Simon Dach (1605–1659): Werk und Nachwirken 9783484366268, 9783484970397

The papers in this volume deal with central aspects of Simon Dach’s complete poetic works. One focus is on intensive tex

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German Pages 552 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Zum Bilde Simon Dachs
Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹
Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg im 17. Jahrhundert
Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation
Zur ›Poetik‹ Simon Dachs
Literarische Verlebendigungen
Textbaustein, Topos und Parodie
Dichter-Leid
Lyrische Empathie
Die Inszenierung des Volkstümlichen und seine Aporien – Versuch einer Annäherung an Simon Dachs »Grethke«-Lied
»Amicitiae venerabile foedus« – Zum diskursiven Kontext und diätetischen Gehalt von Simon Dachs großem Freundschaftsgedicht
Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik – Analysen ausgewählter Gedichte
Königsberg und Elbing
Simon Dachs Liederspiele und die Anfänge der deutschen Oper
Simon Dachs Übersetzung des Christus Patiens von Carolus Malapertius SJ
Trost, Buße, Erbauung
Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jerusalem
Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach in litauischen Gesangbüchern der Aufklärung
Tragikomik einer preußischen Dichterliebe
›Brot und Spiele‹
Wesensmerkmale der Lieder Simon Dachs innerhalb der Musik des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer Wahrnehmung am Beginn des 21. Jahrhunderts
Die Rezeption von Simon Dach in Polen
Dach-Rezeption in Rußland
Dach digital?
Backmatter
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Simon Dach (1605–1659): Werk und Nachwirken
 9783484366268, 9783484970397

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Frhe Neuzeit Band 126 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Simon Dach (1605–1659) Werk und Nachwirken Herausgegeben von Axel E. Walter

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008

n

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-36626-8

ISSN 0934-5531

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: Hubert & Co., Gçttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Klaus Garber Zum Bilde Simon Dachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Bernhart Jähnig Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹. Die Königsberger Kanzlei der Oberräte im Zeitalter von Simon Dach (1603 – 1660) . . .

25

Manfred Komorowski Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Hanspeter Marti und Lothar Mundt Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Robert Seidel Zur ›Poetik‹ Simon Dachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Ralf Georg Bogner Literarische Verlebendigungen. Formen und Funktionen prosopopoietischen Schreibens in Simon Dachs weltlicher Lyrik . . . 139 Wolfgang Neuber Textbaustein, Topos und Parodie. Zu einigen Aspekten der Intratextualität in Dachs Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Achim Aurnhammer Dichter-Leid. Form und Funktion des Autopathographischen in der Lyrik des Simon Dach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 David Heyde Lyrische Empathie: Die Funktion des Krankheitsmotivs in zwei Epicedien Simon Dachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Bernhard Jahn Die Inszenierung des Volkstümlichen und seine Aporien – Versuch einer Annäherung an Simon Dachs »Grethke«-Lied . . . . . . 191 Wilhelm Kühlmann »Amicitiae venerabile foedus« – Zum diskursiven Kontext und diätetischen Gehalt von Simon Dachs großem Freundschaftsgedicht . . 211 Lothar Mundt Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik – Analysen ausgewählter Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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Inhalt

Fridrun Freise Königsberg und Elbing. Gelehrte Beziehungen in die ›literarische Provinz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Andreas Waczkat Simon Dachs Liederspiele und die Anfänge der deutschen Oper . . . . 321 Dieter Breuer Simon Dachs Übersetzung des Christus Patiens von Carolus Malapertius SJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Friedrich Vollhardt Trost, Buße, Erbauung. Die ›Frömmigkeitskrise‹ im frühen 17. Jahrhundert und die geistliche Lyrik Simon Dachs . . . . . . . . . 349 Johann Anselm Steiger Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Žavinta Sidabraitơ Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach in litauischen Gesangbüchern der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Roman Luckscheiter Tragikomik einer preußischen Dichterliebe. Dramatisierungen von Simon Dachs »Ännchen von Tharau«-Lied seit Anfang des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Stefanie Arend ›Brot und Spiele‹. Zur Theatralität von Günter Grass’ Treffen in Telgte und zur Rolle des Simon Dach . . . . . . . . . . . . 423 Stefan Hanheide Wesensmerkmale der Lieder Simon Dachs innerhalb der Musik des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer Wahrnehmung am Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Anna Gajdis Die Rezeption von Simon Dach in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Wladimir Gilmanov Dach-Rezeption in Rußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Axel E. Walter Dach digital? Vorschläge zu einer Bibliographie und Edition des Gesamtwerks von Simon Dach nebst einigen erläuterten Beispielen vernachlässigter bzw. unbekannter Gedichte . . . . . . . . . . . . . . 465 Verzeichnis der benutzten Dach-Ausgaben und Abkürzungen . . . . . . . 523 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

Vorwort

Das Jahr 2005 war in der Region Europas, in welche dieser Band über einen der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter des 17. Jahrhunderts zurückführt, ein ganz besonders intensives Jahr des Gedenkens. Das einschneidendste Datum markierte wie allerorten in Europa der 8. Mai 1945, an dem ein Krieg endete, dessen schreckliche Spuren hier bis heute nicht verweht sind. In kaum einer anderen Region Europas ist die tiefe Zäsur, die der Krieg politisch, ideologisch und psychologisch zeitigte, bis heute manifester und sichtbarer als in diesem Raum, dem ehemaligen ›Ostpreußen‹. Es ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von politischen Grenzen durchtrennt, die einen historischen Kulturraum unwiderruflich zerteilen, von Staatsgrenzen, an denen sich längst wieder Ideologien scheiden, und auch von Grenzen, die leider noch immer und vielleicht sogar wieder stärker in den Köpfen vieler Menschen gezogen werden. Markant wurde dies anläßlich des zweiten Jubiläums, das in dieser Region im Jahr 2005 gefeiert wurde: der 750. Geburtstag Königsbergs. Die im Vorfeld teilweise erregt geführten Diskussionen, wie dieser zu begehen wäre, offenbarten auf das Bedenklichste, wie wirkungsmächtig nationalstaatliche Identitätskonstruktionen – ebenso wie viele persönliche Biographien – auf einseitigen Interpretationen historischer Kausalitäten aufgebaut sein können, die Gedächtnisverzicht und Gedächtnisverlust instrumentalisieren. Königsberg auf der einen, Kaliningrad auf der anderen Seite emotionalisierte und polarisierte damals noch einmal auf eine viele, die das Wort darüber führten, demaskierende Art. Die offizielle Sprachregelung, die schließlich der Kreml verordnete, machte diesen Jahrestag zu einem Doppeljubiläum eines historischen Stadtgeburtstags wie einer historisierten Auferstehung aus Ruinen und zementierte damit erst recht die tiefe geschichtliche Zäsur, die das Jahr 1945 bedeutet hatte: Offiziell beging man das 750-jährige Jubiläum Königsbergs und den 60. Jahrestag Kaliningrads. Die Politik generierte damit ein Gedächtnis, das eine Kultur des Erinnerns als Grundlage der Humanität und Identitätsfindung atrophiert. Konnte es da noch verwundern, wenn die offizielle Eröffnung der Feierlichkeiten in Kaliningrad zu einem populistischen Dreiergipfel politischer Freunde degenerierte, zu dem die Staatshäupter der Nachbarländer Polen und Litauen, die historisch doch so eng mit dieser Stadt verbunden sind, nicht geladen waren? In Königsberg wurde 1547 das erste litauische Buch überhaupt, der Katechismus von Martynas Mažvydas gedruckt, rund zweihundert Jahre später entstand in einem ostpreußischen Pfarrspiel mit den Metai von Christian Donelaitis das erste große Werk einer litauischen Nationaldichtung. Das Herzogtum Preußen blieb bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts ein polnisches Lehen, die pro-

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Vorwort

testantische Königsberger Universität wurde 1560 nur vom polnischen König, nicht aber vom deutschen Kaiser privilegiert. Königsberg entwickelte sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts ebenso zu einem Zentrum des polnischen Buchdrucks, wo unter anderem schon frühzeitig Schriften von Mikoáaj Rej erschienen, der wie Jan Kochanowski, der 1551/52 in der Stadt weilte, ein Wegbereiter der polnischen Nationalliteratur war. Dem literarischen Schaffen und geistigen Leben in dieser Grenzregion wurden während der gesamten Frühen Neuzeit mannigfaltige Einflüsse aus anderen Kulturräumen implementiert, wie von hier aus andererseits kulturelle Ausgleichsprozesse mit den umliegenden Gebieten, der polnisch-litauischen Monarchie wie später auch dem russischen Zarenreich, initiiert wurden. Gleichwohl muß man historische Rekonstruktionen einer seit jeher waltenden ›multikulturellen‹ und ›multiethnischen‹ Wirklichkeit (Klaus Bednarz) deutlich relativieren, aus der heraus die Gegenwart das ›alte‹ Ostpreußen als eine von Anfang an ›europäische‹ Region zu evozieren sucht und damit als kollektiven Erinnerungsraum (um)codiert. Die Literatur und die Kultur Ostpreußens seit der Säkularisierung des Deutschordensstaates blieben über die Jahrhunderte stets auf den deutschen Sprach- und Kulturraum bezogen. Einem Dichter wie Simon Dach war die politische und kulturelle ›Mittlerposition‹ Königsbergs und des Herzogtums Preußen im 17. Jahrhundert selbstverständlich: Er huldigte mit seinem ersten Liederspiel dem polnischen König und er verfaßte ein neulateinisches Widmungsgedicht zur ersten litauischen Grammatik. Er selbst beanspruchte und erfüllte aber mit der von ihm deklarierten Stellung als Archeget der deutschen Dichtung in Preußen eine Rolle als Vermittler einer deutschen Kunstdichtung nach Königsberg und ins Herzogtum. Diesem Dichter nun war das dritte Jubiläum gewidmet, das im Jahre 2005 in dieser Region begangen werden konnte. Simon Dach wurde am 29. Juli 1605 in Memel geboren. Sein Name ist wie der kaum eines anderen Dichters mit dieser Region und insbesondere mit Königsberg verknüpft. Im Alter von vierzehn Jahren schickte ihn sein Vater zu Verwandten in die Pregelstadt, im Jahr darauf ging Dach als Famulus eines jungen Theologiestudenten an die Stadtschule in Wittenberg und von dort auf das Gymnasium in Magdeburg. 1626 kehrte er nach Königsberg zurück und verließ die Stadt bis zu seinem Tode am 15. April 1659 nicht mehr. Bei Königsberg denkt man natürlich zuallererst an Immanuel Kant, der die Stadt auch niemals verließ und dem ihre Erfahrungsrealität bekanntlich hinreichte, um von dort aus die Welt zu erkennen und verstehen zu können. Dach war ein nur annähernd vergleichbares Nachwirken über seine Zeit hinaus nicht beschieden. Sein Modell der Welt war ein ganz anderes, ein christliches der Schöpfung, des Paradieses und der Apokalypse, ein von der Vergänglichkeit alles Irdischen durchdrungenes, in festen ständischen Verbindungen verhaftetes, in der Dichtung in seiner Wahrheit und seinen Wahrscheinlichkeiten durch ars und ingenium auszugestaltendes – eben ein barockes Verständnis von Gott, Menschen, Leben, Tod und Dichtung. So wie sein Name mit dieser Region verbunden wird, verband er selbst sein Dichten mit ihr. Das findet sich in diesem deutlichen identifikatorischen und individuelle Identität stiftenden Rückbezug vielleicht nur noch ein-

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mal bei Agnes Miegel als Motivation und Horizont eines literarischen Werks so ausgeprägt wieder, doch steht dieses in der hymnisch-nationalistischen Verklärung einer, zumal nach dem Verlust als Erlebnisraum dann in der persönlichen Erinnerung mythisch überhöhten, ›Heimat‹ dem Weltbild Dachs wiederum gänzlich fern. Daß Jürgen Manthey seinem ebenso erfolgreichen wie lesenswerten Buch Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, welches im Jahr des Stadtjubiläums erschien und von Kants eben angedeuteter Aussage als Leitthese inspiriert worden ist, neben einem Zitat von Kant die zweite Strophe von Dachs berühmten Freundschaftslied voranstellte, deutet den Rang dieses Dichters für die regionale Kulturgeschichte wie in unserem kollektiven Gedächtnis an. Manthey allerdings widersteht der Versuchung nicht, die Bedeutung der Rede über das »Leid […,] So vns betreten hat«, aus dem kommunikativen Zusammenhang des poetischen Freundschaftslobs herauszulösen und in einem identifikatorischen Sinnhorizont des ›ungeheuren Verlusts‹ (Ferdinand Helbig) auf die Erfahrung des Leids umzuinterpretieren, die für viele mit dem Untergang Königsbergs im Zweiten Weltkrieg verbunden bleibt. Für derartige Interpretationen gibt Dach genausowenig her wie ihm eine Funktion als poetischer Bürge »der deutschen Kultur des deutschen Ostens vor dreihundert Jahren« einzuschreiben war, wofür die Verse des Königsberger Dichters dem Königsberger Herausgeber Walther Ziesemer in der soeben noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs abgeschlossenen Ausgabe der deutschen Dichtungen Dachs zu Textzeugen avancierten, die einen historischen Anspruch auf diesen östlichen ›Lebensraum‹ bewiesen. In unserer Zeit mit ihrem Fortschrittsglauben, den die Naturwissenschaften wie die Ökonomie und die Politik ebenso erfolgreich wie folgenreich propagieren und protegieren und der die Halbwertzeit der Vergangenheit radikal reduziert, in der Gedächtnis vielfach verloren gegeben wird oder aber verordnet ist, sind die Geisteswissenschaften erst recht und mehr als zuvor für eine Gedächtnisarbeit und Gedächtnissicherung herausgefordert, um eine Kultur des Erinnerns zu bewahren und gegenwärtig zu halten. Dies keinesfalls im Sinne einer statischen Memorialisierung der Vergangenheit und ebensowenig in Form einer Asymmetrie von Geschichte, Gegenwart und Zukunftszugewandtheit. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften ist es, die historischen Traditionen und Überreste unvoreingenommen zu erschließen und geschichtliche Entwicklungen aufzuarbeiten – und so ihren angestammten Beitrag daran zu leisten, daß Erinnerung in ihren konnektiven Strukturen gerade auch in dieser Region zu einem festen und über nationale wie zeitliche Grenzen hinaus verbindenden Bestandteil einer kulturellen Identität werden kann. Zu den bedeutenden Erbanteilen einer Kultur des Erinnerns und damit einer kulturellen Identität dieser Region gehört zweifellos Simon Dachs poetisches Werk. Kein anderer Dichter hat die Literatur des 17. Jahrhunderts in ›Ostpreußen‹ so stark geprägt wie er. Er selbst hat sich immer als deutscher und als preußischer Dichter verstanden. Das darf niemals übersehen, aber eben auch nicht instrumentalisiert werden. Dem Selbstverständnis eines poeta doctus verpflichtet, griff Dach die Opitzschen Reformbemühungen um die deutsche

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Dichtung auf – und entwickelte dabei einen ganz eigenen, persönlichen und ›lebenswirklichen‹, der Tradition des geistlichen Lieds des 16. Jahrhunderts in einigem noch verhafteten, gleichwohl vom späthumanistisch-gelehrten Dichtungsmodell hörbar beeinflußten Ton, der aus der deutschsprachigen Dichtung dieser Zeit herausklingt und in manchem über sein Zeitalter doch bereits hinausweist. Dach verfaßte ganz überwiegend personale Gelegenheitsdichtung, seine Adressaten stammten zum allergrößten Teil aus Königsberg und dem Herzogtum. Das klug gesetzte dichterische Wort, dem es allein vergönnt war, in einer vergänglichen Welt zu überdauern und ewigen Nachruhm zu stiften, wurde ihm zum Vehikel seines Aufstiegs und Auskommens, allein seiner Dichtung verdankte er seine schließlich erreichte Stellung in der städtischen Bürgerschaft, seine Verbindungen zum Hof und zur Regierung. Er war aber dennoch weit mehr als nur ein Dichter von regionaler Bedeutung. Vor allem durch Heinrich Alberts Arien gewann Dach schon zu Lebzeiten Bekanntheit weit über die Grenzen des Herzogtums hinaus; über die Jahrhunderte ging er dann in erster Linie als geradezu ›volkstümlicher‹ Liederdichter, unauflöslich gekoppelt an die Anke van Tharaw (deren Verfasserfrage wohl niemals definitiv zu klären sein wird), in das kollektive Gedächtnis ein. Dabei war Dach ein wahrer Vielschreiber: Als er in Königsberg im Amte des Poetik-Professors verstarb, waren in drei produktiven Jahrzehnten mehr als 1.400 Gedichte, Lieder und andere Texte entstanden, von Epigrammen bis zu Einzeldrucken im Umfang von mehreren hundert Versen, in deutscher und in lateinischer Sprache. Gerade im Bereich der lateinischen Texte, die rund ein Fünftel seines gesamten Werks ausmachen, ist noch längst nicht alles gefunden und identifiziert, hier herrschen die größten Lücken in unserer Kenntnis dieses Dichters. Das liegt in der editorischen Situation begründet: Daß es um diese eher schlecht bestellt ist, durchzieht als berechtigte Klage die Dach-Forschung seit 1945. Dazu beigetragen hat sicherlich die für einen Dichter der poetischen ›Statur‹ Simon Dachs unter seinen Zeitgenossen von vergleichbarem Rang singuläre Situation, daß zu seinen Lebzeiten keine gesammelte Ausgabe zustande kam. Mehr als für andere Dichter des 17. Jahrhunderts ist man deshalb, weil Ziesemer unvollständig blieb, im Falle Dachs auf die Einzeldrucke angewiesen. Doch mit Königsberg gingen im letzten Kriegsjahr auch seine Bibliotheken unter, die nach der – weitgehend erhaltenen – Dach-Kollektion von Johann Caspar Arletius in Breslau/Wrocáaw die reichsten Bestände an Dach-Drucken und Handschriften besaßen. Somit verschmelzen die drei Gedenktage, die 2005 in dieser Region Europas begangen werden konnten, geradezu schicksalhaft ineinander. Was konnte angesichts der Bedeutung Dachs als Dichter und als poetischer ›Lehrer‹ Preußens näher liegen, als in jenem Jahr eine Tagung zu seinem Werk und Nachwirken in der Region zu veranstalten, in der er lebte und dichtete? Daß diese Tagung vom 28. Juli bis zum 1. August 2005 in Klaipơda stattfand, war dabei nicht nur dem Anlaß, dem 400. Geburtstag, geschuldet, sondern es war eine bewußte und, so hat sich bewiesen, die genau richtige Entscheidung. Fernab aller Kontroversen um das Stadtjubiläum Königsbergs/Kaliningrads

Vorwort

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sicherte es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser internationalen Konferenz die notwendige Ruhe für eine konzentrierte Arbeit und für intensive Diskussionen. Nichts konnte dieser ersten wissenschaftlichen Tagung, die sich ganz dem Werk, Wirken und Nachwirken Simon Dachs widmete, und allen an ihr Mitwirkenden willkommener sein! Denn um Dach war es in der Forschung nach einer ›Blütezeit‹ im Zuge der sozialgeschichtlichen Wende der Germanistik verhältnismäßig ruhig geworden. Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts diente seine Klage über den endlichen Untergang und ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens als Grundtext für Albrecht Schönes wegweisenden Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Hans-Henrik Krummacher entfaltete fast gleichzeitig seine ebenso grundlegenden Überlegungen zum barocken Epicedium neben anderen an einem Gedicht Dachs und erweiterte den Zugang um rhetorisch-poetische Aspekte, die bei Schöne fehlten. Wulf Segebrecht rehabilitierte kurz darauf mit seinem Standardwerk zum Gelegenheitsgedicht diese poetische Gattung, für die Dach in vielen ihrer Formen ein maßgeblicher und zugleich ein ganz eigenständiger Vertreter in seiner Zeit war, endgültig in der literaturwissenschaftlichen Forschung. Dach war ihm ein häufig zitierter poetischer Gewährsmann. Mit Segebrechts knappem, aber überaus instruktivem Gesamtportrait über »Simon Dach und die Königsberger« und mit Alfred Kelletats umfangreichen Nachwort zu seiner Reclam-Ausgabe entstanden schließlich Mitte der achtziger Jahre zwei grundsätzliche Einführungen zu Leben und Werk Dachs und seine Einbindung in den sog. Königsberger Dichterkreis. Sie repräsentieren bis heute weitgehend den Forschungsstand. Die spürbare Belebung des wissenschaftlichen Interesses an Simon Dach und seiner (Gelegenheits-)Dichtung in den siebziger und achtziger Jahren hat zu einem methodisch abgesicherten und damit fundierteren Verständnis für seine Dichtung geführt. Die Gewichte haben sich insofern verschoben, als nunmehr die gesellschaftlichen Kontexte seiner Dichtung hergestellt werden, die in ihrem Wesen als Kasuallyrik und damit als fester Bestandteil der literarischen Kommunikation erklärt ist, und daß der besondere ›Ton‹, den Dach in seinen Gedichten und Liedern pflegte, nicht mehr an der Bewertungsskala des ›Volkstümlichen‹ gemessen wird, sondern erkannt wird als spezifische literarische und literarisch-musikalische Entwicklungsform der deutschen Barockliteratur in diesem regionalen Kulturraum, in dem Dach und der Königsberger Freundeskreis um die Kürbishütte durch ihre Verse und Melodien verortet waren. Die an Texten herausgearbeiteten konkreten Belege, worin das Spezifische, das in der poetisch-rhetorischen Technik, in der sprachlichen und stilistischen Ausgestaltung, in der inhaltlichen und thematischen Literarisierung je Besondere also, besteht, sind seither in verschiedenen Aufsätzen und eingehenden Einzelinterpretationen punktuell nachgetragen worden. Was aber alle diese Arbeiten fast völlig aussparen, ist die lateinische Dichtung Dachs, die nur einiger weniger marginaler oder summarischer Bemerkungen gewürdigt wird. Die editorische Situation schlägt sich somit in der Forschung ganz entscheidend nieder. Wobei eine eigenständige Dach-Forschung trotz allem nicht initiiert wurde; eine Mo-

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nographie fehlt bis heute. Zwar kann man den Beginn einer ›wissenschaftlichen‹ Beschäftigung mit Dachs Leben und Dichtungen auf das Erscheinen des ersten biographischen Abrisses von Gottlieb Siegfried Bayer im Jahre 1723 datieren (wenn man die knappen Erwähnungen zuvor bei Neumeister oder Reimmann außer acht läßt), doch eine Bibliographie der Forschungsliteratur geriete bis in unsere Tage relativ schmal. Die Simon Dach-Tagung sollte dazu führen, den Forschungsstand unter Aufnahme aktueller wissenschaftlicher Diskurse und methodischer Ansätze wesentlich voranzubringen und darüber hinaus das Forschungsinteresse zu beleben. Dieser Band wird das Mögliche dazu beitragen. Auf der Tagung in Klaipơda hielten Fachleute aus der Literaturwissenschaft, Linguist, Geschichtswissenschaft, Theologie, Altphilologie, Musikwissenschaft und Buchkunde aus Deutschland, Litauen, Polen, Rußland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten mehr als vierzig Vorträge. Sie wären alle kaum in einem Band unterzubringen gewesen. In Abstimmung mit den Herausgebern und dem Verlag, in deren Reihe dieser Band dankenswerterweise erscheinen kann, habe ich mich deshalb entschlossen, ganz gezielt Referentinnen und Referenten zur Mitarbeit an diesem Band einzuladen. Daß die Auswahl angesichts der durchweg ertragreichen und fundierten Vorträge nicht leicht fiel, erfüllt mich als Leiter der Tagung zwar mit größter Freude, zeigt es doch, wie gelungen diese Veranstaltung dank aller beteiligten Kolleginnen und Kollegen war; als Herausgeber des Bandes jedoch bedurfte es dafür konzeptioneller Grundentscheidungen, die in manchem Einzelfall schwer zu treffen waren. Es war das Ziel, sowohl in der ›Breite‹ ein Gesamtbild des poetischen Schaffens und der Rezeption Simon Dachs durch die Aufsätze dieses Bandes zu präsentieren als auch durch Interpretationen und Editionen der Autorinnen und Autoren möglichst viele Texte Dachs in der ›Tiefe‹ zu erschließen. Dabei war zum einen erstmals – und endlich – auch der lateinischen Dichtung gebührender Raum zu gewähren, zum anderen galt es die notwendige Interdisziplinarität zu sichern, da sich nur im Zusammenwirken über die ›Fachgrenzen‹ hinaus das Werk und Nachwirken Dachs in allen seinen kulturellen Kontexten verstehen läßt. Natürlich können in einem Sammelband nicht sämtliche Aspekte eines derart umfangreichen poetischen Werks behandelt werden, wenngleich, so denke ich, das Entscheidende für die wichtigsten Kontexte von den Autorinnen und Autoren in ihren Aufsätzen ausgeführt wird. In wenigen Worten läßt sich die Struktur dieses Bandes kaum ohne die große Gefahr unzulässiger inhaltlicher Pauschalierungen beschreiben; gleichwohl sei es versucht. Ausgehend von einer Einführung in Dachs Dichtung (Klaus Garber, Osnabrück), einer sozialgeschichtlichen Auswertung der Verbindungen Dachs zur Königsberger Regierung (Bernhart Jähnig, Berlin) und seinem universitären Wirken an der Albertina sowie einer Vorstellung nebst Edition seiner akademischen Schriften (Manfred Komorowski, Duisburg; Hanspeter Marti, Engi/Schweiz und Lothar Mundt, Berlin) werden zunächst zentrale poetologische Zusammenhänge des Gesamtwerks (Robert Seidel, Frankfurt/M.; Ralf Georg Bogner, Saarbrücken; Wolfgang Neuber, Berlin; Achim Aurnhammer, Freiburg/Brsg.) analysiert; danach sind einzelne Gedichte oder Textkom-

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plexe deutscher und lateinischer Sprache eingehend interpretiert, wobei Aspekte der kasualen Produktionspraxis (David Heyde, Freiburg/Brsg.), des ›Volkstümlichen‹ (Bernhard Jahn, Magdeburg), der Freundschaftsdichtung (Wilhelm Kühlmann, Heidelberg), der neulateinischen Gelehrtendichtung (Lothar Mundt, Berlin), der literarischen Kommunikation Dachs mit anderen Dichtern (Fridrun Freise, Osnabrück/Göttingen) aufgezeigt und seine Liederspiele (Andreas Waczkat, Lüneburg) betrachtet werden; anschließend setzen sich drei Aufsätze mit – wenn man es so verknappt formulieren darf – dem ›geistlichen Dichter‹ auseinander (Dieter Breuer, Aachen; Friedrich Vollhardt, München; Johann Anselm Steiger, Hamburg). Im letzten Drittel des Bandes stehen dann unter verschiedenen Perspektiven zentrale Fragen der Rezeption und des Nachwirkens Dachs über die Jahrhunderte im Mittelpunkt (Žavinta Sidabraitơ, Klaipơda; Roman Luckscheiter, Heidelberg; Stefanie Arend, Erlangen-Nürnberg; Stefan Hanheide, Osnabrück), die nicht nur auf den deutschen Sprachraum zu beschränken, sondern eben auch auf Litauen, Polen (Anna Gajdis, Wrocáaw) und Rußland (Wladimir Gilmanov) auszurichten sind; und zum Abschluß wird ein Vorschlag für eine Bibliographie und Edition des Dachschen Gesamtwerks als eine mögliche Forschungsinitiative zur Diskussion gestellt (Axel E. Walter, Klaipơda). Zwei eingeplante Beiträge konnten leider vor der Drucklegung des Bandes von den Autoren nicht mehr überarbeitet werden. Dieses Vorwort darf nicht ohne tiefempfundene Worte des Dankes schließen, der vielen Personen und mehreren Institutionen abzustatten ist. An erster Stelle gilt er allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz, die durch ihre Vorträge und die angeregten Fachgespräche die Tagung in Klaipơda zu einem wissenschaftlichen Erfolg werden ließen. Daß es überhaupt möglich wurde, so viele Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ländern dazu einzuladen, verdankte sich der überaus großzügigen finanziellen Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Zwei Personen fühle ich mich dabei zu außerordentlichem Dank verpflichtet, Herrn Prof. Dr. Eckhard Grunewald (Oldenburg) und Herrn Dr. Heinz-Rudi Spiegel (Essen), ohne deren persönliches Engagement die Finanzierung kaum gelungen wäre. Finanzielle Unterstützung gewährten außerdem die Nord LB und die Universität Klaipơda; auch dafür bin ich dankbar. Ein besonderer Dank gilt dem Rektor der Universität Klaipơda, Herrn Prof. Dr. Vladas Žulkus, der uns für diese Tage ein äußerst großzügiger Gastgeber war. Die Universität hat mit allem Entgegenkommen ermöglicht, daß die Tagung in dieser großen Form und in äußerst komfortablen Räumlichkeiten stattfinden konnte. Die Tagungseröffnung im Konzertsaal der Kunstfakultät umrahmten Prof. Vytautas Tetenskas und Doc. Irena Peþinjrienơ musikalisch, wofür ihnen in bester Erinnerung zu danken bleibt. Der kleine Festakt am Tage des 400. Geburtstags konnte im Simon Dach-Haus in Klaipơda in einer nicht minder angenehmen Umgebung abgehalten werden. Dafür sei dem Direktor, Herrn Arnold Piklaps, und seinen Mitarbeiterinnen sowie für die musikalische Umrahmung dem dortigen Deutschen Chor herzlich gedankt. In freundschaftlichster Verbundenheit möchte ich Frau

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Vorwort

Doc. Dr. Roma Bonþkutơ, der Leiterin des Lehrstuhls für Literaturwissenschaft an der Universität Klaipơda, danken: Ohne ihre Hilfe wäre die Tagung kaum zu organisieren gewesen, sie hat über Monate mit größtem Einsatz vor Ort alles in die Wege geleitet. Sodann bleibt noch dem ›Team‹ der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu danken, das in Osnabrück die Vorbereitungen und insbesondere die nicht einfache Koordination der An- und Abreisen übernommen hat, und das in Klaipơda für einen nicht nur reibungslosen Ablauf, sondern für eine behagliche Atmosphäre gesorgt hat, die wesentlich dazu beitrug, daß diese Tagung uns allen unvergeßlich bleibt. Es sei als ein Zeichen der besonderen persönlichen Wertschätzung verstanden, wenn ich nach Rücksprache die drei jungen Studentinnen der Universität Klaipơda nur mit ihren Vornamen bedenke, mit denen sie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Gedächtnis geblieben sind: Lina 1, Lina 2 und Vilma. Verena Kleinert und Simon Borgers übernahmen zusammen mit Kilian Küffner von Osnabrück aus die Vorbereitungen, die Leitung des Tagungsbüros und die Koordination zwischen Osnabrück und Klaipơda oblagen Ligija Walter. Schließlich habe ich noch, eigentlich wie stets, wenn ich im Niemeyer-Verlag veröffentliche, Frau Birgitta Zeller-Ebert für ihr Entgegenkommen und ihre Geduld zu danken – und in diesem besonderen Fall auch für ihr Verständnis. Es ist sicher ungewöhnlich, daß der Herausgeber eines Tagungsbandes diesen einer Person zueignet, doch ich bin mir gewiß, daß alle Beteiligten der Simon Dach-Tagung, die diesen Menschen in seiner Fröhlichkeit damals erleben durften, es in dieser Situation verstehen und sich diesem Wunsch gerne anschließen, wenn ich diesen Band meiner Frau widmen möchte. Klaipơda im Dezember 2007 Axel E. Walter

Klaus Garber

Zum Bilde Simon Dachs *

1. Prolegomenon Der so verdienstvolle rührige Veranstalter hat mich gebeten, den Abendvortrag am Geburtstag des Dichters zu halten. Wer täte das nicht gerne? Aber hier und heute herrscht doch eine besondere Situation. Abendvorträge pflegen einem weiteren Publikum zugedacht zu sein. In Osnabrück war beim besten Willen nicht zu imaginieren, woher dieses sich im fernen Memel rekrutieren solle. Dagegen war sicher, daß die geschätzten Kolleginnen und Kollegen anwesend sein würden. Was sonst also im Abendvortrag statthaft sein mag, das Neue zugunsten des Ansprechenden zurückzustellen, durfte hier nicht umstandslos praktiziert werden. Dem Veranstalter schwebte ein Gang durch die Jahrhunderte am Leitfaden Dachs vor. Aber wer das ein-, zweimal an anderen Autoren wie Opitz oder Birken durchexerziert hat, neigt zu Ermüdungserscheinungen. Reizvoll wäre hier nur die dichterische, womöglich auch die musikalische Adaptation gewesen. Sie wird ganz am Rande in das Folgende hineinspielen. Nahe lag es also, auszuweichen auf vertraute Gefilde im Bereich der Grundlagenforschung, zumal auf die der Edition und Bibliographie. Aber das an einem Abend nach einem langen Tag? Ich konnte mich nicht dazu durchringen, zumal diese Dinge anderen Kontexten vorbehalten sind. Die Texte sollten zu ihrem Recht kommen nach so viel anderweitig geleisteter Kärrnerarbeit. Am liebsten ein einziger. Aber da erhob sich dann doch allzu gebieterisch der Schatten Albrecht Schönes hinter einem solchen Vorhaben. Nie werde ich vergessen, wie ich 1974 nach der Rückkehr Schönes aus Wolfenbüttel auf seine Bitte hin in Göttingen zum Telefonhörer griff, um ihm meine Vorbehalte gegen manche seiner Lesungen in dem inzwischen berühmten Vortrag zu artikulieren. Man hatte zwar seinen Job in Osnabrück noch gar nicht angetreten, war dafür aber über Benjamin und Adorno, Kant, Hegel und Marx, und natürlich in philologicis über Alewyn, Trunz und wie sie hießen, auf der Höhe der Zeit und also nicht zimperlich mit Kritik. Heute staune ich, wie Schöne mit ganz anderer Herkunft so viel am Dachschen Text gewahrte – auch wenn gewiß _______ *

Der Wortlaut des Abendvortrags wurde beibehalten. Nur die nötigsten Anmerkungen sind beigefügt. Das gesamte philologische Material findet man ausgebreitet in einer abgeschlossenen buchförmigen Abhandlung, in der die Ergebnisse dreißigjähriger Dachforschungen des Vf. v.a. im Osten Europas zusammengefaßt sind. Die Abhandlung erscheint in einem Buch mit dem Arbeitstitel: Martin Opitz, Paul Fleming und Simon Dach auf der Reise in den Osten. Es erscheint im Böhlau-Verlag in der gemeinsam mit Axel E. Walter herausgegebenen Reihe Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas.

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mancherlei zu sagen blieb. Von meinem Freund Wilhelm Kühlmann wußte ich, daß er sich eines anderen großen Textes von Dach in seinem Eröffnungsvortrag widmen wollte. Auch das ermutigte nicht zur Wiederholung. Aber deswegen einfach ein paar besonders schöne Texte herausgreifen, um am Bilde Simon Dachs zu modeln? Das verstieß dann doch gegen eigene bislang praktizierte Usancen. Und ein allgemeines Porträt mit einigen locker eingestreuten Textbrocken? Das mochte für die Zeitung angehen, in der der Geburtstag schließlich auch zu würdigen war, nicht aber hier vor den Kennern. So schoß es mir beim morgendlichen Schwimmen durch den Kopf, dem Zufall ein wenig sein Recht zu belassen und also etwas zu riskieren. Nicht in Gestalt einer dem Augenblick sich anvertrauenden freien Rede. Sondern in der Wahl der Texte. Es reizte mich, zu jedem runden neuen Jahrzehnt in die Dachsche Produktion hineinzuschauen und jeweils eine Kostprobe näher zu betrachten. Vier Gedichte also zwischen 1630 und 1658 werden zur Sprache kommen. Da bleibt genügend Zeit, auch einige allgemeinere Fragen zu bedenken, wie gleichfalls am Abend doch gewiß statthaft. Mit ihnen also sei eingesetzt.

2. Das Bild des Dichters im Wandel der Zeit Kein Dichter des 17. Jahrhunderts scheint so gut über die Zeiten hinweg gekommen zu sein wie Simon Dach. Er hat, soweit mir bekannt, keine kritischen Stimmen auf sich gezogen. Diese Rolle teilt er mit anderen, aber eben doch auf eine kaum vergleichbare Weise. Flemings durchgängige Wertschätzung rührte zunehmend daher, daß man bei ihm Züge der späteren Zeit präformiert fand, wie auf andere Weise etwa bei Günther. Es war also ein Aspekt der Peripherie, der das Urteil prägte. Andere wie Gryphius oder Grimmelshausen wurden die Jahrhunderte über für so unterschiedliche, in steter Wandlung begriffene Aspekte, um nicht zu sagen Weltanschauungen, in Anspruch genommen, daß schon deshalb ein irgend gearteter Vergleich nicht statthaft wäre. Hier kamen eben auch Disparitäten der Gattungen ins Spiel. Verbleibt man aber auf dem Feld der Lyrik, so dürfte die Diagnose sich bestätigen. Opitz, das große Vorbild auch für Dach, war im Blick auf sein Nachleben mit dem Verdikt belastet, nicht eigentlich zum Dichter zu taugen. Rist geriet in die Kritik ob des Übermäßigen seines Selbstanspruchs, gepaart mehr als einmal mit dem Vorwurf der Vielschreiberei. Zesens prekäre Rolle schon in der eigenen Zeit ist bekannt. Sie hat sein Bild verdunkelt und wurde immer wieder genährt durch seine Entrüstung herausfordernden sprachlichen Extravaganzen. Die Kritik an den Nürnbergern, Birkens an erster Stelle, ist nur zu bekannt, setzte sie doch noch im späten 17. Jahrhundert selbst ein und nur wenige Spätere vermochten sich ihr zu entziehen. Ein ganz ähnlicher Fall also wie bei den späteren Schlesiern. Maßgeblich verantwortlich für die Verteilung der Akzente waren die Klassizisten um 1700, mit Morhof, Neukirch und vor allem Gottsched an der Spitze. Dach wird – wie Opitz, wie Fleming, wie Rist – von Gottsched emphatisch ge-

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priesen, und er ist der einzige, dem zu späterer Stunde nichts von diesem Lob genommen wurde, wobei einzuräumen ist, daß er nicht die gleiche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte wie die anderen genannten. Grund genug freilich für die Leitfrage, was an seinem Werk dazu angetan war, den Fährnissen und Klippen der nachfolgenden Jahrhunderte unbescholten zu trotzen. Wir gäben viel darum, zur Ergründung dieses Rätsels mit beitragen zu können. Es scheint dies die ureigenste Aufgabe unseres gleichermaßen historischen wie kritischen Geschäfts zu sein.

3. Überlieferung des Werks Die philologischen Voraussetzungen für ein solches Unterfangen sind im Vergleich zu anderen Autoren gewiß nicht die schlechtesten. 1 Aber sie sind umgekehrt doch keinesfalls als zufriedenstellend anzusprechen. Die große, heutigen Ansprüchen genügende Ausgabe fehlt. Das geht vielen anderen Autoren ähnlich. Und doch ist die Situation im Falle Dachs neuerlich eine besondere. Und das nicht nur im Blick auf die fehlende Ausgabe zu Lebzeiten oder alsbald nach seinem Tode. Vielmehr im Blick auf die Lage der Überlieferung. Ein in seiner Produktion derart auf die lokalen Bewandtnisse verwiesener Autor wie Dach besaß die Stützen für die Sammlung seines Werks in der Region. Sie ist wie keine andere Mitteleuropas im Zweiten Weltkrieg lädiert worden. Die archivalischen und bibliothekarischen Zentren existierten nicht mehr und wurden nach dem Krieg nicht rekonstruiert. Wir sind seit 1979, seit der ersten Reise in die DDR und nach Polen und sodann seit 1984, dem Zeitpunkt der ersten Reise in die Sowjetunion, damit befaßt, die Fragmente des Zerschlagenen allerwelts wieder zusammenzusuchen und den ursprünglichen sammlerischen Einheiten zu reintegrieren. Ein Ende dieser Bemühungen ist nicht abzusehen. In dieser Situation bleibt es zu beklagen, daß der kurz vor der Katastrophe unternommene bewundernswerte Versuch einer wenigstens im Deutschen um Vollständigkeit bemühten Versammlung der Dachschen Texte mit so eminenten Mängeln behaftet ist. Für einen Dichter, dessen Werk durchgängig vom Schreiben bei Gelegenheit lebt, gelten eben auch andere editorische Regularien. Wir wissen bei keinem der Hunderte von Dachschen Texten in Sammelschriften, welche Position sie dort einnahmen, ob sie womöglich betitelt waren, wie sie also in einem Ensemble sich präsentierten, als welches die kasuale Sammelschrift einen Anspruch auf Würdigung hat. Auch die Dünnhauptsche Bibliographie hilft hier nicht weiter. Selbst der kleine bescheidene Beitrag des heutigen Abends, ohnehin nur auf deutschsprachige Texte bezogen, hätte nicht vorbereitet werden können, wenn nicht der Rückgriff möglich gewesen wäre auf die großen Sammlungen originaler Dachscher Texte aus der Wallenrodtschen Sammlung in Vilnius und St. Petersburg, der Kollektionen der Königsberger Deutschen Ge_______ 1

Eine Besprechung der Dach-Ausgaben – der existierenden wie der geplanten – im ersten Teil der oben erwähnten zweiteiligen, jeweils acht Kapitel umfassenden Abhandlung des Vf.

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sellschaft an diversen Stellen im Osten, Arletius’ in Breslau, Meusebachs in Berlin etc., die wir in Osnabrück zusammengetragen haben. Ist dies ein Zustand, mit dem wir uns auf Dauer abzufinden haben? Doch es war der Vorsatz, nicht wieder auszuweichen auf Prolegomena, so sehr es einen Reisenden reizen würde, vor dem versammelten Fachpublikum die Entdeckungen auszubreiten, die eben in dem vergangenen viertel Jahrhundert gerade auch im Blick auf die Königsberger zu machen waren. Sie sollen an anderer Stelle präsentiert werden. Wulf Segebrecht hat auf unserem Königsberg-Kolloquium in Rauschen vor elf Jahren bekannt, daß er vier »bedeutende Initiativen zur Belebung der Simon Dach-Forschung und -Rezeption« in der Nachkriegszeit erkennen könne. Schönes erwähnten Vortrag auf dem Wolfenbütteler BarockKolloquium 1974, Grass’ Treffen in Telgte, Kelletats Edition des Königsberger Dichterkreises bei Reclam und schließlich Dünnhaupts Dach-Bibliographie. 2 Nun, ich denke, in diese Reihe dürften sich die auf das akademische Königsberg bezogene Grundlagenforschung Manfred Komorowskis und Hanspeter Martis und die Osnabrücker Ermittlungen der Quellen nebst bibliothekarischem Umfeld hinzugesellen. Mögen sie alle einschließlich unseres derzeitigen Kolloquiums dazu beitragen, daß wir wenn nicht eine neue, so doch eine sinnvoll ergänzte Edition und eine gereinigte und erweiterte Bibliographie der Dachschen Texte in übersehbaren Zeiträumen zustandebringen. Im Dienste dieser Texte und der mit ihnen verbundenen Aufgaben stehen auch die folgenden Bemerkungen und Beobachtungen.

4. Das erste Hochzeitsgedicht aus dem Jahr 1630 Vier Stücke der Dachschen Produktion liegen aus dem Eingangsjahr 1630 vor, verteilt auf den April, Juni und November, eines undatiert. Die Produktion aus dem ersten Jahr, in dem Dach – von Ausnahmen abgesehen – öffentlich hervortrat, weist also noch erhebliche Amplituden auf. 3 Es handelt sich um zwei Hochzeitsgedichte und zwei Trauergedichte. Nur eines von ihnen, das Hochzeitsgedicht zum 19. November, steht in deutscher Sprache. Folglich wird die Ausgabe Ziesemers, die ja ausdrücklich der Pflege des Deutschtums im deutschen Osten dienen sollte und also die lateinischen Texte kurioserweise ausspart, eben mit diesem Text eröffnet. 4 Oesterley verzichtet auf das Gedicht in _______ 2

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Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier S. 944 ff. Die Ausnahme: Michael Schilling: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928 – 1992). Hg. von Mirosáawa Czarnecka, Andreas Solbach, Jolanta Szafarz [u.a.]. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2504), S. 367–377. Der Text bei ZIESEMER I, S. 3 ff., mit der bibliographischen Referenz S. 317, Nr. 1.

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seiner Dach-Ausgabe überhaupt, verzeichnet es nur bibliographisch mit dem schönen Zusatz, daß die Schrift mehrere »fremde Gedichte« kenne, darunter eines von Albert. 5 Nackt und bloß und nur versehen mit den Namen der Hochzeiter und dem Datum des Anlasses steht der Text bei Ziesemer da. Immerhin ist der betreffenden Anmerkung zu entnehmen, daß es sich um eine Sammelschrift mit lateinischem Titel handelt, der abgekürzt erscheint. 6 Zwei weitere Teilnehmer an dem Gemeinschaftswerk tragen lateinisch bei, zwei andere deutsch, darunter Heinrich Albert mit dem gleichfalls ersten von ihm bekannten Gedicht, das Ziesemer benennt: »Delia, die Pracht der Felder« (nicht wieder gedruckt, so weit ich sehe). Das Wertvollste der Ziesemerschen Ausgabe sind die Angaben zu den Personen. Sie waren nur zu erstellen solange das Stadtarchiv verfügbar war, über dessen Fortexistenz womöglich in Moskau wir immer noch so gut wie nichts wissen. Ziesemer hat eine gewaltige Personenkartei angelegt, aus der er für seine Ausgabe schöpfte. Sie befindet sich heute im Geheimen Preußischen Staatsarchiv zu Berlin, wo sie von uns benutzt wurde. Das kleine Sammelwerk stand in der berühmten Handschrift 301.4.286 der mächtigen Bibliothek des Königsberger Staatsarchivs, die verschollen ist, und in der Breslauer Sammlung des Arletius, die sich erhalten hat. 7 Ihr also entnehmen wir die weiteren Informationen, die stets gesichert sein sollten, bevor es zum Text selbst gehen kann. _______ 5 6

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Die bibliographische Referenz bei OESTERLEY, S. 1007, Nr. 942. Die bibliographischen Angaben bei ZIESEMER sind grundsätzlich nicht buchstabengetreu und vielfach auch nicht wörtlich zu nehmen. Sie sind unter erheblichen herausgeberischen Eingriffen erstellt, taugen also nicht für bibliographische Ansetzungen und schon gar nicht für mögliche Exemplar-Vergleiche. In der Dünnhauptschen, über 1200 Nummern umfassenden Dach-Bibliographie ist jeder Titel mit Fehlern behaftet, vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. verb. u. wesentl. verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. 2. Teil. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996–1230. Das ist an Dutzenden von Fällen in der Abhandlung des Vf. gezeigt worden und kann deshalb hier unberücksichtigt bleiben. Der Eintrag des vorliegenden Gedichts bei Dünnhaupt ebd., S. 1012, Nr. 74, mit Verweis auf den Eintrag sub verbo Albert, ebd., Bd. 1, S. 179, Nr. 5. Der dort plazierte Kurztitel der Sammelschrift – grundsätzlich fälschlich als »Anon.« qualifiziert – ist nur unerheblich besser und durch willkürliche Zusammenziehungen gleichfalls nur für eine erste sachliche, nicht jedoch für eine bibliographische Verwendung brauchbar.– Auch Dünnhaupt kennt nur das Breslauer Exemplar. Der Text steht damit in der größten verfügbaren Dach-Sammlung, derjenigen des Caspar Arletius, die – überkommen aus der Breslauer Stadtbibliothek – die Universitätsbibliothek Wrocáaw verwahrt, in der ersten Gruppe der Hochzeitsgedichte, und dort im zweiten Halbband als Stück 113. Entsprechend lautet die alte Signatur der einst in der Rhedigerschen Bibliothek in der Elisabethkirche verwahrten Sammlung mit dem Ordnungsbuchstaben E für die Poesie: 4 E 221 (113). Das verbirgt sich hinter den kryptischen Angaben bei OESTERLEY: »Rhed. 2, 733« und ZIESEMER: »Rhed. 2, 113 (733)«. Beide zählen nur die Bände in der Dach-Folge und geben zusätzlich die handschriftlich eingetragenen Seitenzahlen mit an, die in Sammelbänden natürlich bibliographisch keine Bedeutung haben. Es fehlt bei beiden die Systemstelle der Breslauer Stadtbibliothek. Die jetzige Signatur: 353637. – Das siebte Kapitel des zweiten Teils der Dach-Abhandlung des Vf. ist der DachSammlung des Arletius in Breslau gewidmet. Dort auch die Literatur zu dem Sammler.

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Dachs Gedicht steht ohne eigenen Titel an vierter Stelle nach zwei acht- bzw. sechszeiligen lateinischen Beiträgen und einem vierzigzeiligen deutschen in paarreimigen Alexandrinern. Beschlossen wird die Schrift durch das erwähnte schäferliche Lied Alberts ohne Noten, das Opitz nachgebildet ist. Dachs Gedicht behauptet also keinen herausragenden Platz. Auffällig in der kleinen Sammelschrift ist seine Länge. Es handelt sich um ein großes Alexandrinergedicht in 26 Strophen mit jeweils vier paarreimigen Versen. So viel Raum hat Dach später nur noch ausnahmsweise für ein Epithalamium beansprucht und überdies den Alexandriner in dieser Gattung kaum mehr bemüht. Da meldet sich jemand zu Wort, der noch beträchtliche Zeit auf ein einzelnes Gedicht verwenden kann und Formulierungen erstmals prägt. Wer aber vermeinte, daß der Eintritt ins literarische Leben, wenn er denn überhaupt mit diesem Stück geschah, zum demonstrativen Herzeigen formalen Könnens verführen würde, sieht sich getäuscht. Die Verse sind – von gelegentlichen doppelten Senkungen abgesehen – korrekt gebaut, mythologische Verweise sind sparsamst gehandhabt, nur Venus findet Erwähnung, die Bilder sind die eingeführten – die Lebensreise, des falschen »Glückes Rund« bzw. des »Glückes Zinnen«, des Lebens Schiff einmal im windlosen Meer, einmal inmitten der stolzen Wellen, etc. Um so mehr Sorgfalt hat der Dichter auf die Entwicklung des Themas und seine eindringliche gedankliche Ausschöpfung gelegt. Dafür eben braucht er Raum. Er behandelt das im Epithalamium Übliche und sogleich über Opitz Vermittelte des Gegensatzes von ehelicher und freier Liebe. Wir haben gerade ein vor geraumer Zeit in Vilnius entdecktes, aus Grodno in Weißrußland herrührendes, bislang also unbekanntes Gedicht des jungen Opitz zu diesem Thema wieder in der Hand gehabt. Der überschlägt sich geradezu in der Engführung ungewöhnlicher Bilder und Wendungen, so daß meine versierten altphilologischen Kolleginnen und Kollegen so gut wie keinen Rat wußten bei der Aufhellung der Traditionsgeschichte. 8 Nichts von alledem bei Dach. »WJe vngleich geht es zu auff dieser Lebens Reise« lautet die mottoartige Feststellung in der ersten Zeile. Sie wird entfaltet im Blick auf die ganz verschiedenartigen Lebenswege unter dem Stern von Venus und Fortuna, die beide ein so verhängnisvolles Spiel mit dem Menschen zu treiben vermögen. Vor ihm zu warnen, ist der weit über den Anlaß hinausführende Impetus des Gedichts. Es nimmt die Gestalt eines Lehrgedichts an. Der Bräutigam – »er lebet gantz befreyt/ | Indem er schläfft vnd wacht in steter Sicherheit.« (V. 15 f.) Der Autor als Sprecher eines kollektiven ›Wir‹ vergönnt sie ihm, verbunden mit dem Segenswunsch und dem weiteren, daß die Zeit der Eheleute im Zeichen »höchstgewünschter Lust« stehen möge (V. 23). Sein sorgenvoller Blick aber gilt ihm und den anderen, eben einem ›Wir‹, das dieses Glücks bislang nicht teilhaftig ist und also den Gefährdungen der Venus auf der Lebensreise ausgesetzt bleibt – hier ist die Schiffahrts- und MeeresMetaphorik verankert. Der Ausmalung der Verheißungen, die sich als Verfüh_______ 8

Das wiederentdeckte Opitzsche Gedicht ist in dem oben erwähnten Buch des Vf. zitiert (mit deutscher Übersetzung) und interpretiert.

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rungen herausstellen werden, ist die Mehrzahl der Strophen gewidmet. Das kann hier nicht ausgebreitet werden. Psychologisch sehr versiert arbeitet der Autor auf den Umschlag hin, wonach da ein Liebhaber sein Leben auf die Gewinnung seiner Angebeteten gewendet hat, um nach Nichterhörung in deren höllische Schmähung zu verfallen: Wir schmähen/ die zuvor die schönste war auff Erden/ Wiewols nicht hertzlich ist/ im fall der bösen Lust Der wütenden begier ein anders ist bewust. (V. 66–68)

Wer sich schreibend zu artikulieren weiß, so der Dichter, beklagt fortan die »Tyranney« (V. 71) der vormals Angebeten. Es ist das Rollenspiel aus den »schönen Schäffereyen« und dem Amadis – beide im Text ausdrücklich erwähnt (V. 41 und 43) –, das da lebensgeschichtlich und existentiell gewendet und ohne eine Spur von Cervanteschem oder Sorelschem Humor in seine todernsten Konsequenzen überführt wird. Denn angenommen – und der Dichter spielt das Spiel ganz gegen die petrarkistischen Regeln zu Ende – die Angebetete und dann Verdammte vermag schließlich doch erweicht zu werden: Jm Fall dieselbe Lust/ was bringt sie nicht zu wegen? Vor Ehren Schimpff vnd Spott/ den Fluch vor guten Segen/ Die gar zu falsche Lust/ was bringt sie nicht für Leid? Sie ist der Tugend Mord/ sie ist ein Raub der Zeit/ Was einem/ weil er Jung die Lieb’ hat geben müssen/ Das muß er/ wenn er alt vnd schwach/ offt erstlich büssen/ Es naschet mancher jetzt so viel ohn allen Raht/ Daß er biß in das Grab gnug zuverdawren [!] hat. (V. 89–96)

Das Ganze der Lebensreise, wie es da in der ersten Zeile hieß, wird ins Auge gefaßt. Und da steht am Ende der die Freuden der Venus Genießende, um die sich nicht das Band der ehelichen Liebe schlang, als Betrogener dar. Er hat in der Zeit vertan, was ihm in der allemal bemessenen Zeit als segenvolles Geschenk hätte zufallen können. Er ist am Schluß der arme Sünder, der den falschen Weg einschlug, auch ohne daß der Dichter – wie alsbald so häufig – die biblischen Analogien bemühen würde. Das Glück der Hochzeiter ist ihm nicht zuteil geworden. Eheleute, so hatte es in einer doch wohl nur schwer wieder aus Kopf und Herz zu bannenden Wendung in der vorletzten Strophe geheißen, Sie sind ergeben gar der höchsten freundligkeit/ Verwart vnd zugedeckt/ vor alles Glückes neidt. (V. 99 f.)

Erst in der letzten Strophe wendet sich der Dichter nach dieser allgemeinen Feststellung den beiden Hochzeitern wieder zu, um derentwillen er doch poetisch tätig geworden war. Es geschieht auch dies ohne die geringste Konzession an den gewöhnlichen augenzwinkernden Wunsch für die Nacht. Die keusche Lust, die der Bräutigam mit seiner Braut teilt, wird von eben jener Erkenntnis begleitet sein, die der Dichter soeben allgemein formuliert hatte, die herauszumeißeln Aufgabe seines Erstlings in deutscher Sprache war und die sich nun an dem Bräutigam bewährt und bewahrheitet:

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Klaus Garber Der Bräutgam wird nun auch hiervon zu sagen wissen/ Wenn er die keusche Lust mit seiner Braut wird büssen/ Es wird jhm numehr auch/ recht erstlich sein bekandt/ Was Liebe sey vor Noth/ die ausser diesem Stand. (V. 101–104)

Stimme, Weltverständnis, Stil großer Künstler wie großer Denker sind offensichtlich – und sei es nur keimhaft – von Beginn an vorhanden und vernehmbar. Dach hat seine Rolle in der städtischen Gemeinschaft Königsbergs mit seinem ersten – einen weiteren Kreis über die deutsche Sprache erreichenden – Gedicht gefunden. Er wird stets Sorge tragen für das Decorum. Das Hochzeitsgedicht soll Freude spenden in der festlichen Gesellschaft. Doch bleibt einem jeden gelungenen Gedicht, ohne die leiseste Spur des Zwangs, die Artikulation von Wissen und Erfahrung, eben von Weisheit vermählt. Das war das Erbe, das der neueren Poesie im Zeichen des Humanismus jenseits von konfessioneller Agitation und gar zu beschränkter und mehr als einmal ins Spießige abgleitender bürgerlicher Genügsamkeit nun endlich auch in der deutschen Sprache zugefallen war. Dach hat in dem ihm verbleibenden dreißig Jahren wie niemand sonst – weder in Königsberg noch in irgend einer anderen Stadt des deutschen Sprachraums im 17. Jahrhundert – dieser sittigenden, Geselligkeit stiftenden Kraft der aus humanistischem Geist erneuerten Poesie seine musischen Gaben zuteil werden lassen.

5. Ein Trauergedicht auf den Tod von Anna Gericke aus dem Jahr 1640 Ein Jahrzehnt später steht Dach beruflich gefestigt und als Dichter gesucht inmitten der Königsberger Stadtgemeinde und zugleich exzellent ausgestattet mit Verbindungen zum kurfürstlichen Haus da. Er ist über die Position des Kollaborators und des Konrektors der Domschule auf ausdrückliche Intervention des Kurfürsten hin 1639 zum Professor für Poesie an der Albertina ernannt worden. 1640 übernimmt Friedrich Wilhelm, der spätere ›Große Kurfürst‹, die Regentschaft, Dach fortan freundschaftlich zugetan. Der Dichter aber hatte 1635 auch schon im Mittelpunkt gestanden, als in Anwesenheit Wáadysáaws IV. die Huldigung des Monarchen in allegorisch verpuppter schäferlicher Manier mit dem Cleomedes in der Albertschen Vertonung im Haus des Bürgermeisters von Kneiphof vor reichlich versammelten preußischem und polnischem Adel über die Bühne ging. Selbstverständlich ist er gleichfalls gemeinsam mit Albert zur poetischen Begrüßung zur Stelle, als Opitz im Juli 1638 ein Jahr vor seinem Tod in Königsberg weilt. Doch das sind die wenigen spektakulären Ereignisse im Leben eines Gelehrten, der nach seiner Rückkehr im Jahr 1626 von den Stätten der Ausbildung – Wittenberg und Magdeburg – seine preußische Heimat nicht mehr verlassen hatte und nun in der Stadt unermüdlich poetische Dienste wahrnahm. Und das weit über das von Amts wegen ihm Auferlegte, aber auch das finanziell Erforderliche hinaus, das ihm da immer wieder als entscheidender Antrieb unterstellt wurde.

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Aus dem Jahr 1640 liegen 25 Hochzeitsgedichte vor, zwölf auf lateinisch, elf auf deutsch, zwei auf griechisch. 9 Die weitaus überwiegende Zahl entstammt Sammelschriften, Dach ist also Beiträger neben anderen. In den meisten Fällen nimmt er aus Gründen, die sich natürlich eruieren lassen, uns hier aber nicht beschäftigen können, die Position an der Spitze oder aber am Ende ein. Mehrfach stehen ein lateinischer und ein deutscher Beitrag in der gleichen Sammelschrift zum selben Anlaß. Dann ist das Verhältnis beider zueinander zu erkunden. Und das liegt keineswegs immer so offenkundig zutage wie in dem Fall, daß dem Hochzeiter ein Rollengedicht in den Mund gelegt wird (in dem ausnahmsweise alle gängigen Petrarkismen vorbeidefilieren) und der Dichter dann selbst nochmals das Wort ergreift. Die griechischen Beiträge sind natürlich im akademischen Milieu angesiedelt, im einen Fall für einen Hofgerichtsrat und Beamten des samländischen Konsistoriums, im anderen für Michael Behm, den Theologen. Aus der Trauerproduktion des Jahres 1640 liegen 23 Beiträge vor, 18 auf deutsch, fünf auf Latein, die letzteren alle im akademischen Milieu, ohne daß Einzelheiten namhaft gemacht werden können. In den deutschen Trauerschriften tritt Dach jetzt sehr viel häufiger als alleiniger Autor hervor, folglich überwiegt die Verfasserschrift, sie mehrfach mit zwei Beiträgen zum gleichen Anlaß ausgestattet. Gerade dieser Typ kommt einem ausgeprägten Dachschen Bedürfnis entgegen, einmal die schlichte christliche Botschaft ohne Adressatenbezug zu formulieren, das andere Mal die Hinterbliebenen anzusprechen oder die bzw. den Verstorbene(n) zu würdigen. Wo nur ein Gedicht pro Anlaß vorliegt, überwiegt in völligem Gegensatz zu allen rhetorischen Rezepten die Artikulation der Glaubensgewißheit ohne direkte persönliche Bezugnahme auf den Verstorbenen – eine doch wohl bemerkenswerte Bewahrung von Freiheit angesichts der wichtigsten festlich-zeremoniellen Begehung, die die menschliche Gemeinschaft seit Menschengedenken kennt. Bleibt zu erwähnen, daß wir aus unserem Musterjahr noch zwei personenbezogene Gedichte aus anderem Anlaß und ein Lied auf den 1. Mai besitzen. Hinzutreten 17 Beiträge aus der Feder Dachs in Alberts Arien, von denen im Jahr 1640 der dritte Teil erschien. Durchschnittlich also werden monatlich knapp ein halbes Dutzend Texte verfaßt. Sieht man aber, daß es zum Beispiel eine lange Sommerpause gibt, so sind es de facto in vielen Monaten mehr. Und natürlich müssen wir gewärtig sein, keinesfalls alles mehr verfügbar zu haben. Auf eine denkwürdige Weise hat Dach es gleichwohl verstanden, Niveau zu wahren, nur ganz selten ist eine eher routinemäßige Behandlung zu spüren. Ganz offensichtlich beförderten der Auftrag, dem er sich verschrieben hatte, und die Achtung, um nicht zu sagen die Demut gegenüber den ihm poetisch anvertrauten Personen dieses immer neuerlich einsetzende Exercitium an meditativer Konzentration und ein ihr geschuldetes Bemühen um die persönlich geprägte Handschrift. _______ 9

Es ist nicht auszuschließen, daß die Zählungen geringen Schwankungen unterliegen. Es war nicht mehr möglich, die neu entdeckten deutschen und lateinischen Gedichte Dachs, die in dem oben angekündigten Buch des Vf. präsentiert werden, im Blick auf einen möglichen Zuwachs hinsichtlich der auf die runden Jahreszahlen bezogenen Produktion zu untersuchen. Die ins Auge springenden Gewichtungen werden davon so oder so nicht berührt.

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Es fällt folglich schwer, eine Wahl zu treffen. Ich bemühe mich um größtmögliche Unvoreingenommenheit. Nach einem Hochzeitsgedicht soll es nun ein Trauergedicht sein. Der Alexandriner ist bis auf zwei Ausnahmen verschwunden. Es überwiegt in beiden Gattungen wie in der Hochzeitsdichtung die liedförmige Strophik. Mehrere Gedichte sind vertont, fast alle von Stobäus. In einem Fall hat Dach sogar ein paar Daktylen gewagt. Ich wähle also aus Gründen der Symmetrie nochmals eines der beiden Alexandrinergedichte, und zwar nicht das in diesem Versmaß stehende Sonett, sondern eine Einzelschrift vom 26. Juli – drei Tage vor seinem Geburtstag und zugleich dem letzten vor der Sommerpause dieses Jahres. Weder bei Oesterley noch bei Kelletat oder sonstwo ist es nachzulesen, nur bei Ziesemer findet man es, und der kannte erstaunlicherweise auch schon kein Königsberger Exemplar mehr, sondern mußte nach Breslau zu Arletius ausweichen. An Hn. Greger Werner, Bürger und Handelsmann der Stadt Kneiphoff, als er der Frawen Annae Gericken, seines Hertzgeliebten Ehegatten Hintritt betrawren muste; geschrieben den 26. Hewm. i. J. 1640. 10 60 strophisch nicht gegliederte, paarreimige Alexandriner hat Dach dem Ereignis gewidmet. Das Gedicht gehört zu der insgesamt kleineren Gruppe, in denen eine persönliche Anrede erfolgt, hier also an den Witwer. Als »liebster Freund« wird er gleich in der zweiten Zeile tituliert. Der Dichter weiß nicht, ob er lieber reden oder schweigen soll. Wir kennen diese topischen Eingänge angeblich mangelnder rednerischer Befähigungen. Solche Wendungen finden sich bei Dach so gut wie gar nicht, will sagen, er arbeitet nicht mit ihnen. Das Zögern am Eingang entspringt der Erwägung, ob er über Reden oder Schweigen dem Trauernden eher beizustehen vermag. Dieser Auftakt selbst transzendiert den Raum der Poesie, obgleich selbstverständlich in ihr artikuliert, um die Entscheidung von dem Gegenüber abhängig zu machen. Der rhetorische Schachzug ist wortlos verabschiedet. Die Entscheidung fällt mit Blick auf die Verstorbene. Sie darf nicht wortlos ins Grab sinken. _______ 10

Vgl. OESTERLEY Nr. 613; ZIESEMER III, S. 49 f. mit S. 466; Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 6), Nr. 229. Die alte Breslauer Signatur: 4 E 223 (156); die jetzige: 354142. Der bislang an keiner Stelle korrekt zu lesende Titel lautet: An den | Ehrnvesten vnd Vornehmgeachten | Herrn Greger Werner/ | Bürger vnd Handelsmann in der Churfl. Stadt | Kneiphoff Königsberg | als er mit hochbetrübtem Hertzen | Der | Ehr vnd Thugendreichen | Frawen Annae Gericken/ | seines Hertzgeliebten Ehegatten seeligen Hintrit | betrawren muste | Geschrieben | Den .26 [!] Hewmonats=Tag | im Jahr 1640. | [Holzschnitt mit Totenkopf auf dem Sarg. Strich.] Gedruckt zu Königsberg in der Altstadt | bey Segebaden Erben. – Die Lesung des Impressums ist wegen Beschädigung der Textsubstanz unsicher. Man vergleiche damit die Dünnhauptsche Aufnahme. Sie ist mit Gewißheit nicht über Autopsie erfolgt, sondern Ziesemers verknappter Angabe nachgebildet, wie dort mit Lesefehlern, fehlenden Zeilenbrechungen, fälschlicher Klammerung (»[Als er]«) etc. Es bleibt unverständlich, daß Ziesemer wie Dünnhaupt auf Nachweis der Drucker verzichten. – Dem hier zitierten Stück voran steht im Breslauer Band die Trauerschrift Dachs für Gregor Werner, der 1652 verstarb. Solche Zusammenhänge werden über die alphabetisch nach Adressaten geordneten Trauergedichte in der Sammlung Arletius mühelos greifbar. Ziesemer hat einen entsprechenden Hinweis leider bereits versäumt. Folglich ist auch bei Dünnhaupt keine diesbezügliche Information zu finden.

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Dem Witwer wird zugemutet, das in der Rede wieder aufgeweckte Leid zu ertragen um der geliebten Gattin willen; zugleich aber auch – dies aber erst der Skopus am Schluß und in allen Dachschen Trauergedichten virulent –, um zu lernen, sich in seinem Schmerz zu fassen und zu mäßigen, den Blick nach innen und nach oben zu richten. Es ist diese Gabe der Empathie in den Eingängen zu den Dachschen Trauergedichten, die über die Zeiten hinweg anrührt und dazu beigetragen haben dürfte, Dach – wie sonst nur den Dichtern des Kirchenlieds – eine kleine treue Leserschaft zu bewahren. Hören wir den Eingang: MJt was Thun sol ich mich in ewrem Kreutze zeigen/ Herr Werner liebster Freund/ mit reden oder schweigen? Jch weiß daß jedes Wort von ewrer Noth vnd Pein Jn ewrem Hertzen werd’ ein scharffes Messer seyn Das Marck vnd Bein durchdringt; mit schweigen übergehen Der wahren Tugend Preiß scheint mir nicht zu=zu=stehen/ Vnd ewrer Liebsten Sinn vnd Gutthat treibt mich an/ Daß ich derselben nicht vergessen sol noch kann 11 Jm fall noch nie bey mir ein Vndanck Platz gefunden.

Es ist eine ethische, eine vom ›Du‹ sich herleitende Verpflichtung, die den Dichter zum Sprechen verhält. Und der hat keine Scheu, die persönlichen Bewandtnisse, die ihn mit dem Paar verbanden, im Gedicht zur Sprache zu bringen, sind sie doch die Ursache auch für seinen eigenen unmäßigen Schmerz ebenso wie für die Nötigung, das nun ins Vergangene Gerückte gegenwärtig zu halten und derart zu bewahren. Ihre Tugend, ihr gutes Wesen war in dem Mund der Bürger ringsum. Der Dichter weiß es aus eigener Erfahrung zu bekräftigen: Jch bin nicht bey mir selbst/ vnd kenne kaum den Tag/ Vor Müh’ vmb Sie vnd Euch. Jch wil darauff nicht kommen/ Mit was Bescheidenheit sie mich offt angenommen Bewirtet vnd versehn/ nur darumb daß sie meint’ Ich were/ wie ich bin in Warheit/ ewer Freund Vnd künfftig werde seyn. […] (V. 24–29)

Dieses in das bürgerliche händlerische Milieu hereinsprechende Gedicht ist nicht einer wie auch immer gearteten Verpflichtung geschuldet, kennt keinen kalkulatorischen, strategischen, eigennützigen Seitenblick; es entspringt der privaten freundschaftlichen Verbundenheit und besitzt keinen anderen Grund als sie. Man möchte wähnen, daß sich die Gattung des Gelegenheitsgedichts in derart schlichten Bekundungen mitfühlender Menschlichkeit erfüllt, aber vielleicht ist das dann doch ein wenig zu weit über das Zeitalter hinaus gedacht. Nur eben die Lebendigkeit über die Zeiten hinweg mag darin gründen. Aber natürlich nicht nur. Das Gedicht hat neben dem privaten Vertrautsein einen weiteren Grund in einem gemeinsam gelebten Glauben. Und wenn ich das _______ 11

Ich verzichte hier wie sonst auf Namhaftmachung der Abweichungen von ZIESEMER. Es sind ja nicht nur Virgeln statt Kommata zu setzen, sondern diese bereits in den Eingangsversen in nicht weniger als drei Fällen auch zu eliminieren. Zudem war eine Zusammenschreibung aufzulösen. Der Wortlaut ansonsten korrekt, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit darstellt.

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Gedicht ausgewählt habe, so auch, weil mich dessen Gestalt angesprochen hat. Kenner der Königsberger Theologiegeschichte wissen, was sich da im Gefolge der Reformation auf dem Boden Königsbergs und weit darüber hinaus abgespielt hat. Der Streit um die Lehre Osianders hat nicht nur die Grundfesten des Glaubens, sondern auch die des Staats erschüttert. Der Herzog, auf das redlichste bemüht, die Wahrheit herauszufinden und Frieden unter den Zankenden zu stiften, starb vereinsamt und verbittert, wissend, daß alle seine Bemühungen gescheitert waren. Und so zogen sich die Auseinandersetzungen weit über seinen Tod hin und währten noch im neuen Jahrhundert fort. Das im Ohr, muß man die Dachschen Verse vernehmen, die wie ein Wunder an Reinheit, Schlichtheit und frommer Gewißheit anmuten, sich geben, als habe der Boden nicht gewankt, in Wahrheit aber ihre geläuterte Botschaft aus dem Wissen ziehen, welche entsetzlichen, uns heute noch mit Schaudern erfüllenden Abgründe links und rechts sich da aufgetan hatten: Was sol ich viel erwehnen Der wahren Gottes Furcht/ der Seufftzer vnd der Thränen Bey armer Leute Noth? Sie [die Verschiedene] that des Hertzens grund Des Glaubens tieffen Schatz mit edlen Früchten kunt Die jetzt zwar seltzam sind vnd Christen doch geziemen. Wer wil mag jmmer hin sich grossen Glaubens rühmen/ Jch halte den für fromm/ der Stoltz vnd Vbermuth Von gantzer Seelen hasst/ den Armen gutes thut/ Nicht zänck= vnd neid=isch ist/sucht Gott mit reinem Hertzen/ Steht rechten Sachen bey[/] erkennt mit A[n]gst vnd Schmertzen Der Sünden grosse Schuld/ vnd kan bereitet stehn/ 12 Sobald der HErr gebeut aus dieser Welt zu gehn. (V. 29–40)

Dieses christliche Bekenntnis ist durch das Feuerbad des Konfessionalismus getaucht und geläutert aus ihm hervorgegangen. Der Glaube bewährt sich wie selbstverständlich in seinen Früchten, hinweggewischt sind endlose Debatten darum. Die Sakramente, die so viel Zwist auslösten, bleiben unerwähnt. Unverrückbar aber hält sich in der gesamten Dachschen Dichtung das Bewußtsein durch, daß auch das reinste und rechtschaffenste Herz beladen bleibt mit Sünde und Schuld – conditio humana im Lichte des Ewigen, tausendfach von Dach in seinem Werk bekräftigt. Der Dichter tritt auf in seinen eingeschränkten städtischen Verhältnissen als Sprecher des als verbindlich Erkannten, das immer neu bedacht und immer neu der Sprache zugeführt und in seiner Unverrückbarkeit in allen Lebenslagen bekräftigt und bewährt sein will. Die Verstorbene, Anna Gericke, hat diesen Glauben gelebt, steht als Person für ihn ein, besiegelt ihn gleichsam existentiell. Und so gilt wie stets bei Dach im Blick auf die auf Erden Zurückbleibenden ein Doppeltes. Wo ein so reiner Mensch ging, ist der Schmerz unbändig. Zugleich aber ist ihm Trost beigesellt. Auch in diesem Leben lag eine über das Leben hinausreichende Verheißung beschlossen. Sie umgreift die Ehegatten, reicht über sie hinaus, bezieht am _______ 12

Ziesemer liest in V. 36 »Seele« statt »Seelen«. Der Druckfehler in V. 38 »Agst« schon bei ZIESEMER korrigiert.

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Schluß die zurückbleibenden kleinen Kinder ein, weist auch dem Witwer als Vater eine neue Aufgabe zu. Das Dachsche Trauergedicht kennt den vergrübelten selbstquälerischen Zweifel nicht. Es ist dem Leben und der ihm vermählten praktischen Belange verpflichtet. Auch das dürfte bewirkt haben, daß der Dichter in der Bürgergemeinde bis in die letzten Tage hinein um sein Wort, ja um seinen geistlichen Beistand gebeten wurde. Wenn anders dem Begriff altlutherischer Mentalität – mit unserem Land und also auch mit Königsberg im fernen Herzogtum Preußen und späteren Ostpreußen Jahrhunderte über in aller Welt assoziiert – noch eine irgend geartete Leuchtkraft eignen sollte – angesichts der Dachschen Verse schiene sie erfahrbar.

6. Ein Selbst-Porträt des Dichters aus dem Jahr 1650 Ein Jahrzehnt später war die Situation keine wesentlich andere. Dach verblieb auf dem Lehrstuhl für Poesie. Wieder war in das Jahrzehnt ein weithin sichtbares und mit seiner Person verknüpftes Ereignis gefallen. 1644 war der hundert Jahre zurückliegenden Gründung der Universität zu gedenken. 13 Damals war Sabinus, ihr erster Rektor, in guter humanistischer Gepflogenheit als Sprecher preußischer Akkulturation hervorgetreten. Die christlichen wie die im unverfänglichen humanistischen Sinne nationalen und nicht zuletzt die territorialen Bande wurden derart geknüpft. Dach nahm das Thema in seinem 1644 zur Aufführung gelangenden Prussiarchus wieder auf und spann es weiter. Der Cleomedes und der Prussiarchus sollten neben seinen größeren geistlichen Dichtungen und seiner Malapertius-Übersetzung seine einzigen weiter ausholenden Arbeiten bleiben. Unter dem sinnigen Titel »Dramatisches« figurieren beide in den Ausgaben unserer Gewährsleute Oesterley und Ziesemer. Natürlich handelt es sich um politisch-allegorische Schaustücke, wie sie zu besonderem Anlaß auch in dem städtischen Verband ihren Platz fanden. Dachs Stellung in Königsberg mit dem Amtsbonus im Hintergrund war offensichtlich konkurrenzlos. Wir blicken wiederum numerisch und exemplarisch auf die lyrische Ernte des Jahres 1650. Gewiß ähnelt die Situation jener des Jahres 1640. Die Unterschiede sind für den aufmerksamen Beobachter jedoch unverkennbar. Das Gedicht-Aufkommen ist leicht zurückgegangen. Wir zählen acht deutsche und vier _______ 13

Ein der Forschung unbekannter, auch bei Erman-Horn nicht erwähnter Sammelband mit Einladungen, oratorischen und poetischen Beiträgen zu den das akademische Königsberg ein Jahr in Atem haltenden Festlichkeiten aus der Stadtbibliothek Königsberg hat sich in der Nationalbibliothek Warschau erhalten. Ausführliche Beschreibung und Analyse in dem sechsten Kapitel des zweiten Teils der oben aufgeführten Untersuchung des Vf., das den reichen Nachkriegs-Dach-Beständen der Warschauer Nationalbibliothek gewidmet ist. Dort auch zur Überlieferung des Dachschen Prussiarchus. Über den einzig erhaltenen und wiederaufgefundenen Erstdruck des Cleomedes wurde schon 1980 in den Wolfenbütteler Barock-Nachrichten berichtet (Klaus Garber: Kleine Barock-Reise durch die DDR und Polen. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 7 [1980], S. 2–10 und S. 50–62, hier S. 59; wieder abgedruckt in: Ders.: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. München 2006, S. 97–123, hier S. 122).

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lateinische Epithalamia. In einem Fall stehen ein deutscher und ein lateinischer Beitrag in einer Schrift Dachs, in einem anderen wird ein Epithalamium mit einer lateinischen Strophe eröffnet und dann mit fünf deutschsprachigen Strophen fortgeführt – sicher ein besonders seltener und wiederum interpretationsbedürftiger Fall. Gelehrtes Milieu für die lateinischen Beiträge ist stets in Anschlag zu bringen. Die Trauer-Produktion ist gegenüber dem Jahr 1640 sogar noch angestiegen. 29 Stücke zählen wir. Nicht ein einziges ist noch auf Latein darunter. Auch wo Dach zu einer Sammelschrift beiträgt und seine Kollegen sich des Lateins bedienen, verbleibt er im Deutschen. Es kommt vor, daß er dreimal pro Tag zur Feder greifen muß, wenn die Umstände es fügen. Zeiten, wo jeden Tag seine Feder gefragt ist, wechseln mit Perioden, wo sie über Wochen ruhen darf. Wo die Texte musikalisch begleitet werden, ist es jetzt Albert, der tätig wird, in einem Fall auch bereits Weichmann. Der Adressatenkreis hat sich verändert. Mehr als früher wird der Adel der Umgebung ebenso wie der Hofadel bedichtet. Die Bürgermeister der Dreistädtestadt werden stets bedacht, sofern in ihrem familiären Umkreis einer Hochzeit oder eines Verstorbenen und seiner Hinterbliebenen zu gedenken ist. Entscheidend bleibt, daß der Publikationstyp sich verändert hat. Nur noch ausnahmsweise erscheint Dach als Beiträger. Die Einzelschrift ist die Regel geworden. Der Dichter ist als die Autorität zur Behandlung gesellschaftlicher Anlässe in der Stadt während der Mitte des Jahrhunderts anerkannt und zeichnet für die häufig nur zwei Blatt umfassende Quartschrift alleine verantwortlich – und dies offensichtlich mit Billigung seiner Kollegen. Ich wüßte auch dafür nichts Vergleichbares aus einer anderen deutschen Stadt mit florierendem literarischem Leben namhaft zu machen. Neben den Hochzeits- und Trauergedichten stehen vier weitere personenbezogene. Ein lateinisches und ein deutsches Gedicht gelten dem Günstling Königin Christinas von Schweden und späteren Oberbefehlshaber der Ostseeprovinzen Graf Magnus Gabriel de la Gardie, ein lateinisches seinem Kollegen Christoph Tinctorius und ein letztes dem Großen Kurfürsten. Schließlich gibt es einen Beitrag zu Alberts Arien des Jahres 1650 und ein an sich selbst gerichtetes Gedicht. Es ist bezeichnenderweise nicht zum Druck gekommen, und es bleibt schwer vorstellbar, daß Dach es für einen Druck freigegeben hätte. Es stand in der Breslauer und der Königsberger Dach-Handschrift – beide im Krieg verschollen, wenn anders es nach endlosen Sucharbeiten in Breslau nicht doch noch gelingen sollte, die Handschrift Rhediger 225 bzw. Rhediger 225a wieder aufzutun. 14 Hätte Ziesemer nicht fast in letzter Minute die Handschrift aus dem Königsberger Staatsarchiv ausgeschöpft, wir kennten dieses Kleinod so wenig wie die Klage über den endlichen Untergang und ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte und andere Juwelen – kaum auszudenken, welche Zufälle über unserem Fach walten. Wenden wir uns also der selbstgesetzten Spielregel gemäß nach dem Hochzeits- und dem Trauergedicht einem dritten Typ im schmalen Gattungs-Repertoire des Dachschen Oeuvres nun aus dem Jahr 1650 zu. _______ 14

Dazu mit allen Einzelheiten die eingehende Diskussion der überaus komplizierten Situation in dem Breslau- und Arletius-Kapitel (Kap. II, 7) der oben zitierten Untersuchung des Vf.

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Die Dachsche Gelegenheitsdichtung zieht einen ihrer Reize auch aus der überraschenden und wie selbstverständlichen Anwesenheit des Dichters in dem Milieu der bedichteten Personen. Das betrachtete Trauergedicht stellte auch dafür ein Beispiel. Der Dichter baut gerne, wo es sich anbietet, die persönliche Brücke, die seinen Gedichten den oft konstatierten intimen, ja gelegentlich geradezu familiären Ton verleiht. Er ist eines der Mittel, die Authentizität des Gesagten zu bekräftigen, entspricht aber ganz offensichtlich auch seinem Verständnis des Sprechens bei Gelegenheit, das ganz bewußt zwischen den Polen der Lehre und der lebensgeschichtlichen Situierung oszilliert und beiden die nämliche Berechtigung der dichterischen Behandlung einräumt. So kann es nicht verwundern, daß das lyrische Ich, das da in der Gestalt des Dichters in vielen Gelegenheitsgedichten gegenwärtig ist, sich selbst zum Vorwurf des Gedichts erhebt. Alß ich Anno 1650 d. 25. Augstm. in der Nacht für grosser Engbrüstigkeit nicht schlaffen kunte. So der Titel in der Königsberger Handschrift, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Dach herrühren dürfte. 15 Neun Strophen mit jeweils acht dreihebigen jambischen Versen im Kreuzreim mit streng alternierender weiblicher und männlicher Kadenz fügt der Dichter. Die Dreihebigkeit verleiht dem Gedicht, vermählt in die liedhafte Schlichtheit, ein Moment des Hastenden und Atemlosen, dem die rasch wechselnde Szenerie korrespondiert. Fast in Mörikescher Manier tut sich »sachtlich« (V. 4) der Morgen kund. Der Dichter aber hat »für Keichen« (V. 7) – vor Keuchen als Asthmatiker – noch kein Auge zugetan. Nicht von der verzauberten traumreichen Zeit der ersten Frühe wird die Rede sein, sondern den Beschwernissen einer langen Nacht. Alß alles ist entschlaffen, Kutsch ich mich gleichfalls ein[.]

So eine typische ostpreußische Wendung im Eingang zur zweiten Strophe. Das da ins Bett sich einwickelnde lyrische Ich aber hält es unter der wärmenden Decke nicht aus – »Zu ängstig ist die Pein« (V. 12). Feuer schlagen und Lesen – freilich »mit Verdruß« (V. 14) – sind die versuchsweise erprobten Remedien, um das »Ungehewer«, das da in der Brust tobt, zu »betriegen« (V. 15 f.). Indes _______ 15

Wir besitzen nur den Abdruck bei OESTERLEY (S. 803 ff.) nach dem verschollenen Manuskript der Sammlung Rhediger (vgl. ebd., Bibliographie Nr. 176) und bei ZIESEMER (Bd. I, S. 252 f.) nach der verschollenen Königsberger Handschrift aus dem Staatsarchiv (vgl. Nachweis ebd., S. 354, Nr. 229). Wir zitieren nach dem Abdruck ZIESEMERS. Über die sog. Bocksche Handschrift vgl. die Vorrede Hermann Oesterleys in: OESTERLEY, S. 1–23, hier S. 4. Sie war Bestandteil der verschollenen Handschrift R 225a. – Das Dünnhauptsche Incipit zu Nr. 693 mit dem entsprechenden bibliographischen Nachweis ist freie Erfindung. Wir haben seit 1945 keinen handschriftlichen Textzeugen mehr, der mit dem ersten Wort in der von Dünnhaupt bestenfalls vermuteten Schreibung »DJe« einsetzte. Auch Dünnhaupt standen nur noch Oesterley und Ziesemer als Gewährsleute zur Verfügung, die beide »Die« schreiben. Das Beispiel, eine Lapalie, steht, um den bibliographisch gänzlich ungewöhnlichen Umgang mit Titeln und verfügbaren Textzeugen in der Dünnhauptschen Dach-Bibliographie zu dokumentieren. Dazu grundsätzlich bereits Segebrecht in der oben Anm. 2 angeführten Arbeit, S. 954 ff.

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schleppen die Stunden sich voran, der stündliche Glockenschlag ist vernehmbar, der Schlaf will sich nicht einstellen, »Ohnmacht« (V. 23) breitet in den Gliedern sich aus, nicht aber die erwünschte Ruhe. »Ist dieß nicht grosser Jammer?« So die bange Frage zu Beginn der vierten Strophe (V. 25). Alle Welt schläft, über dem mondbeschienenen Pregel ist Stille eingekehrt, noch der Gefangene findet in seinen Banden nächtliche Erquickung. Das lyrische Ich, der Dichter, er bietet ein Sinnbild der Hinfälligkeit, so wie er da sitzt, den Kopf in beide Hände gestützt, vor sich her winselnd: Solt jemand ietzt mich schawen, Er hätt ob meiner Quahl Mitleiden oder Grawen, Auch wär er harter Stahl. (V. 37–40)

Die Kunst der Ärzte versagt an ihm. Es wäre bereit, »GassenKoht« als Arznei zu schlucken (V. 46), wann immer Hoffnung auf Linderung bestünde: Mein Leid ist nicht zu heben, Es kriegt den SiegesPreiß’[.] (V. 53 f.)

Mag das Fieber verschwinden, der Durst sich legen, es bleibt »der zähe Wust«, der »die Athems=Kürtz erreget | In meiner engen Brust.« (V. 62 ff.) Da mag manch einer auf den bösen Gedanken kommen, der derart Gepeinigte vernachlässige sein »Amt« (V. 65), sei »Arbeits=faul« (V. 68). Möge Gott Genesung schenken, dann werde offenkundig, was Grund für sein mögliches Versäumnis war, die heimtückische Krankheit oder womöglich die Person selbst. So gilt der letzte Gedanke dem guten Leumund, bezogen auf die Pflichten in der Öffentlichkeit, wie sie aus dem Amt herrühren – ein Gelegenheitsgedicht also auf seine Weise. Als Ganzes aber und zumal in seinem Eingang weist das Gedicht auf die der Öffentlichkeit abgekehrte Seite der Person. In eindrucksvoller Zurückhaltung hat der Dichter darauf verzichtet, sich selbst zum Exempel zu erheben. In einer ganz menschlichen Sorge klingen die Verse aus. Wer aber Dachs Gedichte gegenwärtig hat, dem bietet die nächtliche Gestalt sich gleichnishaft dar. Trostspendend war sie in ungezählten seiner Trauergedichte gegenwärtig. Kaum eines, das nicht menschliche Verfaßtheit als kreatürliche zu Gehör gebracht hatte. Das schonungsloseste Bild kreatürlicher Verfallenheit bietet der Dichter selbst. Er ist des Trosts so bedürftig wie irgend ein Trauernder sonst. Keine Vorkehrung ist getroffen und doch stellt sich angesichts des gebrechlichen todwunden Wesens die ecce homo-Vorstellung ungerufen ein. Der Dichter, das lyrische Ich, ist fleischgeworden, wovon sein Werk, das eben durch und durch ein geistliches ist, als Grund und Bedingung menschlichen Wesens spricht. Nur eine fromme Wendung schreibt er in schlichter Demut explizit dem Gedicht ein – »Gott lasse mich genesen« (V. 69). Aus so gut wie jedem seiner Gedichte könnten wir ersehen, daß die Erfüllung dieses Wunsches dem Angerufenen ohne die Spur eines Zagens und Haderns anheimgestellt bleiben wollte. Der in größter Dezenz und stets auf Schonung bedachte Trostspender war zuallererst desselben selbst bedürftig. Ist es wirklich unstatthaft, in dieser Erfahrung

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das über die Zeiten hinweg anrührende Sprechen des Dichters gegründet zu sehen? Auch Dach reiht sich ein in die Schar der Großen, die sich nicht scheuten, ihrer Nackt- und Bloßheit, ihrer Angst und ihrem Ausgesetztsein schonungslos bildnerische Gestalt zu verleihen.

7. Ein Geburtstagsgedicht für den Kurfürsten und den Kurprinzen aus dem Jahr 1658 In das erste Jahr des nächsten Jahrzehnts, das Jahr 1660, können wir nicht mehr ausgreifen. Dach lebte nicht mehr. Aus seinem Todesjahr 1659 sind ein Hochzeitsgedicht vom 7. Januar und ein Trauergedicht vom 10. Januar bezeugt. Dann verstummt er als Gelegenheitsdichter, nicht aber als geistlicher Dichter. Seit seinem Dienstantritt ist er an der Albertina zu den großen kirchlichen Festen alljährlich als dafür zuständiger Professor poëseos mit lateinischen Versen vor die akademische Festgemeinschaft getreten. Keine Publikation gibt uns von ihnen Kenntnis. Wieder müßten wir uns zu den großen Sammlern des 18. Jahrhunderts (gelegentlich auch zu einem ihrer Nachfahren, dem Freiherrn von Meusebach) zurückbegeben, wenn wir sie einsehen wollten. Am Ostersonntag, den 13. April, des Jahres 1659 ließ er sich ein letztes Mal mit einem Triumphus | Qvo [...] redivivum se stetit | Jesus Christus vernehmen, anhebend mit den Versen »Diras minatus, quamdiu speraverat«. 16 Zwei Tage später, am 15. April 1659, starb er. In Kürze werden wir seines 350. Todestages zu gedenken haben. Wollen wir also ein letztes Mal in einem Jahresquerschnitt uns umtun, so müssen wir zurückgehen in das Jahr 1658. Da ist Dach noch ununterbrochen rührig. 27 Trauergedichte liegen vor. Bis auf eine Ausnahme zeichnet Dach alleine. Wir haben es also mit Verfasserschriften zu tun. Die eine Ausnahme ist eine Sammelschrift, in der Dach mit zwei Beiträgen, einem deutschen und einem lateinischen – dem einzigen unter den Trauergedichten des Jahres 1658 – vertreten ist. In zwei Fällen tritt er gleich zweimal zum gleichen Anlaß in separaten Schriften hervor – auch das ein untersuchungsbedürftiger Befund. Auffällig ist die jetzt zu beobachtende Gewohnheit, den Titel der Schrift mit einer mottoartigen lateinischen Sentenz zu eröffnen und sodann auf deutsch fortzufahren, wofür mir keine Parallelen über Einzelfälle hinaus bekannt und in unserem Osnabrücker Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums bislang auch nicht belegt sind, das alle diese Besonderheiten ja genauestens zu registrieren erlaubt. Als Musiker sind Albert, Stobäus und Matthaei mit Dach tätig. Neben den Hochzeits- und den Trauergedichten steht vereinzelt ein lateinisches Gratulationsgedicht in einer Sammelschrift, in der Dach mit anderen latei_______ 16

Die geistlichen akademischen Arbeiten verstreut aufgeführt bei ZIESEMER im Anhang »Lateinische Gedichte« in Bd. IV und bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 6), unter dem Titel »Akademische Festdichtungen«, S. 1002–1009 (bei OESTERLEY verbergen sie sich sinnigerweise unter den nach Incipita angeordneten deutschen wie lateinischen Gedichtnachweisen). Die bislang vorliegenden Verzeichnisse sind nicht komplett, wie wir in unserer oben aufgeführten Untersuchung zeigen konnten, auf die verwiesen werden muß.

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nischen Beiträgen figuriert. Außerdem ist ein deutschsprachiges Osterlied in der Vertonung Friedrich Schweitzers zu erwähnen. Daß Dach weiterhin für das kurfürstliche Haus tätig ist, belegen zwei Geburtstagsgedichte für den Großen Kurfürsten und einen seiner Söhne, Karl Emil, sowie für den anderen, den Markgrafen Friedrich von Brandenburg. Außerdem liegt ein großes repräsentatives lateinisches Gedicht zur Feier eines vertraglichen Abschlusses zwischen dem polnischen König und dem Kurfürsten vor. Wenn wir also unser kleines auf die Jahrzehnte gemünztes Spiel zum Abschluß bringen und dabei das von Dach gepflegte Gattungsspektrum im Deutschen im Auge behalten wollen, aber dem Vorsatz entsprechend nur vier Treffer frei haben, so müssen wir jetzt ein an eine Person gerichtetes Glückwunschgedicht wählen, also eine der beiden fürstlichen Zuschriften. Das aber soll nicht geschehen, ohne neuerlich die Philologie zu ihrem Recht gelangen zu lassen. Und zwar über die Bemerkung en passant, daß es um die kleineren Formen neben den vorwiegenden Hochzeits- und Trauergedichten editorisch besonders schlecht bestellt ist. Oesterley wie Ziesemer haben nur den an das kurfürstliche Haus gerichteten Gedichten eine naheliegende geschlossene Präsentation vorbehalten. Ziesemer kennt überhaupt neben diesen drei Gruppen und der Abteilung »Dramatisches« – welch ein dilettantischer, aber eben schon bei Oesterley verwendeter Begriff! – gar keine weiteren Untergliederungen. Oesterley fügt dieser Quattrologie noch eine fünfte Abteilung »Dach und sein Freundeskreis« sowie eine sechste »Vermischte Gelegenheitsgedichte« hinzu – beides ausgesprochene Gemischtwarenläden ohne eine irgend geartete strukturbildende Kraft. Zu den Aufgaben der Dach-Philologie gehört es also auch, den eher am Rande verbleibenden Zweigen der Dachschen Produktion überzeugende Positionen in einer künftigen Edition zu verschaffen, handelt es sich doch keinesfalls um Ephemeriden. Werfen wir also einen letzten Blick auf das Geburtstagsgedicht für den Kurfürsten und den Kurprinzen. 17 Dach hat nicht zum heroischen Alexandriner ge_______ 17

Vgl. OESTERLEY S. 693–697 mit dem bibliographischen Nachweis Nr. 308 (nur Nachweis des Drucks in der posthumen Dach-Ausgabe); ZIESEMER II, S. 258 ff. mit S. 389, Nr. 154 (mit Nachweis des Berliner Exemplars 3,415); Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 6), Nr. 1169 (gleichfalls mit Nachweis des Berliner Exemplars). Wir geben wiederum den originalen Wortlaut des Erstdrucks und bitten den interessierten Leser, sich selbst eine Vorstellung von der bibliographischen Qualität der vorliegenden Titelaufnahmen zu machen. Ziesemer zitiert nach der posthumen Dach-Ausgabe und stellt den dort ausgewiesenen Titel seinem Abdruck voran. Warum er nicht auf den Berliner Erstdruck zurückgreift, wird an dieser Stelle wie in anderen vergleichbaren Fällen nicht erläutert. Der Titel des Erstdrucks fehlt bei Ziesemer. Für einen Bibliographen gelten andere Regularien und Maßstäbe. Wird ein Erstdruck nachgewiesen, so erwartet man dessen Wiedergabe. Der Leser muß also davon ausgehen, daß Dünnhaupt den Titel des Erstdrucks zitiert. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch er behilft sich mit dem Titel des posthumen Nachdrucks, den er kürzt, mit zwölf Abschreibfehlern darbietet und mit dem schönen (erfundenen) Zusatz versieht »von | Simon Dachen«. Der Text des Erstdrucks steht in der dreibändigen Dach-Kollektion der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin im dritten Band an Position 119 (das Ziesemersche Kürzel »3,415.« bezieht sich auf die jeweils in den drei Bänden neu einsetzende Blattzählung!), eingereiht in die mächtige Lyrik-Kollektion an der Systemstelle Yi, hier Yi 851–3

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griffen, sondern ist beim schlichten trochäischen Vierheber geblieben. 27 sechszeilige kreuzreimende Strophen hat er dem Ereignis am 16. Februar 1658 gewidmet. Der Nordische Krieg tobt. Mitten hinein ist das Gedicht gesprochen. Es muß, wo es um Krieg und Frieden geht, Züge des Fürstenspiegels annehmen. Wird der Kurfürst seines Geburtstags und dem seines Sohns überhaupt gedenken? Es geziemt sich nicht, so der Dichter, einen solchen Tag ungeachtet aller unmäßigen Beanspruchungen vorübergehen zu lassen, ohne Atem geschöpft zu haben. Seit Antritt der Herrschaft haben nur Last und Bürden auf dem Fürsten gelegen. Wie ist es denkbar, daß man nach einem solchen Amt um den Preis von »Blut«, von »eitel Lust und Pracht« (Str. 5, V. 2 und 6) streben kann? Denn nach Arbeit Müh’ und Plagen Ringt fürwar kein weiser Mann. Ob von Deinen guten Tagen Viel ein ander melden kan/ Jch erkenn’ umb dich bißher Nichts als Sorgen und Beschwer. (Str. 6)

Kommt die Mühsal von Gott, entspringt sie der »Trew« des Fürsten, die »Nichts verseumen sol und wil«? (Str. 7, V. 5 f.) Der Dichter läßt die Frage offen. Er weiß nur eines gewiß, daß nämlich der Fürst alle ihm verbleibenden Kräfte auf die Stiftung von Frieden zu wenden hat: Herr/ sol dieser Zwangk der Zeiten Der kein gutes lässt entstehn Dieses Würgen[/] dieses Streiten Nicht ohn Ablaß vor sich gehn Vnd zugleich nicht alles Land Sol verheert seyn und verbrandt, So must du auff Mittel dencken Wie der Streit werd’ abgethan Vnd die Herzten seyn zu lencken Auff die stille Friedens=Bahn/ Wie Gerechtigkeit und Trew Wieder auffzurichten sey. (Str. 8 f.)

Aber werden die Kräfte ausreichen für dieses herkuleische Werk? Wird er – Gott möge es verhüten – vorzeitig gealtert sein, während der Sohn überhaupt erst _______ R: Vnterthänigste Trew | Welche bey | Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ | Herrn Friderich Wilhelm/ | Marggrafen zu Brandenb. des Heil: Röm: | ReichsErtzCämmerers und Churfürsten/ zu Magde= | burg/ in Preussen/ zu Gülich/ Cleve/ Berge/ Stettin/ Pom= | mern/ der Cassuben und Wenden/ auch in Schlesien/ zu Crossen und | Jägerndorff Hertzogs/ Burggraffen zu Nürnberg/ Fürsten zu | Halberstad und Minden/ Graffen zu der Marck und | Ravensbergk/ Herrn zu Ravenstein/ | Meines gnädigsten Churfürsten und Herrn. | Wie auch | Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ | Herrn Carl Aemils/ | Marggrafen und ChurErben zu Brandenb. | zu Magdeburg/ in Preussen/ etc. etc. etc. | Hertzogs/ | Meines gnädigsten Fürsten und Herrn/ | Hocherfrewlichen Geburts=Tage/ | Welcher war Sr. Churfl. Durchl. der 38ste/ des | ChurPrintzen der vierdte/ | Gehorsamst erwiesen | ich | Simon Dach. [Strich] Königsberg/ Gedruckt durch Sr. Churfl Durchl. zu Brand. in Preuss. und | der Academien wolbestallten Buchdr. Johann Reusnern/ 1658.

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noch zum Mann erwachsen soll? Und wer wird die Kosten tragen für die Wiederaufrichtung des zerrütteten Landes? Verflucht sei Mars, der nicht Ruhe gibt, bis er seine Augen an brennenden Schulen und Kirchen, an eingeäscherten Dörfern und Städten weiden kann. Und doch gibt es Zeichen der Hoffnung. Der Dichter selbst vermag es zu bezeugen. Inmitten des Mordgeschreis darf er ruhig im fernen Preußenland singen. Ein Landgut ist ihm vom Fürsten zuerkannt worden zur Linderung seiner Beschwerden im Alter, das so sehr gezeichnet ist von Krankheit: Daß ich hier in Ruh kan singen Vnd das wilde Mord=Geschrey Nicht wie vormahls thar erklingen, Rührt von GOtt und Deiner Trew/ Welche/ Herr mit aller Macht Vns zu kröhnen ist bedacht. Hierzu kömpt[/] daß Dein Gemüte Meines newlich hoch gelabt Vnd aus sonderlicher Güte Mit dem Felde mich begabt So mein Alter hat begehrt Nun mich Kranckheit offt beschwert. Dieses/ hoff ich/ sol mir geben Mein geringes Stücke Brod Vnd der Sorgen mich entheben/ Wenn dieß Land nur seiner Noht Durch die güldne Sicherheit/ Wie wir wünschen/ sich befreyt. (Str. 18–20)

Und so klingt das Gedicht aus mit dem doppelten Akkord des Dankes wie des Segenswunsches für die beiden gekrönten Häupter. Möge unter dem Jubel auch des Dichters Stimme vernehmbar bleiben und der obwaltende Frost ihr nicht die Kraft rauben, wie es im Blick auf die Jahreszeit und zugleich ahnungsvoll im Blick auf den nahenden Tod da heißt. Der Treue Louises darf der Kurfürst sich ebenso erfreuen wie der Liebe Friedrichs, dem noch im gleichen Jahr der Gruß des Dichters gelten soll und den der Vater wie der heute geehrte brüderliche Prinz Karl Emil in ihr Herz geschlossen haben. Das letzte Wort des Dichters gilt dem Glück der durch die engsten Bande Verbundenen. Dieses Vorrecht des Ponderierens nach eigenem Gutdünken hat sich der preußische Sänger auch in der Toga keinen Moment abhandeln lassen. Bleibt in Wolfahrt allzusammen Seht mit allzeit besserm Glück Dieses Tages lichte Flammen/ Seyd des Segens Meisterstück Vnd mit Himmels Gunst begabt Welchen Jhr zum Vrsprung habt. (Str. 27)

Wir aber haben natürlich längst gewahrt, daß hinter dem Rücken des Dichters ein mächtiger Schatten aufgestiegen ist. Wer denn anders hatte inmitten des tobenden Krieges das Wort ergriffen und nur beglaubigt durch sein Sängertum, das da

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ungetrübt auf einem kraft herrscherlicher Verfügung belassenen Landgut sich weiter vernehmen lassen durfte, den künftigen Frieden geweissagt und seine Worte an die Prophetie des namenlosen und doch schon nahenden Friedensfürsten geknüpft als der größte Dichter des lateinischen Abendlandes in seinem bukolischen Erstling? Der Dichter Simon Dach hatte es nicht nötig, sich zum alter Tityrus alias Vergilius aufzuschwingen wie so viele Sänger vor ihm. Eben deshalb ist auch noch der Fürstenpreis in seinen besten Gedichten mehr als Lobpreisung. Er bindet herrscherliches Handeln wie der große Archeget der Regentenpanegyrik an Friedensstiftung und erhebt den Dichter wie selbstverständlich noch einmal zum Fürsprecher dieser Symbiose. Auch dieser Zug will im Bilde Simon Dachs gewahrt und bewahrt sein.

8. Epilog Wir aber sollten nicht schließen ohne eine letzte Erinnerung. Der Abschied Dachs vom irdischen Schauplatz ist selbst nochmals zu einem poetischen Ereignis geworden. Viele Federn fühlten sich aufgerufen, an der Stiftung von memoria mitzuwirken. Keine Edition bietet uns diese Gedichte, keine Bibliographie verzeichnet sie. Ziesemer gibt eine kleine Notiz der zur Hochzeit Dachs verfaßten Stücke. Die Epicedien verzeichnet er unbegreiflicherweise nicht mehr. Dünnhaupt erwähnt nicht einmal die intimatio zur akademischen Trauerfeier, die man immerhin doch bei Ziesemer bereits nachlesen konnte. 18 Der Dichter, der wie kein anderer sein Leben in den Dienst des Zuspruchs, der Tradierung von Wissen und Weisheit in geprägter Münze von tausenderlei Gestalt, der Spendung von Trost und Hoffnung gewendet hatte, er wurde am Ende selbst wie seine angesprochene Witwe Regina Pohl Hort poetischen Gedenkens. Kein Sammler, der auf sich hielt und nicht zugleich Sorge dafür trug, _______ 18

Die Gedichte zu Dachs Hochzeit, soweit sie Ziesemer bekannt geworden waren, sind im zweiten Band seiner Dach-Edition (ZIESEMER II, S. 362 f.) mit Standort-Nachweisen aufgeführt. Zum Abdruck gelangt ist nur dasjenige von Roberthin. Alle anderen muß man heute mühsam in den erhaltenen Sammelbänden zusammensuchen; Einzelstücke haben sich nur ausnahmsweise erhalten. Das gesamte verfügbare Material, zumeist aus altem Königsberger Besitz, ist zusammengestellt in der oben erwähnten Abhandlung des Vf., auf die verwiesen werden darf. Es ist in Film und Kopie in Osnabrück verfügbar. In Ziesemers Edition a.a.O. auch der Nachweis der Gratulationsschrift zu Dachs Magister-Promotion aus der Sammlung Arletius in Breslau/Wrocáaw. Unbegreiflicherweise hat er sich die große lateinische Zuschrift Kaldenbachs zu dem nämlichen Anlaß unter dem Titel Daphne entgehen lassen, die gleichfalls in der Sammlung Arletius zu finden ist (Sign.: 4 E 224/43) und die unbekannt geblieben zu sein scheint. Die Einladung zur Antrittsvorlesung und die Magister-Disputation sind abgedruckt bei ZIESEMER II, S. 334–343. Beide Texte galten lange Zeit als verschollen. Die Einladungsschrift konnte in der Biblioteka Narodowa in Warschau (Sign.: XVII.3.6325) und in der Biblioteka Uniwersytecka in Wrocáaw (Sign.: 4 E 225a, Nr. 1) wieder aufgefunden werden; der erste Bogen der Disputation findet sich gleichfalls in Warschau (Sign.: XVII.3.7608). Ein komplettes Exemplar ist bislang nicht nachweisbar. – Vgl. den Beitrag von Hanspeter Marti und Lothar Mundt in diesem Band.

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die Epicedien in größtmöglicher Vollständigkeit zu versammeln. Keinem gelang dies zur Gänze. In Osnabrück aber haben wir, so denke ich, das derzeit Erreichbare aus aller Welt zusammen. 19 So sei das letzte Wort einem Kollegen, Freund und Zeitgenossen unseres Geburtstagskindes vorbehalten, dem Magister und Professor publicus für Hebräistik an der Albertina, ordiniertem Pfarrer auf dem Löbenicht und Diakon Stephan Gorlovius. Er hat zwar an der einen und der anderen Stelle noch Schwierigkeiten mit dem Versmaß, aber was tut es am Schluß, wenn nur das Wesen getroffen und ein Bild über die Zeiten hinweg lebendig geblieben ist, in dem auch wir uns mit unserem kleinen Versuch gerne wiedererkennen: _______ 19

Es gibt, wie gesagt, keinen bibliographischen Nachweis dieses Trauerschrifttums für Dach. Das Ergiebigste findet sich wiederum in den Sammelbänden. Hier sind v.a. zwei heranzuziehen, der eine herrührend aus Königsberg und heute in St. Petersburg, der andere der Sammlung Arletius entstammend und wie seit eh und je in Breslau verwahrt. Es dürfte dem Leser auch hier willkommen sein, einen ersten Hinweis zu erhalten. Der St. Petersburger Band stammt – der erhaltenen Altsignatur zufolge – aus der Königsberger Stadtbibliothek und hier, wenn wir die uns immer wieder begegnende Initiale »H. B.« – einem (brieflichen) Vorschlag des verehrten bibliothekswissenschaftlichen Kollegen Manfred Komorowski folgend – korrekt übersetzen, womöglich aus der Sammlung des Heinrich Bartsch. Die alte Sign. lautet: H. B. S. 5. 4°, die neue: 10816q/31953–32093 R. Hier sind am Ende des Sammelbandes »Gedichte auf Sim: Dachens Absterben« zusammengeführt. Auch zu diesem Sammelband sei auf die Abhandlung des Vf. erwähnt, die ihn ausführlich vorstellt. – In der Sammlung Arletius steht das Trauerschrifttum für Dach ordnungsgemäß am Ende der zwei Bände in vier Halbbänden umfassenden mächtigen Sammlung von Dachschen Trauergedichten, der umfassendsten, die wir besitzen (4 E 222 und 4 E 223). Es setzt ein mit Stück 178 im zweiten Band 4 E 223. Das ist die Einladungsschrift für die akademischen Trauerfeierlichkeiten der Albertina zu Ehren ihres illustren Mitglieds. Sie ist auf den 20. April 1659 datiert, jedoch nicht gezeichnet; sehr wohl möglich, daß Thilo sie aufgesetzt hat. Ziesemer hat sie, wie erwähnt, ohne ein irgend erläuterndes Wort neu gedruckt (ZIESEMER IV, S. 527–531). Dann schließt sich der Lessus an, den »Collegae et amici« anstimmen. Es ist ein bunter Strauß aus deutschen und lateinischen Gedichten, doch die lateinischen überwiegen entsprechend dem vorwiegend akademischen Beiträgerkreis. Hier findet sich im ersten Drittel das nachfolgend zitierte Gedicht des Gorlovius, unterzeichnet: »Steph. Gorlovius, M.P.P. Hebr. lingv. ordin. Eccl. Löbn. Regiom. Diacon.« Es folgt eine nur mit den Initialen »T.W.D.« versehene umfängliche Trauerschrift an. David Paisey, der jahrzehntelange Schatzhüter der deutschen Literatur in der British Library, dem wir einen einzig dastehenden Katalog der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts in dieser einzigartigen Bibliothek verdanken, die einen reichen Sammelband mit Dachschen Trauerschriften ihr eigen nennt, hat das Geheimnis gelüftet. Theodor Wolder, berühmter Rechtswissenschaftler der Albertina (zu ihm vgl. Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 821), wird als Verfasser anzusehen sein. Zwei weitere Trauerschriften folgen. Dann ergreift Rotger zum Bergen das Wort in Gestalt einer großen lateinischen Lobrede, der auf Deutsch eine umfänglichere Zuschrift an die Witwe vorausgeht. Mit einem Auftritt der Musen unter der Stabführung Apollos endet der Reigen. Der Band selbst wird beschlossen mit einem großen lateinischen Trauergedicht von Kaldenbach auf den Tod von Roberthin, das unbekannt ist. – In anderen Sammelbänden sieht das Bild teils ähnlich, teils anders aus. Das gesamte uns erreichbare Funeralschrifttum auf Dach, zumeist in Exemplaren aus Bibliotheken in Mittel- und Osteuropa und zumal aus Königsberg selbst, findet man in der eingangs zitierten Abhandlung zu Simon Dach ausgebreitet.

Zum Bilde Simon Dachs DEn edlen Dachen deckt dieß Grab/ Doch nimmt sein Ruhm hie nimmer ab/ Er hat GOtt treühertzig gedienet: Die hohe Wissenschaft und Kunst/ Des Sinn=reichen Gemühtes Gunst Macht daß sein Lob ohn Ende grühnet. Sein auffrichtig getreües Hertz/ Die Fründligkeit im Ernst und Schertz/ Der Fleiß in gutter Zucht der Jugend/ Nach vieler Arbeit schöner Sieg/ Die freüdig lautende Musick Hat kaum ein gleiches seiner Tugend. Er hat so manches Lied gestellt Das GOtt und Menschen wolgefällt/ Er lehrte Preüssen häuffig schreiben: An Festtagen war seine Freüd GOtt loben/ ietzt ist Er bereit Auff Ostern bey GOtt selbst zu bleiben. Jch bleibe stets sein eingedenck/ Was ists das ich ihm danckbar schenck? Den Seinen müsse stets wolgehen/ GOtt schütze und versorge Sie/ Sein Bild bleib in den Kindern hie! GOtt laß ihm frölich aufferstehn.

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Bernhart Jähnig

Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹ Die Königsberger Kanzlei der Oberräte im Zeitalter von Simon Dach (1603 – 1660) Wie in der Landes- und Literaturgeschichtsschreibung bereits bekannt, gehörten der Kanzlei der Oberratsstube des Herzogtums Preußen zur Zeit des Dichters und Universitätsprofessors Simon Dach verschiedene literarisch tätige oder wenigstens literarisch interessierte Persönlichkeiten an, 1 die in der Sprache der Zeit als Kanzleiverwandte oder Kanzlisten, gelegentlich – wenn sie innerhalb der Kanzlei noch keinen höheren Rang bekleideten – auch als Gesellen bezeichnet wurden. Weil die in Simon Dachs Klage über den endlichen Vntergang vnd ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens angeredeten Kanzleiverwandten möglicherweise nur die ›Spitze eines Eisbergs‹ darstellen, erscheint es sinnvoll, die Kanzlei und ihr Personal in dieser Zeit im ganzen vorzustellen. Da die Kanzlei in erster Linie eine politische Einrichtung war, denn sie hatte der Landesherrschaft und ihrer Regierung bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu dienen, sollen Eckdaten der politischen Geschichte unseren zeitlichen Rahmen bilden. Im Jahre 1603, zwei Jahre vor der Geburt von Simon Dach, übernahm der brandenburgische Kurfürst und Markgraf Johann Sigismund 2 die Vormundschaft für den schon seit über drei Jahrzehnten politisch entmündigten Herzog Albrecht Friedrich. 3 Im Jahre 1660, ein Jahr nach dem Tode von Simon Dach, konnte Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Brandenburg, im Frieden von Oliva die internationale Anerkennung dafür gewinnen, daß er 1657 in Verträgen mit der Krone Polen die Souveränität über das Herzogtum Preußen hatte erlangen können, nachdem die brandenburgische Kurlinie der Hohenzollern bereits 1619 die Erbschaft in Preußen übernommen hatte. 4 Schon diese einführen_______ 1

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Vgl. Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2. Aufl. München: Beck 1982 (Edition Beck), bes. S. 9 und S. 43 ff.; Bernhart Jähnig: Kanzlei, Registratur und Archiv unter dem ersten König in Preußen. In: Die landesgeschichtliche Bedeutung der Königsberger Königskrönung von 1701. Hg. von dems. Marburg: Elwert 2004 (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 18), S. 75–99, hier S. 94 ff. Axel Gotthardt: Zwischen Luthertum und Calvinismus. In: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. Hg. von Frank-Lothar Kroll. München: Beck 2000, S. 74–94, hier S. 79–87. Neue medizinische und politische Bewertung bei Stephan Jaster: Die psychiatrische Krankheit Albrecht Friedrichs von Preußen. Diss. med. Berlin 2005. Ernst Opgenoorth: Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie. 2 Bde. Göttingen: Musterschmidt 1971–1978, Bd. 1, S. 359–410; Bernhart Jähnig: Die politischen und rechtlichen Außenbeziehungen des Herzogtums Preußen (1525 – 1660). In: Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Hg. von Dietmar Willoweit

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den Bemerkungen weisen auf die besonderen Herrschaftsverhältnisse im Herzogtum hin. Seit der Säkularisierung der Deutschordensherrschaft 1525, der Lehnsnahme des östlichen Preußen von der Krone Polen und der Einführung der Reformation durch Herzog Albrecht, bestand die Regierung aus der Oberratsstube, die von den vier Oberräten oder Regimentsräten besetzt wurde. 5 Dies waren der Landhofmeister, der Oberburggraf, der Kanzler und der Obermarschall, deren Titel nur entfernt an die zuletzt vier Großgebietiger des Deutschen Ordens in Preußen erinnern. In diese Ämter wurden nur Angehörige des Herrenstandes, also der vornehmsten Familien des Landes, berufen. Lediglich beim Kanzler konnte eine Ausnahme gemacht werden, weil für dieses Amt eine juristische Bildung nötig war. Zum Aufsichtsbereich des Kanzlers gehörte die Kanzlei der Oberratsstube. Die Inhaber des Kanzleramts haben während der uns interessierenden Zeit wiederholt gewechselt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat Christoph von Rappe (1566 – 1619) 6 dieses Amt 1602 übernommen. Nach seinem Tod 1619 wurde Martin von Wallenrodt (1570 – 1632), 7 der Begründer der Wallenrodtschen Bibliothek, 8 neuer Kanzler. Diesem folgten 1632 Hans Georg von Saucken (1592 – 1638), 9 1638 Fabian von Ostau (1595 – 1645), 10 1645 Christoph von Troschke (1603 – 1658) 11 und 1654 Albrecht von Kalnein (1611 – 1683), 12 der im Jahr darauf Oberburggraf wurde. Johann von Kospoth (1601 – 1665) 13 war von 1655 bis zu seinem Tod ein Jahrzehnt später Kanzler. Die aufgeführten Herren waren – soweit bekannt – gebildete Leute, die an Universitäten, zumeist auch auswärts, studiert hatten. Bei einem, nämlich Fabian von Ostau, ging die literarische Beschäftigung sogar so weit, daß er als Verfasser geistlicher Lieder hervorgetreten ist. Die historische Einschätzung dieser Persönlichkeiten zeigt _______ 5

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und Hans Lemberg. München: Oldenbourg 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, 2), S. 51–72. Erste Hinweise bei Ernst Opgenoorth: Verfassung, Verwaltung, Recht und Militär im Herzogtum Preußen 1525 – 1660. In: Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens. Teil 2/1: Von der Teilung bis zum Schwedisch-Polnischen Krieg 1466 – 1655. Hg. von dems. Lüneburg: Nordostdeutsches Kulturwerk 1994, S. 30–50, hier S. 32 f.; Dietmar Willoweit: Recht, Landesherrschaft und Obrigkeit in Altpreußen – Vom Ordensstaat zum Herzogtum. In: Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren. Hg. von Bernhart Jähnig und Jürgen Kloosterhuis. Marburg: Elwert 2006 (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 20), S. 11–26. Hartmut Schulz-Warber: (sub verbo). In: APB 2, S. 533. Ders.: (sub verbo). In: APB 2, S. 773. Fritz Juntke: Geschichte der v. Wallenrodtschen Bibliothek. Leipzig: Harrassowitz 1927. Johannes Gallandi: Altpreußisches Adelslexikon, Band R – Sa, Bl. 244r (GStAPK Berlin, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Hs 4. – Aus demselben Archiv wird weiterhin abgekürzt zitiert: EM = Oberratsstube/Regierung/Etatsministerium, Ostpr. Fol. = Ostpreußische Folianten). Joh. Max Lehnerdt: (sub verbo). In: APB 2, S. 484. Gallandi: Altpreußisches Adelslexikon (wie Anm. 9), Band St – V, Bl. 220r. Christian Krollmann: (sub verbo). In: APB 1, S. 320. Christian Krollmann: (sub verbo). In: APB 1, S. 357 f.

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sich auch darin, daß die Mehrzahl bereits in den frühen Bänden der Altpreußischen Biographie berücksichtigt worden ist. Die Oberratsstube und ihre Kanzlei waren im ersten Obergeschoß im westlichen Teil des Nordflügels des Königsberger Schlosses untergebracht. 14 Dort waren ein Dutzend oder mehr Mitarbeiter, die gewöhnlich zur Kanzlei gehörten, ständig tätig. Deren Arbeit wurde durch Kanzleiordnungen 15 geregelt, die bei einem Wechsel in der Landesherrschaft oft neu erlassen wurden, sich aber nur durch geringe Änderungen voneinander unterschieden. Zuletzt vor 1603 hatte Herzog Georg Friedrich, 16 nachdem er von der Krone Polen die Belehnung mit dem Herzogtum erhalten hatte, im Jahre 1582 eine Ordnung neu erlassen. Hier wurden die Aufgaben der Obersekretäre, der »Kanzlei in gemein«, die Taxordnung, die Aufgaben des Botenmeisters und des Kanzleiknechts beschrieben. In einer Konzeptfassung von 1582 erhielten die Aufgaben des Registrators sogar einen eigenen kleinen Abschnitt. 1591 folgte ein Geschäftsverteilungsplan, in dem den einzelnen Kanzleimitarbeitern ganz konkrete Aufgaben zugeschrieben wurden, etwa die Anfertigung von Indizes für genau bezeichnete Folianten. Unter Kurfürst Johann Sigismund wurde 1613 eine neue Kanzleiordnung erlassen, die zwar wesentlich umfangreicher war, aber keine wesentlichen neuen Bestimmungen enthielt. Eine vollständige Auflistung des jeweils gleichzeitig tätigen Kanzleipersonals finden wir in den jährlich angelegten Hauptausgabebüchern der herzoglichen Rentkammer. 17 Unter den regelmäßig zu leistenden Besoldungen befindet sich auch ein Abschnitt »Kanzlei«. Dort werden die Namen der Kanzlisten, das ihnen zustehende Gehalt und die tatsächlich geleisteten Zahlungen verzeichnet. Gelegentlich kommen auch Angaben zum Eintritt in die Kanzlei oder zum Ausscheiden vor. Die Kanzlisten gliedern sich nach Aufgaben und Rang in mehrere Gruppen. Die oberste Gruppe besteht aus den zur Zeit von Simon Dach zwei, zeitweilig drei Obersekretären, dem Registrator und dem Botenmeister. Es folgen in der Regel vier ordentliche Kanzlisten. Zu diesen gehören auch der Taxator, der Jagd- und der Kriegssekretär, die jedoch in den Rechnungsbüchern erst in den späteren Jahrgängen der hier zu betrachtenden Zeit mit diesen Amtsbezeichnungen ausgewiesen werden. Dann gibt es etwa fünf Planstellen für außerordentliche Kanzlisten, die darauf warten, einen der nach Einkommen und Rang höheren Plätze einnehmen zu können. Etwa seit der Mitte der dreißiger Jahre erfolgte eine begriffliche Änderung, indem alle Inhaber von Planstellen als ordent_______ 14

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Unterbringung und Organisation des Kanzleibetriebs bei: Bernhart Jähnig: Vom Etatsministerium zum Geheimen Archiv – Kanzlei, Registratur und Archiv von der ausgehenden Ordenszeit bis zum beginnenden 19. Jahrhundert. In: Preußens erstes Provinzialarchiv (wie Anm. 5), S. 53–84. Die folgenden Texte, v.a. die Kanzleiordnungen, finden sich im GStAPK Berlin, EM 19a, Nr. 36, Bl. 82–142. Einzelnachweise bei Jähnig: Vom Etatsministerium zum Geheimen Archiv (wie Anm. 14). Jürgen Petersohn: Fürstenmacht und Ständetum in Preußen während der Regierung Herzog Georg Friedrichs 1578 – 1603. Würzburg: Holzner 1963 (Marburger Ostforschungen, 20), geht auf die Kanzlei nicht ein. Für die Jahre 1603 – 1660 in: Ostpr. Fol. 13514 – 13568.

