi, Fabio 174 Fiore, Mario 221 Fontana, Nicola 14 Fonzar, Giuseppe 217 Formiconi, Paolo 14 Franz Ferdinand von Österreich-Este, Erzherzog 60, 63–64 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 47, 56, 61, 85, 157 Fries-Skene, Alfred von 88 Fusari, Emilio 95, 105 Gaddo, Augusto 103 Galvagni, Adolfo 188 Garbari, Giulio 194 Garibaldi, Giuseppe 153 Gayda, Virginio 101, 142–146 Gazzurelli, Adelchi 119, 131–132, 136–141, 148 Gelbmann, Giuseppe 218 Gemelli, Agostino 108 Goss, Angelo 217 Gottardi, Fioravante 186, 189 Gottsmann, Andreas 14 Guerrieri Gonzaga, Gemma 145–146 Gutterer, Eutimio 84, 93, 189 Horvat, Giuseppe 215 Imbriani, Renato Matteo 45 Joseph II., Kaiser von Österreich 16 Koplenig, Johann 201 Konrad, Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst 64 Krupenski, Anatoli Nikolaevič 120 Kun, Béla 201 Langer, Francesco 118 Laurencich, Eugenio 103 Leed, Eric J. 64 Lein, Richard 14

Macchio, Karl von 73 Malfatti, Valeriano 88 Manera, Cosma 180, 183–185, 192–194, 198, 205–208, 211–213 Marassi, Clemente 153 Marchio, Francesco 184 Maria Theresia, öster. Kaiserin 16, 74 Marzari, Ezechiele 65, 94 Masera, Giuseppe 93–94 Mazzini, Giuseppe 46 Medeot, Camillo 11 Metternich, Clemens von 23 Milani, Serafino 217 Molignoni, Annibale 101, 146, 153, 157–158 Mondolfo, Guido 222–223 Morghen, Luigi 153, 158 Morrone, Paolo 174 Mussolini, Benito 213 Napoleon III., frz. Kaiser 18 Nitti, Francesco Saverio 196, 211, 214 Oliva, Adriano 202 Orlando, Vittorio Emanuele 121, 190, 205 Orobello, Giuseppe 197 Paoli, Celeste 104 Parisi Bruseghini, Adelia 104 Passerini, Giuseppe 102–103, 189 Pederzolli, Giovanni 77–78 Pedrotti, Giovanni 53 Pellico, Silvio 154 Pezzi, Arturo 153, 158 Pini, Romano 136–137 Pittoni, Valentino 51 Polla, Bortolo 218 Porro, Carlo 133, 150–152, 179, 181–182, 220–221 Pupo, Raoul 14 Raffaelli, Angelo 94 Raffaelli, Mario 65, 92 Ranchi, Sergio 11

Riccio, Vincenzo 137 Rizzoli, Decimo 83 Romei Longhena, Giovanni 204–205 Rossetti, Domenico 40 Rossi, Marina 11 Roth, Joseph 76 Salandra, Antonio 70, 120–123, 126–127, 132, 141, 147, 175 Saltori, Mirko 14 San Giuliano Paternò-Castello, Antonino 120 Sasonow, Sergej 114 Scarazzini, Giuseppe 83, 107 Simonetti, Isidoro 155 Slataper, Scipio 26 Sommavilla, Giacomo 68, 78, 84 Sonnino, Sidney 48, 70, 119, 121, 123, 125–128, 132–133, 135, 137, 141, 143, 147–152, 156, 174–175, 181–182, 185–186, 189–191, 198, 205, 219–221 Spazzali, Ferruccio 158 Spiegelfeld, Markus von 61 Stanta, Emilio 78, 116 Stiassny, von (Konsul) 171–172 Stürgkh, Karl 64, 89 Tirel, Callisto 177 Todero, Fabio 14 Todero, Roberto 11 Toggenburg, Friedrich 87 Tomann, Karl 201 Tomasi, Alfonso 92 Tonelli, Oscar 148, 157 Twain, Mark 32 Überegger, Oswald 14 Vadnjal, Leopold 80 Varè, Daniele 188, 198 Verdi, Giuseppe 40 Viezzoli, Silvio 153 Vergil 153

Personenregister 

Vivante, Angelo 26, 51 Waiz, Basilio 200 Walther, von der Vogelweide 40 Wedrac, Stefan 14 Zambelli, Gabriele 159 Zanella, Riccardo 128, 132–133 Zanetti, Armando 144 Zeni, Angelo 186 Zippel, Vittorio 88 Zupelli, Vittorio 130, 132, 205, 210

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