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liche Kanzlisten bezeichnet werden. In unseren Personallisten im Anhang handelt es sich daher bei den späteren ›außerordentlichen‹ Kanzlisten um ordentliche Kanzlisten mit einem geringeren Einkommen, denn das hatte sich im Verhältnis nicht geändert, auch wenn die Nennbeträge der Kanzlisteneinkommen im Laufe der Jahrzehnte zugenommen hatten. Anders war das beispielsweise bei den Universitätsprofessoren. Die Laufbahn in der Kanzlei begann sehr häufig als Kanzleijunge oder »Kanzleijüngster«, wie es in den späteren Quellen heißt. Das waren Ausbildungsplätze, von denen die Kanzlei zwei hatte. Beschlossen wird die Liste der Kanzleiangehörigen von einem Amtsschreiber, der außerhalb des Laufbahnaufstiegs blieb, sowie dem Kanzleiknecht, einem sogenannten »Stubenrauch«. Die Kanzleiordnung spricht zwar nur von einem Obersekretär, der neben dem Kanzler die ständige Aufsicht über die Arbeit in der Kanzlei wahrnehmen soll, dennoch verzeichnen die Ausgabebücher dieser Jahre wenigstens zwei, meistens drei Obersekretäre. Hinsichtlich der sprachlichen Bildung wird gefordert, daß der Amtsinhaber der deutschen und lateinischen und möglichst auch der polnischen Sprache mächtig sein soll. Das Litauische wird in der Kanzleiordnung nicht genannt, obwohl auch diese Sprache in einem Teil des Herzogtums gesprochen wurde. 18 Im Jahre 1603 treffen wir Caspar Geelhar († nach 1625) und Friedrich Treschenberger (1568 – 1617) als Obersekretäre an. Geelhar stammte aus der Königsberger Neustadt Löbenicht, wurde am 19. Februar 1582 an der Königsberger Universität immatrikuliert 19 und war seit 1595 mit der Löbenichter Bürgermeistertochter Anna Schultz verheiratet. Seinen Amtseid als Obersekretär leistete er am 13. März 1600, wobei es heißt, daß er bereits im vierten Jahr in der Kanzlei tätig gewesen sei. Er hatte sein Amt über zwei Jahrzehnte lang ausgeübt, als er nach dem 22. April 1625 starb. Er begründete eine Dynastie 20 in landesherrlichen Diensten, denn seine gleichnamigen Enkel (um 1628 – 1678) und Urenkel (1667 – 1728) hatten später neben anderen Ämtern auch das eines Obersekretärs wahrgenommen. Ein gleichnamiger Ururenkel (1699 – 1755) war langjähriger Hofpostmeister. 21 – Der zweite Obersekretär des _______ 18

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Zur Mehrsprachigkeit des Landes unter besonderer Berücksichtigung des Litauischen vgl.: Kirche im Dorf. Ihre Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der ländlichen Gesellschaft im »Preußenland«, 13. – 18. Jahrhundert. Konzeption Bernhart Jähnig. Berlin: In Kommission bei Duncker & Humblot 2002, Kap. 6: »Pfarrer als Gelehrte und Schriftsteller auf dem Lande«. Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr. 3 Bde. Hg. von Georg Erler. Leipzig: Duncker & Humblot 1910–1917 (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen, 16), Bd. 1, S. 76. Da diese Edition chronologisch ihrer Quelle folgt, wird für weitere Königsberger Immatrikulationen in der Regel auf den Weg über das Datum oder ggf. über den Personenindex in Bd. 3 (1917) verwiesen. Vgl. Johannes Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter. (ND aus: Altpreußische Monatsschrift 19–20 [1882–1883]). Hamburg: [o.V.] 1961 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 1), S. 27. – Dieser Obersekretär Geelhar könnte ein Sohn von Caspar Gelbhar gewesen sein, der 1562 noch in jungen Jahren als Trompeter und Sänger in der herzoglichen Hofkapelle auffiel und der dann der eigentliche Stammvater wäre. Ludwig Finscher: Beiträge zur Geschichte der Königsberger Hofkapelle. In: Musik des Ostens 1 (1962), S. 165–189, hier S. 172 und S. 185 ff. Zu den drei letztgenannten Eisermann: (sub verbo). In: APB 1, S. 206.

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Jahres 1603, Friedrich Treschenberger, dessen genaue Lebensdaten bekannt sind, dürfte etwas jünger als Geelhar gewesen sein, eine Immatrikulation bei der Universität ist nicht bekannt. Er war Sohn eines Altstädter Bürgers und verheiratet mit einer Kneiphofer Ratsherrentochter. 22 Er war schon früher als Geelhar in der Kanzlei beschäftigt, denn seinen Amtseid legte er bereits am 27. Mai 1589 ab. Seine Amtszeit endete 1617, als er 49jährig starb. Registrator war im Jahre 1603 Georg Schumann († 1620). Er hatte das Amt auf sein schriftliches Gesuch hin im April 1601 übertragen bekommen, wobei er sich auf eine fast 18 Jahre lange Zeit als Kanzleiverwandter berief, 23 vorher war er zuletzt Botenmeister gewesen. Auch er ist nicht an der Königsberger Universität nachzuweisen. Er konnte fast zwei Jahrzehnte lang die Aktenablage betreuen, ehe er im ersten Quartal des Jahres 1620 starb. – Zur obersten Gruppe der Kanzleiverwandten gehörte ferner, wie bereits gesagt, der Botenmeister; das war im Jahre 1603 Thomas Röder († 1618). Über seine Person ist wenig bekannt. Zu seinem Amt gehörte die Auftragserteilung und Aufsicht über die Kanzleiboten, die die ausgefertigten Schreiben zu befördern hatten. Insofern hatte der jeweilige Botenmeister neben dem Registrator ein ebenfalls herausgehobenes Amt zu versehen. Röder blieb bis zu seinem Tod im Quartal Reminiscere 1618 im Amt. Gehen wir die weitere Reihe der Kanzleiverwandten des Jahres 1603 durch, dann treffen wir auf die folgenden »Gesellen«, wie die Kanzleiverwandten gelegentlich in den Akten bezeichnet werden. Ruprecht Troyens leistete seinen Amtseid am 20. August 1590. Er war mit der Löbenichter Bürgermeistertochter Margarete Schultz verheiratet und damit ein Schwager von Geelhar, 24 seinem Vorgesetzten. Als Schumann zum Registrator aufgestiegen war, strebte Troyens vergeblich die Botenmeisterstelle an. Daher verließ er noch 1603 die Kanzlei, als er die Möglichkeit hatte, Burggraf von Grünhof im Hauptamt Schaaken zu werden. 25 Später wurde er Kammerverwandter und schließlich im Jahre 1629 als Spittelmeister des Großen Hospitals in Löbenicht bestallt. 26 – Eher überqualifiziert für das Amt eines ordentlichen Kanzlisten war Otto von Hülsen (1560 – 1616), gebürtig aus Königsberg, der 1585 an der Universität Wittenberg seinen Magister gemacht und sich insgesamt zehn Jahre im Reich aufgehalten hatte. Im Alter von fast 30 Jahren leistete er nach seiner Rückkehr nach Königsberg am 3. Oktober 1590 seinen Amtseid in der Kanzlei, praktisch in der Rolle eines dritten Obersekretärs. Nach 14 Jahren, im Jahre 1604, schied er aus, weil er inzwischen Professor für Ethik und Geschichte an der Königsberger Universität geworden war. Hülsens Sonderstellung zeigte sich auch in einer erheblich höheren Besoldung. Was eigene Werke angeht, ist nur eine Disputation in seinem Fach Ethik _______ 22

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Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 112. Geelhar und Treschenberger sind im Jahre 1613 mit bedeutenden Anwesen von jeweils 14 Hufen im Hauptamt Insterburg ausgestattet worden. Ostpr. Fol. 935, Bl. 169v und 172v. EM 19 b, Nr. 45 b, Bl. 7. Umgangssprachlich: ›Schwippschwager‹. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 113. EM 126 e, Nr. 79 a. Ostpr. Fol. 954a, Bl. 357 f. In den vorausgehenden Folianten gibt es eine Reihe von Belegen zu seinen Tätigkeiten in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten.

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bekannt. 27 – Auch Balthasar von Sangerhausen war 1603 schon über ein Jahrzehnt tätig, denn er hatte seinen Amtseid am 27. Mai 1589 geleistet. Er heiratete 1598 eine Tochter von Andreas Lorentz, der seit 1587 in der Hofkapelle den Baß sang. 28 Dem Brautpaar zu Ehren komponierte der bekannte Hofkapellmeister Johannes Eccard (1553 – 1611) eine Musik. 29 Der Kanzlist blieb auf seinem Posten bis zu seinem Tode 1629. Wenigstens wurde ihm im Jahre 1620, als er schon über drei Jahrzehnte lang den Kanzleidienst ausgeübt hatte, die Kanzleiinspektion übertragen. 30 – Die drei weiteren ordentlichen Kanzlisten des Jahres 1603 hatten alle im Jahre 1592 ihre Amtseide geleistet. Von Georg Neicke aus Posen heißt es, daß er dieses erst zwei Jahre nach Amtsantritt getan habe. Von ihm ist überliefert, daß er wegen des Todes seiner Schwester im Jahre 1600 zur Regelung der Erbschaft in Posen um eine Woche Urlaub bat. 31 Er selbst ist bald darauf im Jahre 1606 gestorben. Christoff Stebenhaber kam aus Meiningen und ist bis 1634 als ordentlicher Kanzleiverwandter zu finden. Ludwig Moritz Hertlein ist dagegen ebenfalls 1606 gestorben. Auch die außerordentlichen Kanzlisten des Jahres 1603 waren schon einige Jahre im Amt. Ihre Amtseide leisteten Georg Hanisch erstmals im Juli 1588, erneut am 13. März 1600, Christoff Althaus und Joachim Praetorius am 3. Juli 1595, Augustin Arnolt noch als Kanzleijunge am 11. Mai 1594 und zu einem nicht belegten Zeitpunkt Friedrich Dantzer, der noch im zweiten Halbjahr 1603 von Michael Brechtel abgelöst wurde. Auch bei den beiden Kanzleijungen des Jahres 1603 ist nur von Friedrich Stegmann die Unterzeichnung des Kanzleieids überliefert; er und Georg Krauß wurden dann 1604 zu außerordentlichen Kanzlisten befördert. Das Kanzleipersonal des Jahres 1603 vervollständigten der Amtsschreiber Georg Sehel (Säel, † 1607) und der Kanzleiknecht Christoff Jacob. Betrachten wir nun in zeitlicher Folge die Obersekretäre, die zu Lebzeiten von Simon Dach im Königsberger Schloß gewirkt haben. Als Nachfolger von Otto von Hülsen legte Michael Adersbach (1569 – 1640) 32 am 17. Dezember 1603 seinen Amtseid ab und wurde seit 1604 als dritter Obersekretär geführt. Adersbach war Kaufmannssohn aus der Altstadt und hat an einer Reihe von auswärtigen Universitäten studiert. Er stand zeitweilig in Diensten von Herzog Georg Friedrich in Ansbach und ist in Polen unterwegs gewesen. Das läßt nach seiner Rückkehr nach Königsberg den schnellen Aufstieg in der Kanzlei verständlich _______ 27

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Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. 4 Bde. Königsberg: Hartung 1746–1769, Teil 2 (1746), S. 388. Über die Datenbank »Königsberger Universitätsschriften« in Engi, Kanton Glarus , konnte bisher kein Exemplar nachgewiesen werden (http://www.forschungen-engi.ch/projekte/ projekte.htm). Ostpr. Fol. 13504, Bl. 74v. Königsberger »Gelegenheitsmusiken« von Johann Eccard und v.a. von Johann Stobäus finden sich in bis zu sechs 1641 gebundenen Stimmbüchern, GStAPK Berlin, XX. HA StUB Königsberg, 11 – 16 [im folgenden zitiert als: Gelegenheitsmusiken], Nr. 1. GStAPK Berlin, I. HA Geheimer Rat, Rep. 7 Preußen, Nr. 55 a zum Jahr 1623. EM 19 b, Nr. 45 a, Bl. 1. Erich Weise: (sub verbo). In: APB 4, S. 4.

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erscheinen. Sein Ansehen in den gebildeten Kreisen der Stadt spiegelt sich in den poetischen Nachrufen von Simon Dach und anderen wider. Die Trauermusik komponierte der Hofkapellmeister Johann Stobäus (1580 – 1646), 33 der kurz vorher Adersbachs Frau Ursula, geborene Pärß, anläßlich ihres 40. Geburtstags einen Satz gewidmet hatte. 34 – An dieser Stelle sei hinzugefügt, daß einer der Söhne von Michael Adersbach, nämlich der nach dem Großvater benannte Andreas Adersbach (1610 – 1660), 35 einen ähnlichen Berufsweg einschlug wie sein Vater. Als er 1643 ebenfalls in die landesherrliche Kanzlei aufgenommen werden sollte, kam es darüber zu einem Konflikt des Kurfürsten mit den Oberräten. Da gerade die Jahrgänge 1644 und 1645 der Hauptausgabebücher der Rentkammer fehlen, läßt sich darüber nichts in den Besoldungslisten finden. Andreas Adersbach ist unter anderem durch eine Reihe kleiner poetischer Werke hervorgetreten. Einige aus den Jahren 1639 – 1640 finden sich als Anhänge zu Gelegenheitsmusiken von Johann Stobäus, wobei Andreas Adersbach den Text für die Trauermusik anläßlich der Beerdigung seines Vaters zu Weihnachten 1640 selbst verfaßte. 36 Als nächster Obersekretär erscheint Joachim Heß (Hesse, 1581 – 1637). 37 Dessen Großvater war aus Pommern eingewandert, sein Vater war Bürgermeister von Preußisch Holland. Joachim selbst wurde zusammen mit dem späteren Hofkapellmeister Stobäus am 8. Dezember 1595 bei der Universität Königsberg immatrikuliert, am 10. Juli 1598 war er in Wittenberg. 38 In erster Ehe war er mit einer Tochter des Theologieprofessors und Hofpredigers Paul Weiß, in zweiter Ehe mit der Tochter Barbara seines Kollegen Michael Adersbach verheiratet. 39 Sein Studium und seine sozialen Verbindungen haben es ihm ermöglicht, sogleich zu Pfingsten 1617 als Obersekretär in die landesherrliche Kanzlei einzutreten. Nach Geelhars Tod 1625 rückte Heß auf und Christian Winter (1581 – 1653) 40 wurde neuer zweiter Obersekretär. Am 22. Juni 1591 war er zu Ehren seines Vaters Martin Winter (1553 – 1595), der zunächst Universitätsprofessor _______ 33

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Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 63. Künftig: Bernhart Jähnig: Die Königsberger Gesellschaft im Spiegel der Gelegenheitsmusiken von Johannes Stobäus (1580 – 1646). In: 750 Jahre Königsberg. Hg. von dems. Marburg: Elwert (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 23) [in Vorbereitung]. Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 5. Kurt Forstreuter: (sub verbo). In: NDB 1, S. 66. Zur Familie im ganzen Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 3 f. Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 54, 57, 62, 63 und 100. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 38. Album Academiae Vitebergensis ab a. Ch. 1502 ad a. 1602. 3 Bde. Bd. 1. Ex autographo edidit Carolus Eduardus Foerstemann. Leipzig: Tauchnitz 1841. Bd. 2 und 3. Sub auspiciis Bibliothecae Universitatis Halensis ex autographo editum. Halle: Niemeyer 1894–1905, hier Bd. 2, S. 450 b. Da diese Edition chronologisch angelegt ist, wird für weitere Wittenberger Immatrikulationen auf den Weg über Datum und Index (Bd. 3) verwiesen. Hochzeit am 17. Mai 1627. Die Musik komponierte der Altstädter Kantor Jonas Zornicht. Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 21. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 124, 143, Wappen Nr. 98.

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für Poetik, dann für Logik war, 41 als Minderjähriger bei der Königsberger Universität eingeschrieben worden, 1602 hatte er in Leipzig studiert. Als Professorensohn, der selbst an Universitäten studiert hatte, wurde auch er sogleich Obersekretär und rückte nach dem Tod von Heß auf die erste Stelle vor. Schon vorher, 1632, hatte er den Reichsadel mit dem Familiennamen Winter von Sternfeld erhalten. Als Winter zum ersten Obersekretär aufrückte, wurde sein bisheriger Platz von Christoff Naps (1580 – 1645) 42 eingenommen, der vom Hofgericht herüberwechselte. Dessen Vater war schon herzoglicher Schreiber in Königsberg gewesen, er selbst wurde am 19. September 1596 an der Königsberger Universität eingeschrieben. 1607 ist er an der Universität Altdorf nachzuweisen. Auch er wurde als studierter Mann, ohne untere Kanzleiposten durchlaufen zu haben, sogleich 1637 zum Obersekretär bestallt. Als Michael Adersbach zu Weihnachten 1640 gestorben war, wurde kein neuer dritter Obersekretär berufen. Als fünf Jahre später Christoph Naps starb, nahm der in Literatenkreisen besonders bekannte, weitgereiste und welterfahrene Robert Roberthin (1600 – 1648) 43 seine Stelle als zweiter Obersekretär ein. Nach den bisher um 1580 und früher geborenen Inhabern der Obersekretärsstellen gehörte Roberthin als Jahrgang 1600 einer jüngeren Generation an. Er wurde in Saalfeld, dem Sitz einer der drei Provinzialschulen des Herzogtums, geboren, wo damals sein Vater Pfarrer war, der als Lehrer (»Informator«) der Prinzessin und Herzogin Marie Eleonore nach Preußen gekommen war. 44 Der Sohn Robert wurde mit seinem Bruder Johannes bereits am 24. September 1611 als Minderjährige in Königsberg eingeschrieben. Von den ersten auswärtigen Studienorten ist für ihn nur Leipzig 1618 – 1620 nachweisbar, während sich in Straßburg allein Johannes Roberthin einschreiben ließ, und zwar 1621 bei den Theologen. 45 Robert Roberthin bereiste dann ab 1625 die Niederlande, England, Frankreich und wurde dieses Mal im November 1628 bei den Straßburger Juristen eingeschrieben. Nach Rückkehr aus Frankreich wurde er in Königsberg am 10. Juli 1630 mit dem Recht zur Lehre immatrikuliert. Bald führte ihn eine dritte Reise auch nach Italien, wo er sich im Februar 1632 in Siena immatrikulieren ließ. 46 Er nahm zu zahlreichen Gelehrten wie dem Staatsrechtler Hugo Grotius Verbindung auf. Auch zu diplomatischen Kreisen hatte er Zugang. Als Robert _______ 41 42 43 44

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Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 814. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 73. Ewald Schepper: (sub verbo). In: APB 2, S. 562. Friedewald Möller: Altpreußisches evangelisches Pfarrerbuch von der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945, Biographischer Teil, hier zitiert nach dem Manuskript im Besitz des Herausgebers Dr. Reinhold Heling, Nr. 7726. Horst Kenkel: Studenten aus Ost- und Westpreußen an außerpreußischen Universitäten vor 1815. Anhand der gedruckten Matrikeln bearb. und hg. Hamburg: [o.V.] 1981 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 46), S. 220 und 465. Johannes Roberthin ließ sich nach Rückkehr in Königsberg am 4. Juni 1624 mit dem ius scholasticum immatrikulieren. Kenkel: Studenten aus Ost- und Westpreußen (wie Anm. 45), S. 468 (Straßburg) und S. 461 (Siena).

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Roberthin im August 1634 in die Mark Brandenburg zu ziehen gedachte, wurde er von Simon Dach mit einem Abschiedslied verabschiedet, und nachdem er endgültig nach Königsberg zurückgekehrt und in landesherrliche Dienste getreten war, wurde ihm 1636 von Johann Stobäus, Simon Dach und anderen ein musikalischer und literarischer Empfang bereitet. 47 Am 8. März 1639 heiratete er Ursula, geborene Vogt. 48 Durch sie war er verschwägert mit der Familie Pärß und damit mit dem schon vorgestellten Michael Adersbach. Angesichts dieser Beziehungen wundert es nicht, daß auch Roberthin unmittelbar die freigewordene Obersekretärsstelle erhalten hat. Er starb jedoch schon nach knapp drei Jahren am 7. April 1648. Über seine Beziehungen zu dem ›Kürbishüttenfreundeskreis‹ um Heinrich Albert und Simon Dach sowie über sein literarisches Werk können an dieser Stelle weitere Ausführungen unterbleiben, obwohl er nie Gegenstand einer eigenen Betrachtung geworden ist. 49 Dachs Verehrung für Roberthin zeigt sich in der umfangreichen »Alexandriner-Epistel« Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen Churfürstl. Brand. Pr. OberSecretarium geschrieben 1647. 30. Julij. 50 Nur gut acht Monate später hatte Simon Dach den bestürzenden Anlaß, den Tod des Freundes vielfältig zu betrauern. Er tat dies in deutscher und lateinischer Sprache. 51 Nach Roberthins Tod wurde Christoff Sand (1611 – 1686) neuer Obersekretär. 52 Er war Sohn eines Ratsherrn der preußischen Kleinstadt Kreuzburg und begann 1631 sein Studium an der Universität Königsberg. Er machte dann längere Studienreisen im Reich sowie durch Frankreich, Italien und die Niederlan_______ 47

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Für 1634 vgl. ZIESEMER I, S. 24 ff. (»Abschieds=Lied, Dem […] H. Robert Roberthin«). – Für 1636 Dachs Beitrag in: Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 106, Quinta Vox, [Inc.:] »Corona, Sirmio; venusta Benaci«. Simon Dachs Lied zur Hochzeit ist abgedruckt in: ZIESEMER I, S. 55–61 (»Robert Roberthin und Ursula Vogt«). Stobäus komponierte zur Hochzeit für das Gedicht von Boethius, »Quod mundus stabili fide«, einen fünfstimmigen Satz. Joseph Müller: Die musikalischen Schätze der Königlichen Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg in Preußen. Bonn: Marcus 1870 (ND Hildesheim [u.a.]: Olms 1971), S. 363, Stobäus Nr. 201. Im Mai 1641 schufen Simon Dach und Stobäus zum Einzug in Roberthins neue Wohnung ein »Wander=Lied« ([Inc.:] »DIeß Pilger=Land lässt keinen ruhig bleiben«), ZIESEMER III, S. 66, vgl. Müller a.a.O., S. 367, Stobäus Nr. 244. Roberthin wird regelmäßig genannt, wenn es um den Königsberger Dichterkreis und Simon Dach geht, wobei er nicht zu unrecht als Haupt dieses Umfelds hervorgehoben wird. So auch Schöne: Kürbishütte und Königsberg (wie Anm. 1) und Alfred Kelletat: Biographien. In: KELLETAT, S. 295–304, hier S. 301 f.; dort S. 231–245 acht Gedichte aus seiner Feder. Ob das Verhältnis zwischen Roberthin und Dach tatsächlich so einseitig wie zwischen einem Führer und seinem Gefolgsmann war, wie es Schepper: (sub verbo). In: APB 2, S. 562, darstellt, bedarf gewiß einer näheren Untersuchung. ZIESEMER I, S. 187–193; KELLETAT, S. 79–89. »Christliche Todes Erinnerung Des […] Herrn Robert Robertihns, […] Auff dessen Begehren schon vor etzlichen Jahren geschrieben von Simon Dach Vnd anitzo […] in 5 Stimmen gesetzet von Heinrich Alberten.« In: ZIESEMER III, S. 206 f., »Bittere Klage vber H. Robert Roberthins, […] Vnverhofftem vnd recht hochbetrübtem aber seligem Hintritt aus dieser Welt, […] geführet von mir Simon Dachen«. In: Ebd., S. 207–210, »Epithaphium […] Dn. ROBERTO ROBERTINO«. In: ZIESEMER IV, S. 514 f., »Memoria ROBERTI ROBERTINI«. In: Ebd., S. 516 ff. Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 587 f.

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de, wo auch er den Rechtsgelehrten Hugo Grotius kennenlernte. 1648 übernahm Sand zunächst die zweite Obersekretärsstelle in Königsberg und behielt diese auch 1653 nach Winters Tod. Die Anfeindungen der Königsberger Theologen wegen seiner Nähe zum Arianertum fielen schon in die Zeit nach 1660, so daß wir darauf nicht mehr eingehen. 53 Gedruckte Schriften hat er offenbar nicht hinterlassen. Der letzte Obersekretär, dessen Amtsübernahme Simon Dach erlebte, Fabian Kalau (1610 – 1678), 54 der ältere Bruder des bekannten Theologen Abraham Calov (1612 – 1686), erhielt nach Winters Tod gleich die erste Obersekretärsstelle. Fabian Kalau studierte seit 1625 in Königsberg, lernte die polnische Sprache in Warschau, bereiste Deutschland, Dänemark und Schweden, bevor er in landesherrliche Dienste trat. Als brandenburgischer Rat wurde er vom Großen Kurfürsten bald in zahlreichen diplomatischen Aufgaben eingesetzt, schließlich wurde er mit dem Familiennamen Kalau vom Hofe in den preußischen Adelsstand erhoben. Damit beschließen wir die Betrachtung der Obersekretäre. Wenden wir uns nun den Registratoren in zeitlicher Folge zu, deren Aufgabenbereich allmählich von der Bezeichnung »Archivar« überlagert wurde. Nach dem Tod des bereits vorgestellten Georg Schumann 1620 wurde der bisherige ordentliche Kanzleiverwandte Philipp Frenking (um 1570 – 1628) 55 neuer Registrator. Er stammte aus Danzig und war mütterlicherseits mit dem ermländischen Bischof Johannes Dantiscus (1485 – 1548) verwandt. Nach Gymnasialbesuch in Thorn studierte er in Wittenberg und arbeitete eine Weile bei Tycho Brahe in Prag. Zugleich machte er sich einen Namen als neulateinischer Dichter, so daß er, als er nach Königsberg gekommen war, am 26. Februar 1612 ehrenhalber und kostenlos in die Universitätsmatrikel eingeschrieben wurde. Nachdem er am 25. September 1613 seinen Amtseid geleistet hatte, übernahm er den Platz des verstorbenen außerordentlichen Kanzlisten Sebastian Colmitz (Colbitz), dessen Witwe er heiratete. Nach dem Tod von Christoff Althaus am 21. August 1615 wurde er ordentlicher Kanzlist, so daß er schließlich in sieben Jahren den höchstmöglichen Posten in der Registratur erreicht hatte. Er starb ganz unerwartet nach weiteren acht Jahren im Mai 1628. Ob Simon Dach ihn hat persönlich kennenlernen können, als er sich im August 1626 an der Königsberger Universität einschreiben ließ, bleibt ungewiß. Jedoch hat er Frenkings Werke gekannt, wie etwa der gemeinsame Abdruck von Versen bei der Trauermusik für den Vizebürgermeister Hiob Lepner 1635 zeigt, auch wenn dies in verschiedenen Stimmbüchern erfolgte. 56 Im Jahre 1621 hatte Frenking für zwei Hochzeitsmu_______ 53 54 55 56

Weiterführend Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens. 3 Bde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, hier Bd. 1, S. 165 f. und S. 501. Christian Krollmann: (sub verbo). In: APB 1, S. 317. Ders.: (sub verbo). In: APB 1, S. 194. Dachs Beitrag in: Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 30, Tenor, [Inc.]: »O Wie Seelig seydt jhr doch / Jhr Frommen«.

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siken die Texte geschaffen, die Stobäus vertont hatte und die durch ihre Drucklegung bekannt gewesen sein dürften. 57 Frenkings Nachfolger wurde 1628 Joachim Meyer (1582 – 1636), 58 der am 25. September 1613 mit Frenking zusammen seinen Amtseid abgelegt hatte. Vorher hatte Meyer seit 1606 auswärts studiert, wozu ihm die Oberratsstube Stipendien bewilligt hatte. 59 Er wurde zunächst Nachfolger des verstorbenen Kanzlisten Paul Taube, ehe er nach 15 Jahren die Registratur übernehmen konnte. Sein Vater war Bürgermeister von Belgard in Pommern, am 17. Oktober 1604 wurde er bei der Universität Königsberg immatrikuliert. Er wurde auch beim Samländischen Konsistorium tätig. Aber auch Joachim Meyer konnte die Registratur nur acht Jahre lang in Ordnung halten, denn er wechselte 1636 auf die Stelle eines Hofgerichtssekretärs, bevor er kurz darauf starb. Über ein mögliches Verhältnis zur Dichtung ist bisher nichts bekannt. Meyers Nachfolger wurde der bisherige ordentliche Kanzleiverwandte Peter Hänisch. Dieser hatte sich 1628 erfolgreich um eine Stelle in der Kanzlei beworben, 60 als Meyer zum Registrator aufgestiegen war. Hänisch kam aus dem königlich-polnischen Preußen, wo sein gleichnamiger Vater möglicherweise infolge von Kriegshandlungen in Mewe gestorben war. Er selbst habe sich, so schrieb er, über Elbing ins Herzogtum geflüchtet. Er habe in Deutschland verschiedene Akademien besucht und habe am polnischen Hof die polnische Sprache gelernt und sich dort und andernorts in Rechtsfragen zu bilden gesucht. Seine Fähigkeiten ließen ihn in Königsberg heimisch werden, so daß er bereits als Registrator 1638 in die Professorenfamilie Göbel einheiratete. 61 Nach dem Regierungswechsel des Jahres 1640 ließ er sich im folgenden Jahr von Kurfürst Friedrich Wilhelm seine Bestallung erneuern. Bei der Bewertung seiner bisherigen Arbeit wurde das Fertigen von Vorlagen in lateinischer und polnischer Sprache hervorgehoben. Bei der Wortwahl in der Bestallungsurkunde ist außerdem zu bemerken, daß hier zum ersten Mal in Preußen das Wort »Archiv« verwendet wird. 62 Dies erfolgte durchaus in einem modernen Sinn, indem mit ›Archiv‹ das ältere Schriftgut, mit ›Registratur‹ jedoch das laufende, noch aktuell benötigte Geschäftsschriftgut gemeint war. Außerdem wurde ihm seine Behausung am Altstädtischen Markt bestätigt. 63 Bereits 1645 war seine Stelle wieder erledigt. Da, wie gesagt, die Ausgabebücher für 1644 – 1645 fehlen, ist vorerst Näheres nicht zu ermitteln. Am 20. November 1645 stellte der Große Kurfürst die Bestallung für die Verwaltung von Archiv und Kanzleiregistratur erneut aus, indem er die Stelle _______ 57 58 59 60 61 62

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Ebd., Nr. 68 f. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 69. Ostpr. Fol. 13520, Bl. 53r; 13522, Bl. 37r. Bewerbungsschreiben in deutscher, lateinischer und polnischer Sprache in: EM 19 b, Nr. 45 b, Bl. 37–43. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 30. Abgebildet bei Jähnig: Vom Etatsministerium zum Geheimen Archiv (wie Anm. 14), S. 67. EM 19 c II, Nr. 2, Bl. 4 ff.; GStAPK Berlin, I. HA Geheimer Rat, Rep. 7 Preußen, Nr. 55 für die Jahre 1640 – 1644. EM 19 c II, Nr. 2.

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mit Johann Fauljoch (1601 – 1678) besetzte. 64 Über Herkunft und Studium von Fauljoch war bisher nichts zu ermitteln, so daß sein Aufstieg in der Kanzlei durchaus bemerkenswert ist. Er war bereits seit dem letzten Quartal 1637 in der Kanzlei tätig gewesen, seit 1643 als Taxator. Weiter wird in der Bestallungsurkunde gesagt, daß mit diesem Amt die Inspektion der Kanzlei verbunden sei, das heißt, daß Fauljoch für die tägliche Überwachung der laufenden Arbeiten in der Kanzlei zuständig war. Er hat sein Amt ungewöhnlich lange ausüben können, da er erst am 15. September 1679 im Alter von 78 Jahren gestorben ist. 65 Fauljochs Name ist aus der Klage über den […] Vntergang […] der […] Kürbs=Hütte von Simon Dach bekannt. Hinsichtlich des Alters ist er damals ein Mitvierziger gewesen, vier Jahre älter als Dach. Nachdem aus dem Freundeskreis um die ›Kürbishütte‹ Robert Roberthin und Georg Blum im Jahre 1648 gestorben waren, haben sich offenbar Heinrich Albert, Simon Dach und Johann Fauljoch mit dem etwas jüngeren Christoph Kaldenbach (1613 – 1698) 66 getroffen, der in diesen Jahren Konrektor der Altstädtischen Schule war. Als Fauljoch am 9. Februar 1649 Maria Fischer heiratete, gab Dach in zwei Gedichten eine Charakteristik des Freundes aus der Kanzlei, die am ehesten dem traditionellen Bild eines emotionsarmen, zur Bescheidenheit neigenden und spät heiratenden Kanzleibeamten entspricht, der für den Eintritt in den Ehestand noch einer gewissen Ermunterung bedurfte. So heißt es in einer Strophe: Jetzt hat dich Amor auch Zu seinem Dienst und Brauch, Geh nun, und fleuch zu lieben! Bring, Venus, ein den Streit, Den er so lange Zeit 67 Gewust hat auffzuschieben.

Da Fauljoch Dach um zwei Jahrzehnte überlebt hat, ergab sich nicht die Möglichkeit für einen dichterischen Nachruf wie bei den anderen Freunden. Auf Fauljoch dürfte es auch zurückzuführen sein, daß die Kanzlei über eine lange Zeit eine Handschrift Dachscher Gedichte besessen hat, ehe sie von dort ins Staatsarchiv gelangte und seit 1945 verschollen ist. 68 Für die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Fauljoch sind noch zwei Nachrichten bezeichnend. Die nicht allzu hohen Einkünfte ließen 1652 einen Versuch der Stadt Kneiphof, ihn als Stadtschreiber abzuwerben, so aussichtsreich erscheinen, daß die Oberräte den Kurfürsten um Aufbesserung ersuchten. 69 Zehn Jahre später, 1662, erhielt _______ 64 65 66

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EM 19 c II, Nr. 3, Bl. 1 ff. Jähnig: Kanzlei, Registratur und Archiv (wie Anm. 1), S. 85, Anm. 29. Christoph Kaldenbach: Auswahl aus dem Werk. Hg. und eingel. von Wilfried Barner. Tübingen: Niemeyer 1977 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Sonderreihe, 2); Biogramm bei Kelletat: Biographien (wie Anm. 49), S. 300, sieben Gedichte in: KELLETAT, S. 246–258. Simon Dach: »Johann Fauljoch und Maria Fischer«. In: ZIESEMER I, S. 223 f., hier Str. 5. Vgl. Walther Ziesemer: Neues zu Simon Dach. In: Euphorion 25 (1924), S. 591–608, hier S. 592; Schöne: Kürbishütte und Königsberg (wie Anm. 1), S. 9; Jähnig: Kanzlei, Registratur und Archiv (wie Anm. 1), S. 95. Tatsächlich ist der jüngere Kanzleiverwandte Adam Gutsch 1652 in den Dienst der Stadt Kneiphof übergewechselt. Ostpr. Fol. 13563, Bl. 52v.

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Fauljoch den vom Kurfürsten eigenhändig unterzeichneten sowohl ehrenhaften wie brisanten Auftrag, die schriftlichen Unterlagen des verhafteten Kneiphofer Schöppenmeisters Hieronymus Roth (1606 – 1678) 70 zu beschlagnahmen. 71 Wenden wir uns nun den Botenmeistern zu, so finden wir als Nachfolger des vorgestellten und 1618 gestorbenen Thomas Röder den bisherigen Kanzleiverwandten Gottfried Blanckenfeldt. Dieser hatte 1604 als Kanzleijunge angefangen und war 1609 außerordentlicher Kanzlist geworden, ehe er die ordentlichen Kanzlisten auf dem Wege ins Botenmeisteramt überholte. Er wurde Schwiegersohn des Altstädter Schöppenmeisters Christoph Winter und war damit auch mit seinem Vorgesetzten, dem Obersekretär Christian Winter verschwägert. 72 Auf diesem Wege war er im führenden Königsberger Bürgertum angekommen. Er ist nach einer langen Dienstzeit von über vier Jahrzehnten, davon 27 Jahre als Botenmeister, im Jahre 1645 gestorben. – Nachfolger wurde nach einem Blitzaufstieg Martin Neumann, der erst 1642 als Kanzleijunge angefangen hatte. Ob er mit einem gleichnamigen aus Soldau stammenden Königsberger Studenten des Jahres 1637 identisch sein könnte, muß zweifelhaft bleiben. Was familiäre Verbindungen angeht, ist von ihm nur bekannt, daß er 1646 eine Tochter des Kneiphofer Bürgers Hieronymus Paschke heiratete. 73 Von den Botenmeistern der Ära Simon Dach ist hinsichtlich einer literarischen Beschäftigung nichts bekannt. Betrachten wir nun abschließend einige Kanzleiverwandten, die nicht in ein höheres Amt in der Kanzlei vorgestoßen sind. Hier können nur einige Beispiele vorgestellt werden, um zu zeigen, in welcher Weise auch dieser Personenkreis in das gesellschaftliche und kulturelle Leben Königsbergs im Zeitalter von Simon Dach eingebettet war. Da gezeigt werden konnte, daß die Schicht des gehobenen Bürgertums die Hauptauftraggeber der in dieser Zeit beliebten Gelegenheitsmusiken stellte, 74 ist hier grundsätzlich mit der Möglichkeit einer eigenen, wenn auch oft bescheidenen literarischen Betätigung zu rechnen, auch wenn die Überlieferung hierzu zumeist fehlt. Ruprecht Troyens, der 1603 aus der Kanzlei abgegangen war, um Burggraf von Grünhof zu werden, haben wir schon genannt. Am 25. Februar 1606 wurden Ruprechts Söhne Hieronymus 75 und Peter Troyens (1595 – 1644) an der _______ 70

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Darstellung der politischen Vorgänge und deren unterschiedliche historische Bewertungen bei Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 572; Opgenoorth: Friedrich Wilhelm (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 27–34. EM 19 c II, Nr. 3, Bl. 4 ff. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 124. Ihre Tochter Anna Sybilla heiratete zunächst in die verschwägerte Familie Halbach von der Pforten, dann die Jagdsekretäre Benedikt Sahme (1640 – 1674) und Sylvester Siebrand († 1711). Ebd., S. 34 u. 95. Ebd., S. 76. Vgl. Jähnig: Die Königsberger Gesellschaft (wie Anm. 33). Fehlt bei Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 113; Die Matrikel der Albertus-Universität (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 171, nennt Hieronymus und Peter ausdrücklich als Brüder.

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Heimatuniversität Königsberg immatrikuliert, im Mai 1612 76 ist der ältere, im Mai 1613 der jüngere an der Universität Wittenberg zu finden. Hieronymus Troyens leistete am 10. April 1617 seinen Amtseid als Kanzleiverwandter der Oberratsstube, ging aber schon 1621 als Amtsschreiber nach Preußisch Eylau. Später war er Kammerregistrator. 77 Peter Troyens leistete seinen Amtseid in der Kanzlei schon am 4. Juli 1614, 1620 wurde er zum ordentlichen Kanzleiverwandten befördert, schied aber nach 1632 aus bisher nicht bekannten Gründen aus. 78 Die jüngeren Brüder Christoph (1606 – 1669) und Georg Troyens 79 wurden am 5. September 1617 als noch Minderjährige in die Universität Königsberg aufgenommen. Von diesen war Christoph Troyens seit 1627 in der Kanzlei tätig, wo er später die Aufgabe eines Jagdsekretärs übernahm und als solcher der nach Registrator und Botenmeister ranghöchste Kanzlist war. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß der frühere Kanzleiverwandte als Burggraf (Amtmann) von Grünhof in der Lage war, alle vier bekannten Söhne auf die Universität zu schicken. Die soziale Stellung der Familie zeigte sich zudem durch Einheiraten einer Schwester in die Familie Halbach von der Pforte und der Brüder Peter und Christoph in die aus Rastenburg eingewanderte Bürgermeisterfamilie Dörffer. Bei dem Kanzleijungen Peter Troyens der Jahre 1641– 1642 dürfte es sich um den gleichnamigen Sohn (getauft 1626) des oben genannten Kanzleiverwandten handeln. 80 Unser Blick soll zunächst auf Georg Blum († 1648) 81 gelenkt werden, der in offenbar sehr jungen Jahren aus Tilsit nach Königsberg gekommen war. Er ist zweimal in der Königsberger Universitätsmatrikel zu finden, das erste Mal am 6. November 1611 vermutlich noch als Minderjähriger, dann noch einmal am 5. September 1616. Doch schon am 7. März 1618 legte er seinen Amtseid als Kanzleijunge ab und erscheint seit Pfingsten im Hauptausgabebuch der Rentkammer. 82 Im folgenden Jahr 1619 wurde er wohl wegen seiner guten Stimme als Altist von der Hofkapelle eingestellt. Über drei Jahre lang, bis 1622, ist er dafür bezahlt worden. Als jedoch die Hofkapelle aus finanziellen Gründen halbiert

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Ostern 1612 beginnend, wurde Hieronymus Troyens von der Oberratsstube ein Stipendium für zwei Jahre zum Studium an auswärtigen Universitäten genehmigt. Ostpr. Fol. 13524, Bl. 47v. Ostpr. Fol. 955, Bl. 203. 1634 war noch ein Besoldungsrest zu zahlen. Ostpr. Fol. 13545, Bl. 46. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt beantragte er die Nachfolge eines verstorbenen Kammerregistrators. EM 6 b, Nr. 23 (beim Jahr 1617). Fehlt ebenfalls bei Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 113; Die Matrikel der Albertus-Universität (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 229, bezeichnet auch Christoph und Georg als Brüder. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 20), S. 18 und S. 113. – Zur Hochzeit von Peter Troyens und Dorothea Dörffer am 6. Februar 1623 komponierte Stobäus zum Lied »Sein eigen Gut inhaben« einen fünfstimmigen Satz. Müller: Die musikalischen Schätze (wie Anm. 48), S. 355, Stobäus Nr. 108. Jähnig: Kanzlei, Registratur und Archiv (wie Anm. 1), S. 95 f. mit weiteren Nachweisen. Ostpr. Fol. 13529, Bl. 65r.

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wurde, gehörte er zu den im Jahre 1624 entlassenen Sängern. 83 Schon 1620 verließ er den Stand eines Kanzleijungen und wurde »überzähliger«, das heißt nicht planmäßiger außerordentlicher Kanzlist, im Jahr darauf übernahm er die von Hieronymus Troyens freigemachte Stelle eines planmäßigen außerordentlichen Kanzlisten. Um seine nicht allzu hohen Einkünfte zu verbessern, bat er nach einigen Jahren, ihm zusätzlich die Stelle eines Baumschließers, eine Tätigkeit in der Zollverwaltung, zu übertragen. 1635 schließlich wurde er ordentlicher Kanzleiverwandter, vermutlich war damit die Übertragung des Kriegssekretariats verbunden. 1644 beklagte er sich beim Geheimen Rat in Berlin wegen eines Besoldungsrückstands seit 1640, insbesondere wegen des ausstehenden Zuschlags für sein besonderes Amt. 84 Am 18. April 1648 starb er, seine Witwe war noch 1671 zu versorgen. Wir wissen aus der ›Kürbishüttenklage‹ von Simon Dach und aus einem Gedicht, das Dach wohl 1647 an Blums Ehefrau Sybilla zu ihrem Namenstag gerichtet hat, daß Blum zu dem kleinen besonders vertrauten Kreis literarisch und musikalisch interessierter Freunde im Garten von Heinrich Albert gehörte. Dach, Albert, Fauljoch, Roberthin und Blum bildeten demnach diesen engsten Freundeskreis. 85 Anläßlich von Blums Tod erhebt Dach eine Klage über Menschliche Hinfälligkeit in acht sechszeiligen Strophen 86 und verfaßt aus gleichem Anlaß noch ein zweites deutschsprachiges Epicedium. In diesem wird Blums Herkunft vom Memelstrom, also aus Tilsit, angesprochen. Dach klagt: ALso weichen Vnd verbleichen Meine gutten Freunde mir, Diese wandern Nach den andern Vnd verlassen mich alhier, Auch Herr Blum eilt ihnen nach 87 In sein liebes Grab=Gemach.

Die Häufung von Todesfällen um 1648 traf nicht nur unmittelbar den Freundeskreis der ›Kürbishütte‹. Der Dompfarrer Georg Colbe (1594 – 1671), der zwar nicht zu der Fünfergruppe gehörte, jedoch in nahen Beziehungen zu Simon Dach und Johann Stobäus stand, verlor im folgenden Jahr 1649 Ehefrau und ältesten Sohn, was den Königsberger Dichterfürsten ebenfalls zu einfühlsamen Versen veranlaßte. 88 Gegen Schluß heißt es in dem zitierten Epicedium weiter: _______ 83

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Werner Braun: Plädoyer für eine Königsberger Kapellmusik (1623). In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 539–559, hier S. 550. GStAPK Berlin, I. HA Geheimer Rat, Rep. 7 Preußen, Nr. 55 a zum Jahr 1644. Simon Dach: »An Bluhm zum Namenstage seiner Frau Sybilla.« In: ZIESEMER I, S. 202, hier V. 1 f.: »Herr Heinrich Albert, ich, Herr Fauljoch und darneben | Herr Roberthin, sind heut entschlossen recht zu leben«. Auch in: KELLETAT, S. 96 f. Dach: »Klage über Menschliche Hinfälligkeit. Als Herr George Blum, Churfl. Pr. Cantzley=Verwandter in Gott entschlaffen den 18. April. 1648.« In: ZIESEMER III, S. 210. Dach: [Inc.:] »Also weichen | Vnd verbleichen«. In: ZIESEMER III, S. 211 f., hier Str. 1. Dach: [Inc.:] »WJrd dieses auch dem Vbermuth«. In: ZIESEMER III, S. 340 f.; vgl. Bernhart Jähnig: Georg Colbe (1594 – 1671) – Theologe, Poet, Presbyterologe. In: Landesgeschichte

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40 Ihr liebt die alten Flammen Die Euch alhie zusammen In Freundschafft kunnten ziehn, Vnd singet Gott zu ehren, Für allen sind zu hören Stobeus, Roberthin. Auch Blum ist nicht der letzte Der hie uns offt ergetzte Durch seiner Stimmen Klangk. Der Schlosplatz must’ erschellen Wenn er in der Capellen So hell vnd lieblich sangk. Er hat nun alles wieder, Kein Schlag lähmt ihm die Glieder, Ihn rewet nicht der Noht Die durch der Kranckheit Kette Zwey Jahr ihn auff dem Bette 89 Gehalten wie für todt.

Simon Dachs Aussage über die helle und offenbar raumfüllende Singstimme des verstorbenen Freundes läßt erkennen, daß dieser seit seiner Jugendzeit, als er in der Hofkapelle den Alt gesungen hatte, noch in den vierziger Jahren, also im Jahrzehnt der ›Kürbishütte‹, kaum etwas an Talent und Können eingebüßt hatte. Auch anläßlich des Todes von Heinrich Albert 1651 erinnert sich Simon Dach der 1648 gestorbenen Freunde Blum und Roberthin. 90 Wie vom Registrator und Archivar Johann Fauljoch sind auch von Blum bisher keine poetische Texte bekannt geworden. Auch bei einem Hochzeitslied aus dem Jahre 1640 für ein Paar aus seiner Heimatstadt Tilsit, das auf französischen Psalmmelodien zu Psalm 107 beruhte und von Stobäus neu vertont wurde, wird Blum nicht als Verfasser seines Hochzeitsgeschenks erkennbar. 91 Daß das Versemachen auch unangenehme Folgen haben konnte, soll abschließend am Beispiel des zeitweiligen Kanzlisten Christoph Wilkau (1598 – 1647) 92 gezeigt werden, der zusammen mit zwei Brüdern als minderjährige Söhne des Pfarrers Stephan Wilkau von der Steindammer Kirche am 24. Juli 1609 in die Universität Königsberg aufgenommen worden war. Am 4. Mai 1626 _______

89 90 91 92

und Familienforschung in Altpreußen. Festschrift für Reinhold Heling zum 80. Geburtstag. Hg. von Carsten Fecker und Reinhard Wenzel. Hamburg: Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 2007 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 108), S. 27–46. Dach: »Also weichen | Vnd verbleichen« (wie Anm. 87), Str. 11 ff. Dach: »Sehnliche Klage.« In: ZIESEMER III, S. 410 ff., hier S. 410, Str. 4. Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 56. Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 806. Die seit Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch hg. von Rudolf Philippi. Königsberg: Hartung 1886 (Publicationen und Republicationen der Königsberger literarischen Freunde, 1), ND Hamburg: [o.V.] 1994 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 80/1), S. 262, in der Literatur stets wiederholte Aussage, Wilkau sei Archivar gewesen, trifft nicht zu, weil er 1626 – 1627 nur außerordentlicher Kanzlist gewesen war.

Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹

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leistete er seinen Amtseid für die Übernahme einer freigewordenen außerordentlichen Kanzlistenstelle. Im Jahr darauf erfahren wir durch eine Eingabe von Christoph Wilkau an den Kurfürsten, daß ihn die Oberräte wegen eines »lusus poetici« vorgeladen hätten, das er anläßlich einer Hochzeitsfeier verfaßt habe. 93 Eine Gefängnisstrafe und Verlust seines Dienstes seien ihm angedroht worden. Zur Verteidigung führte er an, daß er vor der Veröffentlichung der Auftragsarbeit pflichtgemäß dem Rektor und dem Poetikprofessor der Universität als Zensurbehörde den Text gezeigt habe und daß diese nichts einzuwenden gehabt hätten. Mit längeren Worten beteuert er seine Unschuld hinsichtlich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Zugleich wandte er sich an Rektor und Senat der Universität mit der Bitte, sich seiner durch einen entsprechenden Bericht an die Oberräte anzunehmen. Christoph Wilkau ist dann tatsächlich aus der Kanzlei entlassen worden. Er war danach von 1629 bis 1641 Prorektor der Löbenichtschen Schule, 1638 auch öffentlicher königlich-polnischer Notar. Auch er wird mit seinem Dichten im Umkreis von Simon Dach gesehen. Von diesem wird Wilkaus »Redlichkeit« in einem längeren Gedicht an seinen »alten vnd wehrten Freundt« Johann Fauljoch gepriesen. 94 In den Jahren 1635 – 1637 hat Wilkau für einige Gelegenheitsmusiken von Johann Stobäus die Texte geliefert oder Gedichte für den Druck beigesteuert. 95 Um einem möglichen weiteren dichterischen Schaffen der Kanzleiverwandten im Zeitalter von Simon Dach auf die Spur zu kommen, wird es sinnvoll sein, die Akten der Oberratsstube hinsichtlich der Organisation der Kanzlei intensiver durchzusehen. Die letztlich zwar nur bruchstückhaft überlieferten Personalvorgänge lassen es nicht unmöglich erscheinen, daß Vorfälle wie der um Christoph Wilkau dort einen Niederschlag gefunden haben. Da die Namen der Angehörigen der Kanzlei für die Jahre 1603 – 1660 in der folgenden Liste vollständig aufgeführt werden, sollte es möglich sein, vor allem die katalogmäßig erfaßten Königsberger Gelegenheitsdichtungen daraufhin durchzusehen, inwieweit die dort genannten Autoren ihr täglich Brot in der Kanzlei der Königsberger Oberratsstube verdient haben. Daß auch im Zeitalter des Barock nicht alle gebildeten Menschen durch Versemachen hervorgetreten sind, zeigt unter den hier vorgestellten Kanzlisten beispielsweise die Familie Troyens, denn von dieser ließen sich – außer einer Ausnahme bei den Hochzeitsmusiken von Stobäus – Angehörige weder bei den sonstigen Gelegenheitsmusiken noch in den Gedichten von Simon Dach finden.

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EM 19 c II, Nr. 1 a. Dach: »An Herrn Johann Fauljoch alten vnd wehrten Freundt.« In: ZIESEMER III, S. 172 f., Zitat V. 16. Gelegenheitsmusiken (wie Anm. 29), Nr. 33, 80, 115 und 116. KELLETAT, S. 259–262, berücksichtigt zwei Gedichte von Wilkau.

Bernhart Jähnig

42

ANHANG Verzeichnis der Kanzler und Kanzleiverwandten der Königsberger Oberratsstube 1603 – 1660 96 Kanzler 1602 – 1619 1619 – 1632 1632 – 1638 1638 – 1645 1645 – 1654 1654 – 1655 1655 – 1665

Christoph von Rappe (1566 – 1619) Martin von Wallenrodt (1570 – 1632) Hans Georg von Saucken (1592 – 1638) Fabian von Ostau (1595 – 1645) Christoph von Troschke (1603 – 1658) Albrecht von Kalnein (1611 – 1683) Johann von Kospoth (1601 – 1665)

Erste Obersekretäre 1600 – 1625 1625 – 1637 1637 – 1653 1653 – nach 1660

Caspar Geelhar († 1625) Joachim Heß (1581 – 1637); zuvor Zweiter Obersekretär Christian Winter von Sternfeld (1581 – 1653); zuvor Zweiter Obersekretär Fabian Kalau (1610 – 1678)

Zweite Obersekretäre 1589 – 1617 1617 – 1625 1625 – 1637 1637 – 1645 1645 – 1648 1648 – nach 1660

Friedrich Treschenberger (1568 – 1617) Joachim Heß Christian Winter von Sternfeld Christoff Naps (1580 – 1645) Robert Roberthin (1600 – 1648) Christoff Sand(en) (1611 – 1686)

Dritte Obersekretäre 1590 – 1604 1606 – 1640

M. Otto von Hülsen (1560 – 1616); wurde Universitätsprofessor Michael Adersbach (1569 – 1640)

Registratoren, seit 1641 auch Archivare 1601 – 1620 1620 – 1628 1628 – 1636

Georg Schumann († 1620) Philipp Frenking (um 1570 – 1628); zuvor ordentlicher Kanzleiverwandter Joachim Meyer (1582 – 1636); zuvor ordentlicher Kanzleiverwandter

_______ 96

Quelle sind die Hauptausgabebücher der herzoglichen Rentkammer (wie Anm. 17). Seit alter, d.h. vorarchivischer Zeit fehlen die Jahresbände für 1644, 1645, 1651, 1655 und 1659, so daß an diesen Stellen bei Fehlen anderer Quellen Ungenauigkeiten entstanden sein können.

Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹

1636 – 1645 1645 – 1679

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Peter Hänisch; zuvor ordentlicher Kanzleiverwandter Johann Fauljoch (1601 – 1679); zuvor ordentlicher Kanzleiverwandter

Botenmeister vor 1603 – 1618 1618 – 1645 1645 – 1660 1660 – 1677

Thomas Röder († 1618) Gottfried Blanckenfeldt († 1645); zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Martin Neumann; zuvor Kanzleijunge 97 Johann Conradi († 1677)

Ordentliche Kanzleiverwandte 1590 – 1603 1589 – 1629 1592 – 1606 1592 – 1635 1592 – 1606 1606 – 1611 1606 – 1607 1606 – 1615 1607 – 1617 1608 – 1613 1610 – 1612 1611 – 1612 1612 – 1613 1613 1613 – 1628 1615 – 1620 1620 – nach 1632 1628 – 1636 1630 – 1632 98 1634 – 1641 1635 – 1636 1636 – 1643

Ruprecht Troyens Balthasar von Sangerhausen († 1629) Georg Neicke († 1606) Christoff Stebenhaber Ludwig Moritz Hertlein († 1606) Friedrich Jonas; ging zum Hofgericht Georg Hanisch († 1607); zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Christoff Althaus († 1615); zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Joachim Praetorius († 1621); wurde Kammerregistrator; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Paul Taube († 1613) Friedrich Stegmann; wurde Rentschreiber, zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Friedrich Lew († 1612) Heinrich Menius Tobias Langerfeld Joachim Meyer (1582 – 1636) Philipp Frenking (um 1570 – 1628) Peter Troyens (1595 – 1644); zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Peter Hänisch Georg Tortilovius; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Matthias Neebe, wurde Kammerverwandter Johannes Baumgartner Balthasar von Medem († 1643); Taxator; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter

_______ 97 98

Die fehlenden Jahrgangsbände der Hauptausgabebücher vor Neumanns Amtsantritt als Botenmeister lassen keine Klärung zu, ob er als Kanzleijunge gleich so hoch aufgestiegen ist. Erstes Quartal 1632 ausgeschieden. Ostpr. Fol. 13548, Bl. 46v.

Bernhart Jähnig

44 1636 – 1648 1640 – nach 1660 1643 – 1645 1646 – 1650 1649 – nach 1660 1653 – nach 1660

Georg Blum (um 1600 – 1648), Kriegssekretär; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Christoph Troyens (1606 – 1669), Jagdsekretär seit 1646; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Johann Fauljoch; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Johann Matthaei, Taxator Simon Weyda († 1669), Kriegssekretär; zuvor außerordentlicher Kanzleiverwandter Abraham Hintz (1628 – 1682), Taxator; zuvor Kanzleijunge

Außerordentliche Kanzleiverwandte, später ordentliche, aber untere Einkommensgruppe 1595 – 1606 1595 – 1606 1600 – 1606 bis 1603 vor 1603 – 1612 1603 – 1609 1604 1604 – 1609 1604 – 1617 1605 – 1614 1606 – 1613 1609 – 1618 1612 – 1620 1613 – 1622 1614 – 1620 1614 – 1619 1616 – 1631 1617 – 1621 1617 – 1624 1618 – 1635 1618 – 1623 1619 – 1620 1620 – 1623 1620 – 1629 1621 – 1635 1621 – 1624

Christoff Althaus Joachim Praetorius Georg Hanisch Friedrich Dantzer Augustin Arnolt; wurde Burggraf von Saalau Michael Brechtel († 1620); zuvor Amtsschreiber, ab 1619 supernumerar Hiob Löper Friedrich Stegmann; zuvor Kanzleijunge Georg Krauß († 1617); zuvor Kanzleijunge Christoff Damerow († Berlin 1614) Sebastian Colmitz (Colbitz) († 1613) Gottfried Blanckenfeldt; zuvor Kanzleijunge Lorenz Otto Werckmann († 1620) Valentin Justus († 1622); zuvor Kanzleijunge Christoph Fahrenhorst († 1620) Peter Troyens Petrus de Lalein Hieronymus Troyens; wurde Amtsschreiber von Preußisch Eylau Johann Übelhoff Balthasar von Medem Hieronymus Schultz, 99 supernumerar, seit 1620 außerordentlicher Michael Brechtel, supernumerar Johannes Wagner Georg Tortilovius, supernumerar, 1623 außerordentlicher Georg Blum; zuvor Kanzleijunge Johannes Teubelius; zuvor Kanzleijunge

_______ 99

Möglicherweise personengleich mit Hieronymus Schultz (1610 – 1660), der 1636 in Königsberg den Magister und 1638 in Basel den Doktor der Medizin machte. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 27), Teil 2, S. 320 f.

Kanzleibeamte im Umkreis der ›Kürbishütte‹

1622 – 1626 1622 – 1625 1623 – 1627 1625 – 1632 1626 – 1627 1627 – 1635 1627 – 1632 1630 – nach 1660 1632 – 1652 1635 – 1638 1636 – 1643 1641 – 1643 1643 – 1648 1643 – 1656 1645 – nach 1660 1646 – 1652 1646 – 1652 1650 – 1653 1652 – nach 1660 1652 – 1660 1652 – 1653 1653 – nach 1660 1656 – nach 1660 1656 – nach 1660 1656 – nach 1660 1657 – nach 1660 1658 – nach 1660

45

Daniel Gericke; zuvor Kanzleijunge Johann Bachmann; wurde Hauptfischmeister Zacharias Krüger, supernumerar, 1623 außerordentlicher Urban Sethe (1599 – 1644); zuvor Kanzleijunge Christoph Wilkau (1598 – 1647); seit 1629 Prorektor der Löbenichtschen Schule Christoph Troyens Johann Quandt; zuvor Kanzleijunge Georg Andreae († 1667); zuvor Kanzleijunge 100 Simon Peltz (1602 – 1652) Hans Georg Schrötel; zuvor Kanzleijunge Johann Fauljoch Simon Entmann; wurde Pfundzollschreiber in Pillau, zuvor Kanzleijunge Simon Weyda († 1669) Georg Eichler; zuvor Kanzleijunge Christoph Schmidtner Adam Gutsch (1618 – 1689); ging zur Stadt Kneiphof Oswald Heße († 1652) Michael Lindner; zuvor Kanzleijunge Johann Zacharias Hartung († 1691); zuvor Kanzleijunge Daniel Halbach von der Pforte (1626 – 1660) Jacob Töpke († 1653), interimistisch Joachim Goldbach Johann Friedrich Hoffmann († 1681); zuvor Kanzleijunge Friedrich Reichlin Christoff Greiff; zuvor Kanzleijunge Abraham vom Berge; zuvor Kanzleijunge; Schwiegersohn von Simon Dach Christoff Schweichel

Kanzleijungen 1600 – 1603 bis 1603 1604 – 1613 1604 – 1609 1609 – 1613 1613 – 1617 1614 – 1618 1617 – 1619 1618 – 1621

Friedrich Stegmann Georg Krauß Johann Schneider († 1613) Gottfried Blanckenfeldt Valentin Justus Johann Übelhoff Hieronymus Hünecke Bernhard Stieber Georg Blum; zugleich 1619 – 1622 Altist der Hofkapelle

_______ 100

Wohl identisch mit Georg Andressen, auf den Dach 1647 ein Epithalamium dichtete (»Georg Andressen und Maria Salbertin.« In: ZIESEMER I, S. 172 f.); er war nach Ziesemer, ebd., S. 346, zu dieser Zeit Kanzleiverwandter.

Bernhart Jähnig

46 1619 – 1621 1620 – 1621 1621 – 1622 1622 – 1625 1622 – 1624 1624 – 1626 1625 – 1630 1626 – 1629 1629 – 1634 1630 – 1632 1634 – 1636 1634 – 1638 1636 – 1641 1638 – 1643 1641 – 1642 1642 – 1643 (?) 1646 – 1650 [1651] – 1652 1652 – 1653 1652 – 1656 1653 – 1655 1655 – 1656 1655 – 1657 1657 – nach 1660 1658 – nach 1660

Daniel Gericke Johannes Teubelius Johann Riedel Urban Sethe Johann Quandt Bartel Stangwald Georg Andreae († 1667) Adam Vollandt († 1629) Hans Georg Schrötel Hans Ziegler Job Heinrich Hentzschel Christoph Albrecht Simon Entmann Georg Eichler Peter Troyens; wurde Kammerverwandter Martin Neumann Michael Lindner Johann Zacharias Hartung Abraham Hintz Albrecht Schwartz; ging zur Akzise Johann Friedrich Hoffmann († 1681) Christoff Greiff Abraham vom Berge Daniel Kalau Gottfried Willamovius

Kanzleiknechte vor 1603 – 1614 1614 – 1619 1619 – 1620 1621 – 1624 1624 – 1627 1628 – 1633 1633 – 1636 1637 – 1658 1658 – nach 1660

Christoff Jacob († 1614) Michael Zepter Hans Harlowsky Steffen Dopler George Bartsch Steffen Ruckmann Hans Knobloch Merten Meywaldt (Mehewald) Christoff Trost

Amtsschreiber der Kanzlei vor 1603 – 1607 1607 – 1609 1609 – 1619 1619 – 1632 1632 – 1643 1653 – 1654

Georg Sehel (Säel) († 1607) Michael Lietz; wurde Stadtschreiber von Wehlau Michael Brechtel Isaak Stobbe (Stuebe) († 1632) Martin Möller († 1643) Christoff Nöpffel

Manfred Komorowski

Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg im 17. Jahrhundert

Poesie Als Simon Dach 1639 den Lehrstuhl für Poesie übernahm, war er der neunte Professor dieses Fachs seit der Gründung der Albertina im Jahre 1544. Gleich der erste Ordinarius und zugleich auch der erste Rektor der Universität, Georg Sabinus (1508 – 1560), hatte hohe Maßstäbe gesetzt, war er doch einer der bedeutendsten Dichter des Humanismus. Obwohl eigentlich Doktor der Rechte und somit formal der Juristenfakultät zugeordnet, hielt er laufend poetische Vorlesungen und erwarb sich durch seine neulateinischen Dichtungen großen Ruhm. Als er 1555 nach Frankfurt an der Oder ging, blieb seine Stelle einige Jahre vakant. Unter seinen weniger berühmten, aber doch sehr produktiven Nachfolgern sind die Magister Caspar Schütz (1562 – 1565 in Königsberg), Valentin Schreck (1567 – 1569) und, an der Schwelle zum 17. Jahrhundert, Joachim Cimdarsus (1589 – 1618) zu nennen. Man dichtete ganz überwiegend in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch. Elegien waren besonders beliebt. Selbst Gelegenheitsgedichte für Personen, die diese Sprachen nicht beherrschten, wurden so abgefaßt. So blieb es nicht aus, daß die einseitige Bevorzugung besonders des Lateinischen so manchen Kritiker auf den Plan rief. Nach Georg Christoph Pisanski (1725 – 1790), unserem wichtigsten Gewährsmann für die preußische Gelehrtengeschichte, war es vor allem der erwähnte Joachim Cimdarsus, der, obwohl er selbst in diesen Sprachen dichtete, sich vehement gegen den Nutzen der lateinischen und griechischen Dichtungen aussprach, 1 was wiederum wütenden Protest der Angesprochenen hervorrief. Im Abstand von zwei Jahrhunderten übte aber auch Pisanski Kritik an den Auswüchsen der fremdsprachigen Dichtungen: Wie es aber gemeiniglich zu geschehen pflegt, daß eine Sache, auf die man mit allzu großer Hitze fällt, nicht lange vom Mißbrauche frey bleibet; so gieng es auch mit der lateinischen Poesie in Preußen. Es überschritten einige bald das Maaß in derselben; beschäftigten sich mit ihr allein, und vernachlässigten darüber zu sehr andere nöthigere Kenntniße. Bey anderen brachte die gar zu große Hochachtung gegen die heidnischen Gedichte der alten Lateiner, unvermerkt eine Geringschätzung der christlichen Religion hervor; und wenigstens 2 schien das Uebertriebene in der Mythologie einigen anstößig zu sein.

_______ 1

2

Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch hg. von Rudolf Philippi. Königsberg: Hartung 1886 (Publicationen und Republicationen der Königsberger literarischen Freunde, 1), ND Hamburg: [o.V.] 1994 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 80/1), S. 206. Ebd., S. 205.

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Manfred Komorowski

Vor diesem Hintergrund konnte die Vernachlässigung der deutschen Dichtkunst nicht erstaunen. Dazu wieder Pisanski: Die deutsche Sprache war selbst in der Prose noch nicht nach richtigen Regeln ausgebildet; und in der gebundenen Schreibart hielt man sich alle mögliche Freyheiten zu gut. Es fand sich auch selten eine Veranlassung deutsch zu poetisiren [...]. Bloß Kirchengesänge und zuweilen einige andere Materien blieben für die deutsche Sprache übrig [...]. Daher sind 3 die deutschen Lieder dieser Zeit ohne vielen Beystand der Kunst verfertiget [...].

So also die Situation um 1600. Mit Beginn des 17. Jahrhunderts erschienen immer mehr Gelegenheitsgedichte, besonders Oden und Sinngedichte, in deutscher Sprache, auch wenn nach wie vor gerade im akademischen Bereich Lateinisch, Griechisch, manchmal sogar Hebräisch und Arabisch gedichtet wurde. Simon Dachs Vorgänger Christoph Eilard (1585 – 1639), der neben der Dichtkunst ab 1618 später auch noch die praktische Philosophie, die Politik sowie die Physik an der Universität vertrat, ist uns als produktiver Gelegenheitsdichter bekannt, ohne auch nur annähernd die Bedeutung seines Nachfolgers zu erreichen. Dichtungstheoretische Schriften hat er nicht hinterlassen. Auch wenn er längst nicht nur deutsch dichtete, sorgte Simon Dach unter dem Einfluß seines Vorbildes Martin Opitz vor allen anderen für den entscheidenden Aufschwung der deutschen Dichtung in Preußen. Dach war schon 1619 als Schüler nach Königsberg gekommen, 4 hatte dann einige Jahre in Wittenberg und Magdeburg verbracht, wo er 1625 am dortigen Gymnasium eine Dissertation in griechischer Sprache über die Astrologie verteidigte. 5 Trotz wütender Pest und drohendem Krieg mit Schweden kehrte er 1626 in die ostpreußische Hauptstadt zurück. Am 21. August des Jahres 6 trug er sich in die Matrikel der Albertina ein und studierte dort Theologie und Philosophie. Seine Lehrer dürften der erwähnte Christoph Eilard in der Poesie, Samuel Fuchs (1588 – 1630) in der Rhetorik, Lorenz Weger (1599 – 1629) und vielleicht auch noch sein späterer langjähriger Kollege Michael Eifler (1601 – 1657), der bedeutende Logiker, in der Philosophie, Matthäus Reimer († 1646) in der griechischen Sprache sowie in der Theologie die orthodoxen Lutheraner Johann Behm (1578 – 1648) und Coelestin Myslenta (1588 – 1653) gewesen sein. _______ 3 4

5

6

Ebd., S. 207. Zu Einzelheiten der Dachschen Biographie: [Gottlieb Siegfried] Bayer: Das Leben Simonis Dachii eines Preußischen Poeten. In: Erleutertes Preußen 1 (1723/24) S. 159–195 und 855 ff.; Johann Friedrich Lauson: Das lorrbeerwürdige Andenken eines vor hundert Jahren verstorbenen großen Preußischen Dichters, M. Simon Dach […] wagte sich […] in einer Gedächtnißrede zu erneuren […]. Königsberg: Driest 1759. Simon Dach: ɲ îóëõïÿóÏ Ġÿþüïúóôò ùïøõøñóôø-ƫóõøûøƫóôò, ïúó üòÏ üþ÷ Āïýîøöëùòöëüóôþ÷ ċûüúøõøñóëÏ ôúóüóôòÏ üþ÷ ïŻüýíóþ÷ ôëó ċüýíóþ÷ ċ÷ùúþ ó÷þ÷ ôüõ. [...]. Magdeburg: Andreas Betzel 1625. [7] Bl. (Staatsbibliothek Berlin: Yi 851–1,1 R). Nicht am 20. Juni wie Bayer: Das Leben Simonis Dachii (wie Anm. 4), S. 163 behauptet. Vgl. Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr. 3 Bde. Hg. von Georg Erler. Leipzig: Duncker & Humblot 1910–1917 (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen, 16) (ND Nendeln/Liechtenstein: Krauss 1976), Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1544 – 1656, S. 297.

Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg

49

Als Dach 1633 Lehrer und 1636 Konrektor an der Domschule geworden war, konnte er keinen akademischen Grad vorweisen. Obwohl schon Dachs Biographen des 18. Jahrhunderts seinen sehr frühen Ruhm als Gelegenheitsdichter betonten, erstaunt es, daß nach momentanem Kenntnisstand so gut wie keine Dichtungen Dachs aus den Jahren bis 1630 bekannt geworden sind und auch bis 1633 nur recht vereinzelt vorliegen. 7 Danach schwoll seine Produktion an Glückwunsch- und Trauergedichten von Jahr zu Jahr enorm an und verschaffte ihm schon in der ungeliebten Stellung als Lehrer und später als Konrektor an der Domschule ein bedeutendes Zubrot. Sein Ruhm als virtuoser Gelegenheitsdichter verbreitete sich schnell, und als er, sicher nicht ohne Intentionen, den Kurfürsten Georg Wilhelm in einigen Dichtungen gefeiert hatte, setzte dieser nicht ohne Widerstand der Universität durch, einen Kandidaten zum Professor der Dichtkunst zu berufen, der noch nicht einmal den für Professoren der philosophischen Fakultät unabdingbaren Titel eines Magisters führte. Mit einer Antrittsrede über die Dichtkunst Horaz’, die er am 1. November im großen Auditorium der Universität hielt, begann Dachs akademische Karriere. 8 Er war also schon ein halbes Jahr im Amt, als er am 12. April 1640 zusammen mit sechs anderen Kandidaten 9 zum Magister promoviert wurde, übrigens vier Wochen nach den ersten feierlichen Promotionen in den oberen Fakultäten. Zu diesem Anlaß verfaßt er seine einzige dichtungstheoretische Abhandlung, die Pro-locoDissertation Trias assertionum ad rem poeticam spectantium, die der Student Christoph Roman unter Dachs Vorsitz am 18. und 19. Oktober 1640 verteidigte. _______ 7

8

9

Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2., verb. und wesentlich verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996– 1230. Nach Dünnhaupt begann Dachs dichterische Karriere mit einem Gelegenheitsgedicht vom 1. April 1630. Obwohl kaum zu glauben und letztlich wohl auf die schwierige Quellenlage zurückzuführen, weisen auch andere einschlägige Publikationen bisher keine Dichtungen aus seiner Schul- und Studienzeit nach, allerdings mittlerweile mit einer Ausnahme: Michael Schilling hat in einer Magdeburger Leichenpredigt des Jahres 1625 ein lateinisches Epicedium Dachs gefunden. Dazu: Michael Schilling: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928 – 1992). Hg. von Mirosáawa Czarnecka, Andreas Solbach, Jolanta Szafarz [u.a.]. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2504), S. 367–377 (freundlicher Hinweis von Dr. Lothar Mundt). Ad inauguralem orationem lectionibus publicis in professione poëtica praemittendam Moecenates, Patres ac Cives Academicos officiosissime invitat Simon Dachius. 1639. Abgedruckt in: ZIESEMER II, S. 334–337. Das Original befand sich nach Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), S. 1010, in der Universitätsbibliothek Breslau, ist dort aber nicht mehr auffindbar. Unter dem Rektorat des Mediziners Daniel Beckher und dem Dekanat des Philosophen Michael Eifler wurden neben Dach promoviert: Die Ungarn Matthäus Rackschanus und Johann Polani, Johann Esmar aus Tondern, David Klug aus Tilsit, Johann Reich aus Lübeck sowie Conrad Meier aus Riga. Das Einladungsprogramm der Fakultät ist in der Biblioteka Narodowa Warszawa unter der Sign. XVII.3.6312 vorhanden: In Academia Regiomontana Facultatis Philosophicae Decanus M. Michael Eifler Log. Profess. Ordinar. Suffragiis amplissimi collegii juxta statuta summos honores omnibus atq. singulis philosophiae candidatis offert ac decernit. [Königsberg:] Lorenz Segebade 1640.

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Manfred Komorowski

Der Verfasser betont darin, daß ein Dichter wahrhaftig sein müsse und nicht gegen die guten Sitten verstoßen dürfe. Außerdem müsse eine Tragödie nicht zwingend einen traurigen Ausgang haben. 10 Zum Glück hat Walther Ziesemer die Dissertation vor dem Zweiten Weltkrieg in seine Werkausgabe aufgenommen. 11 Das Exemplar aus der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek soll sich nach Dünnhaupt heute in der Akademiebibliothek St. Petersburg befinden, konnte dort aber bei Recherchen in jüngster Zeit nicht aufgefunden werden. Was aus dem Exemplar des Kollegiatstifts in Guttstadt (Dobre Miasto) geworden ist, bleibt momentan ebenfalls fraglich. Es handelt sich wohl nicht um das unvollständige Exemplar der Biblioteka Narodowa in Warschau (Signatur: BN XVII.3.7608), das auch aus den umfangreichen Warschauer Beständen der ehemaligen Königsberger Stadtbibliothek stammen könnte. Weitere Exemplare waren bisher nicht aufzufinden. Obwohl die Statuten der philosophischen Fakultät ein regelmäßiges Disputieren forderten, 12 ist bis dato keine weitere Dissertation Simon Dachs bekannt geworden, weder unter seinem Vorsitz noch als Respondent während seines Studiums. 13 Über seine Tätigkeit als Hochschullehrer wissen wir bisher recht wenig. Unter Bezug auf die bereits zitierten Bayer und Lauson, Dachs frühe Biographen, erwähnt Walther Ziesemer in seiner vierbändigen Werkausgabe, 14 daß Dach im Sommersemester 1640 über Seneca, im Sommersemester 1641 über Ovids Metamorphosen, im Sommersemester 1646 über Senecas Tragödien und im Sommersemester 1647 über Juvenals Satiren gelesen hat. Man geht aber wohl nicht zu weit, wenn man Dach geringe Neigung zur Pädagogik, zur praktischen Lehrtätigkeit, konstatiert. Schon die Tätigkeit am _______ 10 11 12

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Zum folgenden im Detail der Aufsatz mit Edition von Hanspeter Marti und Lothar Mundt in diesem Band. ZIESEMER II, S. 337–343. Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. 4 Bde. Königsberg: Hartung 1746–1769 (ND Aalen: Scientia 1994), Teil 1, S. 201–210 Momentan rund 3500 Dissertationen, Reden und Programme der Albertina vor 1801 weist die von Hanspeter Marti und mir konzipierte Datenbank »Königsberger Universitätsschriften« (http://www.forschungen-engi.ch/projekte/projekte.htm) nach. Zu ihrer Konzeption: Manfred Komorowski, Hanspeter Marti: Erfassung und Erschließung von Königsberger Universitätsschriften der Frühen Neuzeit – eine Projektskizze. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. Hg. von Axel E. Walter. Köln [u.a.]: Böhlau 2004 (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas, 1), S. 787–800. Aus dieser Datenbank stammen die Nachweise der meisten im bibliographischen Anhang zitierten Kleinschriften. Nach Lauson: Das lorrbeerwürdige Andenken (wie Anm. 4), S. 19, brauchen wir auch nicht weiter suchen. So schreibt er im Zusammenhang mit Dachs Magisterpromotion: »Dieses ist auch das einzige mal, daß Dach als Professor disputirt, zum Beweiß daß friedliebende Gelehrte auch in gelehrten Streitschriften keine Ehre suchen und daß viel disputiren eben so, wie viel predigen nur den Leib müde mache, den Geist aber wenig erbaue.« Bayer: Das Leben Simonis Dachii (wie Anm. 4), S. 163, betonte dagegen Dachs »geschicktes Disputiren«, was sich auf seine Tätigkeit als Respondent oder Opponent beziehen könnte. Dafür fehlen allerdings momentan jegliche Belege. ZIESEMER II, S. 394.

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Gymnasium hatte ihm keinen Spaß gemacht und auch der mangelnde Wissensdurst und Lernwille vieler Studenten verbitterte ihn immer wieder, worüber er sich in manchen Gedichten beklagte. 15 Um einen vollständigen Überblick über seine Lehrveranstaltungen zu erhalten, wäre eine detaillierte Überprüfung der seit 1635 halbjährlich publizierten Vorlesungsverzeichnisse vonnöten. Nur sind diese früher in der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek oder der dortigen Stadtbibliothek vorhandenen, plakatartigen, besonders in der monumentalen Universitätsbibliographie von Erman und Horn noch verzeichneten Drucke nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges nicht mehr auffindbar. Einzig der jeweilige »Syllabus lectionum in Academia Regiomontana« könnte einen vollständigen Überblick geben. 16 Als Professor der Poesie fiel Simon Dach die Aufgabe zu, die zahlreichen universitären Gelegenheitsdichtungen zu überwachen und die üblichen akademischen Festdichtungen zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten oder zu Jubiläen zu verfassen. Diese Aufgabe hat er mit großer Pflichterfüllung versehen. Zwischen 1640 und 1659 kamen – soweit bislang nachgewiesen – 59 solcher Gelegenheitsdichtungen heraus, die letzte, das Osterprogramm 1659, noch zwei Tage vor Dachs Tod. 17 Simon Dach war fünf Mal Dekan der philosophischen Fakultät und im Wintersemester 1656 sogar Rektor der Albertina, als er für den mittlerweile in Ungnade gefallenen Theologen Christian Dreier (1610 – 1688) einspringen mußte. 18 Unter den im Staatsarchiv Allenstein lagernden, bisher nur ansatzweise ausgeschöpften Akten der Universität könnten besonders die Senatsprotokolle und Dekanatsakten weiteren Aufschluß über Dachs Rolle in der Universitätsverwaltung und der Organisation des Lehrbetriebs liefern. 19 _______ 15

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Verwiesen sei hier nur auf das in diesem Zusammenhang bekannteste Dach-Gedicht, die »Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen Churfürstl. Brand. Pr. OberSecretarium geschrieben 1647. 30. Julij.« In: ZIESEMER I, S. 187–193. Wilhelm Erman und Ewald Horn: Bibliographie der deutschen Universitäten. Systematisch geordnetes Verzeichnis der bis Ende 1899 gedruckten Bücher und Aufsätze über das deutsche Universitätswesen. 3 Bde. Leipzig [u.a.]: Teubner 1904–1905 (ND Hildesheim: Olms 1965), hier Bd. 2, Nr. 11516–11518. Zu diesem monumentalen Werk auch: Manfred Komorowski: Hundert Jahre »Erman/Horn«. Die Enstehung und Resonanz einer Standardbibliographie. In: Bibliothek und Wissenschaft 37 (2004), S. 193–208. Neben den »Syllabi« gibt es aber, wenn auch schlecht erschlossen, Vorlesungsankündigungen einzelner Dozenten wie etwa: Abraham Calovius: Ad Praelectiones Publicas super Divinam Ad Ebraeos Epistolam studiosos S. literarum cultores amanter & officiosè invitat [...]. Königsberg: Reusner 1640 (Biblioteka Narodowa Warszawa, Sign.: XVII 3.6320). Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), S. 1002–1009. Dazu Bayer: Das Leben Simonis Dachii (wie Anm. 4), S. 172 f. Einen kursorischen Überblick über den umfangreichen Aktenbestand zur Universität Königsberg im Archiwum Panstwówe in Olsztyn (Allenstein) bietet: Hanspeter Marti: Die Quellenbestände zur frühneuzeitlichen Königsberger Universitätsgeschichte im polnischen Olsztyn (Allenstein). In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (wie Anm. 12), S. 571–582. Sie umfassen die Nummern 1646 und 1647. Besonders relevant sein dürften die Senatsprotokolle 1638 – 1660 (1646, Nr. 763) oder diverse Rektoratsprotokolle (1646, Nr. 761, 764–772).

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Zum 100jährigen Bestehen der Königsberger Albertina verfaßte Dach das Liederspiel Prussiarchus oder Sorbuisa, das am 21. September 1644 im Auditorium Maximum der Universität in Gegenwart des Landesherrn, des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, aufgeführt wurde und den Einzug der Musen, der Gelehrsamkeit, in das bis dahin barbarische Preußen unter Herzog Albrecht zum Thema hatte. 20 Bleiben unsere Kenntnisse über Dach als akademischer Lehrer angesichts spärlicher Quellen lückenhaft – einen in öffentlichen Besitz übergegangenen Nachlaß hat es nicht gegeben –, sind wir über seine Dichtungen schon wesentlich besser informiert, mit der Einschränkung, daß die lateinischen Dichtungen noch längst nicht so umfassend bekannt geworden sind wie die deutschen. In der Deutschen Biographischen Enzyklopädie ist von 259 lateinischen Gedichten die Rede. 21 Es dürften jedoch noch zahlreiche weitere hinzukommen, etwa in Dissertationen, Leichenpredigten oder Gelegenheitskompositionen ›versteckte‹ Dichtungen. Was die poetischen Beiträge zu Dissertationen anbetrifft, haben Hanspeter Marti und ich aber unter Hunderten von Königsberger Disputationen der Ära Dach nur zwei ›versteckte‹ Gelegenheitsgedichte von ihm gefunden. 22 Seine Casualcarmina erschienen üblicherweise als separate Drucke. Die einzelnen Bände des Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums verzeichnen hier schon eine Reihe von Ergänzungen zu Dünnhaupts Standardbibliographie. 23 Es ist hier nicht der Ort, im Detail auf den sogenannten Königsberger Dichterkreis mit Dach an der Spitze einzugehen. Dazu gibt es bereits seit längerem fundierte Abhandlungen, 24 die im vorliegenden Band trefflich ergänzt werden. Die Bedeutung Dachscher Dichtungen als Quelle für die soziale und politische Geschichte Königsbergs und des Herzogtums Preußen ist zudem recht bekannt. 25 _______ 20 21

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Die zeitgenössischen Ausgaben listet Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), S. 1010 f., auf. Im Volltext in: ZIESEMER II, S. 311–318. Ulrich Maché: (sub verbo). In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE). Hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus. Bd. 1 ff. München [u.a.]: Saur 2005 ff., Bd. 2, S. 423 f. Zur bibliographischen Situation der Dach-Philologie: Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962. Es handelt sich um »Gratulationes« in: Adam Riccius (Präs.) und Franz Hermann von Puttkamer (Resp.): Disputatio juridica de injuriis. Königsberg: Reusner 1646 (vorhanden: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle), sowie: Johann Pedanus: De veterum symbolis, civilibus & ecclesiasticis, dissertatio philologica. Königsberg: Reusner 1655 (vorhanden: Universitätsbibliothek Tübingen). Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1 ff. Hildesheim [u.a.]: Olms-Weidmann 2001 ff. Besonders ergiebig sind hier die in ersten beiden ersten Bänden verzeichneten Breslauer Sammlungen. Einen trefflichen Überblick gibt: Wulf Segebrecht: Simon Dach und die Königsberger. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin: Schmidt 1984, S. 242–269. Spätestens seit: Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München: Beck 1975.

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Ich möchte an dieser Stelle ergänzend die universitätsgeschichtliche Relevanz etlicher seiner Casualcarmina hervorheben. Simon Dach war rund 25 Jahre Mitglied der Königsberger Albertina, zunächst als Student von 1626 bis etwa 1630, dann als Dozent von 1639 bis 1659, und auch in seiner Zeit als Schulmann stand er in enger Verbindung zur Hochschule. Die Domschule und das alte Universitätsgebäude befanden sich schließlich in unmittelbarer Nähe zueinander auf dem Kneiphof, der Dominsel, und es bestanden vielfältige Kontakte zwischen der Gelehrtenschaft des alten Königsberg. So begleitete Simon Dach bald, auf jeden Fall seit etwa 1630, akademische Ereignisse wie Promotionen, besonders die Magisterpromotionen der philosophischen Fakultät, Rektoratswechsel, Jubiläen, Hochzeiten und Todesfälle von Professoren wie Studenten mit einem deutschen oder lateinischen Gedicht, oft auch verbunden mit Vertonungen der bekannten Königsberger Kapellmeister Heinrich Albert und Johann Stobäus. 26 Gerade bei den im Verhältnis zu den Professoren biographisch unzureichend dokumentierten Studenten sind die Angaben über ihre peregrinatio academica und/oder ihren frühzeitigen Tod von großem Quellenwert für die Studenten- und Universitätsgeschichte. Wie schon seine Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Poesie, war Simon Dach vor allem Praktiker, also Dichter, kein Literaturtheoretiker. Das heißt nicht, daß er nicht fundierte Kenntnisse in der Geschichte und Theorie der Dichtkunst hatte. Dichtungstheoretische Abhandlungen von größerem Umfang hat er aber, wie gesehen, nicht zu Papier gebracht. Dazu hätten ihm seine zahlreichen und eng terminierten Auftragsdichtungen wohl auch gar keine Zeit gelassen. Immerhin war Simon Dach ohne Zweifel der bedeutendste unter den zahlreichen Gelegenheitsdichtern Königsbergs seiner Zeit. So resümiert Pisanski in seiner Literärgeschichte denn auch: Er war es, der zu ihrer [scil. der deutschen Dichtkunst] Verbeßerung in Preußen die Bahn brach; und es glückte ihm, bald andere zu finden, die in seine Fußstapfen traten. […] Die Geschichte der deutschen Dichtkunst theilet sich daher in diesem Jahrhundert in zweene 27 Abschnitte, nämlich vor und nach Dachen Zeiten.

Nachfolger Simon Dachs auf dem Lehrstuhl für Poesie wurde Johann Röling (1634 – 1679), nach Daniel Heinrich Arnoldt »ein glücklicher Nachfolger und Nachahmer des Dachen«. 28 Nachdem er 1660 Magister geworden war, übernahm er ein Jahr später das verwaiste Amt. Er disputierte zu diesem Anlaß De metro poetico. 29 Starke Resonanz fanden seine Kirchenlieder. _______ 26

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Neben den Nachweisen im Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 23) für die Musikalien besonders relevant: Joseph Müller: Die musikalischen Schätze der Königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg in Preußen. Aus dem Nachlasse Friedrich August Gottholds [...]. Im Anhang: Joseph Müller-Blattau: Die musikalischen Schätze der Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg in Preußen. Hildesheim: Olms 1971 (ND der Ausgaben Bonn 1870 und Leipzig 1924). Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 408 f. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 2, S. 403. Vgl. die Bibliographie im Anhang.

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Rhetorik Aufs Engste mit der Poesie ist die Rhetorik verbunden. Die akademischen Statuten hatten schon im 16. Jahrhundert festgelegt, daß die Studenten sich ständig im akademischen Streitgespräch sowie im Abfassen und öffentlichen Vortrag von Reden zu üben hatten. 30 Disputationen und Redeübungen bildeten Säulen des akademischen Unterrichts. Oblag die Durchführung von Disputationen den jeweiligen Dozenten der Fakultäten, so waren die Professoren der Beredsamkeit für die Redeübungen der Studenten verantwortlich. Wenn wir wieder Pisanski folgen, stand es während des 17. Jahrhunderts um die Rhetorik in Preußen nicht schlecht: Selbst auswärtige Schrifftsteller bezeugen, daß die Beredsamkeit um diese Zeit in Preußen in Ansehen gewesen und stark getrieben sey: wie denn auch einige hiesigen Redner im gu31 ten Rufe standen. Fuchs setzte man dem Dan. Heinsius an die Seite. Thilo machte sich durch seine zur Wohlredenheit gehörigen Schrifften so berühmt, daß man diese auch anderwerts mit Beyfall aufnahm, zum Grunde akademischer Vorlesungen legte und an verschiedenen Orten nachdruckte. Den Reich empfahl ein vorzüglicher äußerer Anstand und eine einnehmende Suade, die bewundert wurde. Die Anzahl derer unter den Studirenden, die sich auf die Beredsamkeit legten, war nicht geringe; und daher wurden so häufig Redeübungen in den academischen Hörsälen angestellet. Man hielt es zuletzt für etwas alltägliches, solches in lateinischer Sprache zu thun; und daher bemüheten sich viele, in der griechischen 32 und den orientalischen Sprachen ihre Rednerstärke zu zeigen.

Nicht nur die Königsberger Professoren der Rhetorik wie die angesprochenen Samuel Fuchs (1588 – 1630), Valentin Thilo (1607 – 1662) und Jakob Reich (1635 – 1690) hatten sich weit über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht, sowohl durch zahlreiche selbst verfaßte und gehaltene Reden als auch durch ständige Redeübungen mit Studenten und im Falle Thilos als Verfasser von praktischen Leitfäden. Unter Anleitung der Dozenten für die griechische, hebräische oder arabische Sprache entstanden gerade in der ersten Hälfte zahlreiche Reden und Disputationen in diesen Sprachen, von denen viele noch ihrer Wiederentdeckung harren. Viele der bedeutenden Dichter, allerdings nicht Simon Dach, machten sich auch als Redner einen Namen, umgekehrt waren zahlreiche Rhetoriker auch vorzügliche Dichter. Im Lehrbetrieb der Albertina waren die beiden Disziplinen sachlich und personell eng miteinander verbunden. Schon der erste Lehrstuhlinhaber für Rhetorik im 17. Jahrhundert, Georg Reimann, von 1601 bis 1615 im Amt, war ein gekrönter Poet. 33 Im Gegensatz zu zahlreichen Dichtungen sind seine theoretischen Schriften leider verschollen. 34 _______ 30 31 32

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Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 1, S. 210 ff. Daniel Heinsius, 1580 – 1655, lehrte ab 1605 Rhetorik und klassische Philologie in Leiden. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 398 f. Zu den Reden und Disputationen in Griechisch, Hebräisch und Arabisch speziell S. 386–392. – Einige momentan nachweisbare Einladungen und Programme unten im bibliographischen Anhang. Mit einigen anderen gekrönten Königsberger Dichtern ist er auch nachgewiesen in: John L. Flood: Poets laureate in the Holy Roman Empire. A bio-bibliographical handbook. 4 Bde. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2006. Vgl. unten im Anhang, S. 61.

Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg

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Sein unmittelbarer Nachfolger Friedrich Heilsberg verwaltete den Lehrstuhl für Beredsamkeit 1616 nur ein Jahr. Auf ihn folgte 1618 der schon erwähnte Samuel Fuchs, der eine bedeutende Sammlung von schon damals recht seltenen akademischen Reden zum Ruhme des preußischen Herrscherhauses zusammenstellte. In dem Sammelband In honorem divorum Principum Borussiae Brandenburgensium. Pars I. Academicorum Scriptorum (1628) sind seine eigenen Reden in der Minderzahl. Von diesem lange verschollenen Rarum haben sich zum Glück doch zwei Exemplare erhalten, während die meisten seiner schon bei Arnoldt und Pisanski zitierten Dissertationen nach wie vor unauffindbar sind. 35 Nach einer Vakanz von vier Jahren übernahm 1634 ein Mann die Professur für Rhetorik, dessen Lebensweg nahezu parallel zu dem Simon Dachs verlief. Die Rede ist von dem bereits erwähnten Valentin Thilo. Schon sein gleichnamiger Vater (1579 – 1620) war ein bekannter Gelegenheitsdichter und hatte im Geburtsjahr seines Sohns 1607 in Königsberg den Grad eines Magisters der Philosophie erworben. Valentin der Jüngere war also nur zwei Jahre jünger als Simon Dach. Er studierte ab 1624 Theologie, Geschichte und Beredsamkeit zunächst in Königsberg und dann im renommierten Leiden, wovon Dach vergeblich geträumt hatte. Wie Dach mußte auch Thilo vor Antritt seiner Lehrtätigkeit einen akademischen Grad erwerben. Am 20. April 1634 wurde ihm der Grad eines Magisters der Philosophie verliehen. Ein knappes halbes Jahr später verteidigte er seine Pro-loco-Dissertation Rhetoricae universae generalis delineatio, wobei der später als Liederdichter recht bekannt gewordene Georg Mylius (1613 – 1640) 36 respondierte. Zu den Gratulanten zählte auch Simon Dach. Zwischen den beiden Professoren der eng verwandten Disziplinen Dichtkunst und Beredsamkeit entwickelte sich seit den dreißiger Jahren eine enge fachliche und persönliche Beziehung. Als Dach 1640 Magister wurde, revanchierte sich Thilo mit einem Glückwunschgedicht; und als später beiden mehrere Kinder starben, trösteten sie sich gegenseitig in poetischer Form. Im Jahre 1650 erwarb Simon Dach einen Garten mit Speicher, der direkt an den Garten Valentin Thilos angrenzte. 37 Letzterer überlebte seinen Freund auch nur um drei Jahre bis 1662. Im universitären Bereich zeichnete Dach für die zahllosen Gelegenheitsdichtungen verantwortlich, während es Thilo zufiel, die Studenten in der rhetorischen Praxis und Theorie auszubilden und natürlich auch bei feierlichen Anlässen selbst die Festreden zu halten, wozu es in jenen Jahren reichlich Anlaß gab. Allein die von Studenten unter Anleitung Thilos zum 100jährigen Universitätsjubiläum 1644 gehaltenen Reden füllen zwei starke Sammelbände mit den Titeln Secularia Borussa bzw. Secularia Regiomontana. Wichtige universitätsgeschichtliche Quellen sind auch seine Redensammlungen Orationes academicae varia occasione habitae (1653), da die Einzeldrucke oft nicht überliefert sind. _______ 35 36 37

Vgl. ebd. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 413. Dazu und zur Beziehung Dach – Thilo: Joachim Dyck: »Lob der Rhetorik und des Redners« als Thema eines Casualcarmens von Simon Dach für Valentin Thilo. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5 (1978), S. 133–140.

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Mit den Panegyrici academici vel orationes sollemnes […] (1650) schloß Thilo an die erwähnte Sammlung von Samuel Fuchs an. Der Band enthält die Reden Thilos zum Ruhme der Herrscherhäuser aus den Jahren 1635 bis 1649. 38 Valentin Thilo, »Königsbergs Cicero«, 39 war ohne Zweifel ein sehr aktiver akademischer Redner. Noch größere Bedeutung erlangte er jedoch als Verfasser einiger Lehrbücher der Rhetorik, die, wie angeklungen, weit über Preußen hinaus große Resonanz fanden und nicht nur in Königsberg die Grundlage des akademischen Unterrichts bildeten. Zahlreiche Neuauflagen bzw. Nachdrucke in Deutschland, ja selbst in Amsterdam erlebten seine Leitfäden, die, wie es scheint, von den Historikern der Rhetorik bisher unzureichend analysiert und gewürdigt wurden. 40 Thilo verfügte zudem über eine umfangreiche, erlesene Privatbibliothek, die 1664 versteigert wurde. 41 Wie Simon Dach gehörte Valentin Thilo um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu den Dozenten der Albertina, die sich weit über Königsberg hinaus einen guten Ruf erworben hatten. Trotzdem blieb auch Thilo nicht von Kritik verschont. Dazu wieder Pisanski: »Aber so viel Mühe man sich auch gab, die alten Griechen und Römer zu Anführern in der Beredsamkeit zu wählen; so folgete man doch nicht überall ihrer Spur: sondern entfernete sich durch allzu vieles Künsteln merklich von derselben«; und weiter: »Die Erregung der Affecten ist nicht selten bey Gegenständen, wo sie es wenigsten seyn sollte, übertrieben. Selbst Thilo verfällt hin und wieder in diesen Fehler, so sehr er auch in seinen oratorischen Lehrbüchern dafür warnet.« Mit dem berühmten Daniel Georg Morhof resümiert Pisanski: »Thilo laudabilior rhetor, quam orator fuit«. 42 Wenn von der engen Symbiose zwischen Dichtkunst und Beredsamkeit die Rede ist, darf man in Königsberg nicht Christoph Kaldenbach (1613 – 1698) vergessen. Er weilte seit 1631 am Pregel, mußte aber sein Studium an der Albertina _______ 38 39 40

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Vgl. die Bibliographie im Anhang. So Lauson: Das lorrbeerwürdige Andenken (wie Anm. 4), S. 21 Zur historischen Entwicklung: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16. – 20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Schanze. Frankfurt/M.: Athenaion 1974. Darin (S. 217–355) der erste Versuch einer Quellenbibliographie: Dieter Breuer und Günther Kopsch: Rhetoriklehrbücher des 16. bis 20. Jahrhunderts. Eine Bibliographie. Im Abschnitt »1500 – 1750« (S. 221–292, hier S. 281 f.) zitieren die Autoren auch drei Titel von Valentin Thilo. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie der Forschung 1966 – 1986. 3., erg. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1991 (Rhetorik-Forschungen, 2). Seine verdienstvolle Quellenbibliographie setzt leider erst mit dem Jahr 1700 ein: Joachim Dyck und Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1996. Wenn auch für Königsberg wenig relevant, sei zusätzlich genannt: Adam Skura: Katalog druków XV – XVIII w. z zakresu poetyki i retoryki. Biblioteka Uniwersytecka we Wrocáawiu. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 1987. Lawrence D. Green, James J. Murphy: Renaissance rhetoric shorttitle catalogue 1460 – 1700. 2. ed. Aldershot [u.a.] : Ashgate 2006. Dazu Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 282, und Janusz Tondel: Auktionskataloge im alten Königsberg. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (wie Anm. 12), S. 353–415, hier S. 398. Bis dato ist leider kein Exemplar des Auktionskatalogs nachweisbar. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 402 f.

Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg

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aus finanziellen Gründen für eine zweijährige Hauslehrertätigkeit in Memel unterbrechen. Als ›Mitglied‹ des Königsberger Dichterkreises stand er in engem Kontakt zu Dach, Thilo oder den anderen örtlichen Poeten. Er dichtete mit großem Erfolg nicht nur in deutscher und lateinischer, sondern auch in griechischer und polnischer Sprache. Selbst Simon Dach schätzte Kaldenbachs Dichtkunst höher als die seinige ein. 43 Nachdem er seit 1640 als Konrektor am Altstädtischen Gymnasium gewirkt hatte, lehrte er auch an der Universität, allerdings nicht als Professor für Griechisch. Die dafür unabdingbare Magisterpromotion holte er erst 1655 nach. 44 In Tübingen, wohin er 1656 wechselte, hatte er bis zu seinem Tode 1698 die Lehrkanzel für Poetik, Rhetorik und Geschichte inne. Sein Lehrbuch Poetice Germanica (1674) übte großen Einfluß aus. 45 Als Simon Dach 1639 Dozent der Albertina wurde, war die Königsberger Hochschule die am meisten frequentierte im deutschen Sprachraum. 46 Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges und das damit verbundene weitgehende Erliegen des Lehrbetriebs an vielen deutschen Universitäten hatten viele Studenten in das ruhigere Königsberg verschlagen. Zwischen 1641 und 1645 weilten rund 3.000 Studenten in der ostpreußischen Hauptstadt, und zwar nicht nur aus dem Alten Reich, sondern auch aus Polen, Ungarn oder dem Baltikum. Die Stadt Königsberg 47 und damit ihre Hochschule hatten in jener bewegten Zeit das Glück, von den diversen Kriegswirren weitgehend verschont geblieben zu sein. Zweimal, 1626 und 1655, standen schwedische Truppen vor den Toren Königsberg, zerstörten oder plünderten sie jedoch nicht. Auch der Einfall der Tartaren _______ 43 44

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Ebd., S. 417: »Dach selbst gestand ihm ohne Neid und Schmeicheley den Vorzug vor sich zu [...].« Zu Kaldenbachs Königsberger Jahren gibt es in der Literatur einige Ungereimtheiten. Sowohl Peter Ukena: (sub verbo). In: NDB 11, S. 53 f., S. 54, als auch Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), S. 2214, und Ulrich Maché: (sub verbo). In: Deutsche Biographische Enzyklopädie (wie Anm. 21), Bd. 5, S. 411, erwähnen Kaldenbachs Professur des Griechischen ab 1651. Unter den Lehrstuhlinhabern des Griechischen taucht er jedoch nicht auf. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 2, S. 369, betont, daß das Amt nach dem Abschied von Jacob Bolius 1651 sieben Jahre unbesetzt blieb, und belegt an anderer Stelle (S. 431) die Magisterpromotion am 1. April 1655, nicht schon 1647, wie die oben genannten Quellen konstatieren. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 258, behauptete gar, Kaldenbach sei schon 1647 nach Tübingen gewechselt. Christoph Kaldenbach: Poetice Germanica, seu de ratione scribendi carminis Teutonici libri duo. Nürnberg: Michaelis 1674. Zu seinen Schriften insgesamt: Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 2214–2257; Axel E. Walter: Caldenbachiana in St. Petersburg – Ein Beitrag zur Bibliographie des Königsberger Dichterkreises. In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 21), S. 963–993. Zu seiner rhetorischen Antrittsrede als Konrektor des Königsberger Altstädtischen Gymnasiums vgl. die Bibliographie im Anhang. Neben den ständig zitierten Klassikern von Arnoldt und Pisanski aus neuerer Zeit: Götz von Selle: Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preussen. Königsberg: Kanter 1944, 2., durchges. und verm. Aufl. Würzburg: Holzner 1956; Kasimir Lawrynowicz: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Berlin: Duncker & Humblot 1999 (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, 13). Zur Geschichte der Stadt grundlegend: Fritz Gause: Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. 3. Aufl. 3 Bde. Köln [u.a.]: Böhlau 1996, sowie seit Neuestem: Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München [u.a.]: Hanser 2005.

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Manfred Komorowski

nach Ostpreußen 1656 verlief recht glimpflich für die Stadt. Viel schlimmere Opfer und Verwüstungen verursachte dagegen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die periodisch wiederkehrende Pest (1602, 1620, 1625, 1655/56). Der Tod war deshalb ein zentrales Thema der Dichtungen Dachs und anderer Königsberger. Die Albertina blühte um 1640 zwar zahlenmäßig auf, war aber sicher keine friedliche Stätte. Dafür sorgten schon die erbittert geführten Streitigkeiten der Theologen. Die streitbaren Lutheraner Coelestin Myslenta (1588 – 1653) und Abraham Calov (1612 – 1688), Simon Dachs Studienkollege und später Professor in Wittenberg, bekämpften mit aller Macht die um Versöhnung zwischen den Konfessionen, vor allem den beiden protestantischen, bemühten Synkretisten unter der Führung von Christian Dreier (1610 – 1688) und Johann Latermann (1620 – 1662). Insofern konnte das Colloquium Charitativum, das Thorner Religionsgespräch von 1645, zu keinem Erfolg führen.48 In der Philosophie und in den Naturwissenschaften nahm die Lehre des Aristoteles noch bis zum Ende des Jahrhunderts eine dominierende Stellung ein. Auch die poetischen und rhetorischen Schriften des Stagiriten übten in Königsberg weiterhin großen Einfluß aus. Mit Simon Dach in der Poesie und Valentin Thilo in der Beredsamkeit, die im Zentrum unserer Betrachtungen standen, verfügte die philosophische Fakultät der Albertina im 17. Jahrhundert über zwei sehr bedeutende Lehrstuhlinhaber, und auch in der Folgezeit machten sich Königsberger Professoren dieser Fächer einen Namen. Von dem bedeutenden Liederdichter Johann Röling war bereits die Rede. In der Poesie traten zu Beginn des 18. Jahrhunderts Johann Valentin Pietsch (1690 – 1733), der Lehrer Johann Christoph Gottscheds, und Johann George Bock (1698 – 1762) in Simon Dachs Fußstapfen. 49 Unter den Rhetorikern ragte um 1700 der äußerst produktive Michael Schreiber (1662 – 1717), zuletzt auch Professor der Theologie, hervor. Er hat neben einer Reihe von Disputationen zur Theorie der Beredsamkeit »mehr denn 200 deutsche Lob= Trauer= und Trostreden drucken laßen.« 50 Während die Königsberger Gelegenheitsdichtungen vor allem durch das Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums zunehmend besser erschlossen sind, bleibt als Forschungsdesiderat die Ermittlung und Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse sowie der diversen dichtungstheoretischen und rhetori_______ 48

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Zum synkretistischen Streit: Thomas Kaufmann: Theologische Auseinandersetzungen an der Universität Königsberg im 16. und 17. Jahrhundert. In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 21), S. 243–318, hier S. 303–318. Hier jetzt besonders einschlägig: Manthey: Königsberg (wie Anm. 47), S. 95–116, im Kapitel »Publizität, Wirkung, Überzeugung: diese drei (Johann Christoph Gottsched und Johann Valentin Pietsch)«. – Zu Bock demnächst: Robert Seidel: Zwischen rhetorischer Poetik und philosophischer Ästhetik: Johann George Bocks Königsberger Dissertation »De pulchritudine carminum« im Kontext zeitgenössischer Diskurse. In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln [u.a.]: Böhlau 2008 [im Druck]. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 12), Teil 2, S. 410.

Poesie und Beredsamkeit an der Universität Königsberg

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schen Kleinschriften. Selbst Thilos umfangreiche Lehrbücher hat man zumindest in neuerer Zeit nicht genauer analysiert. Die existierenden Urteile, im Tenor durchaus kritisch, beruhen immer noch von Pisanski. Wie die nachfolgende Bibliographie belegt, gibt es mehrere verschollene, momentan nicht nachweisbare Schriften von Reimann, Fuchs etc., deren eventuelle Entdeckung unsere Kenntnis über den Unterricht in der Poetik und Rhetorik an der Albertina erweitern würde. Die Bibliographie, weitgehend auf unserer erwähnten Datenbank basierend, 51 dürfte die momentanen Kenntnislücken verdeutlichen, aber auch etliche kaum bekannte Kleinschriften in den Blickpunkt rücken.

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Eingegangen sind dort auch die Nachweise aus: Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660 – 1750. Eine Auswahlbibliographie, unter Mitarbeit von Karin Marti. München [u.a.]: Saur 1982. Diese wichtige Quellenbibliographie ergänzt nicht nur einschlägige Königsberger Titel bis 1750, sondern ermöglicht auch durch ihr lateinisches Schlagwortregister einen guten Überblick über rhetorische und poetologische Dissertationen deutscher Hochschulen insgesamt.

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ANHANG Bibliographie poetologischer und rhetorischer Dissertationen, Lehrbücher, Redensammlungen und Redeübungen 52 Poetik Die Lehrstuhlinhaber der Poesie Cimdarsus, Joachim (1553 – 1618, Prof. in Königsberg 1589 – 1618) De fabulis sive fictionibus poetarum. Ca. 1589 – 1618.

Bisher kein Exemplar nachweisbar; zit. bei Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 2, S. 401.

Eilard, Christoph (1585 – 1639, Prof. in Königsberg 1618 – 1639) Keine einschlägigen Dissertationen nachweisbar.

Dach, Simon (1605 – 1659, Prof. in Königsberg 1639 – 1659) Trias assertionum ad rem poeticam spectantium. 18./19.10.1640 (Respondent: Christoph Roman). Regiomonti: Reusner, 1640 AB St. Petersburg; NB Warszawa (unvollständig)

Röling, Johann (1634 – 1679, Prof. in Königsberg 1660 – 1679) De metro poetico. Pro loco. 05.05.1661. (Respondent: Jakob Klein). Regiomonti: Reusner, 1661. [24] S. AB Vilnius; NB Warszawa

Vogt, Conrad (1634 – 1691, ab 1669 Prof. der praktischen Philosophie, 1679 – 1691 Prof. der Poesie) De poetis et poetica. 11.12.1682. (Respondent: Martin Böhm). Regiomonti: Reusner, 1682. [36] S. AB Vilnius

Boy, Balthasar (1652 – 1694, Prof. in Königsberg 1691 – 1694) Dissertatio poetica, de requisitis quibusdam epici carminis circa objectum ejus. Pro loco. 11.1691. (Respondent: Daniel Hoynovius). Regiomonti: Reusner, 1691. [28] S. UB Kiel; AB Vilnius; NB Warszawa

Georgi, Hieronymus (1659 – 1717, Prof. in Königsberg 1694 – 1717) Exercitatio dialectica prior, de numero elenchorum sophisticorum sive fallaciarum in dictione. 01.1691. (Respondent: Christoph Schultz). Regiomonti: Reusner, 1691. [2], 24, [2] S. UB Kiel; Bibliothèque Nationale et Universitaire Strasbourg

De arte imitandi poetica. Pro loco. 29.10.1694 (Respondent: Christian Schwartz). Regiomonti: Reusner, 1694. [28] S. SB Berlin; AB Vilnius

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Es werden die folgenden Abkürzungen benutzt: AB = Akademiebibliothek; LUB = Landesund Universitätsbibliothek; NB = Nationalbibliothek; SB = Staatsbibliothek; SUB = Staatsund Universitätsbibliothek; UB = Universitätsbibliothek.

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Sonstige Autoren Hartknoch, Christoph (1644 – 1687, Dozent in Königsberg 1672 – 1677) Exercitatio philosophica, de natura et constitutione poetices, ad mentem Aristotelis. 02.1675. (Respondent: Heinrich Goltz). Regiomonti: Reusner, 1675. [24] S. AB GdaĔsk; AB Vilnius (früher: SUB Königsberg)

Tilesius, Balthasar Tragoediam, ipso tragicae passionis tempore conceptam, dissertatione poetica […]. 04.1693. (Respondent: Christian Gottfried Tilesius). Regiomonti: Reusner, 1693. [16] S. AB Vilnius (früher: SUB Königsberg); NB Warszawa

Spieß, Johann Georg (1660 – 1716, später Rektor in Königsberg) Mensa poetica, in qua perfecti carminis idea, I. grammatica sive metrum, II. Logica sive conceptus, III. Retorica sive stylus […]. 16.10.1686. (Respondent: Leonhard Weier). Regiomonti: Reusner, 1686. [72] S. Sächs. LUB Dresden; AB Vilnius

Beredsamkeit Die Lehrstuhlinhaber der Rhetorik Reimann, Georg (1570 – 1615, Prof. in Königsberg 1601 – 1615) De fine rhetorices. Kein Exemplar nachweisbar, zit. bei Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 2, S. 408.

De definitione oratoris. Kein Exemplar nachweisbar, zitiert ebd., zu diesem Titel auch: Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 198.

Oratio de adfinitate, et differentia inter oratoriam et poeticam, habita […] in Academia Regiomontana […]. XIV. Cal. Nov. 1602. Regiomonti: Osterberger, 1602. UB München

Fuchs, Samuel (1588 – 1630, Prof. in Königsberg 1618 – 1630) De euphonia latinae orationis libelli duo. Regiomonti Boruss.: Fabricius, 1611. [92] Bl. Forschungs- und Landesbibliothek Gotha

Disputationum tropologicarum prima de tropis in genere. 12.02.1620. (Respondent: Albert Baursang). Regiomonti: Fabricius, 1620. [8] S. UB ToruĔ

De periodis. Kein Exemplar nachweisbar, zit. bei Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 12), Teil 2, S. 408.

Disputationes artis grammaticae. Kein Exemplar nachweisbar, zit. ebd.

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De decoro rituum in conversatione. Kein Exemplar nachweisbar, zit. bei Daniel Heinrich Arnoldt: Zusätze zu seiner Historie der Königsbergischen Universität [...]. Königsberg: Hartung 1756, S. 72.

De moribus gentium in decoris. Kein Exemplar nachweisbar, zit. ebd.

Redensammlung In honorem divorum Principum Borussiae Brandenburgensium, pars I. Regiomonti: Segebade, 1628. Niedersächs. SUB Göttingen; Sächs. LUB Dresden Über das Werk Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 402.

Thilo, Valentin (1607 – 1662, Prof. in Königsberg 1634 – 1662) Disputatio rhetoricae universae generalem delineationem continens. Pro loco. 15.09.1634. (Respondent: Georg Mylius). Regiomonti: Segebade, 1634. [14] S. SB Berlin; UB Tübingen Thilos einzige rhetorische Dissertation.

Sammlungen akademischer Reden Dazu Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 402.

Secularia Borussa / Sub Auspiciis […] Friderici Wilhelmi Marchionis Brandenburgensis […] Nomine Academiae Publicae […] II. Kl. Septemb. MDCX LIV. Edita a Valentino Thilone. Regiomonti: Mense, 1644. [57] Bl. SB Berlin; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Secularia Regiomontana: Divino Honori, Ac Aeternae Memoriae Potentissimae Domus Brandenburgicae, Post Illius Omnipotenti Patrocinio, Huius Clementissimo Praesidio Et Singulari Munificentia, Academia Regiomontana Conservata, Seculum Primum Feliciter Superasset / Consecrata a Valentino Thilone […] M.D.CXIV. XIV. Octobris. Regiomonti: Mense, 1614 [= 1644]. [24] Bl. SB Berlin; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Orationes academicae varia occasione habitae, cum alloquiis natalitiis et eius generis aliis. Regiomonti: Reusner, 1653. [10], 448 S. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; UB Rostock

Panegyrici academici, vel orationes solennes, serenissimorum potentissimorumque Poloniae Sueciaeque regum, et electorum Brandenburgicorum natalibus inaugurationibus […]. Regiomonti: Reusner, 1650. 418 S. UB Greifswald; Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar

Viele Redeübungen mit Studenten, bisher absolut unzureichend erfaßt, wie etwa: Actus oratorius, de mutua literarum & divitiarum utilitate, directore Valentino Thilone […], 5. Novembris in Auditorio Majori Superioris anni exhibitus ab ijs, quorum nomina singulis Orationibus addita sunt. Regiomonti: Segebade, 1637. NB Warszawa XVII.3.6293 Im selben Sammelband auch Einladungen zu griechischen und hebräischen Reden (s.u.).

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Die rhetorischen Lehrbücher Zu ihrer Charakteristik Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 400 f.

Exercitia oratoria, tribus sectionibus comprehensa: quarum I. Aphthonii Progymnasmata aliorumque actuum oratoriorum, II. Omnium e generibus causarum orationum, III. Thematum Philosophiae practicae ideas exhibet. Regiomonti: Hallervord, 1645 UB Leipzig; UB Tübingen Neuauflagen Helmstedt und Jena 1663.

Curtius Orator, sive orationes Curtianae, brevi analysi et pleniori locorum communium evolutione illustratae. Regiomonti: Hallervord, 1646. 289 S. UB Leipzig; UB Tübingen Nachdrucke Amsterdam 1656 und 1664, Leipzig 1667 und 1685, Frankfurt/M. 1673 und 1694.

Pathologia oratoria, seu affectuum movendorum ratio succinctis proposita […]. Regiomonti: Hallervord, 1647. [12] Bl., 311 S., [13] Bl., Ill. UB Leipzig; UB Heidelberg Neuauflagen Magdeburg 1665, Leipzig 1687. Vgl. demnächst Wilhelm Kühlmann: Theorie und literarische Hermeneutik der rhetorischen Affektenlehre im 17. Jahrhundert. Zu Konzeption und literarischem Umkreis von Valentin Thilos »Pathologia Oratoria« (Königsberg 1647). Mit einem Abdruck zweier Gedichte von Simon Dach. In: Die Universität Königsberg (wie Anm. 49) [im Druck].

Rudimenta rhetorica, de periodis, amplificatione et connexione, iuventutis iuvandae caussa collecta. Regiomonti: Mense, 1651. [8] Bl., 191 S. UB Tübingen Neuauflagen Königsberg 1654, 1659, 1673 und 1683. Mit einem Gelegenheitsgedicht von Simon Dach.

Topologia oratoria, seu praxis locorum dialecticorum in Oratoriis […]. Regiomonti: Reusner, 1653. [7] Bl., 376 S. UB Tübingen Nachdrucke Amsterdam 1654, Frankfurt/M. 1659, Halle 1666, Königsberg 1687.

Ideae rhetoricae, seu doctrina de generibus causarum ex Aristotele, Cicerone, Quintiliano, Keckermanno, Vossio, Caussino, contracta, exemplis praxique illustrata, cum generali universae rhetoricae delineatione […]. Regiomonti: Reusner/Hallervord, 1654. [8] Bl., 200 S. UB Leipzig; UB Tübingen Nicht bei Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1).

Sahme, Jakob (1629 – 1680, ab 1658 Prof. der griechischen Sprache, 1662 – 1666 Prof. der Rhetorik) Keine rhetorischen Dissertationen.

Reich, Jakob (1635 – 1690, Prof. in Königsberg 1667 – 1690) De formando ad mentem Hermogenis rhetoris acutissimi epichiremate, enthymemate & epenthymemate. Pro loco. 03.1668 (Respondent: Gerhard Schröder). Regiomonti: Reusner, 1668. [8] S. SB Berlin

Geist- und weltliche Kunstreden. Königsberg: [o.D.] 1691. UB Leipzig

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Manfred Komorowski

Schreiber, Michael (1662 – 1717, Prof. der Rhetorik 1691 – 1710, dann bis 1717 Prof. der Theologie) Theses locum Aristotelis ex L. III. Rhetor. C. VII. De eo, quod in elocutione […] [griech.] dicitur, illustrantes, pro receptione. 20.04.1691. (Respondent: Johann Tilesius). Regiomonti: Reusner, 1691. AB Vilnius

Dissertatio rhetorica de argumentis affectuum in genere. Pro loco. 04.1691 (Respondent: Heinrich Tilesius). Regiomonti: Reusner, 1691. SB Berlin

Dissertatio rhetorica de acumine, ejusque in oratoria usu. [o.J., ca. 1700]. (Respondent: Heinrich Ludwig Schreven). Regiomonti: Reusner, ca. 1700. [4], 28 S. SB Berlin; UB Kiel

De eo, quod in eloquentia divinum est. 27.09.1696. (Respondent: Christian Zetzke). Regiomonti: Reusner, 1696. [30] S. SB Berlin, Bodleian Library Oxford

Exercitationum rhetoricarum, de vario locorum topicorum, in oratoria, prima. 11.1699. (Respondent: Johann Friedrich Möser). Regiomonti: Reusner, 1699. [4], 28 S. --------, secunda. 21.07.1701. (Respondent: Christoph Boltz). Regiomonti: Reusner, 1701. S. 29–48. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Sonstige Autoren Raschius, Valentin (1549 – 1616, Rektor in Königsberg) Institutiones rhetoricae. Regiomonti: [o.D.] 1599 Bisher kein Exemplar nachweisbar Dazu Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 198.

Crebs, Andreas (um 1580 – nach 1623, Prof. der Ethik, der Rechte und der Geschichte) Praxis rhetorica, hoc est perspicua et methodica in eloquentiam introductio. Pars I.: Cui scholastica adjuncta est delineatio. Pars II.: Ecclesiastica de formandis concionibus. Dantisci: [o.D.] 1611 SB Berlin Dazu Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 1), S. 399 f., und Daniel Heinrich Arnoldt: Fortgesetzte Zusätze zu seiner Historie der Königsbergischen Universität [...]. Königsberg: Hartung 1769, S. 18.

Kaldenbach, Christoph (1613 – 1698, Konrektor in Königsberg ab 1639, dort 1655 Magister) Oratio de viribus eloquentiae, habita […], cùm in Scholam Palaeopolitanam Regiomonti Borussiaci Conrector introduceretur. [Regiomonti]: Segebade, 1640. [8] Bl. Königliche Bibliothek Kopenhagen nach Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 7), S. 2219.

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Wichelmann, Hartwich (1612 – 1647, Gymnasialrektor in Königsberg) Disputatio rhetoricae genus, cognata, definitionem, opus, praesupposita, fidem et species explicans. 1647. (Respondent: Heinrich Colb). Regiomonti: Reusner, 1647. Sächs. LUB Dresden Auch in: Ders.: Fasciculus disssertationum miscelleanarum ut et doctrina de scientia ac demonstratione […]. Opera ac studio M. Georgii Funcii. Gedani: Hallervord, 1690, S. 302– 320.

Jeschke, Martin (1653 – 1703, zuerst Theologe, dann Prof. der Rechte) Exercitatio philosophica de quaestionis usu in rhetorica. 04.1676 (Respondent: Johann Sommerin). Regiomonti: Reich, 1676. [16] S. SB Berlin; Sächs. LUB Dresden

Rabe, Paul (1656 – 1713, Prof. der griech. Sprache 1685, der Dialektik 1703) Disputatio de natura et constitutione rhetorices prima. 06.1684. (Respondent: Christoph Jeschke). Regiomonti: Reusner, 1684. S. 1–38. --------altera. 30.09.1684. (Respondent: Matthäus Wilhelm Rohr). [2], S. 39–88. --------tertia. 28.10.1684. (Respondent: Johann Grulich). [2], S. 89–106. --------quarta et ultima. 11.1684. (Respondent: Johann Christoph Kruwell). [2], S. 107–128. AB Vilnius

Stein, Gottfried (1656 – 1695, später Pfarrer) Dissertationum rhetoricarum, de oratore perfecto prima. Pro receptione. 05. 1684. (Respondent: Michael Schreiber). Regiomonti: Reusner, 1684. [16] S. Dissertationum rhetoricarum, de oratore perfecto secunda. 06.1685 (Respondent: Friedrich Hoffmann). Regiomonti: Reusner, 1685. [20] S. Dissertationum rhetoricarum, de oratore perfecto tertia et ultima. 1685. (Respondent: Johann Samuel Werner). Regiomonti: Reusner, 1685. [28] S. SB Berlin

Helwich, Christian (Magister legens, konvertierte später zum Katholizismus) Exercitatio academica, explicans rationem et methodum prompte inveniendi enthymemata, pars prior. 14.11.1693 (Respondent: Gottfried Engelbrecht). Regiomonti: Reusner, 1693. [20] S. --------, pars posterior. 25.11.1693 (Respondent: Gottfried Engelbrecht). Regiomonti: Reusner, 1693. [20] S. SB Berlin; AB GdaĔsk

Overbeck, Paul (1674 – 1698, Magister in Königsberg 1696) Dissertatio rhetorica, de actionis oratoriae necessitate et praestantia. Pro receptione. 08.1696 (Respondent: Balthasar Tilesius). Regiomonti: Reusner, 1696. [24] S. UB Tübingen; NB Warszawa

Gottsched, Christoph (1666 – 1698, Magister in Königsberg 1696) Dissertatio rhetorica, de panegyricis principum, in specie, prima, de gratulatione principum natalitia. 1696. (Respondent: Samuel Masecovius). Regiomonti: Reusner, 1696. [4], 40 S. Bayerische SB München

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Manfred Komorowski

Aus der Fülle der bisher bibliographisch absolut unzureichend erschlossenen Reden zu universitären Anlässen, auch in entlegeneren Sprachen, hier einige Beispiele: Kretschmer, Georg […] ad orationem graecam, de laudibus sapientiae a Georgio Kretschmero Cintin. Boruss. in Auditorio Majori 2. Augusti recitandam, invitat Rector & Senatus Academiae Regiomontanae. [Regiomonti:] Segebade, [um 1640]. NB Warszawa, Sign.: XVII.3.6321.

Scheid, Balthasar Ad actum oratorium de salutifera aeterni redemptoris nativitate quem sub […] Dn. M. Balthasare Scheidio, […] studiosi Christianus Waltherus […], Wolfgangus Roßteuscher […], Stephanus Gorlovius […] die XXVIII. Decembris ebraico sermone, in auditorio majore instituent, cives suos invitat Rector et Senatus Academiae Regiomontanae. [Regiomonti:] Reusner, [1640]. NB Warszawa, Sign.: XVII.3.6307.

Ledebuhr, Caspar […] ad audiendam orationem, quam in Collegio Hebraico viri […] M. Casparis Ledebuhr […] Petrus Heinius […], de magnificentißimis in humanum genus collatis beneficiis Redemptoris O. M. Jesu Christi ebraico idiomate conscripsit, VIII. Junii hora IX. in Auditorio Maiori recitabit, invitat Rector et Senatus Academiae Regiomontanae. [Regiomonti:] Reusner, 1640. NB Warszawa, Sign.: XVII.3.6308.

Hanspeter Marti und Lothar Mundt

Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation

Noch weniger Beachtung als die lateinsprachige Dichtung Simon Dachs fanden die lateinischen Prosatexte, die seine Amtsübernahme als Poetikprofessor der Albertina dokumentieren. Walther Ziesemer veröffentlichte trotz seiner Bevorzugung des deutschsprachigen Opus des Königsberger Poeten, wohl wegen der biographischen Relevanz, die Ankündigung der Antrittsvorlesung sowie die einzige gedruckte Disputationsschrift Simon Dachs. 1 Anders als die fast unüberschaubare poetische Produktion vermitteln sowohl das Einladungsprogramm zu der nicht überlieferten Antrittsrede als auch die Dissertation einen wenigstens fragmentarischen Eindruck von Simon Dach als Universitätslehrer. Der Unterrichtsalltag bleibt in diesen für besondere Anlässe angefertigten akademischen Gebrauchsschriften freilich ausgespart. Trotzdem werden inhaltliche Prioritäten und Argumentationsmuster sichtbar, die wichtige Bausteine für die in den Anfängen stehende Geschichte der Poetik an der frühneuzeitlichen Königsberger Universität darstellen. 2 Simon Dach repräsentiert in beiden hier vorgestellten, kritisch edierten und ins Deutsche übersetzten Dokumenten einen Typus des poeta doctus, dem die Barockforschung im Verbund mit der frühneuzeitlichen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte inskünftig noch mehr Beachtung schenken müßte: den Dichter als Mitglied des Lehrkörpers einer Hohen Schule, der von Berufs wegen seine ars ausübte und in den Landesuniversitäten des Alten Reichs sowie im frühneuzeitlichen Territorialstaat eine gesellschaftlich-integrierende und damit auch politische Repräsentationsfunktion innehatte. Damit ist nicht gesagt, daß Simon Dachs Werk allein von seiner beruflichen Rolle an der Universität und den damit verbundenen Verpflichtungen her angemessen zu verstehen wäre. Die beiden Dokumente, die nach ihrem Dornröschenschlaf in Ziesemers Edition hier erneut bekannt gemacht werden, mögen dazu anregen, eine bis jetzt vernachlässigte, aber wichtige Seite im Wirken Simon Dachs am Beispiel auch weiterer, vor allem lateinsprachiger Texte zu untersuchen.

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ZIESEMER II, S. 334–343, unter folgenden Titelüberschriften: »IV. Anhang. B. Lateinische Prosa. 1. Einladung zur Antrittsvorlesung«, S. 334–337; »2. Magisterdisputation«, S. 337– 343. Siehe dazu die »Bibliographie poetologischer und rhetorischer Dissertationen, Lehrbücher, Redensammlungen und Redeübungen« im Anhang des Beitrags von Manfred Komorowski in diesem Band.

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Hanspeter Marti und Lothar Mundt

Die wichtigsten Fakten zu Dachs beruflichem Werdegang und akademischer Karriere sind bekannt. 3 Nur kurze Zeit weilte er an der Domschule in Königsberg, bevor er, wegen der ausbrechenden Pest, die Stadt verließ und längere Zeit die Stadtschule in Wittenberg und das Gymnasium in Magdeburg besuchte. Am 21. August 1626 immatrikulierte er sich an der Universität Königsberg. Über sein dortiges Studium ist sehr wenig bekannt. Im Jahr 1633 trat er die durch einen Königsberger Ratsherrn vermittelte Stelle eines vierten Lehrers an der städtischen Kathedralschule an, wo er drei Jahre darauf Konrektor wurde. Anläßlich eines Empfangs des brandenburgischen Kurfürsten Georg Wilhelm vom 23. September 1638 in Königsberg lenkte Simon Dach mit seinen Huldigungsgedichten an die fürstliche Familie die Aufmerksamkeit des Landesherrn auf sich. Dieser ernannte ihn am 1. August 1639, trotz Widerstands von seiten der Universität, zum Poetikprofessor. Dach lud mit einer Programmschrift auf den 1. November 1639 zu seiner Inauguralrede ein. Erst am 12. April 1640, also ein halbes Jahr nach dem Antritt des Professorenamts, erfolgte die Magisterpromotion, anläßlich welcher eine Gratulationsschrift erschien. Diese enthält Gedichte von Dach nahestehenden Personen und gewährt daher Einblick in seinen damaligen Freundeskreis. 4 Am 18. und 19. Oktober 1640 verteidigte Simon Dach die Pro-loco-Dissertation. 1638 bis 1640 sind entscheidende Jahre in Dachs Biographie, deren Bedeutung durch den Besuch von Martin Opitz in Königsberg am 29. Juli 1638 noch erhöht wird. 5 _______ 3

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Nur wenige bis zum Antritt der Professur und für die Beziehung Dachs zur Albertina relevante biographische Daten werden hier in Erinnerung gerufen, für die übrigen sei auf die gängigen Nachschlagewerke verwiesen und auf: Alfred Kelletat: Nachwort. In: KELLETAT, S. 331–420, sowie auf Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2., durchges. Aufl. München: Beck 1982 (Edition Beck). Amicorum Affectus | qui | Summos in Philosophia honores | acceptantem | Magnifico Academiae Rectore | Clarißimo Excellentißimo Experientißimo | DN. DANIELE | BECKHERO Med. D. ejus- | demq; in inclyta Bregelana P.P. primario, | Archiatro Regio, & Elector. Aulae Prutenic. ut | & civit. Cniph. Regiom. Medico ordinario. | Spectabili Decano | Clarißimo & Excellentißimo | DN. M. MICHAELE | EIFLERO Logices P.P. & | Alumnorum Electoralium Inspectore | ibidem ordinario | SIMONEM DACHIVM MEMELENSEM | Borussum in eadem Bregelana Poetices Profes- | sorem Publicum | excipiebat | Anno à nato Christo | ( I ) I ) CXL. | prid. Id. April. | [Trennleiste] | Typis Haeredum Segebadii (Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen). Siehe dazu auch ZIESEMER II, S. 362, mit der (nicht ganz vollständigen) Liste der Gratulanten, die lateinische Glückwunschgedichte zu Dachs Magisterpromotion beisteuerten (Michael Behm, Abraham Calov, Balthasar von Grünendemwalde, Johann Lösel, Robert Roberthin, Balthasar Scheid, Christian Sinknecht, Valentin Thilo, Balthasar Voidius, Friedrich Wagner) und der Aufzählung der Mitpromovenden. Hinzu kommen ein weiteres lateinisches Gratulationscarmen des Medizinstudenten Christoph a Lohen (Mühlhausen/Thüringen), ein zweites, in griechischer Sprache, von Balthasar Scheid, ein anderes, ebenfalls in Griechisch, von Christian Corner (Magdeburg) sowie ein deutschsprachiges von Elias Schede. Dazu Dachs »Gesang bey des Edlen vnd Hochberühmten Herren Martin Opitzen von Boberfeldt, etc. etc. hocherfrewlichen Gegenwart Zu Königsbergk in Preußen[,] Im Jahre 1638[,] Den 29. Tag des Hew=Monats […].« In: ZIESEMER I, S. 51 f.

Zwei akademische Schriften von Simon Dach

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1. Dachs Einladungsschrift zur Inauguralrede Die frühneuzeitlichen Programmschriften, zu denen die Einladung Dachs zur Inauguralrede vom 1. November 1639 gehört, 6 sind im allgemeinen bis jetzt bibliographisch schlecht erschlossen, geschweige denn von der Forschung als wissenschafts- und schulgeschichtliche Quellen herangezogen oder gar im einzelnen interpretiert worden. 7 Von den Dissertationen abgesehen, trifft dies auch für die akademische Kasualprosa der Universität Königsberg zu. Walther Ziesemer lag das Breslauer Exemplar der Dachschen Einladungsschrift vor, 8 die sowohl den Auftakt zu den ersten Lehrveranstaltungen Dachs bildete als auch dessen reguläre Vorlesungstätigkeit ankündigte. 9 Dachs Einladungsschrift enthält ein zum Anlaß passendes allgemeines Lob auf die Dichtung, das in einer zweckbestimmten Anhäufung damals mehr oder weniger bekannter topischer Argumente, aber mit zum Teil singulären Verbindungen und Akzentsetzungen besteht. Die fachbezogene Panegyrik stützt sich auf das an Platons furor poeticus anklingende Konzept einer theologischen Poetik. Dieses bezieht patristische und andere christliche Autoren nicht ausdrücklich ein, ja scheint die Berührung mit ihnen sogar zu vermeiden. Anhand paganer Zeugnisse und der behaupteten unmittelbaren Verbindung des Dichters zur höchsten und ältesten Autorität überhaupt, nämlich zu der des nicht näher spezifizierten Gottes, wird die Würde der Dichtkunst zwar religiös als divina poesis bestimmt, bezeichnenderweise aber ausschließlich auf das Fundament der griechischen Philosophie gegründet. Wie die Dichter sind für Simon Dach die professionellen Vertreter der ars poetica an den Hohen Schulen vom göttlichen Geist inspiriert, der sie in ihrer Tätigkeit lenkt. Die Philosophen haben, wie Dach annimmt, ursprünglich von den Dichtern die Wahrheit und Weisheit, wenn auch nicht die Form der dichterischen Aussage, das Metrum, übernommen. In ihrem Wahrheitsgehalt ist daher die Poesie der Philosophie ebenbürtig, _______ 6

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Zu Inauguralrede und Einladungsschrift: Florian Neumann: Inauguralrede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1 ff. Tübingen: Niemeyer 1992 ff. (bislang 7 Bde.), hier Bd. 4: Hu–K (1998), Sp. 316–322. Hans Müller: Die Sammlung von Universitätsprogrammen in der Universitäts-Bibliothek Jena. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 60 (1944), S. 337–353; Hans-Joachim Koppitz: Zur Bedeutung der Schulprogramme für die Wissenschaft heute. In: Gutenberg-Jahrbuch 63 (1988), S. 340–358; Thilo Dinkel: Universitäts-Programmata als personengeschichtliche Quellen. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 427–431. Florian Neumann: Programm. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (wie Anm. 6), Bd. 7: Pos–Rhet (2005), Sp. 154–158, beschreibt Einladungsschriften zu einer Inauguralrede als Programmtypus. In unserem Fall ist der die Professur anstrebende Dach selbst der Verfasser, nicht eine Drittperson, die den neuen Amtsinhaber im Programm vorstellt. ZIESEMER II, S. 394, mit Angabe der damaligen Breslauer Sign.: Rhed. 4 E 225a, 1. Professor Klaus Garber, Osnabrück, danken wir, daß er uns dieses Exemplar (Universitätsbibliothek Wrocáaw) und ein weiteres aus der Biblioteka Narodowa, Warszawa (Sign.: XVII.3.6325 adl.), in Kopie für diese Edition zur Verfügung stellte. Nach Kelletat: Nachwort (wie Anm. 3), S. 343, hat Dach seine Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über die Ars poetica des Horaz eröffnet; ZIESEMER II, S. 394, kennt erst ab Sommersemester 1640 Dachs Vorlesungsthemen.

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die Fiktion, wie angedeutet, doch ohne jeden Rekurs auf christliches Gedankengut, vom Makel der Lüge befreit. Verschiedene Argumentkombinationen variieren diese Grundgedanken. In der Ankündigung der Inauguralrede versucht Simon Dach, das Ansehen der Poetik innerhalb der philosophischen Fakultät und die größtmögliche Autonomie seines Fachs im Gesamtkanon der Universitätsdisziplinen mit einer öffentlichen Proklamation zu festigen. Dazu dienen Altersbeweise und Wahrheitsatteste. In der Reihe der Dichter-Philosophen steht Homer chronologisch und wegen der in seinem Werk enthaltenen enzyklopädischen Gelehrsamkeit auch qualitativ an erster Stelle. 10 Er wird kurzerhand als poetischer Vorläufer des weisen Sokrates bezeichnet. Auf Homer folgt in der gemeinsamen Ahnenreihe der Philosophendichter und Dichterphilosophen Platon, dessen Autorität Dach gegen anderslautende Meinungen für sein Lob der Poeten vereinnahmt. Dichter, welche Wahrheit und Tugend verkörperten, habe der große Grieche nicht aus dem Staat verbannt. Mit der Paraphrase eines Satzes der aristotelischen Poetik wird die in der Dichtung dargestellte Wirklichkeit als vollkommen bezeichnet, da die Dinge nicht so präsentiert würden, wie sie seien, sondern wie sie sein könnten. Die fiktionale Komponente der Poesie wird durch die Imitatiopoetik auf ein realitätsnahes Maß begrenzt, das Simon Dach in der griechischen Mythologie und in den Dichtungen der Antike, einmal mehr vor allem bei den Griechen, verwirklicht sah. In schöner Verhüllung vermitteln die antiken Autoren, angenehm und erträglich, bittere Wahrheit. Die der Dichtung unterstellte moralpädagogische Wirkungsabsicht wird aber dort vom delectare als Selbstzweck verdrängt, wo Simon Dach, ohne utilitaristisches Pathos, die poetische inventio in der Neuheit dichterischer Hervorbringungen preist. Disparate Argumentationsstränge, oft nur von einer Folge paralleler Aussagen zusammengehalten, stehen in Dachs Programmschrift mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander. Allen gemeinsam ist das Lob der Dichtung und der mit ihr verbundenen Philosophie, die Hervorhebung der normgebenden Kraft griechischen Dichtens und Denkens und die hieraus folgende Zurücksetzung der römischen Antike, vor allem aber der ganzen christlichen Tradition. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren werden als Autoritäten nicht angerufen. 11 In der Einladung zur Inauguralrede verteidigte Simon Dach die Wahrheit der auf imitatio gegründeten Fiktion gegen nicht näher bezeichnete Kontrahenten, die Dichtung und Lüge einander gleichsetzten. Daher ist sein Programm sowohl Lob- als auch Streitschrift. Für den Wahrheitsnachweis der Poesie zog er _______ 10

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Homers Vorbildrolle in der Einladung zur Antrittsvorlesung fiel bereits Thomas Bleicher: Homer in der deutschen Literatur (1450 – 1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart: Metzler 1972, auf (S. 153). Simon Dachs Argumente stimmen in manchen Passagen (Dichtung als Philosophie) auffallend mit Georg Sabinus’ Ovidkommentar (Fabularum Ovidii interpretatio tradita in academia Regiomontana. Wittenberg: Rhau 1555, Bl. A6r) überein. Vgl. dazu demnächst: Lothar Mundt: Die Lehrtätigkeit des Georg Sabinus an der Universität Königsberg. In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski unter Mitarbeit von Karin Marti-Weissenbach. Köln [u.a.]: Böhlau 2008 [im Druck].

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gleichzeitig und ohne gedanklichen Brückenschlag zur aristotelischen Poetik Platons Furorlehre heran. Dachs Programmschrift behandelte mit der Frage nach der Wahrheit der Dichtung ein Thema, das nicht zufällig knapp ein Jahr später in der Pro-loco-Dissertation wieder aufgenommen wurde.

2. Simon Dachs Pro-loco-Dissertation Frühneuzeitliche Dissertationen sind Einladungsschriften zu Disputationen, die im Zuständigkeitsbereich einer bestimmten Fakultät (Theologie, Recht, Medizin, Philosophie) über einen einzigen Gegenstand oder über mehrere Themen gleichzeitig abgehalten wurden. 12 Unter dem Vorsitz eines Präses, hier Simon Dachs, verteidigte in der Regel ein Respondent, hier Christoph Roman, die dem gelehrten Publikum unterbreiteten Behauptungssätze, hier, wie in anderen Königsberger Dissertationen, 13 assertiones genannt. Opponenten brachten Einwände vor, die vom Respondenten mit Unterstützung des Präses widerlegt wurden. Der Ablauf und das Resultat einer frühneuzeitlichen Disputation sind in der Regel nicht schriftlich festgehalten worden. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Pro-loco-Dissertation, die von den Königsberger Universitätsstatuten für jeden Anwärter auf eine Stelle im Lehrkörper einer Fakultät vorgeschrieben war. 14 Walther Ziesemer, dem verschiedene Autoren gefolgt sind, sah in der Trias assertionum die Magisterdissertation Simon Dachs, 15 obwohl von Königsberg, im Gegensatz zu anderen _______ 12

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Zur disputatio im allgemeinen: Hanspeter Marti: Disputation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (wie Anm. 6), Bd. 2: Bie–Eul (1994), Sp. 866–880; ders.: Controversia. In: Ebd., Sp. 380–384; Dissertation, Sp. 880–884; ferner: Ku-ming (Kevin) Chang: From Oral Disputation to Written Text. The Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe. In: History of Universities 19 (2004), Heft 2, S. 129–187. Frühe Beispiele: Levin Buch (Präs.) / Jakob Keuter (Resp.): Selectarum et illustrium controversiarum passim in utroq; jure ejus interpretibus occurrentium nonnulla pronuntiata sive assertiones. Königsberg: Georg Osterberger 1598; Georg Mylius (Präs.) / Friedrich Brand (Resp.): De his assertionibus criticis. Königsberg: Lorenz Segebade [27.3.]1638; Georg Mylius (Präs.) / Johann Friedrich Martini (Resp.): Quarta disputatio contra adversarios imprimis: per assertiones criticas et philologias [sic; MM]. Königsberg: Lorenz Segebade [4.12.]1638. Statuta acad[emiae] Regiomontanae de A. 1554, cap. IV, de disputationibus: »Qui in hac [sic; MM] scholam vocati advenerint, quam primum suae eruditionis proposita disputatione specimen edant publice.« In: Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. 4 Bde. Königsberg: Hartung 1746– 1769 (ND Aalen: Scientia 1994), Teil 1 (1746), [Beilagenteil], Nr. 47, S. 139. Siehe ebd., Nr. 70, S. 410: »V. Ut singuli habeant disputationem pro receptione, antequam collegia aperiant.« ZIESEMER II, S. VI, S. 337, S. 394 (»Magisterdisputation«). Ebenso: Lotte Bartsch: Simon Dach. Leben, Familie, Zeit und Wirkung. In: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 17 (1967), S. 305–333, hier S. 312; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970, S. 406 (»Magisterdisputation«; mit Nennung der assertiones und der corollaria); Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahr-

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Universitäten (z.B. Altdorf), keine solchen überliefert sind. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ist gewöhnlich der Stellenanwärter, hier also Simon Dach, der Verfasser des Probestücks. Der Respondent hatte, wie bei den meisten Proloco-Dissertationen, lediglich die Aufgabe, die Thesen zu verteidigen. Christoph Roman, der diese Funktion hier übernahm, immatrikulierte sich zweimal, nämlich am 22. Juli 1631 und am 12. April 1633, an der Universität Königsberg. 16 Er war ein geübter Respondent, hatte er doch etwa ein Jahr vor dem Auftritt mit Simon Dach eine Dissertation unter dem Vorsitz des Metaphysik- und Logikprofessors Michael Eifler 17 und einen knappen Monat vor der Dachschen Disputation eine weitere über Politik unter Christian Sinknecht verteidigt. 18 1641 trat er anläßlich einer theologischen Disputation unter dem Vorsitz Abraham Calovs in der Dissertation als Gratulant auf. 19 Dann verliert sich seine Spur an der Königsberger Universität; Nachrichten über eine akademische Graduierung fehlen. Walther Ziesemer lagen noch zwei Exemplare der Dachschen Dissertation vor, eines in der Universitätsbibliothek Königsberg, ein anderes in der Bibliothek des Kollegiatstifts Guttstadt (heute: Dobre Miasto), das er seiner Edition zugrundelegte. 20 Trotz intensiver Suche in allen vornehmlich in Frage kommen_______

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hundert. Tübingen: Niemeyer 1980, S. 72 (»Von Simon Dach ist die Magisterdisputation erhalten.«). Kelletat: Nachwort (wie Anm. 3), S. 343 f., spricht im Zusammenhang mit Dachs Magisterpromotion von den assertiones, ohne die genaue Zweckbestimmung zu erwähnen; Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996–1230, teilt S. 1010 zwar, wie Ziesemer (S. 337), den Titel der Dissertation genau mit, spricht aber im Kurzkommentar trotzdem von einer »Magisterdisputation unter Dachs Vorsitz«. Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr. 3 Bde. Hg. von Georg Erler. Leipzig: Duncker & Humblot 1910–1917 (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen, 16) (ND Nendeln: Krauss 1976), Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1544–1656. Der erste Matrikeleintrag vom Sommersemester 1631 lautet (S. 327): »Christophorus Romanus, Schonflisensis Borussus, non iur.«, der zweite vom Wintersemester 1633 (S. 349): »Christophorus Romanus. Schonenfliessensis Borussus, repetit ius., iur.; mk. 2, gr. 5.« Der doppelte Eintrag hat im Fall Romans wohl damit zu tun, daß die mit der Entrichtung der Immatrikulationsgebühr sowie mit der Eidesleistung verbundene zweite Aufnahme in das akademische Bürgerrecht erst geschah, nachdem der Student propädeutische Studien an einem Königsberger oder an einem auswärtigen Gymnasium abgeschlossen hatte und in der Lage war, dem Universitätsunterricht zu folgen (ebd., S. LXX). Michael Eifler (Präs.) / Christoph Roman (Resp.): Collegii philosophici disputatio VI. Attributa entis disjuncta primaria immediata breviter exhibens. Königsberg: Lorenz Segebade [26.3.]1639 (Exemplare: Nationalbibliothek Warszawa, Universitätsbibliothek ToruĔ, Universitätsbibliothek Vilnius). Christian Sinknecht (Präs.) / Christoph Roman (Resp.): Disputatio politica de officialibus in genere. Königsberg: Johann Reusner [22.9.]1640 (Exemplar der Universitätsbibliothek ToruĔ). Abraham Calov (Präs.) / Johann Cröchel (Resp.): Disputatio theologica de imagine dei in homine ante lapsum. Königsberg: Johann Reusner [29.6.]1641 (Exemplare: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen; Akademiebibliothek GdaĔsk). ZIESEMER II, S. VI; zum Guttstädter Exemplar auch ebd., S. 394, mit dem folgenden Hinweis auf Standort und Signatur: »F 118. 4. 73. Guttstadt, Bibl. des Kollegialstifts [sic; MM] Nr. 847«.

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den Bibliotheken des deutschen Sprachgebiets und in zahlreichen Bibliotheken Osteuropas, vor allem Polens und Litauens, konnte bis heute nirgends ein vollständiges Stück der Dach-Dissertation gefunden werden. Gerhard Dünnhaupt behauptet, daß das Exemplar aus der ehemaligen Königsberger Universitätsbibliothek in der Akademiebibliothek in St. Petersburg vorhanden sei. 21 Nachfragen ergaben, daß man die Dissertation dort nicht auffindet. 22 Schließlich konnte über die Forschungsstelle »Literatur der Frühen Neuzeit« an der Universität Osnabrück eine Kopie des unvollständigen Exemplars aus der Nationalbibliothek Warschau beschafft werden, 23 das, wie der Sammelband, in dem es enthalten ist, nichts über seine Provenienz verrät. 24 Nach bisherigen Erfahrungen mit verschollenen Universitätsschriften besteht die berechtigte Hoffnung, doch noch, vielleicht an völlig unvermuteter Stelle, ein vollständiges Exemplar der bis heute verlorenen Dissertation Dachs zu finden. Mit der kommentierten Neuedition und Übersetzung samt Stellennachweisen in diesem Aufsatz ist der von Ziesemer an eher versteckter Stelle edierte Text der Pro-loco-Dissertation Simon Dachs nun erschlossen und leichter zugänglich.

2.1. Widmungsgedicht und Einleitung zur Dissertation Den zu verteidigenden Sätzen voraus geht, wie in Königsberger Pro-loco-Dissertationen üblich, ein Huldigungsgedicht an den Landesherrn, in dem Simon Dach, wie in Scaligers Poetik für das Fürstenlob vorgesehen, auf die Schilderung des Goldenen Zeitalters in Ovids Metamorphosen anspielt. 25 Herzog Georg Wilhelm (3.11.1595 – 1.12.1640), eine im Schatten der Geschichtsschreibung stehende Person, 26 wird von Dach mitten in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges als Friedensfürst gefeiert. In seinem Herrscherlob setzte der Präses den sowohl in der Ankündigungsschrift als auch in der Dissertation verteidigten Grundsatz poetischen Wirklichkeitsbezugs _______ 21 22 23

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Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 15), S. 1010. Mitteilung von Dr. Hannelore Gonschior, München, vom 17. Juni 2005, der wir für ihre Bemühungen um Auskünfte aus St. Petersburg danken. Professor Klaus Garber, Osnabrück, danken wir, daß er eine Kopie des Warschauer Exemplars für diese Edition zur Verfügung stellte. Die mitkopierte Karteikarte trägt den Signaturvermerk: BN XVII.3.7608. Professor Christofer Herrmann, Olsztyn, der in Warschau eine weitere Autopsie vorgenommen und den Befund der Unvollständigkeit des Textes bestätigt hat, hält es nach den dort und in Olsztyn erhaltenen Informationen für unwahrscheinlich, daß es sich um das Guttstädter Exemplar handelt. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Bd. 1 ff. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1994 ff., Bd. 3: Buch 3, Kapitel 95–126; Buch 4. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz (1995), Lib. III, Persona, cap. CXVIII, S. 175: »Wenn sich das Lob auf die Zeit bezieht, kann man die Zeitalter miteinander vergleichen. Wenn Muße und Frieden herrschen, können wir hieraus Wohlstand und Sicherheit und das gepriesene Goldene Zeitalter ableiten.« Z.B. Hannsjoachim W. Koch: Geschichte Preußens. München: List 1980, S. 65.

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exemplarisch in die Praxis panegyrisch überhöhter politischer Dichtung um. Als vielgestaltiges Textensemble bietet die Pro-loco-Dissertation das bei Dach einmalige Nebeneinander von explizit poetologischer Norm und Gedicht. In der Einleitung betont der Verfasser, daß er die Disputationsthesen dem ihm vertrauten Wissensgebiet der Poetik entnommen habe. Dachs Disputationsschrift ist eine der wenigen und ersten poetologischen Dissertationen, die vor 1650 in Königsberg entstanden, gedruckt wurden und heute noch erhalten sind. 27 Mit einer Bescheidenheitsfloskel bestreitet der Autor die Neuheit der von ihm aufgeworfenen Fragen, die er in eine lange gelehrte Tradition stellt, und hebt ihren praktischen Nutzen hervor. Die Meinung der herangezogenen Autoritäten, die sich mit der eigenen deckte, wollte er dem kritischen Urteil der Disputationsteilnehmer aussetzen. Das Bekenntnis zur literarischen Tradition, das dem statutarisch verordneten Novitätsverbot entspricht, 28 ging mit der Autoritäts- und Selbstkritik des Verfassers ein Bündnis ein, das selbständiges Denken und Fortschritt der Erkenntnis gleichwohl ermöglichte. Die Verbindung der assertiones zu den Kontexten, denen sie entnommen wurden, ging, wie die folgende Analyse zeigt, dennoch weitgehend verloren.

2.2. Assertio I: Dichter lügen nicht Die erste These geht auf die Abhandlung Iuditha vindicata des Italieners Bartolommeo Tortoletti zurück, die als poetologische Rechtfertigung der im selben Sammelband veröffentlichten Iuditha vindex Tortolettis erschien. 29 Mit seinem Traktat setzte sich der Autor auch für das Ansehen seines Judith-Epos (Giuditta vittoriosa, 1628) und den guten Ruf der Dichtung im allgemeinen ein. Der 1560 in Verona geborene Weltgeistliche Tortoletti war in Rom, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1647 wirkte, Mitglied der Accademia degli Umoristi. Neben weiteren Dichtungen hatte er ein Geschichtswerk über den Aufstand des Grafen Petrus Ossuna veröffentlicht. 30 _______ 27

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Die »Disputatio poetica (24.10.1562, Königsberg: Hans Daubmann)« von Poetikprofessor Kaspar Schütz (Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel), dem späteren Sekretär in Danzig, ist die erste bis jetzt bekannte und noch vorhandene Königsberger Poetikdissertation. Ein anderer Amtsvorgänger Simon Dachs, Joachim Cimdarsus († 10.2.1618), soll über das im Licht des historischen Vergleichs spannende Thema »de fabulis sive fictionibus poetarum« disputiert haben (Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie [wie Anm. 14], Teil 2, S. 401). Ein Exemplar dieser Dissertation konnte bis jetzt nicht gefunden werden. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 14), Teil 1, Beylagen, Nr. 46, S. 121: Bestimmung über die Aufsichtspflicht der Dekane: »[...] sed etiam ne materiae absurdae, falsae, novae & inanes, sive in Theologia sive in aliis Facultatibus, proponantur aut tradantur.« Bartolommeo Tortoletti: Iuditha vindex et vindicata. Rom: Typis Vaticanis 1628. Joseph-François Michaud: Biographie universelle ancienne et moderne. Bd. XLI: Tar–Tor. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1970, S. 712.

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Die Auswahl von Tortolettis Traktat als Disputationsvorlage wird, wie die der beiden anderen assertiones, von Simon Dach nicht begründet. Der Italiener folgte in seiner Schrift dem Argumentationsprozedere der disputatio: In der Rolle eines Opponenten widerlegte er unter dem Titel »obiectiones« eine Reihe möglicher Haupteinwände gegen sein mitgedrucktes poetisches Werk. Diese strukturelle Gemeinsamkeit mit den genera disputandi legte vielleicht die Verwendung von Tortolettis poetologischer Schrift nahe. Dach löste die vom Italiener zugunsten der Poesie ausgesprochene Wahrheitsbeteuerung aus dem Zusammenhang der Iuditha vindicata heraus und benützte sie für einen weit allgemeineren Zweck, die vom Einzelwerk abstrahierende philosophische Bestimmung der Poetik. Doch dürfte Dach die zeitgenössische Beliebtheit des Judith-Stoffs bekannt gewesen sein, nicht zuletzt wohl, weil ihn Martin Opitz im Anschluß an die italienische Oper Giuditta von Andrea Salvadori und Marco da Gagliano mit seiner 1635 in Breslau erschienenen Übersetzung aufgegriffen hatte. 31 Dach verweist im einleitenden Satz seiner ersten These auf ein ganzes Kapitel der Vorlage, das den Topos der Lügenhaftigkeit der Dichtung mit dem für fiktionale Texte erbrachten Wahrheitsnachweis weitläufig widerlegt. 32 Er griff mit der eklektischen Aufnahme von Tortolettis und anderer Wahrheitsbeteuerung in die seit der Antike in Gang befindliche Diskussion um den Wahrheitsanspruch der Poesie ein. 33 Mit den studia humanitatis und dem Aufstieg der _______ 31 32

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Mara Wade: The Reception of Opitz’s Judith during the Baroque. In: Daphnis 16 (1987), S. 147–165. Tortoletti: Iuditha (wie Anm. 29): »Tertiae obiectioni satisfit; ex Historia, eaque sacra ritè derivari poëma posse demonstratur«, S. 253–274. Tortoletti stand für die dichterische Verwendbarkeit biblischer Stoffe ein, ein Thema, das Dach in seiner Dissertation nicht behandelte. Grundlegend zur dichtungstheoretischen Topik im allgemeinen: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 6. Aufl. Bern [u.a.]: Francke 1967; zur Dichtung als Lüge: ebd., S. 213, Anm. 1; S. 224 f.; S. 242; S. 401; S. 450, Anm. 2; S. 454. Weiterhin: Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, hier S. 82–86; Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, hier S. 9–12 und 15; Ludwig Gompf: Figmenta poetarum. In: Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. Festschrift für Karl Langosch zum 70. Geburtstag. Hg. von Alf Önnerfors, Johannes Rathofer und Fritz Wagner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 53–62; Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 581–635; Peter von Moos: Poeta und Historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 98 (1976), S. 93–130; August Buck: Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen: Niemeyer 1952, S. 67–87 (»Die Verteidigung der Poesie«); Christoph J. Steppich: Numine afflatur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance. Wiesbaden: Harrassowitz 2002, S. 42 ff. (» ›Wahrheit‹ und ›Lüge‹ als literarische Wertungskriterien«); Erich Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur. Fiktionsbewußtsein und das Problem der ästhetischen Realität von Dichtung in der Frühen Neuzeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 174–197; Ursula Kundert: Ist Fiktion Lüge?

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antiken Autoren zu verbindlichen Mustern poetischer Nachahmung nahm der von Antikegegnern auf die Anhänger eines säkularen Humanismus ausgeübte Legitimationsdruck zu. Dach weist, im Einklang mit der herrschenden Meinung, die erkenntniskritischen Einwände und moralischen Vorwürfe der Poesieverächter, die dichterische Fiktion, heidnische Dichtung und Lüge gleichsetzten, in drei parallelen Argumentationsanläufen zurück. Zunächst qualifiziert er, in Anlehnung an Tommaso Campanellas Poetik, die Dichtung als universale Wissensvermittlerin und damit den Dichter als der Wahrheit verpflichteten Gelehrten. 34 Bei diesem Nachweis wird die Hierarchie der Fakultätsdisziplinen von oben nach unten durchlaufen: Dach beginnt mit der Theologie, schließt Jurisprudenz und Medizin an und gelangt mit der Naturkunde, der Landwirtschaft und der Ethik auf die unterste Stufe der philosophischen und ihnen benachbarter Wissenschaften. 35 Wie in seiner Bezugnahme auf die Judith-Schrift Tortolettis greift er wohl, was die Wissensdisziplinen im besonderen betrifft, in einer zweckgerichtet paraphrastischen Anlehnung auch auf Einzelstellen in Campanellas Poetik zurück. 36 _______

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Lügenvorwurf in fiktionalem Gewand in Gotthard Heideggers Mythoscopia Romantica (1698). In: Text und Wahrheit. Ergebnisse der interdisziplinären Tagung Fakten und Fiktionen der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim, 28. – 30. November 2002. Hg. von Katja Bär [u.a.]. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 2004, S. 51–62. Tommaso Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta, videlicet Poeticorum liber unus iuxta propria principia. Paris: Toussaint Du Bray 1638, ediert in: Tommaso Campanella. Poetica. Testo italiano e rifacimento latino. A cura di Luigi Firpo. Rom: Reale Accademia d’Italia 1944, S. [217]–364, wörtliches Zitat hier, cap. I, art. I, S. 221; ferner ebd., cap. VI, art. IV, S. 273: »[...] poesis est flos scientiarum.« Der Wissenschaftskanon stimmt, auch in der absteigenden Folge, mit Campanellas Kanon der wissensbezogenen poetischen Gattungen (»poëma sacrum, poëma legale, poëma philosophicum, poëma bucolicum sive pastorale, poëma georgicum sive agricolarum«) weitgehend überein. Es kommen in Frage: Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie Anm. 34), cap. VI, Überschrift von art. IV, S. 273 f.: »Non modo scientiis rhetori necessariis poëtam ornatum esse oportere, sed et aliis multis, et quibus; nec solum extrinsecus, ut Plato putat, sed intrinsecus, et qua ratione.« – Zu beachten sind allerdings Campanellas unbestimmter Verweis im genannten cap. VI, art. IV, der Poetik auf die Rhetorik sowie die genaue Angabe der Stelle in Campanellas Rhetorik (cap. IV, art. III) durch den Herausgeber von Campanellas Poetik (S. 273 sowie ebd., Anm. 127). In cap. VI, art. IV, werden erwähnt: Theologie, Geschichte, Geographie, Naturphilosophie, Ethik, Politik. Fast sämtliche von Dach im Eingang zu assertio I genannten Personen kommen in ähnlichen Zusammenhängen in Campanellas Poetik vor, siehe insbes. cap. IV, art. III, S. 247–250, wo die wahre Dichtung in ein Kontrastverhältnis zum Teufelswerk der Lüge und Erfindung gesetzt, mit einer Wissensdisziplin identifiziert und auf wahre Erkenntnis eingeschworen wird. Von den von Simon Dach im einleitenden Abschnitt zur ersten assertio erwähnten Beispielautoren kommen die folgenden, für Campanella im doppelten Wortsinn wahren Dichter in cap. IV, art. III vor: David, Empedokles, Hesiod, Lukrez, Phocilides, Prudentius, Sedulius, Theognides, Vergil, Vida. Solon taucht bei Campanella an verschiedenen Stellen auf (cap. V, art. I, S. 263: »[...] Solon carminibus leges expressit Athenis [...]«; cap. VIII, art. I, S. 286; cap. VIII, art. III, S. 294); David ist für Campanella der universale biblische Dichterphilosoph schlechthin (siehe u.a. cap. VIII, Überschrift art. I, S. 286: »Genera ac formas poëmatum esse plurima, sed praecipue duodecim, et de ipsorum ratione et inventione; et in psalmodia David omnia reperiri, ac plura quam usus habet, nec poëtas gentium quid novum invenisse.«

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Während der italienische Dominikaner in der Poesie unter anderem ein Mittel der Volksbelehrung, aber noch mehr eines der Verführung des Volkes erblickte und ihr eine magische, bisweilen gefährliche, dämonische Wirkung zusprach, 37 kam es Dach auf den Wahrheitswert und auf das uneingeschränkte Lob der Poesie an. Im Hinblick auf die Eigenständigkeit der Poesie verbürgt nun, im Anschluß an Tortoletti, die aristotelische Nachahmungslehre für alle literarischen Gattungen den Wahrheitscharakter der dargestellten poetischen Wirklichkeit. 38 Dem Philosophen steht für Dach, wiederum in Übereinstimmung mit Aristoteles und Tortoletti, der Dichter näher als dem Historiker, der sich dem Individuum zuwendet, während der Dichter im Individuum den Repräsentanten eines Typus’ sieht und es nie wegen seiner singulären Gestalt zur Darstellung bringt. 39 Zum Dritten rechtfertigt Dach die Dichtung, die Wahrheit verhüllt zum Ausdruck bringe, mit moralpädagogischen Gründen und der Gleichnisrede Christi. 40 Vom einseitigen Lob der paganen Autoritäten in der Ankündigungsschrift verschiebt sich der Akzent in der Dissertation etwas auf die Bibeldichtung und die christliche Allegorese, was zum Teil mit der in der Disputation notwendigen Anhäufung einer optimalen Vielzahl diverser Argumente zusammenhängt. Wie für Tortoletti trugen nun für den Königsberger Athen und Jerusalem das Ihrige zum Ruhm der Dichtkunst und ihrer Verherrlichung bei. 41 Campanella warf dagegen dem Stagiriten vor, im Dichter, statt den Künder der Wahrheit, den Erfinder von Lügenmärchen zu preisen, und lehnte die seiner Ansicht nach der Lüge Vorschub leistende Mimesis ab. 42 Für den _______ 37

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Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie Anm. 34), cap. I, art. I, S. 222: »Poëta vero etiam indoctos et discere non potentes mansuefacit et docet: plus enim magiae est in poëtica, quam in rhetorica [...]«; cap. VIII, art. I, S. 286: »[...] poëma non philosophorum gratia conditum est.« Ferner cap. IV, art. X, S. 260: »Ergo, si tanta est poëtae potestas, coercenda est.« Tortoletti: Iuditha (wie Anm. 29), S. 254: »Ex hisce philosophi [= Aristoteles; MM] definitionibus, & progressu sermonis satis liquidò colligi potest verum ad aliquam Poesëos partem pertinere [...].« Der Reihe nach erwähnt werden (ebd.) die Dithyramben, das Epos, die Tragödie (ausführlicher) und, an einer anderen Stelle, zusammen mit Epos und Tragödie (ebd., S. 260), die Komödie: »Quòd si in Comoedia, & res finguntur, & nomina ad arbitrium ponuntur; humilitatem rerum gestarum, obscuritatemque personarum causas habemus [...].« Ebd., S. 254: »Poëtam, qui circà universalia versatur ad Philosophum propiùs accedere, Historico relinquere singularia, proptereàque magìs esse rerum quàm carminum opificem, atque effectorem.« In den dichtungstheoretischen Schriften stellen Dach wie Tortoletti den Inhalt der Dichtungen, das von ihnen vermittelte Wissen und ihre moralische Botschaft, nicht die Form, in den Vordergrund, obwohl beide am Metrum als Erfordernis der Poesie festhielten. Allgemeiner Tortoletti: Iuditha (wie Anm. 29), S. 272: »Hebraei sanè, apud quod vetustissime, ac divinitùs acceptae litterae fuerunt, nullam aliam preter parabolas poësim, quàm veram, historicam, sanctam agnoverunt [...]«. Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München: Beck 1977. Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie Anm. 34), cap. IV, art. III, S. 247: »At e contra, si Aristotelis rationes valent, poëtas non habemus, nisi mendaces, eritque poësis filia diaboli, qui est pater mendacii.«

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Griechenfreund Simon Dach stand diese, wie die Furorlehre, für den Wahrheitsgehalt der Dichtung ein. Als eklektischer Poetologe zögerte er dennoch nicht, Campanella dort, wo dieser ihm dienen konnte, als Wahrheitszeugen anzurufen.

2.3. Assertio II: Tragödien mit heiterem Ausgang Wie in der ersten These greift Simon Dach auch hier auf eine Aussage in einer zeitgenössischen Textvorlage zurück, die sich aber nicht mit der Dichtung im allgemeinen, sondern mit einer gattungstheoretischen Einzelfrage, der Abgrenzung der Tragödie von der Komödie und den Bestimmungsmerkmalen der ersteren, befaßt. In der dem reformierten niederländischen Polyhistor Gerardus Joannes Vossius zugeeigneten Vorrede seiner Sophompaneas Tragoedia forderte Hugo Grotius für eine Tragödie nicht zwingend eine Handlung mit traurigem Ende. Den Kontrahenten empfiehlt er, Aischylos’ Hiketiden, die Alkestis, die Taurische Iphigenie, die Helena sowie den Ion des Euripides oder anstelle der beiden Musterautoren die einschlägigen Stellen in Vossius’ Poetik zu lesen. 43 Noch bevor Simon Dach die Grotius-Stelle zustimmend würdigt, stellt er einleitend ein Zitat aus der aristotelischen Poetik sowie eine Aussage des Euripides vor, die der landläufigen Meinung eines traurigen Tragödienschlusses entsprechen. Diese wird dann unter Berufung auf das Vorwort des Niederländers mit einem Gegenzitat aus der Poetik des Stagiriten und mit zusätzlichen Beispielen des Euripides (Orest, Andromache, Hippolytos) widerlegt. An die Stelle von Aeschylos, der zweiten Dichterautorität bei Grotius, kommt bei Simon Dach Seneca mit dem Hercules Oetaeus, der als einziger die römische Antike vertritt. Trotz dieser geringfügigen Modifikation der Autorengalerie spielt sich die vom Autoritätsbeweis beherrschte Argumentation in beiden Texten hauptsächlich im Pro und Contra der herangezogenen griechischen Autoren ab. In der Vorliebe für sie und im gleichen Urteil über die verhandelte Sache treffen sich die Zeitgenossen Dach und Grotius, dessen Vorlage der Thesentext am Schluß verläßt. Dach bezeichnet nämlich die Ständeklausel als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal von Tragödie und Komödie und gesteht seinen Kontrahenten zu, daß ein trauriger Ausgang der Tragödie besser entspreche als ein glücklicher.

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Hugo Grotius: The poetry of Hugo Grotius. Original poetry. Sophompaneas 1635. Ed. by Arthur Eyffinger with the assistance of Pim Rietbroek. Assen/Maastricht: Van Gorcum 1992 (De Dichtwerken van Hugo Grotius, 1/4), S. 130: »Qui si errorem eum in cothurni ac socci discrimine nondum deposuerunt, legant aut Aeschyli Danaidas aut nostri Euripidis Alcestim, Iona, Helenam et, quam nuper Latine vertere mihi libuit, in Tauris Iphigeneam aut, si id laboris nolunt sumere, tua illa quae modo memoravi legant de arte poetica praecepta.«

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2.4. Assertio III: Dichtung und Obszönität Die letzte ist die längste der drei vorgelegten poetologischen Thesen. Sie richtet sich gegen Obszönitäten in der Dichtung. Simon Dach nimmt die Grundgedanken von zwei Schulreden des Jesuiten Famianus Strada auf und arbeitet sie in die der disputatio entsprechende ›assertorische‹ Kurzform um, ohne die rhetorisch-amplifikativen Spuren ihrer Herkunft ganz zu tilgen. Famianus Strada (1572 – 1649), Rhetoriklehrer am Collegium Romanum, 44 veröffentlichte im Jahre 1617 unter dem Sammeltitel Prolusiones academicae in drei Büchern insgesamt fünfzehn akademische Reden über die antike Literatur (Plautus), die Dichtungstheorie und die Geschichte (Marc-Antoine Muret). 45 Prolusio III und IV des ersten Buchs warnen im Stil von Sittenpredigten junge Zuhörer vor dem verderblichen Einfluß obszöner Literatur und sprechen ihr jede dichterische Qualität ab, 46 eine Meinung, die Simon Dach grundsätzlich teilt. Auf den sentenzartigen Behauptungssatz läßt Dach eine weit ausholende philosophische Begründung folgen, die auf der Basis eines ethisch fundierten Natur-, Kunst- und Gottesbegriffs die Nachahmung zum metaphysischen Prinzip der ganzen Schöpfungsordnung erhebt. Natur und Kunst treten zueinander und zu Gott in ein von nachahmender Tätigkeit beherrschtes, im einzelnen nicht näher bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis: Die Kunst folgt als sekundäre Nachahmungstätigkeit zwar zeitlich der Natur, die ihrerseits Gott nachahmt, steht aber, da das Kunstwerk respektive der Künstler die von der Natur hervorgebrachten Werke vervollkommnet, hinsichtlich der Qualität ihrer Produkte über der sie anleitenden Natur und daher unmittelbarer zu Gott. Im Anschluß an Strada gleicht Simon Dach mit dieser Apotheose der künstlerischen Nachahmung die aristotelische Mimesislehre unausgesprochen der platonischen Auffassung von Dichtung als divina poesis an. Dagegen erfolgt die Anbindung der Dichtkunst an Ethik und Politik, wiederum im Einklang mit Strada, aber im Unterschied zur ersten These und zur Einladungsschrift, im alleinigen Rekurs auf die Autorität des Stagiriten: Das die Natur vervollkommnende Handeln des Menschen richtet sich ganz auf das gute Leben, die Tugend und den gemeinen Nutzen aus. Auch der Dichter und die Dichtkunst haben sich, wie alle artes, diesem einen Ziel des Handelns unterzuordnen und für den glücklichen Fortbestand des staatlichen Gemeinwesens und das Wohl der Bürger einzustehen. Mit einer Nachahmung obszöner Handlungen geriete die Dichtung in Widerspruch zu Tugendnorm und Staatszweck und verlöre mit der Moralität und Utilität die konstitutiven Merkmale jeder Kunst. Wiederum im Anschluß an die aristotelische Imitatiolehre werden Dichtungen, die bloß ergötzen und sittliche Normen _______ 44

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Biographische Kurzinformation mit ausführlicher Werkbibliographie: Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la compagnie de Jésus. Tome VII: Roeder–Thonhauser. Bruxelles: Schepens; Paris: Picard 1896, Sp. 1605–1617. Famianus Strada: Prolusiones academicae. Rom: Jacobus Mascardus 1617. Ebd.: Lib. I, Prolusio III: »An poetae dicendi sint obscenorum carminum scriptores«, S. 76–116; Prolusio IV: »Idem argumentum. An poeticè faciant, qui versus faciunt impudicos«, S. 117–152.

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verletzen, verworfen und das delectare, im Rückgriff auf Horaz, dem Diktat des prodesse unterworfen. Ein ausführliches Lukrez-Zitat, das wortwörtlich auch Tortoletti verwendet, 47 illustriert mit der Metapher des Wermuts, der den Kindern mit Honig vermischt verabreicht werde, die moralpädagogische Absicht von Dachs dritter These. Weitere Griechen, Euripides, Xenophon sowie erneut Platon, und nicht mit Namen genannte Zeitgenossen Dachs, aber keine römischen Autoritäten ergänzen die Reihe der angerufenen Gewährsleute. Der erste, allgemeine Teil der Argumentation wird mit der durch einen Syllogismus bekräftigten Aussage abgeschlossen, daß der oberste Zweck der Dichtung in der Nachahmung tugendhaften Handelns bestehe. Darauf weist Dach in der Nachfolge des Stagiriten die Gültigkeit dieses Satzes an der für die einzelnen Dichtungsgattungen (Epos, Tragödie, Komödie) vorgesehenen imitatio nach. Während der Dithyrambus fehlt, kommt die im aristotelischen Kanon nicht berücksichtigte Satire hinzu. 48 Famianus Strada nannte die mit rhetorischem Schmuck beladenen Moralpredigten gegen das Obszöne, wohl im Sinn von Verteidigungs- respektive Kampfoder Streitreden, auch ›Disputationen‹. 49 Mit seiner Polemik nahm er die Liebesdichtungen aufs Korn, da sie die Wollust (voluptas) propagieren, den Sittenzerfall der heranwachsenden Jugend fördern und das auf moralischen Grundsätzen beruhende Zusammenleben der Bürger im Staat gefährdeten. 50 Weder das einseitige Lob der guten alten Zeit noch den Tadel zeitgenössischer Autoren, deren Namen im Dunkeln bleiben, übernimmt Simon Dach von Strada, nicht einmal die heftigen Attacken auf die Liebespoesie seiner Zeit. So hält er sich aus dem Streit zwischen Alten und Neuen heraus 51 und verteidigt, indem er die Vorrangdebatte mit Schweigen übergeht, die überzeitliche Geltung der moralischen und ästhetischen Normen der Antike mit größerem Nachdruck als der gleichermaßen der Kirche verpflichtete Jesuit. 52 Strada verschont denn auch die heidnischen Autoren inklusive Homer nicht ganz mit Kritik, 53 Simon Dach da_______ 47

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Tortoletti: Iuditha (wie Anm. 29), S. 264. Es ist wahrscheinlich, daß Dach das Lukrez-Zitat aus dem Text des italienischen Weltgeistlichen übernahm und in seine Strada-Paraphrase einbaute. In Stradas Gattungskanon (Prolusiones academicae [wie Anm. 45], Prolusio IV, S. 119) kommt, wie bei Aristoteles, der Dithyrambus, nicht aber die Satire vor. Ebd., explizit Prolusio III, S. 78, sowie Prolusio IV, S. 138, und die Anspielung ebd., S. 119 (»[...] eodem pugnaci, & concertatorio genere orationis [...]«). Ebd., Prolusio III, S. 113 (»regnum voluptatis«); Prolusio IV, S. 130: Gegner sind die »homines voluptuarii«, ebd., S. 146: (»[...] voluptas, qua mortales plus nimio capi quotidie videmus.«). Herbert Jaumann: Querelle. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2003, S. 205–208. Strada: Prolusiones academicae (wie Anm. 45), Prolusio III, S. 98: »En Nostri ingenio tàm pravo, quàm turpi, poematis particulam condunt ferè nullam, quam amatorijs fabulis ad stomachum usque non inficiant, simulque titillantium illecebris voluptatum non emolliant mares animos, ac lenocinantis ubique Veneris interiectu omnia non infament.« Vgl. die zwar milde Homerkritik ebd. in Prolusio IV, S. 137 ff., in der Strada griechische Autoritäten beizieht, die Homer Verstöße gegen das Decorum, aber keine Obszönitäten anlasten. Am homerischen Vorbild mißt er die sittlichen Qualitäten der Alten und nimmt die christlichen Autoren um so stärker in die moralische Pflicht.

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gegen geht auf das Thema der moralischen Integrität der antiken Vorbilder gar nicht ein. Er begnügt sich mit dem allgemeinen Bekenntnis zum moralpolitischen Auftrag der Poesie. Daher begibt er sich, im Gegensatz zu Strada, nicht ins Schußfeld theologischer Apologetik und nimmt einen von religiösen Dogmatismen und konfessioneller Polemik freien poetologischen Standpunkt ein. Stradas moraltheologischer Vergleich des menschlichen Körpers mit einer Festung, die vom Teufel bestürmt werde, 54 findet deshalb in Simon Dachs ethischphilosophisch begründetem Dichtungskonzept keinen Platz. In weiteren, weniger grundsätzlichen Punkten geht Dach häufig über die Aussagen Stradas hinweg, so mit der die Katharsis ausklammernden Begriffsbestimmung der Tragödie und in der unterlassenen Beschimpfung des Pöbels als Zielpublikum obszöner Dichtungen. 55 Die Gemeinsamkeiten liegen in der Aristotelesnachfolge (imitatio), in der gleichzeitigen Übernahme der im Vergleich zur Ankündigungsschrift moderat auftretenden platonischen Furorlehre 56 und in der von Platon wie Aristoteles politisch untermauerten Moralisierung der Dichtungstheorie. Als Anhänger eines pointiert säkularen Humanismus grenzt sich der poetologische Eklektiker Simon Dach, wie angedeutet, von der christlich-religiösen, stellenweise kirchenlastigen Argumentationsweise des Jesuiten Strada ab. Von ihm übernimmt er, was er verwenden kann, die moralpädagogische und -politische Begründung des strengen Obszönitätenverbots.

2.5. Corollaria Am Schluß einer Dissertation stehen häufig corollaria genannte Behauptungssätze, über die, oft im Anschluß an die Hauptthesen, wenn noch Zeit blieb, ebenfalls disputiert wurde. In der vorliegenden Dissertation wurde die Frageform gewählt, ergänzt um die aus der bloßen Bejahung oder Verneinung bestehende Antwort. Diese verrät wenigstens die grundsätzliche Einstellung von Prä_______ 54

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Ebd., Prolusio IV, S. 150, mit Bezugnahme auf die Autorität Tertullians: »Ut sanè verendum magnopere sit, ne quemadmodum Tartareus olim praedo [...] urbem corporis quam invaserat, obtinuit obfirmatè; sic arcem animae, in quam semel victor ascenderit, pertinaci deinceps occupatam vi, nulla unquam temporis diuturnitate dimittat.« Strada umschreibt mit einer heidnischen Wendung das christlich verstandene personifizierte Böse und bestätigt so die in der fünften Prolusio des ersten Buchs (»An ex rebus sacris idonea commentationibus poeticis argumenta proveniant aequè ac ex profanis«, S. 153–183) ausführlich nachgewiesene Einheit von christlicher und paganer Überlieferung. Dach legt keinen Wert auf traditionalen Monismus; hingegen könnte er das in der Einladungsschrift unvermittelt auftretende Lob der novitas sowie der dichterischen inventio (ohne die christlich gefärbte Propaganda für das Wunderbare!) aus Stradas fünfter Prolusio übernommen haben: »[...] inaudita atque admiranda proferre, non vulgata sordentiaque retractare: demum FACERE ac fingere, (ex quo nomen illi suum obtinent) non aliorum inventa reponere, poetarum est. Haec autem concinnandae fabulae novitas [...]« (ebd., S. 160). Ebd., Prolusio IV, S. 133 (›Katharsis bringt die Seele in den Zustand der Ausgeglichenheit, der aurea mediocritas, zurück‹); Prolusio III, S. 112 f. (›schlüpfrige Liebesdichtung kommt den Bedürfnissen des Pöbels entgegen‹). Ebd., Prolusio III, S. 84 f.

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ses und Respondent zu den aufgeworfenen Fragen. Dach und Roman verweigern der Tragikomödie die Aufnahme in den Gattungskanon und lehnen damit zum Beispiel eine Poetisierung von Giovanni Battista Guarinis (1538 – 1612) Pastor fido ab. Prosatexte sind, wie die Antwort auf die folgende Frage zeigt, keine Dichtungen. Schließlich wird im dritten Corollarium das oratorische vom poetischen Taktmaß unterschieden. Mit den Rahmenaussagen der drei Corollarien und dem Obszönitätenverbot der dritten Hauptthese bleibt das Feld der Poesie durch die Doktrin eng begrenzt. Die hervorgehobene Trennung der poetischen von der rhetorischen Form impliziert einen höheren, elitären Qualitätsanspruch an die Dichtung, der von Dachs Konzept der divina poesis bestätigt wird.

2.6. Zusammenfassende Beurteilung der Disputationsthesen Mit einer durch römische Zahlen gekennzeichneten Abschnittgliederung werden die einzelnen assertiones in der Dissertation ohne inhaltliche Querverweise voneinander getrennt unterbreitet. Die Auswahl verschiedener Sätze, über die disputiert wurde, unterstreicht mit Blick auf das Ganze einer Poetik den eklektischen Eindruck, den schon die Auswahl der Argumente im kleinen Kontext der drei Disputationsthesen hinterließ. Dennoch sind die Thesen, vor allem die erste mit der dritten, stärker miteinander verbunden, als ihre Darbietung auf den ersten Blick annehmen läßt. Alle drei assertiones berufen sich auf zeitgenössische Autoren, die aber ausnahmslos um das richtige Verständnis antiker Autoritäten, allen voran des Aristoteles, rangen; sowohl andere poetologische Texte des 16. und 17. Jahrhunderts als auch Dichtungen dieser Zeit treten in der Dissertation selten und in der Regel nicht als normative Referenzen in Erscheinung. Die historische Distanz zur Antike wird durch vergegenwärtigende Zitatübernahme, affirmative Integration und Assimilation der überlieferten Texte in den neugeschaffenen Kontext der akademischen Kasualprosa zu überwinden gesucht. Die Diskreditierung der heidnischen Griechen, insbesondere des Aristoteles, aus moralisch-christlicher und weiträumig-kulturgeschichtlicher Sicht, die andere Völker des Altertums (Ägypter, Chaldäer) einbezog, übernimmt Simon Dach von Campanella nicht. 57 Dach standen Tortoletti und Strada näher. Sie anerkannten die Autorität des Stagiriten, nahmen gleichzeitig Platons Furorlehre bereitwillig auf und zogen als Eklektiker die beiden großen Griechen für die wahrheitsapologetische Legitimation der Dichtkunst heran. Den moralischen Rigorismus teilen sie und _______ 57

Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie Anm. 34), in cap. V, art. I, S. 263, die gewohnte Attacke gegen Aristoteles und die übrigen Griechen mit Ausnahme Platons, die Bevorzugung der christlichen Dichter kraft des Altersbeweises: »Quapropter errat Aristoteles, qui novellis Graeculis originem poësis et carminum adscribit, cum sit vere prophetarum quaedam degeneratio poëtica gentilium; nec Plato illi consentit, qui amplioris et altioris semper considerationis extitit. Gentiles vero carmen, sive ab Hebraeis, sive a Chaldaeis, sive ab Aegypto antiquissimum habent [...]«.

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Simon Dach mit Tommaso Campanella, der aber, im Unterschied zu ihnen, in der Dichtung bestenfalls ein Mittel christlicher Belehrung sowie der Atheismuskritik erblickte 58 und der Ordnung der Sitten im weltlichen Staat, den politischen Belangen überhaupt, dem Nutzen und Wohl der Bürger, kaum Aufmerksamkeit schenkte. Die Abwehr des Lügenvorwurfs in Dachs erster assertio kann als Kritik an Campanella gelesen werden, der die angeblich von Aristoteles gerechtfertigte Lügenhaftigkeit der Poesie in seiner Poetik bekämpfte. Dach widersetzte sich einer großen Erweiterung des aristotelischen Kanons der poetischen Gattungen, den Campanella, im Gegensatz zu Tortoletti und Strada, aus christlich-religiösen Gründen und wegen der aus seiner Sicht Lügenmärchen und Fiktionen begünstigenden Imitatiolehre überhaupt nicht respektierte. 59 Unter dem Einfluß der drei italienischen Autoren integrierte Simon Dach zwar die Bibelpoesie in die Dissertation, hielt seine dichtungstheoretischen Überlegungen aber von christlichen Theologemen und konfessionellen Animositäten frei. 60 Als zeitgenössische Gewährsleute scheint er sogar bewußt Reformierte und Katholiken bevorzugt zu haben, um der Wahrheit der Poesie die angemessene überkonfessionelle Geltung zu verschaffen. Bezieht man Campanella ein, bildete die platonische Furorlehre den gemeinsamen theoretischen Nenner, nicht die aristotelische Mimesis. Tortoletti erkannte in den Dichtern Nachahmer Gottes, definierte die göttliche Poesie im Anschluß an die platonische Harmonielehre und die (neu)platonische Tradition, nicht ohne von der Imitatiolehre her die Brücke zu Aristoteles zu schlagen. 61 Simon Dach _______ 58

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Bei Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie Anm. 34), cap. IV, art. X, S. 259, ist der moralpädagogische Eifer von der Atheismuskritik begleitet: »Quod, si poëtis ista licent: bonos calumniari, pravos laudare, historias corrumpere, celebrare deorum adulteria dulcissimo carmine, prosternetur virtus et veritas, augebitur ignorantia et scelera et impietas, et tandem atheismus grassabitur ubique.« An einer anderen Stelle (ebd., S. 260; vgl. Anm. 37) werden grundsätzliche Vorbehalte gegen die Macht der Poesie geäußert. Vergleiche z.B. die mit einer Spitze gegen die Aristoteliker (»Aristotelicis indoctis«) gerichtete Billigung der Tragikomödie ebd., cap. VIII, art. XII, S. 340. Zum Spannungsverhältnis von heidnischer Antike und Christentum in der (spät)humanistischen Dichtung und Poetik siehe: Wilhelm Kühlmann: Poeten und Puritaner: Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus – Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland. In: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposions vom 15. bis 17. Mai 1992 im Melanchthonhaus in Bretten. Hg. von Hanns Kerner. Nürnberg: Carl 1993, S. 149–180; wieder abgedruckt in: Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt u. Hermann Wiegand. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 57–83. Tortoletti: Iuditha (wie Anm. 29) mit der gleichzeitigen Vereinnahmung von Aristoteles und der Anrufung weiterer Autoritäten (Pythagoras, Philo von Alexandria), S. 187: »Et Philo quidem disertissimus Iudaeorum, qui poëseos naturam intimè prae caeteris attigisse mihi videtur, in eo, quòd deterior potiori insidietur, commentariolo, poëtarum summum esse demonstrat Deum, poësim opera ipsius absolutissima, perfectissimaque, quorum consensione harmonia, & concentus oritur iucundissimus, neque aliud esse poëtarum artem, quam divini opificis imitationem. Idem ferè Pythagoras docuit. Idem Plato, qui in Timaeo ex convenientia, proportioneque numerorum ad Musicam pertinentium animam mundi conflavit. Nec abesse videtur Aristoteles, qui poëtam philosophum dicit perfectioni inhiantem, & non quemadmodùm res fuerint, sed qua ratione fieri debuerint, exhibentem.«

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nimmt platonische Elemente auch in die assertiones auf, läßt sie aber, im Vergleich mit der Ankündigungsschrift, zugunsten der komplementär eingesetzten aristotelischen Imitatiolehre, zurücktreten. Die Annahme einer doppelten Nachahmung (Natur – Gott; Kunst/Künstler – Natur) garantiert vordergründig die wohl angestrebte Vereinbarkeit der aristotelischen Poetik mit dem platonischen furor poeticus, obwohl das Verhältnis von imitativer Tätigkeit, göttlicher Inspiration des Poeten und Regelkenntnis weiterhin ungeklärt bleibt.

3. Versuch einer historischen Einordnung beider Universitätsschriften Wie angedeutet, finden sich in beiden Universitätsschriften Simon Dachs anstelle von logisch aufgebauten Überlegungen in großer Zahl asyndetische Reihen paralleler Aussagen, die den Gedanken nicht vorantreiben oder, wie in der Dissertation, eher eine Anzahl Stichwörter pro memoria enthalten als einen bündigen Argumentationsgang entfalten. Wo die Aussagekraft der Sätze nicht von der Aufzählung topischer Einzelargumente abhängt, setzt Simon Dach hier und dort Begriffe wie z.B. den der imitatio ein, ohne sie herzuleiten, die verschiedenen Bedeutungen zu erläutern und diese aufeinander zu beziehen. Aber nicht nur textimmanente Reflexionsdefizite belasten den Versuch einer historischen Zuordnung, sondern auch Dachs eklektizistischer Umgang 62 mit den benützten Quellen und die Tatsache, daß er trotz der Angabe der wichtigsten Vorlagen in der Dissertation (Tortoletti, Grotius, Strada) weitere wichtige Abhängigkeiten, so z.B. die Identität des sog. Platonicus in der Ankündigungsschrift ungeklärt läßt. So kann es im folgenden zumeist nur um eine approximative Bestimmung von Dachs Standort und um die Benennung oft nur potentiell faßbarer Einflußquellen gehen. Der Kompilatcharakter der Texte verbietet ohnehin eine eindimensionale historische Lokalisierung. Hinzu kommt, daß die Poesieverächter an keiner Stelle mit Namen erwähnt werden. Trotzdem sind sie als anonym kollektive Gruppe in den Abhandlungen präsent, und Dach ging wohl von ihrem schädlichen Einfluß auf sein Fach und die Poesie aus. Trotz konzeptioneller Schwächen werden in den Texten nicht einfach übungshalber geistige Nachhutgefechte ausgetragen. Obwohl Tommaso Campanella von Simon Dach in der Dissertation zustimmend zitiert wird, könnte der unerbittliche Aristotelesverächter, der die Griechen in seiner Poetik als Erfinder von Lügenmärchen bloßstellte, zum Kreis der ungenannten Widersacher gehört haben. Dachs Pro-loco-Dissertation kann deshalb als Verteidigung der für verschiedene Fächer (Dialektik, Physik) von der Universität Königsberg statutarisch vorgeschriebenen aristotelischen Philosophie gelesen werden. 63 Andererseits nehmen beide Universitätsschriften, in er_______ 62 63

›Eklektizismus‹ ist hier eine Begründungsdefizite bezeichnende Kategorie, im Gegensatz zum philosophiehistorischen Begriff der Eklektik. Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie (wie Anm. 14), Teil 1, Beilagen, Nr. 47, Statuten von 1554, S. 137 f.; Nr. 49, »Statuta facultatis artium & philosophiae posteriora«, S. 175. Wichtig der allgemeine Passus mit der vorsichtigen Revisionsbestim-

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ster Linie die Vorlesungsankündigung, die platonische Furorlehre zustimmend auf, was Simon Dach dem Florentiner Renaissanceplatonismus und der Deutschen Poeterey des Martin Opitz nahebringt, die der angehende Königsberger Poetikprofessor vermutlich kannte. 64 Dach stand mit seiner – von welcher Seite auch immer ihm vermittelten 65 – Aufnahme des italienischen Neuplatonismus nicht auf dem Niveau der Florentiner. Anders als Opitz ging er an der platonischen Metaphysik und an der Lehre der Sphärenharmonie vorbei 66 und rückte, im Gegensatz zu Marsilio Ficino, nicht die Kontemplation in den Vordergrund, sondern verstand mit Cristoforo Landino die poetische Tätigkeit als praxisbezogene vita activa. 67 Von Opitz’ platonisch beeinflußter Poetik unterscheidet sich Dachs Platonismus durch die größere Distanz zur magischen Tradition (Zoroaster). 68 Sowohl in der Ankündigungsschrift als auch in der Dissertation stehen aristotelische Nachahmung und platonischer furor beziehungslos nebeneinander. Auch den italienischen Neuplatonikern gelang die Vermittlung von aristotelisch geprägter Regelpoetik und göttlicher Begabung nicht, obwohl sie das Problem der Vereinbarkeit der beiden Philosophien besser erkannten als ihre deutschen Anhänger. 69 _______

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mung, ebd., Nr. 70, »Leges, quas se fideliter expleturos esse Magistri«, S. 411: »XI. Philosophiam Aristotelis, qui in hac Academia docendus, nemo inani dicacitate & novitatis pruritu sugillet aut vilipendat, sed in quibus Philosophus ille insignis aliqua non tetigit, modeste perficere ea quisque studeat.« Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem »Aristarch« (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen »Teutschen Poemata« (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der »Trojanerinnen«. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB, 18214), hier S. 16–22, inhaltliche Übereinstimmungen: »Das III. Capitel. Von etlichen sachen die den Poeten vorgeworffen werden; und derselben entschuldigung.« In der Dissertation sind es Strada und Tortoletti; für die Ankündigung bleibt die Frage vorderhand offen. Über Opitz’ Platonismus: Hans-Georg Kemper: Religion und Poetik. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer. Teil I. Wiesbaden: Harrassowitz 1995, S. 63–92; ders.: Platonismus im Barock. Martin Opitz’ Rede über die Dignität der Dichtkunst im Buch von der Deutschen Poeterey (Kapitel I–IV). In: »... auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Hg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof. Freiburg/Br.: Rombach 2004, S. 37–66. Steppich: Numine afflatur (wie Anm. 33); Liane Nebes: Der »furor poeticus« im italienischen Renaissanceplatonismus. Studien zu Kommentar und Literaturtheorie bei Ficino, Landino und Patrizi. Marburg: Tectum Verlag 2001, zu Ficino S. 19–111, zu Landino S. 112–148. Zur Diskussion des Verhältnisses von vita contemplativa und vita activa sowie zum Vorrang des aktiven Lebens und der Moralphilosophie vgl. August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg/Br. [u.a.]: Alber 1987, S. 266–270. Die Wirkung der magischen Tradition auf Opitz betont Kemper in den in Anm. 66 genannten Studien. Pythagoras wird von Dach zweimal in der Ankündigungsschrift und einmal in der Dissertation genannt, aber nicht im Zusammenhang mit Magie. Der Befund geht aus den Porträts der italienischen Platoniker bei Nebes: Der »furor poeticus« (wie Anm. 67) hervor; dazu auch Dietmar Till: Affirmation und Subversion. Zum Verhältnis von »platonischen« und »rhetorischen« Elementen in der frühneuzeitlichen Poetik. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000), Heft 1/2, S. 181–210,

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Dachs Utilitarismus mündete in eine Politisierung von Dichtung und Poetik, in ihrer beider Apotheose zur göttlich moderierten Kunst sowie in deren tendenzielle Abgrenzung von der auf einem tieferen, rein menschlichen Niveau politischer Willensbildung angesiedelten Rhetorik. Mit der Einbindung der Poesie in politische Zweckzusammenhänge und dem verstärkten Rekurs auf Aristoteles in der Dissertation sicherte Dach die Wahrheits- respektive Wirklichkeitsnähe der Poesie und schloß sie damit eng mit der praktischen Philosophie zusammen. Wie Scaliger ordnet er die Dichtung der Ethik und der Politik zu, vielmehr ihnen unter. 70 Und wie bei einzelnen Jesuiten sind für Simon Dach Poetik und Poesie Bestandteile der Staatslehre, Stützen des frühneuzeitlichen Territorialstaats. 71 Hierin trifft sich der Königsberger wiederum mit Martin Opitz, der zwar weit emphatischer den Nutzen der Poesie und der Poeten für das Vaterland pries, seine persönliche Vaterlandsliebe beteuerte und diese mit einer deutschsprachigen Poetik programmatisch unter Beweis stellte. Hinsichtlich der Positionierung und Bewertung der Poesie ergeben sich für Simon Dach jedoch gegenläufige Befunde. Als göttliche Wissenschaft steht sie zwar über der irdischen Zwecken dienenden Rhetorik, der sie aber als pragmatische und regelgeleitete Kunst in staatspanegyrischer Absicht andererseits wiederum angenähert wird. Der ›Gelegenheitsdichter‹ Simon Dach, der von seiner Kunst nicht gering dachte, hätte sich durchaus auf eine Stelle in Platons Staat berufen können, die sich auf die Dichter, nicht auf die Redner bezog. 72 _______

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mit der pointierten Gegenüberstellung von furor und ars (S. 199): »Erst der furor, nicht die im Kontext von Schule und Universität vermittelten Kenntnisse auf dem Feld der ars, garantierte einem Poeten wahre Exklusivität und Dignität.« Auf die Bedeutung von furor und ars im poetischen Schaffen Simon Dachs kann hier nicht eingegangen werden. In den dichtungstheoretischen Kleinschriften standen Fragen der poetischen Form, abgesehen vom Metrum ganz allgemein, nicht zur Debatte, was über ihren hohen Stellenwert im Werk Dachs hinwegtäuscht. Scaliger: Poetices libri septem (wie Anm. 25), Bd. 5: Buch 6 und 7. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Gregor Vogt-Spira (Buch 6) und Luc Deitz (Buch 7) (2003): Das siebte Buch der des Iulius Caesar Scaliger, das auch heißt, 1. Teil, 2. Kapitel: Die Einteilung der Dinge, S. 497: »[...] die Dichtkunst aber sei ein Teil der Staatsverfassung, der, obwohl er eine andere Beschaffenheit und ein anderes Aussehen hat als die Gesetze, dem Gesetzgeber untersteht. Denn was in den Gesetzen vorgeschrieben und was vom Volksredner und vom Leiter des Volkes als Rat vorgebracht wird, das wird, durch die klar umgrenzte und für sich stehende Tätigkeit der Dichtkunst mit Annehmlichkeiten versehen, zur Belehrung der Bürgerschaft bereitgestellt.« Gleich darauf warnt Scaliger, dessen Werk bekanntlich polemisch-kritische Stellen gegen die Griechen aufweist und Vergil Homer vorzieht, davor, die Poesie mit der Lüge gleichzusetzen. Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565 – 1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München: Beck 1979, hier das Beispiel Adam Contzens und das Kapitel »Die Funktionsbestimmung der Poesie in Contzens Staatslehre (1620)«, S. 148–155. Platon: Der Staat (Politeia). Übersetzt und hg. von Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 2001 (RUB, 8205), 10. Buch, 606e, S. 449: »[...] aber du mußt auch wissen, daß von allen Dichtungen allein die Hymnen auf Götter und die Loblieder auf gute Menschen in unserem Staat aufgenommen werden.«

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Im Herrscherlob der Dissertation versöhnte Dach Realität und Utopie miteinander und glich das im poetologischen Ansatz enthaltene Wertgefälle zwischen furor und ars in der dichterischen Praxis sozusagen aus. An deren Produkt könnte dann, folgerichtig, Poetik als Kunstlehre nie ganz herankommen. Am Wahrheitstenor sowie am Bekenntnis zum Nutzen der Dichtung hielt Simon Dach auch im langen Dankgedicht von 1647 an seinen Freund Robert Roberthin fest, in dem er sich unter anderem erneut veranlaßt sah, den Lügenverdacht von der Poesie abzuwenden. 73 Die beiden philosophischen Hauptautoritäten der Griechen garantierten in den Poetikreminiszenzen sowohl den Wahrheitsanspruch der Poesie als auch Autonomie im Verhältnis zu den Inhalten christlicher Dogmatik. Gleichzeitig gewährleisteten Platons Furorlehre und das Konzept der divina poesis die Präsenz einer im dichterischen Schaffen wirksamen göttlichen Instanz. Da diese begrifflich unbestimmt blieb, kam es ihretwegen nicht zu Konflikten mit den Inhabern des theologischen Lehrmonopols, umso mehr als Jerusalem in der Dissertation von Seiten des geistlichen Laien Dach die aus theologischer Warte gebührende Ehre zuteil wurde.

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Vgl. »Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen Churfürstl. Brand. Pr. OberSecretarium geschrieben 1647. 30. Julij« (KELLETAT, S. 79–89, hier S. 84): »Ob aber Iemand sey gebessert durch mein Spiel, | Da sag ich ietzt nicht von, gnug daß mein gantzes Ziel | Gewesen sey der Welt mit etwas wollen nützen, | Der Lügen Abbruch thun, die nackte Warheit schützen, | Den Lastern grausam seyn, der Tugend bester Freund, | Den trösten, der in Angst begriffen hertzlich weint.«

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ANHANG A. Einladung zur Antrittsvorlesung (1639) Quelle: Erstdruck, Exemplar der Biblioteka Narodowa Warszawa (Sign.: XVII.3.6325 adl.); verglichen wurde das zweite uns bekannte Exemplar im Besitz der Universitätsbibliothek Wrocáaw (alte Sign.: Rhed. 4 E 225a, 1; neue Sign.: 354319). Wie im Erstdruck sind auch bei uns alle Zitate hervorgehoben (bei uns allerdings in Kursivsatz, während im Erstdruck, dessen Grundschrift die übliche humanistische Kursive ist, umgekehrt die Zitate recte gesetzt sind).

Originaltext: Ad INAVGVRALEM ORATIONEM Lectionibus publicis in Professione Poëtica praemittendam Moecenates, Patres ac Cives Academicos, Officiosissimè invitat Simon Dachius. ______________ REGIOMONTI Typis Haeredum Segebadii, 1639. REliquae disciplinae res omnes, sive nudae sint contemplationis, sive regendis hominum actionibus destinatae, aequis inter se legibus partiuntur, ut suis quaeque limitibus se concludat, nec alterius invadat ditionem; nulla aliam in imperii societatem admittit, aut regni sui fines impune profert, quemadmodum enim indignatur Aeolo Neptunus, quod Trojanorum claßi tempestates immiserit, 74 Eurum ejusque comitem Zephyrum sic increpans: — — — Regi haec dicite vestro, Non illi imperium pelagi saevumque tridentem Sed mihi sorte datum, tenet ille immania saxa Vestras, Eure, domos, illa se jactet in aula Aeolus, et clauso ventorum carcere regnet, 75 ita nec ferret Mathematicus, si regnum ejus involaret naturae consultus, et lineam inde vel superficiem sibi licentiùs arrogaret; sola poëtica 76 facultas his soluta legibus videtur, quae ut antiquitate ita dominio artibus omnibus antistat; antiquitate quidem nulli concedit, si summorum virorum praecipuè Ciceronis _______ 74 75 76

immiserit Erstdruck. Verg. Aen. 1, 137–141. poëtica Erstdruck.

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admittimus authoritatem, qui doctorum et eruditorum hominum antiquißimos Poetas appellat, 77 nec injuriâ; numerosae 78 enim orationis vis cum rerum omnium incunabulis cepisse videtur, et quia certißimâ divinitatis ratione humano ingenio mirificè arridet quicquid metri legibus animatum proponitur, Sapientum primi de Dei cultu quaedam, et 79 virtutum praecepta numerorum dulcedine condivisse, eâque omnium rudes et agrestes hominum animos ad humanitatem revocasse putantur, id enim est, quod de Orpheo frequentatur, quem Arte materna rapidos morantem Fluminum lapsus celeresque ventos, Blandum et auritas fidibus canoris ducere quercus 80 Venusinus etiam vates testatur. His provecta initiis divina Poesis ad tantum sublimitatis fastigium pervenit, ut amplitudinis suae nullos propè terminos agnoscat, universam enim sapientiam, res divinas pariter et humanas ambitu suo complectitur. Domesticum hoc testimonium quis esse putet, et Sponsus Sponsam laudare dicar, at non poetas sed philosophos audiamus: Poesis est Philosophia, inquit Platonicus 81 , tempore quidem vetusta, compositio autem numeris concinna, atque sententia fabularum involucris tecta; rursus Philosophia, ejusdem testimonio, est Poesis tempore recentior, sensu planior. Poeticam 82 artem à philosophia non instituto, sed tempore et ortu, non rebus, sed numeris et modis sejunctam et diversam esse statuit: unde totam Socratis sapientiam, quam Aristoteles et Plato caeterique Philosophi studiosiùs excoluerunt, ad Homerum referebat Dio ille 83 , cui singularis linguae svavitas oris aurei nomen indidit. 84 Homericum enim Socratem vocari maluit, cum nonnullos è Philosophorum turba Socraticos dici audivisset, Homeri quippe sapientiam judicabat, quam et Socrates et ejus sectatores profiterentur: nec errasse tantum virum censebunt ii, qui Homeri institutum eo, quo decet, momento ponderabunt; cur enim Jovem regnis, Palladem Martemque bellis, Vulcanum opificiis, Aeolum ventis, Neptunum mari praefectos diceret divinus poeta, nisi ut singulas mundi partes orbemque universum diversis unius providentiae summae consiliis et potestatibus administrari ostenderet? cur Agamemnonis gravitatem, Achillis iracundiam, Vlyßis prudentiam, Thersitae temeritatem, Hectoris robur, Paridis mollitiem, Nestoris sapientiam, Ajacis et _______ 77 78

79 80 81 82 83 84

Cic. Tusc. 1, 3. numerosa Erstdruck (die Konjektur »numerosae« scheint im Hinblick auf den gedanklichen Kontext unbedingt angezeigt; vgl. auch die Verbindung »oratio numerosa« bei Cic. Or. 166, 168, 174, 180, 205, 210, 219, 220, 226, hier in der Bedeutung ›rhythmisierte [Prosa-]Rede‹). Fehlt im Text, aber als Kustos auf Bl. 1v vorhanden. Hor. c. 1, 12, 9–12. Der Platoniker, den Dach hier zitiert, konnte nicht ermittelt werden (s. auch Anm. 102). planior, poeticam Erstdruck. Dion Chrys., Oratio 55 (»Homer und Sokrates«). indidit, Erstdruck.

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Diomedis magnanimitatem in elegantißimo suo poemate paßim ob oculos poneret, cur praeclarè et rectè facta suis laudibus ornaret, flagitiis verò tanta severitate irasceretur, nisi musico illo scribendi genere idem ipsum, quod postea Socrates aliique Philosophi conati sunt, jam tum assequi studuisset? omitto Hesiodum, Pythagoram, Theognidem et generosam Tragaedorum sapientiam, qui quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non, pleniùs ac meliùs Chrysippo et Crantore dicunt. 85 Quare illorum judicii me miseret, qui, cum artis hujus dignitatem non assequantur 86 , admodum frigidè de eadem sentiunt, et mendaciis rebusque frivolis eam occupari existimant; res pulcerrimas ipsumque adeò coelum terramque vidisti, at nihil extra Poesin complexus es. Limites non admittit nisi quos Vniversum. Deum rerum omnium conditorem credit pietas, Poetam conditarum imitatorem dicit Sapientum consensus. Quacunque vult liberrimè vagatur Poesis, suaeque sedem divinitatis constituit. In coelo cum aeternis mentibus moratur, et admirandae corporum coelestium consensionis speciem sibi imprimit. Maris et tempestatum violentiam inconcussa sustinet, ventorumque fremitus suum putat concentum. Inferorum loca aequè liberè ac Majae filius accedit, Elisiorum felices campos lustrat, exilia sontum imperterrita spectat, et à Tantalo Sisyphoque quàm diu vult judice Aeaco aut Rhadamanto poenas exigit. Cum Euclide terrarum spatia metitur, cum Tityro pastorem agit, cum Varrone rusticatur, cum Solone aut Lycurgo leges sancit, cum Aesculapio morbis medetur, cum Scipione aciem instruit, cum Tiphy aut Palinuro navem gubernat, cum Platone Rempublicam format, cum Demiphone indignatur, cum Romulo urbem dominam condit, ut difficile sit quicquam moliri, cujus illa partem sibi non vindicet. Omnia penetrat, notat, digerit, numerisque suis aptat, nonnulla addit, defectus supplet, multa corrigit, omnia fingit, ut Aristoteles Poetam philosophum dicat perfectioni inhiantem, et non quemadmodum res fuerint, sed qua ratione fieri debuerint, exhibentem. 87 Promant nunc importuni rerum censores, qui divinam poeticen sugillant, si quid habent, quod illos coquat et verset sub pectore fixum 88 , mendaciis eam refertam esse dicent? ô capita, quibus sanandis ne tres quidem Anticyrae 89 suffecerint! utinam hi Davi tàm vecordes non essent, et persvaderi sibi paterentur, quid prudens antiquitas his figmentorum et fabularum deliciis sibi voluerit, nempe nihil aliud, quam ut illarum svavitate juventus incantata virtutem ipsam, cujus perceptio per se amara est, ultrò degustaret. Mandragoram juxta vites nascentem, refert Plutarchus 90 , _______ 85 86 87 88 89 90

Hor. epist. 1, 2, 3 f. (Horaz hat in V. 4 »dicit«; von Dach mit Rücksicht auf seinen Redekontext abgewandelt). assequuntur Erstdruck. Aristot. poet. 9, 2 f. Nach Enn. ann. 335 ff.: »O Tite si quid ego adivero curamve levasso | Quae nunc te coquit et versat in pectore fixa, | Ecquid erit praemii?«. tres ... Anticyrae] Nach Hor. ars 300. Plut. mor.: »Quomodo adolescens poetas audire debeat«, 15 F.

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vim suam cum vino communicare, quod qui hauserint, svaviùs dormiunt. Eandem 91 fabulae dulcedinem austeris Philosophorum praeceptis 92 infundunt, eorumque usum multò svaviorem degustantibus efficiunt. Sed cum iisdem Thessalis mihi rem esse intelligo, qui stupidiores sunt, quàm ut has carminum illecebras eò excogitatas intelligant, quibus solis jam olim Simonides Lyricus fabularum suarum svavitatem, quam tota Graecia admirabatur, probare propter illorum ruditatem non poterat, nec eâdem illos decipere. Nulla re magis se commendat Poeta quam novitate, ad hanc obtinendam semper eum aliquid fingere et comminisci convenit. Non est Poeta nisi qui delectat, non delectat, nisi qui novitate placet, novitate non placet, nisi qui fingit, ut sine figmentis poema condere sit corpus sine anima et sensu exhibere. Huc respexisse Socratem constat, cum fabellas Aesopicas, admonitus à Deo per somnium, ut poeticen experiretur, sibi deligeret, animam carminis figmentum esse judicans. 93 Verùm ignoscimus horum ignorantiae, qui ejusmodi figmentum à mendacio, candidum à nigro haut meliùs discernunt quàm qui nondum aere lavantur, 94 illis autem non item, qui Reipublicae bono Poetis interdicunt, et causae suae patronum Platonem adducunt, qui è civitate eos turbat. 95 Digni sunt quibus grandem dicam impingat divinus Plato, qui ubique tam honestè, tam integerrimè de Poetis sentit, qui praesentißimo numine eos afflari testatur 96 , qui ipse à carminum cantu non abstinuit; hic Deorum interpretes, sacrorum mystas, sapientiae magistros è Republ. pellat? nunquam tàm averso à se animo optimum Philosophum credamus. Movet nonnullos sua civitate, sed ludiones, sed sacrorum profanatores, sed juvenum corruptores, et Reipubl. 97 pestes, qui falsò poetarum nomen sibi arrogant, divinamque Poesin turpe prostibulum faciunt. Quod si innocuam Vatum gentem profligat, Solonem, Pythagoram, Socratem suum, Aristotelem et infinitos alios, denique semetipsum ejicit, quorum plerique omnem in fingendis carminibus operam posuerunt, quidam, licet alia scriberent, Poeticam Reipubl. perutilem minimè neglexerunt. Sed vereor, ne poeticae artis dignitatem in dubium vocem, qui quidem pro ea tantopere decertem; 98 splenduit sua luce hactenus, suumque splendorem magnificè ipsa tutabitur, quae semper tot reges et principes terrarumque dominos sui invenit cultores, utcunque livor summam ejus claritatem obnubilare contendat. Vos, Moecenates ac Patroni, Studiosorumque nobilißima 99 et doctißima pectora, vos ego nunc praecipuè, vel ut veriùs loquar, meis verbis divina Poesis compellat, quae Dei ter _______ 91 92 93 94 95 96 97 98 99

dormiunt, eandem Erstdruck. Notwendige Ergänzung der Bearbeiter. Plat. Phaid. 4, 60d–61b. Iuv. 2, 152. Plat. rep. 3, 398a. Plat. Ion 533e–534e. Reipl. Erstdruck. decertem, Erstdruck. nobiliǕiima Erstdruck.

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Opt. Max. consilio, Serenißimi et Potentiß. Principis ac Dn. Dn. GEORGII VVILHELMI Marchionis Brandeb. S. Rom. Imp. ArchiCamerarij et Electoris, in Prußia, Juliae, Cliviae, Montium, Stetini, 100 Pomeraniae Ducis etc. etc. etc. Dn. et Nutricij nostri Clementiß. jussu, ad commendationem Ampliß. nostratis Academiae Senatus, me praeter omnem spem Antistitem suum hîc nacta est, jamque monet ut eorum, quos dixi, auspiciis sacra ejus ingrediar Sacerdos, quod ipsum ne publico quodam testimonio careret, ipsis Kal. Nov. h. matut. volente Deo, orationem publicè habere constitui, quae sanctißimae Poeseos innocentiam et castitatem pro ingenii mei tenuitate asserere laborabit, ut qui irreverentiùs eam imposterum tractaverint, patienter audiant — — —

locus est sacer, extra Mejite. 101

Videtis quid à vobis flagitet argumentum, cujus nomine et ego vos obtestor, ut ea humanitate et benevolentia, quam rei literariae debetis, me dicentem frequentes cohonestetis, et studia mea vel sic etiam provehatis, cujus demerendi voluntatem nunquam non promptißimam experiemini. Caeterum lectionum mearum initium Dn. Studiosis schedula loco solito affixa, ubi commodum erit, significabit.

Übersetzung: Zur Antrittsvorlesung, die den öffentlichen Vorlesungen im Fach Poetik vorauszuschicken ist, lädt die Mäzene, Väter und Bürger der Universität in aller Dienstfertigkeit Simon Dach. 1639. Die übrigen Disziplinen teilen alle Gegenstände, seien sie zu reiner Kontemplation oder zur Leitung menschlicher Handlungen bestimmt, nach gerechten Regeln untereinander ab, so daß eine jede sich innerhalb ihrer Grenzen einschließt und nicht in den Machtbereich einer zweiten einfällt. Keine Disziplin erlaubt einer anderen die Teilhabe an ihrem Regiment oder weitet die Grenzen ihrer [eigenen] Herrschaft ungestraft aus – wie ja auch Neptun sich über Aeolus empört, weil er der Flotte der Trojaner Stürme geschickt hat, und den Eurus und dessen Gefährten Zephyrus folgendermaßen ausschilt: »Sagt dies eurem König: Nicht ihm ist durchs Los die Herrschaft über das Meer und der schreckliche Dreizack gegeben worden, sondern mir. Er herrscht über die wilden Felsen, euren Wohnsitz, Eurus. In jenem Palast mag Aeolus sich brüsten und herrschen, indem er den Kerker der Winde verschlossen hält.« _______ 100 101

Stetini Erstdruck. Pers. 1, 113 f.

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So würde ein Mathematiker es nicht hinnehmen, wenn ein Naturwissenschaftler in sein Reich einfiele und daraus ganz willkürlich Linie oder Fläche für sich beanspruchte. Von diesen Regeln scheint allein die Dichtkunst entbunden zu sein, die ebenso durch ihr hohes Alter wie durch ihr Herrschaftsgebiet vor allen Künsten Vorrang hat. Hinsichtlich ihres hohen Alters steht sie allerdings hinter keiner zurück, wenn wir die Autorität höchstrangiger Männer, vornehmlich die Ciceros, beiziehen, der die Dichter als die historisch ältesten von allen Wissenschaftlern und Gelehrten bezeichnet, und dies nicht zu Unrecht. Die Macht der taktmäßig abgeteilten Rede scheint nämlich zusammen mit den Ursprüngen aller Dinge begonnen zu haben, und weil nach ganz unbezweifelbarem Ratschluß der Gottheit dem menschlichen Geist alles außerordentlich behagt, was in einer durch die Regeln des Metrums beseelten Gestalt vorgetragen wird, haben die ersten Weisen, wie man meint, bestimmte Gebote für Gottesverehrung und tugendhaften Wandel mit der Süße von Versmaßen gewürzt und durch sie die rohen und bäurischen Gemüter aller Menschen in einen Zustand der Kultiviertheit überführt. Das nämlich ist es, was häufig von Orpheus gesagt wird, der, wie auch der Dichter aus Venusia [= Horaz] bezeugt, »mit seiner von der Mutter ererbten Kunst den reißenden Strom der Flüsse und die schnellen Winde aufhielt und mit helltönendem Saitenspiel die lauschenden Eichen schmeichlerisch anzog.« Von diesen Anfängen weiter fortschreitend hat die göttliche Poesie einen so hohen Gipfel an Erhabenheit erreicht, daß sie beinahe keine Grenzen ihrer Ausdehnung anerkennt: In ihrem Umkreis erfaßt sie nämlich die gesamte Weisheit, die göttlichen ebenso wie die menschlichen Dinge. Jemand könnte meinen, daß Vorliegendes ein Zeugnis in eigener Sache sei, und man könnte von mir sagen, daß ich als Bräutigam die Braut lobte. Doch wollen wir nicht die Dichter, sondern die Philosophen hören. Der Platoniker 102 sagt: »Die Poesie ist Philosophie, und zwar die in früher Zeit; ihre Darstellung aber ist dank der Versmaße von gefälliger Form, und ihr Sinn ist unter der Umhüllung von Erdichtungen verborgen.« Umgekehrt ist, wie derselbe Autor bezeugt, die Philosophie Poesie: eine aus neuerer Zeit und von ganz offen zutage liegendem Sinngehalt. Er ist der Auffassung, daß sich die Kunst der Poesie von der Philosophie nicht der Zielsetzung nach, sondern nach Zeit und Ursprung, nicht hinsichtlich der Gegenstände, sondern hinsichtlich der Takte und Versmaße absetze und unterscheide. Deshalb führte jener berühmte Dion 103 , dem die einzigartige Süße seiner Zunge den Beinamen ›Goldmund‹ [Chrysostomos] eingebracht hat, die gesamte Weisheit des Sokrates, die Aristoteles und Platon und die übrigen Philosophen hingebungsvoll verehrt haben, auf Homer zurück. Ihm wäre es nämlich lieber ge_______ 102

103

Offenbar kein antiker lateinischer Autor. Eine frühneuzeitliche Quelle (zu denken wäre hauptsächlich an Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola und Cristoforo Landino) war aber bisher auch nicht zu ermitteln. Dion Cocceianus von Prusa, mit dem Beinamen Chrysostomos, griechischer Redner, Philosoph und Schriftsteller (geb. um 40 n. Chr.).

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wesen, wenn Sokrates als ›Homeriker‹ bezeichnet worden wäre, als er gehört hatte, daß einige aus der Schar der Philosophen als Sokratiker bezeichnet wurden. Seinem Urteil nach war es nämlich die Weisheit Homers, die sowohl Sokrates als auch dessen Schüler gelehrt haben. Daß dieser große Mann nicht geirrt hat, werden diejenigen beurteilen können, die die Absicht Homers nach ihrer Bedeutung gebührend abschätzen werden. Warum nämlich sollte der göttliche Dichter gesagt haben, daß Jupiter die Oberherrschaft über die Königreiche, Pallas und Mars über die Kriege, Vulkan über die Handwerke, Aeolus über die Winde, Neptun über das Meer innehabe, wenn er nicht hätte aufzeigen wollen, daß die einzelnen Teile der Welt und der gesamte Erdkreis von den unterschiedlichen Ratschlüssen und Gewalten einer einzigen höchsten Vorsehung gelenkt werden. Warum hätte er die Majestät Agamemnons, den Zorn des Achilles, die Klugheit des Odysseus, des Thersites Unüberlegtheit, Hektors Körperkraft, des Paris Weichlichkeit, Nestors Weisheit, des Ajax und des Diomedes Hochherzigkeit überall in seiner höchst geschmackvollen Dichtung vor Augen führen sollen, warum hätte er vortreffliche und rechtschaffene Taten mit seinem Lob auszeichnen, über Schandtaten aber mit so großer Strenge zürnen sollen, wenn er nicht darauf bedacht gewesen wäre, mit jener berühmten dichterischen Schreibart damals schon genau dasselbe zu erreichen, was später Sokrates und andere Philosophen unternommen haben. Ich übergehe Hesiod 104 , Pythagoras 105 , Theognis 106 und die edle Weisheit der Tragiker, die, »was schön, was schimpflich, was nützlich und was nicht, umfassender und besser sagen als Chrysippos 107 und Krantor 108 .« Deshalb dauert mich das Urteil derjenigen, die, da sie die Würde dieser Kunst nicht begreifen, von ihr eine ganz oberflächliche Meinung haben und glauben, daß sie mit Lügen und nichtsnutzigen Dingen beschäftigt sei. Du hast die schönsten Dinge, ja sogar den Himmel selbst und die Erde gesehen, doch hast du [damit] nichts erfaßt, was außerhalb der Poesie läge! Sie läßt keine Grenzen zu, die nicht auch das Weltall zuließe. Die Frömmigkeit glaubt, daß Gott der Schöpfer aller Dinge sei. Die übereinstimmende Meinung der Weisen sagt, daß der Dichter der Nachahmer der geschaffenen Dinge sei. Wo immer sie will, streift die Poesie umher und errichtet sie den Thron ihrer Göttlichkeit. Im Himmel weilt sie mit den ewigen Geistern und prägt sich den Glanz bewundernswerter Übereinstimmung mit himmlischen Leibern auf. Dem Ungestüm des Meeres und der Stürme hält sie unerschütterlich stand, und in dem Brausen der _______ 104 105

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Hier ist an Hesiods Lehrgedicht »Werke und Tage« zu denken. Dach denkt hier vermutlich an die dem Philosophen des 6. Jh.s v. Chr. fälschlich zugeschriebenen ›Goldenen Worte‹, 71 Hexameter (vermutlich aus dem 4. Jh. n. Chr.), die die Grundsätze der pythagoreischen Ethik enthalten. Theognis von Megara, griechischer Dichter des 6./5. Jh.s v. Chr., verfaßte lehrhafte Gedichte. Chrysippos von Soloi (3. Jh. v. Chr.), griechischer Philosoph (Stoiker). Krantor von Soloi, griechischer Philosoph des 4./3. Jh.s v. Chr., Platon-Kommentator, Begründer der Trostliteratur.

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Winde sieht sie ihren eigenen harmonischen Gesang. Die Orte der Unterwelt betritt sie ebenso furchtlos wie der Sohn der Maja 109 , die seligen Gefilde der Elysier durchwandert sie, unerschrocken beschaut sie die Verbannungsorte der Missetäter, und unter dem Richter Aeacus oder Rhadamanthus 110 bestraft sie Tantalus und Sisyphus, solange sie will. Mit Euklid mißt sie die Ausdehnungen der Länder, mit Tityrus 111 spielt sie die Rolle des Hirten, mit Varro 112 treibt sie Landwirtschaft, mit Solon oder Lykurg gibt sie Gesetze, mit Äskulap heilt sie Krankheiten, mit Scipio 113 stellt sie eine Schlachtreihe auf, mit Tiphys 114 oder Palinurus 115 lenkt sie ein Schiff, mit Platon gestaltet sie den Staat, mit Demipho 116 entrüstet sie sich, mit Romulus gründet sie die Herrscherin Rom, so daß es schwierig ist, irgend etwas ins Werk zu setzen, an dem sie nicht Teilhabe für sich beanspruchen kann. Alles durchdringt, kennzeichnet und ordnet sie, alles paßt sie ihrem Taktmaß an, einiges fügt sie hinzu, Fehlendes ergänzt sie, vieles verbessert sie, alles gestaltet sie, so daß Aristoteles den Dichter einen Philosophen nennt, der begierig sei nach Vollkommenheit und die Dinge nicht so darstelle, wie sie gewesen seien, sondern wie sie hätten geschehen sollen. Mögen sich nun die strengen Kritiker, die die göttliche Poesie beschimpfen, mit aller Härte äußern, falls sie etwas haben, was »sie ängstigt und, fest im Herzen sitzend, in Unruhe versetzt«. Werden sie sagen, daß sie mit Lügen angefüllt sei? O Häupter, zu deren Heilung nicht einmal ein dreifaches Anticyra 117 hinreichend wäre! Wenn doch diese schlichten Gemüter 118 nicht so von Sinnen wären und sich davon überzeugen ließen, was das kluge Altertum mit diesen Köstlichkeiten an Erdichtungen und Mären beabsichtigt hat, nämlich nichts anderes als dies: daß die Jugend, bezaubert von deren Süßigkeit, gerade die Tugend, deren Aneignung für sich genommen bitter ist, freiwillig kostete. Plutarch berich_______ 109 110 111 112

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Merkur, hier in seiner Funktion als Todesbote, der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt geleitete. Zwei der drei Richter in der Unterwelt. Hirtenname bei Theokrit und Vergil. Der römische Gelehrte und Dichter M. Terentius Varro (116 – 27 v. Chr.) schrieb ein Buch über die Landwirtschaft (»De re rustica«); es ist das einzige unter seinen zahlreichen Werken, das sich vollständig erhalten hat. Scipio Africanus d. Ä., der 202 v. Chr. Hannibal in der Schlacht bei Zama besiegte. Ebensogut könnte aber auch dessen Enkel, Scipio Africanus d. J., gemeint sein, der 146 v. Chr. Karthago eroberte und zerstörte. Der Steuermann der Argonauten bei ihrer Fahrt nach Kolchis zur Erlangung des Goldenen Vlieses. Steuermann des Aeneas in Vergils »Aeneis«. Figur in Terenz’ »Phormio«. Demipho entrüstet sich darüber, daß sein Sohn Antipho in seiner Abwesenheit ein armes Mädchen geheiratet und damit seine anderweitigen Pläne vereitelt hat. Griechische Stadt, in deren Umgebung viel Nieswurz wuchs, den die Bewohner als Heilmittel vor allem gegen Geistesstörungen vertrieben. Im lateinischen Text steht hier als Subjekt des Satzes »Davi«, d.h. ›Leute wie Davus‹: Anspielung auf einen sprichwörtlich gewordenen Ausspruch des Sklaven Davus in Terenz’ »Andria«, V. 194: »Davos sum, non Oedipus« (»Ich bin Davus, nicht Oedipus«, will sagen: »Ich kann keine Rätsel lösen«). Vgl. A[ugust] Otto: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer. Leipzig: Teubner 1890 [ND Hildesheim: Olms 1964], S. 252.

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tet, daß der Alraun, der in der Nähe von Weinstöcken wachse, dem Wein von seiner Kraft mitteile. Die, die von diesem Wein getrunken haben, schlafen süßer. Die gleiche Süße der Erdichtung lassen die Dichter in die herben Lehren der Philosophen einfließen und machen [so] deren Anwendung für die, die von ihnen kosten, um vieles süßer. Doch ich sehe ein, daß ich mit denselben Thessaliern zu tun habe, die zu dumm sind, als daß sie verstehen könnten, daß diese poetischen Lockmittel zu diesem Zweck ersonnen wurden – denselben Thessaliern, die schon vor langer Zeit die einzigen waren, denen der Lyriker Simonides die Süße seiner Dichtungen, die ganz Griechenland bewunderte, wegen ihrer Unwissenheit nicht schmackhaft machen und die er mit dieser [Süße] auch nicht bestechen konnte. 119 Durch nichts empfiehlt sich der Dichter mehr als durch Neuheit. Um diese zu erreichen, sollte er ständig irgend etwas erfinden und ersinnen. Nur der ist ein Dichter, der unterhält; nur der unterhält, der durch Neues Gefallen findet; durch Neues Gefallen erregt nur der, der erfindet, so daß das Verfassen eines poetischen Werkes ohne Erfindungen ebenso ist, als führe man einen Körper ohne Seele und Geist vor. Bekanntlich hat Sokrates hieran gedacht, als er sich, vom Gott im Traum ermahnt, sich der Poesie zuzuwenden, für die äsopischen Fabeln entschied, in der Meinung, daß die Seele der Dichtung die Erfindung sei. Doch wir haben Nachsicht mit der Unwissenheit derer, die diese Art der Erfindung von der Lüge, das Weiße vom Schwarzen, nicht besser zu unterscheiden vermögen als die, »welche noch ohne Geld baden« 120 . Die gleiche Nachsicht haben wir jedoch nicht mit denen, die gegen die Dichter zum Wohle des Staates den Bann aussprechen und als Patron ihrer Sache Platon anführen, der sie [die Dichter] aus der Bürgerschaft vertreibt. Sie haben verdient, daß der göttliche Platon ihnen einen großen Prozeß anhängt: der Platon, der überall so anständig, so gänzlich vorurteilslos über die Dichter urteilt, der bezeugt, daß sie von einer sehr lebendigen göttlichen Macht angehaucht werden, der sich [auch] für seine eigene Person lyrischen Gesangs nicht enthalten hat. Dieser Mann sollte die Deuter der Götter, die Priester der Heiligtümer, die Lehrer der Weisheit aus dem Staat vertreiben? Niemals wollen wir glauben, daß der vortreffliche Philosoph so feindselig gegen sich selbst eingestellt sei! Einige befördert er aus seinem Staat hinaus, allerdings Possenreißer, allerdings Schänder von Heiligtümern, allerdings Verderber der Jugend und Geißeln des Staates, die fälschlich den Namen von Dichtern für sich beanspruchen und aus der göttlichen Poesie ein schändliches Bordell machen. Falls er etwa das unschuldige Volk der Dichter unterdrückt, wirft er [auch] Solon, Pythagoras, seinen [Lehrer] Sokrates, Aristoteles und zahllose andere, schließlich auch sich selbst hinaus: [Persönlichkeiten], von denen die meisten alle Mühe auf das Erfinden von _______ 119 120

Ein entsprechendes Urteil des griechischen Lyrikers Simonides (6. Jh. v. Chr.) über die Thessalier teilt Plut. mor. mit (»Quomodo adolescens poetas audire debeat«, 15 D). D.h. kleine Jungen (die in römischen Badeanstalten umsonst baden durften).

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Dichtungen verwendet haben und etliche, obwohl sie anderes schrieben, doch die dem Staat sehr nützliche Poesie keineswegs vernachlässigt haben. Doch ich fürchte, daß ich gegen die Würdigkeit der Dichtkunst Zweifel erwecke, indem ich so energisch für sie kämpfe. Sie hat bisher durch ihr eigenes Licht geglänzt und wird ihren Glanz ruhmvoll selbst verteidigen, sie, die stets in so vielen Königen, Fürsten und Landesherren ihre Verehrer gefunden hat, wie sehr auch die Mißgunst darauf hinarbeitet, ihre unerhörte Helligkeit zu verfinstern. Zu euch, Mäzene und Schirmherren, edelste und gelehrteste Herzen der Studenten, zu euch spreche ich jetzt vornehmlich oder, um mich treffender auszudrücken, zu euch spricht mit meinen Worten die göttliche Poesie, die mich nach dem Ratschluß des dreimal besten und größten Gottes durch Weisung des durchlauchtigsten und mächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Georg Wilhelms, Markgrafen von Brandenburg, des Heiligen Römischen Reichs Erzkämmerers und Kurfürsten, Herzogs in Preußen, von Jülich, Kleve, Berg, Stettin, Pommern usw. usw. usw., unseres gnädigsten Herrn und Ernährers, entsprechend der Empfehlung des Rates unserer heimischen Universität, gegen alle Hoffnung hier zu ihrem Vorsteher bekommen hat und mich schon ermahnt, daß ich unter den Auspizien der genannten Persönlichkeiten als Priester in ihr Heiligtum eintrete. Damit gerade dies nicht eines gewissen öffentlichen Zeugnisses entbehrt, habe ich beschlossen, just am 1. November, zur morgendlichen Stunde, so Gott will, eine öffentliche Rede zu halten, welche darauf bedacht sein wird, die Unschuld und Keuschheit der hochheiligen Poesie, soweit mein bescheidenes Talent dies zuläßt, zur Geltung zu bringen, damit diejenigen, die sie künftighin nicht mit der gebührenden Hochachtung behandeln, sich geduldig [diese Mahnung] anhören: »Der Ort ist heilig. Pißt draußen.« Ihr seht, was die Thematik von euch verlangt, in deren Namen auch ich euch beschwöre, daß ihr meine Vorlesung mit derjenigen Menschlichkeit und freundlichen Zuwendung, die ihr der Literatur schuldig seid, in großer Zahl beehrt und meine Bemühungen gerade auf diese Weise befördert. Ihr werdet die Erfahrung machen, daß der gute Wille, mich dessen würdig zu erweisen, jederzeit sehr rege sein wird. Im übrigen wird ein am gewohnten Ort angehefteter Zettel zu gegebener Zeit den Herren Studenten den Beginn meiner Vorlesungen anzeigen.

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B. Trias assertionum (Pro-loco-Disputation). 1640. Quelle: Bis einschl. Bl. A4v nach dem einzigen heute nachweisbaren, aber leider unvollständigen Exemplar der Biblioteka Narodowa Warszawa (Sign.: XVII.3.7608); der Rest (These III) nach: ZIESEMER II, S. 337–343, hier nach dem heute verschollenen Exemplar des Originaldrucks in der Bibliothek des Kollegiatstifts in Guttstadt/Ostpr.

Originaltext: TRIAS ASSERTIONUM Ad rem poëticam spectantium. In Academia Electorali Brandeburgica, quae Regiomonti Borussor. est, exigentibus id Philosoph. Facultatis statutis, PRO LOCO publicae disquisitioni subjecta PRAESIDE M. SIMONE DACHIO Memel. Borusso Poët. Prof. Publ. RESPONDENTE CHRISTOPHORO ROMANO Borusso. In Auditorio Majori ad diem 18. et 19. Octob. horis antemeridianis. —— REGIOMONTI Literis REUSNERIANIS 1640. SERENISSIMO et POTENTISSIMO PRINCIPI ac DOMINO DN. GEORGIO WILHELMO MARCHIONI BRANDEBVRGENSI, SAC. ROM. JMPERII ARCHICAMERARIO et ELECTORI, PRUSSIAE, JULIAE, CLIVIAE, MONTIUM, STETINI, POMERAN. CASSUBIORUM, VANDALORUM, NEC NON IN SILESIA CROSNAE, et CARNOVIAE DUCI, BURGGRABIO NORIBERGENSI, PRINCIPI RUGIAE, COMITI MARCAE et RAVENSBURGI, DNO. IN RAVENSTEIN etc. etc Domino suo Clementissimo. ILlustre sidus, inclytumque Brennonum Decus, GEORGI GUILLIELME, quo 121 nostras Regente terras, gens Borussa, floremus, Et Martis iras, horridamque Bellonam Ridemus, aureosque ducimus soles. Haerere cesso, consecrem Tibi, necne _______ 121

qno Erstdruck.

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Tàm vile munus, tamque nullius rei 122 , Et quod decere neutiquam Ducem possit Inter nitentem Principes, velut stellas Vincit minores, noctium decus, Luna. Si, quicquid unda vendit Indus Eoa, Parensque nobis alma Memnonis mittit, Tibi laborem ferre, nil agam vecors; Felicitas quod hinc nihil Tua augescit, Quae major omni copiâ, beatorum Rebus Deorum par agitque, temnitque Quodcunque luxus, aut superba mens offert, Praeter quod humile pectus, et pium voto Litans modesto dedicat sacro ritu, Hoc ecce porto debitae calens aestu Devotionis hisce testibus chartis; Quae forté si quod pondus obtinent gratum, Id eruditis maximè Viris, quorum Coelum sub ipsum fama se levat, debent. Tu munus isthoc, summe Dux, eo clemens Admitte vultu, quo Borussiam et gentes Terrasque, Phoebus, tot soles serenare. Placata per Te sic solum colat semper Astraea, segnis aetheri redonari! Sic alta praestet Teque nosque pax tutos! Sic esto fusis justus hostibus terror! Sic firma stirpis BRANDEBURGICAE dici Pergas columna, grandeque imperI lumen! Serenissimae Suae Celsitudini domuique Brandeburgicae devotissimus Simon Dachius. ERuditorum examini tres sistimus assertiones, è divite poëseos penu depromptas 123 ; nec enim aliunde petere debet, cui domi suae, unde debitum solvat, affatim suppetit. Noluimus autem novitatem ostentare, quandoquidem per tot secula tot sagacissimorum ingeniorum summos conatus et industriam nihil effugere potuit, quin occupatum jam tritumque audire possit: Sed cum de eligenda materia cogitaremus, quae non iucunda tantùm esset, sed aliquam etiam utilitatem prae se ferret, incidimus in tres Clarissimos gravissimosque viros, quorum in diversis argumentis dignitate sua nos capientibus, sententiam non _______ 122 123

reji Erstdruck. de promptas Erstdruck.

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potuimus non probare. Quapropter assertiones has ex illis excerpere, et publicae Eruditorum censurae subjicere non dubitavimus, libenter authoritati illorum valedicturi, ubi aliud modestè edocti fuerimus. I. Verum ad Poësin omninò pertinet, nec quia fingit, idcirco mentiri existimandus est poeta. Hanc cum Barthol. Tortoletto in Juditha vindicata obj. 3. 124 tenemus, et iis, qui falsum poëticae tractationis esse contendunt, opponimus. Cum enim poëta, secundum Thomam Campanellam 125 , et omne verum et omne bonum svadeat, adeoque ad res omnes, divinas pariter ac humanas sese extendat, quomodo falsum tractet, 126 in mentem non venit. Nulla certè vel ex superioribus facultatibus, vel tota Philosophia pars est, quam non Poësis attingat. Ita namque Psalmodia Davidis res divinas admirando celebrat cantu, et ex prophetis quidam, et Debora, aliique sacrarum literarum mystae poëtico incensi afflatu idem felicissime praestant. Hieronymus Vida Christiadem concinnavit. Prudentius, Sedulius, et alii praecipua Theologiae capita carminibus et hymnis descripserunt. Solon leges carmine tulit. Nicander de Medicis tractavit. Empedocles et Lucretius res naturales poëtice docuerunt. Virgilius et Hesiodus agriculturae praecepta tradiderunt. Theognis, Phocylides, Pythagoras optimè de moribus carmine praeceperunt. Qui omnes verum secuti sunt, et à falso penitus abstinuerunt. Porrò species fabularum, secundum Aristotelem 127 connumerantur, Tragoedia, Epopoeia, Dithyrambico-poëtica, et Comaedia 128 : ad omnes autem verum spectare patebit. Tragoediam definit Arist. imitationem actionis probae etc. 129 unde agentes imitatur Tragoedia, ubi Tragoedo pro sua libidine à vero discedere minimè licet, sed semper ad agentium mores ipse respicere, eosque dramaticè imitari jubetur. Vera etiam nomina potissimùm in Tragoedia retinentur: sub veris autem nominibus res veras quoque comprehendi necesse est; sunt enim nomina personarum illustrium, quorum res gestae neminem latere possunt, cum non in occulto principum regumque facta, sed in orbis totius proscenio versentur. Adde quod ad certas familias, easque paucas adstringitur Tragoedia eam praecipuè ob causam, ut vaga illa novos casus comminiscendi licentia poëtae adimatur, et veritas actionum accuratiùs observetur. Quapropter Agathonis florem totum confictum non laudare sed indulgere amico videtur Aristoteles. 130 Epopoeiae eadem est ratio, nam et haec _______ 124

125 126 127 128 129 130

Tortolettus: Iuditha (wie oben Anm. 29), hier: Iuditha vindicata, Obiectio 3, S. 252–274 (Überschrift: »Tertiae obiectioni satisfit; ex Historia, eaque sacra ritè derivari poëma posse demonstratur«). Campanella: Rationalis philosophiae pars quarta (wie oben Anm. 34), hier S. 219, Z. 18 ff., und S. 221, Z. 27 ff. tractet Erstdruck. Aristot. poet. 1, 2. Commaedia Erstdruck. Aristot. poet. 6, 2. Aristot. poet. 9, 7.

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agentes imitatur, et vera nomina plurimùm retinet, quare nec in ea verum desiderari convenit. Dithyrambico-poëtica veras Deorum Heroumque laudes tibia imitabatur, quos pro arbitrio novos fingere neutiquam concedebatur, ut nec haec à vero abesse possit. Comaedia autem difficultatis nonnihil habere videtur, quod et rem fingit, et fictis etiam nominibus utitur: verùm et haec certa ratione veritatem sectatur. Nihil enim absonum, aut falsum introducere debet, sed veros senum, juvenum, servorum, meretricum etc. mores semper observat Comicus, ne, si à veritate recedat, fidem fabulae deroget, seque spectatoribus deridendum propinet. Hoc 131 erat, quod Flaccus noster Respicere exemplar vitae, morumque jubebat Doctum imitatorem, et veras hinc ducere voces. 132 Nec impedit, quod Aristoteles l. de re poët. c. 9. inquit. 133 Non esse poëtae munus tàm facta dicere, quàm qualia fieri debeant et possint, explicare. Et philosophum agere poëtam, qui universalia tractet, singularia autem Historico relinquat: nam nec omninò rem veram, quo pacto gesta fuerit, excludit, nec propterea falsum ad poëtam pertinere innuit, nam et actionem singularem eum repraesentare concedit, sed velut ideam et exemplum, quod universaliter omnibus prosit, sicut in Cyro Xenophon veri principis et absoluti ideam expressit, nec propterea 134 falsum dixisse censetur. Verum itaque ad poësin omninò spectat, et nec falsum nec mendacium dicere poëtae est. Quanquam enim interdum optimo consilio verum sub figmentorum involucro abscondit, 135 tantùm tamen abest, 136 ut perniciem alicui mendax levisque meditetur, ut potiùs honestatem et quamvis virtutis actionem svadeat. Et licet utique hunc in finem apud homines, qui nec sua vitia audire, nec remedium admittere possunt, hoc fascino uti, ut ne advertentibus quidem, 137 imò nolentibus etiam sub voluptatis et oblectationis nudae praetextu velut poculo quodam honestas et beate 138 vivendi ratio propinetur. Nisi et Salvatorem nostrum propterea mentiri impiè dicamus, quod sub parabolis et allegoriarum tegumentis caelestem illam et abstrusam veritatem et sapientiam auditoribus suis proponit. II. Tragoedia non tristi tantùm, sed laeto etiam exitu terminari potest. Discrimen cothurni et socci secundum probatam in vulgus opinionem inter alia et illud putatur, quod sicut Comediae non est nisi laetus exitus, ita Tragoediae non nisi tristis et atrox, idque secundum Aristotel. qui de Tragaedia _______ 131 132 133 134 135 136 137 138

propinet, hoc Erstdruck. Hor. ars 317 f. (»jubebat« ist kontextgemäße Abwandlung Dachs; Horaz hat »iubebo«). Aristot. poet. 9, 1. proptera Erstdruck. abscondit Erstdruck. abest Erstdruck. quidem Erstdruck. beata Erstdruck.

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lib. de arte poët. c. 13. ait 139 : necesse est egregiè se habentem fabulam esse magis simplicem, quàm 140 duplicem, et mutari non in prosperam fortunam ex adversa, sed contra ex prospera in adversam. Et notum est, quod Euripides Archelao, ut de se Tragoediam componeret, petenti respondit 141 ; absit 142 , inquiens, ut tibi Tragoedia dignum quid accidat, Tragoediae existimans non esse nisi triste et eventu atrox argumentum. Verùm nos ab Hugone Grotio in praefatione Sophompaneae ad Gerhard. Vossium 143 aliter edocti assertioni nostrae innitimur, et putamus id non esse perpetuum aut necessarium, siquidem Aristoteles ipse l. de r. p. c. 7. expresse fatetur 144 , contingere posse, ut nascentibus rebus, in prosperam fortunam ex adversa, aut ex prospera in adversam mutetur Tragaedia. Et Euripides id non semper observat. In Alceste enim redditur Admeto conjux ab Hercule summo omnium, et praeter exspectationem gaudio, quam putabant Admeti loco morti jam traditam: sicut et in Ione, ubi agnito filio Creusa ex turbulenta in laetam et tranquillam rem se subvectam laetatur. Idem ex Oreste, Andromacha, Hippolyto, Iphigenia posteriore et aliqua ex parte Senecae Hercule Oetaeo manifestum est. Ubi vel nulla omninò caedes, sed gaudium potius repentinum et inopinatum, vel exitus non undiquaque dolendus et lachrymabilis. Unde colligimus in Tragaedia non necessariò atrocem expectari exitum; Sed praecipuum inter Tragaediam et Comaediam 145 üļ ûïö÷ļ÷ et in personis et dictione et sententia constituere. Quanquam non diffitemur ad Tragaediae naturam propriùs accedere, quae tragico et calamitoso clauduntur eventu. III. Castum et sine obscoenitate scriptum carmen solùm poëma est, et rerum impudicarum scriptores 146 poëtae nomine gaudere neutiquam possunt. Ita statuimus cum Famiano Strada, prolusion. Academ. 3. et 4. l. 1. 147 et dicimus, impuram Poësin ab artis (liceat nunc artem dicere, quicquid naturam perficit) natura deflectere, nec propterea in censu disciplinarum locum meritò invenire. Artes enim et disciplinae omnes hoc in se habent, ut, quicquid _______ 139 140 141

142 143 144 145 146 147

Aristot. poet. 13, 6. quòm Erstdruck. Die Anekdote auch in der Poetik von Scaliger (lib. 1, cap. 6): Scaliger: Poetices libri septem (wie oben Anm. 25), hier Bd. 1: Buch 1 und 2. Hg., übers., eingel. u. erläut. von Luc Deitz (1994), S. 130 f. – Primärquelle: Diomedes: Ars grammatica. In: Flavii Sosipatri Charisii artis grammaticae libri 5. Diomedis artis grammaticae libri 3. Ex Charisii arte grammatica excerpta. 2. ND der Ausg. Leipzig 1857. Hildesheim: Olms 1981 (Grammatici Latini, ex. Rec. Henrici Keilii, 1), S. 297–529, hier S. 488, 20 ff. abfit Erstdruck. Grotius: The poetry of Hugo Grotius. […] Sophompaneas (wie oben Anm. 43), S. 128 ff., Z. 45–51. Aristot. poet. 7, 12. Notwendige Ergänzung der Bearbeiter. scripto res Ziesemer. Strada: Prolusiones academicae (wie oben Anm. 45), Lib. primus, Prolusio III: »An Poetae dicendi sint obscenorum carminum Scriptores«, S. 76–116; Prolusio IV: »Idem argumentum: An poeticè faciant, qui versus faciunt impudicos«, S. 117–152.

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moliantur, ad utilitatem et salutem Reipubl. conducat. Civilis namque scientia, teste Arist. 148 et, quae artes recipiendae sint, definit, et modum receptis praescribit, secundùm quem operari eas velit. Quod si à Legislatoris praescripto devient, ex artium numero eas exigit, nec earum cultores pro genuinis Reipubl. membris habet. Cum enim civilis facultas totius moderatrix civitatis ultimum finem semper respiciat, bonum et salutem civium suorum, nec absque artium reliquarum adminiculo eum obtinere possit, omnes artes ita admittit, ut unanimi consensu in commodum civitatis unicè conspirent. Hinc, si quae in perniciem civium tendat, pro arte eam haberi minime decebit. Quoniam autem civium fortuna ita ab arte dependere videtur, ut arti tantùm extrinsecus accidat, et ab arte quidem illa salva per abusum ejusdem separari queat; ostendendum erit, utilitatem publicam ita in arte fundari, ut, si ab ea tollatur, minime ars sit, sed lena quaedam vel artis inutile quoddam excrementum. Jam verò certum est, artem naturam imitari, hanc Deum; quemadmodum igitur Deus et natura nihil faciunt frustra, sed omnia dirigunt non in perniciem alicujus, sed summi gloriam opificis, et hujus universi, praecipuè hominis, conservationem; ita ars, nisi, quanta quanta est, utilitatem et bonum sibi habeat propositum, minimè genuina censetur. Cumque Deus summè bonus sit, et natura, si se totam excutiat, nihil in se habeat, quod malum sit, aut in malum tendere per se possit, artem similiter intimè sibi sociare bonitatem, nec unquam hanc, se quidem salva, deponere aut exuere posse merito judicandum est. Quia autem ars omnis in subsidium humanae vitae inventa est, quicquid in se bonitatis habet, non sibi sed hominum societati habeat oportet. Vnde etiam omnia, quae ab arte sunt, bonum in se habent, teste Aristot. l. 2. Moral. Nicom. c. 3. üą öĜ÷ ŷļ üïí÷ņ÷ ñï÷Ļöï÷ë 149 ĠŶ ġíïó Ġ÷ ĝëýüøŦÏ 150 , producit ergò non nisi opus bonum, et, quicquid nullam in se bonitatem habet, ab arte profectum existimari non debet. Quae omnia evincunt, commodum et salutem hominum in arte includi nec ab eadem ullo modo seiungi posse. Et sic obscenum carmen, quod mores corrumpit, virtutem evertit, et perniciem civibus accersit, nec artis genuinam sobolem, nec propterea poëma esse patet. Quod si eae tantùm artes sunt, ut vult D. Thomas 151 , quarum operibus possunt homines benè et malè uti: quemadmodum gladiis, sagittis, atque horum similibus; et Chrysostomus eas esse artes omninò perneget, quae ad perniciem exercentur, et illas tantùm eo nomine appellandas censeat, quae conficiunt, suppeditantque necessaria, quaeque vitam nostram continent 152 ; impurum poëma nullius artis erit, quod ejus usus non alius nisi malus est, nec poësis obscena quae saluti hominum insidiatur, artis nomine decoranda 153 . Sufficienter, ut putamus, probatum est, poesin lascivam _______ 148 149 150 151 152

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Aristot. eth. Nic. 1, 2, 4–7 (1094a27–1094b6). Fehlt bei Ziesemer oder schon in dessen Vorlage. Aristot. eth. Nic. 2, 4, 3 (1105a27 f.). Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica II, 57, 3 und 4. Johannes Chrysostomus: Homiliae in Matthaeum: Homilia 49, 4. In: Joannis Chrysostomi […], opera omnia quae exstant, vel quae ejus nomine circumferuntur. T. 7/2. Ed. by Jacques-Paul Migne. (ND der Ausg. Paris 1858–1860.) Turnhout: Brepols 1978 (Patrologiae cursus completus, Series Graeca, 58), Sp. 501. veniet Ziesemer (vermutlich falsche Auflösung einer Abbreviatur für videtur).

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ex constitutione artis, quam cum aliis disciplinis communem habet, non esse poësin; clariùs autem id apparebit, si idem ex ejusdem forma ipsi propria et peculiari confecerimus. Hanc Aristotel. vult esse imitationem. 154 Imitatio verò non consistit in lasciviente illa voluptate et oblectatione, sed hanc ita temperat verus imitator, ut, quod unicè desiderare debet, utile et honestum per eam obtineat. Falluntur enim, qui putant, poëtam imitari ut nudè oblectet 155 , imò oblectat 156 ut prosit. Audiatur Lucretius, qui hac de re l. 4. de natura rerum ait: Nam veluti pueris absynthia tetra medentes Cum dare conantur, priùs oras pocula circum Contingunt mellis dulci, flavoque liquore, Ut puerorum aetas improvida ludificetur Labrorum tenus, interea perpotet amarum Absynthi laticem, deceptaque non capiatur; Sed potius tali tactu recreata valescat: Sic ego etc. 157 Et Horatio non, qui lascivis commentis aures animumque incantavit, sed Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci Lectorem delectando pariterque monendo; Hic meret aera liber Sosiis, hic et mare transit, Et longum noto scriptori prorogat aevum. 158 Omitto Platonem l. 2. de leg. 159 Euripidem apud Aristophanem in Ranis. 160 Niceratum in convivio Xenophontis 161 , et recentioris aevi infinitos alios unanimi ore affirmantes, imitationem, siquidem in regno poetico nomen profiteri velit, ita esse conformandam, ut honestas utilitasque ad eam consequatur. Unde ita nobiscum colligimus: Quaecunque imitatio ea tantùm habet, quorum usus est ad virtutem obtinendam, ea est poetica: lasciva imitatio nihil eorum habet, 162 ad quae virtus consequatur, est ergò nec poetica. Major patet, siquidem imitatio poetica semper et unicè respicit finem ultimum, ad quem destinata est, et propter eundem eas tantùm oblectationes conquirit, quibus veritatem et honestatem obtinere sperat, et omnia lasciva obscoenaque fini suo non utilia, imò contraria, aversatur et respuit. Minor luce sua claret. Quicquid enim hic vel ille de observatis poetarum praeceptis in obsceno etiam carmine jactet; à fine ultimo medium quodvis aestimandum esse manifestum est, cui si _______ 154 155 156 157 158 159 160 161 162

Aristot. poet. 9, 9 f. oblectat Ziesemer. oblectet Ziesemer. Lucr. 4, 11–18. Hor. ars 343–346. Plat. leg. 2, 660e–661d. Aristoph. Ran. 1009 f. Xen. symp. 3, 5. habet Ziesemer.

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non respondeat, à se ipso 163 deficit, nec medii justi nomen consequi potest; quemadmodum oculus non est, qui visu destituitur, nec malleus, qui fabrili operi non conducit. Restat ut ad probandam assertionem nostram per artis poeticae species eamus, quarum omnium unicus finis est fortuna et incrementum civitatis. Huc Epopoeia dictione sublimi et admiranda Heroëm imitandum proponit, qui sicut supra hominem et infra Deum constituitur, ita nihil turpitudinis in eo formando admittere debet, si nomen suum et dignitatem tueri Epicus velit. Huc Tragoedia Regum et Principum fortunas miserandis casibus expositas in theatrum producit, ut omnes fortunae memores faciat, et turbidos animi impetus ad auream mediocritatem componat. Quae tantò minus vel ullam saltem foeditatem tolerat, quantò altius, ima plebis fece relicta, cothurno se ostentat. Huc Comoedia sales et jocos populo venditat, ut vitia palàm sugillata, et ludibrio exposita feliciùs declinentur. Huc Satyra liberiùs paulò in foedos hominum mores invehitur, ut, detecta turpi vitiorum facie, foeditas eorum magis appareat, et invisa inspicientibus reddatur. Nulla adeò poeseos nomen affectare audeat 164 , quae non saluti publicae honestatique sedulò operatur. Ex quibus omni luce evidentius est, poetam nullo merito salutari, qui impudicorum apparatu versuum aurem 165 populi aucupari, divinamque poesin turpiter prostituere laborat. Et, nisi quod castum sonat, lasciviamque devitat, poëma neutiquam jure dici, optima ratione statui. Corollaria. An detur Tragicomoedia? Neg. An fabula sine metro scripta 166 poema sit? Neg. An detur inter numerum oratorium et poeticum differentia? 167 Affirm.

Übersetzung: Titel: Drei Thesen zur Poetik, in der kurfürstlich-brandenburgischen Universität, die sich zu Königsberg in Preußen befindet, nach den Erfordernissen der Statuten der Philosophischen Fakultät vorgelegt zur öffentlichen Erörterung zwecks Erlangung eines akademischen Amtes. Den Vorsitz hat der Magister Simon Dach aus Memel, öffentlich bestallter Professor der Poesie, Respondent ist Christoph Roman aus Preußen. [Die Erörterung findet statt] im größeren Hörsaal am 18. und 19. Oktober [1640] vormittags. – Zu Königsberg, [gedruckt] mit den Typen der Druckerei Reusner. _______ 163 164 165 166 167

seipso Ziesemer. audet Ziesemer. auram Ziesemer. metroscripta Ziesemer. Vgl. hierzu Cic. de or. 1, 151: »tum ipsa conlocatio confirmatioque verborum perficitur in scribendo, non poetico, sed quodam oratorio numero et modo.«

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Widmungsgedicht: An den durchlauchtigsten und mächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Georg Wilhelm, Markgrafen von Brandenburg, des Heiligen Römischen Reichs Erzkämmerer und Kurfürsten, Herzog von Preußen, Jülich, Kleve, Berg, Stettin, Pommern, der Kaschuben, der Wenden sowie von Crossen und Jägerndorf in Schlesien, Burggrafen von Nürnberg, Fürsten von Rügen, Grafen von Mark und Ravensberg, Herrn in Ravenstein usw. usw., seinen allergnädigsten Herrn. Strahlendes Gestirn und ruhmvolle Zierde der Brandenburger, Georg Wilhelm: dadurch, daß Du unsere Länder regierst, stehen wir, das preußische Volk, in Blüte, verlachen den Zorn des Mars und die entsetzliche Bellona 168 und verleben goldene Sonnentage. Ich beende meine Unschlüssigkeit darüber, ob ich Dir eine so geringe, eine so unbedeutende Gabe widmen solle oder nicht, eine Gabe, die einem Herzog keinesfalls gemäß sein könnte, der unter den Fürsten so erstrahlt, wie der Mond, die Zierde der Nächte, die kleineren Gestirne übertrifft. Wenn ich mich bemühte, Dir zu bringen, was auch immer der Indus, der Strom im Osten, verkauft und was uns die segenspendende Mutter Memnons 169 schickt, wäre ich von Sinnen und würde nichts bewirken, weil Dein Glück hierdurch keinerlei Zuwachs erhält, das sich, größer als aller Wohlstand, in einer Lage befindet, die der der glückseligen Götter gleicht und alles verachtet, was Protzerei oder ein hochmütiger Geist anbieten – nur das nicht, was ein demütiges und gottesfürchtiges Herz in heiligem Ritus mit maßvollem Wunsch opfert und darbringt. Siehe, dies bringe ich, brennend von der Glut der schuldigen Ergebenheit, wie diese Blätter bezeugen. Falls diese einiges an ansprechender Bedeutungsschwere besitzen, so haben sie dies höchst gelehrten Männern zu verdanken, deren Ruhm sich bis zum Himmel erhebt. Du aber, erhabenster Herzog, gewähre dieser Gabe gnädig Zutritt mit ebendem Antlitz, mit dem Du Preußen und so viele Völker und Länder als eine Sonne zu erhellen pflegst. Durch Dich versöhnt möge Astraea so stets die Erde bewohnen, ohne Lust, dem Himmel geschenkt zu werden. 170 So möge nun tiefer Friede Dich und uns in sicherem Zustand erhalten! So nun sei den niedergestreckten Feinden ein gehöriger Schrecken! So nun lasse Dich weiterhin nennen feste Säule des brandenburgischen Geschlechts und große Leuchte des Reichs! Seiner durchlauchtigsten Hoheit und dem Hause Brandenburg tief ergebener Simon Dach _______ 168 169 170

Kriegsgöttin, Begleiterin des Mars. Aurora, die Göttin der Morgenröte, hier als Metonymie für ›Osten‹. Astraea, die Sternenjungfrau, weilte als Göttin der Gerechtigkeit während des Goldenen Zeitalters auf der Erde. Als aber diese Epoche tiefen Friedens und absoluter Rechtlichkeit zuende ging und die Ungerechtigkeit überhandnahm, verließ sie die Erde und nahm ihren Platz als Sternbild Jungfrau im Tierkreis ein. Dach will hier sagen, daß unter dem Regiment

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Disputationsthesen: Zur Überprüfung durch die Gelehrten stellen wir drei Thesen auf, die aus dem reichen Vorrat der Poesie geschöpft sind; der, dem in seinem Hause mehr als genug verfügbar ist, womit er seine Schuld bezahlen kann, braucht es nämlich nicht anderswoher zu holen. Wir wollten uns aber nicht mit Neuartigem hervortun, da ja über so viele Jahrhunderte hinweg den angestrengtesten Bemühungen und dem Fleiß so vieler scharfsinnigster Geister nichts entgehen konnte, was nicht als schon längst in Beschlag genommen und allseits bekannt gelten könnte. Vielmehr sind wir beim Nachdenken über die Auswahl eines Stoffes, der nicht nur ansprechend sein, sondern auch irgendeinen Nutzen erkennen lassen sollte, auf drei hochberühmte und sehr bedeutende Männer verfallen, deren Meinung in verschiedenen Themenfeldern, die uns aufgrund ihrer Würdigkeit in ihren Bann ziehen, wir nur entschieden beipflichten konnten. Deshalb haben wir nicht gezögert, diese Thesen bei ihnen zu entlehnen und der öffentlichen Kritik der Gelehrten zu unterwerfen – wobei wir gern der Autorität jener Männer Lebewohl sagen werden, sobald wir füglich eines anderen belehrt worden sein sollten. I. Wahrheit gehört schlechthin zur Poesie, und der Dichter ist nicht darum, weil er erfindet, für einen Lügner zu halten. Diese These vertreten wir gemeinsam mit Bartholomaeus Tortolettus 171 in seiner »Juditha vindicata«, obi. 3, und setzen sie denen entgegen, die fest behaupten, daß Unwahrheit eine Eigenheit poetischer Bearbeitung sei. Da nämlich der Dichter, gemäß Tommaso Campanella 172 , in jeder Hinsicht zum Wahren und zum Guten rät und sogar auf alle Dinge, göttliche ebenso wie menschliche, ausgreift, ist nicht einzusehen, inwiefern er Unwahres behandeln sollte. Zweifellos gibt es kein den oberen Fakultäten oder der ganzen Philosophie zugehöriges Fachgebiet, mit dem die Poesie nicht in Verbindung stünde. So feiert nämlich der Psalter Davids die göttlichen Dinge in bewunderungswürdigem Gesang, und etliche aus den Propheten, auch Debora 173 und andere Mysten der Heiligen Schrift, leisten, von poetischem Anhauch entflammt, mit bestem Erfolg das gleiche. Hieronymus Vida 174 hat eine »Christias« 175 verfaßt. Prudentius 176 , Se_______

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giment des Kurfürsten Zustände einkehren würden, die denen im Goldenen Zeitalter glichen, und somit Astraea sich wieder mit dem irdischen Leben versöhnen und hinfort keine Lust mehr haben würde, die Erde mit dem Himmel zu vertauschen – ein schon zu Zeiten des Renaissance-Humanismus sehr beliebter Topos des Herrscherlobs. S.o. S. 74 ff. Der durch seine Utopie des »Sonnenstaates« berühmt gewordene italienische Philosoph (1568 – 1639) hat auch eine Poetik verfaßt, auf die Dach sich hier bezieht (s.o. Anm. 125). Alttestamentarische Prophetin, Verfasserin des nach ihr benannten Siegesliedes im Buch der Richter (5, 2–31). Italienischer Humanist (um 1485 – 1566). Ein 1535 erschienenes lateinisches Epos über das Leben Christi. Aurelius Prudentius Clemens, spätantiker christlicher Dichter (348 – ca. 405).

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dulius 177 und andere haben die wichtigsten Kapitel der Theologie in Liedern und Hymnen abgehandelt. Solon hat Gesetze in Gedichtform erlassen. 178 Nikander 179 hat von Arzneien gehandelt. Empedokles und Lukrez haben auf poetische Weise Naturkundliches gelehrt. 180 Vergil und Hesiod haben Vorschriften für die Landwirtschaft hinterlassen. 181 Theognis 182 , Phokylides 183 und Pythagoras 184 haben in dichterischer Form ganz vorzüglich Moral gelehrt. Alle diese sind der Wahrheit gefolgt und haben sich der Unwahrheit gänzlich enthalten. Sodann zählt man nach Aristoteles als Dichtungsgattungen die Tragödie, das Epos, die dithyrambische Poesie und die Komödie auf; es wird offenbar werden, daß die Wahrheit sich auf sie alle erstreckt. Die Tragödie definiert Aristoteles als die Nachahmung einer rechtschaffenen Handlung usw. Daher ahmt die Tragödie Handelnde nach, wobei es dem Tragiker keineswegs erlaubt ist, nach Lust und Laune von der Wahrheit abzuweichen; vielmehr ist er stets gehalten, selbst auf das Verhalten der Handelnden acht zu haben und dieses dramatisch nachzuahmen. Sogar die wirklichen Namen werden vornehmlich in der Tragödie beibehalten. Unter den wirklichen Namen müssen aber auch die wirklichen Vorgänge beschrieben werden; es handelt sich nämlich um Namen berühmter Persönlichkeiten, deren Handlungen niemandem verborgen sein können, da sich die Taten von Fürsten und Königen nicht im Geheimen, sondern auf der Bühne der ganzen Welt abspielen. Hinzu kommt, daß die Tragödie auf bestimmte Familien, und zwar nur wenige, beschränkt ist, vornehmlich deshalb, damit dem Dichter jene berühmte bindungslos agierende Freiheit im Ersinnen neuartiger Begebnisse entzogen und die Wahrhaftigkeit der Handlungen sorgfältiger beobachtet wird. Daher scheint Aristoteles Agathons gänzlich auf Erfindung beruhende »Blüte« 185 nicht zu loben, sondern sie dem Freunde [nur] durchgehen zu lassen. Für das Epos gilt das Gleiche, denn auch dieses ahmt Handelnde nach und behält größtenteils die wirklichen Namen bei – weshalb es nach allgemeinem Konsens auch ihm an Wahrheitsgehalt nicht fehlen darf. Die dithyrambische Dichtung ahmte zum Flötenspiel die wahren ruhmvollen Taten von Göttern und Heroen nach; sich nach Gutdünken noch nie dagewesene auszudenken, war keinesfalls erlaubt, so _______ 177 178 179

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Sedulius Scotus, aus Irland stammender Gelehrter und Dichter im Frankenreich (Mitte des 9. Jh.s). Der athenische Staatsmann und Gesetzgeber schrieb auch Gedichte, darunter solche, die Themen seiner gesetzgeberischen Tätigkeit behandelten. Nikandros von Kolophon, griechischer Dichter des 2. Jh.s v. Chr., der zwei Lehrgedichte geschrieben hat: eines über Heilmittel gegen Bisse giftiger Tiere, ein anderes über Heilmittel bei Vergiftungen allgemein. Empedokles, der griechische Naturphilosoph des 5. Jh.s v. Chr., in seinem Lehrgedicht »Über die Natur«, der römische Dichter Lukrez (T. Lucretius Carus, † 55 v. Chr.) in seinem auf der Philosophie Epikurs fußenden Lehrgedicht »De rerum natura«. Vergil in den »Georgica«, Hesiod in »Werke und Tage«. S.o. Anm. 106. Griechischer Dichter des 6. Jh.s v. Chr., verfaßte eine Sammlung von Sinnsprüchen. S.o. Anm. 105. Ein von Aristot. poet. 9, 7 erwähntes Werk des griechischen Tragikers Agathon, der ca. 448/446 v. Chr. geboren wurde und von dessen Werken nur Fragmente überliefert sind.

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daß auch diese Dichtung nicht der Wahrheit fernstehen kann. Die Komödie aber scheint [in diesem Punkt] etwas problematisch zu sein, weil sie ihren Stoff erfindet und sich auch erfundener Namen bedient; doch auch sie strebt in einem ganz bestimmten Sinne nach Wahrheit. Sie darf nämlich nichts Disharmonisches oder Falsches einführen; vielmehr orientiert sich der Komödiendichter stets an den wahren Verhaltensweisen von alten Leuten, jungen Menschen, Dienern, Huren usw., damit er dem Stück nicht, falls er von der Wahrheit abweicht, seine Glaubwürdigkeit entzieht und sich dem Gelächter der Zuschauer preisgibt. Das war der Grund, weshalb unser Flaccus »den geschulten Nachahmer angewiesen hat, achtzuhaben auf eine modellhafte Darstellung des Lebens und von Verhaltensweisen und von daher eine lebensechte Sprache herzuleiten.« Dem steht auch nicht entgegen, daß Aristoteles im 9. Kapitel seiner Poetik sagt, Aufgabe des Dichters sei es nicht so sehr, zu berichten, was geschehen ist, als vielmehr darzulegen, was geschehen sollte und könnte; und daß der Dichter die Rolle des Philosophen spiele, da er vom Allgemeinen handelt, Einzelnes aber dem Historiker überläßt: denn er [Aristoteles] schließt den wahren Sachverhalt, die Art, wie er sich abgespielt hat, überhaupt nicht aus und gibt darum noch nicht zu verstehen, daß das Unwahre Sache des Dichters sei, denn er gesteht ihm auch zu, eine einzelne Handlung darzustellen, jedoch als Idee und als Beispiel, das in jeder Hinsicht allen Menschen von Nutzen ist, so wie Xenophon in Kyros die Idee eines wahren und vollkommenen Fürsten zum Ausdruck gebracht hat und darum doch nicht als ein Autor angesehen wird, der Falsches berichtet habe. 186 Daher hat die Wahrheit unbedingt einen Bezug zur Dichtung, und es ist nicht ein Wesenszug des Dichters, Falsches oder Erlogenes zu sagen. Obgleich er nämlich zuweilen in bester Absicht Wahres unter der Hülle von Erdichtungen verbirgt, ist er doch so weit davon entfernt, in lügenhafter Leichtfertigkeit auf jemandes Unheil zu sinnen, daß er vielmehr zu Ehrbarkeit und jeder Art von tugendhaftem Handeln rät. Es ist auch auf jeden Fall erlaubt, sich dieses Zaubermittels bei Menschen, die weder etwas von ihren Lastern hören noch eine Medizin [dagegen] einnehmen wollen, zu dem Zweck zu bedienen, daß ihnen, ohne daß sie es auch nur gewahr werden oder vielmehr auch gegen ihren Willen, unter dem Vorwand des Vergnügens und bloßen Ergötzens gleichsam in einem Becher Ehrbarkeit und der Grundsatz segensreicher Lebensführung zum Einnehmen gereicht werden. Es sei denn, wir wollten auch unseren Heiland um dessentwillen einen gottlosen Lügner nennen, weil er seinen Zuhörern jene berühmte himmlische verborgene Wahrheit und Weisheit in Gleichnissen und in der Verkleidung von Allegorien gereicht hat. _______ 186

Der griechische Schriftsteller Xenophon (ca. 430 – nach 355 v. Chr.) verfaßte einen idealisierenden historischen Roman über den Perserkönig Kyros II. d. Gr. (559 – 529 v. Chr.), »Erziehung des Kyros«.

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II. Eine Tragödie kann nicht nur mit einem traurigen, sondern auch mit einem heiteren Ausgang beschlossen werden. Nach bewährter landläufiger Auffassung wird der Unterschied zwischen Kothurn und Soccus darin gesehen, daß, wie die Komödie nur einen heiteren, so die Tragödie nur einen traurigen und schrecklichen Ausgang hat, und dies nach Aristoteles, der in Kapitel 13 seines Buchs über die Poetik von der Tragödie sagt: »Ein vorzüglich gestaltetes Schauspiel muß eher einfach als zwiefach sein und darf nicht aus Unglück in Glück umschlagen, sondern umgekehrt aus Glück in Unglück.« Es ist auch bekannt, was Euripides dem Archelaos 187 auf dessen Bitte, eine Tragödie auf ihn zu schreiben, geantwortet hat: »Ferne sei es, daß dir etwas zustößt, was einer Tragödie würdig ist!« – in der Meinung, daß eine Tragödie nur einen traurigen und, im Hinblick auf den Ausgang, gräßlichen Gegenstand habe. Wir aber, von Hugo Grotius in dem Gerhardus Vossius 188 gewidmeten Vorwort zu seiner »Sophompaneas« anders belehrt, beharren auf unserer These und glauben, daß dies nicht allgemeingültig oder notwendig sei, da ja Aristoteles selbst im Buch von der Poetik, Kapitel 7, ausdrücklich sagt, es könne vorkommen, daß in der Entwicklung der Handlung die Tragödie von Unglück in Glück oder von Glück in Unglück umschlägt. Auch Euripides hält sich nicht immer an jene Regel. In der »Alkestis« wird dem Admetos nämlich zur größten und ganz unerwarteten Freude aller von Herkules seine Frau zurückgegeben, von der man meinte, daß sie schon an des Admetos Stelle dem Tod anheimgegeben worden sei. So auch im »Ion«, wo Kreusa, nachdem sie ihren Sohn erkannt hat, zu ihrer großen Freude aus einem von Unruhe erfüllten in einen heiteren und friedvollen Zustand versetzt wird. Das Gleiche geht auch ganz klar aus dem »Orest«, der »Andromache«, dem »Hippolytos«, »Iphigenie«, der späteren, 189 und in gewisser Hinsicht aus Senecas »Hercules Oetaeus« hervor. Hier gibt es entweder überhaupt keine Bluttat, sondern eher plötzliche und unerwartete Freude, oder der Ausgang ist nicht in jeder Hinsicht schmerzlich und beweinenswert. Daraus folgern wir, daß in der Tragödie nicht notwendigerweise ein schrecklicher Ausgang erwartet wird, sondern daß der Grad der Ehrwürdigkeit hinsichtlich der Personen, der Ausdrucksweise und des Gehalts den hauptsächlichen Unterschied zwischen Tragödie und Komödie ausmacht. Allerdings stellen wir nicht in Abrede, daß Handlungen, die mit einem tragischen und unheilvollen Ausgang beschlossen werden, der Natur der Tragödie näher kommen.

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Archelaos I., makedonischer König 414/411 – 399 v. Chr. An seinem Hof verbrachte Euripides sein letztes Lebensjahr. Der bekannte niederländische Philologe und Theologe (1577 – 1649). »Iphigenie bei den Taurern«, hier als die »spätere« bezeichnet, weil die Handlung, die sie darstellt, später liegt als die der »Iphigenie in Aulis«.

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III. Nur ein keusches und ohne Unzüchtigkeit geschriebenes Gedicht ist ein Werk der Poesie, und Verfasser schamloser Schriften können sich des Namens eines Dichters keineswegs erfreuen. Diese These stellen wir auf mit Famianus Strada 190 , »Prolusiones academicae« 3 und 4 von Buch 1, und sagen, daß unreine Poesie von der Natur der Kunst (es sei jetzt gestattet, Kunst alles das zu nennen, was die Natur vervollkommnet) abweicht und deshalb zu Recht im Katasterbuch der Wissenschaften keinen Platz findet. Alle Künste und Wissenschaften weisen nämlich diese Eigentümlichkeit auf, daß alles, was sie anstreben, zum Nutzen und Heil des Staates beiträgt. Wie Aristoteles bezeugt, setzt nämlich die Staatslehre fest, welche Künste aufgenommen werden sollen, und schreibt den aufgenommenen die Art und Weise vor, nach der sie deren Tätigkeit geregelt sehen will. Falls sie von der Vorschrift des Gesetzgebers abweichen, eliminiert sie sie aus der Zahl der Künste und erkennt ihre Betreiber nicht als echtbürtige Glieder des Staates an. Da nämlich die Disziplin der Staatswissenschaft als Lenkerin des Ganzen stets als das höchste Ziel des Staates das Wohl und Heil ihrer Bürger im Auge hat und sie diese Zielsetzung ohne die Unterstützung der übrigen Künste nicht aufrechterhalten kann, richtet sie es bei der Zulassung aller Künste so ein, daß sie in einträchtiger Übereinstimmung einzig zum Nutzen des Staates zusammenwirken. Daher wird es seine gute Ordnung haben, daß, wenn eine Kunst das Verderben der Bürger anstrebt, diese nicht als Kunst anerkannt wird. Da nun aber das Glück der Bürger in der Weise von der Kunst abzuhängen scheint, daß es zu der Kunst nur von außen hinzukommt und von der Kunst bei deren Mißbrauch, ohne Schaden zu nehmen, getrennt werden kann, wird aufzuzeigen sein, daß der Nutzen für die Öffentlichkeit so in der Kunst verankert ist, daß diese, wenn er [der Nutzen] von ihr annulliert wird, überhaupt keine Kunst [mehr] ist, sondern gewissermaßen eine Kupplerin oder irgendein nutzloser Auswurf der Kunst. Nun steht aber fest, daß die Kunst die Natur nachahmt, diese aber Gott. Wie also Gott und die Natur nichts vergebens tun, sondern alles lenken, nicht zum Verderben irgendjemandes, sondern zum Ruhm des höchsten Schöpfers und zur Erhaltung dieses ganzen Universums, vornehmlich des Menschen, so beurteilt man auch die Kunst, wenn sie nicht in ihrem gesamten Wirkungsbereich auf Nützlichkeit und Ersprießlichkeit ausgerichtet ist, als keineswegs echtbürtig. Und da Gott in höchstem Grade gut ist und die Natur, wenn sie sich gänzlich durchmustern wollte, nichts in sich hätte, was schlecht wäre oder von sich aus zum Schlechten neigen könnte, so muß füglich geschlossen werden, daß die Kunst sich auf ähnliche Weise im Innersten mit dem Gutsein verbinde und dieses niemals, jedenfalls wenn sie unbeschadet bleiben soll, ablegen oder von sich tun kann. Weil aber jede Kunst zur Erleichterung des menschlichen Lebens erfunden wurde, muß sie alles, was sie an Gutsein in sich hat, nicht für sich selbst, sondern für die menschliche Gesellschaft besitzen. Deshalb trägt auch alles, was von der Kunst herkommt, Gutes in sich, wie Aristoteles in Buch 2, Kapitel 3 der _______ 190

S.o. S. 79–81.

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Nikomachischen Ethik bezeugt: »Denn was aus den Künsten entsteht, trägt das Gute in sich selbst.« Sie bringt also nur ein gutes Werk hervor, und alles, was kein Gutsein in sich hat, darf nicht als von der Kunst ausgehend angesehen werden. Dies alles tut unumstößlich dar, daß Nutzen und Wohlergehen der Menschen in der Kunst impliziert sind und von ihr auf keine Weise abgetrennt werden können. Und so ist offenkundig, daß ein unzüchtiges Gedicht, das die Sitten verdirbt, die Tugend über den Haufen wirft und den Bürgern Schaden heraufbeschwört, kein echtbürtiger Sproß der Kunst und daher kein Werk der Poesie ist. Wenn daher Künste, wie der hl. Thomas will, nur diejenigen sind, deren Werke die Menschen zu guten wie zu bösen Zwecken nutzen können, wie zum Beispiel Schwerter, Pfeile und dergleichen, und wenn Chrysostomos 191 rundweg bestreitet, daß Künste, die zu dem Zweck, Verderben zu stiften, ausgeübt werden, überhaupt Künste sind, und meint, daß nur jene mit diesem Namen bezeichnet werden dürfen, die Notwendiges erzeugen und bereitstellen und die unser Leben aufrechterhalten, dann wird ein unreines Gedicht zu keiner Kunst gehören, weil es nur zu Schlechtem dient, und unzüchtige Poesie, die einen Anschlag auf das Heil der Menschen macht, wird anscheinend nicht mit dem Namen der Kunst geschmückt werden dürfen. Unseres Erachtens wurde hinreichend bewiesen, daß eine zügellose Poesie aufgrund der Verfaßtheit der Kunst, die diese mit anderen Fachgebieten gemein hat, keine Poesie ist. Noch deutlicher aber wird dies offenbar werden, wenn wir dasselbe aus deren Form dartun werden: der Form, die für sie spezifisch und charakteristisch ist. Als diese setzt Aristoteles die Nachahmung an. Die Nachahmung aber besteht nicht in jener übermütigen Lust und Ergötzung; der wahre Nachahmer hält diese vielmehr so in Grenzen, daß er durch sie das, was er einzig begehren soll, das Nützliche und Ehrbare nämlich, durch sie erlangt. Es irren sich nämlich die, welche glauben, daß der Dichter nachahme, bloß um zu ergötzen; vielmehr ergötzt er, um zu nützen. Man höre Lukrez, der zu dieser Frage im 4. Buch seines Werks »De natura rerum« sagt: »Denn wie Ärzte, wenn sie Kindern abstoßenden Wermut zu verabreichen suchen, zuvor den Rand des Bechers mit dem süßen, gelblichen Saft des Honigs bestreichen, damit das unvorsichtige Alter der Kinder bis zu den Lippen getäuscht wird und unterdessen den bitteren Wermutsaft austrinkt, [somit] angeführt, aber nicht betrogen wird, sondern sich vielmehr durch solche Berührung erholt und sich kräftigt, so verfahre auch ich usw.« Und für Horaz hat nicht der, der Ohren und Geist mit zügellosen Einfällen bezaubert hat, sondern der, »der Nützliches mit Angenehmem gemischt und den Leser unterhalten und zugleich ermahnt hat, allgemeinen Beifall errungen. Solch ein Buch verdient den Brüdern Sosius 192 das Geld, es überquert das Meer und hält den Ruhm seines Verfassers für eine lange Zeit lebendig.« _______ 191 192

Johannes Chrysostomus, griechischer Kirchenvater der zweiten Hälfte des 4. Jh.s. Die Verleger von Horaz’ Werken.

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Ich übergehe hier Buch 2 von Platons »Gesetzen«, den Ausspruch des Euripides in Aristophanes’ »Fröschen« 193 , den Nikratis im »Gastmahl« des Xenophon 194 und zahllose andere [Autoren] der Neuzeit, die in einmütiger Rede bestätigen, daß die Nachahmung, wenn anders sie sich im Reich der Poesie bewerben möchte, so gestaltet werden muß, daß sich aus ihr Ehrbarkeit und Nützlichkeit ergeben. Daher ziehen wir für uns diese Schlußfolgerung: ›Jedwede Nachahmung, die nur etwas zu eigen hat, dessen Nutzanwendung auf die Bewahrung der Tugend gerichtet ist, ist poetisch. Zügellose Nachahmung besitzt nichts von dem, woraus sich Tugend ergibt. Also ist sie nicht poetisch.‹ Die [Propositio] maior versteht sich von selbst, da ja die poetische Nachahmung stets und ausschließlich den Endzweck im Auge hat, für den sie bestimmt ist und um dessentwillen sie nur solche Ergötzungen zu verschaffen sucht, mit denen sie Wahrheit und Ehrbarkeit zu behaupten hofft, und alles Zügellose und Unzüchtige, das ihrem Zweck nicht zuträglich, vielmehr entgegengesetzt ist, zurückweist und verschmäht. Die [Propositio] minor wird erhellt von ihrem eigenen Licht. Was immer nämlich dieser oder jener von den auch in einem unzüchtigen Gedicht beobachteten Vorschriften der Dichter vorbringen mag: Es liegt auf der Hand, daß jedwedes Mittel von seinem Endzweck her zu bewerten ist; wenn es diesem nicht entspricht, wird es sich selbst abtrünnig und kann der förmlichen Bezeichnung als Mittel nicht gerecht werden, so wie das kein Auge ist, das von der Sehkraft verlassen wird, und das kein Hammer, der zur handwerklichen Arbeit nicht taugt. Es bleibt uns noch übrig, daß wir zum Beweis unserer These die Gattungen der Dichtkunst durchgehen, die alle einzig das Glück und das Wachstum des Staates zum Ziel haben. Zu diesem Zweck stellt das Epos in erhabenem und bewunderungswürdigem Vortrag den Heros zur Nachahmung vor. Wie dieser über den Menschen und unter den Gott gestellt wird, so darf der Epiker bei dessen Gestaltung nichts Unsittliches zulassen, wenn er seinen Namen und seine Würde behaupten will. Zu diesem Zweck bringt die Tragödie die beklagenswerten Katastrophen ausgesetzten Schicksale von Königen und Fürsten aufs Theater, um alle Menschen an das Schicksal denken zu lassen und die erregten Gemütsaufwallungen auf ein goldenes Mittelmaß herabzustimmen. Diese [die Tragödie] duldet um so weniger auch nur irgendeine beliebige Art von Unreinheit, je höher sie sich, unter Zurücklassung des niedersten Bodensatzes der breiten Masse, dank des Kothurns darbietet. Zu diesem Zweck bietet die Komödie dem Volk Witze und Scherze feil, damit die Laster, öffentlich verhöhnt und dem Gespött preisgegeben, erfolgreicher gemieden werden. Zu diesem Zweck geht die Satire ein wenig freizügiger gegen abscheuliche Verhal_______ 193

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Euripides antwortet dort (V. 1009 f.) auf des Aischylos Frage, was es denn sei, weshalb man den Dichter bewundere: »Talent und Geschick und moralischer Zweck, begeisterter Eifer, die Menschen | Im Staate zu bessern.« (Übers. von Ludwig Seeger: Aristophanes, Sämtliche Komödien. Zürich [u.a.]: Artemis 1968 [Die Bibliothek der Alten Welt, Griechische Reihe], S. 559). Bezieht sich auf die Bemerkung des Nikeratos, eines der Gesprächsteilnehmer in Xenophons »Symposion« (Xen. symp. 3, 5), sein Vater habe ihn, um ihn zu einem guten Mann heranzubilden, den ganzen Homer auswendig lernen lassen.

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Hanspeter Marti und Lothar Mundt

tensweisen der Menschen an, damit, nach Entlarvung des schändlichen Antlitzes der Laster, deren Abscheulichkeit deutlicher in Erscheinung tritt und den Betrachtern verhaßt gemacht wird. Eigentlich sollte keine [Satire] es wagen, Anspruch auf den Namen der Dichtkunst zu erheben, die nicht angelegentlich für das Wohl des Staates und die Ehrbarkeit wirkt. Aus Vorstehendem ist klarer als jedes Licht, daß niemand zu Recht als Dichter begrüßt wird, der darum bemüht ist, das Ohr des Volkes mit einem Aufgebot unzüchtiger Verse zu betören und die göttliche Poesie schändlich zu prostituieren, und daß nur ein Gedicht, das keusche Gegenstände besingt und Lüsternheit meidet, zu Recht ein Werk der Poesie genannt und aus bestem Grund als solches eingeschätzt wird. Korollarien Gibt es eine Tragikomödie? Wird verneint. Ist ein nicht in Versen geschriebenes Schauspiel ein Dichtwerk? Wird verneint. Gibt es einen Unterschied zwischen rednerischem und poetischem Taktmaß? Wird bejaht.

Robert Seidel

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

Der Titel dieses Beitrags erscheint womöglich unbedacht gewählt. Was müßte man alles abhandeln, wollte man der ganzen Breite des Gegenstands gerecht werden? Ich sollte doch gewiß nicht, wie es Dachs Leser von Christoph Kaldenbach 1 bis Günter Grass 2 taten, den Königsberger Dichter als Opitzianer würdigen, gar wie die frühen Germanisten einen wertenden Stilvergleich anstellen? Was meinen wir eigentlich, wenn wir von ›der Poetik‹ eines Autors sprechen? Ein Blick in den instruktiven Artikel des neu aufgelegten Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft zeigt, daß sich sinnervoller Weise drei Bedeutungen von ›Poetik‹ unterscheiden lassen. Für meine Fragestellung ergibt sich daraus freilich, wie wir sehen werden, eine dreifache Aporie. Ich werde diesen Befund zunächst vorführen (I). Im zweiten Teil meiner Ausführungen werde ich einen Vorschlag dazu machen, unter welchem Aspekt poetologische Fragen an das lyrische Werk Simon Dachs sinnvoll heranzutragen wären (II).

I. Harald Fricke stellt in seinem Lexikonartikel drei verschiedene Bedeutungen des Terminus ›Poetik‹ nebeneinander, die innerhalb des literaturwissenschaftlichen Lehrgebäudes ganz unterschiedliche Systemstellen einnehmen: Zum einen bezeichne man damit eine historisch-deskriptive, analytische Beschäftigung mit dem dichterischen Produktionsprozeß (a), zum anderen die individuellen oder gruppenspezifischen, aus den Texten abzuleitenden immanenten Maximen der Dichter selbst (b) und zum dritten eine meist schriftlich fixierte, normative Anleitung zur Produktion oder auch zur Analyse und Wertung poetischer Texte (c). 3 _______ 1 2

3

Christoph Kaldenbach: Auswahl aus dem Werk. Hg. und eingeleitet von Wilfried Barner. Tübingen: Niemeyer 1977 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Sonderreihe, 2), S. 123. Günter Grass: Das Treffen in Telgte [1979]. Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock. Darmstadt [u.a.]: Luchterhand 1985 (Sammlung Luchterhand, 558), S. 35: »Beide Neutöner [Zesen und Birken] klagten Rist, Czepko und (hinter der Hand) Simon Dach des ewigen ›Opitzierens‹ an.« Harald Fricke: Poetik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von JanDirk Müller. Bd. 3. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2003, S. 100–105. Vgl. auch Dietmar Till: Poetik, Abschnitt A: Definition. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 1304–1307. Till stellt nebeneinander »Normative Poetik« (vgl. oben c), »Deskriptive Poetik« (vgl. oben b, allerdings Überschneidungen mit a) und »Autorpoetik« als »Spezialform der deskriptiven Poetik« (vgl. oben a, al-

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Robert Seidel

(a) Die erste Bedeutung zielt im Kontext barocker Poesie vor allem auf den weiten Bereich der poetologischen Topik und damit auch auf die gängigen ›Selbstzuschreibungen‹ dichterischer Kompetenzen, Motivationen und Arbeitsbedingungen. Ich nenne nur einige der geläufigsten Topoi und dokumentiere sie mit jeweils einem einzigen Beispiel aus der Lyrik Simon Dachs, versichernd, daß es jeweils zahllose weitere Belege anzuführen gäbe. Da wäre der Nachruhm, den einzig der Dichter den sterblichen Menschen zu garantieren vermag: Ein Tugendhafftes Leben Durch ein gelehrtes Lied Nach der gebühr erheben, Ist was kein Ende sieht, Der Mausoleen Stärcke Liegt längst schon umbgefällt, Vnd Flaccus süsse Wercke 4 Singt noch die gantze Welt.

Und natürlich wird auch der Poet selbst durch seine Kunst unsterblich: ICh bin nun gutte zeit gesessen Hier umb des linden Pregels Randt, Schlecht, still, nur Gott vnd mir bekant. Jhr Reime, was thut jhr indessen? Jhr macht der Welt mich offenbahr Mehr als mein Wunsch vnd Hoffnung war, Tragt meinen Rhum auff schnellen Flügeln Ohn mein Verdienst, ohn mein bedacht Von Odoacers reichen Hügeln 5 Bis in die kalte Mitternacht.

Ein herausragender Dichter hat darüber hinaus die Position eines Archegeten inne; was Vergil für Rom, was Opitz 6 für Deutschland war, ist Dach für Preußen: _______

4

5

6

lerdings Begriff dort nicht auf die poetologische Reflexion des Autors selbst beschränkt). Die Dreiteilung des Signifikats bleibt also erhalten, nur wird der Begriffsumfang der Signifikanten etwas unterschiedlich angesetzt. Simon Dach: »Rühmlicher Nachklang«. In: ZIESEMER IV, S. 46f, hier Str. 6. – Einen Sonderfall bilden diejenigen (recht zahlreichen) Gedichte, in denen Dach lebende oder verstorbene Personen hyperbolisch mit den Autoritäten der Antike vergleicht. Ein kurioses Beispiel ist das »Hochverdiente[] Ehren=Gedächtniß« auf einen Bernhard von Königseck (ZIESEMER IV, S. 192–197, hier V. 101–105): »Wie wollt’ ich doch an ihm der Sprachen Meng’ erheben? | Es hatt’ ihm Cicero selbst seinen Mund gegeben, | Ihn hätte damals Rom gehalten für ein Kind. | Was Plaut, Terent, Salust, Liv, Flor und andre sind, | Was Maro, Naso, Flacc war dieser Mann imgleichen.« Simon Dach: »Schuldige Auffwartung durch welche des […] Herren Gerharden, Graffen zu Dönhoff, […] Seines gnädigen Herrn hochgültige Gnade zu erhalten sich bemühet dessen gehorsamer Simon Dach. […]«. In: KELLETAT, S. 98–102, hier Str. 1. Die Reverenz vor dem ›Vater der deutschen Dichtung‹ wäre als wichtiges Nebenmotiv zu nennen; vgl. KELLETAT, S. 29 ff., 131 u.ö. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nicht nur Dachs »Gesang bey des Edlen vnd Hochberühmten Herren Martin Opitzen von Boberfeldt, etc. etc. hocherfrewlichen Gegenwart Zu Königsbergk in Preußen […].« In: ZIESEMER I, S. 51 f., aus dem Jahre 1638 bislang keine gründliche Würdigung

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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Mein Gewerb’ und Handel sind Reime, die Latonen Kind Mir in Preussen anbefohlen, Daß er deutsch kan, danckt er mir, Ich hab’ erst der Musen Zier 7 An den Pregel müssen holen.

Trotz seiner Verdienste ist der Dichter von Armut geplagt und wendet sich daher – halb demütig, halb selbstbewußt – an seinen Mäzen: Helfft mir auß diesen Nöhten, Ihr thut es dem Poeten, Der ietzund vnd darnach Auff seiner Reime wagen Wirdt ewern Nahmen tragen 8 Biß an des Himmels Dach.

Die Fülle der poetischen Verpflichtungen wird dem Dichter indessen zur Last, er sieht die Poesie als Sklavendienst an: ICh mein’, ich habe biß anher Ein ehrlichs müssen geigen, Als wär’ ich gantz Leibeigen, Jetzt wird mir auch die Hand zu schwer, Ich kan die Finger nicht mehr rühren, Mir starret Sinn vnd Fleiß, Für steter Arbeit weiß 9 Ich auch den Bogen nicht zu führen.

Weitere Topoi ließen sich anfügen. Die Dach-Forschung hat diesen Befund stets wahrgenommen, so daß man sich etwa über die Vor- bzw. Nachworte in Hermann Oesterleys 10 und Alfred Kelletats Auswahlausgaben oder in dem ausführlichen Artikel von Dietmar Peil im Kindler 11 rasch informieren kann. Überblicksarbeiten wie Christiane Ruckensteiners Dissertation zur Freund_______

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gefunden hat, sondern auch die Vertonung dieses Textes durch Heinrich Albert. Ein Blick auf die Vertonung wäre indes um so lohnender, als hier – für eine Liedkomposition ungewöhnlich – jede Strophe eine eigenständige Melodie erhält. Abdruck der Partitur in: Heinrich Albert: Arien. Hg. von Eduard Bernoulli. Bd. 1. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1903 (Denkmäler Deutscher Tonkunst, 12), S. 64–72. Simon Dach: »Johann Oeder und Sophie Fehrmann«. In: KELLETAT, S. 125 f., hier Str. 5. Mit »Latonen Kind« ist der Dichtergott Apollon gemeint. Simon Dach: »An die Hn. Ober-Rähte.« In: KELLETAT, S. 113 f., hier 5. Simon Dach: »Michael Lindner und Anna Stadie«. In: ZIESEMER I, S. 177 f., Str. 1 f. – Dieses Motiv wird zuweilen in unfreiwilliger Komik variiert. Als während einer der wenigen kurzen Reisen, die sich Dach gönnte, mehrere Personen verstorben waren, die er deswegen »Nicht können an ihr Grab begleiten«, wandte er sich anläßlich eines späteren Todesfalls in einer Apostrophe an diese: »Ihr seyd mir vnverhofft verblichen, | Weil ich in etwas war entwichen« ([Inc.:] »Ihr Seiten greifft euch wieder an«. In: ZIESEMER III, S. 217 ff., Zitate V. 16 und 31 f.). Hermann Oesterley: Leben des Dichters. In: OESTERLEY, S. 24–88, hier S. 58–88. Dietmar Peil: Simon Dach – Das lyrische Werk. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe. Hg. von Walter Jens. Bd. 4. München: Kindler 1996, S. 371–374.

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schaftsdichtung Simon Dachs 12 oder neuere Einzelstudien wie die von Peil zur Topik der Dichterarmut 13 stellen das Material in größerer Auswahl zusammen. Die Auswertung dieser topisch fixierten Selbstpositionierungen bringt indessen vor allem Erkenntnisse für die Biographie oder die sozialgeschichtliche Stellung des jeweiligen Dichters. Die zahlreichen Krankheitsgedichte beispielsweise, die in der Tradition des Typus De se aegrotante stehen, sind im Falle Dachs als apologetische Verlautbarungen eines vorübergehend verhinderten Kasualdichters – etwa im Gegensatz zur Melancholiekritik in Gryphius’ berühmtem Sonett Thränen in schwerer Kranckheit – einzustufen, 14 während der Verweis auf die Armut des Poeten von Dach über die Phase seiner tatsächlichen materiellen Bedrängnis hinaus weitergeschleppt wird. 15 Der Nachdruck, mit dem der Dichter seine Verehrung für Opitz immer wieder hervorhebt, steht ebenfalls in einem apologetischen Kontext. Insgesamt entwerfen die poetologischen Selbstzuschreibungen das Porträt eines exemplarischen barocken Gelegenheitsdichters, 16 das durch gezielte Einzelanalysen allenfalls noch in Nuancen etwas schärfer gezeichnet werden kann. So entwirft beispielsweise das billettartige Gedicht An Hn. Johann Löselium Med. D. ein drastisches Bild der divergierenden Entwicklung von Karrieren und Interessen innerhalb der respublica litteraria. 17 Der Arzt Lösel, ehemals selbst ein vielversprechender Dichterzögling, hat Verrat an den Musen begangen: Du bist, Herr Lösel, vmbgewandt, Kein Lied wirdt mehr von dir geschrieben,

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Christiane Ruckensteiner: Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung. Diss. phil. Innsbruck 1957. (Die Dissertation ist in Deutschland gar nicht, in Österreich nur in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien und am Germanistischen Seminar der Universität Innsbruck greifbar. Ich danke Herrn Dr. Wolfgang Kofler, Innsbruck, für die freundliche Bereitstellung eines Exemplars dieser Arbeit.) Dietmar Peil: Der Dichter als Bettler. Anmerkungen zu einigen Gelegenheitsgedichten Simon Dachs. In: Germanica Wratislaviensia 88 (1989), S. 90–116. Wolfram Mauser: Was ist dies Leben doch? Zum Sonett »Thränen in schwerer Kranckheit« von Andreas Gryphius. In: Gedichte und Interpretation. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart: Reclam 1984 (RUB, 7890), S. 222–230; Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann. Tübingen: Niemeyer 1992 (Frühe Neuzeit, 10), S. 1–29, hier S. 10 f. ein Beispiel aus den Gedichten Simon Dachs. Peil: Der Dichter als Bettler (wie Anm. 13), S. 115 f. Simon Dachs Gedichte dienen nicht umsonst recht häufig als Belege in der einschlägigen Monographie von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Literatur. Stuttgart: Metzler 1977. Von der Apologie bis zur Klage finden sich bei Dach alle Arten der expliziten Auseinandersetzung mit der Kasualdichtung. Ein eindrucksvolles Beispiel bildet der Eingang des Poems auf den Tod Andreas Schmitners ([Inc.:] »SO solstu nun auch Anstand machen«. In: ZIESEMER III, S. 129 ff.); eine längere Sequenz relevanter Gedichtpassagen bietet Oesterley: Leben des Dichters (wie Anm. 10), S. 61–66. In: ZIESEMER II, S. 15 f., hier Str. 1 f.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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Wer zähmt dir die gelehrte Hand? Wo ist dein grosser Fleiß geblieben? Es hatten deinetwegen schon Die Musen Lieb vnd Frewd empfunden Vndt eine grüne LorbeerKrohn Vmb dein berühmtes Haupt gewunden.

Die Begründung für sein Verhalten wird in den unterschiedlichen materiellen Chancen von Dichter und Arzt gesehen, dabei ist mit »Poet« offenbar der Typus des – schlecht besoldeten – Schulmeisters gemeint, der sich durch Gelegenheitsdichtung ein karges Zubrot verdiente (Simon Dach indessen war 1653, zur Zeit der Entstehung des Gedichts, längst wohlbestallter Professor an der Königsberger Universität): Du fragest auch darnach nicht viel Vnd gehest vmb mit bessern Sachen, Waß kan ein armes Lautenspiel Doch gegen die Artzneykunst machen? So viel Gesundheit besser ist Alß Kranckheit, Leben alß verbleichen, So wirdt ein Artzt weit mehr erkiest Alß Opitz, Ich vnd meinesgleichen. Daher ein Sennert vnd Galen Offt grosse Gütter kan erwerben, Da ein Poet muß betteln gehn 18 Vnd nur für Hungers Noht nicht sterben.

Immerhin stellt Dach sich selbstbewußt neben Opitz gegen die medizinischen Autoritäten Galen und Daniel Sennert auf. Doch die eigentliche Pointe folgt am Schluß: Das Gedicht enthält nämlich die Mahnung des Poetikprofessors an den Kollegen von der medizinischen Fakultät, er möge doch nicht versäumen, dem ewig Kränkelnden die versprochene Arznei zu bringen, deren er bedürfe, um – so schließt der Text – auch fernerhin den Ruhm des Arztes zu künden. Der Topos von der Macht des Dichters über den Nachruhm seiner Zeitgenossen dient also letztlich dazu, das zuvor gefällte Urteil über die soziale Positionierung der akademischen Disziplinen zu revidieren. – So schön derlei Einzelfunde, die sich übrigens ebenfalls in lateinischen Gedichten nachweisen lassen, auch sein mögen: Ein poetologisches Konzept, das über das von Alfred Kelletat skizzierte Bild deutlich hinauswiese, ergibt die Auswertung der diesbezüglichen Selbstpositionierungen nach meinen Lektüreerfahrungen nicht. (b) Wir kommen zum Aspekt der ›immanenten Poetik‹, der in der Vor- und Frühphase der Barockforschung im Mittelpunkt des Interesses an Simon Dach stand. Kurios erscheinen heute Sprach- und Stilvergleiche wie die von Bruno Nick, der 1911 in einer der wenigen frühen Dissertationen über Dachs Lyrik den Attributgebrauch untersuchte und befand, daß _______ 18

Ebd., Str. 4 ff.

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Dach durch die Beiwörter, die er den Naturgegenständen gibt, möglichste Naturwahrheit erzielen will. Gerade hierbei zeigt es sich so recht, wie weit Dach über seinem Meister Opitz steht, der sich in der Wahl der Epitheten lediglich von dem Standpunkt des Nützlichen und Ergötzlichen bestimmen liess. Man merkt es allenthalben heraus, dass unser Dichter die Natur nicht von der Studierstube aus besingt, sondern vielmehr ihr nachgeht 19 und sie mit offenen Augen zu verstehen sucht.

Erich Trunz, der seit 1936 das Erscheinen von Ziesemers Dach-Ausgabe in der Deutschen Literaturzeitung kritisch begleitete, erkannte zwar die Wechselbeziehung von (Individual-)Stil und Kommunikationssituation und konnte so eine plausible Erklärung dafür geben, warum etwa Dachs Texte für das kurfürstliche Haus den Gesetzen barocker Repräsentationsrhetorik mehr entsprechen als die – zu seinen Lebzeiten ungedruckten – großen Freundschaftsgedichte an Albert und Roberthin. Ohne Wertung geht es allerdings auch hier nicht ab: Von »schwachen opitzierenden Anfänge[n]« ist die Rede, der »Durchbruch zum Lied« 20 wird gefeiert, und angesichts der Freundschaftsgedichte darf der Hinweis nicht fehlen, daß »seine Seele sich aussprechen mußte«. 21 Wenn heute von Simon Dach in allgemeinen literarhistorischen Zusammenhängen die Rede ist, wird der »Inbegriff jener immanenten Regeln oder Maximen, denen ein Autor […] stillschweigend folgt« 22 – so die Formulierung von Harald Fricke –, selbstverständlich mit den sozialhistorischen Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen der Gedichte in Verbindung gebracht. Rekurrenzphänomene und Adaptationen der Texte an vorgegebene Melodien, höfische Ergebenheitsgesten und laus ruris-Thematik sind demnach von äußeren Umständen bedingt, und die gelegentlich als exzeptionell eingestufte Freundschaftsdichtung ist in der Sache wie im Ton vielfach durch den Humanismus vorgeprägt. 23 Wer darüber hinaus nach einer ›immanenten Poetik‹ im Sinne eines Individualstils und einer eigenständigen Gestaltung der Gegenstände sucht, wird auf das stoßen, was Alfred Kelletat angesichts der wurmzerfressenen Leichen und der _______ 19

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Bruno Nick: Das Naturgefühl bei Simon Dach. Diss. phil. Greifswald 1911, S. 13 f.; vgl. ebd., S. 9: »Alles Gekünstelte, Unnatürliche bei Opitz hat Dach grösstenteils vermieden.« – Ähnlich seltsam erscheinen die Erklärungen der frühen Dach-Forscher, wenn es um dessen Leistung als Gelegenheitsdichter geht. Vgl. Hans Böhm: Stil und Persönlichkeit Simon Dachs. Diss. phil. Bonn 1910, S. 55: »Aber da wiesen ihm die Sitte der Bestellungsgedichte und seine Dürftigkeit einen anderen Weg. […] Jetzt hat er die Entfernung von dem Stoff und die Freiheit des Gemüts, die ihm vor seinem eigenen Leben so fehlen, dazu den jedem Künstler, und ihm besonders wohltätigen Zwang, einen bestimmten Gegenstand in kurzer Frist abzuschließen. Jetzt kommt ihm der Mangel geistiger Überlegenheit und charaktervoller Überzeugung zu statten, indem er ihm ermöglicht, auf die Bedürfnisse der Besteller gefällig einzugehen und die verschiedensten Ansichten nach Gelegenheit zu vertreten.« Erich Trunz: Simon Dachs deutsche Gedichte. Drei Rezensionen aus der »Deutschen Literaturzeitung« 1936–1939. [Wiederabgedruckt in:] Ders.: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München: Beck 1995, S. 363–377, hier S. 376. Ebd., S. 366. Fricke: Poetik (wie Anm. 3), S. 101. Vgl. dazu unten S. 128 ff. die Analyse der deutschen und lateinischen Freundschaftsgedichte auf Robert Roberthin.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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bierseligen Dichterfreunde, die Dachs Texte bevölkern, als ›Verismus‹, 24 als »fast vorpoetische Offenheit gegenüber der Wirklichkeit« 25 bezeichnet. Ob man freilich, wie Kelletat es tut, zur Erklärung dieses Befundes die angebliche provinzielle Abgeschiedenheit der kleinen preußischen Universitätsstadt bemühen sollte, sei dahingestellt. 26 Und was nützt ein literarhistorischer tour de force wie Albrecht Schönes Behauptung, daß Simon Dach »bestimmten Schreibweisen des 16. und des 18. Jahrhunderts noch näher, schon näher« gestanden habe »als den hochstilisierten, die privaten und sozialen Realien ins Überpersönliche läuternden poetischen Exerzitien, die unter dem Diktat von Martin Opitz die literarische Szene in den protestantischen Territorien des 17. Jahrhunderts beherrschten«? 27 Nimmt man Dachs gesamte lyrische Produktion in deutscher und lateinischer Sprache zusammen und berücksichtigt man gleichfalls die jeweilige funktionale Trennung von Brauttänzen und Hochzeitsgratulationen, 28 von Begräbnisliedern und durchstrukturierten Epicedien, 29 so zeigt sich, daß er, _______ 24 25 26

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Alfred Kelletat: Nachwort. In: KELLETAT, S. 331–420, hier S. 402. Ebd., S. 404. Ebd., S. 400: »Das [die kulturelle ›Verspätung‹ Preußens; RS] ist nicht nur Mangel und Minderung, sondern ermöglicht den für jene Zeit erstaunlichen Zudrang von Wirklichkeit im Gedicht.« Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München: Beck 1975 (Edition Beck), S. 66. Für die Epithalamien gilt mutatis mutandis dasselbe, was Wulf Segebrecht (s. folgende Anm.) über die Epicedien bemerkt. In einem Hauptseminar zur Lyrik Simon Dachs im Wintersemester 2005/06 an der Universität Frankfurt/M. zeitigte gerade die Analyse von Hochzeitsgedichten immer wieder erstaunliche Erkenntnisse hinsichtlich der Darstellungsökonomie und der Fähigkeit zu feiner Binnendifferenzierung, die Dachs kasualpoetisches Wirken auszeichnen. Gutes Anschauungsmaterial liefern etwa die bei KELLETAT, S. 76 ff., 127 ff. und 130 ff. abgedruckten Texte. Vgl. Ruckensteiner: Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung (wie Anm. 12), S. 161 ff. und 174 ff.; zum Aufbau des Epicediums vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147. Weiterführend ist die Bemerkung von Wulf Segebrecht: Simon Dach und die Königsberger. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin: Schmidt 1984, S. 242–269, hier S. 260: »Dach orientierte sich bei dieser Tätigkeit [dem Verfassen von Epicedien; RS] durchaus an den herkömmlichen Formgesetzen des Epicediums, die Lob-, Klage- und Trostteile vorsehen. Doch die Liedform selbst, die er bevorzugt, und besonders die Umgewichtungen der obligatorischen Teile der dispositio, die er gern vornimmt, führen oft zu eigenwilligen Gebilden selbst dort noch, wo man vom Anlaß her eher Routine-Arbeiten erwarten würde. Das gilt vor allem für den Einleitungsteil der Carmina, also das Proömium, das Dach nicht selten stark ausweitet, so daß es bis zu einem Drittel und mehr eines Gedichts umfassen kann. Dies ist zugleich der Ort, an dem Dach jene Themen anspricht, die sogar seinen konventionelleren Gedichten ein breiteres Interesse sicherten und noch heute verschaffen könnten: Hier wird von den Werten der Freundschaft gesprochen und vom allgemeinen Sittenverfall, hier dringt die Zeitgeschichte in die Casualpoesie ein, und hier entwickelt Dach die Grundsätze seiner Poetik.«

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selbst innerhalb seiner Gelegenheitsdichtung im strengen Sinne, 30 über ein außergewöhnlich breites Spektrum von Gattungen, Traditionen und Stilen verfügte. Angesichts dieser Tatsache wäre am ehesten eine ›Poetik der Vielseitigkeit‹ zu postulieren, genauer: eine ausgeprägte Tendenz zur Übernahme literarischer Rollen, unter denen die des genau beobachtenden, in derb-drastischer Weise sich äußernden Auftragspoeten den Artikulationsbedürfnissen Dachs offenbar besonders entgegen kam, während er etwa die des religiösen Mahners, wie sie Gryphius in seinen Sonettsammlungen exemplarisch realisiert, eher selten einnahm. 31 Die heute sich durchsetzende Bereitschaft, rollenhaftes Sprechen als solches zu konstatieren und zugleich dessen pragmatische Funktion anzuerkennen, zeigt die Analyse eines besonders ›aufdringlich‹ erscheinenden Bittgedichts, die Wilhelm Kühlmann vor rund 15 Jahren vorgelegt hat. Über Dachs poetische Forderung An hn. ober-marschallen Ahas. von Brandt, daß sein gehalt erfolgen möge, worin die ausstehende Bezahlung in witziger Metaphorik als ein scheues Wild dargestellt wird, schreibt Kühlmann, Dach scheue sich nicht, »alle Konventionen des Zierlichen, alle Normen der standesgemäßen Dichtersprache im Parlando-Ton zu überspringen und die drastische Bildlichkeit des gemeinen Mannes zu bemühen«. 32 Nun war Dach allerdings kein ›gemeiner Mann‹, sondern Professor an der Universität, und das Gedicht, wie ernst es auch gemeint sein mochte, war doch auch literarisches Spiel. Wo indes der Spielcharakter von Literatur, die offenkundige Freude eines Poeten an der überraschenden Formulierung, die Lust an der Juxtaposition deutscher und lateinischer Texte zum selben Thema – dazu siehe unten –, die Amalgamierung christlicher und antiker, antiker und preußisch-provinzieller Vorstellungsinhalte so exzessiv gepflegt wurden wie im lyrischen Werk Simon Dachs, da wird dessen Heterogenität selbst zum System. Was in den letzten Jahren zur ›immanenten Poetik‹ Dachs geschrieben wurde, ist meist treffend; eine genauere Lektüre seiner Gedichte dürfte freilich eher dazu beitragen, das Bild noch weiter zu verwischen, solange man sich auf die Analyse von Einzeltexten beschränkt. (c) Eine poetologische Lehr- oder Programmschrift hat der Universitätsprofessor Simon Dach nicht verfaßt. Es sind aus seiner Feder lediglich zwei lateini_______ 30

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Die – quantitativ freilich weit zurückbleibenden – übrigen literarischen Gattungen sind kurz vorgestellt bei Kelletat: Nachwort (wie Anm. 24), S. 374–382. Neuere Studien zeigen darüber hinaus, »in einer welch profunden Weise« Dach »mit der lutherisch-orthodoxen Theologie, insbes. mit der Versöhnungslehre und deren biblischer Grundlegung, vertraut war« (Johann Anselm Steiger: »Mein Niedrig=gehn sol Euch erheben«. Zur poetisch-meditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichts von Simon Dach [1605 – 1659]. In: Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans-Jörg Nieden und Marcel Nieden. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1999, S. 175–199, hier S. 198 f.). Beachtenswert sind Ausnahmen wie das Sonett »Letzte Rede Einer vormals stoltzen vnd gleich jetzt sterbenden Jungfrawen«. In: KELLETAT, S. 161. Wilhelm Kühlmann: Bevor es die IG Medien gab. Zu einem Gedicht von Simon Dach [mit Textabdruck; zuerst 1990]. In: Wilhelm Kühlmann: Literarische Miniaturen. Hg. von Hermann Wiegand. Heidelberg: Manutius 1996, S. 17–20, hier S. 19.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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sche Abhandlungen überliefert, 33 zum einen die Einladung zu seiner Antrittsrede, die er nach seiner Ernennung zum Professor der Poetik im Jahre 1639 hielt, zum anderen drei ausformulierte Thesen, die er traditionsgemäß anläßlich einer von ihm geleiteten Magisterdisputation auszuarbeiten hatte. Die noch von Kelletat mitgeschleppte Fehlinformation, wonach es sich um die von Dach selbst zu verteidigenden Thesen bei seiner eigenen Magisterprüfung gehandelt habe, 34 ist schon deshalb falsch, weil der Magister Dach hier als Praeses auftritt; erst Dünnhaupt korrigiert den Irrtum stillschweigend, indem er zu dem entsprechenden Druck die Angabe »Magisterdisputation unter Dachs Vorsitz« macht. 35 In der Einladung zur Antrittsrede, die übrigens »sanctißimae Poeseos innocentiam et castitatem« 36 behandeln sollte, hebt Dach die Poesie dadurch hervor, daß diese anders als die übrigen »disciplinae«, die sich auf streng voneinander abgezirkelte Bereiche beschränkten, über einen weitaus größeren Herrschaftsbereich (»dominio« 37 ) verfüge: […] res pulcerrimas ipsumque adeò coelum terramque vidisti, at nihil extra Poesin complexus es. Limites non admittit nisi quos Vniversum. Deum rerum omnium conditorem credit pietas. Poetam conditarum imitatorem dicit Sapientum consensus. Quacunque vult liberrimè vagatur Poesis, suaeque sedem divinitatis constituit. In coelo cum aeternis mentibus moratur, et admirandae corporum coelestium consensionis speciem sibi imprimit 38 […]. (Die wunderschönsten Dinge und sogar den Himmel und die Erde selbst hast du erblickt, und doch hast du nichts außerhalb des Reichs der Poesie erfaßt. Sie läßt keine Grenzen zu außer denen, die das Weltall selbst setzt. Die Frömmigkeit hält Gott für den Schöpfer aller Dinge. Den Dichter nennt eine Übereinkunft aller Weisen den Nachahmer des Geschaffenen. Wohin sie immer will, schweift die Poesie in Freiheit, und sie selbst bestimmt den Wohnsitz ihrer Göttlichkeit. Im Himmel verweilt sie mit den ewigen Geistern und prägt 39 sich das Bild des bewundernswürdigen Einvernehmens der himmlischen Körper ein.)

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Vgl. hierzu den ausführlichen Beitrag von Hanspeter Marti und Lothar Mundt in diesem Band. Kelletat: Nachwort (wie Anm. 24), S. 344. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling–Francisci. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996–1230, hier S. 1010. Ad inauguralem orationem lectionibus publicis in professione poëtica praemittendam Moecenates, Patres ac Cives Academicos officiosissime invitat Simon Dachius. 1639. In: ZIESEMER II, S. 334–337, hier S. 337. Ebd., S. 334. Ebd., S. 335. Der hymnische Duktus dieser Passage ist nicht ungewöhnlich. In deutscher Sprache findet man derlei etwa zeitgleich in Johann Klajs Lobrede der Teutschen Poeterey von 1645, in: Johann Klaj: Redeoratorien und »Lobrede der Teutschen Poeterey«. Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen: Niemeyer 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, 4), S. [389]: »Es muß ein Poet ein vielwissender/ in den Sprachen durchtriebener und allerdinge erfahrner Mann seyn: Er hebet die Last seines Leibes von der Erden/ er durchwandert mit seinen Gedanken die Länder der Himmel/ die Strassen der Kreise/ die Sitze der Planeten/ die Grentzen der Sterne/ die Stände der Elementen. Ja er schwinget die Flügel seiner Sinne/ und fleucht an die Stellen/ da es regnet und schneiet/ nebelt und hagelt/ stürmet und strei-

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Dem Preis ihrer Vielseitigkeit ist ein Lob ihres Alters (»antiquitate« 40 ) vorgeschaltet, für das sowohl Argumente von Dichtern selbst als auch solche von Philosophen vorgebracht werden, wie überhaupt Wert auf eine Gleichgewichtung von Dichtung und Philosophie – bei zeitlichem Vorrang der Dichtung – gelegt wird. Ein dritter Abschnitt ist apologetischer Natur. So wird der traditionelle Vorwurf der Lügenhaftigkeit der Dichter mit dem ebenso traditionellen Argument, dieselben verzuckerten mit ihren »figmenta« die bitteren Wahrheiten der Philosophen, entkräftet. Der Nutzen der Poesie wird schließlich daraus abgeleitet, daß sie stets mächtige Förderer gefunden habe. Die ein Jahr später anläßlich einer Magisterdisputation gedruckten Thesen 41 nehmen zunächst die Gedanken des ersten Textes auf, wenn unter der Überschrift »Verum ad Poësin omnino pertinet« 42 die pragmatische Funktion der Dichtung mit Beispielen aus Bibelepik und Lehrdichtung belegt und im Falle des Dramas zumindest die Forderung nach ›Wahrscheinlichkeit‹ im Anschluß an Aristoteles hervorgehoben wird. Die zweite These konstatiert, daß »Tragoedia non tristi tantum, sed laeto etiam exitu terminari potest«, 43 und im dritten Abschnitt wird ausführlich und in etwas scholastischer Diktion dargelegt, warum unzüchtige Dichtung nicht als ›Poesie‹ zu bezeichnen sei. Dach verwendet in seinen beiden Abhandlungen geläufige Topoi der zeitgenössischen Poetik und weicht dabei nicht wesentlich von der communis opinio ab. 44 Gegen diese Feststellung spricht auch nicht der Befund, daß gebräuchliche Erklärungsmodelle in leicht verändertem Kontext verwendet werden. Ein Beispiel: Martin Opitz postuliert zu Beginn seiner Poeterey bekanntlich, daß »die Poeterey […] anfanges nichts anderes gewesen [sei] als eine verborgene Theologie«, und fügt als Erklärung hinzu, daß die Menschen der Vorzeit zur Aufnahme abstrakter Weisheiten unfähig gewesen seien, weshalb

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tet. Er durchkreucht den Bauch der Erden/ er durchwädet die Tiefen/ schöpffet scharffe Gedanken/ geziemende zierliche Worte[/] lebendige Beschreibungen/ nachsinnige Erfindungen/wolklingende Bindarten/ ungezwungene Einfälle/ meisterliche Ausschmükkungen/ seltene Lieblichkeiten/ und vernünfftige Neurungen.« Dach: Ad inauguralem orationem (wie Anm. 36), S. 334. Trias assertionum ad rem poëticam spectantium in Academia Electorali Brandeburgica, quae Regiomonti Borussor. est, exigentibus id Philosoph. Faculatis statutis pro loco publicae disquisitioni subiecta Praeside M. Simone Dachio Memel. Borusso Poët. Prof. Publ. Respondente Christophoro Romano Borusso in Auditorio Maiori ad diem 18. et 19. Octob. horis antemeridianis. Regiomonti literis Reusnerianis 1640. In: ZIESEMER II, S. 337–343. Ebd., S. 339. Ebd., S. 340. Seine Vertrautheit mit der zeitgenössischen Rhetorik (speziell der Affektenlehre) belegt u.a. ein lateinisches Begleitgedicht zu einem Lehrbuch seines Kollegen Valentin Thilo. Vgl. Joachim Dyck: »Lob der Rhetorik und des Redners« als Thema eines Casualcarmens von Simon Dach für Valentin Thilo. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5 (1976), S. 133–140. – Zu Auffälligkeiten in Einzelfragen äußern sich Hanspeter Marti und Lothar Mundt in diesem Band.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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weise Männer/ was sie zue erbawung der Gottesfurcht/ gutter sitten vnd wandels erfunden/ in reime vnd fabeln/ welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist/ 45 verstecken und verbergen mussen.

In Dachs Einladung zur Antrittsrede dient dasselbe historische Konstrukt weniger dazu, die Funktion als das Alter der Poesie (»antiquitate […] nulli concedit« 46 ) zu belegen. Die Fähigkeit zu gebundener Rede, so wird im Anschluß an antike Autoritäten behauptet, sei den Menschen von allem Anbeginn gegeben, und Quia certißimâ divinitatis ratione humano ingenio mirificè arridet quicquid metri legibus animatum proponitur, Sapientum primi de Dei cultu quaedam, virtutum praecepta numerorum dulcedine condivisse, eâque omnium rudes et agrestes hominum animos ad 47 humanitatem revocasse putantur[.] (Weil durch gewissen göttlichen Ratschluß der menschlichen Natur nach wundersamer Fügung das gefällt, was von den Regeln des Versmaßes beseelt vorgetragen wird, haben – so glaubt man – die ersten Weisen gewisse Vorschriften hinsichtlich des Gottesdienstes und des rechten Verhaltens mit der Süße des Versrhythmus gewürzt und dadurch die rohen und bäurischen Gemüter aller Menschen zur Menschlichkeit herangebildet.)

Neben den antiken Gewährsleuten, von denen er besonders Horaz mehrfach zitiert, kennt Dach selbstverständlich auch neuzeitliche Autoren und setzt sich mit ihnen auseinander. Offenbar nimmt er zumindest teilweise aktuelle Debatten auf, wie beispielsweise in der Frage nach der Notwendigkeit des traurigen Schlusses in der Tragödie. Hier sollte wenige Jahre später Georg Philipp Harsdörffers Poetischer Trichter ganz im Sinne Dachs dekretieren, daß in den »Trauerspielen […] nicht zwar der gestalt/ wie etliche vermeinen/ […] der Ausgang nohtwendig traurig seyn müsse«. 48 Die dem Druck angefügten »Corollaria«, die sich nur in einem Fall direkt an die ausgearbeiteten Thesen anschließen, stehen ebenfalls mit zeitgenössischen Diskussionen in Zusammenhang. So ist das Corollarium »An detur Tragicomoedia« 49 in die seinerzeit – etwa in der Jesuitenpoetik – aktuelle Auseinandersetzung um die Gattungsmischung im Drama einzuordnen, 50 während die Frage, ob eine in Prosa verfaßte Fabel noch _______ 45

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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem »Aristarch« (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen »Teutschen Poemata« (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der »Trojanerinnen«. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB, 18214), S. 14. Dach: Ad inauguralem orationem (wie Anm. 36), S. 334. Ebd., S. 334. Zuerst 1647; zitiert nach: Poetik des Barock. Hg. von Marian Szyrocki. Stuttgart: Reclam 1982 (RUB, 9854), S. 120. Wie ein genauer Vergleich der Quellenangaben zeigt (ZIESEMER II, S. 340; Harsdörffer, S. 118), nutzten beide Verfasser die Autorität des Niederländers Hugo Grotius und seines Dramas Sophompanea. Vgl. dazu Arthur Eyffinger: The Fourth Man. Stoic Tradition in Grotian Drama. In: Grotius and the Stoa. Ed. by Hans W. Blom and Laurens C. Winkel. Assen: van Gorcum 2004 (Grotiana, 22/23), S. 117–156. Trias assertionum (wie Anm. 41), S. 343. Vgl. Georg Braungart: Jakob Bidermanns Cenodoxus. Zeitdiagnose, superbia-Kritik, komisch-tragische Entlarvung und theatralische Bekehrungsstrategie. In: Daphnis 18 (1989), S. 581–640, hier S. 613.

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als »poema« zu bezeichnen wäre, eher systematischer Natur ist und in der Poetik der Zeit sonst eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte, ebenso wie die prosodische Diskussion darüber, »An detur inter numerum oratorium et poeticum differentia«. 51 Inwieweit einzelne Gedanken in Dachs kurzen Abhandlungen auf eigenständigen Überlegungen gründen, ist nicht immer klar. Zumindest an einer Stelle basiert eine ungewöhnliche Feststellung – das Stoffarsenal in der Tragödie sei auf wenige Familien aus dem überlieferten Mythos beschränkt gewesen, damit der Dichter nicht willkürlich Handlungen erfinden könne – offensichtlich auf einem gewollten Mißverständnis der Aristotelischen Poetik. 52 Dach wollte den Archegeten der Tragödientheorie für eine radikale Widerlegung des Vorwurfs, daß die Dichter lögen, instrumentalisieren. Die beiden lateinischen Schriften dokumentieren – soviel dürften diese knappen Anmerkungen gezeigt haben – recht anschaulich die Argumentationslinien, auf denen sich die ›wissenschaftliche‹ Tätigkeit eines Professors der Poetik im 17. Jahrhundert bewegte. Der apologetische Duktus einiger Passagen läßt vermuten, daß es Dach um die Aufwertung seines Fachs (und seiner Professur) innerhalb der Fakultät bzw. der gesamten Universität ging. Bemerkenswerterweise erfährt man nichts über die Frage der Lehrbarkeit von Dichtung bzw. über die Applizierbarkeit theoretischer Erkenntnisse auf die poetische Praxis. Der an den Texten leicht abzulesende wichtigste Befund der modernen Frühneuzeitforschung dürfte heute nicht mehr Gegenstand kontroverser Überlegungen sein, daß nämlich Simon Dach, der deutsche Poet, »in den griechischen vnd Lateinischen büchern« – um mit Opitz zu sprechen – »wol durchtrieben« war. 53 _______ 51 52

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Trias assertionum (wie Anm. 41), S. 343. »Adde quod ad certas familias, easque paucas adstringitur Tragoedia eam praecipuè ob causam, ut vaga illa novos casus comminiscendi licentia poëtae adimatur, et veritas actionum accuratiùs observetur. Quapropter Agathonis florem totum confictum non laudare sed indulgere amico videtur Aristoteles« (ebd., S. 339); vgl. dagegen Aristot. poet. 9, 1451 b 21); Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur [1971]. München: dtv 1993 (dtv, 4595), S. 465. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (wie Anm. 45), S. 25. Vgl. dazu: Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch hg. von Rudolf Philippi. Königsberg: Hartung 1886 (Publicationen und Republicationen der Königsberger literarischen Freunde, 1), S. 408 f. über Simon Dach: »Durch eine genaue Bekanntschafft mit den griechischen und römischen Poeten hatte er seinen Geschmack nach diesen Mustern gebildet und aus ihren Versen das Wesen der Dichtkunst kennen gelernet.« – Auffällig sind einige Texte, in denen Dach behauptet, vom Deutschen wieder zum Latein zurückkehren zu wollen. Vgl. Simon Dach: »Reinhold Robert und Maria Lange.« (in: ZIESEMER I, S. 26 f., hier V. 1–16 und 37–40): »PHebus ist mir vngewogen, | Amor zürnet als sonst nie, | Wie auch Venus, das ich sie | Durch Betrug hab’ auffgezogen | Und gesagt, ich wollt’ hinfort | Mich der Deutschen Reim’ enthalten, | Vnd, O Rom, mich nach den Alten, | Brauchen deiner Red’ vnd Wort. | | Vnd die Warheit recht zu sagen, | War diß einig schon mein Sinn, | Das ich mich nicht mehr fort hin | Wolte so mit Reimen Plagen, | Sondern darauff einig gehn, | Waß du Edles Rom geschrieben, | Vnd von dir vns hinten blieben, | Du verständiges Athen. | | […] | Nichts als Griechisch vnd Latein, | Welches baß vns pflegt zu ehren, | Vnd die Weisen lie-

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II Was bleibt aber nun zur ›Poetik‹ Simon Dachs überhaupt noch zu sagen? In einer Zeit, da wir die formalen und inhaltlichen Divergenzen innerhalb seines Gesamtwerks nicht mehr in eine qualitative Hierarchie glauben überführen zu müssen, sondern sie als Optionen innerhalb einer Kultur anlaßgebundener, aber auch identitätsstiftender Gelegenheitspoesie nebeneinander bestehen lassen, bietet sich eine funktionale Analyse der Resultate an, die sich aus diesen Optionen ergaben. Dach hat in mindestens einem Viertel der Fälle, in denen er ein deutschsprachiges Kasualgedicht verfaßte, zum selben Anlaß auch ein lateinisches Poem angefertigt. Was bei Opitz verhältnismäßig seltene Trouvaillen sind – und erste Studien zeigen, welche Erkenntnisse sich aus dieser deutsch-lateinischen Parallelproduktion gewinnen lassen –, 54 das findet sich bei Dach in Hülle und Fülle, übrigens auch die fiktiven lateinischen Billetts, mit denen schon Opitz seine nachfolgenden deutschen Texte apologetisch oder trotzig ankündigte. 55 In seiner Gesamtheit auszuwerten wäre dieser spezifische Bestand Dachscher Texte freilich nur, wenn man die bei Dünnhaupt und darüber hinaus 56 gesammelte lateinische Produktion geschlossen neben Ziesemers Ausgabe der deutschen Texte stellte und auch die jeweiligen Publikations- und Rezeptionskontexte so gründlich wie möglich untersuchte.

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ber hören, | Sol hinfort mein tichten sein.« Ebenso »Christliches Denckmal.« (in: ZIESEMER IV, S. 71 ff., hier Str. 5): »Auch ich sing’ in die Welt hinein, | Man wil es bey den Leichen haben, | Daß für dem Deutschen mein Latein | Wird leider endlich mit begraben.« Vgl. auch die Textpassagen bei Oesterley: Leben des Dichters (wie Anm. 10), S. 66– 69. – In einem Begleitschreiben, mit dem Dach sein deutschsprachiges Festspiel Prussiarchus dem Rektor der Universität übersandte, rechtfertigte er den Gebrauch der deutschen Sprache mit dem Auftreten der personifizierten »Barbaries« und fügte diensteifrig hinzu: »Si epico quodam carmine academiae nostrae publice per me gratulandum, id mihi tempore ut significetur, obnixe oro.« Abgedruckt ebd., S. 48. Wilhelm Kühlmann: Von Heidelberg zurück nach Schlesien. Opitz’ frühe Lebensstationen im Spiegel seiner lateinischen Lyrik. In: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hg. von Axel E. Walter. Amsterdam [u.a.]: Rodopi 2005 (Chloe, 36), S. 413–430, hier S. 414–417. So z.B. im Falle der großen, auch metrisch komplexen Hochzeitsdichtung für »Robert Roberthin und Ursula Vogt.« In: ZIESEMER I, S. 55–61, wo Dach in 23 Hendekasyllaben seine nachfolgenden »merra [fälschlich für: »metra«; RS] […] | Prave Teutonicis ligata rythmis« (ZIESEMER I, S. 326 f., hier V. 20 f.): scheinbar entschuldigend (»da veniam«, V. 19) auf das Einwirken eines ›Abgesandten‹ des Bacchus zurückführt (V. 11–18): »Et me nescio quis puer Lyaei | Dum cantare tuos ovans amores, | ROBERTINE, paro, subinde raptat | Bacchi rore velut gravi madentem, | Nec me lege sinit decente ferri. | Fallor ni cluet iste Dithyrambus, | Sic multum petulans erat levisque, | Et doctus vario placere vultu.« Vgl. jetzt die Nachweise in: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück hg. von Klaus Garber. Bd. 1 ff. Hildesheim [u.a.]: Olms 2001 ff.

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(a) Dies konnte für diese Studie nicht geleistet werden, 57 ich muß mich vielmehr auf einige Beispiele beschränken und beginne mit dem Hinweis auf zwei Gedichte, die zwar gerade nicht zum selben Anlaß entstanden, statt dessen aber strukturell und intentional eng miteinander verwandt sind: die sog. ›Freundschaftsepistel‹ für Robert Roberthin aus dem Jahre 1647, die zu Lebzeiten Dachs vermutlich nicht ediert wurde, und das zwei Jahre später entstandene und sogleich publizierte Epicedium auf denselben Sodalen des Königsberger Kreises. Der Vergleich dieser Texte ist deshalb lohnend, weil er ein Vorurteil korrigiert: Die große Alexandriner-Epistel gilt neben der berühmten ›Kürbishütten-Klage‹ als außergewöhnliches Freundschaftsgedicht, nur »selten findet man« – so Alfred Kelletat – »in der Barockdichtung einen so unmittelbaren Lebensbericht, […] ein so unverhülltes bekenntnishaftes Selbstbildnis, […] selten auch dieses völlige Vertrauen in einen Menschen, […] und selten so wahre Herztöne der Freundschaft«. 58 Nun, zumindest sind solche ›Töne‹ kein Resultat der Hinwendung zur Muttersprache, wie das in lateinischen Hexametern verfaßte Epicedium zeigt. Dach verwendet vielmehr in beiden Sprachen und in unterschiedlichen Kommunikationskontexten das heroische Versmaß zur großangelegten Selbstvergewisserung einer Gelehrtenfreundschaft, bis in die Details hinein werden die ehemals klägliche Lage des Dichters und Roberthins mäzenatisches Wirken für ihn in analoger Weise ausgebreitet. Man vergleiche etwa folgende Stellen: 59 So hat der Schulen Staub mir meiner Jugend Blüte Nicht wenig auffgezehrt, nicht wenig mein Gemühte Durch Arbeit abgenützt, die Schwachheit rührt bey mir Fast anders nirgends her alß meistentheils von ihr. Wenn mein Verhängnüs nicht mich bald befreyet hette, Ich läg vnd faulte schon mit andern vmb die Wette[.] (V. 65–70). Me Schola jamdudum vacuas misisset ad umbras 60 Pulveris enectum squalore, et mole laborum. (V. 105 f.) * Ich lag hie vnbekant, verschwiegen vnd vergessen, Der Rost hub meinen Sinn gemählich an zu fressen, Biß meiner Lieder eins dir ohngefehr behagt,

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Insbes. mußten die akademischen »Festcarmina, die jeweils zur Abschlußfeier vor Ostern, Pfingsten und Weihnachten feierlich vorgetragen wurden« (Dünnhaupt: Personalbibliographien [wie Anm. 35], S. 996), unberücksichtigt bleiben. Kelletat: Nachwort (wie Anm. 24), S. 350 f. Das deutschsprachige Gedicht (»Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen Churfürstl. Brand. Pr. OberSecretarium«) ist abgedruckt bei KELLETAT, S. 79–89, das lateinische (»Memoria Roberti Robertini«) bei ZIESEMER IV, S. 516 ff. – Zitate sind im folgenden direkt im Text nachgewiesen. Vgl. auch das lateinische Gedicht zur Einführung Michael Gorlovs in das Amt eines Schulrektors aus dem Jahr 1642 (»Cum Serenissimus Elect. Brandenb. Dominus noster Michaelem Gorlovium Neuhoffia Prussum Rectorem Provincialis Scholae quae Lyccae est designasset.« In: ZIESEMER II, S. 351 f.). Hier findet die ausführliche Schilderung des ›Schulstaubs‹ aus Dachs deutschsprachigem Gedicht eine genauere Parallele.

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Zur ›Poetik‹ Simon Dachs Du hast dich nicht gestillt, biß du mich außgefragt; Bist da auff einen Tag wol zweymahl zu mir kommen, Hast Bücher mitgebracht vndt, waß ich nicht vernommen, Mir trewlich außgelegt […] (V. 105–111). […] iudicio cujusdam carminis à me Esse tibi notus coepi. quis, protinus, ille Quaeris? amicorum non nemo ostendit, et ex hoc Obscurum clarus, vilem acer et optimus ambis. Terque quaterque dies ad me Te duxit onustum Egregiis vatum libris, quos doctior orbi Roma dedit, doctae vel Gallia proxima Romae. Tunc labor unus erat penitos evoluere sensus Scriptorum […]. (V. 64–72). * Du nahmest mich zuletzt gar in dein eigen Hauß, Vnd liessest Trew vnd Gunst auff mich mit hauffen auß. […] In Summa, Herr, ich bin gewesen wie dein Bruder, Ja wie dein eigen Kind, mein Kahn hat sonst kein Ruder Ohn dich allein gehabt, daß mich in Noht ergetzt Vnd endlich auß dem Sturm an diesen Port gesetzt[.] (V. 175 f., 185–188). Quid tua tot benefacta loquar, mentemque paternam? […] Adde quod integrum mensa me juveris annum Atque domo, quod te mea non offenderit unquam Rusticitas moresque feri. quid multa? carinae Tu blandus nostrae Zephyrus fidusque fuisti. (V. 104, 112–115). * Man ist von Delphis nicht so klug nach Hause kommen, Man hat auch Ammons Spruch nicht so begnügt vernommen Im heissen Lybjen, noch waß Manto propheceyt, Alß vnß dein Antwort offt auff vnsre Frag erfrewt. (V. 245–248). Tunc labor unus erat […] […] totos discursu arcessere Delphos. Quae mihi Cecropiis vix enucleasset Athenis Chrysippus, Crantorque et qui vel judice Phoebo Omnibus est habitus sapient[i]or, illico doctus Eruis, inque die pulsa caligine ponis. (V. 71–76). * Vnd kriegest du den Fug zu reden waß von Sachen, Wen kanst du vnter vnß nicht wie verstürtzet machen? Gleichwie, wan Aeolus den Winden ihre Klufft Nur auffthut, alsobald lebt Erde, See vnd Lufft Durch stürmende Gewalt, so hört man Dinge fliessen, Wenn deiner Reden Quell sich anhebt zu ergießen. (V. 249–254). Tunc obices voci, linguaeque repagula demis, Fluminis et ritu ferris, quod saxa nemusque Indignatur, agens nunc pontes mole revulsa, Nunc homines pecudesque, et vasto gurgite mergit. (V. 77–80).

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Durch deinen Hintrit stürb ich mehr alß einen Tod. (V. 268). Tunc adversa mihi demum fore numina dixi, Si me desereres obiens […]. (V. 116 f.).

Es zeigt sich an diesen Textpassagen, daß Dach die Tradition der humanistischen Freundschaftsdichtung, wie wir sie etwa von Lotichius, Micyllus und Schede, aber eben auch von Opitz und Fleming 61 kennen, ganz selbstverständlich 62 aufgreift. Gewiß ist die deutschsprachige Epistel mit ihrer dringenden Bitte um Bewahrung der Freundschaft eindringlicher als das lateinische Trauergedicht, das eine quasi-offizielle Funktion, nämlich die des kollektiven Gedenkens, reklamiert. Indessen belegt die auffällige Analogie zwischen muttersprachlichem und lateinischem Text, zwischen (vorgeblich) privater Freundschaftsgabe und repräsentativem Epicedium, daß Dach den poetischen Redegestus bei wechselnden äußeren Bedingungen stabil zu halten verstand, wenn es ihm in der Sache geboten schien. 63 _______ 61

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Zu Dach und Fleming vgl. – in den Ausführungen nicht immer überzeugend – Barbara Sturzenegger: Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming: Topoi der Freundschaft im 17. Jahrhundert. Bern [u.a.]: Lang 1996 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 24). Vgl. auch Ruckensteiner: Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung (wie Anm. 12). Ruckensteiner spricht ebd., S. 34, noch von einer »merkwürdige[n] Auseinanderfaltung in ein barockes und ein typisch späthumanistisches Weltbild« bei Dach. Es sollte klar werden, daß Differenzen innerhalb des Werks keine Frage des ›Weltbildes‹ sind, sondern auf eine bewußte Wahl angemessener sprachlich-literarischer Optionen in Bezug auf die intendierte kommunikative Funktion der jeweiligen Texte zurückgehen. Einige weiterführende Überlegungen zu dem deutschsprachigen Gedicht (wie Anm. 59) seien hier exkursartig angefügt: Bei genauerer Analyse lassen sich auffällige Belege für die planvolle Strukturierung des Textes nachweisen. Das Gedicht beginnt: »Wie kömpt es, Robertihn, vnd woran mag es liegen, | Daß ich nicht für mein Spiel mehr solchen Danck kan kriegen, | Alß ich zwar vormahls pflag […]« (V. 1 ff.). Roberthin war Dachs Mäzen, und wenn man die ersten vier Worte des Gedichts in diesem Sinne ins Lateinische übersetzt, lauten sie: »Qui fit, Maecenas« – dies sind die Anfangsworte der ersten Satire des Horaz, der gegenüber seinem Gönner Maecenas das Thema der Unzufriedenheit verhandelt. Auch Dach ist mit seiner Situation unzufrieden, doch die Argumentation seiner Epistel läuft darauf hinaus, daß die gegenwärtige und womöglich auch künftige Erfolglosigkeit des Literaten in der Öffentlichkeit unbedeutend ist angesichts seiner individuellen Freundschaft mit Roberthin: »Ich frag auch nichts darnach, daß ich nicht groß mehr gelte, | Man setze mich hindan, man fluch auff mich, man schelte, | […] | Sey du mir nur nicht feind, sey standhafft in der Güte« (V. 273–277). Soweit erscheint der Text als Freundschaftsgedicht, das Sprecher-Ich geht in der Rolle als werbender Freund auf, die ganze Schlußpassage ist der literarischen Konstruktion einer persönlichen Beziehung gewidmet, die freilich mit ihrer Analogie zum altrömischen, noch von stoischer Popularphilosophie gestützten cliens-patronus-Verhältnis auch schon wieder auf Traditionen fußt. Was aber, wenn der Text doch zur Publikation, zumindest zur weiteren Verbreitung vorgesehen gewesen wäre? Immerhin hätte ein »unverhülltes bekenntnishaftes Selbstbildnis«, wie Alfred Kelletat (Nachwort [wie Anm. 24], S. 351) meint, nicht einer derart offensiven Zurschaustellung des literarischen Selbstbewußtseins bedurft, zumal Dach und Roberthin seit Jahren im Königsberger Dichterkreis zusammenwirkten. Die Epistel enthält jedoch nicht nur detaillierte Angaben zum Lebens- und Bildungsgang einschließlich – in Form einer praeteritio – der

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(b) Umgekehrt konnte er die Sprecherhaltung bei Bedarf variieren, wie etwa in den Epithalamien für Ludwig Kepler und Anna Reimer, wo er die tradierte Rollenverteilung der Eheleute durch Struktur und Inhalt der Gedichte sinnenfällig macht: Während in deutschen paar- und kreuzgereimten Trochäen das Lob der tüchtigen Frau aus den Sprüchen Salomonis (Spr. 31, 10–31) versifiziert wird, 64 ist das in elegischen Distichen abgefaßte Epithalamium für den Bräutigam, einen Sohn Johannes Keplers, formal an den Vater gerichtet und entwickelt concettistisch einen Vergleich zwischen den Himmelskörpern des großen Astronomen und den Augen der Braut, die dem Sohn »novi sideris instar« gelten. 65 (c) Anläßlich der Hochzeit von Andreas Conz und Catharina Meyenreis wählte Dach ein vergleichbares Verfahren, wenngleich hier beide Gedichte formal an den Bräutigam gerichtet sind: Der liedhafte deutsche Text preist in Anlehnung an Mt 23, 12 ausführlich die Demut in der Nachfolge Christi als Grundvoraussetzung für eine gute Ehe, 66 während die lateinischen Distichen in recht _______

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nicht realisierten Bildungsreise zu den niederländischen Koryphäen der philologischen Zunft, sie weist vielmehr auf Schritt und Tritt Signale einer standesspezifischen Selbstzuschreibung auf, die den Sprecher in der wo nicht europäischen, so doch preußischen Gelehrtenrepublik situiert: Die Metapher vom ›literatus‹ als Herr eines Bücherimperiums (V. 61 ff.) begegnet ebenso wie die typische Klage über den ›pulvis scholasticus‹ (V. 65–89), die Konstruktion von Gelehrten-Filiationen (V. 117–120) und was der topischen Elemente mehr sind. Als Opitzianer reklamiert Dach gar die Position eines literarischen Provinzstatthalters für sich (»Der gantze Pregel schwur, strich ich die Saiten an, | In Preussen hätt es mir noch keiner gleich gethan, | Was vnser Deutsch betrifft [...]«; V. 11 ff.), und am Ende der Leistungsbilanz wechselt er gar vom »ich« zum »wir«, nimmt also gegenüber Roberthin die Rolle eines Sprechers der preußischen Intellektuellen ein (V. 244). Und das alles schreibt er für den Empfänger der Epistel, für den er gewesen sein will »wie dein Bruder, | Ja wie dein eigen Kind« (V. 185 f.)? Wohl kaum, vielmehr haben wir es hier mit einem Fall von doppelter Rollenzuschreibung zu tun: Simon Dach konstruiert ein doppeltes Sprecher-Ich, da die strukturelle Offenheit der Versepistel ihn dazu einlud, eine persönliche Danksagung bzw. Werbung mit einer Selbstpositionierung im Kontext der regionalen Gelehrtenrepublik wirkungsvoll zu kombinieren. Simon Dach: »Ludwig Keppler und Anna Reimer«. In: ZIESEMER I, S. 75 f. Es handelt sich wohl um einen Einzeldruck mit Notenbeigabe. Das Gedicht für den Bräutigam (s. folgende Anm.) wurde also nicht mit diesem zusammen publiziert. – Die Nähe zum Vorbild ist relativ groß, vgl. etwa Str. 2 mit Spr. 31, 13 ff.: »Sie ist thättig aller enden, | Kan mit Woll vnd Flachs vmbgehn, | Spinnt vnd wirckt mit ihren Händen, | Niemand sieht sie müssig stehn | Gleich dem Schiffe, das mit Wahren | Weit kombt über See gefahren, | Schon des Nachts ist sie herauß, | Spielt zusammen Magd vnd Mutter, | Gibt den Dirnen Speis’, vnd Futter | Täglich durch ihr gantzes Hauß.« – »Quaesivit lanam et linum et operata est consilio manuum suarum | facta est quasi navis institoris de longe portat panem suam | et de nocte surrexit deditque praedam domesticis suis et cibaria ancillis suis.« Man beachte schon die Titelwahl: »Ad manes Nobilissimi et longe Clarissimi IOHANNIS KEPPLERI Mathematicorum summi.« In: ZIESEMER I, S. 330. – Zu Ludwig Kepler vgl. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 53), S. 370 u.ö. Simon Dach: »Andreas Concius und Catharina Meyenreis«. In: ZIESEMER II, S. 134; der Apparat ebd., S. 381, nennt den vollständigen Titel des Gedichts, dem eine deutsche Fassung des o.g. Bibelverses (»Qui se humiliat, extollitur«) vorangestellt ist. Das Gedicht

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witziger Weise die Fiktion aufbauen, es habe der Bräutigam, als Astronom ganz der Betrachtung des Himmels hingegeben, die in Sterne verwandelten mythischen Schönheiten mißachtet, bis endlich die Muse Urania im Verein mit Venus und Amor sein Fernrohr auf die Jungfer Braut gerichtet und damit den Lauf der Dinge befördert hätte. 67 (d) Ein weiteres Beispiel für eine derartige Ausdifferenzierung der Hochzeitsglückwünsche liefern die Epithalamien für Johannes Görgensen und Maria Sander in Danzig, die sich in fast aufdringlicher Weise als Auftragsgedichte jenseits aller persönlichen Beziehungen zu erkennen geben. 68 Das lateinische wie das deutsche Gedicht sind an die Braut gerichtet – vielleicht deshalb, weil Dach mit der Person des Bräutigams noch weniger anfangen konnte –, doch gibt der Autor im lateinischen Text eine Begründung für sein Ausbleiben beim Fest, die in ihrer Konsequenz beiläufig als poetologische Positionsbestimmung daherkommt: Er selbst stilisiert sich als den im Verborgenen wirkenden, des Beifalls nicht bedürfenden Poeten, den freilich deshalb nichts nach Danzig ziehe, weil diese Stadt seit Opitzens Ableben keine Attraktivität mehr besitze: Si tamen invitos sub lucem turba rogantum Raptat amicorum, nosque latere vetat. Amne lavans puro Gedanenses Vistula campos, Da veniam, non te nostra querela notat! Obscurum per te tranquilli degimus aevum, 69 Et te nullius fama juvare potest. Ex quo nempe suam tibi debet Opitius urnam, 70 Iam nihil, unde queas surgere major, habes. (Wenn aber eine Schar bittender Freunde mich gegen meinen Willen ans Licht des Tages zieht und mich daran hindert, im Verborgenen zu leben – verzeih’ mir, Weichsel, die du mit reinen Fluten die Danziger Gefilde netzt: Meine Klage zielt nicht auf dich. Soweit es

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wurde als Einzeldruck verbreitet, der lateinische Text erschien in einer Sammlung (s. folgende Anm.); vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 35), S. 1223. Nuptiis Andreae Concii, Phil. M. Mathematum in Academiâ Regiomont: Professoris P. &c. Et Castissimae Virginis Catharinae Meienreisiae: Dicata carmina à Collegis & Amicis. Königsberg: Johann Reusner 1658 (Universitätsbibliothek Wrocáaw, Sign.: 353 549). – Zu Conz vgl. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 53), bes. S. 444 u.ö. »SPonsa, puellarum Gedani non infima, talem | Ipse Ritanglaeus te mihi namque refert | […] | Dachius id vestris transscribit amoribus, idque | Pronus, amicorum voce rogatus, agit.« Nuptiis Iohannis Görgensen & Mariae Sanderiae […]. Königsberg: Lorenz Segebade/ Erben 1640, datiert »26. Novemb.« (Stadtbibliothek ToruĔ, Sign.: 100 457). Seitenwechsel im Original. Nuptiis Iohannis Görgensen & Mariae Sanderiae (wie Anm. 68). – Bei dieser Gelegenheit ist darauf hinzuweisen, daß nicht nur die deutschsprachigen, sondern auch die lateinischen Gedichte Dachs Opitzens Lob künden. Eine genaue Analyse lohnte insbes. das Hochzeitsgedicht für Sigismund Weier und Susanna Selig, in dem Dach möglichen Kritikern einer muttersprachlichen Dichtung – das gab es also Mitte des 17. Jahrhunderts noch – mit dem Hinweis auf Opitz entgegentritt (Secundis Nuptiis […] Dn. M. Sigismvndi Weieri […] Ut & […] Svsannae Seligin […]. Königsberg: Lorenz Segebade/Erben 1639). Vgl. die Edition dieses Gedichts durch Lother Mundt in diesem Band, S. 264–271.

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auf dich ankommt, verbringe ich mein Leben ruhig im Dunkeln, und dich vermag keines Menschen Ruhm zu erfreuen. Seitdem nämlich Opitz dir seine Urne verdankt [er starb 1639 in Danzig; RS], hast du nichts mehr, wodurch du höher emporsteigen könntest.)

Im nachfolgenden, in vierhebigen deutschen Trochäen verfaßten Hochzeit=Schertz wird wie im vorausgegangenen Gedicht der mythologische Apparat des Venus-Gefolges aufgeboten, doch kreist der Gedanke einzig um die scherzhaft evozierte Gefahr des Verlustes der Unschuld während der Hochzeitsnacht. 71 Wer freilich auf der Seite, wo das deutsche Gedicht beginnt, in die oberste Zeile schaut, entdeckt den Namen »Opitius« und wird gewahr, daß auch die Tradition des Gesellschaftslieds durch den ›Vater der deutschen Dichtung‹ flächendeckend etabliert wurde. (e) Derlei implizite Bezüge zwischen den lateinischen und den deutschen Beiträgen Dachs zu ein und demselben Anlaß finden sich häufiger. So schrieb Dach 1658 als Dekan ein sehr pflichtschuldiges, die akademische Karriere des Bräutigams rekapitulierendes Epithalamium für den Professor der griechischen Sprache Jakob Sahme. 72 Im getrennt davon publizierten, weitaus längeren deutschsprachigen Seitenstück äußert der Dichter sich ausführlich über seine poetischen Verpflichtungen, die ihn – immerhin einen ranghohen Repräsentanten der Universität – in den entlegensten Dörfern als Lohndichter bekannt machten: Mehr wo bleibet Waltterkeim, Zintten, Ragnit, die imgleichen Satt empfunden meinen Reim? Kurtz, bey Heyraht und bey Leichen Spricht man mich umb Lieder an 73 Gleich als einen Arbeitsmann.

(f) Auch die spielerische Konfrontation literarischer Traditionen gehört zu Dachs poetischem Programm. In den Epithalamien für Jonas Kasimir zu Eulenburg und Helene Dorothea von Brandt werden Argumentationsmuster des Petrarkismus und – im alkäischen Strophenmaß – horazische Sturm- und Regenmetaphorik eingesetzt. Beide Texte suggerieren eine Atmosphäre des Gehetztseins: Wird hier der Bräutigam vom Liebesfeuer verzehrt, welches nach _______ 71

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»SChöne Braut/ von welcher Zier | Zucht vnd höfflichen Geberden | Hie an vnserm Pregel mir | Gnugsam nicht gesagt kan werden | Mein wo wil dein keuscher Sinn | Doch mit deiner Vnschuld hin?« Wie Anm. 68, hier Str. 1; Nachweis der Publikation bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 35), S. 1045. Honorem Nuptialem […] Dn. M. Jacobo Sahmio, P.P.Gr.L. Sponso, & […] Dorotheae Wolderiae, Gratulabantur Amici ac Fautores. Königsberg: Johann Reusner 1658 (Universitätsbibliothek Wrocáaw, Sign.: 353 695). Simon Dach: »Jacob Sahm und Dorothea Wolder«. In: ZIESEMER II, S. 136 f., hier Str. 11. Bei dem Text handelt es sich um einen Einzeldruck, das zugehörige lateinische Gedicht wurde in einer Sammlung publiziert; vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 35), S. 1224.

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paradoxer Logik nur durch das Fräulein von Brandt gelöscht werden kann, 74 so bedrohen dort – in einer gleichnishaften Eingangssituation – Regen und Sturm die Ernte. Die Auflösung beider fiktiver Situationen weist in dieselbe Richtung: Eile ist geboten, angesichts der drängenden Hitze im einen, des drohenden Unwetters im anderen Falle ist keine Zeit zu verlieren. Daraus leitet sich die Forderung des carpe diem ab: »Laß vns die Gelegenheit | Forn ergreiffen bey den Haaren«, rät der Dichter im Rückgriff auf eine beliebte Emblemfigur 75 der Braut »Vnter der Person Ihrer Gnaden des Herren Bräutigams«, 76 und mit horazischer Weisheit antwortet das lateinische Gedicht: Stultè qvis atros accelerat dies Metu futuri. Non temerè Deus Decretaque eventumque rerum 77 Sub tacitis sepelivit umbris. (Unsinnig bringt jemand seine dunklen Tage schnell hin aus Angst vor der Zukunft. Nicht ohne Bedacht hat Gott seine Entschlüsse und den Ausgang der Dinge unter lautlosen Schatten verborgen.)

(g) Ich möchte abschließend in aller Kürze den Sonderfall eines nur aus zwei Texten Dachs bestehenden Einzeldrucks analysieren, da sich Dachs poetisches Verfahren hier in idealtypischer Form, also ohne Beeinflussung des Rezeptionsprozesses durch Beiträge Dritter studieren läßt. 78 Anläßlich der Hochzeit des _______ 74

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Die Namenstopik nutzte Dach noch konsequenter in seinem Hochzeitsgedicht auf einen Verwandten der Braut, der sinnigerweise ein Fräulein von Kalckstein heiratete. Das Geschehen vor und (prospektiv) nach der Eheschließung wird hier in der allegorischen Einkleidung einer chemischen Reaktion beschrieben. Vgl. das Gedicht: »Kalckstein=Brand, welcher sich zwischen … Hn. Achatius von Brandt und J. Catharina von Kalckstein … erhoben und 1647. 17. Wintermonat. zu Königsberg soll gelescht werden.« In: ZIESEMER I, S. 197 f. Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1996, Sp. 1809 ff. Simon Dach: »Jonas Casimier von Eulenburg und Helene Dorothea von Brandt«. In: ZIESEMER I, S. 78 ff., Zitat V. 98f; die paradoxe Konstruktion ebd., Str. 9: »Edle B r a n d t i n , komm zu stewer! | Dich noch einig flieh [= fleh] ich an, | Komm, du hast was diesem Fewer | Endlich wiederstehen kan, | Diesem Fewer, das in mir | Ist erregt durch deine Zier.« Simon Dach: Auff die gewünschte Ehe Des Wolgebohrnen Herrn Herrn Jonas Casimirn Herrn zu Eilenburg […] […] Vnd […] Helenen Dorotheen Brandtin […] Derer Hochzeitlicher Ehrentag begangen zu Königsberg in Preussen Den 13. Maij 1640. (Königsberg:) Johann Reusnern 1640 (Universitätsbibliothek Wrocáaw, Sign.: 353 546). – In dieser Sammlung stehen der deutsche und der lateinische Text unmittelbar hintereinander; vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 35), S. 1040. Das lateinische Gedicht ist auch bei ZIESEMER I, S. 331 f., abgedruckt, dort jedoch mit zahlreichen Fehlern. – Den Hintergrund des lateinischen Gedichts bildet wohl die metrisch und nach der Zahl der Strophen identisch gebaute Ode 1, 9 des Horaz (»Vides ut alta stet nive candidum«), wo gleichfalls (allerdings in anderer gedanklicher Kombination) die Motive des schlechten Wetters und des carpe diem kombiniert werden. Nachweis bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 35), S. 1165.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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Medizinprofessors Christoph Tinctorius 79 mit der Witwe Regina Schimmelpfennig im Jahre 1653 brachte Simon Dach einen Druck heraus, der einen Quartbogen umfaßt, mit Sylva überschrieben ist und ausschließlich zwei Gedichte von ihm selbst enthält: ein längeres in 153 lateinischen Hexametern und ein kürzeres, das aus elf Strophen mit jeweils acht kreuzgereimten dreihebigen Jamben besteht. 80 Über dem Titel steht das Motto »Tempora si fuerint nubila tristis eris«, 81 ein abgewandeltes Zitat aus Ovids Tristien – kein gewöhnlicher Anknüpfungspunkt für eine Hochzeitsdichtung. Der Grund für diese düstere Einkleidung liegt darin, daß die Eheschließung, die es zu feiern galt, im Angesicht der Pestwelle vollzogen wurde, die zu Beginn der 1650er Jahre in Preußen wütete. Im lateinischen Text wird dieser Sachverhalt in ein umfassendes Panorama allgemeinmenschlicher Wunschund Angstvorstellungen eingebettet, die – und so erklärt sich in diesem Fall die Wahl des Versmaßes – auf den Argumentationsapparat des antiken Lehrgedichts zurückgreifen. Den ersten Teil dominieren Ankläge an die Vergilische Landlebendichtung: Die Erntezeit – es ist Ende August – wird heraufbeschworen, ländliche Feste, redliche Arbeit auf dem Feld und die bescheidene, ungestörte Existenz des Bauern, darin verwoben das Lob der Heimat, Haff und Nehrung, der Pregel und die anderen Flüsse Preußens. Mit dieser zwischen Landschaftsschilderung und Utopie changierenden laus ruris kontrastiert die grausame Gegenwart, in der die Seuche (»dira lues«) die Menschen bedroht. Schuld daran ist die Verdorbenheit der Welt, deren äußeres Zeichen die Pest ist (»Et nihil in toto civili corpore sanum est«), die als göttliche Strafe über die Ruchlosen kommt. In Anlehnung an die großen Pestschilderungen der antiken Literatur und mit direktem Bezug zu Lukrez – ein Vergleich mit der von jenem beschriebenen Pest in Athen (De rerum natura 6, 1138–1286) wird gezogen – malt Dach das Grauen aus: Qualis Ericht[h]aeas quondam est populatus Athenas Morbus […] Talis Anactoreis prope saevit in urbibus ater, At nos ecce fuga dilabimur, atque Borussis Attoniti malè dispersique latemus in agris. Sic nemore in denso postquam cava cornua signum Misére argutique canes, sparso grege ceruae Diffugiunt, caecique tremunt sub frondibus antri. Strata viris squalent nudata, seraeque tenaces Occlusere domos, deserto margine luget

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Bei Tinctorius (1604 – 1662) trafen sich die Königsberger ›Sodales‹ häufig, es ist also von einer engen Freundschaft Dachs mit der Familie auszugehen; vgl. Oesterley: Leben des Dichters (wie Anm. 10), S. 30. Tempora si fuerint nubila tristis eris hoc est Sylva Nuptiis Dn. Christophori Tinctorii, Philosoph. & Medic. Doctoris, &c. &c. Nec non […] Nobilissimae Foeminae Reginae Schimelfengiae […] debitae observantiae ergo scripta à Simone Dachio. MDCLIII. IX. Cal. Septembr. Regiomonti, Typis Johannis Reusneri (Universitätsbibliothek Kaliningrad, Sign.: I 1991 adl. 61). Vgl. Ov. Trist. 1, 9, 5 f.: »Donec eris sospes, multos numerabis amicos: | Tempora si fuerint nubila, solus eris.«

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Bregela, nulla vigent commercia, nulla tabernis Vox sonat, at querulis contra concentibus aera Omnibus in fanis tumulanda cadavera signant. Palladis expulsis situs occupat atria Musis Atque suo doctus cum carmine cessit Apollo. (Eine Krankheit, wie sie einst das Athen des Erechtheus verheert hat, wütet nun fast ebenso schwarz in den Königsberger Städten [Königsberg bestand formal aus drei selbständigen Gemeinwesen; RS], doch wir – sieh’ nur – entweichen durch Flucht und verbergen uns, zu Tode erschreckt und verstreut, in den preußischen Landen. Genauso stiebt, wenn im dichten Wald die gebogenen Hörner und die gellenden Hunde das Zeichen gegeben haben, das Wild auseinander, die Hirsche fliehen und zittern unter dem Laubwerk einer dunklen Höhle. Die Straßen liegen öde da, von den Menschen verlassen, feste Riegel halten die Häuser verschlossen, der Pregel steht in Trauer, da sein Ufer verlassen ist, kein Handel blüht, kein Laut dringt aus den Schenken, vielmehr bezeugen die Glocken in allen Kirchen mit klagenden Tönen die Leichen, die zu begraben sind. Moder ergreift die Halle Athenas [= die Universität; RS], von wo die Musen vertrieben sind, und der gelehrte Apollon ist mit seinem Liede entwichen.)

Die Vergegenwärtigung der entvölkerten Universität, der Wirkungsstätte des Bräutigams, führt den Dichter zum Anlaß seines Auftretens, doch gesteht er, daß er eher ein Trauer- als ein Hochzeitsgedicht zu schreiben vermöge. Tatsächlich folgt der Text in seiner zweiten Hälfte auch dem Muster eines Epicediums: Entspricht die Pestklage formal der lamentatio, so das sich anschließende Lob der Brautleute der laudatio. Die lamentatio wird im Verweis auf die fehlende Festgemeinde dann erneut aufgegriffen, wobei sich die Möglichkeit ergibt, die Institutionen der Stadt gleichsam in absentia in altrömischem Gewand aufzurufen. Als consolatio präsentiert sich der schwache Appell an die Brautleute, nun gleichwohl Mut zu fassen, doch lassen den Sprecher die Unterweltvisionen nicht los. Der Text endet mit der Ahnung, auch er, Dach, selbst könne der Pest zum Opfer fallen: »Forsan […], | A me quam legitis, Dachi ista novissima vox est.« Der deutsche Text 82 weist sachlich eine Reihe von Parallelen auf: So werden die Verdienste des Bräutigams und die Tugenden der Braut gepriesen und die triste Ausgangssituation wird explizit thematisiert. Doch bestehen auch gewichtige Unterschiede in Struktur, Gewichtung und Gehalt: Der positive Gegenentwurf zur Pestgefahr wird nicht als breit ausgestaltete suggestive Einleitung vorangestellt, und er enthält auch nicht die antikisierenden Vorstellungen vom beschaulichen Landleben. Er wird vielmehr ans Ende gestellt, wo die Verheißung von Gottes Segen und sogar eine – allerdings zurückhaltend formulierte – Anspielung auf »süsser Heyraht Zucht« dem Text eine konventionelle Wendung geben. Durch das ausführliche, rund die Hälfte des Gedichts beanspruchende Lob der Brautleute wird ein zusätzliches starkes Gegengewicht zur traurigen Ausgangssituation aufgebaut. Diese wird zwar nicht geleugnet, doch ist die Pestbedrohung eher unspezifisch als Aspekt der conditio humana dargestellt. Die Antikereferenzen sind reduziert auf die gewiß über den Gelehrtenkreis hin_______ 82

Auch abgedruckt bei ZIESEMER II, S. 18 f.

Zur ›Poetik‹ Simon Dachs

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aus bekannte Anekdote von Damokles, 83 über dessen Haupt zur Mahnung an die dem Glücklichen allzeit drohende Gefahr ein Schwert aufgehängt war – eine Passage, die problemlos an die lutherische Warnung vor der Todsünde der superbia anzuschließen war. Insgesamt verbindet dieses Gedicht den strengen Ernst und die äußeren Formen eines Kirchenlieds mit traditionellen, unter den obwaltenden Bedingungen maßvoll reduzierten Elementen des bürgerlichen Epithalamiums, wie schon ein kurzer Blick auf die erste und die letzte Strophe zeigt: WOlt’ iemand in mich dringen Bey jetziger Gestalt Ich solt’ Ihm Freude singen Der thäte mir Gewalt; Die hoch betrübten Zeiten Gram/ Furcht/ Gefahr und Tod Verstimmen mir die Seiten In lauter Angst und Noht. […] Wünscht neben mir von Hertzen Daß Gott die scharffe Ruht’ Vnd seines Eivers Kertzen Verkehr’ in sanfftem Muht. Wird der uns wieder bawen/ Sollt ihr des Werckes Frucht/ Dem ihr jetzt Fug gebt/ schawen Sampt süsser Heyraht Zucht.

Nach dem kursorischen Blick auf einige deutsch-lateinische Parallelproduktionen wäre nun mit aller Vorsicht eine ›Poetik‹ des Kasualdichters Simon Dach zu konstruieren, die über die bloße Umsetzung eines vagen variatio-Prinzips hinausreicht. In manchen Fällen ging es dem Autor sicher vorrangig um die Differenzierung der Texte hinsichtlich ihrer Adressaten und ihrer Funktion – man denke etwa an die Brauttanzlieder bei Hochzeitsfeierlichkeiten –, darüber hinaus war aus der Juxtaposition manch witziger Funke zu schlagen. Doch das letzte unserer Beispiele zeigt, daß Dach bei ehrgeizigeren Projekten ein höheres Ziel verfolgte: Indem er Texte, die extrem unterschiedlichen literarischen Traditionen verpflichtet sind, kombiniert und ihr analoges und zugleich komplementäres Verhältnis zueinander deutlich herausarbeitet, demonstriert er, daß bestimmte Gegenstände im genus grande wie im genus humile gleichermaßen ›würdig‹ darzustellen sind, daß die Forderung nach dem rhetorisch-poetischen aptum, der angemessenen Verbindung von res und verba also, unterschiedliche Realisationsmöglichkeiten zuläßt. Damit verleiht Dach diesen Gegenständen grundsätzliche Relevanz und bestätigt zugleich den Universalanspruch der Poesie, den er selbst – im Anschluß an Opitz 84 und andere, nur mit größerem _______ 83 84

Nach Cic. Tusc. 5, 61. »So ist auch ferner nichts närrischer/ als wann sie meinen/ die Poeterey bestehe bloß in jhr selber; die doch alle andere künste vnd wissenschafften in sich helt« (Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [wie Anm. 45], S. 17).

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Robert Seidel

Pathos – in seiner Einladung zur Antrittsvorlesung formuliert hatte: »Limites non admittit nisi quos Vniversum.« 85 Durch die Gegenüberstellung 86 komplementärer deutschsprachiger und lateinischer Texte lassen sich bisherige Urteile über Simon Dach präzisieren, die vor allem auf die stilistisch-semantische Heterogenität innerhalb einzelner Gedichte gründen und beispielsweise ein »Amalgam aus engbegrenzter Welt und europäischer Tradition« 87 konstatieren, wenn sie die Integration des antiken Mythenapparats in die preußische Landschaft in Dachs Gedichten zu deuten versuchen. Derlei Beobachtungen bleiben indes an der Oberfläche. Richtiger wäre es, von den klaren rhetorisch-poetischen Leitstrukturen ebenso wie von den sachlichen Intentionen auszugehen, wie sie jeder anspruchsvollere Text aufweist, und hier wäre durchaus auch an die Verismen einiger deutschsprachiger Gedichte anzuknüpfen, von denen schon die Rede war. Doch was diese heute so geschätzten Texte auszeichnet, die Treffsicherheit nämlich, mit der Dach die konkrete Situation, die Person des Adressaten, das persönliche Anliegen und den übergeordneten Weltbezug in die angemessenen Worte und Bilder faßt, dabei auch Sprache und metrische Form dem Gegenstand adäquat auswählt, gerade dies ist auch in den lateinischen Gedichten oder – um beim muttersprachlichen Idiom zu bleiben – in den panegyrischen Großdichtungen auf das kurfürstliche Haus nachzuweisen. 88 Dachs implizite ›Poetik der Vielseitigkeit‹ gründet in seinem Vertrauen auf die Universalität der Dichtung und bildet ein überzeugendes Komplement zu Opitzens vehementer defensio poeseos aus dem zweiten und dritten Kapitel der Poeterey. Dach und Opitz gegeneinander auszuspielen, wie es die ältere Forschung vielfach tut, wäre demnach nicht nur unsinnig, es würde auch Intention und historische Position beider Autoren verkennen.

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S.o. S. 123 das Zitat im weiteren Kontext. Ein vergleichbares Verfahren postuliert Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962. Er fordert, die Kasualgedichte in ihrem Publikationszusammenhang zu analysieren (S. 953 u.ö.). Hinsichtlich der lateinischen Dichtungen Dachs, auf die er freilich im Detail nicht eingeht, vermerkt er, daß sie »als eine zusätzliche Auszeichnung« zu verstehen seien, »die der Autor dem Adressaten durch den Nachweis besonderer Kunstfertigkeiten zukommen läßt. Das bezeugen Beispiele, in denen Dach sowohl mit einem deutschen als auch mit einem lateinischen Gedicht aufwartet« (S. 961). Diese Gedanken verfolgt Segebrecht allerdings nicht weiter. Kelletat: Nachwort (wie Anm. 24), S. 405. Die Hilflosigkeit, mit der die bemühte und immerhin auf den soziologisch äußerst ergiebigen Studien von Erich Trunz basierende Arbeit von Ruckensteiner: Simon Dachs Freundschafts- und Gelegenheitsdichtung (wie Anm. 12) argumentiert, ist zu einem guten Teil auf die Ausblendung der lateinischen Texte zurückzuführen.

Ralf Georg Bogner

Literarische Verlebendigungen Formen und Funktionen prosopopoietischen Schreibens in Simon Dachs weltlicher Lyrik Die Prosopopöie ist eine der effektreichsten und außergewöhnlichsten Gedankenfiguren, ja vielleicht eine der bemerkenswertesten rhetorischen Strategien überhaupt. 1 Sie ist noch weitaus auffälliger als etwa eine Anapher, ein Chiasmus oder eine Synekdoche. Sie fingiert – so bezeichnet das lateinische Synonym dieses rhetorische Mittel – eine Person. Die Prosopopöie führt also einen Menschen in eine Kommunikationssituation ein, der in Wahrheit abwesend ist, oder sie evoziert jemanden, dessen Anwesenheit ganz und gar unmöglich wäre – beispielsweise, weil er oder sie bereits tot ist –, oder sie personifiziert und verlebendigt einen Gegenstand oder ein begriffliches Abstraktum, indem sie beispielsweise ein kluges Buch oder das Vaterland sprechen läßt. Sie ist damit mindestens so eindrucksvoll für das Publikum wie etwa eine Apostrophe. Die barocken Poetiken kennen, schätzen und empfehlen die Prosopopöie zum Gebrauch in der deutschsprachigen Dichtung. Freilich wird eine Begrenzung des Einsatzes dieser rhetorischen Strategie auf Texte, die im genus grande abgefaßt sind, nahe gelegt. Nur zu hohen, bedeutsamen Anlässen und innerhalb einer denselben angemessenen sprachlich-stilistischen Gestaltung kann dieser hochpathetische Kunstgriff seine volle Wirkung entfalten. Der Prosopopöie werden sogar spezifische Affekte zugeordnet, die ihr Einsatz bevorzugt hervorrufen soll. Es handelt sich dabei um außerordentlich starke und emotionale Affekte wie zum Beispiel große Freude. Unter den besonderen Formkonventionen und Gestaltungsusancen der Lyrik erscheint der Gebrauch der Prosopopöie spezifisch modifiziert. In einem Gedicht, das von einem lyrischen Ich – welchem auch immer – vorgetragen wird, markiert sie die Integration fremder Rede in die eigene beziehungsweise eigentliche. Sie ermöglicht den Einbezug eines anderen Kommunikationsteilnehmers in die Mitteilung des primären Sprechers. Damit wird die Authentizität und Unmittelbarkeit des Ausdrucks eines lyrischen Ich im Gedicht – auch dem frühneuzeitlichen –, der Eindruck eines mit sich selbst identischen Sprechens eines _______ 1

Vgl. zur Prosopopöie Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München: Fink 2000, v.a. S. 7–13 und 139–150. Vgl. ferner zusammenfassend V[olker] Hartmann: Personifikation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 6: Must–Pop. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 810–813. Vgl. zur Prosopopöie in der barocken Dichtung Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 2., verb. Aufl. Bad Homburg/v.d.H. [u.a.]: Gehlen 1969 (Ars Poetica, 1), hier S. 87 und 94. Vgl. auch Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst 1634. Hg. von Erich Trunz. Tübingen: Niemeyer 1977 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 25), S. 387 ff.

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Ralf Georg Bogner

Subjekts durchbrochen und die Rolle des poetischen Kommunikators vervielfacht. Hierdurch ist diese literarische Technik extrem auffällig und auf ihre Formen – etwa die Wahl der prosopopoietischen Sprecher und die Art und Weise ihrer Integration in den Text – sowie auf ihre Funktionen hin zu befragen. Die weltlichen Gedichte Simon Dachs, insbesondere die Texte zu Hochzeiten und zu akademischen Feierlichkeiten an der Universität Königsberg, bieten exzellente Möglichkeiten, den Einsatz einer so markanten rhetorischen Technik, wie die Prosopopöie sie darstellt, anhand eines prominenten lyrischen Korpus detailliert zu untersuchen. 2 Auf sie wird in knapp einem Zehntel aller Gedichte zurückgegriffen. Die Prosopopöie stellt damit, diese Folgerung läßt schon allein dieser numerische Befund zu, eine wichtige, regelmäßig eingesetzte poetische Strategie in Dachs Gelegenheitslyrik dar. Sie findet sich andererseits jedoch nicht über die Maßen oft eingesetzt. Der allzu häufige Gebrauch dieses hochpathetischen rhetorischen Mittels wäre vermutlich auf die Dauer lächerlich gewesen, und die Wirkmöglichkeiten der effektreichen, freilich sehr auffälligen Prosopopöie auf das Publikum hätten sich rasch verbraucht. Entscheidend für die Bedeutung und den spezifischen Effekt der Figur bei den Rezipienten sind natürlich ihre Stellung und ihr Umfang innerhalb des jeweiligen lyrischen Gebildes. Einige der weltlichen Gedichte Dachs enthalten eine Prosopopöie, ohne daß dieser jedoch eine herausragende poetische Rolle im Text zukommen würde. Ein typisches Beispiel dafür ist Dachs Gesang auf den Besuch Martin Opitz’ in Königsberg am 29. Juli 1638. Innerhalb der elf jeweils sechszeiligen Strophen dieses Gedichts nimmt die Prosopopöie drei Verse ein. Vergil wird hier in den Text eingeführt, der beim Erklingen der deutschsprachigen Poesie des Geehrten aufhorcht und Sagt: was sol mir das bedeuten? Wird der Weisen Lieder Ruhm 3 Nun der Deutschen Eigenthum?

Diese eher unscheinbare Prosopopöie erfüllt mindestens zwei Funktionen. Einerseits beglaubigt Vergil als die Zentralfigur des frühneuzeitlichen Kanons der antiken Lyrik, indem er Opitzens Poesie überhaupt positiv wahrnimmt, die herausragende weltliterarische Bedeutung der aktuellen Dichtungsreform. Das lyrische Ich integriert in seine eigene Einschätzung Opitz’ das – selbstverständlich gleich lautende – Urteil einer unumstößlichen Autorität. Die Prosopopöie multipliziert sozusagen das Lob des Sprechers. Auf der anderen Seite wird der wichtigste Teil der laudatio ja erst durch den rhetorischen Trick evoziert, da dieser in _______ 2

3

Im vorliegenden Beitrag wird ausgewertet ZIESEMER I. Vgl. zu Dach zusammenfassend Wulf Segebrecht: Simon Dach und die Königsberger. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und ihr Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin: Schmidt 1984, S. 242–269. Simon Dach: »Gesang bey des Edlen vnd Hochberühmten Herren Martin Opitzen von Boberfeldt, etc. etc. hocherfrewlichen Gegenwart Zu Königsbergk in Preußen […].« In: ZIESEMER I, S. 51 f., hier V. 28 ff.

Literarische Verlebendigungen

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der Form einer Frage vorgebracht wird. Vergil formuliert quästorisch einen ersten Eindruck von Opitzens Gedichten und gibt dem lyrischen Ich dadurch Gelegenheit, in den folgenden Strophen ausführlich antwortend ein Loblied auf die revolutionäre poetische und poetologische Leistung desselben zu singen. Wenn Dach sich in seiner weltlichen Lyrik einer Prosopopöie bedient, nimmt diese allerdings in der Regel quantitativ und qualitativ eine wichtigere Stellung innerhalb des jeweiligen Gedichts ein als im vorliegenden Fall. Auch sind antike Dichter, mythologische Figuren wie etwa Daphnis 4 und Neptun 5 oder beispielsweise Äpfel, die durch einen heftigen Ausruf ihr Begehr formulieren, alsbald gepflückt zu werden, 6 eher untypische Exemplare der poetischen Verlebendigungen des Königsbergers. Am häufigsten werden, vor allem in den Hochzeitsgedichten, Venus und ihr Sohn Amor als Sprecher bemüht, deren Stimmen sich in die Worte des lyrischen Subjekts mischen. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert der Kasualtext auf die Eheschließung von Christoph Tamm und Regina Radau aus dem Jahr 1636. Der zehn Strophen umfassende Text gliedert sich symmetrisch in drei einleitende und drei abschließende Strophen, welche das lyrische Subjekt spricht, sowie in einen vierstrophigen Mittelteil, in dem Venus zu Wort kommt. Das klar profilierte, schon im zweiten Wort des Textes personalpronomisch auftretende SprecherIch skizziert zu Beginn eine radikal pessimistische Weltsicht. Von Jugend auf sei das Leben nur der Kränkungen und harten Arbeit voll. Geschickt inszeniert Dach hier einen scharfen proleptischen Kontrast zu den später folgenden Äußerungen der Göttin. Diese wird nun als Person in der zweiten Strophe eingeführt und detailliert in ihrer gleißenden Schönheit beschrieben. Die dritte Strophe eröffnet dem lyrischen Ich die Möglichkeit, Venus seine dusteren Gedanken mitzuteilen, und es provoziert damit die nun folgende, weit ausgreifende direkte Rede derselben. Zu Beginn ihrer Äußerung preist die Göttin sich selbst in zweierlei Hinsicht. Erstens sei sie die alleinige Stifterin der Liebesflammen in allen Lebewesen. Zweitens seien ihr Ursprung und ihr Wirken keineswegs zufällig und grundlos. Damit leitet sie interessanterweise zu einer christlich-theologischen Begründung ihrer eigenen existentiellen Funktion innerhalb der Schöpfung über: Nein, der allen giebt zu leben, Der des Himmels Meister ist, Hat auch mir zu sein gegeben, Hat der Welt mich außerkiest, Die durch meiner Frewden=Spiel Tawren sol, so lang er wil, Die, so lang er mich lesst stehen, 7 Weder sol noch kan vergehen.

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Vgl. Simon Dach: »Georg Neuschilling Porusso[.] Ehren=Geticht zum Magister Grad.« In: Ebd., S. 39. Vgl. Simon Dach: »Sannararii«. In: Ebd., S. 311. Vgl. Simon Dach: »Jung gefreyht hat nie gerewt.« In: Ebd., S. 106. Simon Dach: »Christoph Tamm und Regina Radau.« In: Ebd., S. 41 f., hier Str. 5.

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Das kasualliterarische Hochzeitsgedicht mutiert hier also zum Programm eines guten christlichen Ehestands und seiner theologischen Grundlagen, und die heidnische Liebesgöttin verwandelt sich in eine Kreatur und willige Dienerin der Absichten, welche der – ganz offenkundig – lutherische Gott gegenüber seinen Geschöpfen hegt. Das Gedicht ermöglicht mittels der Prosopopöie die poetisch personifizierte Präsentation eines Ehekonzepts, das den Freuden der Liebe einen hohen Stellenwert im menschlichen Leben zumißt. Selbstverständlich wird hier, wie die nächste Strophe eindeutig klarstellt, ausschließlich der säkularen Genüsse innerhalb der wohlgeordneten Bahnen des »Ehe Stand[s]« 8 das Wort geredet. Die rein innerweltliche Gültigkeit der Freuden der Liebe bleibt dabei ebenso gewahrt wie die Macht Gottes, diese jederzeit einzuschränken oder zu beenden. Die folgende, letzte Strophe von Venus’ Rede betont schließlich zwei weitere integrale Erfordernisse einer Hochzeit. Kein Mann dürfe eine Frau heiraten, wenn er sie »nicht versorgen kan«, und das gemeinschaftliche Leben von Mann und Frau müsse »mit Ehren« geführt werden. 9 Die Liebesgöttin pointiert demnach nicht bloß ein weiteres Mal ein christliches Ehekonzept – und verweist damit auf die diesbezüglich übliche homiletische Unterweisung sowie die entsprechende Ratgeberliteratur –, sondern stellt zusätzlich auf die notwendigen materiellen Grundlagen einer geordneten Partnerschaft ab. Nach diesen Ermahnungen nimmt Venus ihren Abschied und gibt dem lyrischen Ich die Möglichkeit, diese Worte für sich zu erwägen, in Absetzung von der einleitenden Stellungnahme für vernünftig und richtig zu erkennen und zuletzt auf den aktuellen Fall anzuwenden. Venus und Amor übernehmen, wenn sie prosopopoietisch im Text aufgerufen werden, eine Reihe unterschiedlicher Funktionen. So tritt beispielsweise eines von ihnen am Ende eines Gedichts als Bote auf, welcher dem Brautpaar die besten Glückwünsche mit auf den Weg gibt 10 oder die Vorzüge der Brautleute preist. 11 Venus kommt in der Prosopopöie in der Regel die Rolle zu, ernsthaft über Liebe und Ehe zu reflektieren, während Amor eher eine komische Figur mit seinen Reden abgibt. So beklagt er sich beispielsweise in einem auf den Jänner 1637 datierten Gedicht über die eben herrschende, entsetzliche Kälte, welche die Flammen seiner Liebespfeile ersticke. 12 Mehr noch: Amor wird mit seinen leichtfertigen, geschwätzigen Reden 13 samt den Streichen, die er den Menschen spielt, der gesitteten und züchtigen Venus als sprechender Personifi_______ 8 9 10 11 12

13

Ebd., V. 45. Ebd., S. 42, Zitate Str. 7, V. 54 und 51. Vgl. Simon Dach: »Ambrosius Scala und Catharina Hermann. […] Hochzeitgetichte.« In: ZIESEMER I, S. 7f, hier S. 8. Vgl. Simon Dach: »Heinrich von Oppen und Maria von Mülheim.« In: Ebd., S. 279 f., hier Str. 7–14. Simon Dach: »Johan=Bartholomäus Krüger und Katharina Loth.« In: Ebd., S. 42 f., hier Str. 3–6; vgl. auch: »Christoph Starck und Anna Dorothea Walter.« In: Ebd., S. 76 f., und: »Johann Siegler und Regina Oeder.« In: Ebd., S. 232 ff., hier S. 233. Vgl. Simon Dach: »Heinrich von Oppen und Maria von Mülheim« (wie Anm. 11), V. 53: »Alles schwätzt er in den Wind«.

Literarische Verlebendigungen

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kation einer fast vorbehaltlos emotionalen, kaum rational domestizierten Liebe gegenübergestellt. 14 Das Zeitalter, das üblicherweise hinsichtlich der Partnerschaft mit ökonomisch wohl kalkulierten Vernunftehen identifiziert oder zum wenigsten assoziiert wird, kennt also in der Hochzeitslyrik gelegentlich auch den Lobpreis einer vor allem affektiven Beziehung von Braut und Bräutigam zueinander. Amors lockere Reden über das Gift und die Flammen der Liebe werden dabei vom lyrischen Ich vielleicht milde ironisiert, aber nicht kritisch in Frage gestellt, sondern sogar, wie im folgenden Gedichtschluß, in etwas seriöserer Formulierung wieder aufgegriffen: Geht vnd schöpfft nur ewre Lust 15 Vnd ergetzt Euch auff das Leiden, Kein Verdruß sey Euch bewust Vnd verstör Euch in den Frewden, Gott vnd seiner Gnaden Schein 16 Wird Euch Gnüg vnd Segen seyn.

Die eigene Stimme des lyrischen Ich und die fremde des prosopopoietisch fingierten Amor stimmen hier im Hochzeitsgedicht gemeinsam das Lob einer von Gott gutgeheißenen Sinnenfreude auf Erden an. Ein anderes Mal treten die beiden antiken Mythenfiguren in einem Epithalamion auf, das als burleske Ballade gestaltet ist. Amor und Venus verbrauchen lange nutzlos ihre unterschiedlichen Künste an dem Ehemann, bis die Göttin nach einer ausführlichen grimmigen Tirade alle Versuche abbricht, das Herz des Mannes aber alsbald durch seine zukünftige Ehefrau erobert wird. 17 Gott selbst freilich erscheint niemals als prosopopoietische Stimme in den Gedichten, um eine Ehe zu stiften oder zu segnen. Nur einmal äußert sich in dem Text auf die Hochzeit von Christian Hempel und Maria Jennicke (1649) »der Himmel« in direkter Rede. Nach einer ausführlichen Würdigung des arbeits- und tugendreichen Vorlebens des Bräutigams wird die Verbindung mit der Braut als Konsequenz eines göttlichen Ratschlusses dargestellt: Wie doch, spricht er [scil. der Himmel], soll auff Erden Dieser Sinn belohnet werden? Amor sieh ihm etwas auß, Laß ihn glücklich sich beweiben, Baw auff Erden ihm ein Haus, 18 Daß beständig möge bleiben.

Auch hier figurieren die antiken Liebesgötter mithin als die Gehilfen des christlichen Gottes, der den Menschen eine von Liebe getragene Ehe als Teil einer mäßigen irdischen Zufriedenheit wünscht. _______ 14 15 16 17 18

Vgl. Simon Dach: »Abraham Josaphat von Kreytzen und Juliana Elisabeth von Rauschke.« In: Ebd., S. 247–250. D.h. nach den vorhergehenden Verwicklungen. Ebd., Str. 35. Vgl. Simon Dach: »Daniel Martin und Elisabeth Lepner.« In: Ebd., S. 104 f., hier S. 105, Str. 22–27; vgl. auch: »Reinhold Schultz und Marie Friese.« In: Ebd., S. 174–177. Simon Dach: »Christian Hempel und Maria Jennicke.« In: Ebd., S. 224 f., hier Str. 7.

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In zwei von Dachs weltlichen Gedichten steht eine poetische Verlebendigung der Venus im Dienste von literarischer Selbstreferenz und Selbstreflexion. Im Epithalamion auf Christoph Kerstein und Maria von Weinbeer vom Jänner 1651 spricht das lyrische Ich den Bräutigam an und skizziert die Mühen und Schwierigkeiten der aktuellen kasualpoetischen Produktion: […] Jetzt fellt mir dieses ein, Jetzt jenes, jetzund das, bald laß ich alles seyn 19 Vnd suche nur für Euch was bessers noch zu finden[.]

Schließlich erblickt das solchermaßen bedrängte lyrische Ich zwei Tauben in den Lüften, vermutet die Nähe von Venus – und wird darin nicht getäuscht, denn schon hebt die Göttin zu einer sechs Strophen umfassenden Apologie von Liebesgedichten an. In immer neuen argumentativen Variationen und mit vielfachen Beispielen aus der antiken Literatur möchte sie ihre Behauptung belegen, daß kein Hochzeitsgedicht gelingen könne, dessen Dichter nicht selbst die Liebe am eigenen Leib erfahren habe. Das lyrische Ich läßt sich auf die Verheißungen der Venus ein, und tatsächlich sprudeln in den noch folgenden, knapp 140 Versen des Textes die »Einfäll’« 20 sozusagen wie wild. Die klassischen – das heißt: die topischen – Textherstellungsmuster, so modelliert das lyrische Ich hier den Prozeß der Produktion eines Hochzeitsgedichts, erscheinen völlig unzureichend gegenüber einer inventio, die sich rein aus einem Gefühl, der Liebe nämlich, speist. Selbstverständlich ist diese irritierend protomodernistisch anmutende Position pure Inszenierung und keinesfalls Beschreibung von Dachs poetischer Praxis. Sie zeigt freilich, daß der Autor immer wieder die diskursiven Grenzen der Poetologie seiner Epoche bis zu deren äußerstem Rand auslotet und ausreizt. Vielleicht noch bemerkenswerter ist die Reflexion des Schreibprozesses in dem Hochzeitsgedicht auf Hans Dietrich von Tettau und Catharina von Brandt vom 17. Oktober 1649. Der Text hebt an mit einem Lob und einer umfangreichen Beschreibung des Brautpaares. Plötzlich allerdings tritt Venus auf den Plan und erhebt eine Klage, die sie mit folgenden Worten einleitet: Ist denn hier in Preussen=Landen Von Poeten nichts vorhanden? Bin ich hie so unbeliebt, Daß mein Volck hie mus gebrechen So das Wort mir stets mus sprechen 21 Vnd der Liebe Zeugnis giebt [.]

Im weiteren Verlauf ihrer Rede fordert die Göttin unter anderem die poetische Darstellung der Hochzeit, um diesen bedeutenden Anlaß schriftlich zu fixieren und somit das Andenken daran für die Nachwelt zu erhalten: _______ 19 20 21

Simon Dach: »Christoph Kerstein und Maria von Weinbeer.« In: Ebd., S. 259–263, hier V. 7 ff. Ebd., S. 260, V. 61. Simon Dach: »Hans Dietrich von Tettau und Catharina von Brand.« In: Ebd., S. 236–240, hier V. 63–68.

Literarische Verlebendigungen

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Alles was ich jetzund mache Hie auf diesem Lust=Gelache, Essen, Tranck vnd Pracht vergeht, Zeit vnd Fall reisst alles nieder, Nur was der Poeten Lieder Davon singen, das besteht. Sollen dieser Braut Geberden, Denen nichts sich gleicht auf Erden, Dieser schwartzen Augen Schein, Dieses Bräutgams Art vnd Leben, Den kein Mensch gnug kan erheben, Kurtz darnach vergessen seyn? Auff, entreisset ihr Poeten, Was ihr könnt, den Sterbens=Nöhten, Schärfft die Feder vnd die Hand: Heist dieß Edle Par bekleiden, Wisst, daß euer Fleiß im Schreiben 22 Nie sey besser angewand.

In das Gedicht über die Hochzeit mischt sich somit die fremde Stimme der Liebesgöttin Venus ein, um seine Intensivierung und poetische Übersteigerung zu fordern. Der Text wird fortgesetzt mit der Reaktion des eigentlichen Sprechers auf diese Ermahnung: So sprach sie. Ich bestürtzt’ vnd dachte, wie es scheinet, 23 Ist dieses meistenteils auff dich, mein Dach, gemeinet[.]

Es folgt ein elfstrophiges, überbordendes Lob der Brautleute, das jedoch immer wieder mit dem Argument relativiert wird, daß kein denkbares poetisches Gebilde dem Brautpaar gerecht zu werden vermöchte und kein Dichter, nicht einmal Vergil oder Opitz, zur Abfassung eines angemessenen Epithalamions für diese Hochzeit in der Lage wäre. Dachs natürlich außerordentlich kunstvolle Verse zeitigen nun eine unerwartete Wirkung. Der Dichter wird plötzlich von einem hellen Glanz geblendet und in den Helikon versetzt. Hier singen ihm Apoll und jede der Musen je eine Strophe eines Loblieds auf seine vielfältigen guten Eigenschaften. Euterpe zum Beispiel preist Dach mit den Worten: Ein jeder weis mit Sachen Ihm Ruh und Lust zu machen, Viel lieben falschen Schein: Er aber ist ergeben In seinem gantzen Leben Der Tugend nur allein.

Thalia rühmt ihm folgendes nach:

_______ 22 23

Ebd., V. 75–92. Ebd., V. 93 f.

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Ralf Georg Bogner

Er ist kein Feind der Freuden, Führt nicht bekränckten Muth, Weis klüglich zu entscheiden Wo Ernst von nöthen thut. Er läßt ihm auch gefallen Zu Zeiten Spiel und Wein, In Summa, er kan allen 24 Gebührlich alles seyn.

Die Prosopopöie erlaubt es dem Dichter also, sich selbst aus dem Mund der zehn zentralen mythologischen Repräsentanten von Kunst und Wissenschaften ästhetisch in seiner literarischen Produktion wie ethisch-religiös in seinem Lebenswandel zu bestätigen und zu beglaubigen. Hier manifestiert sich durch die poetische Verlebendigung Apolls und der Musen das ausgeprägte dichterische Selbstbewußtsein eines Autors, der seinen eigenen Wert, wenn auch durch die Münder fingierter Lobredner, einschätzen zu können und stolz öffentlich artikulieren zu dürfen meint. Drei weitere spezifische und auffällige Formen der Prosopopöie in den weltlichen Gedichten Dachs bleiben noch zu ergänzen. Erstens zitiert das lyrische Ich sich mehrfach selbst. So integriert es beispielsweise die direkte Anrede an einen Kranken, 25 ein Selbstgespräch über ein glückliches Hochzeitspaar 26 oder über unerträgliche nächtliche Schmerzen 27 in den lyrischen Text. Die Funktion dieses Einsatzes der Prosopopöie ist offenkundig die Herstellung einer größeren Anschaulichkeit und Sinnenfälligkeit und damit auch einer stärkeren unmittelbaren Wirkung des Gedichts durch die vorgeblich direkte Wiedergabe sprachlicher Äußerungen. Zweitens integriert das lyrische Ich in seine Rede Worte, die es das Publikum imperativisch auffordert zu sprechen. So legt Dach der Gevatterin Regina Schwartz nach dem Überstehen einer schweren Krankheit unter anderem folgende Verse zwecks Wiederholung in den Mund: Sprich: Gott, dein will ich nicht vergessen, Dein Rhum ist, Herr, nicht zu ermässen, So weit die Flucht der Wolcken geht, 28 Ist, Vater, deine Güt’ erhöht.

_______ 24 25

26 27 28

Ebd., S. 239. Vgl. Simon Dach: »Schuldige Trew dem […] Herrn Conraden von Burckstorff, Meinem gnädigen Herren vnd Beförderer in seiner schmertzlichen Kranckheit vnterdienstlichst bezeuget […].« In: Ebd., S. 149 ff., hier S. 151. Vgl. Simon Dach: »Johann Sigismund von Ostau und Barbara Dorothea von Götz.« In: Ebd., S. 229 f., hier Str. 4. Vgl. Simon Dach: »Alß ich Anno 1650 d. 25. Augstm. in der Nacht für grosser Engbrüstigkeit nicht schlaffen kunte.« In: Ebd., S. 252 f., hier Str. 3 ff. Simon Dach: »Georg Reimann und Anna Krintz. […] An meine Hochgeehrte Fraw Gefatterinn, Fr. Reginam Schwartzinn, meine große Gutthäterinn.« In: Ebd., S. 184ff., hier Str. 6; vgl. auch: »Hn. Gregorio Schuberto, Rectori der Schulen zu Bartenstein, als er mit […] Fr. Dorothea Beckschlagerin Hochzeit machte […].« In: Ebd., S. 209 f., V. 12 ff.

Literarische Verlebendigungen

147

Hier spricht die eigene Stimme des lyrischen Ich Worte, von denen es sich wünscht, daß sie durch die literarische Vermittlung zur fremden Rede eines oder mehrerer Rezipienten werden. Die Prosopopöie erfüllt somit lehrhafte, sozusagen sprechethische Funktionen, indem sie andere zur sprachlichen Wiederholung und Imitation des dichterisch Vorgetragenen animiert. Drittens und letztens hypostasiert das lyrische Subjekt immer wieder auch im eigenen Text Äußerungen von anwesenden anderen Personen. 29 Einzelne Rezipienten verwandeln sich also in fingierte Produzenten von sprachlichen Handlungen. Dieser Einsatz der Prosopopöie erfüllt primär spielerische Funktionen im Rahmen der Geselligkeitskultur des Barock, aus deren Kontext die weltliche Gelegenheitsliteratur der Epoche nie gelöst betrachtet werden darf.

_______ 29

Vgl. Simon Dach: »Klugheit (wie man spricht) kömpt vor Jahren nicht.« In: Ebd., S. 106 f., Str. 2.

Wolfgang Neuber

Textbaustein, Topos und Parodie Zu einigen Aspekten der Intratextualität in Dachs Gedichten *

Simon Dach war ein Vielschreiber. Die Zahl seiner Gelegenheitsgedichte beläuft sich auf mehr als 1500, was bedeutet, daß er über dreißig Jahre hinweg im Schnitt ein Gedicht pro Woche verfaßte. Das könnte die Vermutung nahelegen, daß der Zeitdruck es ihm nicht immer erlaubt hat, neue Formulierungen zu finden, daß die poetische inventio Rückgriffe auf bewährte Formulierungen zuließ, die als Textbausteine wiederverwendet werden konnten. Die Gedichte selbst liefern dafür Anhaltspunkte, indem sie diesen Produktionsdruck reflektieren; so etwa ein Trostgedicht aus dem Jahr 1654: DAß ich mit Reime setzen Verderbe das Papier, Was man davon mag schwätzen, Ich weiß nicht raht dafür. Ich werd’ auff allen Seiten Besprengt nicht ohn Beschwer In Lust= vnd Trawer=Zeiten Wie auff der Hatz ein Beer. Es einem zu versagen? Offt lässt es Freundschafft nicht, Vnd vielen abzuschlagen Verbeut Gebot und Pflicht 1 >...@.

Bereits in einem früheren, einem Trauergedicht aus dem Jahr 1648 heißt es: Der Reim=Brunn ist erschöpfft in mir, Vnd meine Faust fällt nieder, Nichts anders aber schreib ich schier 2 Als Klag= vnd Todten=Lieder.

Und schließlich, in einem Hochzeitsgedicht noch aus dem Jahr 1658: Kurtz, bey Heyraht und bey Leichen Spricht man mich umb Lieder an 3 Gleich als einen Arbeitsmann.

_______ * 1 2

Die Form des Vortrags wurde bewahrt, Anmerkungen wurden hinzugefügt. Simon Dach: »Einfältiger jedoch guthertziger Trost.« In: ZIESEMER IV, S. 219 ff., hier Str. 1 f. Dach: [Inc.:] »WEnn wollen wir doch denn einmal«. In: ZIESEMER III, S. 204 f., hier V. 5– 8.

150

Wolfgang Neuber

Die Beschreibung solcher poetischen Produktionsbedingungen als gleichsam seriell läßt ein Operieren mit Textbausteinen erwarten. Begünstigt könnten Wiederholungen durch den Umstand worden sein, daß die Gedichte zwar gedruckt wurden, sich aber an immer wieder wechselnde Adressaten richteten. Das sind, wie gesagt, zunächst bloß Vermutungen. Man sollte jedoch etwas Vorsicht walten lassen: Rückschlüsse vom lyrischen Ich auf den Verfasser sind immer dubios, und auch die Trennung von Adressatenkreisen kann sich, wie zu zeigen, als problematische Annahme herausstellen. Zunächst aber liefert die Lektüre von Albrecht Schönes ›Kürbishütten-Buch‹ ein weiteres Indiz für die Textbaustein-Hypothese. Selbst innerhalb des notwendigerweise beschränkten Zitaten-Corpus findet sich die Wiederholung eines Textbausteins, 4 und zwar die Formulierung »der Poeten weise Lieder«. Der erste Beleg entstammt einem Hochzeitsgedicht aus dem Jahr 1643: Der Poeten weisen Lieder 5 Reissen durch Welt, Zeit vnd Todt.

Die Rekurrenz findet sich fünf Jahre später, und zwar in einem Trauergedicht aus dem Jahr 1648; hier heißt es: Denn Zeit vnd Fall reißt alles nieder, 6 Ohn der Poeten weise Lieder.

Zu der identischen Wiederholung (»der Poeten weise[n] Lieder«) tritt die variierende Wiederholung als Paronomasie (›reisen‹, hier realisiert als »reissen«; »reißt«); das Hochzeits- und das Trauercarmen treffen sich hier in dem Gedanken, daß zeitliche Fortdauer nur durch dichterische Leistung zu erwarten ist. Intratextuelle Übertragungen bei Dach können also über Jahre hinweg und in Gedichten zu je unterschiedlichen Anlässen auftreten. Um zu einem gesicherten Befund, der sich zudem quantifizieren läßt, zu gelangen, müßte man alle Gedichte Dachs digital erfassen. Ob angesichts der Zahl der abzuschreibenden Poemata eine derartige Erfassung in absehbarer Zukunft zu erwarten oder zu leisten ist, bleibe dahingestellt. Gesetzt aber, man verfügte über eine derartige Datenbank, dann müßte man Zeile für Zeile bzw. wesentliche Teile eines Verses eines jeden Gedichts über einen Suchbefehl daraufhin überprüfen, ob die Formulierung sich in einem zweiten oder gar dritten Gedicht in identischer Weise wiederholt. Unter Umständen ließe sich diese Suche ja auch in anderer Weise automatisieren. _______ 3 4

5 6

Dach: »Jacob Sahm und Dorothea Wolder.« In: ZIESEMER II, S. 136 f., hier S. 137 (V. 64 ff.). Vgl. Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München: Beck 1975, S. 51. – Ich zitiere die Belege im folgenden allerdings nach ZIESEMER. Simon Dach: »Reinhold Nauwerck und Barbara Witpahl.« In: ZIESEMER I, S. 122 ff., hier V. 11 f. Dach: [Inc.:] »JHr Seiten greifft euch wieder an.« In: ZIESEMER III, S. 217 ff., hier S. 218 (V. 67 f.).

Textbaustein, Topos und Parodie

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Doch selbst hierbei stieße man auf die Schwierigkeit, daß ein Suchbefehl oder ein automatisches Abgleichen nur jene Verse auswerfen würde, die auch in identischer Schreibung vorliegen, nicht aber jene, die bloß semantisch-syntaktisch gleich sind. Ungelöst bliebe zudem das Problem einer Intratextualität zwischen Dachs deutschen und seinen lateinischen Gedichten. 7 Insofern ist die Suche mit dem gleichsam unbewaffneten Auge, wie arbiträr sie auch sein bzw. wie stark sie von der Gedächtnisleistung des Suchenden abhängen mag, vielleicht sogar ein Vorteil. Was als Befund vorgelegt werden könnte, hängt somit von den Rahmenbedingungen jener Aufmerksamkeit ab, die ein Leser beim Durchgehen der Dachschen Gedichte aufzubringen vermag. Wie sich denken läßt, ist es schlichtweg unmöglich, eine so große Textmenge mit Sicherheit bei der Lektüre im Kopf zu behalten. Generelle oder quantifizierende Befunde lassen sich gegenwärtig nicht bieten. Das Textcorpus ist einfach zu groß. Eine gewisse heuristische Erleichterung brächte es vielleicht, nach jeweils gleichen Metren zu suchen, doch muß man anerkennend sagen, daß die Varianz der Gedichte, was die Metrik betrifft, groß ist: Die Poemata umfassen sowohl jambische als auch trochäische, vereinzelt selbst daktylische Verse und das in einer Bandbreite von zwei bis sechs Hebungen. Eine ähnlich große Varietät läßt sich auch in der Strophik feststellen. Mit anderen Worten: Der Versuch, Dach dem »Arbeitsmann« auf die Spur zu kommen, wie Schöne ihn konstruiert, führt schnell zu dem Ergebnis, daß das gesamte Corpus der Gedichte eine größere Komplexität aufweist, als man unterstellen könnte. Die Frage nach Rekurrenzphänomenen sollte dennoch nicht aufgegeben werden. Bei einem, wie dargestellt, aufwendigen Analyseverfahren muß natürlich der Nutzen, das heißt der Erkenntnisgewinn, belegt werden. Eine Klärung der analytischen Kategorien kann dazu beitragen. ›Textbaustein‹ als semantisch-syntaktisches Wiederholungsphänomen ist zunächst eine andere Kategorie als ›Topik‹. Im Rahmen einer topischen Untersuchung wären beispielsweise der Tugendpreis, die Abkunft, die Verdienste oder die Gelehrtheit, also loci a persona, ins Auge zu fassen. Diese Topoi sind in Dachs Lyrik zwar rekurrent, aber nicht in ihrer jeweiligen argumentativen Aktualisierung als wiederkehrende Textbausteine. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man den Topos-Begriff an jenen von Curtius 8 annähert. Dabei wäre also etwa an die ›Lebensreise‹, das ›falsche Glück‹ oder ähnliches zu denken. Für Curtius sind dies Topoi, in Wahrheit jedoch feststehende Wendungen, also Textbausteine. Eine erste Sichtung der Dachschen Gedichte zeigt jedoch eine paradoxe Gegebenheit. Solche Muster werden in seinen Texten fast immer argumentativ entfaltet, das heißt daß sie nicht als enggefaßte, feststehende Formulierungen, sondern vielmehr allegorisch amplifiziert anzutreffen sind. Sie verhalten sich als tatsächliche Topoi, die Argumente produzieren, nicht aber als Textbausteine. – Das Ergebnis _______ 7 8

Vgl. dazu den Beitrag von Lothar Mundt im vorliegenden Band. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern: Francke 1948.

152

Wolfgang Neuber

auf dieser Ebene der Textbefragung lautet also: Dachs Gedichte aktualisieren zwar einen rekurrenten Fundus an Topoi, die argumentative Bandbreite ist indessen groß. Falls dies ein Qualitätsmerkmal ist, so muß man festhalten, daß der »Arbeitsmann« Dach über einen immensen Fundus an semantisch-syntaktischen Variationsmöglichkeiten verfügte. Im Sinne einer rhetorischen variatio ist die Textkonstitution der Gedichte keineswegs gekennzeichnet von reiner Handwerklichkeit. Was ich angesichts dieser Gegebenheiten vorschlage, ist ein Forschungsprogramm, das Intratextualität als Topik der Kasualpoesie versteht. Für eine solche Fragestellung gibt ein derart umfangreiches und geschlossenes Textcorpus eines einzigen Verfassers ein ideales Untersuchungsfeld ab. Eine Untersuchung der Textbausteine geht dieser Topik der Gelegenheitsdichtung voraus. Es wäre zu fragen, in welche – und ich unterstelle – unterschiedlichen Kontexte solche Bausteine eingehen können, welchen argumentativen Zusammenhang sie besitzen und welcher Topik sie geschuldet sind. Um dies zu verdeutlichen, wähle ich ein Beispiel, das kein aufwendiges Suchverfahren benötigt, weil beide Texte sich im Sinne als aufeinander bezogen zu erkennen geben. Es handelt sich um zwei Hochzeitscarmina. Beide stammen aus dem Jahr 1635. Das ältere Gedicht mag aus den Tagen kurz vor dem Vertrag von Stuhmsdorf stammen, wo am 12. September die Polen unter König Wáadysáaw IV. und die Schweden einen Friedensvertrag unterzeichneten. Das zweite, etwas jüngere Gedicht, das auf die neue Friedenssituation Bezug nimmt, ist als Parodia des ersten deklariert. – Mit Unterstreichungen habe ich jene Textbausteine markiert, die über wenigstens zwei metrische Einheiten erstreckt sind und aus mehr als einem Wort bestehen. Kursiv markiert sind jene Bausteine, die aus nur einem Wort bestehen, aber die Reimbindung eines Verses an einen zweiten Vers sicherstellen. Michael Schultz und Regina Ständer. 1635 (vor 29. Oct.).

Albert Linemann und Anna Gericke. 29. Okt. 1635. Parodia.

[1]

Weinig hoffen, viel entsetzen Hält iezt vnser Vaterland, Mars will seinen Degen wetzen, Rüstet sich mit Mord vnd Brand, Vnser Schutzherr Bistu ja, Grosser GOTT, in noth vnd kriegen, Laß doch König WLADISLA Unter dir noch ferner siegen.

FRewd ohn einiges entsetzen Helt jetzt vnser Vaterland, Mars vergist sein Schwerd zu wetzen, Zeucht von hie mit Mord vnd Brand, Gott du Schutz=Herr, giebst vns ja Friede vor das wilde Kriegen, Vnser König Wladisla Kann durch Macht vnd Güte siegen.

[2]

Unterdessen hör’ ich fragen, Ob mann soll so furchtsam seyn Vnd dem Freyen gantz entsagen? Hie zu sag Ich kühnlich: Nein. Kann dich den der starke GOTT Bey dem Weib’ auch nicht behüten Vnd dich schützen in der Noth Vor der Krieges=Gurgeln wüten?

Vormals hab ich hören fragen, Ob man sol so furchtsam sein Vnd dem Freyen gantz entsagen, Fragt man jetzt noch also? Nein, Den nachdem der starcke Gott Vor dem Krieg’ vns wil behüten, Was fragt Heyraht nach der Noth Vnd der Krieges=Gurgeln wüten?

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Textbaustein, Topos und Parodie [3]

Kompt der Krieg (den GOTT abwende) So Bistu des Weibes Schutz, Sie beutt auch dir Ihre Hände, Ist dein Trost vnd grosser nutz. Kompt er nicht (daß GOTT bescher) O so hastu die genommen, Die vielleicht dir sonsten wär’ An die Seite nimmer kommen.

Auch die Ruh (die Gott nie wende) Fordert ja des Mannes Schutz, Er des Weibes Hülff vnd Hände Seinem Haus vnd Herdt zu nutz. Wol nun (das Gott noch bescher’) Euch, die Ihr zuvor genommen Eine, die Euch jetzund wer’ An die Seite nimmer kommen.

[4]

Wehe dem, der stets alleine Vnd deßwegen Einsam lebt, Fellet er, so ist ja keine, Die Ihn tröstet vnd auffhebt, Auch wenn eins zum andern kreucht Vmbgeschrenckt mit Herz vnd armen, Wärmen sie sich, wer dieß fleucht, Wird alleine nicht erwarmen.

Wehe dem, der stets alleine Vnd noch ferner Einsam lebt, Fellet Er, so ist je keine, Die Ihn tröstet vnd auffhebt, Auch wen eins zum andern kreucht Vmbgeschrenckt mit Hertz vnd Armen, Wermen sie sich, wer dies fleucht, Wird so leichte nicht erwarmen.

[5]

Ihr, Herr Schultz, steht bey zu pflichten Meiner meinung, weil Ihr lacht, Waß hie Leut’ unzeitig richten Vnd nur seyd auf GOTT bedacht, Der dem Handel, den Ihr führt, Solchen AußSchlag wird verleihen, Daß Ihr künfftig deutlich spürt, Wie sein niemand soll geräwen.

Kompt, Herr Breutgam, bey zu pflichten Meiner meinung, niemand lacht, Niemand wird in dem Euch richten, Wessen Ihr euch habt bedacht, Gott, der solchen Handel führt, Wird Ihm dies dazu verleihen, Das Ein jeder künfftig spürt, Wie sein niemand sol gerewen.

[6]

Fahrt nur fort, liebt die beständig, Die wol Liebens würdig ist, Werdet nicht von GOTT abwendig, Lebet wie Ihr leben müst, Tragt daß unglück, wann es beist, Nur mit müthigen geberden, Ich verwette, waß man schleust, 9 Wird an Euch zu Wasser werden.

Fahrt nur fort, liebt sie bestendig, Die wol liebens würdig ist, Werdet nicht von Gott abwendig, Lebet wie Ihr leben müßt, Tragt das Vnglück, wenn es beist, Nur mit müthigen geberden, Was die Eh’ an leidt beschleust, 10 Wird zu lauter Frewd Euch werden.

Das ältere Gedicht führt eine Argumentation für das Heiraten trotz bestehender Kriegsgefahr. Es nimmt seinen Ausgang bei der propositio, daß das Vaterland bedroht sei und daß König Wáadysáaw mit der Hilfe Gottes die Heimat weiter beschützen möge. Daran schließt sich in der zweiten Strophe eine rhetorische quaestio infinita: Ob man wegen der Kriegsgefahr das Heiraten unterlassen solle? Die Frage wird infinit verneint. Das dazu gehörende Argument lautet: Gott kann Schutz in jeder Situation gewähren. Die dritte Strophe entfaltet, weiterhin infinit, eine kontroverse Kasuistik. Im Kriegsfall helfen die Eheleute einander, bleibt der Krieg aber aus, so hat der Mann eine Frau genommen, die er sonst vielleicht nicht geheiratet hätte. Strophe 4 wendet infinite argumenta illustrantia auf, um dieses letzte Argument einsichtig zu machen. Wer alleine lebt, bleibt jetzt und im Alter ohne Hilfe und Trost. _______ 9 10

Dach: »Michael Schultz und Regina Ständer.« In: ZIESEMER I, S. 29. Dach: »Albert Linemann und Anna Gericke.« In: Ebd., S. 29 f.

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Wolfgang Neuber

Finitisiert wird diese allgemeine Beweisführung durch die Anwendung auf den gegenwärtigen Anlaßfall. Eine Apostrophe wendet sich an Michael Schultz, den Bräutigam, und fordert ihn auf, der Argumentation zuzustimmen, es sei klug, die Menge in ihrem falschen Urteil zu ignorieren und auf Gott zu vertrauen. Die abschließende sechste Strophe setzt diese Handlungsanweisung im genus deliberativum fort. Der Bräutigam solle seine Braut immer lieben, auf Gott bauen und etwaiges Unglück mutig erdulden. Alle Unbilden des Lebens können dann gering geachtet werden. – Soweit das ältere Gedicht. Der nur wenig jüngere Text geht von einem Fall aus, der als umgekehrt eingeführt wird. 11 Das Vaterland hat keinen Krieg zu befürchten, mit Gottes Hilfe bewahrt König Wáadysáaw die Heimat durch seine Siege. Die quaestio infinita wird nun temporalisiert und als durch die Zeit erledigt ausgewiesen: Man braucht nicht mehr zu fragen, ob man im Kriege heiraten solle. Damit kollabiert die Kontroverskasuistik der dritten Strophe des älteren Gedichts. Im nun herrschenden Friedenszustand sind die Eheleute einander Hilfe und Schutz. Der zweite Teil der Strophe ist stärker als finitisiert angelegt, das ›Euch‹ bezieht sich deutlicher auf den Bräutigam als das ›Du‹ mit dem gleichbleibenden Argument, daß die eingegangene Ehe einen Glücksfall darstellt. Strophe 4 ist sprachlich nahezu identisch mit der vierten Strophe des Hypotextes. Die einzigen semantischen Abweichungen (»deßwegen« vs. »noch ferner«; »alleine« vs. »so leichte«) sind letztlich rein stilistischer Natur. Der Sinn der einzelnen Verszeile wird nicht tangiert. Auch die finitisierende Apostrophe des Bräutigams in der fünften Strophe ist deckungsgleich mit dem Hypotext, allerdings wird nun kein Name genannt. Die Aufforderung, sich der Beweisführung des lyrischen Ichs anzuschließen, bleibt ebenso bestehen, wie die Wendung ins genus deliberativum und der Fundus der Argumente: Mißachtung des Geredes der Menge und Gottvertrauen. Strophe 6 weicht schließlich ebenso wie Strophe 4 nur minimal vom Hypotext ab. Lediglich die vorletzte Zeile präzisiert das möglicherweise drohende Leid als in der Ehe selbst begründet; die abschließend formulierte Versprechung, es werde gering zu schätzen sein, wird demgegenüber jedoch auch verstärkt zu einem Argument der kommenden Freude. In diesem Begriff konvergieren die propositio und die conclusio, die erste und die letzte Zeile. Die Rekurrenz des Textbestands ist unterschiedlich dicht. Sie betrifft lückenlos die Reimstruktur beider Gedichte. Fester Bestandteil sind darüber hinaus das Vaterland, der Kriegsgott Mars, der schützende König, die Frage, ob man heiraten solle, die Kriegsnot, Gottes Eingreifen, das Zueinanderfinden der Eheleute, die gesamte Einsamkeitsbeweisführung, die Zustimmungsaufforderung, das Gottvertrauen und die beratende Argumentation in der letzten Strophe. Eine argumentative Divergenz bei gleichbleibendem Textbestand _______ 11

Die beiden Texte verfolgen dasselbe Beweisziel, nämlich daß es klug und richtig sei zu heiraten. Die jeweils kontroverse Situierung im Kriegs- und im Friedensfall rückt es an die Grenze zur Palinodie.

Textbaustein, Topos und Parodie

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ergibt sich lediglich in Strophe 5, wo einmal der Stand des Bräutigams als Händler bzw. Gottes Walten betroffen sind. Semantisch-syntaktische und damit argumentative Abweichungen ergeben sich aus der jeweils angenommenen Situation der Kriegsgefahr bzw. der Abwesenheit dieser Bedrohung, das heißt aus den propositiones. Dies betrifft Strophe 1 und 2. Strophe 4 und 6 sind weitgehend textidentisch. Die beiden dritten und fünften Strophen argumentieren zwar analog, dennoch sind rekurrente Formulierungen eher selten. Für die dritten Strophen ist dies durch die unterschiedlichen Ausgangspunkte zu erklären; für die fünften Strophen dadurch, daß in dem jüngeren Text Gott als Aktant in den Vordergrund rückt. Trotz gegensätzlicher äußerer situativer Einbettung (Kriegsgefahr vs. Frieden) ist die Zahl der rekurrenten Wendungen insgesamt extrem groß. Das bedeutet, daß trotz eines nicht geringen Fundus an feststehenden Formulierungen eine Sinnebene der Texte einer argumentatio in utramque partem dienlich gemacht werden kann. Auf einer zweiten Sinnebene freilich, jener der inneren Situierung (Hochzeit) koinzidieren die rhetorischen Beweisführungen. Aus dieser Gegensätzlichkeit resultiert eine Spannung, die sich als Spiel mit Argumenten kenntlich macht und eine hohe Kunstfertigkeit verrät. Der Verdacht der reinen Handwerklichkeit von Dachs Lyrikproduktion gerät hiermit ins Wanken. Aus der Analyse läßt sich indessen nicht alleine ein Wertungsargument gewinnen, sondern auch eines, das die Gebrauchssituation und damit die Sozialgeschichte der Texte betrifft. Das jüngere Gedicht verhält sich zum älteren als Parodie. Geht man vom rhetorischen Wortsinn aus, dann ist die Parodie gekennzeichnet von einer »Teilidentität von Vorlage und Adaption.« 12 Damit ist die Parodie ein textkonstitutives Verfahren, das allerdings nur dann Sinn ergibt, wenn beide Texte, Hypotext und parodierender Text, dem Publikum zugänglich und bekannt sind. Angewendet auf die beiden Carmina Dachs und die Hochzeitssituation zweier unterschiedlicher Paare bedeutet das, daß beide Gedichte jeweils notwendigerweise gedruckt vorlagen, vor allem aber, daß es eine bestimmte Schnittmenge der jeweils anwesenden Hochzeitsgäste gegeben haben muß. Selbst wenn die Adressaten wechselten, so war der Kreis der Rezipienten ganz offensichtlich begrenzt, die lyrische Produktion Dachs war allgemein bekannt. Von hier aus ergibt sich ein weiterer, vorläufig hypothetischer Schluß. Wenn Dachs Gedichte in der Tat allgemein bekannt waren, so konnten sie kaum anders als in offen parodistischer Manier mit Textbausteinen operieren. Die rhetorische variatio war dann eine Existenzbedingung für den Gelegenheitslyriker. Umso dringlicher wäre es, sowohl die Formulierungsrekurrenzen in Dachs Lyrik aufzuspüren und funktional zu beschreiben, als auch in einer topischen Analyse die argumentative Bandbreite innerhalb _______ 12

Theodor Verweyen und Günther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 15.

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Wolfgang Neuber

rekurrenter topischer Felder zu analysieren. Dies nicht nur, um die variatio festzustellen, sondern vor allem, um auch zu untersuchen, wie intratextuelle Austauschformen und argumentative Spielräume zwischen gelehrtem Wissen und Volkssprachlichkeit, zwischen genus humile und genus grande, zwischen Artifizialität und kunstfertiger Schlichtheit vermitteln können. 13

_______ 13

Vgl. auch den Beitrag von Robert Seidel im vorliegenden Band.

Achim Aurnhammer

Dichter-Leid Formen und Funktion des Autopathographischen in der Lyrik des Simon Dach Die autopathographische Lyrik der Frühen Neuzeit verdient im Hinblick auf die ›Entdeckung des Individuums‹ besondere Beachtung. Der Humanismus hatte bereits den Gedichttyp des De se aegrotante ausgeprägt, bevor sich die Klagen über Krankheit und eigenes Leid in der deutschsprachigen Lyrik des 17. Jahrhunderts sukzessive ausdifferenzierten: Die Skala reicht von Trauer-, Trostund Kondolenzgedichten über geistliche Tränen-Lyrik bis hin zu egozentrischen Bekundungen physischen, psychischen und metaphysischen Leidens. Das spannungsvolle Wechselspiel von überpersönlicher Rollenlyrik und individuellen Selbstaussagen charakterisiert die autopathographische Dichtung der Frühen Neuzeit. Doch ist die frühmoderne Faktur der barocken Schmerzlyrik bislang kaum erkundet, und die Renaissance blieb in der Geschichte des Schmerzes nur oberflächlich erforscht. 1 Oft reflektieren autopathographische Dichtungen metapoetisch die Grenzen sprachlicher Codierung und Mitteilbarkeit. Häufig erschließen sie neue Themen und erproben neue Schreibweisen. Solche gehaltlich-formalen Innovationen zeigen sich vor allem in charakteristischen Abweichungen von stilistisch-ästhe_______ 1

Perspektivenreiche Vorarbeit geleistet hat Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizin. Hg. von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann. Tübingen: Niemeyer 1992 (Frühe Neuzeit, 10), S. 1–29. Mit der Frage nach der Ichkonstitution in der Schmerzerfahrung und insbes. der Rolle der Erinnerung befaßt sich die Arbeit von Christian Sinn: »In auesserster Widerwaertigkeit«. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen barocker Schmerzgedichte am Beispiel von R. C. von Greiffenberg. In: Schmerz und Erinnerung. Hg. von Roland Borgards. Paderborn [u.a.]: Fink 2005, S. 57–67. – In der Erforschung der Schmerzgeschichte wird die Renaissance meist auf die bedeutenden Denker reduziert und die sprachlich-stilistische Repräsentation vernachlässigt; dies gilt für die systematisch wegweisende Studie von Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur [The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, 1985]. Frankfurt/M.: Fischer 1992, aber auch für neuere Überblicksstudien: David B. Morris: Geschichte des Schmerzes [The Culture of Pain, 1991]. Frankfurt/M. [u.a.]: Insel 1994, betont zwar die kulturelle Prägung des Schmerzempfindens und -ausdrucks, reflektiert aber den historischen Wandel nur unsystematisch. Mehr anthropologisch orientiert und ohne längerfristige historische Perspektive bleibt David Le Breton: Schmerz. Eine Kulturgeschichte [Anthropologie de la douleur, 2000]. Zürich [u.a.]: Diaphanes 2003. Roselyne Rey: Histoire de la Douleur. Paris: Editions La Découverte 1993 (Histoire des sciences) (engl. Übersetzung 1998), verhandelt die Renaissance in einem einzigen kurzen Kapitel.

158

Achim Aurnhammer

tischen Normen. Doch liegt nicht nur eine formgeschichtliche Typologie autopathographischer Lyrik in weiter Ferne, auch ihre Funktion für die frühmoderne Subjektkonstitution ist nur ansatzweise erforscht. Denn mit der Verletzung kollektiver Sprachnormen und literarischer Muster werden auch tradierte kognitive Schemata überschritten und das Ich zu neuer Selbstvergewisserung herausgefordert. So verhandelt beispielsweise das Sonett Threnen in schwerer kranckheit (1643) 2 von Andreas Gryphius die Identitätskrise eines Kranken, der seine Selbstentfremdung in einer paradoxen Paronomasie ausdrückt: »Ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden« (V. 4) – ein Beispiel dafür, wie in der ästhetischen Formung das Erkenntnismoment des Schmerzes festgehalten werden kann. Ellipsen, ungeordnete Asyndesen und eine erstaunliche Modifikation der Strophenform gehen in dem titelgleichen Sonett Threnen in Schwerer Kranckheitt (1643) 3 einher mit der Klage einer ›metaphysischen Obdachlosigkeit‹, die für die Barocklyrik ungewöhnlich ist. Formen und Funktionen autopathographischer Lyrik der Frühen Neuzeit sollen in einem Freiburger Forschungsprojekt anhand der Versdichtung rekonstruiert werden. Gedichte wurden gewählt, weil sich in diesem Medium aufgrund der gegebenen Kürze und Geschlossenheit bei hohen formalästhetischen Anforderungen mehr als in anderen Gattungen ästhetische Gestaltungsprobleme sowohl reflektieren als auch innovative Lösungen prägnant erproben lassen. Die Arbeitshypothese des Projekts ist, daß autopathographische Dichtung die desintegrierende Erfahrung von Leid deutend zu bewältigen sucht. 4 Um die evaluative Schmerzverarbeitung in den autopathographischen Gedichten einer vergleichenden Funktionsdeutung zuzuführen, scheinen folgende drei diskursanalytische Kriterien geeignet: Restitution von Intersubjektivität, Affektaktualisierung und Identitätskonstruktion. Diese Kriterien seien vorgängig kurz definiert und operationalisiert: – Restitution von Intersubjektivität Jeder autopathographische Diskurs will zunächst das durch die desintegrierende Leidenserfahrung gefährdete Vertrauen zur Sprache wieder sichern und das solipsistische Gefühl in einer Restitution von Intersubjektivität ab_______ 2

3

4

In: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 1: Sonette. Tübingen: Niemeyer 1963 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 9), S. 34. In: Ebd., S. 59. Während Wolfram Mauser: Was ist dies Leben doch? Zum Gedicht »Thränen in schwerer Krankheit« von Andreas Gryphius. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart: Reclam 1982 (RUB, 7890), S. 223–230, die heilsgeschichtliche Botschaft der Vanitas-Topik herausarbeitet, sehe ich in dem Gedicht eher die Glaubensgewißheit in Frage gestellt. Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Schmerz als literarisches Thema: Entwurf einer Typologie der Möglichkeiten, Schmerz literarisch darzustellen. In: Schmerz in Wissenschaft, Kunst und Literatur. Il dolore nella scienza, arte e letteratura. Hg. von Klaus Bergdolt und Dietrich von Engelhardt. Hürtgenwald: Pressler 2000 (Schriften zu Psychopathologie, Kunst und Literatur, 6), S. 138–146, zu einer Typologisierung literarischer Schmerzdarstellung im Hinblick auf Vermittlung und implizierte Leserreaktion.

Dichter-Leid

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wehren. 5 Die Analyse autopathographischer Gedichte hat daher zu beachten, welche Formtraditionen beliehen werden und wie in den Texten das Moment der Mitteilbarkeit beziehungsweise Unsagbarkeit reflektiert und abgebildet wird. – Affektaktualisierung Der Grundgedanke therapeutischen Sprechens liegt darin, die Emotionen, die mit einer desintegrierenden Erfahrung einhergehen, sprachlich zu aktualisieren. Im erneuten Durcherleben des Schmerzes werden Affekte und Worte wieder zusammengeführt. Dabei kommt es zu neuen Verbindungen, die verschiedene Grade von Kohärenz bis hin zur gelungenen Integration aufweisen. Für die Analyse autopathographischer Texte bedeutet dies, Stilmittel wie Metaphern und Vergleiche als restituierende Formen individueller Deutung aufzufassen. Dabei bieten vor allem die Metaphern des Selbst einen interpretatorischen Ansatz, um herauszuarbeiten, inwieweit die Schmerznarrative auf Muster zurückgreifen oder diese durch Subjektivierung überwinden. – Identitätskonstruktion Desintegrierende Erfahrungen zwingen zu sprachlichen Ausdrucksformen, die der lebensgeschichtlichen Neuorientierung und Neukonstruktion der Identität angemessen sind. So beginnt ein Schmerzgedicht von Andreas Gryphius: »Ich bin nicht/ der ich war«. 6 Die strukturelle Dominanz von Fragen, in denen das leidende Ich sich und seine Situation reflektiert, kennzeichnen solche Identitätskrisen. Für die Analyse autopathographischer Selbstdarstellung bedeutet dies, die Selbstreflexivität der Aussprache zu bestimmen und die Überschreitung von Form- und Deutungskonventionen zu bemessen. Diese drei Kriterien werden meine vergleichende Untersuchung autopathographischer Gedichte Simon Dachs leiten, die einen extensiven Überblick mit der intensiven Analyse von zwei prominenten Krankheits-Gedichten ergänzt. In der Lyrik Simon Dachs spielen Leid und Klage eine entscheidende, freilich nicht gleichbleibende Rolle. Autopathographische Dichtungen Dachs setzen vereinzelt in den dreißiger und vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts ein, nehmen langsam zu, um erst in den 1650er Jahren dominant zu werden. Einen quantitativen Höhepunkt stellt das Jahr 1650 dar, aus dem mindestens zwölf Klaggedichte stammen. Dach bedient sich in seiner autopathographischen Lyrik diverser Formen und Gattungen. Sie umfaßt erstens Kondolenzgedichte, also Epicedien, rollenpoetische ›Thränen‹ sowie ›Klag- und Trostlieder‹, zweitens persönliche Klaggedichte und drittens ›Sterbelieder‹. In allen drei Gedichttypen, die unterschiedlichen rhetorisch-stilistischen Anforderungen genügen, artikuliert ein lyrisches Ich sein Leid. _______ 5

6

Scarry: Der Körper im Schmerz (wie Anm. 1), geht ausführlich auf das Moment der Objektivierung und Verbalisierung des subjektiven Schmerzes ein, ohne den Aspekt aber kommunikationstheoretisch zu fundieren. Gryphius: »Threnen in schwerer kranckheit.« (wie Anm. 2).

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1. Restitution von Intersubjektivität Für Simon Dach ist die Sprache das entscheidende Medium, um sich im zwischenmenschlichen Gespräch vom Leidensdruck zu entlasten. So bekundet er programmatisch: »Die Red’ ist vns gegeben | […] | Das Leid einander klagen.« 7 Dementsprechend reflektiert Dach auch in den autopathographischen Dichtungen immer wieder das Sprechen über den Schmerz oder gar eine sprachliche Notlage. In einem bedeutenden sprachkritischen Zeugnis hat er die Ausdrucksnot isoliert und mit dem Befund der Selbstentfremdung kombiniert: Ach, ich vermag kein Wort zu sprechen! Ich bin mir frembd und vnbekant, Das Hertz im Leibe wil mir brechen, 8 Der Geist ist fern vnd abgewandt.

Darin geht Dach deutlich über biblische Kataloge körperlichen Verfalls hinaus, wie sie sich in Hiobs Klagen oder in dem Leidenspsalm 22 finden. 9 Zwar integriert auch er, vor allem in den ›Sterbeliedern‹, den Verlust des Sprachvermögens in eine allgemeine Klage über den körperlichen Verfall. 10 Doch sieht Dach im Verlust der Sprache insofern das wichtigste Symptom menschlichen Leidens, als er das Stadium der Entmündigung und Hilflosigkeit besiegelt. So läßt er in einem Rollengedicht seine kranke Muhme Hedwig Vogler klagen: Der Sinnen Fertigheit gebricht, Für grosser Ohnmacht red ich nicht, Die Zunge bleibt mir kleben, Aus Schwachheit muß Ich mit Verdruß 11 Mich andre lassen heben.

Meist wertet Dach die Sprache zu einem Sinnesorgan auf und rückt sie gleichberechtigt neben Sehen und Hören. Aus dieser Sicht – für einen Dichter naheliegend – stellt die Sprache einen aktiven, freilich prekären Zugang zur Welt dar. Denn umgekehrt bedeutet Sprachverlust dann Weltverlust, wie aus Dachs Christlichem Sterb=Liedchen hervorgeht: _______ 7 8 9

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Simon Dach: »Perstet amicitiae semper venerabile Faedus!« In: ZIESEMER I, S. 66 f., hier Str. 2. – Zu diesem Gedicht vgl. den Beitrag von Wilhelm Kühlmann in diesem Band. Simon Dach: »Sustinet inconcussa minas sapientia sortis.« In: ZIESEMER I, S. 87 f., hier V. 22–25. Vgl. Ps 22, 15–16: »Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. | Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.« Gelegentlich renaturalisiert Dach sogar die symbolische Metonymie ›Zunge‹ in den Katalogen abnehmender Organe, wenn er sie nicht eigens – wie im: »Sterbens=Liedchen« (ZIESEMER IV, S. 168, V. 7–12) – als Genitivmetapher oder Diärese hervorhebt: »Die Krafft in meinem Hertzen | Jst weg für grossen Schmertzen, | Mein Augen sind ein Grab, | Der Athem meiner Lungen, | Gehör, die Macht der Zungen | Vnd aller Sinn nimpt ab.« Simon Dach: »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler in ihrer Kranckheit.« In: ZIESEMER III, S. 63 f., hier V. 19–24.

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Die Zung’ hat keine Sprache mehr, Auch mein Gehör Beginnt zu schwinden, Ich weiß durch meiner Augen Licht Die Sonne nicht 12 Mehr zu empfinden[.]

Wenn Dach in seiner autopathographischen Dichtung den drohenden Sprachverlust reflektiert, dann wird dies nur selten metapoetisch kommentiert. Selbst in den sog. ›Sterbeliedern‹, welche die Königsberger Freunde bei ihren Zusammenkünften vortrugen, bleibt das stoisch-humanistische Ideal des Nachruhms im Hintergrund. 13 Während etwa in Paul Flemings bekanntem Grabschrifft-Sonett stoisches Selbstbewußtsein und christliche Demut miteinander konkurrieren, 14 dominiert bei Dach fast ausschließlich die Perspektive des reuigen Christenmenschen im Angesicht des nahen Todes. Die christliche Umwidmung des humanistischen Klaggedichts erweist sich vor allem am Kriterium der Intersubjektivität. Denn mehr noch als Mitleid bei seinen Mitmenschen sucht Dach Gehör bei Gott. Dementsprechend wird die Frage nach einem Adressaten in ein Gebet integriert und damit zur dringenden Bitte um geistlichen Beistand spiritualisiert: Wen flieh’ ich doch nun an? Wer ist der helffen kann? Wer wird das Wort mir sprechen? […] 15 Komm, [Herr Jesu Christ,] führe Du mein Wort[.]

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Simon Dach: »Christliches Sterb=Liedchen.« In: ZIESEMER IV, S. 3, hier V. 13–18. Lediglich das Sterbelied, das über die feindliche Fortuna klagt (Dach: »Sustinet inconcussa minas sapientia sortis« [wie Anm. 8]), kontrastiert den eigenen Sprachverlust mit der Hoffnung, im fremden Gesang fortzuleben: »Ich hoff’, es sol mir noch gelingen, | Daß, wann ich schon lieg’ eingehüllt, | Man rühmlich von mir werde singen | Die Reime, meiner Tugend Schild« (V. 43–46). Vgl. »Herrn Pauli Flemingi […] Grabschrifft/ so er ihm selbst gemacht.« In: Paul Fleming: Deutsche Gedichte. 2 Bde. Hg. von J[ohann] M[artin] Lappenberg. Stuttgart: Litterarischer Verein 1865 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 82–83), hier Bd. 2, Nr. 14 (= Poemata [1646], S. 670). Im Oktett variiert Paul Fleming das humanistische Ideal unsterblichen Nachruhms (V. 6 f.): »[…] Man wird mich nennen hören. | Biß daß die letzte Glut diß alles wird verstören.« – Der humanistische Tenor dieser Verse erhellt sich aus ihrer bislang unterbestimmten Provenienz: Flemings Lob des eigenen Nachruhms zitiert nämlich fast wörtlich Opitzens Version »Horatii: ›Exegi monumentum‹ « (MARTINI OPITII Weltliche Poëmata. Der Ander Theil. Zum vierdten mal vermehret vnd vbersehen herauß gegeben. Frankfurt/M.: Thomas Matthias Götz 1644, S. 64, V. 5 f.: »Ich kann nicht gar vergehn. man wird mich rühmen hören | So lange man zu Rom den Jupiter wird ehren.«). Das Opitz-Zitat und die Variation des antiken Weltendes zur christlichen Vorstellung der annihilatio mundi relativieren freilich Flemings vorgebliches Bekenntnis zum humanistischen Nachruhm-Ideal; es hält dem antithetischen Sextett mit einer christlichen Weltverachtung und Jenseitsorientierung nicht stand. Den christlichen Stoizismus akzentuiert dagegen Jochen Schmidt: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische Grabschrift ›auf sich selbst‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 161–182. Simon Dach: »– – supremi Judicis urnam Non metuit fisus sanguine, Christe, tuo.« In: ZIESEMER III, S. 13, hier V. 37 ff. und 55.

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In einem anderen Klag- und Trostlied gelobt das lyrische Ich dem »Herr[n], unser[em] Gott«: »Auch tichtet meine Zung’ allzeit | Allein zu deinen Ehren«. 16 Während Fleming und Gryphius das humanistische Dichterleid pathetisieren, dämpft Dach die Gattung, indem er an das einfache christliche Sterbelied anschließt. So verzichtet er weitgehend auf metapoetische Reflexionen und tendiert zur geistlichen Zwiesprache. Der christlichen Sinngebung des Dichterleids entspricht auch Dachs metrische Praxis: Denn Dach greift in seiner autopathographischen Lyrik vorrangig die geistliche Formtradition auf. So imitiert er Ambrosius Lobwassers Psalmstrophe oder kleidet die Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler in ihrer Kranckheit in eine Schweifreimstrophe, die im 17. Jahrhundert als Psalmlied fest etabliert war. Damit gewinnen Dachs Klagelieder allein durch die Form bereits ein konsolatorisches Moment. 17

2. Affektaktualisierung Anders als etwa Andreas Gryphius, der den heroischen Alexandriner favorisiert, bevorzugt Dach für seine autopathographische Dichtung einfache Liedstrophen mit jambischen Kurzversen. Der metrischen Einfachheit entspricht ein einfacher, ›mittlerer‹ Stil: Lakonische Nüchternheit bestimmt die Beschreibungen, die psychische und somatische Schmerzsymptome parallelisieren. Wie es Dach gelingt, trotz des Verzichts auf rhetorische elegantia das Leiden glaubwürdig zu aktualisieren und zu reinszenieren, zeigt exemplarisch die Eingangsstrophe eines frühen Klagelieds aus dem Jahre 1633: ICh steh in Angst vnd Pein, Vnd weiß nicht auß nicht ein, Der Sinnen Krafft sinckt nieder: Mein Hertz wil mir zergehn, Die Zunge bleibet stehn, 18 Mir starren alle Glieder[.]

Das lyrische Ich eröffnet zwar als Subjekt die Klage, relativiert aber seine Autonomie merklich durch die synonyme Selbstbeschreibung »Ich steh’ in Angst vnd Pein« und durch die pleonastische Fügung »nicht aus, nicht ein«. Die folgenden vier asyndetischen parataktischen Hauptsätze spiegeln die Entmächtigung des Subjekt durch das Leiden wider: Bereits mit der Genitivmetapher »Der Sinnen Kraft« fungiert das lyrische Ich nurmehr als Objekt in Form des Dativ ethicus. Die zu einer Diärese angeordneten Körperteile »Hertz«, »Zunge« und »alle Glieder« bemächtigen sich als Subjekte mit personifizierenden Verb_______ 16 17 18

Simon Dach: [Inc.:] »Herr vnser Gott, wenn ich betracht«. In: ZIESEMER IV, S. 505 f., hier V. 29 f. Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchges. Aufl. Tübingen [u.a.]: Francke 1993 (UTB, 1732), Nr. 6.16. Dach: »– – supremi Judicis urnam Non metuit fisus sanguine, Christe, tuo« (wie Anm. 15), hier V. 1–6.

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metaphern des lyrischen Ichs. Das Verb ›stehen‹, in der Ich-Aussage im übertragenen Sinne von ›verharren‹ gebraucht, wird in Vers 5 buchstäblich gebraucht: nämlich zum Stillstand der Zunge, die mit der Gliederstarre den Tod antizipiert.

2.1. Evidentia (Subjektivierung, Drastik, Hyperbolik, Vergegenwärtigung) Dach hat seine Schmerzgedichte durchweg personalisiert. Selbst ›Klagelieder‹, die er als Auftragsarbeiten verfaßte, hat er meist als autopathographische Rollengedichte gestaltet: Fast immer klagt ein lyrisches Ich, mindestens jedoch bleibt der identifikatorische Zug im einvernehmlichen ›Wir‹ gewahrt. Die identifikatorische Subjektivierung dient der Wiederholung und Vergegenwärtigung des Leids. Der Durcharbeitung des Leidens dienen Drastik und Hyperbolik: Oft wird im Spiegel eines unwillkürlichen Reflexes, des Weinens, die Schwere des Leids verbürgt, zudem werden seine Dauer und Intensität affektisch gesteigert und damit subjektiviert: Ich liege naß Ohn vnterlaß 19 Von Thränen, die ich weine.

Neben der Hyperbolik dienen weitere rhetorische Mittel der subjektiv-energetischen Darstellungsabsicht Dachs, nämlich das eigene Leiden anschaulich vorzustellen: Affektische correctio-Formeln und Deiktika machen den Leser zum ›fiktiven Augenzeugen‹ (Lausberg) des Sprechers, der sich den Tod wünscht: Nicht, daß mir für dem Tode grawt; Nein! Sehnt dieß Fleisch vnd diese Haut 20 Doch schon sich zu verwesen[.]

Zweck solcher evidentia-Techniken ist ein autopathographischer Verismus. So aktualisiert Dach unterschiedslos die Not gegenwärtiger wie vergangener, fremder wie eigener psychophysischer Krisen. Das Präsens bestimmt als Tempus seine autopathographische Dichtung: Zwar fällt seine pathologische Symptomatik weniger drastisch und akribisch aus als in den autopathographischen Dichtungen eines Gryphius oder Fleming, doch sind seine Deskriptionen durchaus genau und ausführlich.

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Dach: »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), hier V. 34 ff. – Daß Dach das Weinen mehr als Symptom übermäßigen Leidens denn als selbsttherapeutischen Reflex verteidigt, zeigt folgende affektisch-hyperbolische Tränen-Apostrophe: »Ergiesst euch, heisse Zehren, | Durch meiner Augen Strahß, | Vnd will euch jemand wehren, | Gebeut euch jemand Maß, | Den hasst ohn unterlaß« (Simon Dach: »Vber dem seligen Abschied des Hoch Edlen Herrn Georg von der Gröben. Den 17. Sept. 1648. Klag=Lied[.] Jn der Person der Hochbetrübten Fr. Witwen.« In: ZIESEMER III, S. 253, hier V. 31–35. Dach: »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), hier V. 49 ff.

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Beide Stiltendenzen, Aktualisierung und Detaillierung, zeigt das bekannte Leidensgedicht von Simon Dach: 21 Alß ich Anno 1650 d. 25. Augstm. in der Nacht für grosser Engbrüstigkeit nicht schlaffen kunte. [1] Die Nacht, die vnsre Sorgen Durch süssen Schlaff bezwingt, Rufft schon dem lichten Morgen, Der sachtlich zu vnß dringt, Der Sternen Glantz muß weichen Vnd macht dem Tage Bahn: Ich habe noch für Keichen Kein Auge zugethan. [2] Alß alles ist entschlaffen, Kutsch ich mich gleichfalls ein Weiß aber nichts zu schaffen, Zu ängstig ist die Pein: Vnd darauff schlag ich Fewer Vnd lese mit Verdruß, Weil ich mein Vngehewer Nur so betriegen muß. [3] Die Glocken hör ich schlagen: Zwölff, eines, zwey, drey, vier, Ich muß mich immer plagen, Kein Schlaffwunsch hülffet mir, Mein Häupt sinckt offt danieder, Die Augen mach ich zu, Krieg Ohnmacht in die Glieder, Nicht aber etwas Ruh. [4] Ist dieß nicht grosser Jammer? Ein iedes hüllt sich ein Vnd schläfft in seiner Kammer, Auch selbst der Mondenschein: Kein Windchen ist verhanden, Der Pregel ruht begnügt, Auch schläfft in seinen Banden Der so gefangen liegt. [5] Nur ich sitz über ende Vnd nehme mit Beschwer Mein Häupt in beyde Hände Vnd winßle so daher: Solt jemand ietzt mich schawen, Er hätt ob meiner Quahl Mitleiden oder Grawen, Auch wär er harter Stahl.

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[6] Erbarmt euch meiner Schmertzen, Ihr Ärtzte, kompt zuhauff,

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In: ZIESEMER I, S. 252 f. – Dachs Gedicht, bislang nicht genauer interpretiert, hat Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden (wie Anm. 1), S. 10 f., als subjektiv-veristischen Gegenentwurf zu der angeblich »metaphysisch-religiösen Überhöhung« eines Andreas Gryphius gedeutet.

Dichter-Leid Nehmt meine Noht zu Hertzen, Schlagt ewre Bücher auff, Waß ewer Raht wirdt bringen, Auch wär es GassenKoht, Ich wil ihn in mich schlingen, So groß ist meine Noht. [7] Ach das ich nur verdrossen Mach ewre Wissenschaft, Ich hab vmbsonst genossen So manchen Tranck vnd Safft, Mein Leid ist nicht zu heben, Es kriegt den SiegesPreiß, Ich muß verlohren geben, Vmbsonst ist Kunst vnd Fleiß. [8] Mein Fieber ist verschwunden, Mich hungert allgemach, Ich gebe den Gesunden Fast nirgends etwas nach, Mein Durst hat sich geleget, Nur daß der zähe Wust Die Athems=Kürtz erreget In meiner engen Brust. [9] Mein Ampt muß gantz erliegen, Vieleicht läst manches Maul Von mir ein Vrtheil fliegen, Ich sey so Arbeit=faul: Gott lasse mich genesen, So soll es kuntbar seyn, Weß hie die Schuld gewesen, Der Kranckheit oder mein.

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In neun doppelten Kreuzreimstrophen aus jambischen Dreihebern mit weiblich/männlich alternierenden Kadenzen, in dem ›Hildebrandston‹ altvertrauter Kirchenlieder, schildert Dach eine einzige schlaflose Nacht. 22 Das präzise Datum unterstreicht die Authentizität der Klage. Das Gedicht setzt in der frühen Morgendämmerung ein und gibt den Angstanfall (pavor nocturnus) mit den diversen somatischen Äquivalenten wieder, unter denen das schlaflose lyrische Ich leidet, bis es am Morgen die Krise überwunden hat. Das Präsens betont den performativen Nachvollzug des Leidens. Das Gedicht gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil, den Strophen 1 bis 3, konfrontiert das lyrische Ich den Leser unvermittelt mit seiner Schlaflosigkeit (»Ich habe noch für Keichen | Kein Auge zugethan«, V. 7 f.). Vergeblich sucht es seine asthmatischen Beschwerden durch Lektüre zu verdrängen, vergeblich sucht es die Kirchenglocken zu überhören und sich schlafend zu stellen: »Die _______ 22

Frank: Handbuch (wie Anm. 17), Nr. 8.7.; berühmtestes Beispiel ist Paul Gerhardts »Befiehl du deine Wege«. – Angst vor einer schlaflosen Nacht bestimmt auch Dachs »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), deren fünfte Strophe lautet: »Ich trage Grawen für der Nacht | Vnd habe gantz mich außgewacht, | Mein Schlaff ist Pein vnd Sorgen: | Ich sehne mich | So sehr, als sich | Kein Wächter, nach dem Morgen.«

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Augen mach ich zu, | Krieg Ohnmacht in die Glieder, | Nicht aber etwas Ruh« (V. 22 ff.). Der zweite Teil, die Strophen 4 und 5, konfrontiert die Nachtruhe von Mensch und Welt mit der eigenen Schlaflosigkeit. In Strophe 5, der Mittelstrophe des Gedichts, sucht das leidende Ich, indem es die beglaubigende cernas-Formel abwandelt, erstmals eine affektische Beziehung zu den Mitmenschen: »Mitleiden oder Grawen«. Die fiktive Apostrophe wird eingeleitet durch die symbolisch verquere Haltung (»Nur ich sitz über ende«, V. 33), die typische Verzweiflungsgebärde des lyrischen Ichs (»Vnd nehme mit Beschwer | Mein Haupt in beyde Hände«, V. 34 f.), und eine tiermetaphorische Inquitformel (»winßle […] daher«, V. 36). Aus dem Irrealis der fiktiven Ansprache entwickelt sich im dritten Teil, den Strophen 6 und 7, eine direkte Apostrophe an die Ärzteschaft. Drastische Begriffe wie »GassenKoht« und »schlingen« intensivieren den lexikalischen Stilbruch bis zur resignativen Einsicht: »Mein Leid ist nicht zu heben, | […] | Vmbsonst ist Kunst vnd Fleiß« (V. 53 und 56). Der vierte und letzte Teil des Gedichts, der die Strophen 8 und 9 umfaßt, kontrastiert diese Resignation mit der unvermittelten Selbstheilung: »Mein Fieber ist verschwunden« (V. 57). Erst die Schlußstrophe erläutert, welchem Zweck die minuziöse Schilderung der durchwachten Nacht dient: nämlich übler Nachrede vorzubauen, er, Dach, würde seine Amtsgeschäfte vernachlässigen. Mit einer indirekten Bitte an Gott und der Hoffnung, so »manches Maul« zu widerlegen, schließt das Gedicht. Doch es wird deutlich: der vordergründige Schreibanlaß, die Gelegenheit zur Rechtfertigung, verschwindet hinter der minuziösen Autopathographie. Hier zeigt sich unausgesprochen die Hoffnung, wie die Mittelstrophe kundtut, auf Empathie der Mitmenschen.

2.2. Bildlichkeit Affektaktualisierungen sind wesentlich durch die Bildsprache bestimmt. Charakteristisch für die Bildlichkeit von Dachs autopathographischer Dichtung sind biblische Vergleiche. Dadurch rückt Dach sein Leid in einen konsolatorischen heilsgeschichtlichen Zusammenhang und schwächt den dieseitigen Aspekt. Rein säkulare Bilder sind eher selten, vor allem vermeidet Dach komplexe, theologisch voraussetzungsreiche Symbole; 23 er gebraucht vielmehr eine einfache christliche Bildsprache, die ein buchstäbliches Verständnis zuläßt. Eine abstrakte Genitiv-Metapher »Haus der Plagen« für den weltlichen Ruhm 24 ist ebenso die Ausnahme wie eine zur Allegorie erweiterte Metapher. 25 Selbst mehrgliedrige Vergleiche zielen immer auf Transparenz. 26 _______ 23 24

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Vgl. etwa die Pelikan-Allegorie in Str. 23 (»HErr JEsu, wahrer Pelican!«) desselben Gedichts. Siehe Simon Dach: »Terra vale! aeternas mens mea quaerit opes.« In: ZIESEMER III, S. 39, hier V. 7–10: »Das, was man vmb dich spüret, | Was dich betrieglich zieret, | Dein Ansehn, deine Gunst, | Ist nur ein Hauß der Plagen«. Vgl. etwa in der »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), hier V. 55–60, den Selbstvergleich mit einem Strafgefangenen: »Ich bin so müd vnd satt der Welt,

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Einfache, anschauliche Metaphern und Naturvergleiche verwendet Dach vor allem dann, wenn er körperliches Leiden im christlichen Sinne zur vanitas relativiert. So verbildlicht er den Übergang zum Tode als Aufklaren, indem er ihn mit den Wolken vergleicht, die der Nordwind auflöst. 27 Die Einfachheit seiner Schmerzmetaphorik kompensiert Dach durch Amplifikation. Zwillingsformeln wie »Ist denn mein Hertz | Ein Felß vnd Ertz« und »Mein Schlaff ist Pein vnd Sorgen« malen das Leiden aus. 28 So intensiviert Dach auch das Vanitas-Hendiadyoin »Rauch und Dunst« von Andreas Gryphius zu der dreigliedrigen Synonymie: »Ein Schatten, Rauch und Dunst«. 29 Aber auch einzelne Vergleiche verdoppelt und verdreifacht Dach. Solche Vergleichsreihen stehen meist in keinem logischen Zusammenhang, sondern illustrieren in ihrer Akkumulation, durch das unvermittelte Nebeneinander, wie folgende Tiervergleiche Not und Einsamkeit des leidenden Ichs: 30 Ich winsle wie ein Kranich thut Für schwerem Muth, Muß kläglich girren Wie Tauben, die verwittibt seyn, Im Wald’ allein 31 Und flüchtig irren[.]

An anderer Stelle faßt Dach in einer asyndetischen, elliptischen Konstruktion – mit dem gemeinsamen Verb »thut« – sogar drei Raubtiervergleiche zusammen, um die Ausweglosigkeit seiner Bedrängnis zu illustrieren: Ach deine Hand ist mir zu schwer, Zermalmstu mich doch, wie ein Beer Dem Schäfflein, seinem Raube, Des Löwen Muth Der Hindin thut, 32 Der Habicht einer Taube.

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| Als etwa einer, den man hält | Hart auff den Hals gefangen, | Der Bande Last | Von Hertzen hasst, | Vnd wäre gern entgangen.« So illustriert ein Rollengedicht die Trauer einer Witwe als eheliche Treue über das Grab hinaus im Bild der nach dem Physiologus einsam lebenden Turteltaube: »In dem ich mich beraube | Der Frewden aller Welt, | Wie eine Turtel=Taube, | Wenn ihr der Gatt’ entfällt, | Sich öed[!] und einsam hält.« (Dach: »Vber dem seligen Abschied des […] Herrn Georg von der Gröben« [wie Anm. 19], hier V. 36–40].) Vgl. Dach: »Terra vale!« (wie Anm. 24, hier V. 3–6): »Du must ohn Seumnüs fort! | Recht wie fern von der Erden | Die schnellen Wolcken werden | Zerflattert durch den Nort.« Vgl. Dach: »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), die Zitate dort V. 64 f. und V. 27. Vgl. Andreas Gryphius: »An sich selbst«. In: Ders.: Sonette (wie Anm. 2), S. 61, und Dach: »Terra vale!« (wie Anm. 24), V. 12. Vgl. Dach: »Vber dem seligen Abschied des […] Herrn Georg von der Gröben« (wie Anm. 19), V. 6–10: »Du kömmst auff mich gedrungen, | Gleich wie ein Schiff zur See | Wird durch den Sturm besprungen, | Wie man ein schwaches Reh | Fäht auff der Berge Höh.« Dach: »Christliches Sterb=Liedchen« (wie Anm. 12), V. 25–30. Dach: »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler« (wie Anm. 11), V. 7–12. In demselben ›Klag-Lied‹ (V. 91–96) reiht das leidende Ich auch drei Selbstvergleiche aneinan-

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Auch wenn derartige Akkumulationen von Selbstvergleichen im Verhältnis zu zeitgenössischen Vergleichskatarakten maßvoll sind, so spiegeln sie doch die hohe Affektintensität der Leidenssituation wider. Zugleich haben sie auch eine kathartische Funktion. Denn in solchen Bildreihen sucht das lyrische Ich sowohl seine phobischen Symptome abzureagieren wie seine Selbsterhaltung zu reduzieren.

3. Identitätskonstruktion Simon Dachs autopathographische Dichtung verarbeitet die Identitätskrisen, in die das Ich durch die desintegrierende Erfahrung der Krankheit gerät. In bemerkenswerter Nüchternheit – wie nur in wenigen zeitgenössischen nosographischen Dichtungen – wird das Leiden als Konfliktsituation vorgestellt, als ein Widerstreit von Affekten, in dem das leidende Ich die Realität des nahen Todes der Selbsterhaltung überzuordnen sucht. Nicht immer vollzieht sich der »Abschied auß der bösen Welt« aber gleichmütig: Ich bin dem Tode vorgestellt, Vnd muß das Reich zu erben 33 Gleich wie ein Opffer sterben.

Vielmehr prägt eine charakteristische Ambivalenz Dachs autopathographische Dichtung: Das Ich leidet an seinem Zwischenzustand des ›Nicht mehr im Leben sein‹, aber ›Noch nicht tot sein‹. Gerade in den ›Klag- und Trostliedern‹ wird diese Ambivalenz immer wieder artikuliert: Du lessest mich zwar sehr viel Noth Mit grosser Angst erfahren, Doch giebstu mich nicht in den Todt, 34 Du kanst mich wol bewahren[.]

Dachs autopathographische Lyrik prägt ein hohes Maß an Selbstreflexivität. Immer wieder reflektiert das leidende Ich bei Dach seine psychophysische Krise als Erfahrung einer Selbstentfremdung: »Ich bin mir frembd vnd vnbekant«, klagt Dach in einem ›Sterbelied‹. 35 Die Ausnahmesituation zieht das Ich entscheidend in Mitleidenschaft und wird als Depersonalisation erfahren: _______

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der, um Gott die eigene Hinfälligkeit und Schwäche ausmalen: »Ich bin für deiner wilden Handt | Ein zartes Blümchen, das den Brandt | Der Sonnen nicht kan tragen: | Ich bin ein Graß | Vnd springend Glaß | Was wiltu an mir schlagen?« Simon Dach: [Inc.:] »Mein Abschied auß der bösen Welt«. In: ZIESEMER III, S. 22, hier V. 4 ff. Dach: [Inc.:] »Herr vnser Gott, wenn ich betracht« (wie Anm. 16), V. 8–11. Ähnlich auch die »Klage« der dem Leben abhanden gekommenen, todessüchtigen »liebsten Muhme Hedwig Vogler in ihrer Kranckheit« (wie Anm. 11), V. 61 ff.: »Mich kräncket, daß du mich so schlägst, | Nicht tödtest, sondern Lust nur trägst | Biß auff den Todt zu schwächen«. Dach: »Sustinet inconcussa minas sapientia sortis« (wie Anm. 8), V. 23.

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[Ich bin] mir gantz entworden, Mir wild und frembd gemacht, 36 Ich weine Tag und Nacht.

Exemplarisch erhellt sei die Poetisierung einer Identitätskrise an dem wohl bekanntesten autopathographischen Gedicht Simon Dachs, dem Sonett Anno 1647 des Nachts, da ich vor Engbrüstigheit nicht schlaffen können, auff dem Bette gemacht: Wie? ist es denn nicht gnug, gern einmal sterben wollen? Natur, Verhängnüs, Gott, waß haltet ihr mich auff? Kein Säumnüs ist bey mir, vollendet ist mein Lauff, Soll ich die Durchfahrt euch denn tausentmahl verzollen? Waß kränckt es, fertig seyn vnd sich verweilen sollen! Ist Sterben ein Gewinn? o mir ein thewrer Kauff, Mich tödten so viel Jahr vnd Kranckheiten zu hauff, Ich lebe noch vnd bin wol zehnmahl tod erschollen. Weib, Kinder, macht es ihr? Verlängert ihr mein Licht? Seht meinen Jammer an, ist dieses LiebesPflicht, Zu schlechtem Vortheil euch mein Vortheil mir nicht gönnen? Ach kräncket mich nicht mehr durch ewer Angesicht! Die allerletzte Pein ist, gläub ich, ärger nicht, 37 Alß leben müssen, todt seyn wollen vnd nicht können.

Das Sonett von Simon Dach ist ein klassisches Gelegenheitsgedicht. Im Titel ist die Gelegenheit thematisch und zeitlich benannt: ein Angstanfall während einer schlaflosen Nacht im Jahre 1647. Bislang blieb unbemerkt, daß Dachs Leidensgedicht einen Gegenentwurf zu bekannten Krankheits- und Sterbeliedern seiner Zeit präsentiert. So findet sich die sentenziöse Frage seines Leidenssonetts – »Ist Sterben ein Gewinn« – in mehreren Kirchenliedern. Doch dient das Bibelwort, das Paulus aus dem Gefängnis den Philippern schreibt, 38 dort der ars moriendi, der autosuggestiven Antizipation eines seligen Sterbens. Wie solche Lieder als ›Ich-Predigten‹ den Christenmenschen in das ›selige Sterben‹ einüben sollen, zeigt die Topik der frühneuzeitlichen Sterbe- und Begräbnislieder, die den paradoxen Grundgedanken, mit dem Tod beginne das »besser Leben«, 39 repetitiv paraphrasieren: Christus der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn;

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Dach: »Vber dem seligen Abschied des […] Herrn Georg von der Gröben« (wie Anm. 19), V. 13 ff. In: ZIESEMER I, S. 203 f. Dieses Gedicht kam in der Forschung bereits gelegentlich zur Sprache; eine einläßliche Interpretation steht meines Erachtens noch aus. Freundlicher Hinweis meines Freiburger Kollegen Peter Walter. Jakob Ritter: »Lehrgesang eines mit Kranckheit belegten und itzo sterbenden Menschens«. In: Albert Fischer: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts. Vollendet und hg. von W[ilhelm] Tümpel. Bd. 4. Gütersloh: Bertelsmann 1908, Nr. 29, Str. 6.

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dem thu ich mich ergeben, 40 mit frewd fahr ich dahin.

Mit der paulinischen Sentenz beglaubigt die Eingangsstrophe des bekannten Lieds das freudige Sterben. Damit hat auch Johannes Leon in einem Krankheitslied die praeparatio mortis bekräftigt. Doch wird er immerhin dem paulinischen Dilemma insoweit gerecht, als er damit zugleich den Kranken tröstet, sollte er nicht sterben, sondern wieder gesunden: Der krancke sing in seinem hertzen fröhlich. ICh habe mein Sach Gott heimgestellt, er machts mit mir, wies ihm gefellt. Soll ich allhier noch lenger lebn, nicht widerstrebn, seim Welln thu ich mich gar ergebn. […] Und was hab ich? wenig guter tag auff diser welt denn müh und klag: Drumb, wenn Gott will, so will ich mit, heimfahren im fried, sterben ist mein gewin, schadt mir nit. Ich leb vnnd sterbe meinem Gott, von ihm soll mich nicht scheiden der Todt. Ich leb oder sterb, so bin ich sein, er ist allein 41 im lebn und tod der Helffer mein.

Über solche heilsgewissen, vereinfachenden Lieder hinweg rekurriert Dach auf die biblische Quelle, auf den dilemmatischen Brief des Paulus an die Philipper. Paulus schildert dort sein Dilemma, im Wissen um die Gemeinschaft mit Christus sterben zu wollen, aber, zugleich von seiner Mission im Diesseits überzeugt, sich mit dem Leben abfinden zu müssen: (19) Denn ich weiß, daß mir dies gelingt zur Seligkeit durch euer Gebet und durch Handreichung des Geistes Jesu Christi, (20) wie ich sehnlich warte und hoffe, daß ich in keinerlei Stück zu Schanden werde, sondern daß mit aller Freudigkeit, gleichwie sonst allezeit also auch jetzt, Christus hoch gepriesen werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. (21) Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. (22) Sintemal aber im Fleisch leben dient, mehr Frucht zu schaffen, so weiß ich nicht, welches ich erwäh-

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Vermutlich von Melchior Vulpius, in dessen Gesangbuch von 1609 es vorkommt. Zitiert nach: Altdeutsches Liederbuch. Volkslieder der Deutschen nach Wort und Weise aus dem 12. bis zum 17. Jahrhundert. Gesammelt und erläutert von Franz M. Böhme. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1877, Nr. 658. Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen: Wolters 1966, S. 115–130, bes. S. 126, erörtert die literarische Topik der praeparatio mortis. Johannes Leon: »Der krancke sing in seinem hertzen fröhlich«. In: Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Bd. 4: Die Lieder des zweiten Geschlechts der Reformationszeit, von Paulus Eber bis Bartholomaeus Ringwaldt, 1554–1584. Leipzig: Teubner 1874, S. 498 (Nr. 693).

Dichter-Leid

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len soll. (23) Denn es liegt mir beides hart an: Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, was auch viel besser wäre; (24) aber es ist nötiger, im Fleisch bleiben um 42 euretwillen.

Während die kirchlichen Sterbelieder den Paulus-Brief nur affirmativ rezipieren, reinszeniert Dach die biblische Ambivalenz des Briefs. Sein Alexandrinersonett unterscheidet sich formal nicht nur von den traditionellen Sterbeliedern, sondern ist auch untypisch für Dachs autopathographische Lyrik. Während Gryphius die romanische Strophenform in seinen Schmerzgedichten virtuos unterminiert, läßt Dach sie metrisch unangetastet: Den beiden Quartetten mit umarmendem Reim stehen zwei Terzette mit einem zweifachen Reimband gegenüber. Die Schweifreimstrophe festigt die Einheit des Sextetts und betont die Dialektik des Sonetts, die auch durch die schwebenden Betonungen im jeweils ersten Versfuß der beiden Sonetteile hervorgehoben wird. Die Zweiteilung manifestiert sich in einer überraschenden Apostrophe. Sie ahmt den Adressatenbezug des Prätextes nach, die Briefansprache des Paulus an die Philipper, unterscheidet sich davon aber durch Verdopplung: Im Sextett wendet sich Dach unmittelbar an seine Frau und seine Kinder, während das Oktett sich an die Instanzen »Natur, Verhängnüs, Gott« richtet. Zudem überspielt der Sprechmodus die Sonettgrenze. Denn die Dominanz drängender Fragen erstreckt sich auch auf das erste Terzett. In insgesamt acht Fragen reflektiert das leidende Ich sich und seinen Zustand zwischen Tod und Leben. Auch die Metaphorik des Sonetts, die durch Oppositionspaare markiert ist, überschreitet die Sonettgrenze. Den Todeswunsch des Lebensmüden illustrieren kinetische wie ökonomische Oppositionen: Lauf vs. Widerstand sowie Gewinn vs. Verlust; beide semantischen Felder, die übereinstimmend den Widerspruch zwischen Autonomie und Heteronomie verbildlichen, werden in Synonymen amplifiziert. So wird das leidende Ich in seinem »Lauff« und seiner »Durchfahrt« ›aufgehalten‹, soll auf der Welt »verweilen«, obwohl es den Tod wünscht. Ebenso klagt das lyrische Ich über den ›Zoll‹, den es zu entrichten hat, obwohl es den Tod durch viele Leiden schon teuer »[er]kauff[t]« hat. Die Wiederholungszahlwörter »einmal«, »tausentmahl«, »zehnmahl« und »allerletzte« bekräftigen, wie repetitiv und langwierig der Widerstreit von Pflicht und Wunsch, Todes- und Lebenstrieb im Ich ist. Das Dilemma des Sprechers zeigt sich neben Adressatenwechsel, Fragekatalog und antonymischer Bildlichkeit noch in antithetischen Wiederholungsfiguren. So verdeutlicht gerade der Gleichklang, die paronomastische Korrespondenz der Eingänge des zweiten Quartetts (»Waß kränckt es«) und zweiten Terzetts (»Ach kräncket mich nicht«) die große inhaltliche Diskrepanz, wie sie auch die Antithese in Vers 8 (»Ich lebe noch vnd bin wol zehnmahl tod erschollen«) und – zugespitzt – das chiastische Dilemma in Vers 11 bekunden: Letzteres erhält durch die appellative cernas-Formel (»Seht meinen Jammer an«) und die Deixis der rhetorischen Frage eine kritische Dringlichkeit: »ist dieses LiebesPflicht, | Zu schlechtem Vortheil euch mein Vortheil mir nicht gönnen?« _______ 42

Phil. 1, 19–24.

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Die Identitätskrise des leidenden Ich wird in diesem Sonett Gestaltungsprinzip, bleibt aber ungelöst. Der dilemmatische Schlußvers kombiniert nicht nur das zentrale paulinische Gegensatzpaar ›leben‹ und ›tot sein‹, sondern ergänzt es um die Modalverben »müssen«, »wollen« und »können«. Dabei variiert der antithetische Parallelismus »leben müssen, todt seyn wollen« die antonymischen Versenden der Quartettanfänge: »sterben wollen« vs. »verweilen sollen«. Doch indem die abschließende Antithese durch den Zusatz »vnd nicht können« erweitert wird, wird deutlich, daß der Angstanfall kein äußerer Konflikt ist, sondern ein innerer Widerspruch: Eine Identitätskrise, die das Ich im Gedicht reflektieren, aber nicht lösen kann. Dach reinszeniert in seinem Gedicht das Dilemma des Paulus, wie es dieser in seinem Brief an die Philipper schildert, aktualisiert, privatisiert und radikalisiert aber die Not des biblischen Musters: Von der gefaßten Heilsgewißheit des Apostels unterscheidet sich der frühmoderne Christ in Todesnot durch seine fundamentalen Glaubenszweifel.

Zusammenfassung Unser Überblick über Dachs autopathographische Dichtung hat ergeben: Anders als Paul Fleming und Andreas Gryphius bewahrt Dach das tradierte Muster des einfachen Sterbelieds. Daher verzichtet er auf metapoetische Reflexionen eines Paul Fleming und stellt sich bewußt in die geistliche Formtradition. Andererseits übertreffen Dachs einfache Sterbelieder durch ihre bescheidenere Stilhöhe die pathetische Leidensdichtung eines Andreas Gryphius an Verismus. So gewinnt der innere Widerstreit der Affekte, die Identitätskrise, die Dramatik eines unlösbaren Dilemmas. Zwar sucht Dach in seiner autopathographischen Lyrik das frühmoderne Individuum auf die christliche Tradition rückzubeziehen, markiert aber dadurch die Bruchstellen nur um so deutlicher, etwa wenn er biblische Muster zur Selbstfindung nutzt, diese aber zugleich überschreitet. In der spannungsvollen Bewältigung desintegrierender Erfahrungen, die sich in Sprach- und Glaubenstraditionen kaum noch fassen lassen, kann sich der moderne Mensch jenseits aller Heilsgewißheit wiedererkennen.

David Heyde

Lyrische Empathie Die Funktion des Krankheitsmotivs in zwei Epicedien Simon Dachs *

I Wie die Barockforschung betont, dichtet der barocke Gelegenheitsdichter »nicht aus, sondern für Gelegenheiten«. 1 Damit er die erwartete Wirkung bei seinem Publikum erzielen kann, sollen sich die Themen seiner Gedichte nicht nach seinen eigenen Sorgen oder Anliegen richten, sondern nach den Umständen der jeweils zu bedichtenden Gelegenheit. Die Wahl einer situativ angemessenen Erfindung schließt aber keineswegs aus, daß der erfahrene Kasualdichter damit auch eigene Ziele verfolgt. Bei jeder Gelegenheit gibt es eine Vielzahl von möglichen Daten, die mit Hilfe eines umfangreichen topologischen Systems zu Erfindungen verarbeitet werden können, so daß die konkrete Wahl eines Themas oder einzelner Argumente letztendlich von der subjektiven Entscheidung des Kasualdichters abhängt. 2 Dieses subjektive Element der inventio läßt sich an Simon Dachs Verwendung von Krankheitsmotiven besonders gut ablesen. Im Königsberg des 17. Jahrhunderts war es nämlich in sehr vielen Fällen rhetorisch legitim, Krankheit zum Thema eines Kasualcarmens zu machen. Krankheit war allgegenwärtig – zumal in Preußen, das »damals als eines der verseuchtesten Länder der Erde« galt. 3 Zudem eignet sich das Thema hervorragend als Ansatzpunkt für eine christliche Lehre und Trostbotschaft. 4 Dennoch entschied sich Dach in den drei großen Pestjahren 1639, 1653 und 1656 vergleichsweise selten für Krankheits_______ *

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Die folgende Untersuchung steht im Zusammenhang mit meinem Dissertationsprojekt zum Thema »Subjektkonstitution in der Lyrik Simon Dachs«, das von dem Promotionskolleg »Lern- und Lebensräume im Mittelalter: Kloster, Hof, Universität. Komparatistische Mediävistik 500 – 1600« am Mittelalterzentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg unterstützt wird. Ferdinand van Ingen: Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen: Wolters 1966, S. 47. Im Rahmen des Kapitels »Vollständige und deutliche Anleitung zur Anfertigung von Carmina auf allerhand Gelegenheiten« seiner umfassenden Untersuchung zur Geschichte und Praxis der Gelegenheitsdichtung beschreibt Wulf Segebrecht nicht weniger als 13 beliebig kombinierbare Fundorte als Erfindungsquellen für barocke Casualcarmina. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 114–138. Wilhelm Sahm: Geschichte der Pest in Ostpreussen. Leipzig: Duncker & Humblot 1905, S. 32. Zur heilsgeschichtlichen Bedeutung von Krankheit in der Lyrik des Barock vgl. Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ›Sonette‹ des Andreas Gryphius. München: Fink 1976, S. 145 f.

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motive in seinen Kasualcarmina, 5 obwohl die Pest in diesen Jahren allein in Königsberg Tausende Opfer forderte und Krankheitsmotive als besonders angemessene Erfindungen ex loco circumstantiarum temporis hätten dienen können. 6 Zwischen Juni und Dezember 1650 hingegen, einem Zeitraum, in dem Dachs eigener Gesundheitszustand offenbar besonders schlecht war, ist Krankheit das Hauptthema von nicht weniger als neun Gedichten und dient als einzelnes Argument in drei weiteren Gedichten. 7 Im allgemeinen entschied sich Dach in den letzten zehn Jahren seines Lebens (1650 – 1659), die »ganz im Zeichen seiner schweren Brustkrankheit« standen, 8 viel häufiger als in seinen jüngeren – gesünderen – Jahren für Krankheitsmotive in seinen Hochzeits- und Begräbnisgedichten. Schon diese Tatsachen sprechen für die Annahme, daß Rhetorik nicht notwendigerweise den einzigen Faktor bei der Herstellung eines barocken Kasualcarmens darstellt. Im folgenden möchte ich am Beispiel des Krankheitsmotivs in der Lyrik Simon Dachs untersuchen, welche Spielräume der barocke Kasualdichter hinsichtlich der inventio hatte und inwieweit er im Rahmen rhetorischer Gattungen auch persönliche Probleme thematisieren konnte. Ausgangspunkt der Betrachtungen bildet ein 1647 verfaßtes Sonett, das nur handschriftlich überliefert ist _______ 5

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Für das Jahr 1639 ist kein einziges Gedicht überliefert, in dem Krankheit thematisiert wird. Im Jahre 1653 dient Krankheit Simon Dach in vier Gedichten als inventio thematis: in einem Sterbelied (»Sterbens=Liedchen.« In: ZIESEMER IV, S. 168), einem Bittgedicht an einen Arzt (»An Hn. Johann Löselium Med. D.« In: Ebd. II, S. 15 f.), einem Epicedium auf den Tod der Frau des Vorstehers eines Hospitals (»Christliche Begräbnüß= und Todten=Reime.« In: Ebd. IV, S. 151–154) und einem Epicedium auf den Tod eines Professors der Medizin (»Schmertzliche Klage und einfältiger Trost.« In: Ebd., S. 155 f.). Im Jahre 1656 wiederum sind nur drei Krankheitsgedichte überliefert: ein Epicedium auf den Tod einer chronisch kranken Frau ([Inc.:] »DIe edle Fraw ist auch nun hin«. In: Ebd., S. 305 ff.), ein Epicedium auf einen Apotheker (»Schuldiges Dank= und Ehrenmal.« In: Ebd., S. 336–339) sowie ein Epicedium auf den Tod eines schwer kranken Mannes ([Inc.:] »Was seyd ihr her gefahren?« In: Ebd., S. 372). In den Jahren 1639 und 1653 sind nach Sahm 1262 bzw. 6772 Menschen in Königsberg an der Pest gestorben. Für das Jahr 1656 liefert er freilich keine Angaben für Königsberg, doch ist angesichts der von ihm angegebenen Zahl von 80.000 Opfern im ganzen Herzogtum Preußen für die Jahre 1656/57 auch für 1656 eine vierstellige Zahl anzunehmen. Sahm: Geschichte der Pest (wie Anm. 3), S. 30 ff. Vgl. »Alß ich Anno 1650 d. 25. Augstm. in der Nacht für grosser Engbrüstigkeit nicht schlaffen kunte.« In: ZIESEMER I, S. 252 f.; »Heinrich Knobloch und Magdalene Boy.« In: ebd., S. 253 f.; [Inc.:] »DIe vmb den Strand der Ost=See schweben«. In: Ebd. III, S. 323 ff.; »Christlicher Leich=Trost«. In: Ebd., S. 325 ff.; »Christliches Denckmal Dem Weiland EhrnVesten Achtbahrn vnd Wolgelarten Herrn David Tauten etc. […]«. In: Ebd., S. 328 f.; [Inc.:] »O Eitelkeit, was setzest du«. In: Ebd., S. 330 f.; [Inc.:] »WAs grosses Glück hat der auff Erden«. In: Ebd., S. 331 ff.; [Inc.:] »VNd ewre liebe Mutter scheint«. In: Ebd., S. 352 ff.; und [Inc.:] »WIe ich berichtet werde«. In: Ebd., S. 357 f. (inventio thematis); bzw. [Inc.:] »WEint, ihr betrübten Sackheiminnen«. In: Ebd., S. 322 f.; [Inc.:] »EIn Kind sey leichtlich zu verschmertzen«. In: Ebd., S. 341 ff.; und »Christliches Denckmal«. In: Ebd., S. 343 ff. (inventio argumentorum). Harald Edel: Simon Dach. Das Leben des Dichters, sein Verhältnis zum kurfürstlichen Haus und seine finanzielle und materielle Situation. In: Nordost-Archiv 14 (1981), Heft 61/62, S. 13–30, hier S. 26.

Lyrische Empathie

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und offenbar nicht für eine konkrete Gelegenheit im Sinne eines öffentlichen Ereignisses geschrieben wurde. 9 In diesem bemerkenswerten Gedicht, das laut der Überschrift spät in der Nacht »auff dem Bette gemacht« wurde, fragt ein lyrisches Ich verschiedene Adressaten verzweifelt nach dem Sinn des Weiterlebens in seinem erkrankten Zustand. Ohne eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, wendet sich das Ich im letzten Terzett von allen Adressaten ab und stellt resigniert fest, daß »leben müssen, todt seyn wollen vnd nicht können« (V. 14) mindestens so schlimm sei wie die »allerletzte Pein« (V. 13). Das Thema dieses Krankheitssonetts, nämlich die Sehnsucht des Kranken nach dem Tod als Befreiung von seinem Leiden, hat Dach auch zur inventio thematis von zwei im gleichen Jahr verfaßten Epicedien gemacht. Von den etwa 60 volkssprachlichen Epicedien, die Dach vor August 1647 verfaßt hat, basiert kein einziges auf einer ähnlichen Erfindung. Hat also Dach das Krankheitsthema in diesen Kondolenzgedichten weniger aus rhetorischen Rücksichten gewählt als zur weiteren Verarbeitung seiner eigenen Probleme, die im Krankheitssonett zwar vorformuliert, aber keineswegs gelöst wurden? Im ersten der zwei in Frage stehenden Gedichte wird meines Erachtens das Diskursschema des Epicediums in der Tat überschritten: Statt sich tröstend an die Trauergemeinde zu wenden, wie es die überlieferten Konventionen dieser rhetorischen Gattung erfordern, versetzt sich das Ich in die erwünschte Lage der nach langer Krankheit gestorbenen Frau hinein. Diese empathische Haltung gerät zu einem eigenständigen Nebendiskurs, der die rhetorische Ausrichtung relativiert und das traditionelle Schema des Epicediums ändert. Im zweiten Gedicht hingegen, das vier Monate später verfaßt worden ist, wird das Thema rhetorisch viel wirksamer eingesetzt – als Grund dafür möchte ich vermuten, daß der Dichter von seiner eigenen Krankheit inzwischen genesen war und das Thema mit entsprechender Objektivität betrachten konnte. Zur Begründung dieser These möchte ich diese zwei Epicedien näher darstellen, insbesondere im Hinblick auf ihre Struktur und die rhetorische Ausrichtung ihrer Aussagen. Anschließend werden sie miteinander verglichen und auf ihre Verträglichkeit mit zeitgenössischen Diskursen von Krankheit geprüft.

II Das im August 1647 verfaßte Epicedium auf die mit 28 Jahren verstorbene Frau Gertrud von Dühren besteht aus einem sechsstrophigen proömium, in dem das Thema des Gedichts allgemein eingeleitet wird (Str. 1–6), einem vierstrophigen _______ 9

Simon Dach: »Anno 1647 des Nachts, da ich vor Engbrüstigheit nicht schlaffen können, auff dem Bette gemacht.« In: ZIESEMER I, S. 203 f. Das Krankheitssonett ist bzw. war in zwei Handschriftensammlungen vertreten, die vermutlich noch im 17. Jahrhundert entstanden sind. Zur Überlieferung dieser Sammlungen vgl. Walter Ziesemer: Neues zu Simon Dach. In: Euphorion 25 (1924), S. 591–608. Gedruckt wurde das Krankheitssonett erst 1876 von Hermann Oesterley (OESTERLEY, S. 805 f.). – Vgl. den Aufsatz von Achim Aurnhammer in diesem Band, S. 169–172.

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Mittelteil, in dem dieses Thema auf die Verstorbene bezogen wird (Str. 7–10), sowie einer dreistrophigen exhortatio oder Ermahnung an die Lebenden (Str. 11–13). 10 Im proömium wird argumentiert, daß der Tod für chronisch Kranke positiv sei, weil sie ohnehin nicht imstande seien, das Leben zu genießen. Wie im Krankheitssonett, in dem das Ich schon im Leben »zehnmal tod erschollen« (V. 8) ist, werden Kranke hier als lebende Tote beschrieben: Sie gehen »wie ein Schatten« (V. 3), vermögen fast nie vom Bett »auffzustehen« (V. 6) und werden von »Verdruß, Zorn, Schertz sampt Frewden« (V. 10) – also von negativ wie positiv konnotierten Affekten zugleich – in ihrer körperlichen Verfassung gefährdet. Mit einer zweifachen distinctio in der dritten Strophe werden dann, komplementär zur positiven Umwertung des Todes, die Begriffe ›Geld‹ und ›Leben‹ für den Kranken negativ umgewertet: Gesundheit prangt für allen Gaben, Die wir von Gott hie können haben, Ohn sie ist Geld kein Geld, Vnd Leben ist kein Leben, Wem Sie nicht ist gegeben, Was nützt ihm alle Welt?

Damit wird ein grundlegender Kontrast aufgebaut zwischen dem gesunden Weltmenschen, der an »Geld« (V. 15), irdischen »Schätze[n]« und »Ehren« (V. 20 und 21) – kurz, am »Leben« (V. 16) – hängt und dem Kranken, dem irdische Güter nichts »nützen« (V. 20) und der nur sterben will. In der fünften und sechsten Strophe schließlich wird der Übergang zum zweiten Teil des Gedichts vorbereitet, indem der erlösende Tod des Kranken beschrieben wird. Interessanterweise scheint in dieser Beschreibung der Geltungsbereich des Wir-Pronomens, das in den ersten vier Strophen noch auf die gesamte Trauergemeinde bzw. auf den Menschen im allgemeinen zu beziehen war, nur noch Kranke zu umfassen: »So bald wir durchgedrungen« (V. 28), »So stirbt auch vnsere Noht« (V. 30), »Vns sind Stein, Schwulst vnd Fieber | Dan ewig vnbewust« (V. 35 f.). 11 Somit stellt sich der Sprecher am Ende des proömium klar auf die Seite der Kranken, distanziert sich von der gesunden Trauergemeinde und drückt indirekt auch seine eigene Sehnsucht nach dem Tod aus. Im vierstrophigen Mittelteil wird die Verstorbene direkt angeredet und zu ihrem Tod beglückwünscht. Wurden im proömium Kranke als lebende Tote beschrieben, kommt hier die nach »langer Kranckheit« (V. 41) gestorbene Frau von Dühren erstmals zum Leben: In der achten Strophe wird beschrieben, wie sie lacht, schön singt und Gesundheit ausstrahlt. Zwar handelt es sich hier um traditionelle Lobtopoi, doch im Unterschied zu einem typischen Epicedium bezieht sich dieses Lob nicht auf das Leben der Verstorbenen, mit dem sich die Trauergemeinde besser identifizieren könnte, sondern ausschließlich auf ihren _______ 10

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Simon Dach: [Inc.:] »WIe Willkomm ist der Tod doch denen«. In: ZIESEMER III, S. 167 f. Siehe Text 1 im Anhang. – Auch zur Hochzeit der Verstorbenen mit Nikolaus von Dühren am 11. Dezember 1636 hatte Dach ein Carmen verfaßt (»Nicolaus von Dühren und Gertrud Eggert.« In: ZIESEMER I, S. 39 ff.). Hervorhebungen hier und in den nachfolgenden Gedichtzitaten stets durch den Vf.

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gegenwärtigen Zustand, der nur dem apostrophierenden Sprecher zugänglich ist. Die Verstorbene wird ausschließlich im Präsens gelobt, und der Kontrast zu ihrem kränklichen Zustand im Leben wird durch die temporalen Deiktika »Jetzt« und »nun« (V. 45 und 48) sogar noch betont. In der neunten Strophe kommt dann mit der Beschreibung des fröhlichen Wiedersehens der Verstorbenen mit ihren längst verstorbenen Eltern im Jenseits ein traditioneller Trosttopos, doch auch dieses Motiv erscheint in ungewöhnlich abgewandelter Form: Üblicher und rhetorisch wirksamer ist es nämlich, ein zukünftiges Wiedersehen der noch lebenden und bei der Trauerfeier anwesenden Verwandten mit der Verstorbenen in Aussicht zu stellen. 12 Schließlich wird in der zehnten Strophe die Reaktion der noch lebenden Verwandten auf den Todesfall mit der ironischen Umkehrung eines traditionellen Trauertopos beschrieben: In zahlreichen Epicedien wird zur Erlangung des Wohlwollens die Trauer der Hinterbliebenen gebilligt und eine Verwerfung der Trauer als unmenschlich gekennzeichnet. 13 Hier wird umgekehrt die Trauer der Verwandten mißbilligt und ihnen sogar vorgeworfen, sie würden nur um die Verstorbene trauern, weil sie diese »gern wollen wissen | In Arbeit, Müh vnd Pein« (V. 59 f.). In Bezug auf das Krankheitssonett erscheint dieses Motiv zugleich als eine indirekte Selbstrechtfertigung. Dort wendet sich das Ich frustriert von der eigenen Familie ab, weil es wegen seiner »LiebesPflicht« (V. 10) – d.h. seiner Pflicht, die Familie zu ernähren – nicht mit reinem Gewissen sterben könne. 14 Die Apostrophe der Verstorbenen, und damit auch der Mittelteil des Gedichts, schließt in den ersten zwei Versen der elften Strophe mit einem freundlichen Abschiedsgruß des Sprechers. In der abschließenden exhortatio wendet sich der Sprecher des Gedichts doch noch an die Trauergemeinde; nicht etwa um ihr Trost zu spenden, sondern um sie zu einem tugendhaften Lebenswandel zu ermahnen. Hier kehrt das WirPronomen zurück und ist zunächst wieder auf die gesamte Trauergemeinde zu beziehen: »Wir leben noch was hin« (V. 63). Doch bereits in den letzten zwei Versen der elften Strophe wird dieses ›Wir‹ in zwei Gruppen aufgeteilt, indem zwischen körperlicher und seelischer Krankheit unterschieden wird: »Und kran_______ 12

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Ein rhetorisch wirksames Beispiel dieses Topos’ bietet die 17. Strophe von Dachs 1650 verfaßtem Epicedium auf Johann Stein: »Fraw Witw’, ihr Kinder beyderseit, | Lasst dieses Trost euch schaffen, | Sucht vns die schnelle Flucht der Zeit | Nur sämptlich fort zu raffen, | So werdet ihr bald beygesellt | Dem, dessen Grab ihr jetzt bestellt.« ([Inc.:] »DEr Herbst hat schon auch dieses mal«. In: ZIESEMER III, S. 338 f.) Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147, hier S. 118. Daß Dach tatsächlich nicht sterben wollte, ohne seine Frau und Kinder versorgt zu wissen, beweisen seine Bemühungen während einer besonders schweren Krankheit im Jahre 1654, im Falle seines Todes ein Gnadengehalt für seine Witwe zu sichern. Vgl. Hermann Oesterley: Leben des Dichters. In: OESTERLEY, S. 24–88, hier S. 49 ff. Nach seiner Genesung versicherte Dach in einem Dankgedicht, daß er hauptsächlich wegen der unsicheren finanziellen Zukunft seiner Familie nicht sterben wollte: »Dieses war mein ärgster Mord | Daß ich sie verlassen würd’ | Vnter schwerer Armuth-Bürd’[.]« Zitiert nach: Dietmar Peil: Zu einem bisher unbekannten Dankgedicht Simon Dachs. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 19 (1992), S. 22–26, hier S. 24.

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cken umb die wette, | Zwar viel auff ihrem bette, | Die meisten an dem Sinn« (V. 64 ff.). In der zwölften Strophe ist dann in der dritten Person von der Gruppe der Sinneskranken die Rede, die sich von keinem »Geld vnd Gut« (V. 67) stillen lassen und folglich »tausent Grillen« (V. 68) haben und die zuversichtlich in die Zukunft blicken, aber trotzdem »heut von hinnen« (V. 70) müssen. Damit werden die zwei distinctiones aus der dritten Strophe noch einmal präzisiert und auch die vermeintlich positiven Bedeutungen der Begriffe ›Geld‹ und ›Leben‹ als negativ bewertet. Denn diejenigen, die ›Geld‹ und ›Leben‹ genießen können und wollen, sind ebenfalls krank, wollen es nur nicht wahrhaben. In der letzten Strophe dient dann die Zweiteiligkeit der Schweifreimstrophe zur endgültigen Ausgrenzung der Sinneskranken vom Geltungsbereich des körperlich kranken ›Wir‹: Gieb, Höchster, daß wir unsre Schmertzen Betrachten mit betrübten Hertzen Und nach dem Artzte gehn, Die können nicht genesen, Die noch ihr böses Wesen Nicht wollen eins gestehn.

In der ersten Strophenhälfte wird das körperlich kranke ›Wir‹ dazu aufgerufen, seine »Schmertzen« mit Geduld zu ertragen und einen Arzt aufzusuchen, wobei mit »Artzte« möglicherweise eher der Christus medicus gemeint ist als ein Heilkünstler im profanen Sinne. 15 In der zweiten Strophenhälfte hingegen wird von den Sinneskranken behauptet, sie hätten nur Aussichten auf Besserung, wenn sie ihr »böses Wesen« rechtzeitig eingestehen und ihre Sünden beichten würden. Insgesamt kann man sagen, daß die rhetorische Ausrichtung des Epicediums auf Frau von Dühren sehr ungewöhnlich ist. In den allgemein gehaltenen Teilen eines Epicediums – in diesem Fall dem proömium und der exhortatio – hat der Gelegenheitsdichter die Aufgabe, vom Einzelfall ausgehend zu allgemeingültigen Aussagen zu gelangen. Hier hingegen werden die Menschen mit einem kontrastiven Vergleich zwischen Kranken und Gesunden in zwei Lager geteilt. Der personenbezogene Mittelteil erfüllt zwar insgesamt die Funktion einer consolatio, in der die Trauergemeinde mit der Vorstellung getröstet wird, daß die Verstorbene im Jenseits gut aufgehoben sei. Andererseits aber scheint dort das Interesse des Sprechers weniger der Trauergemeinde als der verstorbenen Frau zu gelten. Wie gezeigt wurde, zielen die aufgeführten Lob-, Trauer- und _______ 15

Noch viel deutlicher tritt das Motiv des Christus medicus in einem Epicedium aus dem Jahre 1653 hervor: »Dann sprich: Lasst uns zum HErren gehn, | Ihm unsre grosse Schuld gestehn, | Sind wir gleich wund von seinen Pfeilen, | Er wird uns liebreich wieder heilen.« (Dach: »Christliche Begräbnüß= und Todten=Reime« [wie Anm. 5], Str. 14) Die Geschichte der Vorstellung von einem Gott, der ebenso verwunden wie heilen kann, reicht bis in das Alte Testament zurück (5. Mose 32, 39) und blieb bis in die Frühe Neuzeit hinein ein beliebtes Motiv, insbes. in der Rechtfertigungslehre Martin Luthers. Zur Motivgeschichte vgl. Gerhard Fichtner: Christus als Arzt. Ursprünge und Wirkungen eines Motivs. In: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 1–18.

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Trostgründe eher darauf ab, die Verstorbene vom großen Glück ihres Todes zu überzeugen. Zudem hat der vertrauliche Ton der Anrede die Nebenwirkung, daß die Trauergemeinde noch mehr als in dem proömium von der Welt der Kranken bzw. der Toten entfremdet wird. Aber selbst wenn man den Mittelteil als consolatio auffaßt, fehlen dem Gedicht zwei von den drei traditionellen Hauptteilen des Epicediums. Zugegebenermaßen besteht der besondere Reiz dieser Form gerade in den vielfältigen Möglichkeiten einer unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Teile, und für einen neustoisch geprägten Barockdichter wie Simon Dach ist das Fehlen einer laudatio oder lamentatio nicht ungewöhnlich. 16 Doch angesichts der Tatsache, daß es hier um den Tod einer adligen Frau geht, ist das Fehlen insbesondere eines Lobteils äußerst merkwürdig. Dieses Fehlen überrascht um so mehr, als der Mann der Verstorbenen noch lebte und beim Vortrag des Gedichts anwesend war: Von den insgesamt 18 deutschsprachigen Epicedien der Dach-Ausgabe Ziesemers, die auf die Frau eines noch lebenden adligen Mannes verfaßt sind, ist das vorliegende das einzige, in dem der Witwer nicht direkt angeredet und sein Haus nicht gelobt werden. 17 In der Mehrheit (11) der Epicedien dieser Gruppe geschieht die schmeichelhafte Anrede des adligen Witwers sogar gleich am Anfang des Gedichts. Überhaupt ist das vorliegende Gedicht arm an individuellen Aussagen: Über die Verstorbene erfährt man praktisch nur, daß sie »aus grossen Plagen | Vnd langer Krankheit« zu »ihrer lieben Ruh« (V. 40 ff.) getragen werde, und die Familienangehörigen der Verstorbenen werden nur indirekt im Rahmen der Apostrophe erwähnt – und nicht gerade in einem positiven Licht. Somit verfehlt Dach in diesem Gedicht scheinbar ein nach Joseph Leighton wesentliches Ziel des Gelegenheitsdichters, nämlich »aus dem einzelnen Gelegenheitsgedicht ein individuelles Geschenk zu machen«. 18 _______ 16

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Wie Krummacher in Bezug auf den ebenfalls vom Neustoizismus beeinflußten Paul Fleming feststellt, wird im Sinne der stoischen Gattung consolatio der Schwerpunkt des barocken Epicediums nicht selten auf den Trostteil gelegt. Krummacher: Das barocke Epicedium (wie Anm. 13), S. 127 ff. Weitere Beispiele: [Inc.:] »HErr, gehorcht dem wilden Schmertzen«. In: ZIESEMER III, S. 40 f.; »Trost=Spruch an Hn. Fabian von Ostaw.« In: Ebd., S. 87 f.; »Trost=Schrifft.« In: Ebd., S. 99 f.; [Inc.:] »NIcht nur deines Adels Pracht«. In: Ebd., S. 163 ff.; [Inc.:] »WIe Willkomm ist der Todt doch denen« (wie Anm. 10); [Inc.:] »AUff was Papier, auff welchem Leder«. In: Ebd., S. 228–231; [Inc.:] »HErr, der Unschuld Zuversicht«. In: Ebd., S. 354 ff.; [Inc.:] »DEr HErr wird dennoch bey vns stehen«. In: Ebd., S. 365 ff.; und [Inc.:] »ICh hab’ in manchen Grab=Getichten«. In: Ebd., S. 419 ff.; sowie: »Poetisches Denckmal.« In: ZIESEMER IV, S. 61–65; »Einfältige Klag= und Trost=Reime.« In: Ebd., S. 109 ff.; »Schuldiges Gedächtniß.« In: Ebd., S. 117 ff.; »Christliches Klag= und Trost=Geticht.« In: Ebd., S. 137 ff.; »Schuldige Auffwartung.« In: Ebd., S. 212 ff.; »Wolverdientes Denckmahl.« In: Ebd., S. 272 ff.; »Schuldiges Trawer=Gedicht.« In: Ebd., 276 ff.; »Letztes Ehrengedächtnis.« In: Ebd., S. 384 ff.; und [Inc.:] »Ihr, güldne Seiten, meine Zier«. In: Ebd., S. 436 ff. Joseph Leighton: Das barocke Sonett als Gelegenheitsgedicht. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Zweites Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur in der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel. 28. bis 31. August 1976. Vorträge und Kurzreferate. Hg. von Martin Bircher und Eberhard Mannack. Ham-

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III Das zweite zu behandelnde Gedicht, das im Dezember 1647 verfaßte Epicedium auf die mit 33 Jahren verstorbene Frau Catharina Klein, gliedert sich mit einem sechsstrophigen proömium (Str. 1–6), einer fünfstrophigen lamentatio (Str. 7– 11) und einer vierstrophigen consolatio (Str. 12–15) ebenfalls in drei Teile. 19 In dem proömium wird wie in dem Epicedium auf Frau von Dühren argumentiert, daß der Tod für bestimmte Personen »wilkommen« (V. 1) sei. Doch bald werden die Unterschiede zwischen diesen beiden Gedichten offensichtlich: Erstens ist hier der Tod nicht nur für chronisch Kranke als positiv zu bewerten, sondern für alle, die »leiden müssen« (V. 14); zweitens wird hier kein Kontrast aufgebaut zwischen denjenigen, die leiden müssen, und denjenigen, die nicht leiden müssen bzw. zwischen Kranken und Gesunden. Vielmehr wird das Wir-Pronomen in den ersten drei Strophen durchgängig zur Bezeichnung von Menschen im allgemeinen verwendet. Dementsprechend ist die mehrfach wiederholte Konjunktion »wenn« bzw. »wan« nicht konditional, sondern eher temporal zu verstehen: »Wenn wir fast kein mal Rhu genommen« (V. 3), »Wenn wir umb oede Nachtzeit sprechen« (V. 5), »Wan wir vns seiner nicht versehen« (V. 17). In den letzten drei Strophen des proömium wendet sich der Sprecher mit einer direkten Ansprache der Gruppe der Leidenden zu, die neben Kranken auch Opfer von Unrecht und Gewalt, Arme und Alte umfaßt. Diese Ansprache mündet in der sechsten Strophe in die Ermahnung, das Leiden mit Geduld zu ertragen und es als »Zucht=Rhut« (V. 48) bzw. als Strafe Gottes für begangene Sünden zu verstehen. Dem solle man die Hoffnung auf die Befreiung vom irdischen Leiden im Jenseits entgegensetzen. Diese Vorstellung von der Hoffnung auf Befreiung bildet zugleich den Übergang zur lamentatio, in der die Verstorbene zur Erbauung der Trauergemeinde als Exempel einer bisher leidenden, doch nunmehr »befreyten Seelen« (V. 49) hervorgehoben wird. In den Strophen 7 bis 9 erzählt der Sprecher voller Teilnahme die elfjährige Leidensgeschichte der chronisch kranken Frau Klein. Dabei werden verschiedene rhetorische Techniken angewendet, um die überstandenen Leiden der Verstorbenen für die Trauergemeinde realitätsnah darzustellen. In der achten Strophe dient die eindringliche Wiederholung der rhetorischen Fragen »Wie offt [...]« und »Wie manches [...]« sowie des Temporaladverbs »jetzt« zur Vergegenwärtigung der verzweiflungsvollen Versuche der Frau, ihre Schmerzen mit »Clistiren« und »Träncken« (V. 62) zu lindern. Mit dem Tempuswechsel zum Präsens in der neunten Strophe werden dann die Leiden der bei der Entbindung sterbenden Frau vollends zur Gegenwart. In der zehnten und elften Strophe, die einen Übergang zur consolatio darstellen, apostrophiert der Sprecher die leblosen Glieder der Verstorbenen. Doch anders als in der Anrede der Verstorbenen in dem Epicedium auf Frau von Düh_______ 19

burg: Hauswedell 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur, 3), S. 141–167, hier S. 150. Simon Dach: [Inc.] »O Todt, wie bistu so wilkommen«. In: ZIESEMER III, S. 173 ff. Siehe Text 2 im Anhang.

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ren verläßt der Sprecher in dieser Anrede nie die Perspektive der Trauergemeinde. Vielmehr stellt er im Sinne eines ersten Trostgrundes fest, daß der Tod den Gliedern nichts anhaben könne, weil sie am jüngsten Tag »in voller Schönheit gläntzen« (V. 83) würden. Die consolatio besteht aus einer vierstrophigen Anrede des Witwers Reinhold Klein. Als erster Trostgrund wird in der zwölften Strophe darauf hingewiesen, daß er seine kranke Frau nicht mehr pflegen müsse und deswegen weniger Sorgen und mehr Zeit für sich habe. In der dreizehnten Strophe versichert dann der Sprecher, daß es seiner Frau im Jenseits besser gehe, wo sie statt »Kranckheit, Noht vnd Leyden« nun »überschwenglich=grosse Frewden« (V. 101 f.) kenne. In den letzten zwei Strophen schließlich wird dem Witwer geraten, den Tod seiner Frau mit Gelassenheit zu akzeptieren, denn »Ein Christen klagt nicht an | Das Werck so Gott gethan« (V. 111 f.). Statt dessen solle er sich darüber freuen, daß zwei Kinder und die Schwester der Verstorbenen noch am Leben seien. Zum Abschluß des Gedichts drückt der Sprecher seine Hoffnung aus, daß es dem Witwer mit der Hilfe Gottes gelänge, sein »Glück vnd Sinn« (V. 117) zu erneuern und seine Trauer über den Verlust seiner Frau zu überwinden. Insgesamt ist die Teilnahme des Sprechers an dem Schicksal der Verstorbenen in diesem Gedicht nicht minder ausgeprägt als in dem Epicedium auf Frau von Dühren. Die detaillierte Schilderung von krankheitsbedingten Ängsten, Schmerzen und schlaflosen Nächten in beiden Gedichten zeugt deutlich von den im Krankheitssonett geschilderten Erfahrungen des Dichters. Doch während der Sprecher des ersten Gedichts, in seine eigene Todessehnsucht versenkt, auf die Verstorbene selber fixiert bleibt und die Unterschiede zwischen Kranken und Gesunden hervorhebt, wird in diesem zweiten Gedicht die Trauergemeinde in einen umfassenden Diskurs von Leiden und Buße miteinbezogen. Hier hat der Dichter offenbar die notwendige Distanz zum poetischen Gegenstand, um seine persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit zu verallgemeinern und auf die allgemein menschliche Lage zu beziehen. Dadurch kann er eine rhetorisch wirksame Lehre für die Trauergemeinde ziehen und mehrere gültige Trostgründe für den hinterlassenen Witwer aufführen.

IV Wie abschließend gezeigt werden soll, spiegelt der Unterschied in der rhetorischen Ausrichtung dieser Gedichte einen Unterschied in der zum Ausdruck gebrachten Auffassung von Krankheit wider. Während sich die Krankheitsauffassung des späteren Gedichts mit zeitgenössischen Diskursen von Krankheit deckt, weist das frühere Gedicht – wie auch das Krankheitssonett – einen von frühneuzeitlichen Vorstellungen abweichenden, individuellen Diskurs von Krankheit auf. In der Frühen Neuzeit galt körperliche Krankheit generell als symptomatisch für die allgemeine Hinfälligkeit des Menschen und damit auch

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als ein Zeichen für seelische Krankheit und Sündhaftigkeit. 20 Dementsprechend war, wie Wolfram Mauser bezüglich der Krankheitssonette von Andreas Gryphius feststellt, »das Verhalten im Krankheitszustand Indiz für die Fähigkeit, mit dem Bestürmtwerden der Seele, mit der Sündhaftigkeit fertig zu werden«. 21 Mit dieser Vorstellung argumentieren zahlreiche Gedichte und Predigten der Frühen Neuzeit, die Krankheit und Tod zum Thema haben. Wilhelm Kühlmann hat die lyrische Ausformung dieses Diskurses beschrieben und auf Gedichte des Renaissancehumanismus mit der Überschrift De se aegrotante zurückgeführt. 22 In diesen Rollengedichten setzt sich das lyrische Ich mit einer körperlichen Erkrankung und deren seelischen Folgen auseinander. In seiner traditionellen Form im geistlichen Lied des 16. Jahrhunderts zeichnet sich dieses Diskursmuster durch den folgenden Aufbau aus: Zunächst werden die körperlichen Leiden des Ich geschildert, gefolgt von einer Beschreibung seines seelischen Zustands und eines Schuldbekenntnisses. Zum Schluß wird dann die Hoffnung auf die Erlösung durch Christus in Form eines Gebets ausgesprochen. 23 In mehreren Sterbeliedern argumentiert Dach genau nach dem von Kühlmann beschriebenen Muster. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür bietet das 1653 verfaßte Sterbens=Liedchen. 24 In ihm führt die Beschreibung vom körperlichen Zustand des todkranken Ich unmittelbar zu einer Beschreibung seines seelischen Zustands und seines Schuldbewußtseins (Str. 2 f.): _______ 20

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In einer Studie über Krankheit und Tod in lutherischen Predigten der Frühen Neuzeit z.B. stellt Sabine Holtz fest: »Für Erkrankungen in der Frühen Neuzeit hatten die Prediger nur eine einzige Erklärung parat: die Kranken hatten gesündigt, als ausschließliches Heilmittel gegen Sünde aber galten Buße und Gebet, stets verbunden mit dem vehementen Aufruf, künftig das Leben zu bessern.« Sabine Holtz: Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. von Hartmut Lehmann und Anne-Charlott Trepp. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 152), S. 135–157, hier S. 153. Wolfram Mauser: Was ist dies Leben doch? Zum Sonett »Thränen in schwerer Kranckheit« von Andreas Gryphius. In: Gedichte und Interpretation. Hg. von Volker Meid. Bd. 1. Renaissance und Barock. Stuttgart: Reclam 1982 (RUB, 7890), S. 223–230, hier S. 228. Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. von Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann. Tübingen: Niemeyer 1992 (Frühe Neuzeit, 10), S. 1–29, hier S. 3 f. Nach Kühlmann (ebd., S. 6) verlegt sich der Schwerpunkt der Gattung bei Andreas Gryphius von der Rettung durch Christus zur Beschreibung der Nichtigkeit alles Irdischen im Sinne der vanitas-Dichtung: »Von Gryphius [...] werden nicht Heilshoffnung und Kampfbereitschaft beschworen. Vielmehr macht er Front gegen eine offenbar als bedrohlich empfundene, weil im eigenen Ich angelegte säkuläre Einstellung zur Welt.« Simon Dach: »Sterbens=Liedchen« (wie Anm. 5). Ebenfalls nach diesem Muster aufgebaut sind die Sterbelieder »Morborum domus est tellus, domus astra salutis.« In: ZIESEMER III, S. 57 f., und »Klage meiner liebsten Muhme Hedwig Vogler in ihrer Kranckheit.« In: Ebd., S. 63 f., sowie »Christliches Sterb=Liedchen.« In: Ebd. IV, S. 3.

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Die Krafft in meinem Hertzen Ist weg für grossen Schmertzen, Mein Augen sind ein Grab, Der Athem meiner Lungen, Gehör, die Macht der Zungen Und aller Sinn nimpt ab. So seh ich auch daneben Daß böß in meinem Leben Mir stets für Augen stehn, Mein Hencker im Gewissen Hat greulich mich zerrissen Und zwingt mich zu vergehn.

Auf rhetorisch wirksame Weise wird dann im weiteren Verlauf des Liedes die Hoffnung auf das Seelenheil durch Christus in Aussicht gestellt. Ähnlich argumentiert auch das Epicedium auf Catharina Klein: Auf die Beschreibung von körperlichen Leiden in den ersten sechs Strophen des Gedichts folgt unmittelbar die Ermahnung, diese Leiden als die Folge von Sündhaftigkeit und als »Zucht=Rhut« (V. 48) Gottes aufzufassen, der es sich geduldig zu fügen gilt. Diese Ermahnung zur Gottesgefügigkeit wird in der consolatio noch bekräftigt mit der Aufforderung an den hinterlassenen Witwer, das »Werck so Gott gethan« (V. 112) nicht in Frage zu stellen. Die Botschaft ist klar: Nur beim richtigen – und das heißt reuigen – Verhalten im Leiden darf man auf Befreiung im Jenseits hoffen. In dem Krankheitssonett dagegen besteht eine Diskrepanz zwischen dem körperlichen und dem seelischen Zustand des Ich. Dort kann das körperlich kranke Ich in einer direkten Anrede an Gott von seinem seelischen Zustand behaupten: »Kein Säumnüs ist bey mir, vollendet ist mein Lauff« (V. 3). Diese selbstbewußte Haltung prägt auch das Epicedium auf Gertrud von Dühren. Dort wird nur die Sündhaftigkeit des körperlich gesunden Weltmenschen beklagt. Der Kranke hingegen wird von vornherein als seelisch gesund bezeichnet, weil er für die Versuchungen von »Geld vnd Gut« (V. 67) nicht anfällig sei.

V Die zwei dargestellten Beispiele lyrischer Empathie zeigen augenfällig, wie subjektive Positionen des Gelegenheitsdichters in die Wahl der inventio eingehen und die Struktur und Funktion des daraus resultierenden Gedichts beeinflussen. Vor allem in dem Epicedium auf Gertrud von Dühren, in dem der Publikumsbezug ambivalent und der traditionelle Aufbau des Epicediums kaum noch zu erkennen ist, dient die Identifikation des erkrankten Dichters mit der Verstorbenen hauptsächlich dazu, den im Krankheitssonett initiierten Diskurs der eigenen Krankheit weiterzuführen. Doch als Dach vier Monate später in dem Epicedium auf Catharina Klein dieses Thema erneut aufgreift, gehen seine persönlichen Erfahrungen mit der Situation des lebensmüden Todkranken ganz in das rhetorische Muster auf. Wie die erste Strophe eines späteren Epicediums

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aus dem Jahre 1649 zeigt, hat Dach dieses Thema auch in sein Repertoire poetischer Erfindungen aufgenommen: O Tod, wie wilkomm must du seyn Den Leuten, die in Angst vnd Pein Fast alle Stunde schweben: Die für geehrtem Alter mat, Und dieser armen Erden sat 25 Nicht wünschen mehr zu leben.

Zusammen betrachtet liefern die Epicedien auf Gertrud von Dühren und Catharina Klein ein gutes Beispiel dafür, wie die persönlichen Erfahrungen des Gelegenheitsdichters zu innovativen Erfindungen führen und somit tradierten Diskurs- und Gattungsschemata neues Leben einhauchen können. Genau diese Spannung zwischen Tradition und Innovation ist es, die Simon Dach aus der unübersehbaren Schar der barocken Gelegenheitsdichter heraushebt und seine Gedichte auch 400 Jahre nach seiner Geburt noch lesenswert macht.

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Simon Dach: [Inc.:] »O Tod, wie wilkomm must du seyn«. In: ZIESEMER III, S. 281 f. – Ein 1655 verfaßtes Kondolenzgedicht, das ebenfalls auf dieser Erfindung basiert, enthält sogar eine wörtliche Anspielung auf das Krankheitssonett: »Denn kein Erlösung hoffen | Und immer seyn getroffen | Von Jammer ohne Zahl, | Gern einmal sterben wollen, | Nie aber sterben sollen | Wär’ eine Hellen=Qual.« (»Summum nec metuas diem nec optes, oder Einfältige Leich=Reim.« In: ZIESEMER IV, S. 252 f., Str. 3)

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ANHANG

1. Christliches Gedächtnis der [...] Fr. Gertrudin geb. von Eggert, des Hn. Nicolaus von Dühren gewesenen Ehgenossen, zu Trost den Hinterlassenen vnd vns allen zur Lehre gestifftet. 1647. 19. Augusten. Zitiert nach: ZIESEMER III, S. 167 f. und S. 480 (Titelansetzung). [1] WJe Willkomm ist der Todt doch denen, Die allzeit siechhafft seyn vnd stehnen, Vnd wie ein Schatten gehn Verkommen, schmachtig, mager, Vnd selten von dem Lager Vermögen auffzustehen. [2] Ein Wind, der was zu scharff her pfeiffet, Die Lufft, die nebelt, oder reiffet, Ist wo ein Trunck nicht klar, Verdruß, Zorn, Schertz sampt Frewden Vnd was wir mehr nicht meiden Setzt Sie stracks in Gefahr. [3] Gesundheit prangt für allen Gaben, Die wir von Gott hie können haben, Ohn sie ist Geld kein Geld, Vnd Leben ist kein Leben, Wem Sie nicht ist gegeben, Was nützt ihm alle Welt? [4] Die Kranckheit schreibt ihm stets Gesetze, Ihm nützen aller Erden Schätze Sampt Ehren gleich so viel, Als ziegeln scharffe Laugen, Vnd Bilder blöden Augen, Als Tauben Seiten=Spiel. [5] Wie wol doch hat es Gott versehen, Daß alle Kranckheit, Angst’ vnd flehen Sich endet durch den Todt, So bald wir durchgedrungen, So ist das Leyd bezwungen, So stirbt auch vnsre Noth.

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Vnd mus doch heut von hinnen. Ob solch ein Mensch an Sinnen Wol recht Gesund seyn kan? [13] Gieb, Höchster, daß wir unsre Schmertzen Betrachten mit betrübten Hertzen Vnd nach dem Artzte gehn, Die können nicht genesen, Die noch ihr böses Wesen Nicht wollen eins gestehn.

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2. Letzter Ehrendienst der Fr. Catharinen geb. Bierwolffin, des Hn. Reinhold Kleinen, Churf. Br. PfundZollsVerwalters der Porte Preussen vnd bestallten Burggraffen uff Labiaw Hausfrawen. 1647. 27. Winterm. Zitiert nach: ZIESEMER III, S. 173 ff. und S. 481 (Titelansetzung). [1] O Todt, wie bistu so wilkommen, Wie so ein lieber Gast, Wenn wir fast kein mal Rhu genommen Für schwerer Creutzes Last! Wenn wir umb oede Nachtzeit sprechen: Wird nicht der liebe Tag anbrechen? Es tagt, doch wünschen wir: O Abend, kömbst du schier? [2] Ein Jahr geht hin, wir Arme hoffen Nun werd’ es besser seyn, Hat sie vns erst nicht wol getroffen, Dann trifft vns recht die Pein, Biß sich die Jahre gantz verschliessen Durch Hoffen vnd sich leiden müssen, Nun wieder solche Noht Ist noch Artzney der Todt. [3] Wan wir vns seiner nicht versehen In Sorgen da vnd hier: Wie wird vns doch zuletzt geschehen? So ist er vor der Thür. Alsbald der Geist denn auß vns kehret Vnd in die leichten Lüffte fähret, So ist des Leidens Mord Als abgeschnitten fort.

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188 [4] Die ihr geht mit betrübtem Hertzen, Klagt Vnrecht vnd Gewalt, Vnd wisst in ewrem grossen Schmertzen, Nicht Trost noch Auffenthalt, Ihr so die Armut stets muß plagen, Vnd harte Satzung heisset tragen, Auch die Ihr alt vnd matt Seyd ewres Lebens satt, [5] Für allen die der Kranckheit Kette Zu hart gefangen hält, Die ihr fast nie kommt aus dem Bette, Verlahmt, verdorret, schwellt, Die ihr den Aertzten fleht vergebens Vmb die Verlängrung ewres Lebens, Von denen, ewer Freund, Der Todt zu fliehen scheint; [6] Gebt euch ein wenig doch zufrieden, Es ist sehr kurtze Zeit, So seyd ihr seelig abgeschieden Vnd aller Angst befreyt, Es wehrt zu lang! was wolt’ ihr machen? Befehlt dem Höchsten ewre Sachen Vnd leidet mit Gedult Die Zucht=Rhut ewrer Schuld. [7] Nehmt war der jetzt befreyten Seelen, Ihr wird noch endlich Raht, Die in des krancken Leibes=Hölen So viel erlitten hat: Eilff Jahre sind nicht wenig Stunden, Vnd dennoch ist Sie jetzt entbunden, Tritt Kranckheit vnd Verdruß Steiff vnter Ihren Fuß. [8] Wie offt wird Sie geseufftzet haben, Wie manches hundertmahl Gewünscht, Sie möchte seyn begraben, Vnd ausser dieser Qual? Wie offt hat Sie sich müssen kräncken Jetzt mit Clistiren, jetzt mit Träncken? Wie manche liebe Nacht Gantz Schlafflohß zugebracht?

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[9] Jetzt da sie nicht gedenckt zu sterben, Noch an das liebe Grab! Erfrewt sie Gott mit einem Erben Vnd fordert sie auch ab, Weis zeit sich Ihrer zu erbarmen, Sie hat Ihr Söhnlein in den Armen, Trägt Ihrer Arbeit Lohn, Das thewre Pfandt davon. [10] Was hat der Todt an Euch entrissen, Ihr zarten Glieder Ihr? Er hat nicht den geringsten Bissen Der ihm stillt die begier, Wird von der lieben Mutter eben So wenig als vom Kinde heben, Doch heb’ er was er kann, Nichts dessen sieht er an. [11] Doch jener Tag wird euch ergäntzen Dieß was anjetzt gebricht, Ihr solt in voller Schönheit gläntzen, Empfangen Pracht vnd Liecht, Man wirfft mit trawrigen Geberden Den schwachen Samen in die Erden, Der seine Garben voll Vnd herrlich tragen soll. [12] Herr Klein, wolt Ihr denn nur bedencken Was Lieb vnd Trost Sie Euch, So viel Ihr möglich, pflag zu schencken, Nicht den Verdruß zugleich? Wenn mustet Ihr nicht vmb sie wachen? Wenn nicht verseumen ewre Sachen? Durch sie ist offt versehn, Was hie vnd da geschehn. [13] Führt Euch Ihr Lager zu Gemüte Vnd was Sie je beschwert, Vnd danckt anjetzt des Höchsten Güete, Der Sie hinauff begehrt. Sie kennt für Kranckheit, Noht vnd Leyden Dort überschwenglich=grosse Frewden, Als der die Rhue sehr gut Nach schwerer Arbeit thut.

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Die Inszenierung des Volkstümlichen und seine Aporien – Versuch einer Annäherung an Simon Dachs »Grethke«-Lied

I Wer die Frage nach der Volkstümlichkeit der Lyrik Simon Dachs stellt, sieht sich einem berechtigten Mißtrauen gegenüber gestellt, das es zunächst zu bedenken gilt. Zu sehr ist der Begriff des Volkstümlichen in den letzten Jahrhunderten belastet worden, als daß er noch leichtfertig in Anschlag gebracht werden könnte und so ohne weiteres tragfähig wäre. Volkstümlichkeit im Sinne einer völkischen Ideologie, verbunden mit stammeskundlichen oder gar rassischen Implikationen wird heute niemand mehr ernsthaft geltend machen wollen. Den deutschen Osten dadurch retten zu wollen, daß man hier ein genuin deutsches Volkstum nachzuweisen suchte, 1 führte nicht nur zu Ausblendungen und Aporien, sondern schließlich geradewegs zum Untergang dessen, was man bedroht glaubte. Volkstümlichkeit wird man aber auch nicht mehr verstehen wollen im Sinne eines romantischen, durch Herder angeregten Naturpoesie-Konzepts. 2 Der Volksbegriff selbst in diesem Konzept ist sozialgeschichtlich zu vage und philosophisch zu implikationenreich. Wie das Beispiel der Grimmschen Märchen zeigt, haben die Romantiker erst jene Volkstümlichkeit geschaffen, die sie vorgefunden zu haben vorgaben. Muß man daher ganz auf den Begriff des Volkstümlichen verzichten, und ihn durch den weniger belasteten Begriff des Populären ersetzen, populär im Sinne von weit verbreitet, anonym, formelhaft-einfach, in verschiedenen Varianten überliefert? 3 In diesem Sinne gab es im 17. Jahrhundert populäre Dich_______ 1

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Vgl. für das Beispiel von Walther Ziesemers Dach-Ausgabe: Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier bes. S. 943. – Gleichwohl werden – mangels Alternative – die Gedichte Dachs im folgenden nach der Ausgabe von ZIESEMER zitiert. Zu Herders Naturpoesie-Konzept vgl. Johann Nikolaus Schneider: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800. Göttingen: Wallstein 2004 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, 9), mit weiterer Literatur. Zur historischen Verortung im 17. Jahrhundert vgl. Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Bde. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle und Dieter Breuer. Wiesbaden: Harrassowitz 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 13), hier bes. der einleitende Aufsatz von Wolfgang Brückner: Begriff und Theorie von Volkskultur für das 17. Jahrhundert, Bd. 1, S. 3–21, und der Aufsatz von

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tung, anonyme Text-Musik-Kombinationen, wobei die Melodie meist vorgegeben war, der Text als Kontrafaktur wechseln konnte. 4 Die einfache Melodie konnte in einen musikalisch anspruchsvollen Satz gekleidet werden, oder aber einstimmig gesungen und auch zersungen werden. Ein solches Lied konnte in eine gedruckte Sammlung integriert werden, konnte aber auch als Flugblatt kursieren, oder, so darf vermutet werden, nur mündlich. 5 Wie Müller-Blattau schon in den 1930er Jahren gezeigt hat, handelt es sich bei Anke van Tharaw um ein solches Lied. 6 Die Melodie stammt nicht von Heinrich Albert, sondern ist eine »Aria incerti Autoris«. Müller-Blattau hat verschiedene frühere Belege für Lieder vermutlich ähnlichen Inhalts gefunden, hauptsächlich aus dem sächsischen Raum, leider ohne Text: Kätherlein von Dornig (1590), Ännelein von Torgen (1590), Kätherlein von Torgau (1605). 7 Ganz gleich, wer der Autor von Anke van Tharaw gewesen sein mag, er wird wohl hauptsächlich ein in Musik und Text schon vorgegebenes Werk für den konkreten Casus adaptiert haben. Die leidige Verfasserfrage erübrigt sich also auch vor allem in diesem Sinne. 8 Aufgrund des melodisch-metrischen Modells, auf dessen Basis Anke van Tharaw realisiert worden ist, wäre das Lied nach Müller-Blattaus Befund tatsächlich schon im 16. und 17. Jahrhundert ein populäres Stück. Das Schema war weit verbreitet (›Dorning‹ bezeichnet das belgische Tournai), einfach, anonym und konnte auf verschiedenste Weise musikalisch-sprachlich adaptiert werden. Ähnlich sieht der Befund aus für jenes Lied, um das es in diesem Aufsatz gehen soll: »Grethke, warumb hefftu mi | Doch so sehr bedrövet«, Simon Dachs Alia et nova cantilena amatoria rustica. 9 Der ursprüngliche Aufführungskon_______ 4

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Dieter Breuer: Apollo und Marsyas. Zum Problem der volkstümlichen Literatur im 17. Jahrhundert, Bd. 1, S. 23–43. Vgl. die umfassende Darstellung von Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit, 100), bes. S. 16 ff., S. 163 ff. Vgl. Franz M. Eybl: Verdrängte Gesänge. Liedzirkulation, Zensur und Geselligkeit in der süddeutschen Barockkultur. In: Morgen-Glantz 14 (2004), S. 33–52, mit Beispielen aus dem Augsburger Raum Mitte der 1730er Jahre; ferner Michael Schilling: Die Lieder des Augsburger Kolporteurs Thomas Kern aus den Anfangsjahren des Dreißigjährigen Krieges. In: Popular Prints and Imagery. Proceedings of an International Conference in Lund 5 – 7 October 2000. Hg. von Nils-Arvid Bringéus und Sten Åke Nilsson. Stockholm: Almquist & Wiksell 2001 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, 53), S. 49–68. Joseph Müller-Blattau: Ännchen von Thaurau. Wege des Volksliedes III. In: Die Musik XXVI (1934), S. 490–497. Ebd., S. 493 ff. Vgl. v.a. die Anstrengungen von Ivar Ljungerud: Anke von Tharau. In: Niederdeutsche Mitteilungen 5 (1949), S. 113–135; ders.: Ehren-Rettung M. Simonis Dachii. In: Euphorion 61 (1967), S. 36–83. Vgl. Robert Priebsch: »Grethke, war umb heffstu mi« etc., das »Bauer-Lied« Simon Dachs. In: Miscellany presented to Kuno Meyer by some of his friends and pupils on the occasion of his appointment to the chair of celtic philology on the university of Berlin. Hg. von Osborn Bergin und Carl Marstrander. Halle: Niemeyer 1912, S. 65–78. Zitiert wird das Lied im folgenden nach der Ausgabe ZIESEMER I, S. 73 f.

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text zu Simon Dachs »Bawer-Lied« ist verloren gegangen. Es dürfte sich aber wohl um ein Hochzeitscarmen handeln, überliefert lediglich in einer Handschrift des Komponisten Johann Stobäus, die am 8. Januar 1640 beendet wurde. Die heute in London liegende Handschrift enthält neben musiktheoretischen Abhandlungen Lautenstücke sowie Lieder, darunter zehn von Simon Dach [s. die Abbildung auf der folgenden Seite]. Die in der Handschrift überlieferte Melodie, von der nicht sicher ist, ob sie von Stobäus stammt, weist eine einfache musikalische Struktur auf: Sie ist in vier mal vier Takte gegliedert, wobei die erste Vierergruppe wiederholt wird, so daß die für »Volkslieder« typische Stollenstruktur des Aufgesangs entsteht. Als Grundwert wird den Silben eine Viertelnote zugeordnet, lediglich das Versende wird durch eine halbe Note deutlich markiert: Die weiblichen Endungen erhalten hierbei zwei, die männlichen eine halbe Note, wodurch eine klare, leicht einzuprägende rhythmische Gliederung entsteht. Der Tonumfang umfaßt mit g' – f'' noch nicht einmal eine Oktav, so daß insgesamt die für eine populäre Melodie charakteristische leichte Sangbarkeit gegeben ist. Von der Popularität des »Grethke«-Lieds zeugt nicht nur Dachs eigene Aussage in dem großen Gedicht an Robert Roberthin: In Preussen hätt es mir noch keiner gleich gethan, Waß vnser Deutsch betrifft. Nur wegen meiner Grehten, 10 Waß Lob erhielt ich doch!

Auf Popularität deuten auch die zahlreichen bei Ziesemer nachgewiesenen Kontrafakturen, die auf die Melodie des »Grethke«-Lieds zurückgreifen. 11 In einem anderen seiner Gedichte zeigt Simon Dach eine Verwendung seines »Grethke«-Lieds jenseits des Hochzeitscasus im Kontext geselligen Beisammenseins: Ich bin mein Bawer=Lied Nach ewrem bald bemüht 12 Auß kurtzweil anzuheben[.]

Der Schritt aus dem kasualen Kontext heraus zu einer unter Umständen weitreichenden Popularität läßt sich bei anderen niederdeutschen Hochzeitsgedichten noch besser beobachten. Das Lied »schäfftige Martha«, 13 in dem die Hochzeitsvorbereitungen und der Ablauf einer Hochzeit in einem gehobenen bäuerlichen Milieu geschildert werden, schafft den Sprung aus dem kasualen

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Simon Dach: »Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen […] geschrieben 1647. 30. Julij.« In: ZIESEMER I, S. 187–193, hier S. 187, V. 12 ff. ZIESEMER I, S. 329. Ziesemer verweist hier etwa auf Gertrud Mollers Bauernlied »Sol öck, popperlinstes Hart«. Simon Dach: »Horto recreamur amaeno.« In: ZIESEMER I, S. 88 f., V. 19 ff. Ediert in: Scherzgedichte von Johann Lauremberg. Hg. von J[ohann] M[artin] Lappenberg. Stuttgart: Litterarischer Verein 1861 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 58), S. 114–118.

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Abb.: MS. Sloane 1021; Bl. 87vb (obere Hälfte). Autograph des Johann Stobäus

Kontext heraus in Johann Peter de Memels auflagenstarke Lustige Gesellschaft, 14 eine der verbreitesten Schwanksammlungen des 17. Jahrhunderts, die neben Schwänken im engeren Sinne aber auch zahlreiche plattdeutsche Hoch_______ 14

[Johann Peter de Memel]: Lustige Gesellschaft. Comes Facundus in via pro vehiculo. […]. Zippelzerbst im Drömbling: [o.D.] 1656. Das Lied befindet sich unter der Nr. 686 auf S. 348–358.

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zeitsgedichte enthält. 15 Wie die neuere Flugblattforschung an Einzelbeispielen zu zeigen vermochte, besaß gerade das Lied als mindestens semiorale Gattung die Möglichkeit, auch Analphabeten zu erreichen. Vor allem die Melodie, aber auch die Strophenform haben dabei die für ein nichtschriftliches Medium wichtige Funktion einer Gedächtnis-Stütze. 16 Damit schlägt die inszenierte Volkstümlichkeit eines niederdeutschen Bauerngedichts, das möglicherweise von Johann Lauremberg oder Joachim Rachel stammt, in faktische Popularität um. In einem zweiten Schritt konnten die so popularisierten Lieder dann sogar in landeskundliche Beschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts aufgenommen und als Dokumente für die Sitten und Gebräuche der Bevölkerung herangezogen werden. Als ein Beispiel mag Anton Vieths Beschreibung und Geschichte des Landes Dithmarschen dienen. 17 Hier werden verschiedene niederdeutsche Bauerntanzlieder gesammelt, um die Hochzeitsbräuche der Dithmarscher Bauern zu veranschaulichen, darunter als bekannteres das Joachim Rachel zugeschriebene »Nun min Dochter, seg van Harten«. Ob Vieths Sammelarbeit wirklich auf Feldforschung beruht oder lediglich aus dem Ausschreiben zuhandener Quellen besteht, muß offen bleiben. Ist letzteres der Fall, dann ergibt sich schon im 18. Jahrhundert ein hermeneutischer Zirkel, der sich, weil er unbemerkt bleibt, als circulus vitiosus erweist. Die poetisch hergestellte Volkstümlichkeit wird in einem zweiten Schritt von den Vorläufern der Volkskunde als echte Volkstümlichkeit präsentiert. Daß Gedichten wie den genannten von Johann Lauremberg und Joachim Rachel überhaupt Volkstümlichkeit zugeschrieben werden konnte, liegt nicht zuletzt auch in ihrer Sprache begründet, dem Niederdeutschen. Auch das »Grethke«-Lied ist wie Anke van Tharaw ein Dialektgedicht. Der im Lied vorliegende Dialekt ist zwar von der Sprachwissenschaft mit einigem Mißtrauen betrachtet worden, weil er sehr stark durch das Hochdeutsche bestimmt ist. 18 Doch die hochdeutschen Einsprengsel, die von Ziesemer in seiner Ausgabe wieder entfernt worden sind, mögen auf das Konto von Stobäus gehen, eines gebürtigen Sachsen, in dessen Aufzeichnung sich das Lied erhalten hat. Mit der Sphäre des ›Plattdütschen‹ ergibt sich jedenfalls eine Opposition zwischen einer schon stärker durch Verschriftlichung und dichterische Reformen vereinheitlichten hochdeutschen Sprache und dem Niederdeutschen. Während wir in süddeutsch-katholischen Gebieten eher die Opposition Latein vs. dialektale Volkssprachen finden, haben wir im norddeutsch-protestantischen _______ 15

16 17

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Vgl. Elfriede Moser-Rath: »Lustige Gesellschaft«. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart: Metzler 1984. Zur Darstellung der Bauern vgl. S. 232 ff. Vgl. Schilling: Die Lieder des Augsburger Kolporteurs Thomas Kern (wie Anm. 5), S. 62. Anton Viethens, Hochfürstl. Schleswig-Holsteinischen Cammer-Assesoris, Beschreibung und Geschichte des Landes Dithmarschen […]. Hamburg: Thomas Whering 1733, S. 87– 99. Das Lied »Nun min Dochter, seg van Harten« befindet sich auf S. 94–99. Vgl. Ljungerud: Ehren-Rettung (wie Anm. 8), S. 61 ff. Ljungerud stützt sich auf die Dissertation von Walter Mitzka: Ostpreussisches Niederdeutsch nördlich vom Ermland. Marburg: Friedrich’s Universitätsdruckerei 1912.

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Raum die Trias: Latein, hochdeutsche Schriftsprache, dialektale Volkssprachen. 19 Die Forschung des 19. Jahrhunderts bis hinein in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hat mit dem Vorkommen von Dialekt immer und manchmal geradezu zwanghaft Volkstümlichkeit assoziiert. Im Dialekt spräche sich demnach die Volkskultur selbst aus. Hierbei wird die in der Geschichte immer einmal wieder virulent werdende Frage, wer ›das‹ Volk sei, dahingehend beantwortet, daß mit Volk die ländliche Bevölkerung gemeint sei, im weitesten Sinne also die auf dem Land lebenden Bauern und Handwerker. Daß die dialektalen Gegebenheiten in der Frühen Neuzeit diese Herleitung von Volkstümlich nicht stützen können, läßt sich leicht nachweisen. Der Dialekt als gesprochene Sprache war keineswegs auf die Landbevölkerung beschränkt, sondern auch in den Städten und Oberschichten weit verbreitet. Die Ratserlässe der Stadt Magdeburg etwa wurden bis zur Zerstörung der Stadt 1631 zweisprachig veröffentlicht, in Hochdeutsch und in Niederdeutsch. 20 Betrachtet man diese Entwicklung genauer, etwa anhand der Daten der Niederdeutschen Bibliographie von Borchling und Claussen, 21 dann ist um das Jahr 1600 herum ein signifikanter Umbruch zu konstatieren. 22 War Niederdeutsch im 16. Jahrhundert noch eine Schriftsprache, in der amtliche Dokumente publiziert wurden, in die aber auch fast sämtliche Prosaromane des 16. Jahrhunderts übersetzt wurden, so geht die Zahl der niederdeutschen Drucke im 17. Jahrhundert nicht nur stark zurück, sondern es ändert sich zudem ihr Charakter. Wir finden kaum noch amtliche Dokumente, kaum noch vollständige Übersetzungen von Romanen oder Dramen. Statt dessen ist eine Verengung auf einen bestimmten Typ erkennbar: Im Drama etwa auf das im bäuerlichen Milieu angesiedelte Zwischenspiel, in der Lyrik, hier vor allem in den Hochzeitscarmina, auf Bauern oder der bäuerlichen Sphäre zugeordnete Rollenlyrik. Diese Zuspitzung spiegelt nicht die Situation in der gesprochenen Sprache wider. Hier ist das Niederdeutsche bis ins 19., ja 20. Jahrhundert hinein in allen sozialen Schichten anzutreffen. Wenn die dialektale Zuordnung in den Drucken des 17. Jahrhunderts demnach kaum der sprachlichen Realität entsprach, wie läßt sich die Zuordnung von Dialekt zum ländlich-bäuerlichen Bereich dann erklären? Im folgenden sei von der Annahme ausgegangen, daß diese Zuordnung zuförderst in der Literatur des 17. Jahrhunderts grundgelegt wurde. Hier wurde, durchaus von den Gebildeten und für die städtischen Oberschichten, eine bestimmte Form von Volkstümlich_______ 19

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Vgl. Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565 – 1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München: Beck 1979 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft, Reihe B, 11), S. 44 ff. Vgl. Ursula Föllner, Saskia Luther: Ein besonderer Klang… Zur Sprachgeschichte Magdeburgs. In: Magdeburg. Porträt einer Stadt. Hg. von der Landeshauptstadt Magdeburg. Halle: Stekovics 2000, S. 241–252. Niederdeutsche Bibliographie. Gesamtverzeichnis der niederdeutschen Drucke bis zum Jahre 1800. 2 Bde. Hg. von Conrad Borchling und Bruno Claussen. Neumünster: Wachholtz 1931–1936. Vgl. etwa für das Beispiel Bremen: August Heuser: Die neuhochdeutsche Schriftsprache während des XVI. und XVII. Jahrhunderts zu Bremen. Diss. phil. Kiel 1912.

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keit inszeniert, vergleichbar den inszenierten Schäferwelten, die dann von der späteren Forschung zumindest lange Zeit für das tatsächlich Volkstümliche genommen wurde. Das Ganze wird dadurch kompliziert, daß die inszenierte Volkstümlichkeit sich populärer Elemente bedienen konnte, und so tatsächlich auch in den Unterschichten populär werden konnte, so daß inszenierte Volkstümlichkeit dann durch ihre Popularität den Anschein echter Volkstümlichkeit erwecken konnte. Bevor nun im folgenden Dachs »Grethke«-Lied eingehender interpretiert werden soll, um an diesem Beispiel die Aporien einer solchen Inszenierung von Volkstümlichkeit zu untersuchen, seien vorab einige Überlegungen zum Inszenierungscharakter des Volkstümlichen angestellt. Dazu sei auf das Theater als jenes Medium zurückgegriffen, dem Inszenierung essentiell ist und bei dem sie am anschaulichsten sichtbar wird. Im dritten Abschnitt soll dann gezeigt werden, daß sich das »Grethke«-Lied trotz der verwendeten Bauernmaske rhetorisch gesehen zumindest auf mittlerer Stilhöhe bewegt und daß durch den in ihm waltenden ökonomischen Diskurs der aufgebaute Gegensatz zwischen Stadt und Land wieder eingeebnet wird.

II Vergleicht man die Verwendung des Niederdeutschen im Drama des 16. Jahrhunderts mit der im Drama des 17. Jahrhunderts, dann wird die Verengung, von der oben gesprochen wurde, besonders anschaulich. Dramen im 16. Jahrhundert konnten noch vollständig in Niederdeutsch abgefaßt sein, so daß nicht nur die Diener und die Bauern, sondern alle Figuren plattdeutsch sprachen. Die Sprache wurde nicht ausschließlich als Merkmal für eine bestimmte Schicht eingesetzt. Auffällig ist, daß damit oft auch eine differenzierte Darstellung der Bauern bzw. der Unterschichten einhergeht. Den Typus des versoffenen, seine Affekte nur ungenügend kontrollierenden Bauern gibt es zwar auch schon im Theater des 16. Jahrhunderts, 23 er stammt als Aktionstyp wohl schon aus der antiken Komödie, daneben aber, und das ist wichtiger, finden sich ausgewogene, vorsichtig unterschichtenfreundliche Darstellungen, wie etwa in Daniel Cramers Plagium, 24 oder in einigen »Comoedien« des Braunschweiger Herzogs Heinrich Julius. 25 _______ 23

24 25

Etwa in den Nürnberger Fastnachtspielen von Hans Folz und Hans Sachs. Zur Darstellung des Bauern im Fastnachtspiel vgl. Heinrich Möller: Die Bauern in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. Berlin: Schade 1902 (zugl. Diss. phil. ebd.), S. 60 ff.; Fritz Martini: Das Bauerntum im deutschen Schrifttum von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert. Halle: Niemeyer 1944 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Buchreihe, 27), S. 196 ff., S. 329 ff.; Ninna Jørgensen: Bauer, Narr und Pfaffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur. Leiden [u.a.]: Brill 1988 (Acta Theologica Danica, 23). Daniel Cramer: Plagivm, Comœdia, de Alberto et Ernesto Friderici II. electoris Saxonici inclyti, Filijs inclytis [...] Wittenberg: Johann Krafft d. J. 1593. Es sind v.a. die »Comoedien« Susanna von 1593 (große Fassung), Von einem Buhler vnd Buhlerin sowie Von einem Edelmann. Alle ediert in: Die Schauspiele des Herzogs Heinrich

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Bei Cramer wie bei Heinrich Julius werden die Unterschichten gegen die korrupte Bürokratie des Hofes in Schutz genommen, neben den betrunkenen finden sich auch kluge Bauern, die die Adligen und Bürger durchschauen. 26 Heinrich Julius läßt in der »Tragödia« Von einem Buler vnd Bulerin die städtische Ordnung von einem adligen Ehebrecher stören und von drei dialektsprechenden, nachtwächternden Bauern wiederherstellen, die den Adligen kurzerhand im Sinne der Stadtordnung töten. 27 Ab etwa 1600 werden die niederdeutsch sprechenden Bauern zunehmend in das Ghetto der Zwischenspiele verbannt und dort auf ihre Rolle als unzivilisierte, einfältige Grobiane festgelegt, die gegenüber der städtischen oder gar höfischen Kultur unangenehm abfallen. Gerade in der älteren Forschung ist oft beklagt worden, daß diese Zwischenspiele keinen Bezug zur Hauptaktion besäßen. 28 Dieser Vorwurf ist allenfalls dann berechtigt, wenn man sich auf den Handlungskonnex beschränkt. Die Zwischenspiele wollen jedoch in Bezug auf die Haupthandlung gesehen werden, denn nur so ergibt sich der maximale Kontrast zwischen Haupthandlung und Zwischenspielen. Erst die Bauern verdeutlichen ex negativo, wie viel die Bürger und Adligen in ihrer Lebensführung richtig machen, trotz aller Fehler, aus denen Tragödien erwachsen. 29 Aus dieser Kontrastfunktion zwischen hoher und niederer Handlung, die rhetorisch durch das aptum und dramentheoretisch durch die Ständeklausel legitimiert wird, erwächst eine Eigendynamik, die zu einer immer stärkeren Dichotomisierung zwischen niederer und hoher Handlung führt. Die Bauern müssen im Gestell des Dramas immer bäurischer werden, damit die Adligen und Bürger immer höfischer werden können. Diese Dichotomisierung läßt sich in den drei Königsberger Zwischenspielen zu Frischlins Hildegardis Magna von 1644 belegen, 30 ihren Höhepunkt findet sie aber wohl in Rists Das Friedejauchtzende _______

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Julius von Braunschweig. Nach alten Drucken und Handschriften hg. von Wilhelm Ludwig Holland. Stuttgart: Litterarischer Verein 1855 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 36). Vgl. Bernhard Jahn: Der Bauer als Pasticcio. Zur Konstruktion von Unterschichtenfiguren durch die Kombination von Aktionstypen am Beispiel deutschsprachiger Dramen des 16. Jarhunderts. Erscheint in: Aktions- und Personentypen im Theater der Frühen Neuzeit. Hg. von Christel Meier und Bart Ramakers. Vgl. meine Interpretation dieser Szene in: Bernhard Jahn: Eheberatung im Drama um 1600 oder: Was Sie schon immer von Magdeburger Pastoren und Schulrektoren über Partnerwahl und Sex wissen wollten. In: Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs. Hg. von Eva Labouvie. Köln [u.a.]: Böhlau 2004, S. 151–171, hier S. 157. Vgl. etwa Johannes Bolte: Drei Königsberger Zwischenspiele aus dem Jahre 1644. In: Altpreußische Monatsschrift 27 (1890), S. 111–140, hier S. 113. Eine weitere Funktion der komischen Zwischenspiele liegt in ihrem Unterhaltungswert für die illiterate Zuhörerschaft. Dies gilt besonders für die Aufführung lateinischer Dramen mit deutschen Zwischenspielen. Vgl. Fidel Rädle: Lateinisches Theater fürs Volk. Zum Problem des frühen Jesuitentheaters. In: Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ›Mündlichkeit und Schriftlichkeit‹. Hg. von Wolfgang Raible. Tübingen: Narr 1988 (Script-Oralia, 6), S. 133–147. Die deutschsprachigen Zwischenspiele im Jesuitentheater sind jedoch 1599 von der Ordensleitung verboten worden. Sie sind von Johannes Bolte ediert worden, vgl. Anm. 28.

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Teutschland 31 von 1653. In diesem sich als Friedensspiel gebenden Schauspiel wird ausgerechnet den Bauern ein genuines Interesse am Krieg zugesprochen, während die Städter unter dem Krieg zu leiden haben. 32 Rist rechtfertigt die Grobheit der Bauern in der Vorrede mit decorum und Ständeklausel, die hier als Deckmäntelchen für bauernfeindliche Ideologie herhalten müssen: Ja sprichstu: Deine Bauren gebrauchen sich gleichwol gar unhöflicher Reden/ für welchen ehrbare Leute etwas Scham und Abscheu haben/ könte man die nicht hinweg lassen/ oder ein weinig subtiler beschneiden? Nein/ vielgeliebter Leser: Was hat man doch von einem übelerzogenem/ groben Tölpel und Baurflegel/ von einer unflätigen und versoffenen Sau für Höflichkeit zuerwarten? Kan man auch Trauben lesen von den Dörnern/ oder Feigen 33 von den Disteln? Der Vogel singet nicht anders/ als wie ihm der Schnabel gewachsen.

Rist legt die Bauern auf eine bestimmte Rolle fest und rechtfertigt diese Verengung mit den ontologischen Gegebenheiten. Der poetologische Systemzwang und die sich dahinter verbergenden gesellschaftlichen Abgrenzungsbestrebungen werden durch Verweis auf unhintergehbare Vorfindlichkeiten in der Natur abgesichert. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wird die starre Dichotomie zwischen Ober- und Unterschicht im Drama dann wieder wie im 16. Jahrhundert kritisch befragbar und kann nun gegen das Leben am Hof gewendet werden. Die zentrale Stelle in Weises Schauspiel vom Niederländischen Bauer (1685) lautet in diesem Sinne: Wir sind alle Bauern; Doch welcher den Bauer im Hertzen verbergen kan/ daß er nicht an 34 das Tage-Licht kommen kan/ der wird ein qvalifizirter Hoffmann genennet.

Im 17. Jahrhundert ist Kritik am Hof, im Drama jedenfalls, meist nicht aus der Perspektive der Bauern und Unterschichten, 35 sondern aus einer eigens konstruierten literarischen Pseudo-Unterschicht, der der Schäfer, möglich und üblich.

_______ 31

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Ediert in: Johann Rist: Sämtliche Werke. Hg. von Eduard Mannack. Bd. 2: Dramatische Dichtungen (Das friedewünschende Teutschland. Das Friedejauchtzende Teutschland). Berlin, New York: De Gruyter 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, [35]), S. 205–459. Ebd., S. 298 f. Hier berichtet der Bauer Drewes, daß er während des Krieges Holz fällen und teuer in der Stadt verkaufen konnte. Zur Darstellung der Bauern und zur Verwendung des Dialekts vgl. Otto Heins: Johann Rist und das niederdeutsche Drama des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Marburg: Elwert’sche Verlagsbuchhandlung 1930 (Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft, 38), S. 120 ff. Rist: Dramatische Dichtungen (wie Anm. 31), S. 229. Christian Weise: Ein wunderliches Schau-Spiel vom niederländischen Bauer. Hg. von Harald Burger. Stuttgart: Reclam 1969 (RUB, 8317/18), S. 89. Im 16. Jahrhundert sah dies noch anders aus, wie die oben angeführten Beispiele Cramers oder Heinrich Julius’ zeigen.

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III Wenden wir uns nun dem »Grethke«-Lied zu, so ist der Befund hinsichtlich des bäuerlichen Milieus recht ähnlich. Der unmittelbare Anlaß für das »Grethke«Lied ist heute nicht mehr rekonstruierbar, aber das Lied ließe sich prinzipiell, zieht man die Niederdeutsche Bibliographie von Borchling und Claussen zu Rate, als frühestes bekanntes Königsberger Beispiel in die bis zur Mitte des Jahrhunderts immer größer werdende Zahl gedruckter Hochzeitsschriften einordnen, die Niederdeutsch verwenden. 36 Am Beispiel der Bremer Hochzeitsgedichte, die von Juliane Fuchs untersucht worden sind, kann man sich einen Überblick verschaffen über den Einbau niederdeutscher Passagen in lateinische und hochdeutsche Hochzeitscarmina. 37 Meist ist nicht der ganze Gelegenheitsdruck in Niederdeutsch abgefaßt, sondern nur ein einzelnes Epithalamium darin oder sogar nur einzelne Strophen. Das einzelne plattdeutsche Gedicht bzw. die einzelne plattdeutsche Strophe im hochdeutschen Kontext entspricht genau der Situation der Zwischenspiele in den Dramen. Auch die bäuerliche Welt des »Grethke«-Lieds hätte man sich also in einen städtischen Kontext eingebettet zu denken, sei dies nun ein Hochzeitscasus oder ein geselliges Beisammensein ohne Casus. Bei einer ersten Lektüre fallen dem Leser besonders die Bemühungen auf, die im Gedicht unternommen werden, um eine bäuerliche Gegenwelt zu evozieren. Erreicht wird dies vor allem durch die Verwendung der niederdeutschen Sprache und durch den Einsatz von Grobianismen. Zwar bezeichnet sich das lyrische Ich in Strophe 12 als eines »Schäpers Sehn«. Gleichwohl haben wir es hier nicht mit Schäferdichtung zu tun und das, obwohl die Situation des Gedichts – ein Liebender klagt um seine Geliebte, die ihn verlassen hat – sehr passend für eine Schäferklage wäre. Wenn man die Schäferrolle mit den spätbarocken Zeremonielltheoretikern 38 als eine Absenkung der zeremoniellen Normen um eine Stufe interpretiert, quasi als Reise von der Hauptresidenz in der Stadt zur Sommerresidenz auf dem Lande, dann wäre die bäuerliche Rolle eine nochmalige Absenkung der schäferlichen Rolle um mindestens eine Decorumstufe, von der Sommerresidenz in den als Bauernkate stilisierten Pavillon des Parks. Was durch diese zweimalige Absenkung des Decorums möglich wird, ist am Gedicht schnell erkennbar. Mit Christian Weise formuliert, wird dadurch der Bauer im städtischen und höfischen Menschen sichtbar. Das sexuelle Begehren _______ 36 37

38

Vgl. Walter Ziesemer: Königsberger Hochzeitsgedichte aus den Jahren 1671 – 1751. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 42 (1961), S. 1–42. Juliane Fuchs: HimmelFelß und Glückes Schutz. Studien zu Bremer Hochzeitsgedichten des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1994 (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur, 16), S. 225 ff. Zur Schäferrolle unter zeremoniellen Gesichtspunkten vgl. Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1999 (Frühe Neuzeit, 53), S. 6 ff. und S. 250 ff.

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kann unumwunden formuliert werden. Das Paar hat schon »thosammen gelegen«, wie es in der dritten Strophe heißt, und was das Ich an Grethke attraktiv findet, bringt es in der vorletzten Strophe unmißverständlich zum Ausdruck: Wenn ick na dy seh vam Kohr, Wor du plegst tho sitten, So heffstu, los kleine Hoer, Solcke ronge Tütten, Ock solck ronget Angesicht, Also dat mi solver dücht, Dat du, schmucket Meken, Appel most affsteken.

Die fehlenden städtisch-höfischen Umgangsformen lassen sich festmachen an sprachlichen Wendungen, die im 17. Jahrhundert als Signale für Grobianismus verstanden werden müssen: So schon in der ersten Strophe »freten«, obwohl das Niederdeutsche mit »eten« durchaus auch einen neutrales Wort für die Essensaufnahme anzubieten hat. Noch deutlicher ist die Wendung in Strophe 5 »in den Arß gesticket«, die dann als wohl doch zu drastisch von Stobäus durch das harmlose »Heimlich thogestecket« ersetzt worden ist. 39 Die Absenkung der Sprach- und Verhaltensstandards impliziert ein Hervortreten der Körperlichkeit des Menschen, auch sichtbar am körperlichen Einsatz, den das Ich erbringen muß. Es prügelte sich mit Krögers Knecht und wurde dabei übel zusammengeschlagen (Str. 7 und 8). All dies, gehen wir einmal vom Kontext einer städtischen Hochzeit aus, kann einer bürgerlichen oder adligen Hochzeitsgesellschaft zur Selbstvergewisserung über ihre eigenen zivilisatorischen Standards dienen. Zwar mögen auch für städtische Ehemänner »ronge Tütten« interessant sein, aber das artikulierte Interesse an solchen Phänomenen wird durch die gewählte Bauernrolle sogleich wieder ironisch gebrochen und damit auf Distanz gestellt. Doch abgesehen von dieser ja schon öfter im Zusammenhang mit Norbert Elias’ Theorie beschriebenen Funktion der Selbstversicherung der eigenen zivilisatorischen Standards 40 birgt das Lied darüber hinaus ein subversives Potential, das nicht auf dieselbe Weise integrierbar ist wie die bäuerlichen Grobianismen. Trotz der deutlich vernachlässigten zivilisatorischen Standards und der solcherart evozierten Gegenwelt teilt das Lied verschiedene Aspekte mit der Ausgangswelt, dem städtischen Kontext. Dies betrifft zunächst einmal seine _______ 39 40

Vgl. Priebsch: »Grethke, war umb heffstu mi« (wie Anm. 9), S. 75. Hier wären v.a. die Arbeiten von Robert Muchembled zu nennen. Vgl. Robert Muchembled: Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus. Reinbek: Rowohlt 1990 (Rowohlts Enzyklopädie, 510). Muchembleds These, daß die Oberschichten sich erst im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts entscheidend in ihrem Sozialverhalten differenzieren, ließe sich anhand der Bauerndarstellungen in den Dramen dieses Zeitraums belegen. Zum Auseinanderdriften von Ober- und Unterschicht im 17. Jahrhundert siehe auch: Renate Maria Radbruch, Gustav Radbruch: Der deutsche Bauernstand zwischen Mittelalter und Neuzeit. 2. Aufl., erg. durch Gustav Radbruchs nachgelassene Aufzeichnungen. Besorgt von Anneliese Stemper. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 25.

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poetische Faktur. Schon in der älteren Forschung wurde festgestellt, 41 daß das Lied trotz aller Grobianismen dann doch wieder sehr stark an der Topik traditioneller Liebeslyrik partizipiert. Bereits die Sprechsituation als solche ist topisch: Der von der Geliebten verlassene Liebhaber beklagt in einem Monolog – einer einzigen großen Apostrophe – sein unglückliches Los. Die angesprochene ungetreue Bauernmagd Grethke ist abwesend. Ljungerud hat auf die Parallele zu Dachs Klage eines verliebten Schäfers vber die Vntrew seiner Phyllis hingewiesen. 42 Die von Dach in seinem »Bawer-Lied« verwendete Stilebene ist nicht, wie man angesichts des sozialen Standes des Sprechers erwarten würde, das genus humile, sondern durchaus eine mittlere Stillage, die sich vor allem in einem stärkeren und für die bäuerliche Sphäre ungewöhnlichen ornatus manifestiert. So spricht der Klagende etwa in Strophe 14 von den Lippen seiner Geliebten, die »von Honig drüppen« und zitiert damit nicht nur das Hohelied Salomonis (4, 11), sondern evoziert wie in einem Vorgriff galante Metaphorik. Am deutlichsten wird der Rückgriff auf literarische Traditionen in der Schlußstrophe, wenn der Klagende sich des carpe diem-Topos bedient: Kom dat wi uns paren. Kom, wi hebben hoge Tydt: De sick alltho old befryt Und von Krafft is kamen De hefft schlechten Framen.

Dachs Formulierung evoziert nicht nur den locus classicus, Martin Opitz’ »Ach Liebste/ laß vns eilen/ | Wir haben Zeit«, 43 sondern auch seine eigene Opitz-Paraphrase, das Lied »KOmm, Dorinde, lass uns eilen, | Nimm der Zeiten Güt in acht«. 44 In der letzten Strophe wird zudem noch der in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter bekannte Topos vom im Herzen eingeschlossenen Liebsten aufgerufen: »Darumb schluth mi in din Hart«. Gerade zum Schluß des Gedichts hin gewinnt der Leser den Eindruck, daß dem Sprecher die Bauernmaske verrutscht und darunter eine höfische oder schäferliche Gestalt zum Vorschein kommt. Es läßt sich nicht entscheiden, ob dies als bewußte Demaskierung der Sprecherrolle gedeutet werden soll und damit als inszenierte Demaskierung. Doch wie dem auch sei: Die Distanz zwischen der grobianisch-bäuerlichen Welt und der städtisch-zivilisierten läßt sich auf Dauer nicht aufrecht erhalten. Am Ende des Gedichts verringert sie sich so deutlich, daß der Hörer/Leser sich genötigt sieht, eher über die Parallelen als über die Gegensätze zwischen der bäuerlichen und städtischen Welt nachzudenken. Ist der Leser erst einmal auf die Fährte der Ähnlichkeiten gebracht, ent_______ 41 42 43

44

Ljungerud: Ehren-Rettung (wie Anm. 8), S. 65 f. Ebd. – Vgl. Anm. 48. In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. Stuttgart: Hiersemann 1978–1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, 300–301), hier Teil 2, S. 666 f. Simon Dach: »Mey=Liedchen. Festinetur Hymen dum vernas flore juventae.« In: ZIESEMER I, S. 90 f., hier V. 1 f.

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hüllt sich ihm jenseits des inszenierten Kontrastes eine Parallelwelt, die durch den beiden Sphären gemeinsamen ökonomischen Diskurs strukturiert wird. Die Bauernwelt bei Simon Dach ist generell, wie bei Johann Rist, eine Welt, die vom ökonomischen Diskurs beherrscht wird. Dies klingt auch außerhalb des »Grethke«-Lieds in anderen Gedichten Simon Dachs immer wieder an: Martin ist schon vorbey: der Bawer bringt die Gelder Vnd waß er jährlich gibt, den Zinß der fruchtbarn Felder Den Ämptern häuffig ein, nachdem er in der Stadt 45 Für zimlich thewren Kauff sein Korn gelassen hat.

Auch das »Grethke«-Lied ist durchzogen von diesem ökonomischen Diskurs. Die drastische Schilderung der Liebessymptome wird ergänzt, wenn nicht sogar überlagert von wirtschaftlichen und formal-juristischen Argumenten. In Strophe 3 wird von einem »Schnuppeldock« gesprochen, daß Grethke dem Knecht geschenkt habe. Dabei handelt es sich um einen ostpreußischen Brauch, der auch im zweiten der drei niederdeutschen Zwischenspiele von 1644 dargestellt wird. 46 Daß dem Bräutigam von der Braut geschenkte Taschentuch ist ein Zeichen der Verlobung, entsprechend dem in anderen Landstrichen üblichen Verlobungsring, und dokumentiert so die rechtliche Vorstufe zur Heirat. Grethke hat also, wenn sie ihre Absicht wahr macht, einen anderen zu heiraten, ihr Eheversprechen gebrochen, ohne daß wir den Grund dafür erfahren. Die Welt der Bauern erweist sich als eine Welt rechtlicher Unsicherheit, als eine Welt, in der zudem noch das Faustrecht, das Recht des körperlich Stärkeren gilt. Die Mehrzahl der Strophen enthält ökonomische Argumente. Diese Argumentation setzt in Strophe 4 ein, mit der Erwähnung der Brautgabe (»Wedem«), und wird in Strophe 5 anhand der Geschenkthematik breit entfaltet: Doch dat möcht rehd alles syn: Düt iß dat mi drücket, Dat ick dy hebb all dat myn Heimlich thogestecket. [in den Arß gesticket] Wettstu ock nicht den roden Rock, Ey, dey Strümp un de fyn SchockLewend tho der möder? Ja wat, all myn göder!

Das Thema der Brautgabe wird in den Strophen 12 und 13 dann noch weiter entwickelt. Der Knecht ist der einzige Erbe eines reichen Bauern, der hauptsächlich von Viehzucht lebt. Wenn seine Angaben stimmen, wäre er durchaus eine gute Partie für die Magd Grethke, was von deren Herrin bestätigt wird. Der Konkurrent ist im Gegensatz hierzu als unehelich Geborener ohne Besitz (Str. 11) und auch von seiner persönlichen Disposition her wohl nicht in der Lage, einen Hausstand zu gründen. _______ 45 46

Dach: [Inc.:] »Schaw Herr daß Wetter an, daß Laub ist von den Bäumen«. In: ZIESEMER I, S. 302–305, Str. 2. Vgl. Bolte: Drei Königsberger Zwischenspiele (wie Anm. 28), »Interscenium secundum«, S. 129.

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Zu all dem kommt noch hinzu, daß das Ich Grethke und deren Mutter schon reichlich mit Geschenken bedacht hat, ja all seinen Besitz (»all myn göder«) hergeschenkt hat (Str. 5). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das Ich sei einer Heiratsschwindlerin zum Opfer gefallen. Der der Bauernrolle entsprechend einfältige Knecht verausgabt sich ökonomisch – die in Strophe 6 angesprochene körperliche Arbeit ist ja ebenfalls eine ökonomische Kategorie – und wird, als er in dieser Hinsicht nichts mehr zu leisten vermag, als unbrauchbar zurückgelassen. Vergleicht man das »Grethke«-Lied mit der schon genannten Klage eines verliebten Schäfers vber die Vntrew seiner Phyllis, fällt gerade wegen der Parallele der Sprechsituation die Dominanz des ökonomischen Diskurses um so stärker auf. Obwohl das Schäferlied mit 22 Strophen umfangreicher ist, wird der wirtschaftlichen Seite der Liebesbeziehung nur eine Strophe gewidmet: Was hab’ ich mir nicht vnverdrossen 47 Entzogen, vnd Ihr zu=gesteckt? Sie hat stets meiner Milch genossen, Mit meiner Wolle sich gedeckt, Daß Sie nur möchte zierlich prangen, 48 Bin ich offt nackt vnd bloß gegangen.

Auch hier hat sich ein Schäfer für seine undankbare Geliebte wirtschaftlich ruiniert, aber im Kontext der Schäferwelt tritt dieses Motiv nicht dominant hervor. Gerade die schäferliche Rolle entschärft das ökonomische Problem. Der Schäfer tötet sich aus Liebeskummer, nicht aber, weil er wirtschaftlich ruiniert ist. Die zweimalige Absenkung des Decorums im Bauernlied ermöglicht nicht nur den Entwurf einer grobianischen Gegenwelt, sondern stärker als in der Schäferlyrik den Entwurf einer ökonomischen Parallelwelt, die nicht so ohne weiteres als negative Genreszene in die städtisch-adlige Welt integriert werden kann. Denn gerade auch hier bestimmt das ökonomische Denken die Heiratspraxis. Der breit entfaltete ökonomische Diskurs wirkt nicht wie ein Zerrspiegel, sondern eher wie ein Vergrößerungsglas. Der ökonomische Diskurs ist in den Hochzeitsgedichten nicht, wie das obszöne Sprechen, tabuisiert. Gerade wenn Kaufleute heiraten, kann er zum Ausgangspunkt der inventio für lateinische und hochdeutsche Gedichte werden. 49 Das »Grethke«-Lied entwirft in dieser Hinsicht also keine Gegenwelt. Von einer Schäferwelt aus betrachtet mag das Insistieren des Ichs auf okönomischen Argumenten auf mangelnde Liebe hindeuten, doch dem städtisch-ökonomischen Denken dürften diese Argumente vertraut vorkommen. All die plausiblen Argumente, die das Ich anführt, bleiben aber letztlich folgenlos, da Grethke neben den erotischen auch die ökonomischen Früchte der Liebesbeziehung schon gepflückt hat. Sie hebelt durch ihr betrügerisches Verhalten die Gesetze des Diskurses aus. Nicht nur, daß sie die _______ 47 48 49

Vgl. im »Grethke«-Lied die Wendung in Str. 5: »heimlich thogestecket«. Simon Dach: »Klage eines verliebten Schäfers vber die Vntrew seiner Phyllis.« In: ZIESEMER I, S. 70 ff., hier Str. 10. Vgl. die Bremer Beispiele bei Fuchs: HimmelFelß und Glückes Schutz (wie Anm. 37), S. 116 ff.

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Verlobung bricht, sie bricht auch das elementare Gesetz des ökonomischen Tausches, das do ut des. Die bäuerliche Welt des »Grethke«-Lieds zeigt sich als eine gesetzlose Welt, in der Abmachungen nicht gelten, und in der entweder der Stärkere siegt, oder derjenige, der am besten zu betrügen versteht. Dieser Bauer im Städter ist gefährlicher als der bloß grobianische Bauer. Er verbirgt sich geschickter und ist daher nicht so schnell als ein solcher auszumachen und zu beseitigen. Jedenfalls schwinden die durch die zivilisatorischen Standards erzeugten starken Unterschiede, wenn man das ökonomische Denken betrachtet. In diesem Punkt rücken Bauern und Städter dann doch wieder nahe zusammen, die Bedrohungen sind dieselben. Das Niederdeutsche erweist sich so als Sprache, die man auch in der Stadt versteht. Ist der Ausgangspunkt bei der Konstruktion des Volkstümlichen zunächst das Bestreben nach maximaler Distanz zwischen Stadt und Land, so kehrt der Bauer durch die Hintertür der Ökonomie wieder herein und weilt mitten unter den Städtern. Die Konstruktion fremder sozialer Welten genügt nicht, um der eigenen zu entkommen.

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ANHANG Alia et nova cantilena amatoria rustica. Interpunktion und Schreibung nach: ZIESEMER I, S. 73 f. [1] Grethke, warumb heffstu mi Doch so sehr bedrövet? Wettstu och noch, wo ick di Hebb alltidt gelevett? Wo ick umb die, hor, alleen Gestern so erschrecklich green, Ock nich einen beten Hebbe mögen freten?

Grethke, warum hast du mich doch so sehr betrübt? Weißt du denn noch, wie ich dich allzeit geliebt habe? Wie ich um dich, höre, allein gestern so schrecklich flennte, auch nicht einen Bissen fressen konnte?

[2] Och, du wettst nicht, wo ’tt mi schmart, (Ick kan ’t nich verschwiegen) Dat ein ander Kerdel ward Di tho eigen kriegen Un ick also aff moth stahn, Ock allein tho Bedde gahn: Ick sy ungelagen Von di sehr bedragen.

Ach, du weißt nicht, wie es mich schmerzt, (Ich kann’s dir nicht verschweigen) daß ein anderer Freier/Kerl wird dich zu eigen kriegen und ich daher abstehen [verzichten] muß, und allein zu Bette gehen. Ich bin ungelogen sehr von dir betrogen worden.

[3] Aver hör doch, weistu ock, Wo du di verschwaren, Als du mi datt Schnuppeldock Drup geffst tho verwaren, Wi wyr ts Avends mannichmal Vns gepust von baven dal, Upn Schoppen gestegen, Ock thosammen gelegen?

Aber hör doch, weißt du auch, wie du dich verlobt hattest, als du mir das Taschentuch darauf zu verwahren gabst, wie wir des Abends machmal uns geküst haben von oben nach unten, Auf den Dachboden gestiegen sind, auch beieinander lagen?

[4] Pfu! wo hebb ick dwatscher narr Mi so sehr verdupet! Oft sed use Herr de Parr: »Knecht, du bist besöpet!« Schimp du mi dei Wedem nicht,

Pfui, wie hab ich törrichter Narr

Ick hebb manchen bösen Stich Men von dynetwegen Tho verstahn gekregen.

mich so sehr (in dich) versehen? Oft sagte unser Herr, der Pfarrer: »Knecht, du bist besoffen!« Spotte nicht über dein Pfarrhaus [oder Brautgabe], Ich habe manche böse Stichelei deinetwegen zu hören bekommen.

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[5] Doch dat möcht rehd alles syn: Düt iß dat mi drücket, Dat ick dy hebb all dat myn Heimlich thogestecket. 50 Wettstu ock nicht den roden Rock, Ey, dey Strümp un de fyn SchockLewend tho der möder? Ja wat, all myn göder! [6] Vnd dat was noch nich genog; Wenn du uthgiengst rallen

207 Doch dem sei, wie ihm sei: Dies ist es, was mich bedrückt, daß ich dir all das Meine heimlich zugesteckt habe. Weißt du nicht mehr den roten Rock, ei, die Strümpfe und die feine Schockleinwand 51 die ich der Mutter gegeben habe? Ja was, alle meine Güter!

Wol ick di gefallen, So most ick in dine stell All dat Vehe van dem fell In die ställe jagen Vnd mi vor di plagen.

Und das war noch nicht genug; Wenn du ausgingst, um zu schwatzen [Possen treiben] mit den Bauernknechten in die Schenke, wollte ich dir da gefallen, so mußte ich an deiner Stelle das ganze Vieh vom Feld in die Ställe treiben, und mich für dich plagen.

[7] Als di Mödder Krögers Knecht Wold ein Ohrfieg gewen, Dat du van em na gesecht, Wat he hadd bedreven: Kyld ick mi mit em herum, Awerst hey was mi tho schlim, Schlog mi, dat ick liggen Most gan up dem rüggen.

Als die Mutter Krögers Knecht eine Ohrfeige geben wollte, weil du von ihm nachgeredet hattest, was er getan hatte, prügelte ich mich mit ihm herum, aber er war mir zu arg, schlug mich, daß ich auf den Rücken zu liegen kam.

[8] Blödd ick do nich als ein Schwin, Leth na Hus mi ledden, Reep ick do nicht, dat Valntin Mi most kamen redden? Myne Nese was entwey, Myn Ogen als ein Hönerey Schrecklich opgequollen, Ock schier thogeschwollen.

Blutete ich da nicht wie ein Schwein, ließ mich nach Hause führen, rief ich da nicht, daß Valentin mich mußte retten kommen? Meine Nase war entzwei, Meine Augen wie ein Hühnerei schrecklich aufgeschwollen, ja schier zugeschwollen.

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Mit den Burknechts in den Kroch,

Ursprünglich »in den Arß gesticket« (»in den Arsch gesteckt habe«); von Stobäus verändert, vgl. Anm. 39.

Schockleinwand: »gewöhnliche leinwand in stücken von 60 ellen« (DWb 9 (1899), Sp. 1438).

208 [9] Schla, du Schelm, du Barensteck, Dat du most versuren! Holl, ick war wol wedder preck Einmal up di luren. Ick hebb up die, Bodelsknecht, Einen Prügel thogelecht, ’k will dy so veel gewen, Dat du kum salst lewen. [10] Vaken dacht ick: »Nu, du moest Gnogsam umb se liden«; Dennoch hestu dine Lust

Bernhard Jahn

Schlag, du Schelm, du Bärenstück, Das du versauern mögest! Warte, ich werde wohl wieder gründlich einmal dir auflauern. Ich habe für dich, du Henkersknecht, einen Prügel zurecht gelegt, ich werde dir so viel geben, daß du kaum überleben wirst. Oft dachte ich: »Nun, du mußt

Mi so sehr tho brüden. Doet nich mehr, edt is nicht recht, Hefft doch dine Frow gesecht: »Warstu dißen freyen, ’d ward di nicht gerewen.«

nur duldsam um sie leiden«; dennoch hast du dein Vergnügen daran, mich so sehr zu quälen. Hör auf damit, es ist nicht recht, hat doch deine Herrin gesagt: »Wenn du den heiratest, wird’s dich nicht reuen.«

[11] Iß hey nicht ein Horenkind? Segg, wer iß syn Vader? Supt hey sick nich doll vnd blind, Makt ock gerne Hader? Tho der Arbeit iß hey ful, Hefft ein loß verhawen Mul, Plegt mit dem tho pralen, Wat he hefft gestalen.

Ist er nicht ein Hurenkind? Sag, wie heißt sein Vater? Säuft er sich nicht um den Verstand, fängt auch gerne Streit an? Was das Arbeiten betrifft, ist er faul, hat ein loses, freches Maul, pflegt mit dem anzugeben, was er gestohlen hat.

[12] Ick bin eines Schäpers Sehn Uth dem Dorp Poßnicken, Myn Vader de heet Hans Drön, Ener von den Ryken. Öff ick schon jetzunder deen, Ick bin moderlick allein: Ward de Vader starven, Warr ick alles arven.

Ich bin eines Schäfers Sohn, aus dem Dorf Posnicken, mein Vater heißt Hans Drön, er ist einer von den Reichen. Wenn ich auch jetzt in Diensten bin, so bin ich doch mütterlicherseits allein. Wenn der Vater stirbt, werde ich alles erben.

[13] Denn so werstu sehn uthgahn Köy, Schap unde Lemmer, Beth thom Buck im Grase stahn, Welcke di en emmer Söte Melck twemal den Dach

Dann wirst du ausgehen sehen Kühe, Schafe und Lämmer, bis zum Bauch im Grase stehen, welche dir für immer süße Milch zweimal am Tag

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De de Wolff gefreten, Als du sulvst warst weten.

geben werden, wie es die Bunte zu tun pflegte, die vom Wolf gefressen wurde, wie du ja selbst wissen wirst.

[14] Ja, keen levigs, loset Wort Salstu van mi hören, Ick wil dy ock fort vnd fort Leven vnde ehren, Vnd ick kan ja angers nicht, Dann du makst mi levendig Pussen dine lippen, Di von Honig drüppen.

Ja, kein freches, loses Wort wirst du von mir hören, ich will dich immerzu lieben und ehren, und ich kann ja nicht anders (denn du machst mich lebendig) deine Lippen küssen, die von Honig triefen.

[15] Wenn ick na dy seh vam Kohr, Wor du plegst tho sitten, So heffstu, los kleine Hoer, Solcke ronge Tütten, Ock solck ronget Angesicht, Also dat mi solver dücht, Dat du, schmucket Meken, Appel most affsteken.

Wenn ich nach dir schaue, vom Chor aus, dorthin, wo du zu sitzen pflegst, so hast du, kleine treulose Hure, solch runde Brüste, auch solch ein rundes Gesicht, daß es mir scheint, daß du, schmuckes Mädchen, die Äpfel übertriffst.

Gewen, als de bunte plag,

[16] Darumb schluth mi in din Hart, Lath den andern fahren, De di nich so leven ward, Kom, dat wi uns paren. Kom, wi hebben hoge Tydt: De sick alltho old befryt Und von Krafft is kamen De hefft schlechten Framen.

Darum schließ mich in dein Herz, Laß den anderen ziehen, der dich nicht so lieben wird. Komm, laß uns heiraten. Komm, es ist schon höchste Zeit: Wer in allzu hohen Alter heiratet, und keine Kraft mehr besitzt, der hat wenig Nutzen davon.

Wilhelm Kühlmann

»Amicitiae venerabile foedus« – Zum diskursiven Kontext und diätetischen Gehalt von Simon Dachs großem Freundschaftsgedicht * »Ännchen von Tharau« genießt verdienten Nachruhm. Für mich aber verband sich der Name Simon Dachs immer mit seinem Lied auf die Freundschaft. In seiner Schlichtheit, seiner argumentativen Suggestion und bekenntnishaften Zuspitzung halte ich es für eine Gipfelleistung der deutschen Poesie. Es wirkt auf mich um so nachdrücklicher, je weniger die Kategorie der Freundschaft heute noch – im Zeitalter aller möglichen ›Beziehungskisten‹ – im Sinne eines ethischen oder sozialpsychologischen Modells im Gespräch ist und je tiefer jene sozialphilosophischen Werke der Antike verschüttet sind, in denen die Freundschaft an prominenter Stelle behandelt wurde: im achten und neunten Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, dort im Zusammenhang des inneren Gefüges der Polis, 1 und dann, von Verlorenem abgesehen, in dem bewegenden Laelius-Dialog Ciceros, 2 den er im Frühjahr des Jahres 44 v. Chr., also im Jahr vor seiner politischen Ermordung, zu Papier brachte und in dem er gerade die Freundschaft über weltanschauliche Fronten hinweg bedachte. In einer deutschen Übersetzung des 16. Jahrhunderts wurde Ciceros Freundschaftskonzept unter den Leitbegriff der christlichen Nächstenliebe subsumiert. 3 Im Anschluß an das Alte Testament (bes. Sir 6, 6–17) und in christozentrischer Exegese (Jesus als Vorbild) lassen sich im 17. Jahrhundert auch Konturen einer postreformatorischen christozentrischen Freundschaftslehre erkennen. Freilich bleiben die diesbezüglichen Zeugnisse, die Elke Axmacher gültig analysiert und mit Simon Dachs Gedicht verglichen hat, recht vereinzelt: Eine Sirach-Predigt von Valerius Herberger, ein Spiegel guter Freundschaft in einem Erbauungswerk (1587) des Breslauer Pfarrers Sigismund Suevus, dazu zwei geistliche Lieder von Paul Gerhardt bzw. Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im Anschluß an Johann Arndts Gebet Um Christliche beständige Freundschaft. Der _______ *

1

2 3

Textlich erweiterte und um die Anmerkungen ergänzte Fassung des öffentlichen Eröffnungsvortrags zur Dach-Tagung in Klaipơda; auf Bitten des Herausgebers in die thematische Bandstruktur integriert. (Anm. des Herausgebers.) Leicht greifbar: Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. 7. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, 6), S. 170–216. Benutzt: M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia. Fasc. 47: Cato Maior. Laelius. Recognovit K[arl] Simbeck. ND der Ausgabe 1917. Stuttgart: Teubner 1966. Marci Tullij Ciceronis verdeutschts Büchle/ von dem Lob vnd vnderweysung der freündschaft. In: [Johann Neuber (Übers.)]: Der Teütsch Cicero. Augsburg: Heinrich Steiner 1535, Bl. LXIIIIr–LXXVIIIv; dazu Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 60), S. 291–295.

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Wilhelm Kühlmann

berühmte Theologe Johann Gerhard behandelte das Thema ›Freundschaft‹ unter dem fünften Gebot in seiner Schola Pietatis (zuerst 1622). 4 Dachs Gedicht gehört nicht zu dieser genuin geistlichen Texttradition. Bekannte Ausgangspunkte waren für ihn gewiß die in Aristoteles und Cicero verkörperten Grundurkunden der abendländischen Philosophie der Freundschaft. Hier wurden Merkmale, Bedingungen, Abgrenzungen und Gefährdungen der freien, moralisch und psychologisch qualifizierten Assoziation (»societas«) verschieden gearteter, doch in emotionaler Solidarität verbundener Individuen bedacht, einer Assoziation – jenseits aller punktuellen Zweckmäßigkeiten und lebenstaktischen Interessen, – jenseits aller ständischen bzw. familiär-biologischen Verbindlichkeiten, – jenseits der libidinös besetzten Geschlechterbeziehungen, – selbstverständlich auch noch vor allen mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen religiösen Konventikel mystisch bewegter ›Gottesfreunde‹. In Texten des 17. Jahrhunderts sind mancherlei Anregungen und Rezeptionsspuren dieser archetypischen, vor allem naturrechtlich und eudämonistisch begründeten Freundschafts-Diskurse zu verfolgen, so etwa, um herausragende Zeitgenossen Simon Dachs zu bemühen, in einer Passage von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspielen (Buch VI, Nürnberg 1646, Nr. CCXLV, S. 248 ff.): 5 3. V. Ein rechtschaffener Freund/ träget eine vereinigte und zertheilte Liebe: Vereiniget gegen dem/ den er liebet/ getheilet zwischen einem andern/ und ihm selbsten; doch also/ daß er fast den wenigsten Theil für sich behalten hat. In Erwehlung der Freunde/ sihet er auf die Tugend/ oder vielmehr auf derselben Stammwurtzel/ die Gottseligkeit/ sonder Gewinn und Wollust. 4. J. Hat er die Freundschaft einmal bestettiget/ so verharret sie unwandelbar auf des wahren Freundes Seiten. Je grösser die Noht/ je standhaffter ist die wahre Freundschaft: Gleich einem wolgeschlossenen Gewölb/ das durch den Last stärker gefüget und ineinander verbunden wird. 5. R. Wann es die Noht erheischet/ kan er mit willigem Hertzen seines gleichen/ nach eussersten Vermögen beyspringen/ ungeachtt die Ehre ein grosse Ungleichheit zwischen sie gemachet hat. Die Veränderung des Standes bringet keine Veränderung des Gemüts. 6. A. Er erfreuet sich seiner Glükkseligkeit/ weil er dardurch Mittel hat/ seinen Freunden zu dienen: Neid und Falschheit sind ihm unbewust/ ausser dem Namen/ und ob er auch solche von andern erfahren hätte/ hasset er doch solche Untreu/ und entschuldiget sie auf alle Weise/ weil er vermeinet/ die gantze Welt sey so redlich/ als er.

_______ 4

5

Vgl. die Ausführungen und Textabdrucke in: Elke Axmacher: Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Tübingen [u.a.]: Francke 2001 (Mainzer hymnologische Studien, 3), S. 232–319, zu Dach spez. S. 303–311. Axmachers Buch wurde mir erst nach Abschluß des vorliegenden Beitrags durch den dankenswerten Hinweis meines Freundes Prof. Dr. Johann Anselm Steiger (Hamburg) bekannt. Zitiert nach dem Nachdruck, hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen: Niemeyer 1969 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 18).

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»Amicitiae venerabile foedus«

7. D. Stirbt sein Hertzens-Freund/ so achtet er sich fast für halb tod/ lässet aber seine hinterlassene Waisen solcher Freundschaft Erben seyn. Er ist mittheilig in allem/ was er hat/ und hält seiner Freunde Nutzen höher/ als seinen. Seine Liebe verhüllet seiner Feinde Schwachheiten/ und Fehler/ nicht durch Unwahrheit/ sondern durch Verschwiegenheit/ und mindert selbe durch bescheidene Vermahnung. Sein Hertz ist seines Freundes Schatzkasten/ in welchem alles Anliegen sicherlich verwahret wird. Wofern aber einiger Mißverstand seine Zuneigung auflösen/ oder unterbrechen wollte/ kan solche durch ein versöhnliches Wort wieder vereiniget werden. 8. C. Er will nicht/ daß seine Wolthätigkeit gegen seine Freunde bekant seyn sol: Damit es nicht das Ansehen gewinne/ als ob er grossen Dank/ oder Wiedergeltung darbey suche. Er ist der Trost in dem Elend/ der Handleiter in der Gefahr/ die Freude des Lebens/ der Schatz der Erden/ und ein dienst- und sichtbarer Engel. Nun wollen wir hören/ wie ein Schmeichler und ein Fuchsschwäntzer sich bezeuget. 9. V. Schmeichlerey ist nicht anders als eine falsche Freundschaft/ eine schändliche Höflichkeit/ eine verdekkte Lügenkrämerey/ und ein anmutiger Zwispalt des Hertzens und des Mundes.

Dies gilt auch für das Freundschaftskapitel (III, 20) der ersten modernen deutschsprachigen Ethik, der 1669 in Wolfenbüttel erschienenen Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst des sonst als Sprachtheoretiker bekannten Justus Georg Schottelius. Ich zitiere hier nur die Gliederung und die deutschsprachigen Passagen der ersten beiden Abschnitte: 6 Summaria. 1. Amicitia quid sit. Constans est amicitia & unde. Amicitia an & quando desinat. 2. Amicitia est vel honesta, de qua dictum: vel delectabilis: solet esse transitoria. 3. Amicitia utilis quid sit. Amici ollares. 4. Amicitiae extremum in excessu quid sit. 5. Amicitiae extremum in defectu quid sit. 1. DIe Freundschaft ist eine beständige/ ehrliche/ offenbare Liebe und Gegenliebe/ Gunst und Gegengunst zwoer oder mehr Personen/ die aus einer gegengefälligen Tugend und redlicher Bezeigung herrühret. Die Freundschaft ist eine treue/ beständige Gewogenheit/ Liebe und Ehr zwischen etzlichen Personen/ so entstehet aus tugendhafter Bezeigung/ und geneigtem Wolverhalten. [...] 2. Die Freundschaft ist dreyerley/ erstlich eine rechte wahre ehrliche Wolgewogenheit/ uff Gegenliebe unter frommen und tugendhaften Leutten/ davon wir bereit erwehnt. Zum anderen/ eine liebliche/ wolgefällige/ natürliche Freundschaft/ welche ist eine Gegenliebe/ Gegentreu/ zugethane Gunst und Geneigtheit/ so herrühret aus Lust/ Freude/ Wolgefallen und natürlicher Zuneigung: Wie solche Freundschaft und Liebe/ zum Exempel/ Eltern gegen ihre Kinder/ und diese gegen die Elteren/ Mann und Weib/ auch Schwester und Brüder gegeneinander/ auch sonst junge Leute/ und alle die/ so gleicher beständiger Gemühtsneigung sein/ gegen einander zutragen pflegen. [...]

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Justus Georg Schottelius: Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. ND hg. von Jörg Jochen Berns. Bern [u.a.]: Francke 1980 (Deutsche Barock-Literatur), S. 594 ff.

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Wilhelm Kühlmann

Selbstverständlich konnte man zu Dachs Zeiten auch in poetischen Lexika 7 oder, um die eigene Bilderfindung zu beflügeln, in emblematischen Handbüchern nachschlagen. Matthias Holtzwart etwa stellte den ›wahren Freund‹ schon 1581 zum Lob der Beständigkeit im Bild einer ›ehernen‹ Säule dar, mit einer zweisprachigen subscriptio, deren deutsche Fassung lautet: 8 Ein Wahrer freündt. Ein wahrer freünd (ia wer den findt Auff diser Erd) sich wol gezimpt Einer Ehrinen seülen zwar Die sich nicht beüget vmb ein haar Ob gleich kommen starck wasser güß Oder sonst grosser regen flüß/ Oder der starcken winde krafft Die weil sie so vest ist behafft Das sie auch von des Himmels straal Nicht leichtlich fallen mag zu thal/ Also der wahre freünd sein leben Sein gut sein haab als thut hingeben Eh dan er sich last vmb ein haar Bewegen das er überfahr Das so er seinem freünd solt thun Man findt jhr aber wenig nun.

In den vergleichsweise wenigen Gedichten, in denen ›Freundschaft‹ nicht im Rahmen eines Kasualgedichts entworfen wurde, spielten allegorische Bildreminiszenzen eine beachtliche Rolle. So etwa die sich selbst explizierende weibliche Personifikation des Titelbegriffs, auch die Verbindung von Rebe und Ulme oder die Paarbindung der Turteltaube in einer Elegie, betitelt Idea Amicitiae. Ad Omnes Synceros Amicos, die Tobias Scultetus (1563 – 1620), der noble schlesische Mentor von Martin Opitz, in einem Zyklus seiner Jugendgedichte publizierte. Hier wird die Freundschaft nicht nur in ihrer moralischen Integrität, sondern auch als allumfassendes schöpferisches Prinzip der Natur gefeiert: 9 Qvae virgo? Mihi AMICITIAE venerabile nomen. Cur Nuda? á me omnis debet abesse dolus. Cur lacerum monstras pectus? Coniungit amantes Candor, & ex imo corde profecta Fides. Quid pudibunda tegis tenui velamine corpus?

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Exemplarisch: Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. ND der Ausgabe Nürnberg 1650–1653. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, Dritter Theil (1653), S. 206 f.; Janus Gruter: Bibliotheca exulum. Seu Enchiridion divinae humanaeque prudentiae. Frankfurt/M.: Lazarus Zetzner/Erben 1625, S. 53 ff.; Josephus Langius: Novissma Polyanthea [...]. Frankfurt/M.: Lazarus Zetzner 1613, S. 70–86 (zweispaltige Folioseiten!). Matthias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia [...]. Hg. von Peter von Düffel und Klaus Schmidt. Stuttgart: Reclam 1968 (RUB, 8555–8557), S. 58 f. Tobias Scultetus: Subsecivorum Poëticorum tetras prima [....]. Myrtilleti ad Nicrum. [Heidelberg]: Abraham Smesmann 1594, S. 82 (am Beginn der Teilsammlung »Philothesiorum Libellus«); für die Übersetzung danke ich meinem Mitarbeiter Dr. R. G. Czapla.

»Amicitiae venerabile foedus«

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Virtutis clueo non scelerum genetrix. Marmore quadrato quid stas? aeterna tenaxque Permaneo, ad variae Sortis utrasque vices. At quid laeva probat subiectis ignibus Aurum? Rebus in angustis fit mea nota Fides. Cur nitet armillis tibi dextra? Ante ora oculosque Hac quam promisi, semper oberrat Amor. Quid tamen aëriam vitis complectitur Vlmum? Sic se conjungunt quos semel implicui: Quid simplex Turtur? Quid Psittacus Indicus ales Concipiunt rostris foedera complicitis? Non Genus, aut Gentem peregrinave Nomina, Formam Divitiasve crepo: sit modo Candor, Amo. Quid verò adspicio Coelum, mare nubila, terram. Oppidaque & montes, pascua, rura, nemus? Quidquid alit gremio rerum Natura Creatrix Quod viget ac vivit; muneris omne mei est. (Das Bild der Freundschaft. An alle aufrichtigen Freunde. Was bist du für eine Jungfrau? Ich trage den ehrenwerten Namen Freundschaft. Warum bist du nackt? Von mir muß alle Hinterlist fern sein. Warum zeigst du eine geöffnete Brust? Liebende verbindet die Lauterkeit und die Treue, die dem innersten Herzen entspringt. Was verhüllst du schamhaft den Körper mit zartem Stoff? Berühmt bin ich als Mutter der Tugend, nicht des Lasters. Warum stehst du auf einem viereckigen Marmorsockel? Ewig und beständig verharre ich, ganz gleich, wohin das Schicksal sich wendet. Wozu prüft die Linke das Gold, nachdem Feuer darangelegt wurde? In Drangsal wird meine Treue offenkundig werden. Warum prangt von Armbändern deine Rechte? Vor dem Antlitz und den Augen soll immer meine Liebe schweben, die ich mit dieser [scil. Hand] versprochen habe. Doch was rankt sich die Rebe um die hochragende Ulme? So verbinden sich, die ich einmal umschlungen habe. Warum schließt die gewöhnliche Turteltaube, warum der Papagei, der indische Vogel, ein Bündnis mit verschlungenen Schnäbeln? Nicht das Geschlecht oder die Familie, oder fremde Namen, Schönheit und Reichtum verkünde ich laut. Es herrsche nur Lauterkeit, dann liebe ich. Warum aber schaue ich zum Himmel, auf das Meer, zu den Wolken, auf die Erde, auf Städte und Berge, die Weiden und den Wald? Alles Lebendige, das Mutter Natur in ihrem Schoß nährt, gehört zu meinem Aufgabenbereich.)

Von den bisher vorgestellten Texten, die gerade in ihrer spezifischen Eigenart einen geeigneten kontrastiven Hintergrund für die folgende Analyse abgeben, unterscheidet sich Dachs Gedicht in bemerkenswerter Weise. Es wurde als ein in geselliger Runde sangbarer Text 1640 zu Königsberg im zweiten Teil von Heinrich Alberts Sammlung geistlicher und weltlicher Lieder gedruckt. Herder nahm es 1779 in den zweiten Teil seiner Sammlung Stimmen der Völker in Liedern – ohne den lateinischen Titel und ohne die letzte Strophe – als Lied der Freundschaft mit der Bemerkung auf: »Schon die treuherzige Sprache dieses Dichters verdient Bekanntmachung und Liebe.« 10 Führen wir uns zunächst den Text vor Augen! 11 _______ 10 11

Vgl. Johann Gottfried Herder: »Stimmen der Völker in Liedern«. Volkslieder. Zwei Teile 1778/1779. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 1975 (RUB, 1371), S. 212 f. Zitiert nach: ZIESEMER I, S. 66 f.; abgedruckt auch in: Gedichte des Königsberger Dichterkreises aus Heinrich Alberts Arien und musicalischer Kürbshütte (1638 – 1650). Hg. von

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Wilhelm Kühlmann

Perstet amictiæ semper venerabile Fædus! 1. DEr Mensch hat nichts so eigen, So wol steht jhm nichts an, Als daß Er Trew erzeigen Vnd Freundschafft halten kan; Wann er mit seines gleichen Soll treten in ein Band, Verspricht sich nicht zu weichen Mit Hertzen, Mund vnd Hand. 2. Die Red’ ist vns gegeben, Damit wir nicht allein Vor vns nur sollen leben Vnd fern von Leuten seyn; Wir sollen vns befragen Vnd sehn auff guten Raht, Das Leid einander klagen So vns betretten hat. 3. Was kan die Frewde machen, Die Einsamkeit verheelt? Das gibt ein duppelt Lachen, Was Freunden wird erzehlt; Der kan sein Leid vergessen, Der es von Hertzen sagt; Der muß sich selbst aufffressen, Der in geheim sich nagt. 4. GOtt stehet mir vor allen, Die meine Seele liebt; Dann soll mir auch gefallen, Der mir sich hertzlich giebt; Mit diesem Bunds=Gesellen Verlach’ ich Pein vnd Noht, Geh’ auff dem Grund der Hellen Vnd breche durch den Tod. 5. Ich hab’, ich habe Hertzen So trewe, wie gebührt, Die Heucheley vnd Schertzen Nie wissendlich berührt; Ich bin auch jhnen wieder Von grund der Seelen hold, Ich lieb’ euch mehr, jhr Brüder, Als aller Erden Gold.

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_______ L[eopold] H[ermann] Fischer. Erste Hälfte. Halle/S.: Niemeyer 1883 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 44–45), S. 49 f. (= Arien II, 10), OESTERLEY, S. 707 f., sowie in: KELLETAT, S. 33 f. – Einzelinterpretationen dieses Lieds sind mir nicht bekannt; die diesbezüglichen Äußerungen von Barbara Sturzenegger: Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming. Topoi der Freundschaft im 17. Jahrhundert. Bern [u.a.]: Lang 1996 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 24), spez. S. 33–36, sind vernachlässigenswert.

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Bereits die kursorische Lektüre relativiert die gängige und in vielen Arbeiten der letzten Jahrzehnte bekräftigte These, man habe es beim Thema ›Freundschaft‹ im wesentlichen mit dem Kult der empfindsamen Tugendfreundschaft des 18. Jahrhunderts zu tun, also der Zeit zwischen 1740 und 1775. 12 Gleichermaßen setzte sich das Gedicht ab von jener Spielart des genuin humanistisch-rinascimentalen Freundschaftsdiskurses, der vor allem im gelehrten Briefverkehr intensiv gepflegt wurde. Nicht immer, aber doch sehr oft gehörte die Beteuerung der amicitia hier zur Apologetik der aus dem trivialen Lebenszusammenhang entlassenen gemeinsamen ›Studien‹. Sich der gemeinsamen gelehrten Kompetenz und des darauf gegründeten gegenseitigen Wohlwollens zu vergewissern, bestätigte die akademische Standesmentalität und den inneren Zusammenhalt der respublica litteraria, die sich in möglichst weitreichenden Konnexionen der eigenen Korrespondenz spiegeln sollte. 13 Dazu kam das Geflecht der auch von Dach intensiv gepflegten – hier von mir ausgesparten – Kasuallyrik, die den weiten Radius zwischen topischen Pflichtleistungen und höchst privaten, authentisch gefärbten Gefühlsbekundungen im Namen der Freundschaft abschreiten konnte. Unter den Nachrufen auf enge Freunde finden wir seit dem Humanismus auch im 17. Jahrhundert ergreifende, durchaus ›empfìndsame‹ Zeugnisse von Trauer, Schmerz und Dankbarkeit. Man denke an Paul Flemings Gedichte auf Georg Gloger 14 oder auch, um mich in den Südwesten zu wenden, beispielsweise an ein Trauergedicht, das Rompler von Löwenhalt (1605 – ca. 1676), der Gründer der Straßburger Tannengesellschaft, 1634 auf das Ableben seines jungen Freundes und Gesellschaftsgefährten Andreas Hecht, genannt Lucius, verfaßte (Auszug): 15 _______ 12

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Die ältere Forschung faßt zusammen Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München: Fink 1984; daran anschließend und wichtig der Sammelband: Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hg. von Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen: Niemeyer 1991; weiterführend nun Robert Seidel: Der empfindsame Freundschaftsbrief und die humanistische Tradition. In: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Hg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit, 98), S. 75–101; Beiträge zu einschlägigen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts bietet auch (unter anderem zu Gryphius, Zesen, Sigmund von Birken, Fleming) – ohne speziellen Bezug allerdings auf Dachs Gedicht: Ars et Amcitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Hg. von Ferdinand van Ingen und Christian Juranek. Amsterdam [u.a.]: Rodopi 1998 (Chloe, 28); weiterführend in manchen Einzelstudien ferner: Mentis Amore Ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung und Dichterfreundschaft in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhard Düchting zum 65. Geburtstag. Hg. von Boris Körkel, Tino Licht und Jolanta Wiendlocha. Heidelberg: Mattes 2001. Dazu in Weiterführung der bekannten älteren Forschungen bes. von Erich Trunz: Wilfried Barner: Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zu ihren traditionalen Voraussetzungen. In: Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft (wie Anm. 12), S. 23–46. Dazu Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig: Reclam 1989 (RUB, 1316; Biographien), spez. S. 263–280; Tino Licht: Alter Ego: Chiffre der Freundschaft bei Paul Fleming und Georg Gloger. In: Mentis Amore Ligati (wie Anm. 12), S. 243–251. Des Jesaias Romplers von Löwenhalt erstes gebüsch seiner Reim-getichte. Straßburg 1647. Mit einem Nachwort, Kommentaren und bibliographischem Anhang hg. von Wilhelm

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Wilhelm Kühlmann

O lieber Lucius! ich schätz mich für verdorben: Du bist mir auch im arm erst heit dahingestorben. Ich weys nicht/ waß ich mir doch nur gedencken soll/ Warum Gott solche leüth auß meinen armen holl; Dan/ wahrlich/ träue freünd’ die seyn ein seltzsams wesen/ Es ist auß hunderten kaum eyner außzulesen/ Der in der noth besteht/ und hältt bewährung auß/ Beforab diser zeit/ da alles in dem sauß Und würbel umherlaufft/ da frömbder völcker sitten So wol/ als auch der krieg/ das Teutsche land zerrütten: Da Teutsche redlichkeit fast gar verloschen ist; Da niemand mehr waß giltt/ der nicht foll arger list Und foller laster steckt. In solcherlei gedancken Pflegt mein gequählter geyst oft mit ihm selbs zuzancken/ Als wie der wällen flutt/ die an den fölsen schmeisst; Und ruck-warts widerum sich von dem fölsen reisst. Bald danck ich Gott darum/ daß er euch hingenommen/ Damit ihr des vertruß und übels abgekommen. Dan fällt im gegenthail mir wider gähling ein/ Wie ich nun hinder euch verlassen müse seyn: Es schmärtzt und jamert mich/ daß ich ietz mus entpären Der lieben gegenwart/ des huld-gesprächs/ der lähren/ Der anschläg etlichs dings/ so wir im sinn gehabt/ Des tugendhaften thuns/ warmit ihr hoch begabt Und weit berühmt gewest. O Lucius! dein wissen/ Geschicklichkeit und kunst/ die ich soll förter missen/ Ist gleichsam ohne zahl. Wan ich es so betracht/ So schwindt mir aller muth; da seuftz ich tag und nacht; Vermag schier weniger/ mir auß dem sinn zuschlagen/ Waß ich verlohren hab/ als kinder in der wagen Die von der muter brust erst näu-entwöhnet seyn/ Und bilden ihnen noch die gute milch-kost ein.

Simon Dach bindet seinen Freundschaftspreis allerdings nicht an die situative und kommunikative Exposition, auch nicht an die topische Schreibstrategie eines Kasualgedichts, das so wie bei Rompler die besonderen privaten und zeitgeschichtlichen Umstände thematisiert. Die lateinische Überschrift, lateinisch wie auch zu anderen Texten der Arien, gibt sich als Hexameter in imperativischer Fügung und gnomisch-feierlicher Verdichtung zu erkennen, die Art, Bewertung und Rang des Themas ›Freundschaft‹ unmißverständlich vorwegnehmen. Es scheint sich nicht um ein komplettes Zitat zu handeln. Der Vers ähnelt dem Schluß eines aus drei Distichen bestehenden Poems, das Catull an eine ungenannte Geliebte, wohl an Lesbia, richtete und in dem er den lebenslangen Fortbestand der gegenseitigen Liebe beschwor (Catull 109, hier V. 5 f.): »ut liceat nobis tota perducere vita | aeternum hoc sanctae foedus amicitiae.« Dach wird es jedoch ferngelegen haben, so wie Catull den erotischen ›amor‹ mit dem Freundschaftsbegriff verschmelzen zu lassen. Eher wollte er gewiß die Rede vom ›venerabile foedus‹ in jener Perspektive erneuert wissen, in der sie sich auf _______ Kühlmann und Walter E. Schäfer. Tübingen: Niemeyer 1988 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 38), S. 79–83, hier S. 80 f.

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das gern heroisierte Bündnis bekannter Freundespaare bezog. So verknüpfte im Hochmittelalter schon der englische Zisterzienser Aelred von Rievaulx (ca. 1100 – 1167) in seinem Traktat De spiritali amicitia das ›foedus venerabile‹ mit der Erinnerung an David und Jonathan, 16 dabei den Wortlaut der Vulgata aufgreifend (1 Kön 18, 3): »inierunt autem Ionathan et David foedus.« Der sächsische Schulmann und Lyriker Gregor Bersmann (1538 – 1611) ging Dach stilistisch insofern voran, als er in seiner Elegie über »Würde und Frucht der Poesie« (De dignitate ac fructu poetices) 17 mit der Junktur »venerabile foedus« auf eines der literarisch berühmten antiken Freundespaare, nämlich die in Vergils Aeneis (IX, 168–222) episodisch verewigten Nisus und Euryalus hinwies: »At quid amicitiae valeat venerabile foedus, | Euryali caedes Hyrtacidaeque notat.« Dach vermeidet allerdings offenbar sehr bewußt nicht nur emblematische Bildlichkeit (wie oben bei Scultetus), sondern die historischen und mythischen Exempel des christlichen Humanismus, verzichtet also auf den naheliegenden ›Schmuck‹ seiner lyrischen Rede durch jene Art der stilistisch erhabenen ›Amplifikation‹, wie sie etwa in der Poetik des zeitgenössischen Jesuiten Jacob Masen unter dem Lemma »amici« in Merkversen über berühmte Freundespaare kodifiziert waren: 18 Euryalum Nisus, Pollucem castor amavit. Thesea Perithous, Pyladem dilexit Orestes. Et Damon Pythiae, Patrocloque est fides Achilles. Davidi erat Ionathas, Eliphas, conjunctus Iobo.

Statt solcher persuasiver Reminiszenzen (also ›äußerer‹ Argumente) setzt Dach ein mit einer anthropologischen Behauptung, die auf das proprium, also auf die Wesenseigentümlichkeit des Menschen zielt: »Der Mensch hat nichts so eigen« (V. 1). Seit Aristoteles, erst recht in der gesamten scholastischen Tradition bezeichnete das proprium diejenige Prädikation, die für alle unter den Leitbegriff fallenden Individuen Notwendigkeit beansprucht, also eine »Qualität im Sinne einer natürlichen Beschaffenheit, ohne die ein Ding nicht sein kann«. 19 In dieser Optik ist demnach der Mensch nur insoweit Mensch (der Mensch im Verbund mit »seines gleichen«, V. 5), als er ein treuer Freund sein kann, was andere Wesensmerkmale nicht ausschließt, jedoch diese als minderen Rangs ausweist. Nicht Moralisches wird also als oberste Begründungs- und Argumentationska_______ 16

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Aelredus Rievallensis: De spiritali Amicitia. In: Ders.: Opera Omnia. Bd. 1. Opera ascetica. Hg. von Anselm Hoste, O.S.B. und C[harles] H[ugh] Talbot. Turnhout: Brepols 1971 (Corpus Christianorum, Continuatio mediaeualis, 1), S. 314. Gregor Bersmann: Poemata. Leipzig: Hans Steinmann 1576, hier in der Sammlung »Encomiastica«, S. 136–186, El. II, S. 138–144. Jacob Masen SJ: Palaestra eloquentiae ligatae. Köln: Hermann Demen 1682, Lib. II, cap. XIX, S. 271. – Zu diesen Exempeln dann Gedichte wie Jacob Balde SJ: »Pyladis hortus. Symbolum amicitiae« (carm. I, 14). In: Ders.: Opera Poetica Omnia. ND der Ausgabe München 1729. 8 Bde. Hg. und eingeleitet von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Frankfurt/M.: Keip 1990, hier Bd. 1, S. 17 f. Nach H. M. Baumgartner, P. Kolmer: Proprium. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, Sp. 1525 ff.

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tegorie bemüht, vielmehr wird eben diese moralische Qualität einer gattungsspezifisch gedachten humanitas subsumiert. Auch Ciceros Laelius wollte Freundschaft »allen menschlichen Dingen voranstellen« und in einem letzthin eudämonistischen Konzept diskutiert wissen, das die Natur als »optimam bene vivendi dux« (§ 19) apostrophierte. Erst im zweiten Vers kommt bei Dach Moralisches ins Spiel: »So wohl steht ihm nichts an«. Hier gesellt sich zur Kategorie des proprium die des decorum oder honestum, letzthin zurückzuführen auf das griechische prepon, das vor allem über Ciceros De Officiis in die Diskurse der abendländischen Ethik eindrang, hier verstärkt in der Periphrase jener vielbeschworenen constantia (Beständigkeit), die »nicht weicht« (V. 7) und den ganzen Menschen (»Hertz, Mund und Hand«, V. 8) umfaßt. Es geht um Gesinnung und Tat, aber auch um jene Qualität der interhumanen Kommunikation, die sich jeder simulatio und dissimulatio enthält und jenes discidium linguae atque cordis vermeidet, das in der Barockmoralistik – so wie oben bei Harsdörffer – immer wieder als Zeitsignum einer notwendig verstellten, vor allem der höfischen Rede angegriffen wurde. Das »Band« (V. 6) der Freundschaft realisiert sich in den konnotierten Tugenden der ›Aufrichtigkeit‹ und ›Redlichkeit‹, die von Dach in der letzten Strophe negativ, kontrastiv und in einer argumentatio ex silentio der »Heucheley« (V. 35) entgegengesetzt werden. Mit der ersten Strophe wählt Dach ein topologisches Verfahren, das einem verbreiteten Modus der rhetorischen inventio gehorcht. Demnach organisiert sich jede persuasive oder meditative Rede im Wechselspiel von thesis und hypothesis, d.h. der einzelne Fall oder das konkrete Beweisziel einer hypothesis war – so seit den antiken Rhetoriken – adäquat nur im Aufstieg zu allgemein gültigen Gesichtspunkten (loci communes) anerkannter Sach-, Handlungs- und Verhaltenskategorien zu behandeln. 20 Hier wird zunächst im höchstmöglichen Verallgemeinerungsgrad gesprochen, nämlich in der Ableitung der Freundschaft vom Wesen des Menschen selbst. Verfestigt sich demgemäß in der ersten Strophe noch die traditionelle moralische Wertung im Rahmen einer anthropologischen Axiomatik, stößt Dach im folgenden gerade deshalb in Zonen des während der Barockzeit nur selten Formulierten vor, weil er das überkommene humanistische Theorem, daß sich nämlich in der geformten Sprache bestialitas von humanitas scheide, zwar anklingen läßt, aber in ebenso unscheinbarer wie spektakulärer Akzentuierung umbiegt. Es geht um die ›Rede‹ als privaten sermo, um das vertrauliche, ja das intime Zwiegespräch, das dialektisch mit der Fähigkeit zusammenhängt, sich ›selbst zu befragen‹, Rat offenbar gerade in eigener Fragwürdigkeit anzunehmen (V. 13 f.), ja sich jenseits aller repräsentativen Selbstdarstellung auch im ›Leid‹ einander zu öffnen (V. 15 f.). Dach meint also nicht die elaborierte, die persuasive und pragmatisch gesteuerte oratio, nicht die erlernte copia verborum, nicht die repräsentative Rede, erst recht nicht die polierten Regeln der Konversation und der »Kunst, zu gefallen« (l’art de plaire). Dies Gedicht vermeidet die etablierten Diskurse zum Lob der Rede_______ 20

Dazu im einzelnen Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen: Niemeyer 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 3), spez. S. 113–116.

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kunst und braucht sich deshalb nicht zu verwickeln in jene scharfe antinomische Interdependenz, in der Andreas Gryphius in einem berühmten Chorlied des Leo Armenius die herrscherliche Macht der ›Zunge‹ pries, um sie dann um so stärker zu disziplinieren. Bei Gryphius bedingen sich gegenseitig Macht und Mißbrauch, Glorie und sündige Gewalt der menschlichen Sprache: 21 Das Wunder der Natur/ das überweise Thier Hat nichts das seiner zungen sey zugleichen Ein wildes Vieh’ entdeckt mit stummen zeichen Deß innern hertzens sinn; mit worten herrschen wir! [...] Lernt/ die jhr lebt/ den zaum in ewre Lippen legen! Im welchen heil und schaden wohnet/ Vnd was verdammt/ und was belohnet. Wer nutz durch wortte such’t/ sol jedes wort erwegen. [...]

Dach dagegen rühmt die Freundschaft als Form des Miteinanders, in welcher die intime Freiheit des Wortes den Ausdruck der gesamten Affektivität des Menschen zwischen »Leid« und »Frewde« (Str. 3) nicht nur erlaubt, sondern sogar erfordert. Auch hier konnte er sich auf Cicero berufen, der das freundschaftliche Gespräch als Frucht der »mutua benevolentia« und so als quasi ergänzende Möglichkeit des Selbstgesprächs in allen widrigen und erfreulichen Umständen beschrieb (§ 22): 22 Was gibt es Süßeres, als jemanden zu haben, mit dem man alles so wie mit sich selbst besprechen kann? Was wäre denn die Frucht des Glücks, wenn du niemanden hättest, der sich darüber so wie du freuen würde? Unglück aber wäre kaum zu ertragen ohne den, der darunter noch mehr als du leidet.

Dies entspricht der letzten Strophe von Baldes Pylades-Ode, die zweifellos ebenso Cicero assoziieren läßt: 23 Cur diu celes animi dolorem? Prome: dispersus minuetur extrà. Qui tibi luget, tibi gaudet; hic est Verus Amicus. (Warum verhehlst du lange den inneren Schmerz? Laß ihn heraus; er mindert sich, wenn er sich draußen verflüchtigt. Wer mit dir trauert, sich mit dir freut, der ist ein wahrer Freund.)

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Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 5: Trauerspiele II. Tübingen: Niemeyer 1965 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 14), S. 24 f.; Auszug: V. 509–512 und 541–544. Zur Interpretation des vielbehandelten Chorlieds siehe die ausführlichen und forschungsgeschichtlich grundierten Ausführungen von Ralf Georg Bogner: Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1997 (Frühe Neuzeit, 31), S. 1–43. Nach der Edition von Simbeck (M. Tulli Ciceronis Scripta [...] omnia [wie Anm. 2]), S. 54: »quid dulcius quam habere quicum omnia audeas sic loqui ut tecum! Qui esset tantus fructus in prosperis rebus, nisi haberes qui illis aeque ac tu ipse gauderet? adversas vero ferre difficile esset sine eo qui illas gravius etiam quam tu ferret.« Balde: »Pyladis hortus« (wie Anm. 18), S. 18.

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Wilhelm Kühlmann

Dach geht noch darüber hinaus. Er akzentuiert die diätetische, die zur gesunden, erst recht: zur glücklichen Lebensfristung geradezu notwendige Funktion des freundschaftlichen Gesprächs, das nicht nur die Überwindung der individuellen Isolation ermöglicht, sondern die selbstzerstörerische Introversion als Form und Folge von fremder und autogener Unterdrückung verhindert. Eine hellsichtige Diagnose, die im weiteren epochalen Umkreis der Diagnose von Melancholie ihren systematischen Ort besaß, zugleich in den Rezepten der seit Luther üppig anschwellenden Literatur zur geistlichen wie weltlichen Therapie (darunter auch das freundschaftliche Gespräch und die befreiende Geselligkeit) psychosomatischer Beschwerden mancherlei Anhaltspunkte fand (V. 23 f.): »Der muß sich selbst aufffressen, | Der in geheim sich nagt.« 24 Es geht nicht nur um den wechselseitigen Gedankenaustausch, sondern um ein ›Erzählen‹ (V. 20) als Akt der Befreiung, um psychisch entlastende Offenbarung des Innersten mit dem Freunde als Zuhörer. Bei Aristoteles und Cicero war Derartiges, soweit ich sehe, nicht zu finden. Indem Dach latent gegen alle Vorstellungen der stoizistischen Autonomie und Autarkie polemisiert, den Ausdruck der Affekte bejaht, ja als unabdingbar für ein gelingendes Leben feiert, scheint er Alltagserfahrungen und Alltagsnöte ins poetische Wort zu bringen. Die topischen Fragen, ob und inwieweit Freundschaft (etwa im Kontext der sapientia) als Tugend zu verstehen sei oder Tugendhaftigkeit bzw. Frömmigkeit voraussetze (so Harsdörffer und Schottelius, wie oben zitiert), werden von Dach im Zentrum seines Lieds ganz ausgeblendet. Nur scheinbar nimmt das Gedicht mit der vierten Strophe eine religiöse Wendung. Es geht Dach nicht darum, Frömmigkeit nun als Kriterium der Freundschaftswahl herauszustellen. Gott ist das höchste affektive bonum des Ichs. Indem es in gebotener Hierarchie dem Freundschaftsbund (dem ›foedus‹ – siehe den Titel – der »Bunds=Gesellen«, V. 29) korreliert wird, erscheint dieser in seinem Wertgehalt erhöht. Diese Erhöhung äußert sich in der hyberbolischen Fügung der Verse 29 bis 32. Gemeinsam mit den Freunden oder dem Freund ist ein ›Bund‹ geschlossen, der nicht nur äußere Bedrängnis (»Pein vnd Noht«, V. 30), sondern sogar die Hölle und den Tod überwindet. Blasphemisch bemüht Dach das sonst Christus vorbehaltene Bild des Abstiegs zur Hölle. Kritiker hätten darauf hinweisen können, daß hier das dogmatische Theologoumenon des ›Bundes‹ Gottes mit dem Menschen (Kern der sog. Föderaltheologie) durch eine profane Heilstat ersetzt wird. Ebenso blasphemisch wirkt die Überwindung des Todes mittels einer Form von Freundschaft, die nicht wie ältere humanistische Gedichte dem Gefährten die Sorge um den Nachruhm, die Grabschrift und das weitere Gedenken anvertraut, nur damit also den Tod ›überwindet‹. 25 _______ 24

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Im Wort »aufffressen« scheint mir das lateinische ›devorare‹ zu stecken. Dem wäre weiter lexikalisch und semantisch nachzugehen. – Zu Einzelheiten und als Einführung in die protestantischen Quellen bestens geeignet: Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der Melancholie-Therapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg: Manutius 1996. Exemplarisch Petrus Lotichius Secundus: »Ad Michaelem Beutherum. De se aegrotante«; Abdruck mit Übersetzung und Kommentar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts.

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Das Thema ›Freundschaft‹ ist Dach offenbar wichtig genug, Denkfiguren des christlichen Heilsgeschehens mit paganen Reminiszenzen zu verknüpfen, letztere vielleicht in der latenten Assoziation von Gestalten wie Orpheus und Herakles, die im antiken Mythos aus der Unterwelt zurückgekehrt sind. Mit dieser hyperbolischen Aufgipfelung der lyrischen Meditation ist der Weg frei für die in der letzten Strophe vollzogene ›performative‹ und erlebnishafte, eine in das direkte Bekenntnis mündende Bestätigung des Freundschaftsprogramms: zuletzt in der Apostrophe der »Brüder« (V. 39), in denen humanistische Freundschaft und christliche ›Brüderlichkeit‹ zur Deckung kommen. 26 Dach scheut sich nicht, aller gelehrten Prätention zu entsagen und in dieser emotionalen Klimax ältere lexikalische Bestände der muttersprachlichen Liedtradition mit geistlicher wie weltlicher Bedeutungsnuance zu bemühen (V. 37): »von grund der Seelen hold«. In der Distanzierung von dem meist als ›höfisch‹ disqualifizierten Verhaltenshabitus der »Heucheley« erscheint die Gewähr der Freundschaft als ein weltliches Evangelium, eine gesellige Utopie, die hier aller Tugendrigorosität der Moralschriften entledigt wird. Inmitten dieser Freundschaftskonzeption und Freundschaftserfahrung steht die intime, freie und entlastende ›Rede‹ als Basis und Inbegriff einer das affektive Leben erst ermöglichenden und symbolisierenden Geselligkeit, wie sie Dach offenbar im Kreise der Königsberger »Bunds=Gesellen« realisiert zu sein schien. Von Gedichten wie diesen und ihrem hier geborgenen humanistischen Erbe führen manche Fäden in die ›bürgerliche‹ Aufklärung des 18. Jahrhunderts.

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Lateinisch und deutsch [...]. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit, 5; Bibliothek deutscher Klassiker, 146), S. 422–429 und S. 1200–1203. Grundsätzlich und mit nur sparsamem Quellenbezug zum Verhältnis beider Begriffe und Verhaltensmodelle, für unser Gedicht aber kaum weiterführend: Walter Rüegg: Christliche Brüderlichkeit und humanistische Freundschaft. In: Ethik im Humanismus. Hg. von Walter Rüegg und Dieter Wuttke. Boppard: Boldt 1979 (Beiträge zur Humanismusforschung, 5), S. 9–30.

Lothar Mundt

Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik – Analysen ausgewählter Gedichte

1. Simon Dach als Späthumanist Ich möchte meinen Beitrag über den Neulateiner Dach beginnen mit dem Zitat von fünf Strophen aus einem seiner zahlreichen deutschsprachigen Epithalamien, einem Gedicht auf die Hochzeit von Christoph Kerstein und Maria von Weinbeer am 9. Januar 1651. 1 Am Anfang des Textes führt sich der Autor selbst ein und beschreibt seine Überlegungen während eines stillen Winterspaziergangs am Pregel bei der Konzeption dieses Hochzeitsgedichts, mit dem er dem Bräutigam etwas ganz Besonderes bieten will. Als er schon viele poetische Einfälle erwogen und wieder verworfen hat, kommt, angekündigt von zwei Tauben, Venus durch die Luft geflogen und belehrt ihn darüber, daß, wie schon so viele Dichter vor ihm, auch er ohne ihre Hilfe nichts zuwege bringen werde. Sie sagt: Du, so spricht sie, irrest nicht. Was wilst du dich vnterwinden Diesem Par ein Braut=Geticht, Mein Poet, ohn mich zu finden? Süsse Heyraht kömpt von mir, Niemand schreibt ohn mich von ihr. Phoebus lass’ ich seinen wehrt, Keine Muse wil ich höhnen, Wird kein Liebes=Klang begehrt, Laß sie ihre Tichter Kröhnen, Aber wer von Liebe schreibt, Venus ist es, die ihn treibt. Naso singt durch meine Gunst, Maro, der Poeten Seele, Hat fast nirgends grössre Kunst, Als wenn Dido in die Höle Mit dem Sohn Anchisen eilt Vnd die Eh=Lust ihm ertheilt. Wo bleibt gantz mein Werck, Catull, Dem an Schalckheit nichts geglichen? Wo Propert, wo mein Tibull? Wo die grosse Schaar der Griechen? Wo Secund, mein Eigenthumb? Vnd des weisen Bobers Rhum?

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Simon Dach: »Christoph Kerstein und Maria von Weinbeer.« In: ZIESEMER I, S. 259–263.

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Lothar Mundt

Küsse, Lachen, Freundlichheit, Kurtzweil, Hoffnung, Furcht, vnd Zehren, Vnd mit Gunst vermischter Streit Ist mein Volck, das ich mus nehren, Wer ihr Tichter wünscht zu seyn, 2 Bittet sie von mir allein.

Mit der Erwähnung des ihr besonders am Herzen liegenden Johannes Secundus (1511 – 1536), des durch seine Kußgedichte, die Basia, 3 berühmt gewordenen Niederländers, ist die Brücke von der antiken Liebespoesie zu der des europäischen Humanismus geschlagen, der seinerseits seine Fortsetzung findet in »des weisen Bobers Rhum«, also den Dichtungen von Martin Opitz und, so darf man hinzufügen, in denen seines Verehrers Simon Dach. Für die enge Bindung Dachs an die antike und humanistische Dichtungstradition ist gerade vorliegendes Hochzeitscarmen ein beredtes Zeugnis, wie ich kurz darlegen will. Nach ihrer von mir zitierten Rede führt Venus den Autor »über Wald vnd Hügel [...] in ein grünes Thal«, 4 in dem ständiger Frühling herrscht und das mit allen Attributen eines locus amoenus ausgestattet ist. Dort erblickt er aus der Ferne in zeitlichem Vorgriff das fröhliche Treiben des Hochzeitsfestes, das er mit seinem Gedicht beehren soll. Durch diese Vision und ihr anmutiges Umfeld hinreichend inspiriert, bringt er seinen Text glücklich zu Papier. Als er fertig ist, reißt Cupido ihm das Gedicht aus der Hand und fliegt damit auf Nimmerwiedersehen davon. Der Autor steht nun wieder mit leeren Händen da. Um aber trotzdem wenigstens etwas zu liefern, schreibt er die Wechselgesänge auf, die zwei Gruppen von Kindern des Kneiphofs, fünf Mädchen und fünf Knaben, vor dem Brautgemach abhalten. Nach Beendigung dieser Gesänge wendet er sich im Schlußteil des Gedichts der Großmutter der Braut, einer Frau Grätzsch, zu und ruft sie dazu auf, in der glücklichen Hochzeit ihrer Enkelin und der Unterstützung, die der Schwiegersohn ihr bieten werde, einen Trost für die Leiden zu sehen, die hohes Alter und Witwenstand mit sich brächten. Der ganze Text läßt sich, völlig unabhängig von den mit ihm transportierten Inhalten, auch als ein geistvoll selbstironisches Eingeständnis des Autors lesen, daß ihm in der Tat, trotz der Hilfe der Göttin Venus, nicht viel eingefallen ist, jedenfalls nicht viel Neues, wie jeder mit der Tradition der antiken und humanistischen Epithalamiendichtung vertraute zeitgenössische Leser sogleich erkennen mußte. Dach hat nämlich bei der Komposition dieses Hochzeitsgedichts auf zwei altbekannte Strukturelemente zurückgegriffen:

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Ebd., S. 260. Ioannes Nicolai Secundvs: Basia. Mit einer Auswahl aus den Vorbildern und Nachahmern hg. von Georg Ellinger. Berlin: Weidmann 1899 (Lateinische Litteraturdenkmäler des XV. und XVI. Jahrhunderts, 14). ZIESEMER I, S. 260.

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1. Mit der durch das Auftreten von Venus und Cupido bestimmten Rahmenhandlung folgt er einer von Statius mit dem ca. 89/90 n. Chr. entstandenen Gelegenheitsgedicht Epithalamion in Stellam et Violentillam (Silvae 1, 2) 5 begründeten und von Claudian 6 und Sidonius Apollinaris 7 weitergeführten Tradition, die sich bei den humanistischen Epithalamiendichtern des 16. Jahrhunderts 8 ebenso großer Beliebtheit erfreute wie bei ihren Nachfolgern in der Barockzeit. Zu den barocken Autoren, die neben Dach 9 den mythologischen Apparat um Venus und Amor/Cupido als Kompositionselement benutzt haben, gehören Paul Fleming, 10 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, 11 Daniel Casper von Lohenstein 12 und Heinrich Mühlpfort. 13 _______ 5 6

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Analyse bei Sabine Horstmann: Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike. München [u.a.]: Saur 2004 (Beiträge zur Altertumskunde, 197), S. 79–88. Claudius Claudianus: »Epithalamium dictum Honorio Augusto et Mariae« [verfaßt i.J. 398]. In: Ders.: Carmina. Ed. John Barrie Hall. Leipzig: Teubner 1985 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), S. 86–100. Vgl. Horstmann: Das Epithalamium (wie Anm. 5), S. 97–138. Sidonius Apollinaris: »Epithalamium dictum Ruricio et Hiberiae« [verfaßt vor 469]. In: Ders.: Poems and letters. With an English translation, introduction, and notes by W. B. Anderson. 2 Bde. London [u.a.]: William Heinemann 1956 (The Loeb classical library, 296), Bd. 1, S. 198–211. Vgl. Horstmann: Das Epithalamium (wie Anm. 5), S. 317. Z.B.: Ioannes Secundus: »De secundis nuptiis Nicolai Grudii fratris.« In: Ders.: Opera nunc primum in lucem edita. Facsimile of the edition Utrecht 1541. Nieuwkoop: de Graaf 1969 (Monumenta humanistica Belgica, 4), Bl. D3v–D5r; Petrus Lotichius Secundus: Elegia IV,3: »In nuptias Marci Ludovici Ziegleri, jurisconsulti, et Catharinae Reiffstockin.« In: Ders.: Poëmata omnia, quotquot reperiri potuerunt [...]. Recensuit, notis et praefatione instruxit Petrus Burmannus Secundus. Tom. I. Amsterdam: ex officina Schoutenia 1754, S. 259–278, hier S. 268 f. (V. 85 ff.); Melchior Acontius: »Aliud« [i.e. epithalamion] [das zweite seiner beiden Gedichte zu Sabinus’ Hochzeit mit Anna Melanchthon, 1536]. In: Georgius Sabinus: Poëmata et numero librorum et aliis additis aucta, et emendatius denuo edita. [Hg.: Eusebius Menius]. Leipzig: Officina Voegeliana [1563], S. 356–363; auch in: Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium pars I. Collectore A. F. G. G. Frankfurt/M.: Jacob Fischer 1612, S. 156–162 (hier unter der Überschrift: »In easdem [i.e. G. Sabini] nuptias«); Iohannes Schosserus: Elegia I,10: »De coniugio Ioachimi Struppii Medici«; Elegia IV,11: »De coniugio Henningi Hammelii Iurisconsulti, V. CL. et ornatissimae virginis Annae Ribiae, Thomae F.« In: Ders.: Poëmatum libri XI. Accesserunt Epistolarum cum ipsius Schosseri, tum amicorum […] libri III. Frankfurt/O.: Andreas Eichorn 1585, Bl. C5v–C6v und I5r–I6r. S. auch die allgemeinen Bemerkungen Ellingers zur Gelegenheitsdichtung der Italiener: Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im 16. Jahrhundert. Bd. 1: Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1929, S. 329. Vgl. außer dem oben beschriebenen Gedicht auch: Simon Dach: »Johann Siegler und Regina Oeder.« In: ZIESEMER I, S. 232 ff., und ders.: »Johann Wegner und Marien von Stein.« In: Ebd., S. 290–292; ferner die in Anm. 100 und 101 genannten lateinischen Epithalamien. Paul Fleming: Deutsche Gedichte. 2 Bde. Hg. von J[ohann] M[artin] Lappenberg. Stuttgart: Litterarischer Verein 1865 (Bibliothek des Litterarischen Vereins, 82–83), hier Bd. 1, S. 94–100 (»Liefländische Schneegräfin, auf Herrn Andres Rüttings und Jungfrau Annen von Holten Hochzeit«). Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Gesammelte Werke. Hg. von Franz Heiduk. Bd. 1: Deutsche Übersetzungen und Gedichte. Tl. 2. Hildesheim [u.a.]: Olms 1984, S.

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2. Der Wechselgesang der Knaben und Mädchen im Brautgemach ist eine Adaptation, in einzelnen Strophen sogar eine Nachdichtung von Catulls Hochzeitsgedicht Carm. 62. 14 Simon Dach erweist sich in diesen wie in zahlreichen anderen Kasualdichtungen als ein poeta doctus im Sinne der humanistischen Tradition, auf die Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey die künftigen Dichter festgelegt hat mit der Ansicht, daß alle Lehren in der deutschen Dichtkunst bei demjenigen nichts fruchten würden, »der/ nebenst dem das er ein Poete von natur sein muß/ in den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist/ vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat«. 15 Insofern unterscheidet sich Dach durchaus nicht von anderen Barockdichtern – eine Tatsache, die wegen der volkstümlich anmutenden Liedform der meisten Dachschen Gelegenheitsgedichte und einer gewissen bodenständigen Biederkeit in Habitus und Diktion leicht übersehen wird, ganz abgesehen davon, daß es trotz der umfassenden Ausgabe wenigstens der deutschsprachigen Lyrik durch Ziesemer bis heute keine gründlichen Forschungen zum Gesamtwerk Dachs gegeben hat und sich die Kenntnis weiter Leserkreise von seinem Werk auf die wenigen immer wieder gedruckten und durchaus nicht typischen Anthologiegedichte beschränkt. Allein ein Register der in den deutschsprachigen Texten vorkommenden historischen Eigennamen könnte in dieser Hinsicht sehr erhellend wirken, indem es die zahlreichen Zusammenhänge mit der Tradition humanistischer Gelehrsamkeit ans Licht holte: etwa, um nur einige Beispiele aus verschiedenen deutschsprachigen Epicedien zu nennen, _______ 12

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[637]–[647] (»Die verliebte Vereinigung der Schwanen und Rosen«), S. [648]–[656] (»Der aus dem Himmel verbannte Cupido«), S. [656]–[668] (»Die versöhnte Venus«). Daniel Casper von Lohenstein: Lyrica. Nebst einem Anhang: Gelegenheitsgedichte in separater Überlieferung. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Spellerberg. Tübingen: Niemeyer 1992 (Rara ex bibliothecis Silesiis, 1), S. [324]–[328] (»Siegender Cupido«), S. [513]–[518] (»Neu auffgeglommener Liebes=Zunder Zwischen Stein und Eichen/ Auff das Steinpeltzer und Eichische Beylager«). Mühlpfort hatte eine besondere Vorliebe für dieses Motiv; es wurde in einem großen Teil seiner Hochzeitsgedichte verwendet. S. z.B. Heinrich Mühlpfort: Teutsche Gedichte. Poetischer Gedichte Ander Theil. ND der Ausgabe Breslau [u.a.] 1686/87. Hg. u. eingel. von Heinz Entner. Frankfurt/M.: Keip 1991 (Texte der frühen Neuzeit, 8), Hochzeit-Gedichte: S. 3–6 (»Auff Hn. M. P. K. D. zu T. und Fr. M. B. g. L. Hochzeit 1658. 25. May«), S. 9–22 (»Die badende Venus an der Oder. Auf Hn. C. H. von G. und Ihr. D. M. R. v. b. Hochzeit dargestellet. 1662. 23. May«), S. 59–63 (»Abgebildte güldne Liebes=Bach/ Bey Hn. A. G. J.U.C. u. Fr. J. M. S. g. L. Hochzeit den 3. Febr. 1674«). Vgl. die Nachbildung dieser Vorlage in des Joachim Camerarius Epithalamium für Erich Volkmar von Berlepsch (1563): Joachim Camerarius: Eclogae / Die Eklogen. Mit Übersetzung und Kommentar hg. von Lothar Mundt unter Mitwirkung von Eckart Schäfer und Christian Orth. Tübingen: Narr 2004 (NeoLatina, 6), S. 132–145 (»Carmen epithalamium. Ecloga XVIII«). Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem »Aristarch« (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen »Teutschen Poemata« (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der »Trojanerinnen« (1625). Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB, 18214), S. 25.

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– in dem Exkurs über antike Götterverehrung (mit Hinweisen auf Platon, Sokrates, Romulus, Numa Pompilius und Cato) in einem Epicedium für einen Theologen; 16 – in dem Exkurs über antike und neuere, humanistische Autoren, deren Schriften auch heute noch Frucht brächten, in einem Epicedium auf den Tod des Logik-Professors Michael Eifler. 17 Genannt werden, in dieser Reihenfolge: Aristoteles, Platon, Vergil, Sannazaro, Lukan, Statius (»Papin«), Homer, Plutarch, Demosthenes, Plinius, Cicero, Erasmus und Hugo Grotius; 18 – in dem Vergleich der verstorbenen Witwe eines Königsberger Bürgermeisters mit antiken Frauen, die ebenso wie sie ihrem Mann die Treue gehalten hätten: mit Penelope, Messalina 19 und der Mutter der Gracchen; 20 – in dem Katalog der Todesarten weiser Männer wie Orpheus, Empedokles, Plinius d. Ä. und Horaz in einem Epicedium für einen Königsberger Tuchhändler; 21 – in einem Verweis auf ein Epigramm des Poseidippos von Pella aus der Anthologia Graeca (9, 359, 9 f.), das mit der Aussage endet, es sei besser, gar nicht geboren zu werden oder gleich nach der Geburt zu sterben, in einem Epicedium auf den Tod eines jungen Mannes von zwanzig Jahren. 22 Ein auffälliges und untrügliches Erbteil aus humanistischer Zeit 23 ist der große Dichterstolz, der aus vielen Gedichten Dachs spricht: die feste Überzeugung, _______ 16 17 18

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Simon Dach: »Wolverdientes Ehren=Gedächtniß.«In: ZIESEMER IV, S. 114–117, hier S. 116, Str. 25–32. Simon Dach: [Inc.:] »Sey hochbetrübt LatonenSohn«. In: ZIESEMER IV, S. 415–418, hier S. 416, Str. 10–12. Bei ZIESEMER ebd. reimwidrig »Greht« statt des auf »Brod« zu erwartenden »Groht« (V. 70 ff.): »Wo bleibt Erasmus, wo mein Greht [!] | Vnd mehr die mir und andern Brod | Ob sie es nicht gleich wissen, reichen?« Valeria Messalina – nicht etwa die berüchtigte dritte Frau des Kaisers Claudius, sondern die Frau des römischen Juristen Servius Sulpicius Rufus und Schwester des Valerius Messalla Corvinus, die, obwohl beim Tode ihres Mannes noch eine junge Frau, aus Treue zu dem Verstorbenen keine neue Ehe mehr eingehen wollte. Als ehrsame Witwe gepriesen von Joannes Ludovicus Vives in De institutione feminae Christianae, lib. 3, cap. 3 (Juan Luis Vives: Selected works. Vol. 7: De institutione feminae Christianae liber secundus et tertius. Introduction, critical edition, translation and notes. Ed. by C[harles] Fantazzi and C[onstantinus] Matheeussen. Leiden [u.a.]: Brill 1998, S. 214–217). Simon Dach: »Christliches Ehrengedächtnis.« In: ZIESEMER III, S. 334 ff., hier S. 335, Str. 19–24. Simon Dach: »Klag= und Trost=Reimchen.« In: ZIESEMER IV, S. 161 ff., hier S. 162, Str. 11. Simon Dach: [Inc.:] »ICh sang vor vielen Jahren«. In: ZIESEMER IV, S. 281 f., hier S. 281, Str. 3. Vgl. z.B. neben vielem anderen die in meinen Lemnius-Studien zitierten einschlägigen Epigramm-Verse: Lothar Mundt: Lemnius und Luther. Studien und Texte zur Geschichte und Nachwirkung ihres Konflikts (1538/39). 2 Bde. Bern [u.a.]: Lang 1983 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache, 14/1–2), hier Bd. 1, S. 93 f.; oder auch Schosserus: Poëmatum libri XI (wie Anm. 8), Bl. H4r–H6r: Elegien 4,4, auf Markgraf Joachim Friedrich, hier insbes. Bl. H4r, V. 9–14: »Aonidum citharas ne despice, vulgus iniquum | Vix benè quas dignas regibus esse putat. | Cetera praecipiti pereunt obnoxia fato, | Dulcia

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daß gute Dichtung ihrem Verfasser unsterblichen Ruhm sichere und dieser auch allen Personen zufließe, die in seinen Versen mit Lob und Anerkennung bedacht würden. 24 Ich will hierfür zwei prägnante Beispiele zitieren, zuerst die vier Schlußverse der durch Albrecht Schönes Studie 25 berühmt gewordenen Klage über den endlichen Vntergang vnd ruinirung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens 26 von 1641: Mein Lied sol mit der Zunfft der Götter mich vermengen, Darauß mich weder Fall noch Zeit noch Tod soll drengen. Es ist kein Reim, wofern ihn Geist vnd Leben schreibt, 27 Der vnß der Ewigheit nicht eilends einverleibt.

Das zweite Beispiel stammt aus einem Leichgedicht auf den Königsberger Gerichtsverwandten Christoff Behm (1648). 28 Der Verstorbene, ein Mann von 72 Jahren, wird zunächst dafür gerühmt, daß er nun in Gottes Reich lebe, den Engeln gleich und neu geboren sei. Gleich darauf aber wird er darauf hingewiesen, daß sein Name auf Erden ohne Zutun des Dichters keine Dauer haben könne: Kein Tod hat mehr Gewalt an dir, Jedennoch bleibet etwas hier, Das, wie der Leichnam, wird begraben Im fall es nicht kan Tichter haben. Dein Name, wird er nicht befreyt, Fährt stracks in die Vergessenheit, Denn Zeit vnd Fall reißt alles nieder, 29 Ohn der Poeten weise Lieder.

Ganz evident wird die starke Verwurzelung Simon Dachs in traditionellem humanistischem Dichtungsverständnis in der ersten der beiden akademischen _______

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Pieridum carmina morte carent. | His proavi, IOACHIME, tui, FRIDERICE, supersunt, | Et titulos priscae nobilitatis habent.« – S. dazu auch Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 186 f., und ders.: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier S. 952. Vgl. auch den entsprechenden Hinweis in dem Aufsatz von Axel Sanjosé: Simon Dach und die Königsberger im Kontext der deutschen Barockliteratur. In: Acta Borussica 5 (1995), S. 118–131, hier S. 126 f. Sanjosé verkennt allerdings den geistesgeschichtlichen Ursprung dieses wiederholten Insistierens Dachs auf der Unsterblichkeit seiner Dichtung und erklärt es rein psychologisch als individuelles »Selbstbewußtsein«, das aus Dachs innerlich gefestigter Selbstbescheidung, der »Akzeptanz seiner [lokal begrenzten] Situation« (S. 127), entspringe. Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2. Aufl. München: Beck 1982 (Edition Beck). ZIESEMER I, S. 91–96. Ebd., S. 96. Simon Dach: [Inc.:] »IHr Seiten greifft euch wieder an«. In: ZIESEMER III, S. 217 ff. Ebd., S. 218, Str. 16 f. Des weiteren vgl. auch Simon Dach: »An die Hn. Ober=Rähte.« In: ZIESEMER I, S. 295, Str. 5.

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Schriften, die Ziesemer im Anhang von Band 2 seiner großen Edition abgedruckt hat: der Einladung zu seiner Antrittsvorlesung im Jahr 1639. 30 Was die zweite akademische Schrift, die Trias assertionum ad rem poeticam spectantium (»Drei Thesen zur Poetik«), 31 vom folgenden Jahr betrifft, so ist hier höchst bemerkenswert der in der Auswahl der zur Begründung der drei Thesen herangezogenen Autoritäten sich manifestierende souveräne und kosmopolitische Geist, der so gar nicht zu dem Erscheinungsbild eines tüchtigen und liebenswerten, aber doch etwas begrenzten ostpreußischen Provinzautors, eines barocken ›Kleinmeisters‹, paßt, wie es uns auch aus neueren Darstellungen entgegentritt. 32 Zu diesen Autoritäten gehören neben Hugo Grotius und Tommaso Campanella auch der römische Dichter und Theologe Bartolommeo Tortoletti (1560 – 1648), der hier mit seiner in der vatikanischen Druckerei 1628 erschienenen, Papst Urban VIII. gewidmeten Iuditha vindex et vindicata 33 zitiert wird, sowie der römische Jesuit (Historiker und Rhetoriker) Famianus Strada (1572 – 1649). Dieselbe gelehrte Weltläufigkeit und souveräne Unvoreingenommenheit bezeugt auch Dachs Übersetzung 34 von neun Klageliedern des Christus Patiens aus den 1616 in Antwerpen erschienenen Poemata des niederländischen Jesuiten Carolus Malapertius (eigtl. Charles Malapert, 1581 – 1630). 35 Der Überset_______ 30

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Ad inauguralem orationem lectionibus publicis in professione poëtica praemittendam Moecenates, Patres ac Cives Academicos officiosissime invitat Simon Dachius. 1639. In: ZIESEMER II, S. 334–337. – Weiteres zu dieser Einladung und zu dem in der folgenden Anm. genannten Thesendruck in dem Beitrag von Hanspeter Marti und Lothar Mundt in diesem Band (hier im Anhang die beiden Texte mit deutscher Übersetzung und Erläuterungen). Trias assertionum ad rem poëticam spectantium in Academia Electorali Brandeburgica, quae Regiomonti Borussor. est, exigentibus id Philosoph. Faculatis statutis pro loco publicae disquisitioni subiecta Praeside M. Simone Dachio Memel. Borusso Poët. Prof. Publ. Respondente Christophoro Romano Borusso in Auditorio Maiori ad diem 18. et 19. Octob. horis antemeridianis. Regiomonti literis Reusnerianis 1640. In: ZIESEMER II, S. 337–343; in vorliegendem Band S. 98–114. – Die drei Thesen zu dieser Disputation, bei der Dach als Praeses fungierte, sind sicherlich von ihm selbst verfaßt worden (vorangestellt ist ein mit seinem Namen unterschriebenes lateinisches Huldigungsgedicht an den brandenburgischen Kurfürsten Georg Wilhelm). Vgl. z.B. die Bemerkungen von Alfred Kelletat: Nachwort. In: KELLETAT, S. 331–420, hier S. 347 f. (der Ausdruck »Kleinmeister« auf S. 348). Bartolommeo Tortoletti: Iuditha vindex et vindicata. Rom: Typis Vaticanis 1628. In Ziesemers vierbändiger Ausgabe der Gedichte Dachs finden sich – worauf hier nur am Rande hingewiesen werden kann – noch diverse andere Übersetzungen aus dem Lateinischen, teils nach antiken Vorlagen, teils nach solchen des 16. oder 17. Jahrhunderts (z.B. ZIESEMER I, S. 311–315: Nr. 281–300). Unter den Vorlagen neuzeitlicher Provenienz findet sich, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch das berühmte Lobepigramm von Jacopo Sannazaro auf die Stadt Venedig (ZIESEMER I, S. 311; hier in der Überschrift Druckfehler: »Sannararii« statt »Sannazarii«). Leider sind die einschlägigen Gedichte von Ziesemer nicht immer deutlich als Übersetzungen gekennzeichnet; auch auf den Nachweis der Vorlagen hat Ziesemer keine besondere Mühe verwandt. Das Thema hätte eine eigene gründliche Untersuchung verdient. Hier sollte es wenigstens erwähnt werden, um deutlich werden zu lassen, daß Dach sich auch auf diesem Gebiet in alten humanistischen Traditionszusammenhängen bewegt. Carl Malaperten Leidender Christus Ins Deutsche übersetzt von Simon Dachen. 1651. 2. April. Königsberg: Johann Reusner. In: ZIESEMER III, S. 370–383. – S. hierzu den Beitrag von Dieter Breuer in vorliegendem Band.

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zung hat Dach eine lateinische Prosa-Widmung an Reinhold Langerfeld, datiert vom 2. April 1651, vorangestellt, 36 in der er zunächst mitteilt, daß er schon früher Werke von Malapertius mit größtem Interesse gelesen habe und die Lektüre einer ihm von einem Freund übermittelten Abschrift der Elegien des Leidenden Christus in der Passionszeit des Jahres 1651 in ihm sogleich den Wunsch geweckt habe, an eine deutsche Übersetzung heranzugehen, um die Intensität frommen Empfindens bei der Betrachtung des Kreuzesleidens Christi zu steigern und das Bild dieses Leidens seinem Herzen tiefer einzuprägen. Dem an einer protestantischen Universität zu erwartenden Vorwurf, daß er mit der Druckfreigabe dieser Übersetzung das Werk eines Andersgläubigen verbreite, begegnet er mit diesen denkwürdigen Worten: Hominem a nobis in fidei professione dissidentem nostris legendum propinasse culpabor, at cur? non dissidium hic religionis ullum, si quid scrupulosius rimantem offendat, id in nostro sermone ita opinor temperavi, ut litigandi mecum ansam omnem praeciderim. quam saepe illorum, quos damnamus, ipsi aut plumis nos ornamus aut vitula aramus, nomina autem ingrati dissimulamus. magna certe operarum nostrarum pars cum gratia simul periret, si ab illis abstinendum omnino esset. pietatem, quocunque sive ore proferatur seu calamo scribatur, suscipiendam esse censeo perinde ut virtutem etiam in gentilibus 37 admiramur atque amplectimur. (Man wird mich dafür tadeln, daß ich einen von unserem Glaubensbekenntnis abweichenden Autor unseren Leuten zur Lektüre angeboten hätte. Doch weshalb? Es gibt hier überhaupt keine religiöse Differenz. Sollte bei jemandem, der penibler nachforscht, irgend etwas Anstoß erregen, so habe ich dies in unserer Sprache, wie ich meine, so abgemildert, daß ich jede Handhabe, mit mir Streit anzufangen, von vornherein abgeschnitten habe. Wie oft schmücken wir uns selbst mit den Federn derjenigen, die wir verdammen, oder pflügen wir mit deren Kalb, verhehlen aber undankbar ihre Namen! Zweifellos würde ein großer Teil unserer Arbeiten zusammen mit der Anerkennung, [die sie finden], zunichte werden, wenn man sich jener [fremden Federn] gänzlich enthalten müßte. Meiner Meinung nach muß man Frömmigkeit, mit welchem Munde auch immer sie zum Ausdruck gebracht und mit welcher Feder auch immer sie schriftlich niedergelegt wird, annehmen, ebenso wie wir die Tugend auch bei den Heiden bewundern und hochhalten.)

Man kann in solchen Ausführungen ein Erbteil des europäischen Humanismus erasmianischer Prägung sehen, das mit der auf konfessionelle Toleranz ausgerichteten Religionspolitik von Dachs Landesherrn und Förderer, des Großen Kurfürsten, in bestem Einklang stand. Die ungebrochene humanistische Tradition, in der Dach steht, schlägt sich natürlich insbesondere in der Tatsache nieder, daß er ebenso wie Opitz und andere barocke Autoren wie zum Beispiel Daniel Czepko oder Paul Fleming neben seinen deutschen Gedichten immer wieder lateinische Lyrik von beachtlichem Umfang produziert hat. In mehreren deutschen Gedichten hat er die Frage des Verhältnisses von deutschsprachiger und lateinischer Produktion in einer Weise thematisiert, die darauf schließen lassen könnte, daß er das Schreiben in lateinischer Sprache als einem gelehrten Autor, wie er es war, für angemessener _______ 36 37

Ebd., S. 370 f. Ebd., S. 371.

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gehalten hat. Eines dieser Gedichte ist das auf den 21. November 1634 datierte Epithalamium auf die Hochzeit von Reinhold Robert und Maria Lange, 38 dessen erste fünf Strophen so lauten: PHebus ist mir vngewogen, Amor zürnet als sonst nie, Wie auch Venus, das ich sie Durch Betrug hab’ auffgezogen Und gesagt, ich wollt’ hinfort Mich der Deutschen Reim’ enthalten, Vnd, O Rom, mich nach den Alten, Brauchen deiner Red’ vnd Wort. Vnd die Warheit recht zu sagen, War diß einig schon mein Sinn, Das ich mich nicht mehr fort hin Wolte so mit Reimen Plagen, Sondern darauff einig gehn, Waß du Edles Rom geschrieben, Vnd von dir vns hinten blieben, Du verständiges Athen. Aber seht, was wil ich machen, Ihr, Herr Breutgam, reitzt mich an, Führt mich auff die alte Bahn, Vnd zu meinen alten Sachen, Ewrer Gunst geneigter Windt Wil mein Schiff vnd Segel führen, Wo mein Port nicht ist zu spüren, Vnd mir aller Muth zerrint. Phebe, laß mich’s nicht entgelten, Ich bin ausser aller Schuldt, Venus, habe doch gedult, Amor, laß von deinem schelten, Mein gemütt ist vnverletzt, Ob gleich gute Freund vnd Brüder Machen, das ich euch zu wieder Jetzt die Feder angesetzt. Nachmals wil ich bas mich hütten, Wie mir immer möglich ist, Das mich keiner Freunde List Euch zu wieder sol erbitten, Nichts als Griechisch vnd Latein, Welches baß vns pflegt zu ehren, Vnd die Weisen lieber hören, 39 Sol hinfort mein tichten sein.

Achtzehn Jahre später, in einem im »Wintermonat« 1652 verfaßten Leichgedicht auf die 21jährige Marie von Derschau, 40 rühmt er deren Schwager, einen _______ 38 39 40

Simon Dach: »Reinhold Robert und Maria Lange.« In: ZIESEMER I, S. 26 f. Ebd., S. 26. Simon Dach: »Christliches Denckmal.« In: ZIESEMER IV, S. 71 ff. (die Datumsangabe ebd., S. 540, zu Nr. 45).

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gewissen »Herr[n] Müller«, dafür, daß er der Verstorbenen ein Denkmal in »Jamben« gesetzt habe, mit denen er sich Catull an die Seite stellen könne. 41 Dieses also offenbar lateinische Gedicht Müllers könne größeren Anspruch auf unvergängliches Überdauern erheben als seine eigenen Gedichte, die, wie auch das vorliegende, auf Wunsch der Auftraggeber deutsch geschrieben seien: Auch ich sing’ in die Welt hinein, Man will es bey den Leichen haben, Daß für dem Deutschen mein Latein 42 Wird leider endlich mit begraben.

Wiederum fünf Jahre später, am »29. Weinmonat 1657«, läßt er ein Hochzeitsgedicht 43 mit einem ähnlichen Gedanken schließen: Mehr und besser säng’ ich gern. Aber der Poeten Kern, Simon Dilger greifft sich an, Singt und spielt als ich nicht kan. Dieß was meine Musa singt Ist nur Deutsch, er aber bringt Durch ein zierliches Latein 44 Ewre Glut den Sternen ein.

Dieser Simon Dilger, der also die Hochzeiter mit einem lateinischen Carmen beehrt hat, war nach den von Ziesemer mitgeteilten Titelangaben 45 zu dem Einzeldruck Jurist (»beyder Rechten« Doktor) und hat Dach »auff inständiges Anhalten« zu der Abfassung seines deutschen Textes veranlaßt. Man wird bei solchen Selbstäußerungen Dachs nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen dürfen, da zwischen den Zeilen auch Selbstironie oder auch eine leise Koketterie herauszulesen ist. Einem Dichter, der in der bekannten Unterthänigste[n] letzte[n] Fleh=Schrifft an seinen Landesherrn, den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 46 von sich sagte: Diese Kunst der Deutschen Reime 47 Lernet Preussen erst von mir

wird man zum Beispiel kaum glauben können, daß er sich nur deshalb lieber lateinisch oder griechisch ausdrücken würde, um der Mühe des Reimfindens enthoben zu sein, wie er in dem bereits zitierten Hochzeitsgedicht für Reinhold Robert und Maria Lange (1634) behauptet. 48 _______ 41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 71, Str. 4. Ebd., Str. 5. Simon Dach: »Ambrosius Schweitz und Hedwig Merten.« In: ZIESEMER II, S. 118 f. Ebd., S. 119, hier Str. 24 f. ZIESEMER II, S. 379, zu Nr. 87. Simon Dach: »Unterthänigste letzte Fleh=Schrifft an Seine Churfürstl. Durchl. meinen gnädigsten Churfürsten und Herrn.« In: ZIESEMER II, S. 262. Ebd. S.o., S. 233 f. – Ähnlich auch in der ersten Strophe des Gedichts zur Hochzeit des Juristen Theodor Wolder mit Anna Paschke (1655): »NVmehr kan ich doch nicht wenden | Meiner

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Äußerst empfindlich und aggressiv reagierte Dach jedoch, als ihm ein literarischer Gegner, dessen Name uns nicht bekannt ist, 1639, also gerade in dem Jahr seiner Berufung zum Professor poëseos an der Universität Königsberg, 49 vorwarf, er sei zu bequem, um lateinische Gedichte zu schreiben, wage sich nur unter Zagen an eine solche Aufgabe heran und verfasse auf subalterne Weise ausschließlich deutschsprachige Gedichte. Zu einer scharfen Auseinandersetzung mit diesem Kritiker nutzte Dach ein in lateinischen Hexametern verfaßtes Gedicht auf die zweite Hochzeit des kurfürstlichen Bibliothekars und Königsberger Professors für Geschichte Sigismund Weier (1579 – 1661) 50 im Jahre 1639. 51 Von den 107 Versen dieses Gedichts werden 58 (V. 1 – 51 und 101 – 107), also mehr als die Hälfte, auf diese Polemik verwendet, für die der eigentliche Adressat, der Hochzeiter Weier, um Verständnis gebeten wird. Dach beginnt seine Erwiderung auf die von ihm eingangs referierte Kritik seines Gegners mit einem Gegenangriff. Sein Kritiker gerate schon in Panik, wenn er nur drei lateinische Distichen zu schreiben habe, und bringe nach Durchstöbern vieler Fundgruben nur eine Mißgeburt aus zusammengeschnorrten und erbettelten Versatzstücken zustande. Nach einer Bescheidenheitsformel geht er dann zu einer selbstbewußten Rechtfertigung seiner deutschsprachigen poetischen Produktion über: Absit, ego ut fuerim sic aethere natus iniquo, Non quia Pegasei mea proluerim ora caballi Fonte, biceps aut formârit mihi somnia quondam Parnassus, nostris non haec fiducia rebus, 52 Sic tamen irato nunquam mihi vivere Phoebo Contigit, ut Latio ducam pede condere versum Maius opus, patriâ benè quàm cantare Camoena. Hactenus haut visum est aliter quàm pollice nostro Teutonis increpuisse lyram, si nectare Graio Ausoniove queam patrias perfundere voces. Quod si vile putas, tenta, Veneresque vetustas Germanaque mihi cunctos sub veste lepores Siste, quibus medio plaudant Helicone sorores. Dispeream, si tu, partes licet actus in omnes,

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Satzung festen Schluß, | Bey den Deutschen Reimen muß | Ich mein Leben numehr enden: | Mir sind Reim’ Ixions Pein, | Tantals Strom und Sisiphs Stein.« (Simon Dach: »Theodor Wolder und Anna Paschke.« In: ZIESEMER II, S. 75 f., hier S. 75.) Es liegt nahe, die Kritik des Ungenannten an Dachs poetischer Qualifikation mit diesem an der Universität nicht unumstrittenen und nur durch Eingreifen des kurfürstlichen Landesherrn im Sinne Dachs positiv abgeschlossenen Berufungsverfahren in Verbindung zu bringen. Einen Beweis für einen solchen Zusamenhang gibt es aber nicht. Weier, der in Königsberg und Wittenberg studiert hatte, war zunächst (ab 1605) an der Albertina Professor für Mathematik; 1621 wechselte er das Fach und wurde Professor für Geschichte; nebenher leitete er die Königsberger Schloßbibliothek. Über ihn vgl. APB 2, S. 783 (Fritz Gause). Simon Dach: Secundis nuptiis […] Dn. M. Sigismundi Weieri […] et […] Susannae Seligin […]. Königsberg: Lorenz Segebade/ Erben 1639 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–5 R). – Text s. Anhang 2.1. Originaldruck: »nunqum«.

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Aut caput invenies aut calcem. Scilicet alti Pectoris haec res est, pronus quod perpluit aether 53 Oceano rerum et vastos subvectat in ausus. (Da sei Gott vor, daß ich meinerseits unter einem so ungünstigen Stern geboren sein sollte: Nicht, weil ich meinen Mund mit dem Quell des Pferdes Pegasus benetzt oder weil mir einst der zweigipflige Parnassus Träume geformt hätte – so weit geht mein Selbstbewußtsein nicht! Gleichwohl hatte ich nie das Pech, jemals so unter dem Zorn Apollos zu leben, daß ich es für eine bedeutendere Leistung hielte, einen Vers in lateinischem Maß zu verfassen, als gut zu singen kraft heimatlicher Muse. Bisher schien es gerade so, als ertöne durch meinen Daumen die Leier Teutos, wenn ich die heimischen Reden mit griechischem oder römischem Nektar zu benetzen imstande war. Falls du das primitiv findest, versuch’ es und führe mir die alten Schönheiten und alle Reize, denen die Schwestern mitten vom Helikon her Beifall spenden können, in deutschem Gewand vor. Ich will des Todes sein, wenn du, sollte es dich auch in alle Richtungen treiben, Kopf oder Ferse finden wirst. Das ist nämlich eine Sache, die einen hohen Geist erfordert: einen Geist, den ein wohlgesinnter Himmel mit dem Ozean der Dinge beregnet und zu ungeheuren Unternehmungen treibt.)

Diesen hohen Geist habe Opitz besessen, der kürzlich den von seinem Ruhm erfüllten Weltkreis zu jedermanns Trauer mit dem Himmel vertauscht habe. (Da Opitz am 20. August 1639 gestorben ist, muß Dachs Gedicht also irgendwann innerhalb der letzten vier Monate dieses Jahres entstanden sein.) Der Hinweis auf die Leier Teutos und den griechischen und römischen Nektar, mit dem die heimischen Wörter benetzt werden, ist wohl so zu verstehen, daß auch die deutschen Gedichte erst ihren rechten Klang entfalteten, wenn sie aus dem Geist der griechischen und römischen Poesie geschrieben seien – was wiederum ganz auf der Linie der Opitzschen Poetik liegt, derzufolge niemand dichterischen Rang beanspruchen könne, der es am Studium der antiken Autoren habe fehlen lassen. Bevor Dach dann im 52. Vers zur Sache, nämlich zu dem Hochzeitsglückwunsch für Sigismund Weier, kommt, warnt er seinen Kontrahenten noch eindringlich vor weiteren Invektiven. Er werde dann mit scharfer poetischer Gegenwehr zu rechnen haben. Diese Warnung wird noch einmal ganz am Ende des Hochzeitsgedichts wiederholt, mit dem Horaz (Epist. 2, 2, 102) entlehnten Hinweis auf das »genus irritabile vatum«. Die Überlieferungslage bei den lateinischen Gedichten Dachs ist die gleiche wie bei den deutschsprachigen, d.h. die Forschung ist auch hier auf Einzeldrucke der zahlreichen Texte angewiesen, da bekanntlich weder zu Dachs Lebzeiten noch postum eine Sammelausgabe seiner Gedichte, abgesehen von der 1680 oder 1681 zuerst gedruckten Sammlung von Dichtungen zum Lobe des Hauses Brandenburg, 54 veranstaltet wurde. Den größten Bestand an Originaldrucken besitzt die Universitätsbibliothek Wrocáaw; es handelt sich dabei um eine _______ 53 54

Ebd., Bl. [1]v, V. 16–32. Simon Dach: Poetische Wercke/ Bestehend in Heroischen Gedichten/ Denen beygefüget zwey seiner verfertigten Poetischen Schau-Spiele [...]. Königsberg: Heinrich Boye d. Ä. 1696, ND Hildesheim [u.a.]: Olms 1970 (der Druck ist nur Titelauflage der [ca. 1690 erschienenen?] erweiterten Fassung der Sammlung Simon Dach: Chur=Brandenburgische Rose/ Adler/ Löw und Scepter […]. Königsberg: Friedrich Reusner/ Erben [s.a.]).

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Sammlung, die der Polyhistor Johann Caspar Arletius (1707 – 1784), 55 Rektor des Bres-lauer Elisabeth-Gymnasiums, im 18. Jahrhundert zusammengetragen hat und die nach seinem Tode in den Besitz der von Rhedigerschen Stadtbibliothek kam. Eine zweite Sammlung, die zweitgrößte, bestehend aus 387 Drucken in drei Sammelbänden, befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin (Signatur: Yi 851–1; 2; 3 R). Im Königsberger Preußischen Staats-archiv gab es unter der Signatur 301.4° ein noch zu Lebzeiten Dachs angelegtes Konvolut von Abschriften seiner Gedichte, aus dem Ziesemer für seine Gesamt-ausgabe geschöpft hat. Diese Quelle ist seit Kriegsende verschollen. Sie enthielt nach der Beschreibung Ziesemers nur ein einziges lateinisches Gedicht. 56 Ein Verzeichnis der lateinischen Gedichte Dachs hat erstmals Hermann Oesterley im Anhang seiner 1876 in der Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart erschienenen großen Auswahl-Ausgabe der deutschen Gedichte mitgeteilt. 57 Es umfaßt 259 Nummern. Nur 204 Nummern enthalten die beiden Verzeichnisse lateinischer Gedichte, die Ziesemer den Bänden 2 und 4 seiner Ausgabe der deutschen Gedichte beigegeben hat. 58 Eine wesentlich größere Zahl von lateinischen Texten konnte Gerhard Dünnhaupt in dem Verzeichnis der Schriften Dachs innerhalb der zweiten Auflage seines Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur nachweisen. 59 Nach seiner Einschätzung beläuft sich die Zahl der lateinischen Texte auf »fast die Hälfte des Gesamtœuvres« 60 – was bedeuten würde, daß in den von ihm ermittelten ca. 1210 Einzeldrucken von Gelegenheitsgedichten und von akademischen Festgedichten zu den großen christlichen Feiertagen mindestens ebenso viele lateinische Texte enthalten sein müßten, wie sich deutschsprachige in Ziesemers vierbändiger Edition finden! Neueste genauere Ermittlungen haben allerdings ein anderes Zahlenverhältnis ergeben: Danach machen die lateinischen Texte innerhalb des heute bekannten Gesamtcorpus der Dachschen Schriften nur etwa ein Fünftel aus. 61 Weitere, heute noch unbekannte Texte Dachs, sowohl deutsche wie lateinische, dürften bei einer systematischen Auswertung der in Dachs Schaffensperiode in Königsberg gedruckten Leichenpredigten ans Licht kommen. Dünnhaupt hat mit der Ausschöpfung dieser von früheren DachBibliographen und -Herausgebern gänzlich unbeachtet gebliebenen Quelle 62 wenigstens einen Anfang gemacht. 63 _______ 55 56 57 58 59

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Zu seiner Biographie s. ADB 1, S. 530–532 (Schimmelpfennig). Walther Ziesemer: Neues zu Simon Dach. In: Euphorion 25 (1924), S. 591–608, hier S. 594. OESTERLEY, S. 1010–1024 (Anordnung nach dem Alphabet der Initien). ZIESEMER II, S. 344–361; ZIESEMER IV, S. 507–526. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. verb. u. wesentl. verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. 2. Teil. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996–1230. Ebd., S. 996. S. dazu Axel E. Walter: Simon Dach – der preußische Archeget der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. von Jens Stüben. München: Oldenbourg 2007, S. 205–233, hier S. 213. Diesbezüglicher Hinweis bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 59), S. 997.

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Editorisch ist für diesen Werkbereich noch so gut wie gar nichts geleistet worden. Ziesemer hat sich, abgesehen von den manchen deutschen Gedichten Dachs beigegebenen lateinischen Textstücken, 64 auf die Mitteilung einiger weniger Kostproben aus der lateinischen Lyrik innerhalb der bibliographischen Anhänge der Bände 1, 2 und 4 seiner Edition 65 beschränkt, darüber hinaus aber, _______ 63

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Welch ein Gewinn aus der Ausschöpfung von Leichenpredigten gezogen werden kann, demonstriert ein schöner Fund, der Michael Schilling vor einigen Jahren gelungen ist. Schilling fand unter den Trauergedichten, die der 1625 in Magdeburg gedruckten Leichenpredigt für den in diesem Jahr gestorbenen Pfarrer Christian Vogler beigegeben sind, auch ein zweiteiliges lateinisches Epicedium von Simon Dach, der in den drei Jahren seiner Studien am Magdeburger Gymnasium (1623 – 1626) im Hause Voglers, eines entfernten Verwandten, gelebt hatte. Dieser Text ist das früheste bislang bekannte poetische Werk aus Dachs Feder – was bedeutet, daß man die Anfänge von Dachs poetischer Produktion, die von der Forschung aufgrund der gegebenen Daten der Textüberlieferung, soweit sie bisher bekannt war, für 1630 angesetzt worden sind, um fünf Jahre zurückdatieren muß. Schilling hat seinen Fund in dem folgenden Aufsatz vorgestellt: Michael Schilling: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928 – 1992). Hg. von Mirosáawa Czarnecka, Andreas Solbach, Jolanta Szafarz [u.a.]. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2504), S. 367–377 (Text mit Übersetzung S. 373 ff.). ZIESEMER I, S. 187 (4 lateinische Distichen, vorangestellt einem Gedicht an Roberthin: »Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen […] geschrieben 1647. 30. Julij.«); ebd., S. 211 f. (5 lateinische Distichen, vorangestellt einem Gedicht an den Grafen Gerhard von Dönhoff: »Schuldige Auffwartung durch welche des […] Herren Gerharden, Graffen zu Dönhoff, […] Seines gnädigen Herrn hochgültige Gnade zu erhalten sich bemühet dessen gehorsamer Simon Dach.«); ebd., S. 252 (3 lateinische Distichen, vorangestellt einem Hochzeitsgedicht für: »Georg Loth und Sophie Schwedler.«); ZIESEMER II, S. 173 (3 lateinische Distichen, vorangestellt einem Geleitgedicht für den Großen Kurfürsten: »Demüthigstes Geleit, da Se. Churfl. Durchl. auß dero Herzogthumb Preussen in die Marck Brandenburg zu reisen entschlossen den 17. Hornung 1643.«); ebd., S. 222 (2 kurze lateinische Gedichte auf die Geburt des ersten Sohns des Großen Kurfürsten; das zweite mit anschließender deutscher Übersetzung: »Hertzinniglichste unschuldige Frewde, die bey längst= und höchst=gewünschter Entbindung unserer gnädigsten Churfürstin und Frawen, nachdem Sie 1648. 21. May eines Chur=Erben genesen, dero getrewe Unterthanen in Preussen empfunden.«); ebd., S. 312 f. (lateinischer Prolog von 20 Versen zu dem Schauspiel Sorbuisa); ZIESEMER III, S. 207 (4 lateinische Distichen, einem Gedicht zum Tode Roberthins vorangestellt: »Bittere Klage vber des weiland GrosAchtbaren, Hochgelarten vnd Weitberühmten H. Robert Roberthins, […] Vnverhofftem vnd recht hochbetrübtem aber seligem Hintritt aus dieser Welt, […] geführet von mir Simon Dachen […].«); ebd., S. 216 f. (lateinische Elegie in 12 Distichen, nachgestellt einem Leichgedicht für Johannes Behm: [Inc.:] »O Vndanck, grosses Laster zwar«); ebd., S. 370 f. (lateinische Prosawidmung für Reinhold Langerfeld zu Dachs deutscher Übersetzung des Christus Patiens [wie Anm. 35]; ZIESEMER IV, S. 39 (lateinische Elegie in 11 Distichen für Christoph Tinctorius, angehängt einem Klage- und Trostgedicht auf den Tod seiner Ehefrau: »Schuldige Klag= und Trost=Reimchen.«); ebd., S. 170 (2 lateinische Distichen, nachgestellt einem die Übersetzung hierzu bildenden deutschen Vierzeiler: [Inc.:] »Wir sterben alsobald wir nur gebohren werden«). ZIESEMER I, S. 326 f., zu Nr. 54 (lateinisches Gedicht in 23 Versen auf die Hochzeit Roberthins: [Inc.:] »NOstras nunc gravidus mero per urbes«); ebd., S. 330, zu Nr. 70 (lateinische Elegie in 16 Distichen zum Gedenken des Astronomen Johannes Kepler: »Ad manes

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was besonders anzuerkennen ist, die beiden schon erwähnten, für Dachs Dichtungsverständnis wichtigen lateinischen Prosatexte abgedruckt: die Einladung zu seiner Antrittsvorlesung (1639) 66 und die von dem Studenten Christoph Roman verteidigten Thesen zu einer Disputation an der Philosophischen Fakultät der Universität Königsberg, die Dach im Oktober 1640 als Praeses zu leiten hatte. 67 Leider weisen Ziesemers Abdrucke lateinischer Texte vielfach offensichtliche Transkriptionsfehler auf, jedoch nicht in so gravierendem Maße, daß nicht auch bei solchen Texten, deren Originale heute verschollen oder verloren sind, hinreichend zuverlässige Besserungen vorgenommen werden könnten. Die Gesamtproduktion der lateinischen Lyrik Dachs läßt sich in zwei unterschiedlich große Blöcke aufteilen: Den kleineren Block bilden die geistlichen Gedichte, die Dach in den zwanzig Jahren seiner Tätigkeit als Professor poëseos in Königsberg kraft Amtes zu den drei großen christlichen Festen für akademische Feiern zu verfassen hatte. Den zweiten Block bildet die große Masse an Gelegenheitsgedichten zu Anlässen des privaten, politischen und akademischen Alltagslebens, vor allem: – – – – – – – –

Epicedien, Epithalamien, Genethliaca, Glückwünsche zu akademischen Promotionen, Glückwünsche zum Antritt oder zur Beendigung eines öffentlichen Amtes, Propemptika, Gedichte auf politische oder akademische Ereignisse, Huldigungsgedichte für den Landesherrn und Mitglieder seiner Familie aus verschiedenen Anlässen.

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Nobilissimi et longe Clarissimi IOHANNIS KEPPLERI Mathematicorum summi.«); ebd., S.331 f., zu Nr. 74 (lateinische Ode in 6 Strophen zur Hochzeit von Jonas Casimir von Eulenburg: »Ad Illustrem Dn. Sponsum.«); ZIESEMER II, [Anhang C:] »Lateinische Hochzeits= und Glückwunschgedichte«, S. 351 f., Nr. 40 (lange lateinische Elegie für Michael Gorlovius bei Antritt seines Amtes als Schulrektor: »Cum Serenissimus Elect. Brandenb. Dominus noster Michaelem Gorlovium Neuhoffia Prussum Rectorem Provincialis Scholae quae Lyccae est designasset.«); ebd., S. 355 ff., Nr. 58 (lange lateinische Elegie »IN THERIACAM« – auf den von dem Hofapotheker Caspar Pantzer bereiteten und der Königsberger Medizinischen Fakultät im August 1648 vorgestellten Theriak); ZIESEMER IV, [Anhang:] »Lateinische Gedichte«, S. 514 f., Nr. 59 (lateinisches Epitaph in 5 Distichen für Roberthin: »Epitaphium […]«); ebd., S. 516 ff., Nr. 67 (umfangreiches lateinisches Gedicht: »Memoria ROBERTI ROBERTINI […].«); ebd., S. 520 f., Nr. 83 (lateinische Elegie in 9 Distichen zum Gedenken an Dachs in frühestem Kindesalter verstorbene Söhne Christoph und Johannes: »D.O.M.S. memoriae dulcissimis suis filiis CHRISTOPHORO ET JOHANNI Quorum ille natus 1642. Id. Aug. obiit 1643. Calend. Juliis. Hic natus 1650. X. Calend. Jun. obiit 1651. III. Idus Septembres.«); ebd., S. 521 ff., Nr. 89 (lateinische Ekloge zum Osterfest 1652: »JESV CHRISTO aeterno Dei filio […]«); ebd., S. 526, Nr. 113 (lateinisches Begrüßungsgedicht für Roberthin bei dessen Rückkehr von einer Reise: »Roberto Robertino […] ad commissum a Sereniss. Principe munus in patriam redeunti gratulatur eiusdem Sereniss. Electoris Brandeburgici Capellae Magister Johannes Stobaeus […]«). S.o., Anm. 30. S.o., Anm. 31.

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Die metrische Gestaltung der lateinischen Gedichte Dachs ist relativ vielseitig im Vergleich zu dem, was man im allgemeinen von den Humanisten des 16. Jahrhunderts gewöhnt ist, bei denen bekannntlich das elegische Versmaß eine beherrschende Stellung hatte. Wer an die Lektüre von Dachs lateinischer Lyrik mit der Erwartung herangeht, hier die gleiche Leichtigkeit und Ungezwungenheit der sprachlichen Gestaltung vorzufinden wie in den deutschen Gedichten, wird sich enttäuscht sehen. Dachs lateinische Lyrik erschließt sich auch demjenigen nicht leicht, der einige Erfahrung und Übung in der Lektüre lateinischer Poesie der Frühen Neuzeit mitbringt. Mein Eindruck von Dachs lateinischen Gedichten, gewonnen hauptsächlich aus der Lektüre von ca. 40 lateinischen Gedichten aus den Beständen der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin und den von Ziesemer mitgeteilten Textproben, 68 entspricht also ganz und gar nicht der Beurteilung Wulf Segebrechts, der meinte, daß Dach »ein ungekünstelt wirkendes, schlichtes und leicht verständliches Latein« geschrieben habe, »das mit wenigen Übersetzungshilfen durchaus auch noch heute selbst weniger geschulten Lesern zu vermitteln wäre«. 69 Dieses Urteil mag zutreffen auf einige der kurzen lateinischen Epigramme, die manchen deutschen Gedichten in Ziesemers Ausgabe beigegeben sind; sie trifft nicht zu auf die Mehrzahl der lateinischen Gedichte, gleichgültig, ob es sich um geistliche Dichtung oder um Kasuallyrik handelt. Als lateinischer Dichter schreibt Dach oftmals eher prätentiös, nicht selten mit der Folge der Dunkelheit, und man möchte manchmal meinen, man habe es mit einem ganz anderen Autor zu tun. Die folgenden Bemerkungen Bayers in seinem »Leben Simonis Dachii« zu Dachs lateinischer Lyrik sind durchaus ernst zu nehmen, d.h. nicht als simple Lobhudelei abzutun: Es ist kein Zweiffel, daß er in allerley Arthen der Lateinischen Verse vortrefflich gewesen. Zum Beweiß dessen brauchets nicht mehr, als daß, wer einen guten Begriff von Versen hat, seine bey Gelegenheit der dreyen Haupt-Feste verfertigte Carmina lese. Er ahmete dem Virgilio, Ovidio, Catullo und Horatio so genau nach, daß er zuweilen an Schönheiten und Artigkeiten ihnen wenig nachgab. Den Lucanum, Statium, Sannzarium, Petrarcham, Erasmum, Sarbievium, Maphaeum Barberinum, nachmahligen löblichen Pabst Urbanum VIII. laß er sonderlich vor andern. [...] Er war darinnen mit dem Opitzen einig, daß bei einem Poeten nicht allein ein himmlischer Einfluß, sondern auch eine Wissenschafft der Alterthümer und eine Nachahmung anderer seyn müsse. [...] Hieraus nahm er seine Erfindun70 gen und grössesten Theils die Verbesserung der Teutschen Poesie.

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S.o., Anm. 64 u. 65. Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken (wie Anm. 23), S. 961. [Gottlieb Siegfried] Bayer: Das Leben Simonis Dachii eines Preußischen Poeten. In: Erleutertes Preußen 1 (1723/24) S. 159–195 und 855–857, hier S. 176–181.

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2. Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik – einige Beispiele Meine Kenntnis der lateinischen Lyrik unseres Autors beschränkt sich, abgesehen von den bei Ziesemer abgedruckten Proben und dem kürzlich von Michael Schilling aus einer Magdeburger Leichenpredigt mitgeteilten Epicedium, 71 auf die Texte, die in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz vorhanden sind (teils innerhalb der genannten drei Dach-Sammelbände, teils an anderer Stelle): ca. zwanzig personale Gelegenheitsgedichte und ungefähr ebenso viele geistliche Gedichte zu den großen christlichen Festen. Im folgenden möchte ich ein paar lateinische Gelegenheitsgedichte zu verschiedenen Anlässen vorführen: etwas aus den Epithalamien und den Epicedien, zwei Gattungen, die bei Dach wie wohl bei allen Barockdichtern, die in größerem Umfang Kasuallyrik geschrieben haben, die Hauptmasse des Überlieferten ausmachen, sodann zwei Texte aus der akademischen Gelegenheitsdichtung: ein Propemptikon anläßlich des Weggangs des Theologen Abraham Calov von Königsberg und eine Art Glückwunschgedicht auf die Beendigung des Rektorats des Mediziners Christoph Tinctorius. Ich beginne mit den Epicedien. Wie wir seit Krummachers grundlegendem und in seiner Art bis heute nicht überholtem Aufsatz 72 aus dem Jahre 1974 wissen, steht das barocke deutschsprachige Epicedium ebenso wie das ihm vorausgehende humanistisch-neulateinische in einer in die Antike zurückreichenden rhetorischen Tradition, in der das in zahllosen frühneuzeitlichen Poetiken für das Trauergedicht postulierte dreiteilige Aufbauschema von Lob, Klage und Trost seinen Ursprung hat. Bekanntlich gilt das gleiche auch für die Trauerrede in Gestalt der Abdankung bzw. Parentatio, die im 17. Jahrhundert als neue Redegattung neben die Leichenpredigt tritt und einen besonders prunkvollen und wissenschaftlich noch viel zu wenig gewürdigten Teil der überlieferten Zeug_______ 71 72

S.o., Anm. 63. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147. – Aus der seither erschienenen Literatur s. insbes.: Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 430–468; Ders.: Poetische Grabschriften des 17. Jahrhunderts als literarische Zeugnisse des barocken Lebensgefühls. In: Literatur für Leser 4 (1981), S. 1–17; Tübinger Epicedien zum Tod des Reformators Johannes Brenz (1570). Hg. von Wulf Segebrecht. Kommentiert von Juliane Fuchs und Veronika Marschall. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1999 (Helicon, 24); Georg Braungart: Barocke Grabschriften. Zu Begriff und Typologie. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937 – 1996). Hg. von Hans Feger. Amsterdam [u.a.]: Rodopi 1997 (Chloe, 27), S. 425–487. – Nur als Materialnachweis von Interesse: Dietmar Schubert: Sächsische Epicedia des 17. Jahrhunderts in der Ratsschulbibliothek Zwickau. In: Literarisches Leben in Zwickau im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Vorträge eines Symposions anläßlich des 500jährigen Jubiläums des Ratsschulbibliothek Zwickau am 17. und 18. Februar 1998. Hg. von Margarete Hubrath und Rüdiger Krohn. Göppingen: Kümmerle 2001 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 686), S. 215–240.

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nisse barocker Redekunst bildet 73 (ich denke hier insbesondere an die Dissertationes funebres von Andreas Gryphius, 74 die erst in jüngster Zeit eine wissenschaftliche Edition erfahren haben 75 ). Krummacher hat seiner Untersuchung Analysen von drei barocken Epicedien beigegeben, um damit verschiedene Möglichkeiten der Aneignung des überlieferten rhetorischen Schemas zu demonstrieren. Sein erster Beispieltext ist ein Trost-Schrifft betiteltes Lied von Simon Dach, von dem er feststellt, daß es »das Formgesetz des Epicediums bis in alle Einzelheiten hinein sehr getreu« erfülle und somit »ein nach den Regeln gebautes typisches Epicedium [sei], wie es deren zahllose im Werk Dachs« gebe. 76 Dergleichen findet sich natürlich erwartungsgemäß auch unter Dachs lateinischen Epicedien. Eines davon ist die Nänie auf die 1649 verstorbene Ehefrau des Gutsbesitzers Rotger zum Bergen. 77 Der Text, 78 in elegischem Maß, beginnt mit der Schilderung des harmonischen, idyllischen Zusammenlebens beider Eheleute auf ihrem Gutshof: Rotger zum Bergen konnte sich in Muße seinen Büchern und seinen gelehrten und literarischen Interessen, auch dem Schreiben von Gedichten, widmen, während Margarete, seine tüchtige Frau, sich als guter Geist um die Organisation aller in Haus und Landwirtschaft anfallenden Arbeiten kümmerte. Mit Margaretes Tod fand alle Freude Rotgers ein Ende, sein Vergnügen an der Literatur versiegte, die sonst vielgelesenen Werke der römischen Dichter liegen nun unbeachtet im _______ 73

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Vgl. Maria Fürstenwald: Zur Theorie und Funktion der Barockabdankung. In: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 1. Hg. von Rudolf Lenz. Köln [u.a.]: Böhlau 1975, S. 372–389; dieser Autorin verdanken wir auch eine umfangreiche, repräsentative Sammlung zu dieser Redegattung: Trauerreden des Barock. Hg. von ders. Wiesbaden: Steiner 1973 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, 4). Vgl. Ursula Stötzer: Die Trauerreden des Andreas Gryphius. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 11 (1962), S. 1731–1740; Maria Fürstenwald: Andreas Gryphius Dissertationes funebres. Studien zur Didaktik der Leichabdankungen. Bonn: Bouvier 1967 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- u. Literaturwissenschaft, 46); Sibylle Rusterholz: Rostra, Sarg und Predigtstuhl. Studien zu Form und Funktion der Totenrede bei Andreas Gryphius. Bonn: Bouvier 1974 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik, 16). Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 9: Dissertationes funebres oder Leichabdankungen. Hg. von Johann Anselm Steiger. Tübingen: Niemeyer 2007 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 51). Krummacher: Das barocke Epicedium (wie Anm. 72), S. 119 und 117. Rotger zum Bergen (1603 – 1661) studierte 1622 in Königsberg, 1523 – 1527 in Rostock. Nach einer ausgedehnten peregrinatio academica kehrte er 1633 nach Königsberg zurück. Vermögend und wirtschaftlich unabhängig, widmete er sich ganz seinen gelehrten und literarischen Neigungen, in lebhaftem Austausch mit Königsberger Professoren und dem Freundeskreis um Dach und Roberthin. Er verfaßte viele, meist lateinische Glückwunschund Trauergedichte, z.T. unter dem Pseudonym Christian Brasnecke; 1652 veröffentlichte er eine Sammlung von Epigrammen, die Freunde auf den Tod seines Hündchens verfaßt hatten. 1636 wurde er zum Königlich Polnischen Sekretär, 1656 zum Kurfürstlich Brandenburgischen Rat ernannt. Vorstehendes nach: APB 1, S. 50 (Schwarz). Simon Dach: »Ad moestissimum viduum.« In: Naeniae in funere foeminae […] Margarethae Königes […] desideratissimae conjugis scriptae. MDCXLIX. III. Non. Novembres. Königsberg: Johann Reusner [1649], Bl. A2v–A4v (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,146 R). – Text s. Anhang 1.1.

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Winkel, Würmern und Motten zum Fraß preisgegeben. Das ganze Haus ist von Klagen erfüllt, und Trauer erfaßt auch zum Bergens Freundes- und Bekanntenkreis, darunter auch die Familie Dachs und Dach selbst, der gerade wieder einmal krank darniederliegt und in einem Traum den Tod Margaretes vorhergesehen hat. Der Autor läßt nun eine Klage über die Unerbittlichkeit des Todes folgen und geht dann schnell über zu der Ermahnung an den Ehemann, sich in das Unvermeidliche zu schicken und von allzu vielem Klagen abzusehen, das der Verstorbenen und ihm selbst nichts mehr nützen könnte. Die Zeit werde auch den Schmerz hinwegnehmen. Um über den Verlust leichter hinwegzukommen möge sich der Witwer wieder dichterisch betätigen und ein Lobgedicht zum Ruhm der Verstorbenen verfassen. Alles andere solle zum Bergen dem Schicksal überlassen, denn Leben und Sterben bildeten nun einmal den Kreislauf des Daseins. Aus dieser kurzen Inhaltsangabe wird deutlich geworden sein, wie hier die drei Elemente Lob, Klage und Trost miteinander kombiniert wurden, in Verbindung mit einer für viele Gedichte Dachs bezeichnenden Eigenheit, der Einbeziehung der eigenen Person mit oft sehr detailreichen autobiographischen Elementen. Den gleichen Typ des nach klassischem Muster gebauten Epicediums repräsentiert in noch strafferer Form ein Valentin Thilo gewidmetes Leichencarmen für Johannes Babatius, Rektor der Königsberger Domschule, aus dem Jahre 1640. 79 Obwohl es in Dachs gesamter lateinischer Epicedienproduktion über die mir bekannten Berliner Texte hinaus zweifellos noch viele andere Texte geben wird, die das alte rhetorische Schema, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und Ausprägung, erkennen lassen, darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß der Rekurs auf die klassische rhetorische Tradition allein nicht ausreicht, um barocke Epicediendichtung, ob lateinisch oder deutschsprachig, zu erklären und zu verstehen. Mir scheint es, gerade im Hinblick auf Simon Dach, angebracht, den von Krummacher herausgearbeiteten Ansatz zu ergänzen durch einen Bezug auf offenkundige Anleihen bei wesentlichen Strukturelementen der evangelischen Leichenpredigt, wie sie sich seit ihren beiden Prototypen, Luthers Predigten zum Tod Kurfürst Friedrichs des Weisen (1525) und dessen Sohnes und Nachfolgers, Johanns des Beständigen (1532), entwickelt hat, zumal Leichenpredigt und Epicediendichtung, abgesehen von ihrer ohnehin gegebenen sachlichen Nähe, bekanntlich oft auch in einem überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen, da viele Leichenpredigtendrucke einen Anhang mit deutschen oder auch lateinischen Epicedien aufweisen. 80 Ich denke hier an die _______ 79

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Simon Dach: Carmen lugubre super acerbissimo funere reverendi et clarissimi M. Johannis Babatii, Scholae Cathedralis apud Regiomontanos meritissimi Rectoris ad Valentinum Thilonem Academiae Bregelanae Oratorem. Königsberg: Lorenz Segebade/ Erben 1640 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,19 R). Vgl. Rudolf Lenz: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte. Sigmaringen: Thorbecke 1990 (Marburger Personalschriften-Forschungen, 10), S. 147–161.

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Elemente der christlichen Kontemplation, Belehrung und Ermahnung, die, im Rahmen der Explikation und Applikation des den Anfang bildenden Schriftwortes, wesentliche Bestandteile der Leichenpredigt waren und die ebenso, neben jenen drei der paganen rhetorischen Tradition entstammenden, wenn auch christlich ausgestalteten Bauelementen, diese ergänzend oder von Fall zu Fall auch ersetzend, bei der Konzeption von Epicedien hinzutreten können. Die Auswahl 81 und Gewichtung aller Einzelelemente hängt natürlich auch davon ab, wer der Adressat des Epicediums ist: ob es sich an einen kleinen Kreis von Hinterbliebenen oder gar nur an einen einzelnen Leidtragenden richtet oder an eine größere Zahl von Menschen, die, wie etwa im Falle des Todes eines Landesherrn, eines Bürgermeisters oder des Mitglieds eines Berufsstandes oder einer Genossenschaft, von diesem Ereignis nicht unmittelbar persönlich betroffen ist. Ich möchte die hiermit angedeutete Ergänzungsbedürftigkeit des von Krummacher aufgezeigten Analyseschemas verdeutlichen an zwei lateinischen Epicedien Dachs aus den Jahren 1640 und 1654. Ich beginne mit dem späteren Text. Thema ist hier der Tod eines Jura-Studenten an der Universität Königsberg namens Buthner, 82 der unter nicht näher bekannten Umständen von einem persönlichen Feind mit dem Degen erstochen worden war. 83 Der in jambischen Senaren abgefaßte Text ist auf einem Einblattdruck 84 überliefert, der wohl zum Aushang an der Universität bestimmt war. Denkbar und sehr wahrscheinlich im Hinblick auf Dachs Amtspflichten als Professor der Poesie ist es auch, daß der Text bei einer universitätsöffentlichen Trauerfeier vorgetragen wurde. Jedenfalls wird aus seinem Inhalt, insbesondere dem Eingangs- und Schlußteil, ganz deutlich, daß Hauptadressat die Königsberger Studentenschaft war. Der Text beginnt mit einer Mahnung: Quisquis iuventae fidit et florentibus Superbit annis viribusque ferreis Mortem lacessit seque fati non putat

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Z.B. blieb der Trostaspekt völlig unbeachtet in dem Epicedium für Cyriacus Perband: Simon Dach: Elegia piis Manibus amplissimi, prudentissimi et venerandi senis Dn. Cyriaci Perbandi, Senatoris Cneiphoviani meritissimi etc. Königsberg: Johann Reusner 1645 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,56 R). – Ähnliches ist auch an den von Segebrecht herausgegebenen Tübinger Epicedien des 16. Jahrhunderts zu beobachten: Tübinger Epicedien (wie Anm. 72), S. 82. In der Königsberger Matrikel als »Wilhelmus Bütner, Regiomontanus Borussus« verzeichnet im Sommersemester 1639, unter den am 11. Juni Inskribierten: Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr. 3 Bde. Hg. von Georg Erler. Leipzig: Duncker & Humblot 1910–1917 (Publikation des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen, 16) (ND Nendeln/Liechtenstein: Krauss 1976), Bd. 1: Die Immatrikulationen von 1544–1656, S. 402, Nr. 32. Ein deutschsprachiges »Christliches Trost=Lied Dem Ehrenvesten vnd Vorachtbaren Hn. Joachimo Schultzen« von Dach auf einen ähnlichen Fall aus dem Jahre 1639 in: ZIESEMER III, S. 28 f. Simon Dach: In luctuosum obitum Wilhelmi Buthneri […]. Königsberg: Johann Reusner 1654, 1 Bl., einseitig bedruckt (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,129 R). – Text s. Anhang 1.2.

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Subesse legi iura ridens manium, Docendus adsit atque BUTHNERI trucem Casum arbitretur exitumque flebilem. Ni pectus illi mole saxea riget Duroque sanguis horret adstrictus gelu, Tristis recedet deque corporis sui Valore et annis sentiet submissius 85 Mortalitatis semet admonens suae. (Wer es auch sei, der auf seine Jugend vertraut und sich mit der Blüte seiner Jahre brüstet, mit der Gewalt der Klinge den Tod herausfordert und glaubt, daß er dem Gesetz des Schicksals nicht unterworfen sei, die Macht der Totenwelt verlachend, der lasse sich hiesigen Ortes belehren und betrachte den schaurigen Untergang und beweinenswerten Tod Buthners. Wenn seine Brust nicht verhärtet ist mit einem steinernen Klumpen und sein Blut nicht zu hartem Eis erstarrt ist, wird er traurig heimkehren, demütiger über den Wert seines Körpers und über sein Alter denken und sich an seine Sterblichkeit erinnern.)

Es folgt ein ausgiebiges Lob des Getöteten, das sich auf folgende Eigenschaften erstreckt: – – – –

körperliche Vollkommenheit, Tugendhaftigkeit, Tatkraft in allem, was Ruhm und Ehre bringen kann, guter Ausbildungsstand im Hinblick auf Beredsamkeit, Geschichtskenntnis und Jurisprudenz, in der er gerade vor einer akademischen Ehrung, also wohl einer Promotion, gestanden habe.

Alles dies aber habe keinen Bestand gegenüber der brutalen Gewalt des Todes. Wie eine Rose und eine Lilie im Frost verwelken, so sei Buthner dahingegangen. Seine bewährte Frömmigkeit sei aber der Garant dafür, daß er bei Gott Gnade finden werde, wenn sich auch die Angehörigen gleichwohl in Klagen ob seines frühen Todes ergingen. Am Schluß wendet sich Dach wieder mahnend den Königsberger Studenten zu: [...] Eius exemplo tuis Consulere rebus disce tandem, si sapis, Imberbis aetas, et virentibus nimis Diffidere annis corporisque robori. Quà quando ubique Mortis adrepat gradus Novisse non est creditum mortalibus. Eiusque, nigris cum strepens alis adest, Admittere animo masculo impetum gravem 86 Scientiarum calculo omni maxima est. (Lerne endlich, wenn du klug bist, bartloses Alter, dein Leben nach dessen [warnendem] Beispiel vernünftig einzurichten und der Blüte deiner Jahre und deiner Körperkraft stark zu mißtrauen. Zu wissen, wie, wann und wo der Schritt des Todes sich anschleicht, ist den Sterblichen nicht vergönnt. Und dessen wuchtigen Angriff männlichen Geistes hinzunehmen, wenn er, mit schwarzen Flügeln rauschend, da ist, dies ist, nach jeder Berechnung, die größte der Wissenschaften.)

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Ebd., V. 1–11. Ebd., V. 43–51.

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Von den drei Teilen des klassischen rhetorischen Schemas ist hier das des Lobes eindeutig realisiert, der Klageteil wenigstens andeutungsweise mit dem Hinweis auf die Gefühlsregungen Dritter, nämlich der nächsten Angehörigen des Toten, der Trostteil aber fehlt ganz. Die beiden Teile, die realisiert wurden, haben aber keine Bedeutung aus sich selbst heraus, sondern sind klar der mahnenden Hauptbotschaft des Textes untergeordnet. Der zweite Text, ein 1640 verfaßtes Epicedium auf den Tod des Hieronymus von Stein, 87 der als Rechtsanwalt am preußischen Hofgericht tätig war, besteht zum größten Teil aus einer metaphernreichen Schilderung der Irrwege des menschlichen Lebens, der eitlen, unbedachten, von Ungeduld und Affekten bestimmten, Gott und seine Gebote nicht bedenkenden Bestrebungen vieler Menschen. Erst die letzten 12 des insgesamt 109 Verse umfassenden Gedichts sind dem Verstorbenen gewidmet, der wie Jesaja und Hiob seine Bedrängnisse ganz in die Hände Gottes gegeben habe und deshalb jetzt über den Sternen wandle. Derartige Texte mit mahnender oder kontemplativer Grundtendenz, korrespondierend den einigen Epicediendrucken beigegebenen emblematischen Abbildungen (zum Beispiel ein Leichnam mit der Überschrift »Hodie mihi, cras tibi« 88 oder ein Totenkopf im Gras, umgeben von Sense, Spaten, Hacke und Harke mit der Unterschrift »Nemo hic excipitur« 89 ) finden sich auch in Dachs deutschsprachiger Trauerlyrik reichlich. 90 Sehr viel unübersichtlicher als beim frühneuzeitlichen Epicedium stellt sich die Situation beim Epithalamium dar, was teils in der Sache selbst, teils in der Forschungssituation begründet ist. Was den letzten Punkt betrifft, so gibt es zwar einige Publikationen aus jüngerer Zeit; 91 diese sind aber vorwiegend sozial_______ 87

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Simon Dach: Carmen piis manibus nobilis, amplissimi et consultissimi Dn. Hieronymi à Stein, in nobilissimo Iudicio Aulico Ducatus Prussiae Advocati ordinarii etc. [Königsberg: o.D. 1640] (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,21 R). Z.B. in folgendem Epicediendruck: Simon Dach: In funere docti, modesti et certissimae spei iuvenis Levini Babatii, in ipso aetatis flore denati ad reverendum et clarissimum Dn. M. Joachimum Babatium Ecclesiae Cathedralis Archidiaconum. Königsberg: Johann Reusner 1649, Bl. 1v (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851– 1,153 R). Z.B. ebd., Bl. 2v. Vgl. z.B. »Christliches Trost=Lied« (wie Anm. 83), »Begräbnis=Lied Bey des selig= verstorbenen Leichbegängnis Musicalisch gesungen.« In: ZIESEMER III, S. 52, »Bey HochAdelicher vnd Christlicher Begräbnus des HochEdlen […] Herrn Friedrich Wilhelm Rappe etc. […].« In: ebd., S. 133 f. Virginia Tufte: The poetry of marriage. The epithalamium in Europe and its development in England. Los Angeles: Tinnon-Brown 1970 (University of Southern California Studies in Comparative Literature, 2) – ohne Berücksichtigung der in Deutschland entstandenen Hochzeitsdichtung; Ruth Ledermann-Weibel: Zürcher Hochzeitsgedichte im 17. Jahrhundert. Untersuchungen zur barocken Gelegenheitsdichtung. Zürich [u.a.]: Artemis 1984 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, 58); Juliane Fuchs: HimmelFelß und Glückes Schutz. Studien zu Bremer Hochzeitsgedichten des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1994 (Helicon, 16); Dies.: Wünsche und Glückwünsche. Gelegenheitsgedichte zur Hochzeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. In: Über die Ehe. Von der Sachehe zur Liebesheirat. Eine Literaturausstellung in der Bibliothek Otto Schä-

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oder kulturgeschichtlich ausgerichtet und berücksichtigen gattungsgeschichtliche Probleme entweder überhaupt nicht oder nur ganz marginal. Wer für das Epithalamium Ähnliches leisten wollte wie Krummacher, hätte es auch etwas schwerer, da es hier keine so dominanten und so geradlinig bis in die antike Rhetorik zurückzuverfolgenden strukturellen Gesetzmäßigkeiten gibt wie beim Epicedium. 92 Demgemäß war auch in der antiken Redelehre die Theorie der Hochzeitsrede, die ihrerseits auf der Hochzeitslyrik fußte, nur schwach entwickelt. 93 Scaliger führt zu Anfang seiner breiten Darstellung zum Epithalamium 94 die folgenden sechs Teile an: 95 1. Darstellung der Empfindungen der Brautleute füreinander; 2. Lob der Brautleute, hergeleitet von ihrer Heimat, ihrer Familie, ihrem geistigen Habitus und ihren körperlichen Vorzügen; 3. Glückwünsche; 4. Scherzreden, teils auf den Bräutigam, teils auf die Braut gemünzt; 5. Ankündigung von Nachkommenschaft, verbunden mit entsprechenden Segenswünschen für die Zukunft; 6. Aufforderung an die Gäste, sich zur Nachtruhe zu begeben. Nach meiner Kenntnis der Hochzeitslyrik der Frühen Neuzeit (lateinischer wie deutschsprachiger) halte ich es für unwahrscheinlich, daß Scaligers Schema eine festgefügte literarische Praxis widerspiegelt oder seinerseits auf diese Praxis we_______

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fer, Schweinfurt, 18. April – 31. Oktober 1993. Katalog. [Hg. des Katalogs und Konzeption der Ausstellung: Ursula Rautenberg.] Schweinfurt: Weppert 1993, S. 98–110; Hochzeit als ritus und casus. Zu interkulturellen und multimedialen Präsentationsformen im Barock. Hg. von Mirosáawa Czarnecka u. Jolanta Szafarz. Wrocáaw: Wroc. Wydawn. OĞwiatowe 2001 (Orbis linguarum, Beihefte, 12). Kleiner Abschnitt zur Hochzeitslyrik auch bei Jan Drees: Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien zur deutschsprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1986 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademiens handlingar), S. 431–450; hierzu als bibliographische Ergänzung: Ders.: Deutschsprachige Gelegenheitsdichtung in Stockholm und Uppsala zwischen 1613 und 1719. Bibliographie der Drucke nebst einem Inventar der in ihnen verwendeten dekorativen Druckstöcke. Stockholm: Kungl. Biblioteket 1995 (Acta Bibliothecae Regiae Stockholmiensis, 56). Zum antiken Hochzeitsgedicht s. R. Keydell: Epithalamium. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 5. Hg. von Theodor Klauser. Stuttgart: Hiersemann 1962, Sp. 927– 943; Eleni Contiades-Tsitsoni: Hymenaios und Epithalamion. Das Hochzeitslied in der frühgriechischen Lyrik. Stuttgart: Teubner 1990 (Beiträge zur Altertumskunde, 16); Horstmann: Das Epithalamium (wie Anm. 5). Hierzu s. Richard Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht. ND der 2. Aufl. Leipzig 1885. Hildesheim: Olms 1963, S. 352–356; J. Neumann: Hochzeitsrede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen: Niemeyer 1996, Sp. 1446–1450. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira. Bd. 1 ff. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1994 ff., Bd. 3: Buch 3, Kapitel 95–126; Buch 4. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz (1995), S. 62–99. Ebd., S. 64–67.

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sentlich prägend eingewirkt hat. Wie sein ganzes Kapitel über das Epithalamium nur ein buntes Sammelsurium von stofflichen Anregungen darstellt, so scheint das zitierte Schema nur eine nicht ganz vollständige 96 Zusammenstellung von Aspekten zu sein, die eklektisch aus der Kenntnis antiker und neuzeitlicher Hochzeitslyrik und einschlägiger poetologischer Darstellungen gewonnen wurden. Die noch ausstehende gattungsgeschichtliche Darstellung des lateinischen wie des volkssprachigen frühneuzeitlichen Hochzeitsgedichts in Deutschland hätte meines Erachtens zunächst auszugehen von der Rezeptionsgeschichte der für eine imitatio hauptsächlich in Frage kommenden Epithalamien von antiken und spätantiken Autoren, also Theokrit (Id. 18), Catull (Carm. 61; 62; 64, 323– 381), Statius (Silvae 1, 2), Claudian, 97 Sidonius Apollinaris. 98 Sodann wären auf einer möglichst großen Quellenbasis wiederholt auftretende Motive, Topoi und Aufbauschemata zu ermitteln, listenmäßig zu erfassen und zu beschreiben. Wie Simon Dach zwei maßgebliche antike Mustertexte, des Statius Epithalamion in Stellam et Violentillam (Silvae 1, 2) und Catulls Carmen 62, in einem einzigen deutschsprachigen Hochzeitsgedicht miteinander kombiniert hat, habe ich eingangs bereits aufgezeigt. Was nun die lateinischen Epithalamien betrifft, von denen mir allerdings nur ca. ein halbes Dutzend (alle aus den Berliner Beständen) bekannt sind, 99 so hat Dach auch hier auf die von Statius eingeführte Venus-/Cupido-Motivik als strukturierendes Element zurückgegriffen. In dem Gedicht auf die Hochzeit von Georg Stephan und Dorothea Polkein (1640) 100 ist Cupido darüber erzürnt, daß der Jurist Stephan gar kein Interesse an Liebesdingen hat und sich nur dem Dienst an den Göttinnen Themis und Pallas widmet. Um sich an ihm zu rächen, verbirgt Cupido sich in der Gestalt eines Mädchens und greift von hier aus den jungen Mann an, der sich daraufhin in heißer Liebe zu ebendiesem Mädchen verzehrt, ohne Gegenliebe zu finden. Als Cupido sich bei seiner Mutter dieses Triumphs rühmt, ermahnt ihn Venus, die Rache nicht _______ 96 97

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Es fehlt z.B. der sehr häufig anzutreffende Aspekt des Ehelobs. Außer dem oben (s. Anm. 6) schon genannten Epithalamium gibt es von Claudian noch zwei weitere Hochzeitsdichtungen: »Epithalamium dictum Palladio et Celerinae« und »Fescennina dicta Honorio Augusto et Mariae«. Von ihm gibt es zwei Epithalamien: außer dem oben, Anm. 7, schon genannten das »Epithalamium dictum Polemio et Araneolae«. Hier sei auf einen in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin unter der Signatur Yf 6823 R vorhandenen Sammelband (aus der Bibliothek Meusebach) hingewiesen, der eine große Zahl Königsberger Epithalamiendrucke, größtenteils aus dem Jahre 1640, enthält, mit etlichen Texten von Simon Dach; gegen Ende des Bandes, unter den Nummern 49–53, auch fünf Drucke zu Dachs eigener Hochzeit, mit Glückwunschgedichten verschiedener Autoren, darunter Johann Peter Titz, Andreas Adersbach und Christoph Kaldenbach. Simon Dach: »Nuptiis felicibus Georgii Stephani et Dorotheae Polkeiniae.« In: Felicissimas nuptias viro eximio, prudentissimo ac eruditissimo, Dn. Georgio Stephani iuniori, Iudiciorum, quae Regiomonti sunt, Civicorum Advocato ordinario, sponso, et lectissimae pudicissimaeque virgini Dorotheae, viri spectatissimi et integerrimi, Dn. Friderici Polkenii, civis Cniphoviani optimi nunc beati, filiae superstiti his precantur fautores, amici ac affines. Königsberg: Johann Reusner 1640, Bl. [5]r–[6]r (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–32 R).

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zu weit zu treiben und damit zufrieden zu sein, daß Stephan seiner Macht nunmehr untertan sei. Cupido flößt nunmehr auch dem Mädchen – es ist die Braut Dorothea Polkein – Liebe zu Stephan ein, so daß dieser bei ihr zum Zuge kommt und der Hochzeit nichts mehr im Wege steht. Das Gedicht endet mit dem üblichen Ausblick auf eine zu erwartende zahlreiche Nachkommenschaft. Einen ähnlichen mythologischen Apparat bemüht Dach in dem Hochzeitsgedicht für den Pfarrer Georg Mylius und Anna Colbe (1640). 101 Eine Schar von Amoretten hat von der Liebe zwischen Georg und Anna Kenntnis bekommen und singt vor Venus, die auf einem prunkvollen Lager ruht, das Lob der beiden Liebenden, wobei besonders die poetischen Leistungen des dichtenden Pfarrers Mylius 102 hervorgehoben werden. Dieser Lobgesang in trochäischen Septenaren ist wie auch alles Folgende in Strophen eingeteilt, die jeweils mit dem Refrainvers »Surge, mater alma, surge, linque gemmeum torum!« (»Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl!«) schließen. Venus kommt schließlich dem Wunsch der Amoretten nach, erhebt sich von ihrem Lager und fliegt mit ihrem Gefolge an den Pregel. Auch dies und alles weitere Geschehen bis zur Hochzeitsnacht wird ebenfalls von den Amoretten vorgetragen bzw. kommentiert, von dem Aufbruch der Göttin an in Strophen mit dem Refrain: »Nox cupita, nox beata, iunge virginem viro!« (»Erwünschte Nacht, selige Nacht, verbinde die Jungfrau dem Manne!«). Ein weiterer umfangreicherer Text 103 unter den lateinischen Epithalamien der Berliner Bestände, 1649 geschrieben, beginnt mit einer leicht humoristisch gefärbten Schilderung des von der Liebe völlig aus der gewohnten Bahn geworfenen Bräutigams. Dieser Stephan Müller, Rektor des altstädtischen Gymnasiums, vernachlässigt seine schulischen Pflichten oder nimmt sie nur unkonzentriert wahr, weil er ständig an seine Liebste denken muß. In für ihn ganz ungewohnter Weise ist er jetzt auf seine äußere Erscheinung, auf Kleidung und Frisur, bedacht. Es folgt eine Schilderung der Vorteile, die Müller durch den Ehebund zu erwarten hat. Mit dem Tag der Hochzeit erhalte der Bräutigam den Lohn für seine vielfältigen beruflichen Mühen. Mit der Braut, einer Elisabeth von Derschau, werde ihm reiche Gabe zuteil, nicht allein hinsichtlich ihrer Per_______ 101

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Simon Dach: »Epithalamium M. Georgii Mylii et Annae Colbiae.« In: Auspicatissimum thalamum viro reverendo, clarissimo ac doctissimo, M. Georgio Mylio, Pastori Brandenburgensi, et lectissimae pudicissimaeque virgini Annae […], gratulantur fautores ac amici, VI. Febr. anno M.DC.XL. Königsberg: Johann Reusner [1640], Bl. B2r–B3v (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–9 R). – Text s. Anhang 2.2. Zur Biographie von Georg Mylius (geb. 1613), der acht Monate nach der Hochzeit, im Oktober 1640, starb, vgl.: Gedichte des Königsberger Dichterkreises aus Heinrich Alberts Arien und musicalischer Kürbshütte (1638 – 1650). Hg. von L[eopold] H[ermann] Fischer. Zweite Hälfte. Halle/S.: Niemeyer 1884 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 46–47), S. XXIII f.; KELLETAT, S. 300. Simon Dach: Epithalamium clarissimo eximio Dn. Stephano Mullero Schol. Palaeopol. Regiom. Boruss. Moderatori, et Nobiliss. lectissimaeque virgini Elisabethae Derschoviae, novellis coniugibus scriptum à Simone Dachio M DC XLIX. X. Calend. Decemb. Königsberg: Johann Reusner 1649 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,149 R).

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son selbst, sondern auch hinsichtlich des Ruhms ihrer Familie, besonders ihres bereits verstorbenen Vaters und dessen noch lebenden Bruders. Der Dichter schließt mit dem Hinweis auf den Anbruch der von Müller so lange herbeigesehnten Nacht und mit einer breiten Aufforderung an den Bräutigam, das Preußenland mit einer möglichst großen Zahl von kleinen Müllern zu bevölkern, die es dem Vater einst an dichterischer Begabung, Gelehrsamkeit und Verstandeskraft gleich tun würden. Die Geringfügigkeit und die geringe Bindungskraft überlieferter struktureller poetologischer Vorgaben erlaubten dem Verfasser von Hochzeitsgedichten die Nutzung eines breiten thematischen Spektrums, das von einem ernsthaften Lob des Ehestands bis zu scherzhaften, manchmal auch recht anzüglichen Produktionen reichen konnte. Beispiele für beides findet man bei Dach wie bei anderen barocken Kasualdichtern in reicher Fülle. Ich will wenigstens noch kurz auf zwei lateinische Hochzeitsgedichte hinweisen, die zeigen, wie Dach die strukturelle Offenheit der Hochzeitslyrik auf eine für ihn typische Weise ausnutzte. Das eine ist das schon erwähnte Gedicht auf die Hochzeit des Sigismund Weier im Jahre 1639, 104 das Dach extensiv für die Auseinandersetzung mit einem literarischen Gegner genutzt hat, der ihm Unfähigkeit in lateinischer Poesie vorgeworfen hatte. Einen ebenso geringen Sachbezug im Hinblick auf seinen eigentlichen Entstehungsgrund läßt ein sehr kurzer Text, eine Elegie in 30 Versen, auf die Hochzeit eines Johannes Görgensen mit einer Maria Sander von Sanden (1640) 105 erkennen. Die Tatsache, daß die Braut in Danzig ansässig ist und dort anscheinend auch die Hochzeit stattfinden soll, nimmt Dach zum Anlaß für zwei etwas schnöde Klarstellungen: Er schreibe Vorliegendes nur auf Wunsch von Freunden (anscheinend kannte er die Brautleute gar nicht) und beschränke sich auch sonst mit seinen Dichtungen auf das heimatliche Königsberg, da er nicht interessiert sei, in der Fremde Ruhm zu erwerben. Nur widerwillig lasse er sich von Freunden aus seinem stillen heimatlichen Kreis herausreißen. Den Schluß bildet eine Entschuldigung an die Weichsel als an den Fluß, an dem Danzig liegt: Sie sei von der Klage über jene Freunde ausgenommen, denn sie sei eigentlich der Grund dafür, daß er ein gänzlich unbeachtetes Leben führe – deshalb nämlich, weil der Glanz des in Danzig verstorbenen Opitz alles überstrahle. Die nächsten beiden Texte, die ich vorstellen möchte, gehören dem Bereich der in der Forschung bisher wenig beachteten akademischen Gelegenheitsdichtung 106 an. Ich verwende diesen Begriff so, daß er alle Gedichte erfaßt, die ihre _______ 104 105

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S.o., S. 235 f. Simon Dach: Nuptiis Iohannis Görgensen et Mariae Sanderiae nobilissimi et amplissimi Nicolai Sanderi à Sanden S. R. M. Secret. Commiss. bellici et Factoris filiae virginis. Königsberg: Lorenz Segebade/ Erben 1640, Bl. [1]v–[2]r (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,18 R). Diesem lateinischen Gedicht folgt noch eines in deutscher Sprache, von Ziesemer aufgenommen in: ZIESEMER I, S. 82 (»Johannes Görgensen und Maria Sander. […] Hochzeit=Schertz An die Jungfraw Braut geschrieben«). Hierzu gibt es kaum Spezialliteratur. Außer der unten in Anm. 109 genannten Arbeit von Kristi Viiding vgl. Lothar Mundt: Johannes Bocers Ankündigungen von Aeneis-Vorlesun-

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Entstehung einem aus dem Universitätsleben erwachsenen Ereignis verdanken oder auch geschrieben worden sind, um innerhalb der universitären Institutionen eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. D.h., ich möchte darunter sowohl solche Textsorten subsumiert wissen, die außerhalb des Universitätslebens ihrer Art nach keine Funktion haben können, wie zum Beispiel versifizierte Vorlesungsankündigungen, Promotionsglückwünsche oder versifizierte Aufrufe an Studenten zur Teilnahme an akademischen Festakten, als auch solche, die, wie zum Beispiel Propemptika, Freundschaftsgedichte oder auch Epicedien, ebensogut auch in anderen Lebenszusammenhängen verwendbar sind. Das erste der beiden akademischen Casualia Dachs, die ich ausgewählt habe, ist ein Propemptikon. 107 Vorweg sei bemerkt, daß die bislang sehr spärliche Literatur zu dieser frühneuzeitlichen Gattung 108 im Jahre 2002 einen erfreulichen Zuwachs erhalten hat durch die am Institut für Klassische Philologie der Universität Tartu entstandene und von dem Nestor der deutschen Neolatinistik, Walther Ludwig, betreute Dissertation von Kristi Viiding, 109 die in unserem Zusammenhang von ganz besonderem Interesse ist, da sie auf einem Textcorpus von neulateinischer akademischer Gelegenheitsdichtung basiert, die an der Academia Gustaviana Dorpatensis, also der heutigen Universität Tartu, in den _______

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gen an der Universität Rostock 1560–1563. Ein Beitrag zur akademischen Vergil-Rezeption im 16. Jahrhundert. In: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 25 (2001), S. 103– 121; Carsten Schulz-Nötzold: Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts im Umfeld der Universität als Gegenstand linguistischer Analyse. In: Literarisches Leben in Zwickau (wie Anm. 72), S. 267–297. Simon Dach: Propempticon admodum […] Dn. Abrahamo Calovio […] Regiomonto Gedanum ad Rectoratum eiusdem Gymnasii obeundum abeunti scriptum. [Königsberg]: Johann Reusner 1643 [27. Octobr.] (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,41 R). – Text s. Anhang 3.1. – Zeugnisse der Gattung innerhalb von Dachs deutschsprachiger Lyrik sind die Geleitgedichte für Robert Roberthin (1634) und für Konrad von Burckstorff (1646) in: ZIESEMER I, S. 24 ff. (»Abschieds=Lied, Dem […] H. Robert Robertihn, Alß er im Augustus Mond des 1634. Jahres auß Preussen in die Marck zu ziehen gedachte […]«) und ebd., S. 156–159 (»Schuldiges verlangen Welches bey deß […] Herrn Conraden von Burckstorff, […] Reise mit Seiner Churfürstl. Durchl. zu Brandenb. auß Preussen in die Chur vnd Marck Brandenburgk, auß vnterdienstlicher Pflicht getragen […]«). Kurzer, aber sehr informativer Überblick über die poetologische Tradition bei Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970, S. 68 ff. – Zur Gattung in der Antike: Felix Jäger: Das antike Propemptikon und das 17. Gedicht des Paulinus von Nola. Rosenheim: Niedermayr 1913 (Diss. phil. München 1913). – Besprechung einiger neulateinischer Propemptika des späten 16. Jahrhunderts bei Walther Ludwig: Das Studium der holsteinischen Prinzen in Straßburg (1583/84) und Nicolaus Reusners Abschiedsgedichte. In: Ders.: Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003. Edenda curavit Astrid Steiner-Weber. 3 Bde. Hildesheim [u.a.]: Olms 2004–2005 (Noctes Neolatinae, 2/1–3), Bd. 2, S. 293–332 (revidierte Fassung des Erstdrucks in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 119 [1994], S. 111–147). Kristi Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika an der Academia Gustaviana (Dorpatensis) in den Jahren 1632–1656. Tartu: Tartu University Press 2002 (Dissertationes studiorum Graecorum et Latinorum Universitatis Tartuensis, 1).

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Jahren 1632 – 1656 entstanden ist, also ungefähr in dem Zeitraum, in dem Simon Dach als Professor in Königsberg gewirkt hat. Dachs Propemptikon ist dem für seine kompromißlose Streitbarkeit im Sinne der lutherischen Orthodoxie berühmt gewordenen Theologen Abraham Calov (Calovius, eigtl. Kalau) 110 gewidmet. Calov, 1612 in Mohrungen/Ostpr. geboren, studierte in Königsberg und Rostock Theologie. Nach seiner Promotion in Rostock kehrte er nach Königsberg zurück und wurde dort 1639 außerordentlicher Professor für Theologie. 1643 übernahm er das ihm angebotene Rektorat am Gymnasium in Danzig und eine Pfarrstelle ebendort. 1650 wurde er auf eine ordentliche Professur in Wittenberg berufen, die er 36 Jahre lang, bis zu seinem Tode 1686, inne hatte. Anlaß für Dachs Gedicht war die bevorstehende Abreise Calovs nach Danzig im Jahre 1643. Das 162 Hexameter umfassende Gedicht beginnt mit dem Ausdruck der Bestürzung des Verfassers über das bis dahin für unmöglich Gehaltene: daß eine andere Stadt als Königsberg den großen Lehrer für sich gewinnen könne. Die Musen am Pregel und der, dem die Poesie gehorche, also wohl Dach selbst, so heißt es, ergingen sich in Klagen über den schmerzlichen Verlust und versuchten, Calov unter Tränen in letzter Minute noch aufzuhalten, so wie eine Mutter, die einen Sohn verabschiedet, der eine gefährliche Seereise antritt, oder auch wie die Ehegattin Ovids, als dieser (nach der berühmten Schilderung Tristia 1, 3) Rom bei Nacht für immer verläßt. Der Weggang Calovs von Königsberg, der die Studenten eines beliebten Lehrers beraube, sei für die Universität eine Strafe, die der Himmel möglicherweise deshalb verhängt habe, weil Apollo und die Musen nicht mehr hinreichend geachtet würden und Barbarei überhand nehme. – Es folgt nun ein Rückblick auf die Anfänge der geistigen Entwicklung Calovs, seit er, vom väterlichen Landgut in Mohrungen kommend, sein Studium in Königsberg begonnen hat. Schon früh habe er sich durch geistige Regsamkeit und vielseitige wissenschaftliche Interessen, vor allem beim Erlernen fremder Sprachen und im Studium der Philosophie, hervorgetan, in einem Alter, in dem andere Knaben sich noch mit kindlichen Spielen beschäftigten. Der Himmel habe erkannt, daß in diesem jungen Mann ein großes Talent heranwachse, das dem wahren Glauben bei der Bekämpfung von Irrlehrern gute Dienste würde leisten können, und in ihm eifrige Liebe zum Studium der Theologie erweckt. In kurzer Zeit sei Calov zu einem mächtigen Kämpfer für die reine christliche Glaubenslehre geworden, und Calvin wie Sozzini 111 fühlten sich beschämt und seien in Selbstzweifel verfallen. Kaum habe Calov in Rostock den Doktorlorbeer erworben, da habe sich auch schon sein Ruhm über die ganze Welt verbreitet. Gerade dieser Ruhm ihres ehemaligen Zöglings rufe bei der Universität Königsberg um so größere Trauer _______ 110

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Zu seiner Biographie s. ADB 3, S. 712–715 (Gaß); NDB 3, S. 99 f. (Hermann Schüssler); APB 1, S. 98 (Faber); Theologische Realenzyklopädie. Bd. 7. Berlin [u.a.]:de Gruyter 1981, S. 563–568 (Johannes Wallmann). Der Italiener Lelio Sozzini bzw. Laelius Socinus (1525 – 1562), Begründer der nach ihm benannten und vornehmlich in Polen verbreiteten religiösen Bewegung der Sozinianer, die die Lehre der Dreieinigkeit ablehnten. Hauptsächlich gegen sie richtete sich Calovs 1636 in Rostock erschienene Metaphysica divina.

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und Eifersucht ob dieses Verlustes hervor. Vor Schmerz bringe sie kaum ein tonloses Lebewohl hervor. Dach schließt mit Ermahnungen an Calov, nicht ungeduldig zu sein bei dem langwierigen tränenreichen Abschied seiner Frau von ihren Eltern, und einem Ausblick auf die bevorstehende Reise durch die winterliche Kälte und die Ankunft in Danzig. Der Himmel werde gute Geister schicken, die Calov und die Seinigen auf der beschwerlichen Reise behüten würden, und seine Schul- und Pfarrtätigkeit in Danzig werde zweifellos erfolgreich sein und großen Anklang bei der Schülerschaft und der ganzen Stadt finden. Konsultiert man, um Anhaltspunkte für eine gattungsgeschichtliche Einordnung dieses Propemptikons zu finden, das einschlägige kleine Kapitel in der Poetik von Scaliger, 112 so sieht man sich enttäuscht. Wie üblich bietet Scaliger auch hier ein unsystematisches Allerlei von Einzelaspekten. Er gibt zunächst Ratschläge, wie man, ausgehend von den loci der Zeit, des Orts und all derer, die zur Beurteilung der Person des Abreisenden geeignet sind, Stoff zur Gestaltung eines Propemptikons gewinnen kann, bemerkt dann nur nebenbei, daß man von dem letztgenannten Aspekt her auch zum Lob der Person des Abreisenden übergehen könne, und schließt seine Darstellung nach der Diskussion einiger nebensächlicher Fragen mit dem Hinweis, daß des Statius Propemptikon für Maecius Celer (Silvae 3, 2) »in mancherlei Hinsicht ein Beispiel abgeben« 113 könne. Auch das kleine Kapitel zur propemptischen Literatur in der Rhetorik von Gerardus Joannes Vossius 114 gibt nicht viel her; zum poetischen Propemptikon findet man hier nichts weiter als einen Hinweis auf das Gedicht von Statius. 115 Auch hinsichtlich des Propemptikons von Dach scheint sich Viidings anhand des Tartuer Materials gewonnene Beobachtung zu bestätigen, daß aus den ohnehin nur in geringer Zahl zur Verfügung stehenden gattungstheoretischen Texten 116 keineswegs alle Elemente zu gewinnen sind, die das Gattungsbewußtsein von Propemptika-Autoren des 17. Jahrhunderts geprägt haben bzw. konstitutiv für die Herausbildung der Gattung gewesen sind, so daß man darauf verwiesen ist, die überlieferten Texte selbst auf strukturelle und motivische Gemeinsamkeiten zu untersuchen und so »neben der präskriptiven Gattungstradition auch eine praktische Gattungstradition« 117 zur Geltung kommen zu las_______ 112 113 114

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Scaliger: Poetices libri septem, Bd. 3 (wie Anm. 94), S. 110–117. Ebd., S. 115 (Übersetzung von Deitz). Gerardus Joannes Vossius: Commentariorum rhetoricorum, sive oratoriarum institutionum libri sex, ita tertiâ hac editione castigati, atque aucti, ut novum opus videri possint. . ND der Ausg. Leiden 1630. Kronberg/Ts.: Scriptor 1974 (Scriptor reprints), S. 418. Ebd. Hier wäre auch die antike Theorie der propemptischen Rede (Menander) einzubeziehen. S. hierzu Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer (wie Anm. 93), S. 350 f. Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika (wie Anm. 109), S. 148. Ähnlich schon Barner: Barockrhetorik (wie Anm. 108), S. 69: »Die Interpretation wird also, wenn sie sich geschichtlich orientiert, im Prinzip stets beide rhetorischen Traditionen, die der Theorie und die der Praxis, zu berücksichtigen haben.« – Leider hat Viiding es versäumt, die Funktion der antiken Mustertexte (vor allem Statius und Horaz) bei ihrem Versuch einer Ermittlung präskriptiver Gattungsnormen einzubeziehen – womit sie auch Barners plausible

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sen. Viiding hat bei ihrer Untersuchung der Tartuer neulateinischen Propemptika eine Reihe von Motiven ermittelt, von denen sich fast alle in Dachs Text wiederfinden: neben dem für die Gattung nahezu obligatorischen Motiv des Wunsches für einen glücklichen Reiseverlauf 118 (Viiding nennt den diesem Motiv gewidmeten Teil des Propemptikons den »Votivteil«) 119 die Motive des Lobs, der Klage und der tieferen Gründe für das Faktum der Abreise. Die gewichtigsten Motiv-Elemente in Dachs Gedicht sind offensichtlich Lob und Klage, 120 die hier ganz ähnlich wie beim Epicedium 121 in einem wechselseitigen Begründungszusammenhang stehen: Klage und Trauer über den Verlust, den die Zurückbleibenden erleiden, rechtfertigen sich aus der Bedeutung der Person des Abreisenden, die im Lobesteil hervorgehoben wird, und umgekehrt bietet dieses Lob eine Begründung für das Ausmaß von Trauer und Klage. Das Motiv der Erklärung des Abreisegrundes ist hier, in dem Propemptikon für Calov, wiederum eng mit dem der Person des Abreisenden zugedachten Lob verbunden: daß dieser Königsberg den Rücken kehre und damit seine geistige und pädagogische Potenz der Universität nicht mehr zur Verfügung stünden, sei eine göttliche Strafe für eine dort überhandnehmende geistige Nivellierung. Einen nicht geringen Teil frühneuzeitlicher Gelegenheitsdichtung, sowohl deutscher wie auch lateinischer, bilden Gratulationsgedichte bei Antritt oder Niederlegung eines Amtes. So findet sich in Band 1 der Ziesemerschen Ausgabe von Dachs Gedichten ein deutschsprachiges Glückwunschgedicht, geschrieben zu Ehren des Mediziners Christoph Tinctorius (1604 – 1662), 122 als dieser zum Wintersemester 1645/46 das Rektorenamt der Universität Königsberg übernahm. 123 Es handelt sich, wie Überschrift und Inhalt des Textes ausweisen, um ein Lied, das von Studenten mit musikalischer Umrahmung wohl bei einem Festakt vorgetragen wurde. Vier Jahre später, im Wintersemester 1649/50, hatte Tinctorius erneut das Rektorenamt inne. 124 Diesmal nahm Dach nicht den Amtsantritt zum Anlaß für eine poetische Gratulation, sondern die Beendigung _______ 118 119 120 121 122

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Einschätzung, Statius’ Propemptikon für Maecius Celer (Silvae 3, 2) enthalte »praktisch die gesamte propemptische Tradition« (a.a.O., S. 69, Anm. 160), hätte überprüfen können. Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika (wie Anm. 109), S. 70 ff. U.a. ebd., S. 70. Vgl. in dieser Hinsicht auch Dachs deutschsprachiges Propemptikon für Roberthin (wie Anm. 107). Vgl. die Betonung der Gattungsverwandtschaft zwischen Epicedium und Propemptikon bei Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika (wie Anm. 109), S. 148 f. Simon Dach: »Als D. Christophorus Tinctorius pp. v. Churfl. Durchl. in Preussen Leib=Artzt Magnificus Academiae Rector erkohren vnd durch die Studiosos Medicinae Ihm eine Musick offeriret ward […].« In: ZIESEMER I, S. 148 f. Die Matrikel der Albertus-Universität (wie Anm. 82), S. 472. – Zur Biographie des Tinctorius, der 1634 in Basel zum Dr. med. promoviert worden war und seit 1636 als Professor der Medizin in Königsberg wirkte (mit den Ehrentiteln eines Königlich Polnischen Medicus und eines Kurfürstlich Brandenburgischen Rates und Leibmedicus), s. APB 2, S. 736 (Götz von Selle). Die Matrikel der Albertus-Universität (wie Anm. 82), S. 509.

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der Amtswürde im April 1650. Diese Gratulation zur Amtsniederlegung 125 kommt im Vergleich zu dem harmlosen Glückwunschliedchen zum Amtsantritt 1645 sehr ernst und gewichtig daher; es ist ein längerer lateinischer Text in Gestalt einer alkäischen Ode. Thema des Textes ist die in Königsberg übliche Begrenzung der Rektoratswürde auf die Dauer eines Semesters. Diese hat nach Meinung des Verfassers einen guten Sinn, da die mit dem Rektorat verbundenen Amtspflichten keinen gedeihlichen Dienst an den Musen erlaubten und auch auf die Aufgaben der Lehre nur störend einwirkten. Ein abschreckendes Beispiel für die Belastungen eines länger als ein Semester andauernden Rektorats biete Georg Sabinus, der erste Rektor der Universität Königsberg. 126 Sabinus war von Herzog Albrecht 1544 auf Lebenszeit in dieses Amt berufen worden, hatte es aber 1547 nach drei Jahren infolge von Anfeindungen aus der Kollegenschaft niedergelegt. Dach nennt in seinem Gedicht für Tinctorius allerdings andere Gründe für des Sabinus Amtsverzicht: – erstens zunehmende Amoral und Zügellosigkeit unter den Universitätsangehörigen (wohl vornehmlich den Studenten), – zweitens eine mit Hartnäckigkeit auftretende religiöse Irrlehre, die aus dem einen Christus eine Vielheit gemacht habe. Letzteres ist eine Anspielung auf den sog. Osiandrischen Streit, benannt nach dem von Herzog Albrecht nach Königsberg berufenen Theologen Andreas Osiander (1496[?] – 1552). 127 Diese Berufung war aber erst 1549, zwei Jahre nach des Sabinus Amtsverzicht, erfolgt, kann also nicht dessen Ursache gewesen sein. Wohl aber war die durch die Auseinandersetzungen um Osianders Lehre _______ 125

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Simon Dach: Ode ad […] Dn. Christophorum Tinctorium, […] amicum et collegam meum colendum, cum magnificum Academiae Magistratum deponeret. Königsberg: Johann Reusner 1650 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–2,5 R). – Text s. Anhang 3.2. Hierzu s. Max Toeppen: Die Gründung der Universität zu Königsberg und das Leben ihres ersten Rectors Georg Sabinus. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen dargestellt und bei Gelegenheit der dritten Säcularfeier der Universität mitgetheilt. Königsberg: Verlag der Universitäts-Buchhandlung 1844; Heinz Scheible: Georg Sabinus (1508 – 1560). Ein Poet als Gründungsrektor. In: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren hg. von Dietrich Rauschning und Donata v. Nerée. Berlin: Duncker & Humblot 1995 (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, 29), S. 17–31. Osiander zweifelte, daß allein der Glaube an die objektive Heilstatsache des historischen Opfertodes Christi zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott ausreiche. Seiner Meinung nach müsse darüber hinaus der Geist Christi in jedem Gläubigen wirksam werden. Diese Vervielfältigung des Geistes Christi gewissermaßen durch Inkorporation in jedem einzelnen Gläubigen hat Dach offenbar im Sinne, wenn er davon spricht, daß Osiander mit seiner Lehre aus dem einen Christus viele gemacht habe. Knapper Überblick über Osianders sowohl von Gnesiolutheranern wie von Philippisten abgelehnte Lehre und die aus ihr entstandenen Streitigkeiten bei Bernhard Lohse [u.a.]: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980 (Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, 2), S. 125–129.

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eingetretene Entfremdung zwischen Sabinus und seinem Landesherrn die Ursache dafür, daß Sabinus der Universität Königsberg 1555 den Rücken kehrte und an seine alte Wirkungsstätte, die Universität Frankfurt an der Oder, zurückging (in den Sommersemestern 1552 und 1553 hatte er noch einmal das Rektorenamt inne gehabt, diesmal aber aufgrund eines Wahlakts, nicht wie vorher durch herzogliche Ernennung). Dach scheint also diese beiden Vorgänge – Rücktritt vom lebenslangen Rektorat 1547 und Weggang von der Universität 1555 – miteinander zu vermengen. Die Rede, in der er sodann Sabinus dem Herzog seine Rücktrittsgründe vortragen läßt, kommt der historischen Wahrheit allerdings wiederum näher. Hier nennt der Dachsche Sabinus nämlich folgende zwei Gründe: erstens Amtsmüdigkeit aufgrund dauernder Überlastung, zweitens Zwistigkeiten mit den anderen Professoren, verursacht durch die ihm vom Herzog eingeräumte Sonderstellung als Rector perpetuus. Mag nun Dach auch nicht mehr ganz genau über die 100 Jahre zurückliegenden Vorgänge informiert gewesen sein: das breite Eingehen auf die Person des Sabinus zeigt, wie lebendig die Erinnerung an diesen prominenten Vertreter des deutschen Humanismus in Königsberg noch gewesen ist, zu dessen Nachfolgern und geistigen Erben Dach nicht nur als akademischer Lehrer, sondern auch als neulateinischer Autor und barocker Späthumanist (eigentlich ein pleonastischer Ausdruck!) zu zählen ist.

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ANHANG In diesem Anhang sind sechs der im vorstehenden Aufsatz besprochenen Texte zusammengestellt (jeweils zwei Epicedien und Epithalamien, dazu zwei akademische Casualia). Vorlagen waren stets die zeitgenössischen Drucke (Quellenangabe am Schluß jedes Textes). Alle Texte sind kritisch bearbeitet. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert, mit Angabe der Fehlform in einer Fußnote. Die Interpunktion wurde durchgehend modernisiert. Hinsichtlich der Orthographie wurden stillschweigend die folgenden Glättungen vorgenommen: Auflösung aller Abbreviaturen und Ligaturen; Ersetzung von j und ß durch i und ss; Regulierung der u/v-Schreibung nach modernem Usus; Großschreibung bei Versbeginn (entsprechend den Vorlagen), bei Eigennnamen und bei Beginn eines Satzes (nach dem Punkt). Die Seitenübergänge sind durch Angabe der jeweils folgenden Recto- oder Verso-Seite der betreffenden Blätter (in spitzen Klammern) angegeben. – Auf die lateinischen Texte folgen kurzgefaßte erläuternde Anmerkungen, bezogen auf die von mir hinzugefügte Verszählung, und eine Übersetzung. Bei der Zusammenstellung der Anmerkungen habe ich mich auf Erläuterungen beschränkt, die zum Verständnis der Texte unbedingt notwendig sind. Similien werden nicht nachgewiesen. Informationen zur Person der Adressaten sind in vorstehendem Aufsatz, an den Stellen, an denen die ihnen gewidmeten Texte besprochen werden, bereits geliefert worden. Stehen innerhalb eines Lemmas drei Punkte, so ist das gesamte vom ersten und letzten Wort begrenzte Textstück Gegenstand der Erläuterung; sind die Punkte in spitze Klammern eingeschlossen, so bezieht sich die Erläuterung nur auf die Wörter vor und nach diesem Zeichen.

1. Epicedien 1.1. Auf den Tod der Ehefrau Rotgers zum Bergen (1649) Ad moestissimum viduum. Hactenus haut uno visus mihi nomine felix Sortis eras, Bergi, luxuriantis opus. Omnia ridebant, seu te Brasenecidis umbra Et rivus caperet lenè fluentis aquae, Taedia seu ruris fugiens trahereris in urbem Et populi insano perstreperere freto. Quos non assiduè peperere haec otia foetus, Otia iucundis usque referta bonis? Illic sponte tuis parebant carmina nervis, Nec tibi difficilis Musa, poeta, fuit. Saepe sub arguta residebas ilice cantans, Tempora quod vivax vinceret atque necem;

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Arida Tantalea torqueor ora siti. Testor inexhaustas Beckheri torridus artes. Limite se dirimunt vitaque morsque levi, Et tamen exanima venit haec tibi naenia dextra Affectu vires suppeditante mihi. Haeret parva meo semper Reginula lecto, Margretae sacro foedere iuncta tuae. Dum percontatur funestum garrula morbum, Ad causam refero flens mala nostra tuam. Protinus abiectis flet et illa tenerrima pupis, Coniugis admota vix cohibenda manu. Non hic 128 praesago caruit malus omine casus, Indicio patuit iam priùs ille mihi. Pars ea noctis erat, quâ Morpheus vera figurat Somnia, mulcebat lumina nostra sopor. Adventare mihi visus sum cernere fratres, Dissimiles forma, veste tamen similes. Nam lacerum in tristi gestabunt corpore cultum, Flebilis in cunctis vox faciesque fuit. Ad minimum natu versus quaero, »quis? et unde?« »Bergiadae auxilio venimus«, ille refert. Excutior somno Pohliaeque haec visa renarro, »Nullus, mi coniunx, est tibi frater«, ait. »Bergiadae metuo faciat ne naenia fratres, Dixerit et summum iam tibi Greta vale.« Surgit et explorat pavidas stupefacta ministras, Margarin extremum discit obisse diem. Ducimus ex alto taciti suspiria corde, Et miseras tinguit plurima gutta genas. Eheu quam surda mors omnia respuit aure, Aeterna captos sub ditione tenens. Non illam pietas, non sancti foedus amoris, Non et amicitiae candida iura movent. Non illam, ut posses Orpheus novus ire sub umbras, Redderet ad cantus Persephonea tuos. Quae dum sidereos incedit diva per ignes, Nacta novum nomen stellula, nacta decus. Non, mihi si credis, nimios profundere fletus, Illi profuerit, sed tacuisse tibi. Fac tibi nunc adsis, animos exprome viriles, Lecta tibi quondam vita modesta probet. Quae non emendes, animo tolerare 129 sereno _______ 128 129

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Esse viri fortis compositique reor. Omnia consumit tempus minuitque dolorem, Anticipet ratio consiliumque diem. Mox tua cum veteres reparabunt carmina vires Adque suas partes Musa redibit iners, Quà potes, illius coniunx memor assere famam, Spiret et in chartis plurima Greta tuis. Quae tibi dexteritas faciles est nectere rythmos, Laudibus ex eius cantica multa dabis. Quae facilè ediscant Brasenecia numina Fauni, Discat et inversa lassus arator humo. Quae legat arboribus cunctis incisa viator, Mobilibusque loquax frondibus aura canat. Fortiter haec agita commendans coetera fatis, Circulus hic rerum est vivere moxque mori.

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Simon Dachius. Quelle: Naeniae in funere foeminae nobilis lectissimae et pudicissimae Margarethae Königes/ viri nobilis amplissimi et clarissimi Dn. Rottgeri zum Bergen/ S. Reg. Maiest. Polon. et Sueciae Secretarii Haereditarii in Braseneck etc. desideratissimae coniugis scriptae. M DC XLIX. III. Non. Novembres. Regiomonti: praelo Reusneriano [1649], Bl. A2v–A4v (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,146 R).

Anmerkungen: 3 Brasenecidis] Gräzisierende Adjektivbildung zu ›Braseneck‹, dem Namen von zum Bergens Landgut (in V. 109 lat. Adjektivform »Brasenecia«). 9 parebant carmina] Vgl. Text 3.1, V. 15. 13–14 leves Satyri Dryas] Die ziegenfüßigen Waldgötter und die Baumnymphen als Vertreter und Bestandteile der bukolischen Welt, in der sich zum Bergen auf seinem Gut bewegte. 15 Gramine purpureo] Vermutlich Heidekraut. 20 Löselio] Johannes Lösel (1607 – 1655), Professor der Botanik und Anatomie in Königsberg (nochmals genannt V. 51). S. APB 1, S. 404 (Lehnerdt). Dach schrieb ihm 1640 ein Gedicht zu seiner Hochzeit (»Johann Lösel und Catharina Lepner.« In: ZIESEMER I, S. 77), zwei Epicedien zum Tode zweier Kinder ([Inc.:] »EIn Kind sey leichtlich zu verschmertzen«. In: Ebd. III, S. 341 ff.; »Einfältige vnd gutgemeinte Trost=Reimchen.« In: Ebd. IV, S. 29 f.) und eines auf seinen eigenen ([Inc.:] »VNd lohnt es denn der Arbeit wol«. In: Ebd. IV, S. 261 ff.). 20 solüenda] Die Pünktchen über dem u sind als Trema zu verstehen (der eigentlich zu erwartende v-Laut soll vokalisch gelesen werden zwecks Gewin-

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nung einer metrisch notwendigen weiteren Silbe). Inhaltlicher Bezug zu »lemmata« sehr unklar. Ich vermute, daß es hier um die Enträtselung arguter epigrammatischer Dichtung geht und habe entsprechend übersetzt. 30 Ceres] Der Name der Getreidegöttin hier offenbar (wie nicht selten) als Bezeichnung für Bier. 35 laurus myrtusque] Mit der der Venus heiligen Myrte (hier als Sinnbild ehelicher Liebe) hat zum Bergen auch den Lorbeer des Dichters verloren, da die Trauer um seine Frau ihm, wie im folgenden ausgeführt, alle Poesie verleidet hat. 37 matre] Venus. 38 Charites] Die Göttinnen der Anmut. 38 doctus cumque Helicone pater] Der den Musen heilige Berg Helikon in Böotien hier als Metonymie für die Gemeinschaft der Musen selbst. Der »gelehrte Vater« ist Apollo, der Anführer und Beschützer der Musen, nach einer Sagenversion auch deren Vater. 43 Statius ... versu] Dach bezieht sich hier wörtlich auf Iuv. 7, 86 (»fregit subsellia versu«), wo davon die Rede ist, daß die Zuhörer, als der römische Epiker Statius aus seiner Thebais rezitierte, vor Begeisterung die Sitzbänke zerbrochen hätten. 49 COIUS] Johannes Koy (1589 – 1659), Bürgermeister der Altstadt Königsberg. Dach schrieb ihm 1633 ein Gedicht zu seiner Hochzeit (»Johannes Koy und Margarete Twel.« In: ZIESEMER I, S. 18). 51 Löselius] S.o. zu V. 20. 52 Hollenderi] Wohl der Ratsherr und Hofgerichtsadvokat, später (1656) auch Bürgermeister des Kneiphofs Andreas Hollender bzw. Holländer (1602 – 1667). S. APB 1, S. 284 f. (Krollmann). Dach schrieb ihm 1646 ein Leichgedicht zum Tode seines Sohns ([Inc.:] »OB du dich lässest, Sohn, der Vnschuld Flügel tragen«. In: ZIESEMER III, S. 149). 54 Pohliamque] Dachs Ehefrau Regina, geb. Pohl. 57 Bronten Steropenque] Zwei der Pferde, die den Wagen des Sonnengottes ziehen, hier als Sinnbild großer Hitze. 58 Tantalea siti] Anspielung auf die Qualen des Tantalus, der als Büßer in der Unterwelt ewig Hunger und Durst zu leiden hatte. 59 Beckheri] Zweifellos der Königsberger Arzt und Medizinprofessor Daniel Beckher (1594 – 1653). S. ADB 2, S. 236 f. (A. Hirsch); APB 1, S. 38 (Schwarz). Wie dieser Vers verrät, gehörte Dach zu seinen Patienten. Zu Beckhers Tode schrieb er ein Epicedium (»Schmertzliche Klage und einfältiger Trost.« In: ZIESEMER IV, S. 155 f.). 63 parva Reginula] Regina Dach, die ältere von Dachs beiden Töchtern (geb. 1646). 64 sacro foedere iuncta] Wohl so zu verstehen, daß die verstorbene Margarete zum Bergen Reginas Patin war.

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Übersetzung: An den tiefbetrübten Witwer Bisher schienst du mir in nicht nur einer einzigen Beziehung glücklich: Du warst, zum Bergen, ein Geschöpf schwelgerischen Geschicks. Alles lachte [dich an]: ob dich nun die behagliche Ruhe von Braseneck und der Bach mit seinem sanft fließenden Wasser betörten oder ob es dich, wenn du die Langeweile des Landlebens flohst, in die Stadt zog und du von dem gedankenlosen Lärmen des Volkes erfaßt wurdest. Welche Früchte hat diese Muße nicht fortwährend hervorgebracht: Muße, die ständig mit angenehmem Nutzen angefüllt war! Dort fügten sich die Gedichte von selbst deinen Kräften, und die Muse, Dichter, war nicht spröde zu dir. Oft saßest du unter der rauschenden Eiche und sangest, was lebendig bleiben und Zeit und Tod besiegen konnte. Oft haben leichtsinnige Satyrn und die begehrte Dryade, die sich in dem ausgedehnten Laub verbarg, den Sänger unterbrochen, während im purpurnen Kraut ringsum die Zikade zirpte und Zephyr mit dem Laub des Baums die Zither schlug. Hier umgaben dich in kluger Kolonne zahllose Bücher, über die du als unsträflicher Gebieter Recht sprachst. Daher bekamen wir so viele gelehrte Epigramme auf dankbarem Papier zu Gesicht, die bald von mir, bald von deinem Lösel zu entschlüsseln waren, während das Haus unterdessen die einzigartige Margaris erblickte. Jene einzige Margaris war das Herz deines Heims. Jene Margaris trieb deine Hausknechte an, jeden zu seiner Aufgabe, sie teilte den Mägden das Tagewerk am Spinnrocken zu. Margaris wurde ›Fürsorge des sommerlichen Gutsbetriebs‹ genannt – emsig sah sie bald nach dem Vieh, bald nach den Äckern. Margaris kümmerte sich zur Winterszeit um alles, gewöhnt daran, die durch eine gute Ernte erworbenen Nahrungsmittel zu verkaufen. Ach, wenn ich nicht irre, hat einst ihr Bier mich und die Meinen – du weißt es wohl! – zwei Jahre lang getränkt. Welch rasendes Schicksal hat deine Ruhe gestört? Mit jener Frau stirbt Leben und Zierde deines Bettes. Durch ihren Tod hat sie deine Freuden, zum Bergen, mit sich genommen, und ein einziges Stück Erde birgt diese Frau und deine Kurzweil. Lorbeer und Myrte fiel also von deinem Haar, als der Taxus der Totenfeier deinen Schopf umwand. Es schweigt die Muse, es schweigt erschüttert Cupido nebst seiner Mutter, auch die Charitinnen und, zusammen mit dem Helikon, der gelehrte Vater. So viele feine Schriften versinken durch den traurigen Todesfall, und niemand mehr wird wie früher Gedichte von dir lesen. Nichts hast du mit Flaccus [Horaz], nichts mit Naso [Ovid] im Sinn, den Würmern wird Catull, den Motten Tibull eine Beute sein. Statius, der mit dem heroischen Vers Sitzbänke zerbrach, und sogar Maro [Vergil] liegen unbeachtet im Finstern verborgen, während wir dein Haus von Trauerklagen erschallen hören und die Tränen fließen wie ein reißender Fluß. Du weinst, und mit dir weinen zugleich wir, deine bestürzten Freunde, und, glaube [mir], du hast Menschen, die an dem großen Schmerz Anteil nehmen. Koy, die Ehre der Altstadt, seufzt feuchten Antlitzes, so als ob seine Schwester oder seine Mutter beigesetzt werden sollte. Lösel verdirbt seine Augen mit Freundestränen; Hollenders Ant-

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litz ist nicht von Zähren frei. Du fragst, ob auch in unserem Haus Trauer herrscht? O weh, Margaris macht durch den Trauerfall mir und [meiner] Pohlin zu schaffen. Vielleicht ist dieser Schmerz auch in meine Glieder gedrungen und hat sich durch Umwandlung in das Leibschneiden eines bösen Fiebers verflüchtigt. Ich habe Bronte und Sterope in meinem brennenden Hirn, mein Mund ist trocken, und mich quält tantalischer Durst. Ausgedörrt rufe ich Beckhers unerschöpfliche Künste zu Zeugen auf. Leben und Tod trennt nur eine schmale Grenze, und dennoch kommt diese Nänie von halbtoter Hand zu dir – wobei mir der seelische Aufruhr Kräfte leiht. Das kleine Reginchen, das deiner Margareta durch heiligen Bund verknüpft ist, harrt ständig bei meinem Bett aus. Während sie sich schwatzhaft nach der todbringenden Krankheit erkundigt, bringe ich weinend mein Übel mit deinem [Trauer-]Fall in Verbindung. Sogleich wirft dieses kleine Mädchen seine Puppen beiseite und weint und ist auch durch das Eingreifen meiner Frau kaum zu beschwichtigen. Dieses schlimme Ereignis entbehrte nicht eines weissagenden Omens; durch ein Indiz war es mir schon vorher offenbar. Es war der Teil der Nacht, in dem Morpheus Wahrträume gestaltet; sanft wiegte der Schlummer meine Augen ein. Mir schien, als sähe ich Brüder herbeieilen, von unähnlicher Gestalt, aber ähnlicher Kleidung. Denn an ihrem traurigen Körper trugen sie ein zerrissenes Gewand; Stimme und Antlitz waren bei allen die von Weinenden. An den Jüngsten gewandt fragte ich: »Wer bist du und woher kommst du?« Jener sagte: »Wir kommen der zum Bergen zu Hilfe.« Ich fahre aus dem Schlaf empor und berichte [meiner] Pohlin von diesem Traumgesicht. Sie sagt: »Mein lieber Mann, du hast keinen Bruder! Ich fürchte, daß es ein Trauerfall ist, der der Frau zum Bergen Brüder verschafft, und Greta dir gerade das letzte Lebewohl gesagt hat.« Sie stand auf, und ganz außer sich forschte sie die angsterfüllten Dienerinnen aus: Sie erfuhr, daß Margaris gestorben sei. Schweigend seufzten wir auf aus tiefstem Herzen, und die armen Wangen netzte ein Strom von Tränen. Wehe, wie lehnt der Tod tauben Ohres alles ab, seine Gefangenen unter ewiger Botmäßigkeit haltend! Ihn rühren keine Frömmigkeit, kein Bund heiliger Liebe, auch nicht die reinen Ansprüche der Freundschaft. Wenn du auch als neuer Orpheus die Schattenwelt betreten könntest, würde Persephone jene [Tote] zu deinen Gesängen nicht zurückgeben. Während sie vergöttlicht durch das Sternengefunkel schreitet, hat sie als kleiner Stern einen neuen Namen, eine neue Zierde erworben. Wenn du mir vertraust: Allzu viele Klagen zu verströmen, wird ihr nicht nützen; dir aber [wird es frommen], wenn du schweigst. Nimm dich zusammen, zeige ein mannhaftes Gemüt! Das Leben, das du dir einst erwählt hast, kann den Wert maßvollen Verhaltens bestätigen. Ich glaube, daß es sich für einen tapferen und gesetzten Mann geziemt, das, was man nicht verbessern kann, heiteren Gemütes zu erdulden. Die Zeit nimmt alles hinweg und mindert den Schmerz. Vernunft und Klugheit können [diesen] Zeitpunkt vorwegnehmen. Wenn alsbald deine Gedichte [ihre] alten Kräfte wiedergewinnen werden und die untätige Muse zu ihrer Aufgabe zurückkehren wird, dann bekräftige, so gut du kannst, als dankbar gedenkender Gatte den Ruhm jener Frau, und in deinen Blättern atme Greta allerorten. Bei deiner Gewandtheit, gefällige Verse aneinanderzuknüpfen, wirst

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du viele Gesänge verfassen, die ihr Lob zum Thema haben. Diese mögen die Gottheiten von Braseneck, die Faune, gern auswendig lernen, und es soll sie auch lernen der Pflüger, der müde ist vom Umpflügen der Erde. Es soll sie, eingeschnitten in alle Bäume, der Wanderer lesen, und die redselige Luft soll sie aus allen regsamen Blättern verkünden. Dies betreibe energisch, und alles übrige überlaß dem Schicksal. Es ist dies der Kreislauf der Dinge: Leben und bald sterben. Simon Dach

1.2. Auf den Tod des Studenten Wilhelm Buthner (1654) In luctuosum obitum Wilhelmi Buthneri, Regiom. Boruss. SS. LL. Studiosi, qui in ipso aetatis et studiorum flore hostili gladio confossus miserè interiit. Quisquis iuventae fidit et florentibus Superbit annis viribusque ferreis Mortem lacessit seque fati non putat Subesse legi iura ridens manium, Docendus adsit atque BUTHNERI trucem Casum arbitretur exitumque flebilem. Ní pectus illi mole saxea riget Duroque sanguis horret adstrictus gelu, Tristis recedet deque corporis sui Valore et annis sentiet submissius Mortalitatis semet admonens suae. Quis ex ephebis, quotquot 130 híc Musas colunt Aut Martis alibi studia tractant, sese ei Proceritate corporis tulit parem? Quis ore pulcro et artuum decentia? Hanc Phoebus optet ipse caesariem sibi. Quin et iuventa, si queat, desideret Sub hac figura conspici mortalibus. Tamque elegantis ô quis hospitem domus Animum celebret atque virtutum decus? Níl segne, níl servile volvit masculo Sub corde, nîl, quod praemio laudum minus Se venditabat. Gloriam quod eminus Lucemque honesti sparsit, huc per improbos Navus labores se tulit magno gradu. Nostras quid artes attinet nunc eloqui, A primulis quas hausit annis impiger? _______ 130

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Iam Tullianis eloquentiam sibi Parârat armis, iam per aevi tempora Mentem vetusti miserat, prudentiam Se cive dignam colligens, volumina Iam sancta iuris tetigerat fastigium Sublime honoris ritè prensurus brevi. Sed heu! quid ista mortis adversus manum et Crudele ferrum, cuius ictibus feris Traiectus obiit, languida ut marcet rosa Saevo impetita liliumque frigore? Illum quidem spectata iampridem satis Pietas amorque Numinis coelo imputat. Suspiriis enim licet novissimis Haut astra claudit animus immensi Patris. Lamenta sed quae quosve planctus heu! suis Abiens reliquit! Eius exemplo tuis Consulere rebus disce tandem, si sapis, Imberbis aetas, et virentibus nimis Diffidere annis corporisque robori. Quà quando ubique Mortis adrepat gradus Novisse non est creditum mortalibus. Eiusque, nigris cum strepens alis adest, Admittere animo masculo impetum gravem Scientiarum calculo omni maxima est.

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SIMON DACHIUS, PP. Quelle: Einblattdruck, einseitig bedruckt, Regiomonti: praelo Reusneriano 1654 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–1,129 R).

Übersetzung: Auf den jammervollen Tod Wilhelm Buthners, eines aus Königsberg in Preußen stammenden Studenten des ehrwürdigen weltlichen Rechts, der, gerade in der Blüte seines Alters und seiner Studien, durchbohrt von feindlichem Schwert, elendiglich gestorben ist. Wer es auch sei, der auf seine Jugend vertraut und sich mit der Blüte seiner Jahre brüstet, mit der Gewalt der Klinge den Tod herausfordert und glaubt, daß er dem Gesetz des Schicksals nicht unterworfen sei, die Macht der Totenwelt verlachend, der lasse sich hiesigen Orts belehren und bedenke den schaurigen Untergang und den beweinenswerten Tod Buthners. Wenn seine Brust nicht verhärtet ist durch einen steinernen Klumpen und sein Blut nicht zu hartem Eis erstarrt ist, wird er traurig heimkehren, demütiger über den Wert seines Körpers

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und über sein Alter denken und sich an seine Sterblichkeit erinnern. Wer von den jungen Männern hier, die die Musen verehren oder irgendwo das Kriegshandwerk treiben, konnte sich rühmen, ihm an Körpergröße gleich zu sein, ihm gleich zu sein an Schönheit des Antlitzes und Ebenmaß der Glieder? Diesen Haarschopf konnte sich selbst Phoebus wünschen! Und warum hätte nicht die Jugend begierig sein sollen, sich nach Möglichkeit den Menschen in einer solchen Gestalt zu zeigen? O, und wer sollte nicht den Gast eines so feinen Hauses, den Geist und die Zierde der Tugenden, verherrlichen? Nichts Schwerfälliges, nichts Knechtisches bewegte er in seinem männlichen Herzen, nichts, was sich eher nicht dazu anbot, mit Ruhm belohnt zu werden. Was von fern den lichtvollen Ruhm des Ehrbaren verbreitete, dahin begab er sich rührig unter unermeßlichen Mühen großen Schrittes. Was liegt daran, jetzt von unseren Künsten zu reden, die er von frühester Jugend an unverdrossen in sich aufgenommen hatte? Bald hatte er sich mit Ciceronianischem Rüstzeug Beredsamkeit erworben, bald seinen Geist durch die Zeiten der Vergangenheit geschickt, Klugheit erwerbend, die seiner als eines Bürgers würdig war, bald hatte er die heiligen Bücher des Rechts zur Hand genommen, im Begriff stehend, demnächst den hohen Gipfel der Ehre auf gehörige Weise zu erklimmen. Doch ach! Was ist dies schon gegen die Hand des Todes und den grausamen Stahl, von dessen brutalen Stößen durchbohrt er dahinging, so wie eine Rose und eine Lilie matt verwelken, wenn sie von strengem Frost heimgesucht werden. Jenen freilich weist seine schon seit langem genugsam bewährte Frömmigkeit und Gottesliebe dem Himmel zu. Vor Seufzern nämlich, auch wenn sie die letzten sind, verschließt der Geist des unermeßlichen Vaters nicht die Sterne. Aber welches Wehklagen, ach, welches Trauergeschrei hinterließ er seinen Angehörigen mit seinem Fortgang! Lerne endlich, wenn du klug bist, bartloses Alter, dein Leben nach dessen [warnendem] Beispiel vernünftig einzurichten und der Blüte deiner Jahre und deiner Körperkraft stark zu mißtrauen. Zu wissen, wie, wann und wo der Schritt des Todes sich anschleicht, ist den Sterblichen nicht vergönnt. Und dessen wuchtigen Angriff männlichen Geistes hinzunehmen, wenn er, mit schwarzen Flügeln rauschend, da ist, dies ist, nach jeder Berechnung, die größte der Wissenschaften. Simon Dach, Öffentlicher Professor

2. Epithalamien 2.1. Auf die zweite Hochzeit Sigismund Weiers und der Witwe Susanna Selig (1639) Quisquis es, Ausonias cui ferri dicor in artes Segnis, et ad carmen totus trepidare togatum, Nec nisi Teutonicos verniliter edere cantus, Falleris, ingenium si turpi examine nostrum

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Fortè tuo par esse putas, cui terna daturo Disticha, quae nullo scribuntur Apolline, saevus Hannibal ad portas est, aut condenda Quirini Martia gens, quando digitis trepidantibus omnem Parnassum evolvis sudans et pectus anhelum Textoris tibi lassat opus nec proficis hilum, Thesauros quamvis aereriaque omnia verses. Tandem ubi mancipium vecors faedusque rogator Emendicatis placâsti guttura buccis, Vix tibi respondes soli, monstrumque nefandum Et tristem Musis plorantibus edis abortum. Absit, ego ut fuerim sic aethere natus iniquo, Non quia Pegasei mea proluerim ora caballi Fonte, biceps aut formârit mihi somnia quondam Parnassus, nostris non haec fiducia rebus, Sic tamen irato nunquam 131 mihi vivere Phoebo Contigit, ut Latio ducam pede condere versum Maius opus, patriâ benè quàm cantare Camoena. Hactenus haut visum est aliter quàm pollice nostro Teutonis increpuisse lyram, si nectare Graio Ausoniove queam patrias perfundere voces. Quod si vile putas, tenta, Veneresque vetustas Germanaque mihi cunctos sub veste lepores Siste, quibus medio plaudant Helicone sorores. Dispeream, si tu, partes licet actus in omnes, Aut caput invenies aut calcem. Scilicet alti Pectoris haec res est, pronus quod perpluit aether Oceano rerum et vastos subvectat in ausus. Quale meo fuerat, qui nuper OPITIUS orbem Tot meritis famaque suum, livore vel ipso Teste, bono cuîvis nunquam non flendus olympo Mutavit, vir et ingenio virtuteque summus, Qui nunc Weiero (modò Parca dedisset) amico Gaudia tedarum gratatus amoena fuisset, Illum sicut erat niveo complexus amore Dexter in omne genus scripti, seu lege solutum, Seu iuvet adstrictum numeris et carmine volvi. Hunc et consimiles animos heroa subintrat Ingenii virtus, et pars divinior aurae, Fastiditque tui plebeiam nominis umbram. Sed mihi quid tecum est? Nec enim tu, barde, senatus Pierii dictator ades censorve vocatus, Cui tenear studii rationem exponere nostri. _______ 131

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Gaudent vicinis securi matribus agni, Aut ubi vis Boreae vesano murmure sylvis Incubuit, tutas praestant querceta myricas. Ipse tibi positis sua carpit plectra pharetris Phoebus, et arguto tua fert connubia cantu Per populos urbesque. Canunt tua festa Napeae Et Dryades teneris mistae per gramina Musis Pensantes nostri iacturam carminis omnes. At tu, qui violas haec nunc mihi gaudia meque Irarum comples et in fera iurgia raptas, In tua quaesitis malefidae opprobria linguae Arctius inveherer dictis, nisi tela Cupido Stringeret et nollet permittere plura dolori. Iudicio posthac tu discito parciùs uti Et vitare catus GENUS IRRITABILE VATUM.

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Scripsit Simon Dachius. Quelle: Secundis nuptiis clarissimi et excellentissimi Dn. M. Sigismundi Weieri Sereniss. Elect. Brandeb. Bibliothecarii, et in Academia Regiomontana Historiarum Professoris nec non ibidem Senioris ut et matronarum lectissimae Susannae Seligin clarissimi et praestantissimi Dn. M. Petri Mauritii Scholae Palaeopolitanae Rectoris quondam laudatissimi relictae viduae. Regiomonti: typis haeredum Segebadii 1639. – 2 Bll., unsign. (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–5 R).

Anmerkungen: 1 Ausonias artes] Umschreibung für ›lateinische Dichtkunst‹, ebenso wie V. 2 »carmen togatum« (nach der Toga als typischem Gewand des römischen Bürgers). 6 nullo Apolline] D.h. ohne künstlerische Inspiration. 7 Hannibal ad portas] Redensartlich für eine sehr gefährliche, prekäre Situation; Bezugnahme auf das bekannte historische Ereignis im 2. Punischen Krieg, als der karthagische Feldherr Hannibal im Jahre 211 v. Chr. vor den Toren Roms stand (s. A[ugust] Otto: Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer. Leipzig: Teubner 1890 [ND Hildesheim: Olms 1964], S. 158 f.). 7–8 condenda ... gens] Die von Aeneas in die Wege geleitete Gründung Roms als Inbegriff einer nur unter größten Mühen und Strapazen zu bewältigenden Leistung, in Anlehnung an den berühmten Vers Verg. Aen. 1, 33: »Tantae molis erat Romanam condere gentem.« (»So große Mühe erforderte es, das römische Volk zu begründen.«).

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8–9 omnem Parnassum] Der zweigipflige Musenberg hier als Sinnbild für die Gesamtheit aller Dichter und ihrer Werke. 10 Textoris opus] Hemd oder Jacke, die sich bei heftigem Atemholen mit dem Brustkorb bewegen und insofern strapaziert werden. 11 Thesauros aerariaque] Florilegien- oder Loci-communes-Sammlungen, aus denen sich Autoren zum Zweck der Inventio bedienten. 17–19 Pegasei ... Parnassus] Nach Pers., Prol. 1–3: »Nec fonte labra prolui caballino | Nec in bicipiti somniasse Parnaso | Memini, ut repente sic poeta prodirem.« 17–18 Pegasei caballi Fonte] Der Musenquell Hippokrene, den Pegasus mit einem Huftritt hervorgerufen hat. 21–22 ut Latio ... Camoena] Es gibt aber Äußerungen Dachs, in denen er gerade die gegenteilige Ansicht zu vertreten scheint (s.o. S. 233 ff. die dort mitgeteilten Zitate). 24 Teutonis] ›Teuto‹ kann hier den Namen eines sagenhaften Königs oder Gottes der germanisch/deutschen Frühzeit (als Inbegriff des Deutschtums) bezeichnen (vgl. Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 42. Halle [u.a.]: Johann Heinrich Zedler 1744, Sp. 1658–1662 s.v. »Teut« und »Teutanes«), aber auch einfach als ›der Deutsche‹ im Sinne eines Kollektivnamens verstanden werden. 28 Helicone] S.o. zu Text 1.1, V. 38. 28 sorores] Die Musen. 30 Aut caput ... aut calcem] Redensartlich (s. Otto: Die Sprichwörter [wie Anm. zu V. 7], S. 74 f.). 33–36 OPITIUS ... Mutavit] Opitz war am 20. August 1639 verstorben. 49–50 Tincta ... Archilochus] Der griechische Lyriker Archilochos (7. Jh. v. Chr.) soll den Thebaner Lykambes, weil dieser ihm seine Tochter Neobule verweigert hatte, mit Spottgesängen in den Tod getrieben haben. 50 iambus] Als das Metrum, das in der Antike vornehmlich für Invektiven verwendet wurde. 51 dememinisse] Ein nur im Mittellateinischen (in der Bedeutung ›vergessen‹) belegtes Verb (R[onald] E[dward] Latham, D[avid] R. Howlett: Dictionary of Medieval Latin from British Sources. Vol. 1. London: Oxford University Press 1997, S. 605). 54 Diva Paphi] Venus (wegen ihres berühmten Tempels in der zyprischen Stadt Paphos). 61 Idalios ignes] Soviel wie ›Liebesglut‹. Idalium hießen ein Vorgebirge und eine Stadt auf Zypern. Es gab dort einen Tempel und einen heiligen Hain der Venus. 65 Indigitem] Von ›indigitare‹ (›aufzeigen‹, ›benennen‹), ein der klassischen Latinität unbekanntes Verb, belegt bei Lorenz Diefenbach: Glossarium LatinoGermanicum mediae et infimae aetatis. Frankfurt/M.: Baer 1857 (ND Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997), S. 294. 85 Dionae] Diona bzw. Dione ist ein anderer Name für Venus. 98 Napeae] Die Nymphen der Waldtäler.

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99 Dryades] Baumnymphen. 100 Pensantes ... omnes] D.h., der Gesang der Napäen und Dryaden wird Weier für den Verlust entschädigen, den er dadurch erlitten hat, daß Dach, abgelenkt durch den Streit mit seinem literarischen Feind, ihm kein ganz sachund formgerechtes Epithalamium liefern konnte (vgl. V. 52–58). 107 GENUS IRRITABILE VATUM] = Hor. epist. 2, 2, 102.

Übersetzung: Wer auch immer du bist, der von mir behauptet, daß ich mich den römischen Künsten nur schwerfällig näherte, an ein lateinisches Gedicht nur am ganzen Leibe zitternd heranginge und subaltern nur deutschsprachige Gesänge verfaßte: Du irrst dich, falls du aufgrund einer unsauberen Untersuchung etwa glaubst, daß mein Talent dem deinigen gleich sei – du, für den, wenn du dich anschickst, drei Distichen zu produzieren, die ohne Beistand Apollos geschrieben werden, der schreckliche Hannibal vor den Toren steht oder für den die Gründung des kriegerischen Römervolkes zu bewerkstelligen ist, wenn du mit zitternden Fingern schwitzend den ganzen Parnaß durchstöberst und dir die keuchende Brust das Werk des Webers strapaziert und du auch nicht das Geringste zustande bringst, obwohl du alle Fundgruben und Schatzkammern auf den Kopf stellst. Sobald du schließlich, ein aberwitziger Sklave und verächtlicher Schnorrer, deine Kehle mit erbettelten Bissen befriedigt hast, wirst du mit knapper Not gerade dir allein gerecht und bringst ein gottloses Ungeheuer und unter Tränen der Musen eine traurige Fehlgeburt zur Welt. Da sei Gott vor, daß ich meinerseits unter einem so ungünstigen Stern geboren sein sollte: Nicht, weil ich meinen Mund mit dem Quell des Pferdes Pegasus benetzt oder weil mir einst der zweigipflige Parnassus Träume geformt hätte – so weit geht mein Selbstbewußtsein nicht! Gleichwohl hatte ich nie das Pech, so unter dem Zorn Apollos zu leben, daß ich es für eine bedeutendere Leistung hielte, einen Vers in lateinischem Maß zu verfassen, als gut zu singen kraft heimatlicher Muse. Bisher schien es gerade so, als ertöne durch meinen Daumen die Leier Teutos, wenn ich die heimischen Reden mit griechischem oder römischem Nektar zu benetzen imstande war. Falls du das primitiv findest, versuch’ es und führe mir die alten Schönheiten und alle Reize, denen die Schwestern mitten vom Helikon her Beifall spenden können, in deutschem Gewand vor. Ich will des Todes sein, wenn du, sollte es dich auch in alle Richtungen treiben, Kopf oder Ferse finden wirst. Das ist nämlich eine Sache, die einen hohen Geist erfordert: einen Geist, den ein wohlgesinnter Himmel mit dem Ozean der Dinge beregnet und zu ungeheuren Unternehmungen treibt. Einen solchen Geist besaß mein Opitz, der kürzlich den Erdkreis, der, was sogar der Neid selbst bezeugt, durch den Ruhm seiner zahlreichen Verdienste der seinige war, zur unablässigen Trauer jedes guten Menschen mit dem Himmel vertauscht hat: ein nach Begabung und Tugend höchstrangiger Mann, der jetzt seinem Freund Weier (wenn die Parze es nur erlaubt hätte) zu den lieblichen Hochzeitsfreuden gratuliert hätte, zumal er ihm in ma-

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kelloser Liebe zugetan war – jeder Schreibart gewachsen, ob es ihm nun gefiele, sich in der ungebundenen oder in der durch das Versmaß gebundenen zu bewegen. In diesen Mann und in die ihm in jeder Hinsicht ähnlichen Geister hält Einzug eine heroische Kraft des Geistes und der göttlichere Teil der Luft, und es stößt ihn ab die plebejische Dunkelheit deines Namens. Doch was habe ich mit dir zu schaffen? Du Dummkopf fungierst hier ja nicht als herbeigerufener Diktator des Rats der Musen oder als Censor, dem gegenüber ich zur Darlegung der Art und Weise meiner geistigen Beschäftigung verpflichtet wäre. Falls du hiernach fortfahren wirst, Dichter mit Beschimpfungen anzufallen, wird mir Archilochus mit lykambeischem Blut benetzte Waffen liefern, der Jambus wird meine Interessen verteidigen und dich zwingen, meine Angelegenheiten zu vergessen. Habe Nachsicht, Weier, in dessen Brust wiederum ein Feuer auflodernd entbrennt und bei dem die Göttin von Paphos wieder Einkehr hält und die erloschene Liebe entzündet: Ich hatte nicht die Absicht, deine Hochzeit auf diese Weise zu verherrlichen. Siehe, Wut und Schmerz entziehen uns, schnell überhandnehmend, Sangeslust und -kunst. Das aufgewühlte Herz empfindet nur bleichen Zorn und sinnt auf Kampf mit unbezähmbarem Krummsäbel. Dennoch will ich mich, wiewohl widerstrebend, für ein paar Worte ablenken lassen, damit du zuverlässige Kenntnis hast von der Fülle meiner guten Wünsche: O Muse, die du der Venus idalische Glut durch Gesang erhebst, sage, weshalb fügt sich Weier nochmals der Liebe? Warum hat er Lust, nochmals eine Ehe einzugehen? Warum öffnet sich ein alter Mann der Liebesglut und leistet den Dienst eines jungen – ein Mann, von dem ich mit Recht sagen könnte, daß er in unserem Gymnasium schon längst ausgedient hat? Warum läßt sich das kluge eisgraue Alter von den Zügeln eines Knaben festhalten, eignet sich die Gepflogenheiten von Verliebten an und bringt seine ernsten Geschäfte mit einer ihnen zuwiderlaufenden Tändelei in Verwirrung? – So war meine Rede. Doch du, Bräutigam, schienst wie folgt auf meine Frage zu erwidern: »Es ist nicht recht, daß du die Muse aufforderst, gelehrt alle Gründe der Ordnung nach darzulegen, weshalb ich nochmals heirate und mich als alter Mann unter die Herrschaft einer zweiten Ehe begebe. Ich habe mich entschlossen, nicht mitzuteilen, weshalb. Es steht fest: Allen übrigen Menschen ist zugestanden, nach ihrer Gewohnheit zu verfahren, und mir, nach der meinigen. [Mir] steht schon das 60. Lebensjahr unmittelbar bevor, und mein Leben hat sich in zahllosen Abläufen abgespielt, doch so, daß niemand meine Verhaltensweisen, als die eines Mannes, der stets die Ehre seines guten Leumunds behauptet hat, zu Recht schelten und tadeln kann. Gerade jetzt aber, da ich den Untergang meiner [früheren] Ehe [durch Eingehen einer neuen] wiedergutmache, werde ich unbekümmert darauf achten, daß mir hierbei nichts zum Schaden gereichen kann, obwohl ein Böswilliger schiefen Maules Schlechtes in seinen Bart brummen könnte.« Also schickt es sich, Bräutigam, von deiner Hochzeit nur das Beste zu sagen und ihr mit ehrlichem Glückwunsch Beifall zu spenden. Denn deine so vielfältig erprobte Klugheit bietet die Gewähr für alles, was du treibst; immer wird sie Dione begleiten und der zweiten Liebesglut mit Entschlossenheit ihr Maß setzen. Sie nimmt nichts auf gut Glück in Angriff, vorausschauend hilft sie einer

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untätigen Lebensform ab und rät gut für die Zukunft. O, wirst du, da dir glückliche Tage bevorstehen, jemals ein drückendes Greisenalter erleben? Im sicheren Besitz des erhofften Glücks wird es verlaufen und die Blitze des erzürnten Geschicks verlachen. Gerade so erfreuen sich, wenn die Nacht die Erde in feuchte Schatten hüllt, die Lämmer sorglos an den Müttern in ihrer Nähe. Oder auch: gerade so bieten die Eichenwälder den Tamarisken Sicherheit, wenn sich die Gewalt des Nordwindes mit rasendem Geheul über die Wälder gelegt hat. Phoebus selbst zupft, nachdem er den Köcher abgelegt hat, für dich seine Laute und verbreitet die Kunde von deiner Hochzeit mit klangvollem Gesang bei Völkern und in Städten. Deinen Festtag besingen im Grase die Napäen und die Dryaden in Gesellschaft der zarten Musen und ersetzen [dir] alle den Verlust meines Gedichts. – Du aber, der du mir jetzt diese meine Freuden vergällst, mich mit Zorn erfüllst und mich zu harten Streitereien hinreißt: Ich würde mit ausgesuchten Formulierungen schärfer gegen die Schmähreden deiner unredlichen Zunge vorgehen, wenn Cupido nicht die Geschosse zurückhielte und meinem Schmerz Weiteres untersagte. Lerne du, späterhin vorsichtiger zu urteilen und schlau zu meiden »das reizbare Geschlecht der Dichter«. Dies schrieb Simon Dach.

2.2. Auf die Hochzeit von Georg Mylius und Anna Colbe (1640) Epithalamium M. Georgii Mylii et Annae Colbiae. 6. Febr. 1640. Gens ad auream Diones semper excubans domum, Praeses et magistra risus innocentis et ioci Nata lusibus, choreis osculisque dulcibus, Qua Cupido ludionum more blandus utitur, Maximae simul parenti scenicos ludos parat, Mylium postquam calere sensit igne virginis, Virginis sed erudito patre natae COLBIO, Iamque suspirare sacrum noctis illius iubar, Intimam desiderata quae suadet copulam, Emicat saltu frequenti voce tinnula canens: Surge, mater alma, surge, linque gemmeum torum! Roscido tuos sopore mox ocellos expedi. Ecce qui tuam tuemur parva turba regiam Teque nutibus verendis obsequuti cingimus, Iam diu stamus parati quò vocemur alites, Iam diu suspensa collo tela baltheus gerit, Strictus omniumque flexis arcubus nervus riget, Iam diu nobis pharetrae gemmulis pictae nitent,

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Iam timet pudica virgo sentiens numen deae, Iam velit minus licere casta, quam sponso licet, Iam tremiscit et repugnat seque deposci dolet. Nox cupita, nox beata, iunge virginem viro! Virgo dediscet parentes, linquet et notos lares! Luget hanc frater sororque cum puellarum choro. Sponse, quos te fers in ausus, quò citus tendis gradum? Mitte paulisper puellam, cras eam duces domum. Nox cupita, nox beata, iunge virginem viro! Acrius sed sponsus urget, flamma differri negat, Imminet timendus hostis et licentia tumet, Praecipitque mente certam turgidus victoriam. Pessulum tristem morarum frangit Hercules Amor Cardinesque vi revellit, proruit victor fores, Praelioque se paranti sternit impiger viam. Nunc diu celatus ignis viribus sumtis furit 136 Per medullas perque venas, ossa per subitò means, Intimisque pabulatum dividit se sensibus. Nox cupita, nox beata, iunge virginem viro!

Quis ferat leges amanti, si vel ipse, qui suam Noctis aeternae tenebris lege certa coniugem Eximit canens, eadem legis immemor excidit? Flore ter felix puellae sponsus intravit torum, Mox triumphabit pudica mente servatum bonum. Tu vale, parens uterque, turba dulcis hospitum Virginesque Bregelanae! Qualis illa nunc abit, Nemini talis redibit, diva sic iubet Venus, Sic pharetratus Cupido gensque nos Cupidinis, Iamque nox adest petita virginem iungens viro!

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SIMON DACHIUS. Quelle: Auspicatissimum thalamum viro reverendo, clarissimo ac doctissimo, M. Georgio Mylio, Pastori Brandenburgensi, et lectissimae, pudicissimaeque virgini Annae, viri reverendi, clarissimi ac eximii, Georgii Colbii Ecclesiae Cathedralis Diaconi vigilantissimi filiae dilectissimae, gratulantur fautores ac amici, VI. Febr. anno M.DC.XL. Regiomonti: praelo Reusneriano [1640], Bl. B2r–B3v (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–9 R).

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Anmerkungen: 1–3 Gens ... lusibus] Eroten oder Amoretten, kindhafte kleine Liebesgötter im Gefolge der Venus (hier mit dem Namen Dione) mit ähnlicher Funktion und Ausstattung (Flügel, Pfeil und Bogen) wie ihr Sohn Cupido (V. 4), dessen Vervielfältigung sie eigentlich sind. 7 erudito ... COLBIO] Annas Vater war Georg Colbe (1594 – 1670), Diakon am Königsberger Dom. S. ADB 4, S. 398 (Erbkam); APB 1, S. 107 f. (Schwarz) Auf den Tod von Colbes Ehefrau Anna, geb. Lepner, schrieb Dach 1649 zwei Epicedien (»Des Himmels Seeligkeit stillt alles Hertzeleid.« In: ZIESEMER III, S. 307 f., und »Klag vnd Trost=Schrifftchen.« In: Ebd., S. 308 f.). 11 Surge ... surge] Dieser Teil des Refrainverses vermutlich inspiriert durch Ov. ars 1, 548: »Surge age, surge, pater« (Zuruf von Satyrn an den gerade von seinem Esel gestürzten trunkenen Silen). 30 Nemo ... dulcius] Der Pfarrer Georg Mylius gehörte dem Königsberger Dichterkreis an; er schrieb deutsche, lateinische und griechische Gedichte (s. Gedichte des Königsberger Dichterkreises [wie oben Anm. 102], S. XXIII f.). 31 Opitii ... barbitum] Der Name Opitz steht hier wie auch V. 33 für ein deutschsprachiges Gedicht, abgesetzt von einem lateinischen. 44 gazas Tagi] D.h. Gold, denn der spanische/portugiesische Fluß Tagus (heute Tajo bzw. Tejo) führte im Altertum Goldsand. 59 Anactorimque] Diese Bezeichnung für Königsberg nach griech. ċȞĮțIJȩȡİȠȢ (›königlich‹). Ähnlich auch Text 3.1, V. 1. 79–81 ipse ... canens] Orpheus.

Übersetzung: Epithalamium für Magister Georg Mylius und Anna Colbe. 6. Februar 1640 Nachdem das Völklein, das stets beim goldenen Haus Diones Wache hält, Schutzgeist und Lehrer unschuldigen Lachens und Scherzes, geboren zu Spielen, Reigentänzen und süßen Küssen – Cupido bedient sich seiner schmeichlerisch als Schauspieler, wenn er für seine mächtige Mutter Theaterspiele vorbereitet –, nachdem dieses Völklein gemerkt hatte, daß Mylius von feuriger Liebe zu einer Jungfrau glühte, einer Jungfrau aber, deren Vater der gelehrte Colbe ist, und daß er schon schmachtete nach dem heiligen Glanz jener Nacht, der ersehnten, die zu engster Verbindung verführt, da machte es viele Luftsprünge und sang mit tönender Stimme: »Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Befreie gleich deine Augen vom tauigen Schlummer. Siehe, wir Flügelwesen, die wir als kleine Schar dein Schloß beschützen und dich, deinen ehrwürdigen Winken gefügig, umringen, stehen schon lange bereit, [um zu fliegen,] wohin wir gerufen werden; lange schon enthält das Wehrgehenk vom Hals

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herabhängende Geschosse, und bei [uns] allen ist die Sehne an den gekrümmten Bogen hart gespannt, schon längst prangen uns die mit kleinen Edelsteinen verzierten Köcher. Herrlich erhebt sich für dich der Wagen mit goldener Deichsel, und siehe, das Gespann der Täubchen bereitet sich schon zur Reise. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Und wie lange noch wird traurige Sorge an des Mylius Gefühlen nagen? Die Sonne erblickt seine Verliebtheit, wenn sie zurückkehrt und wenn sie entschwindet; wie der Mond in jeder Erscheinungsform bezeugt, ist der Arme sterblich in seine Braut verliebt, den zahllosen Sternen am Himmel ist bewußt, daß er treu und beständig liebt. O weh, daß ihn in seiner Unruhe tiefe Seufzer heimsuchen! Die Worte, die er, heraufgeholt aus dem Innersten seines Herzens, vorgebracht hat, diese Worte erbitten demütig flehend deinen und deines Sohnes treuen Beistand. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Niemand auf dem Landgut am Pregel singt süßer als er – ob er nun ein Opitzisches Lied oder ein lateinisches aufs neue bearbeitet. Was immer er aber, als Teil der gelehrteren Dichter, singt, ob ein Lied nach Art des beredten Opitz oder ein lateinisches, ist aus Amors Diktat und aus dem deinigen, Göttin, hervorgegangen. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Niemand hat sich köstlicher mit der Frucht der Wissenschaft genährt – ob nun Heiliges oder Profanes kundzutun nötig wäre. Was immer er aber, ob heilig, ob profan, beginnt, das vermischt er, ob er will oder nicht, mit den Tändeleien der Liebesgötter. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Und nicht weniger wird die Jungfrau von einem entsprechenden Feuer verzehrt, die Jungfrau, die von keiner anderen Liebe weiß als von der ihres Mylius. Von diesem erklingt ihre Stimme, an ihn denkt sie, mit ihm wacht, von ihm träumt sie. Ihn begehrt sie unersättlich, in ihm sieht sie die Schätze des Tagus, in ihm sieht sie Ehrentitel, einen Triumph und königlichen Purpur. Sie sagt, Mylius bedeute die Herrschaft über den unermeßlichen Erdkreis. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Ihn würde sie sich aus Kerkerbanden loskaufen, ihm würde sie mit Entschlossenheit durch Feuerbrände, Wogen und Riffe folgen wollen, seinetwegen könnte sie sich an den Gebirgskamm des unwirtlichen Kaukasus wagen, und in ihrer Liebe möchte sie weder Gefahren noch schreckliche wilde Tiere scheuen. Seinetwegen könnte sie in ihren [Liebes-]Banden Frost und Schnee als weiße Rosen und Eiszapfen und Hagelkörner als Edelsteine betrachten. Steh auf, segenspendende Mutter, steh auf, verlaß den perlengeschmückten Pfühl! Bist du endlich willig, Dione, und entreißt dich dem Bett? Nun also, der Nacken haucht Wohlgeruch aus und den lieblichen Duft Zyperns. Tau von wohlriechendem Balsam tropft dir aus den Haaren. Also zerteilen wir im Fluge die Wolken und die heftigen Südwinde und suchen eilends den Pregel und Königsberg auf. Schon überkommt Furcht die züchtige Jungfrau, indem sie die Gewalt der Göttin spürt, schon möchte sie in ihrer Keuschheit, daß dem Bräuti-

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gam weniger erlaubt sein möge, als ihm erlaubt ist, schon zittert sie, sträubt sie sich und leidet darunter, daß jemand nach ihr verlangt. Erwünschte Nacht, selige Nacht, verbinde die Jungfrau dem Manne! Die Jungfrau wird sich ihrer Eltern entwöhnen und die vertraute Wohnung verlassen. Bruder und Schwester mit der Schar der Mädchen trauern um sie. Bräutigam, auf welche Wagnisse läßt du dich ein, wohin lenkst du geschwind deinen Schritt? Gib das Mädchen für kurze Zeit frei! Morgen wirst du sie heimführen. Erwünschte Nacht, selige Nacht, verbinde die Jungfrau dem Manne! Doch der Bräutigam drängt heftiger und sagt, daß sein Liebesfeuer keinen Aufschub dulde. Ein fürchterlicher Feind droht, seine Dreistigkeit bläht sich und nimmt strotzend im Geiste den sicheren Sieg vorweg. Amor, ein Herkules, zerbricht den mißlichen Riegel des Aufschubs, bricht mit Gewalt die Türangeln auf, reißt siegreich die Tür nieder und ebnet dem sich zum Kampfe Bereitenden unverdrossen den Weg. Jetzt gewinnt das lange verborgene Feuer an Kraft, strömt sogleich rasend durch das Mark, durch Adern und Gebein und verteilt sich auf die innersten Empfindungen, um sie zu nähren. Erwünschte Nacht, selige Nacht, verbinde die Jungfrau dem Manne! Wer kann einem Liebenden Gesetze auferlegen, wenn sogar der, der seine Gattin aufgrund eines bindenden Gesetzes durch seinen Gesang aus der Finsternis der ewigen Nacht herausholt, ebendieselbe verliert, weil er das Gesetz nicht beachtet? Dreifach beglückt durch die Blüte des Mädchens hat der Bräutigam das Bett bestiegen. Bald wird er triumphieren über das dank keuscher Gesinnung unversehrte Gut. Lebt wohl, Vater und Mutter, freundliche Gästeschar und ihr Jungfrauen vom Pregel! So wie sie jetzt weggeht, wird sie für niemanden wiederkommen – so gebietet es die Göttin Venus, so auch der köchertragende Cupido und wir, das Völklein Cupidos. Jetzt ist sie da, die ersehnte Nacht, die die Jungfrau dem Manne verbindet!« Simon Dach

3. Akademische Gelegenheitsgedichte 3.1. Propemptikon für Abraham Calov bei seiner Abreise aus Königsberg (1643) »Maior Anactoreo se tollet vertice«, dixi, »Relligionis amor, maiore calebimus igne Pegasidum, neque sic virtus refrixerit, ut te Mittere quis possit cupientem hinc ire, Calovi. Nequicquam calido praeceps te Vistula voto Concipit, oblato nequicquam sevocat auro. Ante fluet nullo stringens se Bregela ponte, Sanguineis ante Heliades in litore nostro Stillabunt lacrymis, Zephyrus spirabit ab ortu,

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Eurus ab occasu«, toties iterasse fatemur, »Quàm te doctorem nostra diversior urbe Nanciscatur humus stupeatque oracla loquentem.« Ludimur. Hora venit, quum tristè valere iubemur, Quum tibi Bregelides se innectunt undique Musae Eque tuo pendens, cui parent carmina, collo Avelli negat et miscet lachrymasque precesque, Sistere si qua possit iter gressusque morari. Non secus unigenam mater gemit anxia natum, Quem iubet aequoreum merx Thyna intrare profundum; Oscula ter repetit numero caritura modoque Atque vale dicto non vult dixisse videri Usque monens eadem et causas sine fine morandi

Invenit amittitque lubens et fletibus aegra Seque illumque rigat ventisque irascitur amens. Sic, ubi crudelis Nasonem excedere Caesar Finibus Ausoniae summa iam nocte coëgit, Ante lares coniunx passis prostrata capillis Heu miserum miseranda virum retinere laborat. Quae, vir clare, tui iacturâ vindicat aether Crimina nostra? an Pieridum quia gloria cessat Et iacet opprobrium vulgo despectus Apollo Barbariesque sacris insultat foeda Camoenis? An quia Sicania missi tellure Typhoeus Enceladusque ferox et formidabilis Othos, Cum Tityo Polyphemus, Aloidaeque Acherunte Exciti castis Musarum caetibus errant, Gens superis invisa Iovisque domanda tumultu? Quicquid id est, te certa Deûm inclementia nobis Invidet et patrias aliis tibi mutat Athenas. Ergo tuos studiis pallentes cernere vultus, Dogmatis aut sacri manantem nectare linguam Haurire haut dabitur cupida discentibus aure. At non te talem tales formavit in usus A teneris magnisque insuevit sedula curis Bregelis et resides docuit contemnere coetus? Nam memini et meminisse iuvat, cùm rure paterno Te missum exciperet gremioque foveret alendum. Protinus ut vulgo secretos pectoris ignes

Ingeniumque suis vidit velocius annis, »Hic meus est«, dixit, »mihi se puerilibus annis Mens probat haec festina virum tardamque labore Naturam antevenit solesque accusat inertes. Quanta ferar populis tali, modò vivat, alumno! Ille suum pariterque meum caput inseret astris.«

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280 Augurium falso rapuerunt omine venti. Te stimulis equidem virtus agit intus honestis 137 , Atque gradus laudum raptat properata per omnes! Tempore, quo reliquos urit trochus actus in orbem Aut pila cum globulis tantùm digitive micantes, Romuleae tibi vocis honos Graiaeque venustas Nocte fatigabant et cunctis corda diebus. Quicquid Heber loquitur, quicquid Chaldaeus Arabsque, Os tibi laxabat tenerum. Mox ignea sancti Vis animi in sophies egit tua vela profundum. Hic nihil immensas rerum causatus abyssos 138 , Nil monstra aut varias mentitum Protea formas, Blandave quae mediis statuere pericla sophistae Fluctibus aut scopulos, coecis immersa latebris Se quibus errorumque tuetur Opinio foeta. Quae rate felici loca non scrutator adîsti Aesonide melior, quamvis maria invia primus Semideis pressit comitatus et aurea portans Vellera Peliacam repetivit victor Iolcon. Vidimus imbutis nondum lanugine malis

Iam tibi Apollineam praetexere tempora laurum, Conscia iam subitae praeludere symbola famae. Tunc quoque te sapuit nostrum doctore Lycaeum, Tunc quoque te stupuere patres, dictisque iuventus Attonita ingemuit simili se â laude relinqui. Non tulit indignata moras sata semine coeli Relligio, Christique pedes complexa, »Quousque«, Inquit, »in innocuam feralibus ire sagittis Tisiphonea manus aut lurida perget Enyo? Scilicet usque novas, tot me cingentibus armis, Sufficio in clades, ex quo lux vera salusque Carne sub humana patuisti denique terris Numen inadspicuum. Semper recidivus in auras Subriget indignum caput Arrius aethere? semper Hinc Pharisaea cohors, trux ore Pelagius illinc Antiqui obtexent erroris nubila mundo? Frustra martyribus stipata incedo meumque Progenies tua sidereis caput abdo sub astris, Si nequeo in terris tutam mihi figere sedem Et fidei assertrix hostes subvertere veri. Est mihi sitque, precor, sanctae probitatis alumnus! Quem pia sedulitas primùm de matre cadentem _______ 137 138

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Sustulit et faustis eduxit laeta sub antris Hic, ubi Cneiphovium placidis amplectitur ulnis Bregela Musarum tinguens aspergine tectum. Ille mihi integris se viribus asserat omnem, Da. Placet illius vehementi numine pronis Sensibus illabi totumque invadere pectus. Ille mihi me reddet amans, meus audiet ille Vindex et nostros fausto pede proteret hostes.« Audiit orantem Christus, cum protinus alma Relligione cales, amor est penetrare recessus Scripturae, et totum spiras iam pectore Christum Et fidei salvantis opus. Sic coeca recludens Fata deûm Calchas, sive Iphigenia Pelasgûm Tardat iter, seu Dulichio latet aere ciendus Aeacides, pallore deum gemituque fatetur Osque premit rabidum, multo mox igne coruscant Lumina, anhelantes quatiunt praecordia pulsus, Excutitur donec fesso de pectore Phoebus. Extemplò hostiles verbi ruis ense catervas Victor et immensum diffundis nomen in orbem, Dum pudet erroris Calvinum, dum sibi sensim Diffidit vanâ nixus ratione Socinus. Vix tibi RostochI doctorea laurus inumbrat Tempora, iam toti mentis tot pignora mundo Dividis, et patriis nomen concludere terris Turpe putas, iam et toto diversior orbe Albion, immitis te versat Iberia, iam te Cimbria nosse cupit mirans, te Dacia discit, Horrentemque sibi tua pagina vindicat Arcton. Quid tamen Albertin iuvat haec fastigia laudum Te superasse, aliis nunc te si sedula finxit? Quoque magis clares, magis hoc dolet aemula, vixque Prosequitur votis abeuntem, et murmure muto Triste vale repetit, nec aperta voce profari Sustinet et superos tacita tibi mente precatur. Alite vade bona, quando ratus aetheris ordo Te nobis adimit. Lachrymis satiare tuorum, Oscula ter repetita itera neque, fletibus uxor Si nimis indulget, properans irascere. Iustas Nemo moras culpat, magni veneranda parentis Canities dulces dum basiat ante nepotes, Inter et amplexus et basia »Crescite!« dicit, Dum iubet extremùm natam generumque valere Inque vicem illa senis tremulis sese illigat ulnis Nesciaque avelli multùm lachrymatque gemitque,

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Quelle: Propempticon admodum reverendo clarissimo et excellentissimo Dn. Abrahamo Calovio Morungensi Borusso S.S. Theol. D.P.P. Regiomonto Gedanum ad Rectoratum eiusdem Gymnasii obeundum abeunti scriptum à Simone Dachio. O.O. [Königsberg]: typis Iohannis Reusneri 1643. 27. Octobr. – 4 Bll., A–A4 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851– 1,41 R).

Anmerkungen: 1 Anactoreo vertice] Umschreibung für die Anhöhe, auf der das Königsberger Schloß erbaut war, nach griech. ċȞĮțIJȩȡİȠȢ (›königlich‹). Vgl. Text 2.2, V. 59. 5 Vistula] Die Weichsel als Metonymie für die an ihr gelegene Stadt Danzig, die Calov von Königsberg abgeworben hatte. 8 Heliades] Die Töchter des Sonnengottes, deren Tränen über den Tod ihres mit dem Sonnenwagen abgestürzten Bruders Phaethon in Bernstein verwandelt wurden. 9 Zephyrus] Der Westwind. 10 Eurus] Der Ostwind. 15–16 Eque ... precesque] Dach spricht hier anscheinend von sich selbst. _______ 139

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15 parent carmina] Vgl. Text 1.1, V. 9. 19 merx Thyna] Ware aus Thynien, einer Region im Norden von Bithynien, am Schwarzen Meer (nach Hor. c. 3, 7, 3). 25–28 Sic ... laborat] Dach bezieht sich hier auf Ovids Gedicht trist. 1, 3, in dem der von Augustus ans Schwarze Meer verbannte Dichter seinen nächtlichen Abschied von Rom schildert (vgl. hier vor allem die V. 1–6, 17 f., 41–46). 33 Sicania tellure] Der Bezug auf Sizilien paßt zu den beiden erstgenannten, unter dem Aetna begrabenen Riesen, aber auch zu Polyphem. 33 Typhoeus] Ein Riese von gewaltiger Größe, der Jupiter vom Himmel stoßen wollte, von diesem aber mit einem Blitz getötet und unter dem Ätna begraben wurde. 34 Enceladusque] Einer der Giganten, die den Himmel stürmten, von Jupiter ebenfalls mit dem Blitz getötet und unter dem Ätna begraben. 34 Othos] Einer der beiden im folgenden Vers genannten Aloiden (s. dort). 35 Tityo] Tityos, ein riesenhafter Sohn Jupiters, wurde, da er sich an Latona vergreifen wollte, von deren Sohn Apollo mit dem Pfeil oder von Jupiter mit dem Blitz getötet. In der Unterwelt lag er über neun Hufen ausgestreckt, und seine immer wieder nachwachsende Leber wurde ihm von Geiern abgefressen. 35 Polyphemus] Der in Sizilien beheimatete Zyklop, dem von Odysseus das eine Auge auf der Stirn ausgebrannt wurde. 35 Aloidaeque] Ephialtes und der schon genannte Othos, die beiden Söhne des Aloeus, zwei Riesen, die wie die Giganten den Himmel stürmten, sich aber, von Diana in Hirschgestalt in Verwirrung gebracht, gegenseitig selbst anstelle des Hirsches erschossen. Zur Strafe wurden sie in der Unterwelt Rücken an Rücken an eine Säule gefesselt, auf der eine Eule saß, die sie ständig mit ihrem Geschrei plagte. 35 Acherunte] Der Unterweltfluß Acheron hier stellvertretend für die Unterwelt schlechthin. 39 Athenas] Hier natürlich im bildlichen Sinne: ›Ort der Wissenschaften und Künste‹. 45 coetus?] Im Originaldruck steht hier anstelle des Fragezeichens ein Punkt. Der Kontext zwingt aber dazu, den mit »At non« (V. 43) beginnenden Satz als rhetorische Frage zu lesen. 55 Augurium ... venti] Nicht ganz klar. Der Sinn ist aber wohl der: ›Diese frühe Prognose wurde zwar vom Wind verweht [d.h. von niemandem beachtet]. Dennoch erwies sie sich als wahr.‹ 59 digitive micantes] ›Fingerschnellen‹, ein schon in der Antike bekanntes Spiel, bei dem man die Finger zunächst zu Fäusten ballte, sodann einige ruckartig vorstreckte und einen oder mehrere Partner deren Anzahl raten ließ (s. DWb 9 [1899], Sp. 1297, Ȗ). 66 mentitum Protea] Anscheinend konkretisierende Apposition zu »varias formas«, obwohl die Stellung zwischen Adjektiv und dazugehörigem Substantiv eher einen attributiven Genitiv (›mentiti Protei‹) hätte erwarten lassen. Proteus ist ein Meergott, der beliebige Gestalten annehmen konnte.

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71 Aesonide] Jason, als Sohn des Aeson. Er zog mit mehreren Begleitern auf dem Schiff Argo aus, um im Auftrag seines Onkels Pelias das Goldene Vlies aus Kolchis zu holen. 72 Semideis comitatus] An dem Argonautenzug nahmen auch Herakles und die Dioskuren (Castor und Pollux) teil. 73 Peliacam Iolcon] Iolkos, Jasons Vaterstadt, lag in Thessalien, das hier mit dem Namen eines in dieser Landschaft gelegenen Berges, des Pelion, bezeichnet wird. 75 Apollineam laurum] Gemeint ist Calovs Magisterpromotion 1632 an der Königsberger Artistenfakultät (er war damals 20 Jahre alt). 83 Enyo] Göttin des Krieges. 88 Arrius] Arius, der spätantike Theologe (ca. 260 – 336), der die Wesensgleichheit Christi mit Gottvater bestritt, die Göttlichkeit Christi diesem gegenüber also abwertete. 89 Pelagius] Christlicher Theologe des 4./5. Jh.s, der die augustinische Gnaden- und Prädestinationslehre ablehnte und die Freiheit der menschlichen Natur in der Entscheidung für das Gute postulierte. 96 de matre cadentem] Stat. Theb. 1, 60. 99 Musarum tectum] Die Königsberger Universität, die sich auf dem vom Pregel umflossenen Kneiphof befand. 109 Calchas] Der berühmte Seher der Griechen im Trojanischen Krieg. 109–110 Iphigenia ... iter] Als die Flotte der Griechen vor Aulis wegen einer Windstille daran gehindert war, nach Troja aufzubrechen, verkündete Kalchas, diese Windstille habe die Göttin Artemis veranlaßt, weil sie über den Hochmut Agamemnons, des Anführers der Griechen, erzürnt sei. Sie werde erst wieder günstige Winde wehen lassen, wenn Agamemnon ihr seine Tochter Iphigenie opfern werde. So geschah es auch. Artemis versetzte Iphigenie aber während des Opfervorgangs unbeschadet ins Land der Taurer. 110–111 Dulichio ... Aeacides] Der Aeakide ist Achilles (als Enkel des Aeakos). Ihn hielt seine Mutter, die Meergöttin Thetis, auf der Insel Skyros als Mädchen verkleidet versteckt, um ihn vor der Teilnahme am Trojanischen Krieg, in dem er, wie sie wußte, den Tod finden würde, zu bewahren. Weil der Seher Kalchas aber verkündet hatte, daß ohne Achilles der Krieg für die Griechen nicht zu gewinnen sein würde, machte sich eine Gesandtschaft unter der Führung des Odysseus nach Skyros auf, um ihn ausfindig zu machen und mitzunehmen. Da nun Achilles Mädchenkleider trug und sich unter Mädchen bewegte, bediente sich Odysseus einer List, um ihn zu identifizieren. Er stellte in der Vorhalle des Palastes, in dem Achilles mit den Mädchen wohnte, Schmuck für Frauen sowie einen Speer und einen Schild auf. Sodann ließ er eine Alarmtrompete blasen. Während Achilles daraufhin sogleich die Mädchenkleidung von sich warf und zu Speer und Schild griff, um die vermeintlich von Feinden angegriffene Insel zu verteidigen, betrachteten die wirklichen Mädchen ungerührt den Schmuck. Die Trompete hier etwas abseitig als ›aes Dulichium‹ bezeichnet, was dem gemeinten Sinne nach ›odysseisches Erz‹ bedeutet, denn Dulichium ist der Name einer Insel, die wie Ithaka zum Reich des Odysseus gehörte.

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112–114 Osque ... Phoebus] Vgl. Verg. Aen. 6, 78 ff. 114 Excutitur ... Phoebus] Will sagen: Apollo, der Gott der Weissagung, hat selbst aus dem Seher gesprochen – wie aus dem Munde der Pythia beim Orakel von Delphi. 118 Socinus] S.o., S. 253, Anm. 111. 119 RostochI doctorea laurus] 1637 erwarb Calov in Rostock den Doktorgrad in der Theologie. 134 uxor] Calov war seit 1640 verheiratet mit Regina Friese (1614 – 1658), Tochter des Juristen Michael Friese (1569 – 1651; über ihn s. APB 1, S. 198 [Seeberg-Elverfeldt]). An der Sammlung von Hochzeitsgedichten zu Ehren des Brautpaares, die in Königsberg im Jahr der Hochzeit erschienen war, hatte sich auch Dach mit einem griechischen Gedicht in 5 Distichen (Überschrift: »ȆȡļȢ IJļȞ ġȡȦIJĮ«) beteiligt: Epithalamia, quibus festivitatem nuptialem viri admodum reverendi, excellentissimi atque clarissimi Dn. Abraham Calovii, SS. Theologiae Doctoris eiusdemque Professoris celeberrimi, sponsi, et virginis [...] Reginae sponsae, viri magnifici, consultissimi atque praecellentissimi Dn. Michaelis Fries I.U.D. et Sereniss. Electoris Brandenburg. Consiliarii [...] filiae XIII. Calend. Septembr. M.DC.XL. celebratam Regiomonti, faustam atque felicem esse precantur collegae et amici. [Königsberg]: Johann Reusner [1640], Bl. [4]r (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yf 6823–33 R). 161–162 Bregelides ... amicos] Der Sinn ist dunkel. Ich vermute folgenden: Die Musen vom Pregel, d.h. die Angehörigen der Universität Königsberg, jedenfalls diejenigen, die sich Calov zu Freunden gemacht hat, mögen, trotz der Enttäuschung über seinen Weggang, doch seinen Geisteskindern (zu »pignora Musae« vgl. V. 120: »mentis tot pignora«), die nunmehr in Danzig das Licht der Welt erblicken werden, mit Wohlwollen begegnen.

Übersetzung: Ich sagte: »Die Liebe zur Religion wird sich höher erheben als der ›Königsberg‹, von stärkerem Musenfeuer werden wir erglühen, und die Tugend wird nicht derart erkalten, daß dich jemand fortlassen könnte, Calovius, wenn es dich danach verlangte, von hier wegzugehen. Vergeblich macht die reißende Weichsel dich zum Ziel heißen Wunsches, vergeblich beruft sie dich ab mit dem Angebot von Gold. Eher wird der Pregel fließen, ohne sich durch eine Brücke zu verengen, eher werden die Heliaden an unserem Gestade blutige Tränen tropfen lassen, eher wird der Zephyr von Osten wehen, eher der Eurus von Westen, als daß dich eine Region, die anderswo liegt als unsere Stadt, als Lehrer bekommen und deine Orakelsprüche bestaunen soll.« Zugegeben: Oft haben wir dies wiederholt. [Doch] man gibt nichts auf uns. Die Stunde kommt heran, in der uns ein trauriges Lebewohl entboten wird, in der sich die Musen des Pregel von allen Seiten an dich klammern und derjenige, dem die Poesie gehorcht, an deinem Halse hängt und sich nicht abschütteln lassen will und Tränen mit Bitten vermischt, – ob es ihm etwa gelingt, [deine] Reise zu hemmen und [deine] Schritte

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aufzuhalten. Nicht anders seufzt eine Mutter ängstlich über ihren einzigen Sohn, dem thynische Ware gebietet, aufs tiefe Meer hinauszufahren: Dreimal wiederholt sie die Küsse, die sie nach Zahl und Art entbehren wird, nach dem Lebewohlsagen will sie nicht wahrhaben, daß sie es gesagt hat, indem sie fortwährend dieselben Mahnungen ausspricht, und ohne Ende findet sie Gründe, [ihn] aufzuhalten, und läßt sie gern wieder fallen, und kummervoll benetzt sie sich und ihn mit Tränen und zürnt sinnlos den Winden. Ebenso müht sich, als der Kaiser Ovid grausam gezwungen hat, Italien, als es schon tiefste Nacht war, zu verlassen, dessen beklagenswerte Gattin, vor dem Haus mit aufgelöstem Haar hingestreckt, ach, ihren armen Mann zurückzuhalten. Für welche Verbrechen, ausgezeichneter Mann, bestraft uns der Himmel mit deinem Verlust? Ist es etwa deshalb, weil der Ruhm der Musen nachläßt, weil Apollo – für die breite Menge ein Objekt der Beschimpfung – verachtet darniederliegt und gräßliche Barbarei die heiligen Camenen verhöhnt? Oder weil, von Sizilien hergesandt, Typhoeus, der wilde Enceladus und der grausige Othos und, zusammen mit Tityus, Polyphem und die Aloiden, aus dem Acheron heraufzitiert, in den keuschen Versammlungen der Musen umherirren, eine den Göttern verhaßte und mit einem Donnerschlag Jupiters zu bändigende Sippschaft? Was auch immer es ist: Ganz gewiß mißgönnt dich uns die Ungnade der Götter und vertauscht dir das heimatliche Athen mit einem anderen. Also wird es den Lernenden nicht mehr vergönnt sein, deine von den Studien bleichen Gesichtszüge zu sehen oder begierigen Ohres deine vom Nektar heiliger Lehre überströmende Rede in sich aufzunehmen. Hat aber die Muse des Pregels dich nicht von Kindesbeinen an zu einem solchen Mann herangebildet, damit du einer solchen Beschäftigung nachgehst, und hat sie dich nicht emsig an große Arbeiten gewöhnt und die Versammlung der Untätigen zu verachten gelehrt? Ich erinnere mich nämlich – und ich erinnere mich mit Freuden! – [an die Zeit], als sie dich, der du vom väterlichen Landgut hergeschickt worden warst, empfing und dich in ihrem Schoß als ihren Zögling hegte. Sobald sie die der breiten Masse verborgene Glut des Herzens und ein geistiges Talent bemerkte, das seinen Jahren vorauseilte, sagte sie: »Der ist mein! Dieser flinke Geist erweist sich mir [schon] im Knabenalter als Mann; durch Arbeit kommt er der langsamen Natur zuvor und tadelt Tage des Müßiggangs. Wie hoch werden die Völker mich für einen solchen Zögling preisen, sofern er nur am Leben bleibt! Er wird sein und zugleich mein Haupt unter die Sterne einreihen.« Diese Weissagung führten die Winde von dannen – womit sie [aber] ein falsches Omen gaben. In der Tat treibt dich die Tugend in deinem Innern mit ehrbaren Impulsen und zieht dich eilends dahin, über alle Stufen des Ruhms. In einem Alter, in dem die übrigen Knaben sich nur für den im Kreis getriebenen Reif oder einen Ball nebst Murmeln oder das Fingerschnellen begeistern, ließen die Würde der römischen und die Anmut der griechischen Sprache deinen Geist bei Nacht und an allen Tagen nicht ruhen. Was auch immer der Hebräer, was auch der Chaldäer und der Araber spricht, lockerte dir deine jugendliche Zunge. Alsbald trieb die feurige Kraft eines unsträflichen Geistes deine Segel auf das Meer der Weisheit. Dabei scheutest du nicht die unermeßlichen Abgründe der Dinge, nicht die Ungeheuer oder die ver-

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schiedenen Gestaltungen (den erdichteten Proteus!) oder die verführerischen Gefahrenstellen, die die Sophisten mitten in den Fluten aufgebaut haben, oder die Klippen, durch die das in lichtlosen Schlupfwinkeln sich versteckende und mit Irrtümern angefüllte Vorurteil sich schützt. Welche Orte hast du nicht dergestalt auf glückhaftem Schiff als Forscher angelaufen, trefflicher als der Aesonide, obwohl der als erster, von Halbgöttern begleitet, unwegsame Meere befahren hat und, das Goldene Vlies mitbringend, siegreich in das pelische Iolkos zurückgekehrt ist. Wir haben gesehen, wie dir, obwohl deine Wangen noch kein Bartflaum bedeckte, schon apollinischer Lorbeer die Schläfen zierte, die wußten, daß sie, als Wahrzeichen, [damit] auf einen plötzlich eintretenden Ruhm vorausdeuteten. Dann gewann auch unser Gymnasium durch deine Lehrtätigkeit Weisheit, dann auch staunten die Väter über dich, und die Jugend, begeistert von [deinen] Worten, seufzte darüber, daß ähnlicher Ruhm ihr nicht zuteil wurde. Die aus dem Samen des Himmels entsprossene Religion ertrug unwillig keinen Aufschub und sagte, die Füße Christi umschlingend: »Wie lange wird eine verbrecherische Hand oder die fahle Enyo fortfahren, mich Unschuldige mit todbringenden Pfeilen anzugreifen? Umgeben von so vielen Waffen halte ich ja immerfort neuen Heimsuchungen stand, seitdem du, wahres Licht und Heil, als Gottheit unsichtbar, in menschlicher Gestalt der Erde endlich offenbar wurdest. Wird Arius immer wiederkehren und sein des Himmels unwürdiges Haupt empor in die Lüfte erheben? Werden stets die Wolken alten Irrtums die Welt bedecken: auf der einen Seite die Rotte der Pharisäer, auf der anderen Pelagius mit seiner trotzigen Rede? Vergebens schreite ich, umringt von Märtyrern, einher und verberge ich, dein Kind, mein Haupt im Sternenhimmel, wenn ich nicht imstande bin, mir einen sicheren Wohnsitz auf der Erde zu errichten und als Verteidigerin des Glaubens die Feinde der Wahrheit zu vernichten. Ich verfüge über einen Zögling von heiliger Rechtschaffenheit und würde gern auch [künftig] über ihn verfügen. Fromme Arbeitsamkeit hob ihn erstlich auf, als er aus dem Leibe seiner Mutter fiel, und zog ihn segensreich auf in glückverheißenden Grotten, hier, wo der Pregel mit sanften Armen den Kneiphof umschlingt, das Haus der Musen mit Spritzern seines Wassers benetzend. Mach, daß jener sich mir mit unverbrauchten Kräften gänzlich verschreibt. Es ist mein Wunsch, in seinen dank starken göttlichen Waltens aufnahmewilligen Geist einzufließen und sein ganzes Herz zu durchdringen. Er wird mich liebevoll mir selbst zurückgeben, er wird als mein Rächer gelten und unsere Feinde mit glückhaftem Fuß zertreten.« Christus hat ihr Gebet erhört, denn sogleich bist du entflammt von der segenspendenden Religion; es verlangt dich danach, in die inneren Gemächer der Heiligen Schrift einzudringen, und schon ist dein ganzes Herz beseelt von Christus und dem Dienst am heilbringenden Glauben. Ebenso verkündet Kalchas, die dunklen Ratschlüsse der Götter offenbarend, unter Bangen und Stöhnen den Gott – sei es, daß Iphigenie die Fahrt der Griechen verzögert, sei es, daß sich der durch dulichisches Erz [zum Kampf] aufzureizende Aeakide versteckt hält: er bezwingt den rasenden Mund, alsbald blitzen die Augen von starkem Feuer, pochende Pulsschläge treiben das Herz an, bis Phoebus aus der ermatteten Brust herausgetrieben wird. Sogleich schlägst du die Scharen

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der Feinde des Wortes [Gottes] mit dem Schwert siegreich zu Boden und verbreitest [deinen?] Namen über den unermeßlichen Erdkreis, während Calvin sich seines Irrglaubens schämt und Sozzini, der sich auf eine nichtige Theorie stützt, allmählich sich selbst mißtraut. Kaum beschattet dir in Rostock der Doktor-Lorbeer die Schläfen, da verteilst du schon die vielen Kinder deines Geistes an die ganze Welt und hältst es für schimpflich, deinen Ruhm in deiner Heimatregion einzusperren. Bald halten dich das vom ganzen Erdkreis ziemlich abgewandt gelegene England und das strenge Spanien in Atem, bald begehrt Jütland staunend, deine Bekanntschaft zu machen, und lernt Dänemark dich kennen, und deine Schriften erobern sich den froststarrenden Norden. Warum aber sollte es die Albertina freuen, daß du diese Gipfel des Ruhms bewältigt hast, wenn sie dich nun mit ihrer Rührigkeit für andere herangebildet hat? Und je mehr du an Glanz gewinnst, um so mehr leidet sie vor Eifersucht, und kaum begleitet sie deinen Weggang mit [guten] Wünschen. Mit tonlosem Gemurmel äußert sie wiederholt ein trauriges Lebewohl, erträgt es nicht, dies mit deutlicher Stimme auszusprechen, und verschlossenen Geistes betet sie für dich zu den Himmlischen. Geh’ deinen Weg unter guten Vorzeichen, da die unabänderliche Verfügung des Himmels dich uns entzieht. Sättige dich an den Tränen der Deinen, dreimal wiederholte Küsse erwidere noch einmal, und falls deine Frau sich allzusehr den Tränen hingibt, sei nicht zornig, weil du es eilig hast. Niemand tadelt den gerechtfertigten Verzug, wenn das verehrungswürdige graue Greisentum des bedeutenden Vaters zuerst die süßen Enkel küßt und zwischen Umarmungen und Küssen »Wachst heran!« sagt, wenn [dieser] seiner Tochter und seinem Schwiegersohn ein letztes Lebewohl entbietet und jene ihrerseits sich in die zitternden Arme des Greises schmiegt und, unfähig, sich zu lösen, unmäßig weint und schluchzt, wenn die Schar der Verwandten in langer Reihe die Trauer immer wieder neu belebt und das unglückliche Haus überall aufgewühlt ist von zahllosen Klagen. Siehe, deine Hüterin, die Frömmigkeit, die unermeßliche Tugend und die mächtige Religion erbitten euch vom Himmel ganze Heerscharen von Begleitern. Einige von denen bändigen den harten Frost, einige bezähmen den stürmischen Süd aus den vorgelagerten Bergen, einige hindern den Wagen mit einer Radsperre an abschüssiger Fahrt und zügeln die Pferde, einige unterstützen mit ihren Händen sanft die Gliedmaßen der Deinigen und deine eigenen, wehren böse Ereignisse ab und wenden die Sterne deinen Schritten zu. Geh nur! Friedlich wird dir die Weichsel von freundlichen Ufern her huldigen und, wenn sie die süße Last tragen wird, Freudengesänge verströmen, welche ihre blaugrünen Töchter mögen auswendig lernen wollen. Sobald du dich aber als neuer Gast in die ehrwürdige Stadt Danzig begeben und, mit guten Wünschen der Senatoren, des Volkes und der Schüler bewillkommt, verschiedene Künste darzulegen oder von der hohen Warte der Kanzel aus Christus zu verkündigen begonnen hast, sobald die Schülerschar an deinem Munde hängen und in der ganzen Stadt dir großer Ruhm erstehen wird, mögen auch so viele Musen vom Pregel deinen [geistigen] Sprößlingen nähertreten, wie dir deine freundliche Lauterkeit auch hier Freunde gemacht hat!

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3.2. Ode für Christoph Tinctorius zur Beendigung seines Rektorats (1650) Semestre nobis imperium dari Et longa nostris tempora fascibus Non esse, TINCTORI, profanum Saepe levi notat ore vulgus. Seu purpurata tectus epomîde Das aequa doctis iura Quiritibus, Seu sceptra gestantem secundo Gloria te levat alta plausu,

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Stultùm renidet. Da veniam, neque Torno politum non satis artium Examinis censor severi Ad rigidam revoca stateram. Quid consulari debeat urbium Urbs dignitati, testis adorea Non una devictaeque gentes, Quas oriens videt occidensque.

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Ut nimbus ater grandine, quem crepans Invexit Auster, fragmine disiicit Vineta silvasque et virentes Sternit agros pecudumque foetus:

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Olim remotos per populos ruit Urbesque victrix, Italia potens Postquam ulta Paenorum ferocem Perfidiam est duce iam fugato. Curule quovis provida sed decus Mutare Iano, non trabeam viri Indulsit unius sequentem Arbitrio vigilans in annum.

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Centum obseratam clavibus omnium Scientiarum quis reseret penum Pubi Camoenarumque sacrum Edoceat cupidam sacerdos, Si non edaces pectoris anxii Curas releget, mentis et auream Uni Minervae emancipatus Adferat imperio quietem?

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Qui primus Atlas Palladii gravem Nolente molem sustinuit poli Cervice nec semel reluctans Amplius unam hyemem Sabinus,

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Quam magna res sit nec tolerabilis Artes docenti Pierii caput Coetus tot immersum profundo Iugiter esse negotiorum, Testatur, hîc cum frena licentia Sibi relaxat nec patitur regi, Cum fas habet foedùm nefasque Omne loco petulans eodem,

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Illic dolendas relligio parit Monstrosa turbas et malè pertinax Saevit coërcendoque nulli Multiplicem facit ore Christum. Tandemque, »me cur essem Promethea Rupi alligatum Caucaseae iubes, Princeps? quid Ixion perenni Circumagor recidivus orbe?« Dixit; »torosus non feror Hercules Hanc in laborum sufficere excetram Aut in revolvendum molestè Aeolides sine fine saxum.

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His me solutum denique vinculis Dona quieti! Me dederis mihi Vitamque, festinumque, ni me Expedias subitò, sepulcrum. Cur immerentem me tacito petat Livor flagello nec mihi debitum Soli manu dicar tenaci Imperium tenuisse solus? Labore iunctos ne sociabile Disiungat ostrum, neu studio pares Musisque diversis honorum Dispariles 140 animis fathiscant. _______ 140

Disparitas

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Posthac venusti quam memor ordinis Didet per omnes purpura se patres, Servans vagabundum tenorem et Perpetuum remeans in orbem.

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Sic summa laetis astra iugalibus In se reflexa sol terit orbita, Sic perdit aeterno serenam Lucem Hecate reparatque gyro.«

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Te mille functum ritè molestiis Et non pudendi carcere muneris, Praeclare Tinctori, solutum Excipiet modò LINEMANNUS Coeli peritus sideraque et mare Terrasque doctus scribere virgula, Rerum cui natura causas Et penitos aperit recessus.

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Hunc sorbet atra cura voragine, Desiderato te recipit quies Portu. Procellosis ab undis Incolumis dare thura gratus Divis memento, post viridem pete Defessus hortum, qui dominum toro Expectat herbarum reclini Puniceam properans coronam. Hic te pudicae coniugis osculo Et liberorum blanditiis fove, Dum sol fatigatis habenas Demet equis redeunte luna. M.DCL. X. Calend. Maias

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scripta à me Simone Dachio.

Quelle: Ode ad excellentissimum, clarissimum et experientissimum Dn. Christophorum Tinctorium, Philosophiae et Medicinae Doctorem, huius Professorem in Academia Borussa celeberrimum et Serenissimi Potentissimique Electoris Brandenburgici Archiatrum fidelissimum, amicum et collegam meum colendum, cum magnificum Academiae Magistratum deponeret. Regiomonti: praelo Reusneriano 1650. – 4 Bll., unsign. (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Sign.: Yi 851–2,5 R).

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Anmerkungen: 6 doctis Quiritibus] ›Quirites‹ hier anscheinend im ganz allgemeinen Sinne von ›Bürger‹; ›docti Quirites‹ demnach soviel wie ›akademische Bürger‹, die der Gesetzgebung des Rektors unterworfen sind. 9 Stultùm] Im antiken Latein nicht gebräuchliche adverbiale Form (anstelle von ›stulte‹). 9–12 Da veniam ... stateram] Sehr unvermittelt eingefügte Bescheidenheitsfloskel Dachs im Hinblick auf vorliegendes Gedicht. 13–14 urbium Urbs] Rom. 22–24 Italia ... fugato] Meint den Sieg der Römer im 2. Punischen Krieg über die Karthager, nachdem deren Feldherr Hannibal aus Italien verdrängt worden war. 25 Curule decus] Umschreibung für die Amtswürde der römischen Konsuln, Prätoren und kurulischen Ädilen, nach der sella curulis, dem ihnen zustehenden Amtssessel. 37–38 Palladii poli] Metapher für den universitären Apparat, den der Rektor zu beaufsichtigen und zu leiten hat. 47–48 Cum fas ... eodem] Es ist nicht klar, auf welchen Sachverhalt in der Zeit der Amtstätigkeit des Sabinus Dach hier anspielt. 47 foedùm] Vermutlich wie »stultùm« V. 9 unklassische Adverbbildung (statt »foede«). 49–52 Illic ... Christum] Offenbar Anspielung auf den Osiandrischen Streit (s.o. S. 256). 53–54 Promethea ... Caucaseae] Prometheus, Sohn des Titanen Japetus, brachte den Menschen das Feuer und wurde dafür zur Strafe auf Jupiters Geheiß an einen Felsen im Kaukasus angeschmiedet, wo ihm ein Adler Tag für Tag die immer wieder nachwachsende Leber aus dem Leibe fraß. 55 Ixion] Er wurde zur Strafe dafür, daß er Juno zu nahe getreten war, in der Unterwelt auf ein glühendes Rad geflochten, das mit ihm ewig herumrollte. 60 Aeolides] Sisyphus (nach seinem Vater Aeolus), wie Ixion einer der großen Büßer der Unterwelt. Zur Strafe für die von ihm begangenen Freveltaten mußte er in der Unterwelt unaufhörlich einen schweren Stein einen Berg hinaufwälzen, der immer wieder herabrollte. 70 ostrum] Der Purpur (wie »purpura«, V. 74) als Metonymie für ›hohe Amtsgewalt‹ (da Purpurgewänder im alten Rom nur hohen Würdenträgern vorbehalten waren). 80 Hecate] Die unheimliche nächtliche Göttin der Zauberei und der Gespenster hier als Mondgöttin (vermengt mit Artemis/Diana) bzw. als der Mond selbst. 84 LINEMANNUS] Albert Linemann (1603 – 1653), Professor für Mathematik und Astronomie in Königsberg, trat im Sommersemester 1650 als Nachfolger von Tinctorius das Amt des Rektors an, das er auch noch im darauffolgenden Wintersemester 1650/51 innehatte (Die Matrikel der Albertus-Universität [wie

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oben Anm. 82], S. 512 und 518). Zu seiner Vita s. APB 1, S. 401 (Lehnerdt); Gedichte des Königsberger Dichterkreises (wie oben Anm. 102), S. XXVII. 96 Puniceam coronam] Nicht geklärt. Wohl eine Gartenpflanze. 99–100 fatigatis equis] D.h. den Pferden, die den Sonnenwagen ziehen.

Übersetzung: Daß uns eine Herrschaft für [nur] ein halbes Jahr gegeben werde und unserem Regiment keine lange Dauer beschieden sei, Tinctorius, kritisiert oft das unkundige Volk in haltloser Rede. In seiner Einfalt grinst es höhnisch – ob du nun, bedeckt von einem purpurnen Gewand, den gelehrten Quiriten gerechte Gesetze gibst oder hoher Ruhm, wenn du das Zepter führst, dich mit wohlwollendem Beifall emporhebt. Habe Nachsicht und rufe das nicht hinreichend mit dem Meißel Geglättete nicht als streng prüfender Kunstrichter auf die unerbittliche Waage! Was die Stadt der Städte der konsularischen Würde schuldet, das bezeugen die vielen Siegespreise und die besiegten Völker, die die aufgehende und die untergehende Sonne erblickt. Wie die schwarze Regenwolke mit dem Hagel, den der brausende Südwind mit sich geführt hat, die Weingärten und Wälder zerstört und verwüstet und die grünende Feldfrucht und den Nachwuchs der Herden niederstreckt, so stürmte einst das mächtige Italien siegreich durch entlegene Völker und Städte, nachdem es die freche Treulosigkeit der Punier, als [deren] Anführer schon verjagt worden war, bestraft hatte. Vorausschauend war es aber darauf bedacht, die kurulische Würde in jedem Januar auszuwechseln, und wachsam bewilligte es das Konsulat der Verfügungsgewalt eines einzigen Mannes nicht [noch] für das folgende Jahr. Wer wird das mit hundert Schlüsseln verschlossene Vorratsgemach aller Wissenschaften den jungen Leuten aufschließen, wer könnte sie, die danach begierig sind, als Priester über das Heilige der Musen gründlich belehren, wenn er nicht die nagenden Sorgen der von Unruhe erfüllten Brust verbannen und, einzig Minerva zu Diensten, dem Reich des Geistes goldene Ruhe verschaffen kann? Sabinus, der als erster Atlas die schwere Last des Himmels der Pallas, ohne sich ein einziges Mal zu widersetzen, länger als einen einzigen Winter auf seinem unwilligen Nacken getragen hat, bezeugt, eine wie schwerwiegende und unerträgliche Sache es für einen Lehrer der Künste ist, wenn er als Haupt der Musenjünger immerfort in der bodenlosen Tiefe so vieler Geschäfte untergetaucht ist: als auf dieser Seite die Frechheit ihre Zügel lockerte und sich nicht zurechtweisen ließ, als sie schändlicherweise das göttliche Recht und jeden Frevel mutwillig auf eine Stufe stellte und als auf jener Seite ein scheußlicher Glaube bedauernswerte Scharen hervorbrachte, mit übler Hartnäckigkeit tobte und in von niemandem zu zügelnder Rede aus Christus eine Vielheit machte. Da sagte er schließlich: »Warum, Fürst, bin ich auf deine Weisung als ein Prometheus an den kaukasischen Fels gefesselt? Warum werde ich als zurückgekehrter Ixion auf einem immerfort kreisenden Rad herumgetrieben? Man rühmt mich nicht als einen muskelbepackten Herkules, der dieser Schlange von Arbeiten gewachsen ist, oder als einen Aeo-

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liden, der das endlose beschwerliche Zurückrollen des Steins bewältigt. Befreie mich von diesen Fesseln und schaffe mir endlich Ruhe! Du könntest mir mich [selbst] und [mein] Leben geben – falls du mich nicht sogleich befreist, ein schnelles Grab. Warum sollte mich der Neid unverdient mit lautloser Geißel angreifen und warum sollte man von mir sagen, daß ich eine nicht mir allein zustehende Herrschaft mit festem Klammergriff allein behauptet hätte? Der übertragbare Purpur soll nicht die auseinanderbringen, die durch die Arbeit verbunden sind, und die, die in ihrem Mühen um die Musen gleich sind, sollen sich nicht spalten aufgrund widerstrebender Interessen an Würdenstellungen. In Zukunft wird der Purpur sich auf alle Väter verteilen, unter Beachtung einer möglichst gefälligen Ordnung, einen umherschweifenden Lauf bewahrend und in ununterbrochener Kreisbewegung zurücklaufend. So besucht die Sonne mit ihrem heiteren Gespann die höchsten Gestirne in einem in sich geschlossenen Geleise. So verliert Hecate in ewigem Kreisen ihr klares Licht und stellt es wieder her.« Dir, hochansehnlicher Tinctorius, der du dich in tausenderlei verdrießlichen Geschäften und im Gefängnis einer würdigen Aufgabe vorschriftsmäßig betätigt hast, wird jetzt, da du [der Pflichten] ledig bist, Linemannus nachfolgen, der über Himmelskunde verfügt und geschult darin ist, Sterne, Meer und Länder mit dem Stab zu zeichnen, und dem die Natur die Ursachen der Dinge und [ihre] innersten Verstecke eröffnet. Diesen saugt schwarze Sorge mit [ihrem] Strudel auf; dich empfängt Ruhe im ersehnten Hafen. Da du den stürmischen Wogen unversehrt entkommen bist, denke daran, den Göttern dankbar Weihrauch zu spenden. Danach suche in deiner Mattigkeit den grünenden Garten auf, der, den purpurnen Kranz schleunig hervortreibend[?], seinen Herrn mit einem abgeschrägten Kräuterbett erwartet. Hier erquicke dich mit dem Kuß der züchtigen Gattin und den Liebkosungen der Kinder, bis die Sonne den ermatteten Pferden die Zügel abnimmt, während der Mond zurückkehrt. Am 22. April 1650

geschrieben von mir, Simon Dach

Fridrun Freise

Königsberg und Elbing Gelehrte Beziehungen in die ›literarische Provinz‹ Den reichen Gehalt der Gelegenheitslyrik Simon Dachs führte Albrecht Schöne schon 1974 in seiner paradigmatisch gewordenen Fallstudie vor, in der er am Beispiel der Klage über den endlichen Vntergang vnd ruinirung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens eine Vielfalt an historischen und literarischen Anspielungen ausbreitete und daraus ein farbiges Bild des Dach und seinen Freundeskreis betreffenden sozialen Lebensumfelds zeichnete. 1 In dem vorliegenden Beitrag soll am Beispiel von Simon Dachs gelegenheitsliterarischen Kontakten nach Elbing (Elbląg) gezeigt werden, daß Kasualgedichte nicht nur als biographieorientierte kulturhistorische Quelle dienen können, deren spezifische Allusionen das historische Umfeld erhellen und es ermöglichen, Dach und die als ›Königsberger Dichterkreis‹ in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangene Gruppe gelehrter, literarischer und musikalischer Protagonisten im städtischen Kosmos zu verorten. Obwohl die Gedichte von und an Elbinger Kasualpoeten kaum biographische oder historisch eindeutig zu verifizierende Informationen enthalten, läßt sich aus den überlieferten Schriften anhand der Themenwahl und der Präsentation an sich gängiger Topoi auf die Qualität der literarischen Beziehungen der Gedichte Austauschenden und damit auf das Ausmaß an Einfluß und Vorbildhaftigkeit des Dichters Dach auf die poetae minores jenseits des gelehrten Zentrums Königsberg schließen. Neben dem Brief fungierte auch die Gelegenheitsschrift als eine spezifische Form der überregionalen Kommunikation. Das Kasualgedicht, das im 17. Jahrhundert auch standardisiert »[a]nstelle persönlicher Anwesenheit« verschickt wurde, 2 bot zu dieser Zeit außerdem die Möglichkeit – künstlerisch verschlüsselt – einen gemeinsamen Wertekonsens zu proklamieren, der durch den Prozeß der Literarisierung an Repräsentationswert gewann und für alle Beteiligten die der Poesie zugeschriebene Verewigung garantierte. 3 _______ 1

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Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. In: Stadt, Schule, Universität, Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines BarockSymposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von dems. München: Beck 1976, S. 601–660, auch separat erschienen als ders.: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte am Beispiel Simon Dach. München: Beck 1975. Vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 180 f. Vgl. ebd., S. 185–187 sowie Fridrun Freise: Das Kasualgedicht als öffentlicher Raum. Strategien der Repräsentation und sozialen Selbstvergewisserung in Thorner Gelegenheitsschriften des frühen 18. Jahrhunderts. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Caroline

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Fridrun Freise

Der Ort der Untersuchung, Elbing, liegt 94 km von Königsberg entfernt im Preußen königlich polnischen Anteils. Obwohl auch Elbing zu Dachs Lebzeiten ein florierendes akademisches Gymnasium 4 zu bieten hatte und bekannte Gelehrte in der Stadt tätig waren, kann die Stadt jedoch nicht als kulturelles Zentrum vom Range Königsbergs oder des westlich gelegenen Danzigs 5 gelten. Neben profilierten gelehrten Persönlichkeiten wie Johann Amos Comenius oder Joachim Pastorius von Hirtenberg, die nur wenige Jahre in Elbing lebten, 6 sind vor allem eine kleine Gruppe von Gymnasialprofessoren und Geistlichen zu nennen, die sich auf literarischem Gebiet betätigten, und die unter anderem über Casualcarmina belegten Kontakt zu Dach oder mit ihm befreundeten Königsbergern pflegten: Der damals bekannteste dichtende Zeitgenosse war vermutlich der Elbinger Ratsherr und neulateinische Dichter Friedrich Zamehl d. Ä., 7 der Dachs Bekanntschaft auch seinem Sohn Gottfried vermittelt haben soll, der später ebenfalls in mehreren Sprachgesellschaften dichterisch aktiv war. 8 Kon_______ 4

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Emmelius, Fridrun Freise, Rebekka v. Mallinckrodt [u.a.]. Göttingen: Wallstein 2004, S. 249–268, hier insbes. S. 263–267 zur überregionalen Kommunikation. Dazu grundlegend Marian Pawlak: Dzieje gimnazjum elbląskiego w latach 1535 – 1772 [Die Geschichte des Elbinger Gymnasiums in den Jahren 1535 – 1772]. Olsztyn: Pojezierze 1972 (Rozprawy i materiaáy oĞrodka badaĔ naukowych im. Wojciecha KĊtrzyĔskiego, 37). Vgl. zum literarischen Leben im 17. Jahrhundert beispielhaft Dick van Stekelenburg: Michael Albinus ›Dantiscanus‹ (1610 – 1653). Eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterdam: Rodopi 1988 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 74). Zu Johann Amos Comenius im Elbinger Kontext vgl. Alexander Nicolaus Tolckemit: Elbingscher Lehrer Gedächtniß, Das ist: Leben und Schriften aller Evangelischen Lehrer, die seit der Reformation an den sämmtlichen Kirchen, wie auch an dem Gymnasio in Elbing gelehret, nebst einem Anhange von den auswärtig im Lehr=Amte stehenden Elbingern, und einer Nachricht von den Elbingschen Medicis und Physicis, [...]. Danzig: Gedruckt mit Schreiberschen Schriften 1753, S. 325–330. – Zu Joachim Pastorius von Hirtenberg vgl. Georg Daniel Seyler: Elbinga litterata. h.e. Elbingensium sive nominis seu eruditionis fama domi forisque clarorum, qui diem suum obierunt memoriae. Elbing: Literis Preussianis 1742, S. 28 f.; Tolckemit: a.a.O., S. 261–264; Marian Pawlak: Nauczyciele gimnazjum elbląskiego w latach 1535 – 1772. Cz. II. [Die Lehrer des Elbinger Gymnasiums in den Jahren 1535 – 1772. Teil II]. In: Rocznik Elbląski 6 (1973), S. 127– 177, hier S. 161; Lech Mokrzecki: (sub verbo). In: Sáownik biograficzny Pomorza NadwiĞlaĔskiego. Pod red. Stanisáawa Gierszewskiego. Bd. 3: L – P. Pod red. Zbigniewa Nowaka. GdaĔsk: Wydawnictwo GdaĔskie 1997, S. 390–392. Zu Friedrich Zamehl d. Ä. vgl. Seyler: Elbinga litterata (wie Anm. 6), S. 38–43; Hanswerner Heincke: (sub verbo). In: APB 2, S. 831 f.; Aug[ust] Hagen: Zur Geschichte der Kunst in Preußen. 2. Die Zeichnungen Adam Volscius mit den Versen Friedrich Zamehls. In: Neue preußische Provinzblätter 11 (1851), S. 401–413; Ferdinand Neumann: Friedrich Zamehl. In: Neue preußische Provinzialblätter, 2. Folge, 12 (1857), S. 149–156 und 184–194. Die unbewiesene Vermutung über die Konktakvermittlung durch Friedrich Zamehl d.Ä. findet sich in der umfangreichen Biographie in: Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Herzog August von Sachsen-Weissenfels. Die preußischen Mitglieder Martin Kempe (der Erkorne) und Gottfried Zamehl (der Ronde). Mit Kempes Versgedicht »Neugrünender Palm-Zweig Der Teutschen Helden-Sprache und Poeterey« (1664) und seinem Dichterlexikon »Unvorgreiffliches Bedencken/ Uber die Schrifften derer bekantesten Poeten hochdeutscher Sprache« (1681). Hg. von Martin Bircher und Andreas Herz. Tübingen: Niemeyer 1997 (Die Deutsche Akademie des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesell-

Königsberg und Elbing

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takt zu Dach hatten außerdem die Gymnasialrektoren Michael Mylius, in dessen Biographien seine Schulreden und panegyrischen Schriften hervorgehoben werden, 9 sowie dessen Nachfolger Johannes Cramer, dessen Lebensläufe mit einem Verweis auf seine (Gelegenheits-)Carmina versehen sind. 10 Unter den Geistlichen ist der Pastor primarius an der Elbinger evangelischen Hauptkirche St. Marien, Balthasar Voidius, hervorzuheben, der 1644 in Königsberg zum Dichter gekrönt wurde und der in Versetzung seines Nachnamens als preußischer »Ovidius« bekannt war. 11 Gelegenheitsliterarischer Kontakt zu Dach ist außerdem für den aus dem Baltikum stammenden Geistlichen Cyriacus Martini nachgewiesen. 12 Damit findet sich auch in Elbing eine kleine Gruppe literarisch ambitionierter Persönlichkeiten, die aber nie auf überregionaler Ebene führend oder normgebend geworden sind. Auf eine starke Traditionsbindung weist zum Beispiel das Festhalten der genannten Elbinger Protagonisten an der Gelehrtensprache Latein in einer Zeit hin, in der sich im deutschsprachigen Raum schon längst das Deutsche als Literatursprache etabliert hatte. Der unter den Zeitgenossen Dachs produktivste deutschsprachige Elbinger Gelegenheitsdichter Achatius von Domsdorff, ein neustädtischer Sekretär sowie Schwager und Protegé des Balthasar Voidius, schrieb zwar vorwiegend die nach den Opitzischen Vorgaben modernen Alexandriner-Gedichte, sein Wirkungsfeld dehnte sich aber nie nennenswert über Elbing hinaus aus, und auch Kontakte zu Dach sind nicht nachgewiesen. 13 _______

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schaft. Reihe 2: Dokumente und Darstellungen. Abt. C: Halle, 1), S. 395–451 (S. 405–451: Bibliographie), hier S. 404. Zur Biographie Gottfried Zamehls vgl. weiter Seyler: Elbinga litterata (wie Anm. 6), S. 43–50; Max Toeppen: Die Elbinger Geschichtsschreiber und Geschichtsforscher in kritischer Übersicht vorgeführt. Danzig: Kafemann 1893 (Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins, 32), S. 44–62; Hanswerner Heincke: (sub verbo). In: APB 2, S. 832; Leonhard Neubaur: Zur Geschichte des Elbschwanenordens. In: Altpreußische Monatsschrift 47 (1910), S. 113–183, hier S. 130–135. Zu Michael Mylius vgl. Seyler: Elbinga litterata (wie Anm. 6), S. 26–28, S. 114 f.; Tolckemit: Elbingscher Lehrer Gedächtniß (wie Anm. 6), S. 259–261; Pawlak: Nauczyciele II (wie Anm. 6), S. 159 f. Zu Johannes Cramer vgl. Seyler: Elbinga litterata (wie Anm. 6), S. 60 f., S. 124; Tolckemit: Elbingscher Lehrer Gedächtniß (wie Anm. 6), S. 264–266; Pawlak: Nauczyciele II (wie Anm. 6), S. 132 f. Zu Balthasar Voidius vgl. Fritz Gause: (sub verbo). In: APB 2, S. 759; Ed[uard] Jacobs: (sub verbo). In: ADB 40, S. 200–202; ders.: Balthasar Voigt, der preussische Ovidius. Eine Lebensskizze aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Altpreußische Monatsschrift 6 (1869), S. 1–34. Zu Cyriacus Martini vgl. Christoph Eduard Rhode: Presbyterologia Elbingensis. Die evangelischen Geistlichen im Kirchenkreis Elbing von 1555 bis 1883 nebst Ergänzungen und Nachträgen bis 1945. Hg. von Walther Hubatsch. Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1970 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 14), S. 258 und 260; sowie die Kurzbiographie bei Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1600 – 1657). Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Gelegenheit. Teil 1: Darstellung. Tübingen: Niemeyer 2005 (Frühe Neuzeit, 112), S. 700 f. Zu Achatius von Domsdorff vgl. Leonhard Neubaur: Zwei Elbinger Dichter, Achatius von Domsdorff und Christoph Porsch. In: Altpreußische Monatsschrift 51 (1914), Heft 3, S. 544–606.

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Nach einer kurzen Charakteristik der sozialen Konstellation von Verfassern und Adressaten in den zwischen Königsberg und Elbing ausgetauschten frühneuzeitlichen Kasualschriften, die erhellen soll, wie sich die gelegenheitsliterarischen Alltagskontakte zwischen beiden Städten gestalteten, sollen im folgenden einzelne Kasualpoeme, in denen Dach mit den genannten Elbinger Poeten in Kontakt tritt, analysiert werden, um daran anschließend die Qualität der Beziehung Dachs zum literarischen ›Unterzentrum‹ Elbing zu bestimmen. Ausgewertet wurden für einen Untersuchungszeitraum von 1605 bis 1659 – also für die Lebensspanne Dachs – die Casualia-Bestände der Biblioteka Elbląska im. Cypriana K. Norwida (Elbinger Cyprian-Kamil-Norwid-Bibliothek), des Muzeum w Elblągu (Museum zu Elbing), die Abteilung RĊkopisy Elbląskie des Archiwum PaĔstwowe w GdaĔsku (Abteilung Elbinger Handschriften des Staatsarchivs in Danzig) sowie die Sammlung der Biblioteka Polskiej Akademii Nauk (Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften) in GdaĔsk und die in der Biblioteka Uniwersytetu Mikoáaja Kopernika (Bibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität) in ToruĔ aufbewahrten Kasualdrucke. 14 Gezielt ergänzt wurden diese Recherchen durch sowohl Dach als auch Elbinger Poeten betreffende Drucke aus den Bänden des Handbuchs des Personalen Gelegenheitsschrifttums zur KsiąĪnica Miejska (Stadtbibliothek) in ToruĔ und zur Breslauer Universitätsbibliothek. 15 Das so entstandene Text_______ 14

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Für die ausgewerteten Bibliothekssammlungen werden die folgenden Abkürzungen benutzt: BE = Biblioteka Elbląska im. Cypriana Norwida; BUT = Biblioteka Uniwersytetu Mikoáaja Kopernika, ToruĔ; ME = Muzeum w Elblągu; PAN = Biblioteka Polskiej Akademii Nauk, GdaĔsk; SPK = Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Drucke aus der Biblioteka Uniwersytecka (Universitätsbibliothek) in Wrocáaw werden nach der Mikrofiche-Edition des Handbuchs des Personalen Gelegenheitsschrifttums zitiert und mit dem Kürzel Bres-UB sowie – zusätzlich zur Signatur – mit der laufenden Nummer auf dem Mikrofiche bezeichnet (s. die folgende Anm.). Damit kann ich den größten Teil der derzeit rekonstruierbaren Bestände der ehemaligen Elbinger Stadtbibliothek und des Stadtarchivs erfassen, die in ToruĔ befindlichen Gelegenheitsschriften Königsberger Provenienz sowie mit der Danziger Bibliothek einen zusammenhängenden Bestand aus der unmittelbaren regionalen Nachbarschaft. Vgl. außerdem: Handbuch des personalen Gelegenheitsschriftums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hg. von Klaus Garber. Hildesheim [u.a.]: Olms-Weidmann 2001 ff., hier die Bde. 1–2: Breslau – Wrocáaw: Universitätsbibliothek – Biblioteka Uniwersytecka. Abt. I: Stadtbibliothek Breslau (Rhedigeriana/St. Elisabeth). Hg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Martin Klöker. (2001) mit zugehöriger Mikrofiche-Edition, Hildesheim [u.a.]: OlmsWeidmann 2002; Bde. 3–6: Thorn – ToruĔ: Öffentliche Wojewodschaftsbibliothek und Kopernikus-Bücherei – Wojewódzka Biblioteka Publiczna KsiąĪnica KopernikaĔska. Abt. I: Gymnasialbibliothek Thorn. Hg. von Stefan Anders und Sabine Beckmann. (2002). Der Band zur Universitätsbibliothek Königsberg enthält überhaupt keine Schrift, in der Dach mit Elbingern in Verbindung tritt. Vgl. Bd. 16: Königsberg – Kaliningrad: Bibliothek der Russischen Staatlichen Immanuel Kant-Universität – Biblioteka rossiiskogo gosudarstvennogo universiteta imeni Immanuila Kanta. Hg. von Sabine Beckmann, Klaus Garber und Axel E. Walter. (2005). Damit zeigt sich im heutigen Kaliningrad ein ähnliches Bild wie im jetzigen Elbląg. Bis auf zwei Exemplare (ME: ME/99/HS adl. 2; BE: Pol.6.II.469 [zu beiden Exemplaren s.u. Anm. 23]) sind alle relevanten Drucke in auswärtigen Beständen überliefert. Aufgrund der weitgehenden Zerstreuung und Zerstörung der Bibliotheksbestände beider Städte als Folge des Zweiten Weltkrieges läßt sich hierüber je-

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korpus wurde in einem zweiten Schritt mit den bekannten Texten aus Walther Ziesemers Dach-Ausgabe abgeglichen. 16 In den untersuchten Beständen der genannten Institutionen, die den größten Teil der derzeit rekonstruierbaren Bestände der ehemaligen Elbinger Stadtbibliothek und des Stadtarchivs sowie die in ToruĔ befindlichen Gelegenheitsschriften Königsberger Provenienz 17 umfassen, befinden sich heute 46 Kasualdrucke, die relevante Beziehungen zwischen den beiden Städten abbilden. Diese Anzahl wurde um zwei Dach betreffende Gelegenheitsschriften aus den Handbuch-Beständen sowie um einen an eine Elbinger Hochzeit gerichteten Dach-Druck, der bei Ziesemer erwähnt ist, ergänzt. Bei vielen der ermittelten Drucke läßt sich ein naheliegender Ursprung für den literarischen Austausch bestimmen. Neben einigen Fällen, in denen sich familiäre Verbindungen zwischen Elbing und Königsberg nachweisen lassen, finden sich häufig Gedichte, deren Verfasser oder Adressaten in der Universitätsstadt Königsberg studierten oder dort ansässig waren und zumeist im Laufe ihrer akademischen Ausbildung bzw. späteren beruflichen Laufbahn miteinander in Kontakt gekommen waren. Auf familiär begründeten Austausch von Gedichten verweist zum Beispiel der Umstand, daß sich mit den Familien Meienreis, Beckher, Koy und Freyling mehrfach Namen von Ratsgeschlechtern in den Drucken des Textkorpus wiederfinden, die sowohl in Königsberg als auch in Elbing ansässig waren. 18 Bezie_______

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doch nicht auf eine frühere Sammlungslücke schließen. Vgl. zur neueren Bestandsgeschichte für Königsberg: Axel E. Walter: Die Bibliothek der Staatlichen Immanuel KantUniversität Kaliningrad und die ehemalige Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek einschließlich der Wallenrodtschen Sammlung. Eine bibliotheksgeschichtliche Darstellung und ein Überblick über die Bestände vom Mittelalter bis in die Gegenwart. In: Königsberg – Kaliningrad a.a.O., S. 21–67, hier insbes. S. 38–46, sowie für Elbing die neueste Publikation zu diesem Thema: Krystyna Greczycho: Depozyty zbiorów Biblioteki Miejskiej w Elblągu – Collection deposits of the old Municipal Library in Elbląg. In: Biblioteka Elbląska. PrzeszáoĞü i teraĨniejszoĞü – Elbląg Library. Past and present. Pod red. Piotra Derlukiewicza. Elbląg: Wilk Stepowy [2005], S. 39–46 (poln.), S. 139–144 (engl.) mit weiteren Literaturangaben. Die Durchsicht der bei Ziesemer verzeichneten Schriften förderte einen weiteren Druck zu Tage, der Dachs gelegenheitsliterarischen Kontakt nach Elbing belegt (vgl. Anm. 40). Dieses Exemplar wurde ergänzend zu den Drucken aus den polnischen Bibliotheken in das Textkorpus aufgenommen. Unter den Beziehungen zwischen Königsberg und Elbing manifestierenden Drucken finden sich in der Biblioteka Uniwersytetu nur ehemals in der Königsberger Stadtbibliothek aufbewahrte Drucke, jedoch keine aus den heute ebenfalls teilweise in ToruĔ befindlichen Casualia-Beständen der ehemaligen Königsberger Universitätsbibliothek. Zu den einzelnen Anteilen der Bestände Königsberger Provenienz in der Biblioteka Uniwersytetu Mikoáaja Kopernika vgl. Maria StrutyĔska: Struktura proweniencyjna zbioru starych druków Biblioteki Uniwersyteckiej w Toruniu. Przewodnik po zespoáach. Problemy badawcze i metodologiczne [Die Provenienzstruktur der Altdruck-Sammlung der Universitätsbibliothek in Thorn. Ein Führer durch die Bestände. Forschungsfragen und methodische Probleme]. ToruĔ: Wyd. Uniwersytetu M. Kopernika 1999, hier insbes. S. 11–20. Zu den Familien Beckher, Koy und Meienreis vgl. Johannes Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter. Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1961 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und West-

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hungen nach Königsberg unterhielten aber zum Beispiel auch die an Elbinger Kirchen tätigen Brüder Christoph und Michael Feyerabend, die beide in Königsberg geboren wurden. So erhielt Christoph Feyerabend 1633 zu seiner Hochzeit mit Anna Becker Glückwünsche einiger Königsberger, darunter Abraham Calov und Georg Mylius, und Michael Feyerabend dedizierte 1658 ein Epithalamium an Friedrich Heilsberger und Catharina Gisinn, das auch in Königsberg gedruckt wurde. 19 Neben nicht genau zu spezifizierenden Kontakten wie zum Beispiel der Freundschaft zwischen dem Elbinger Gymnasialdozenten Raphael Schwarz mit dem Königsberger Geistlichen Jakob Sahme, 20 lassen sich vor allem viele Drucke finden, in denen sich aus Elbing stammende Studenten der Albertina an Freunde oder Bekannte in der Heimatstadt wenden oder in der Universitätsstadt an Schriften beteiligt sind. 21 Hier zeigt sich die Beliebtheit Königsbergs als _______

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preußen, 1), hier S. 5, 53 und 69; zur Familie Freyling vgl. Helmut Freyling: Die Ratsfamilie Freyling in Elbing und Königsberg unter Darstellung der Verfassung der Freien Stadt Elbing und geschichtlicher Ereignisse des 16./17. Jahrhunderts. Hameln: Niemeyer 1980. In den Beständen der Stadtbibliothek Elbing befand sich z.B. folgender Druck mit Königsberger Adressaten von 1677: BE: Pol.7.III.345 (Altsign.: D.2.Misc.1.): Bey Zwiefacher Vermählung Des Edlen/ Groß=Achtbahren [...] Hn. Paul Freylings/ [...] Raths=Verwandten der Alten=Stadt Königsberg/ Mit der [...] Frauen Catharina Geb. Gorgiin/ [...] Stattete seinen [...] Glückwunsch von Franckfurt an der Oder ab/ Dero Gehorsamer Enckel Reinhold Suter. Königsberg/ Gedruckt durch Friderich Reusnern/ Sr. Churfl. Durchl. zu Brandenb. in Pr. bestalten Hoff= und Dero Acad. Buchdr. BUT: Pol.7.II.1912 (Provenienz: StA Elbing: Misc. 10): VOTA HONORI NUPTIARUM VIRI Reverendi & Literatißimi Dn: CHRISTOPHORI Feyerabendt/ Ecclesiae Furstenaviensis Pastoris dignissimi, SPONSI, & Castißimae & Honestißimae Matronae ANNAE, Viri Integerrimi & Spectatißimi Dn: JACOBI BECKERI, Civis apud Elbingenses quondam primarij/ relictae viduae, SPONSAE. Dn. Fautoribus & Amicis Concinnata. REGIOMONTI, Excudebat Laurentius Segebadius, ANNO M DC XXXIII; BUT: Ob.7.II.5580 (Provenienz: StB Königsberg: Oe 337 8°): Wolgemeintes Ehren=Gedächtniß Welches Dem Ehrenfesten/ Achtbaren und Wolgelahrten Hn. Friederich Heilsbergern/ Als derselbe Mit der […] Jungfr. Catharina Gisinn/ Den 29. Octob. des 1658. Jahres in Königsberg Seinen Hochzeitlichen Ehren=Tag beging/ Schuldigst auffgerichtet Michael Feyerabend/ Elb. Königsberg/ Gedruckt durch Sr. Churfl. Durchl. zu Brand. in Preuss. und der Academien bestalten Buchdr. Johann Reusnern. – Christoph Feyerabend wurde 1610 in Königsberg geboren, hat vermutlich dort studiert und wurde 1633 – im Jahr der Überreichung des Drucks – Prediger in Fürstenau. Vgl. Rhode: Presbyterologia Elbingensis (wie Anm. 12), S. 44 f. Sein Bruder Michael Feyerabend bekleidete 1658 das Predigtamt in Deutschendorf. Ebd., S. 64. BUT: Pol.7.II.6942: EXIMIO CONSPONSORVM PARI DN. RAPHAELI SCHWARTZIO ET ELISABETHAE Tollkemittin XVIII. Iun. die Hilaria gamica celebranti Amici & consangvinei gratulantur. ELBINGAE Typis ACHATII CORELLII 1652, 8. Beiträger: »JACOBUS SAHMIUS Regiom.« [Bl. ʌ4r]: [Inc.:] »QVaesitum nuper fuerat, qui vivere vitam« [Bl.ʌ4r]. Zu Raphael Schwarz vgl. Seyler: Elbinga litterata (wie Anm. 6), S. 53; Tolckemit: Elbingscher Lehrer Gedächtniß (wie Anm. 6), S. 348; zu Jacobus Sahme vgl. Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter (wie Anm. 18), S. 94. Nach Elbing geschickte und dort gedruckte Schriften: ME: ME/93/HS adl. 4: Herren Statius Feldhausen/ und Jungfr. Regina Heckerinnen Liebesbegebenheit: Auf den 14. Septemb. 1649. ihren Hochzeitlichen Ehrentag in Elbing/ von des Herrn Bräutigams Academischem und Brüderlichgetrewem Freunde Stephan Sassen/ Studioso, aus Königsberg übersandt. Daselbst gedruckt durch Johann Reusnern. BUT: Pol.7.II.7001: Die Hochzeit-

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Studienort. 89 Prozent aller Absolventen des Elbinger Gymnasiums besuchten im Laufe ihres akademischen Werdegangs die Königsberger Universität. Im Jahrzehnt zwischen 1640 und 1650 immatrikulierte sich eine Rekordzahl von 78 Elbinger Schulabgängern an der Albertina, im Folgejahrzehnt waren es immerhin noch 44 Einträge in der Universitätsmatrikel. 22 Diese Zahlen sprechen für einen nicht zu unterschätzenden Einfluß der Königsberger Lehrmeinungen im Bereich der studia humanitatis auf den in Elbing herrschenden gelehrten und literarischen Diskurs. Die meisten der zwischen Königsberg und Elbing ausgetauschten Gedichte sind stark topisch strukturiert und reflektieren den Vorgang des Dichtens oder die spezielle Beziehung zwischen dem Gelegenheitspoeten und Adressaten nicht. Unter der Gesamtheit dieser Casualia fallen deshalb die neun überlieferten Schriften besonders heraus, in denen Dach und die genannten Elbinger Kasualdichter miteinander kommunizieren, 23 da sich in diesen Poemen nicht nur _______

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lichen Ehren Deß Ehrenvesten und Wolgelahrten Herrn NICOLAI THOMAE Mit der VielEhr= und Tugendreichen Frawen ANNA Deß Ehrenvesten/ Vorachtbahren und Wolgelahrten Herrn JOHAN LEHWALDS/ der löblichen Stadt Elbing gewesenen wolbestalten Secretarij hinterbliebenen Fraw Wittiben. Den 10. Septembr. 1658. in Elbing gehalten Bedieneten hiemit untengesatzte Freunde. Gedruckt zu Elbing/ bey Achatz Corellen: 1. Beiträger: »Ita [...] Dn. Sponso, Amico [...] affectum sincerum testatur [...] Christophorus Heermannus S.S. Theol. Stud.« [Bl. A2r]: [Inc.:] »QUaeritur: ecqvidnam causae, connubia sêclum« [Bl. A1v], 2. »Dieses aus [...] Freundschafft hat [...] wollen [...] von Königsberg überschicken Michaël Arlet Mariaeb. S.S. Theol. Stud.« [Bl. A3r]: [Inc.:] »Und/ Bruder/ legstu das Studieren« [Bl. A2r], 3. »Vberschickt von Königsberg von Johan. Hecker.« [Bl. A4v]: [Inc.:] »HÖret doch Jhr Musen Söhne/« [Bl. A3v]. – In Königsberg gedruckte Schriften: BUT: Pol.7.II.4743 (Provenienz: StB Königsberg): Gratulabundae Acclamationes Quibus LAUREAM PHILOSOPHICAM Eximio & Literatissimo Viro Juveni DN. IOHANNI HESPIO MITAVIENSI CVRLANDO Sub Magnifico Academiae Rectore VIRO Excellentissimo Experientissimoq[ue] DN. CHRISTOPHORO TINCTORIO Phil: & M.U. Doctore, PP. nec non Seren: Electoris Brand. Archiatro a Spectabili Decano VIRO Excellentissimo, Clarissimoq[ue] DN. M. SIGISMVNDO WEIERO Historiarum PP. celeberrimo & Seniore, nec non Seren. Elector Brandenb. Bibliothecario dignissimo In Electorali florentissima Celeberrimaq[ue] Academia Regiomontana. ANNO MDC XLVI d. 5. April: Ejusdem Convictores & Amici prosequuntur. Typis REUSNERIANIS: 12. Beiträger: »C. Altus Elbing. Pr. Phil. & Theol. stud.« [Bl. )(4v]: [Inc.:] »HESPI cinguntur postqua[m] tua tempora lauru,« [Bl. )(4v]. Marian Pawlak: Studia uniwersyteckie absolwentów studiów gimnazjum elbląskiego w latach 1536 – 1772 [Die Universitätsstudien der Absolventen des Elbinger Gymnasiums in den Jahren 1536 – 1772]. In: Zeszyty naukowe Uniwersytetu Mikoáaja Kopernika w Toruniu. Nauki humanistyczno-spoáeczne, Heft 24, Historia III (1967), S. 113–144, hier S. 122 sowie S. 128, Tab. 4. 1657: ME: ME/99/HS adl. 2: Ehren=Gedicht Auff Des Wol=Ehrwürdigen und Wolgelahrten Herrn CYRIACI MARTINI, Der Gemeine GOttes an der Heil Frohnleichnams Kirchen zu Elbing/ wolverordneten Pfarrern Mit der VielEhr und Tugendreichen Jungfrauen SABJNA/ Des Weyland Wol=Ehrwürdigen/ Vorachtbahren und Hochgelahrten Herrn DAVJD HOLSTENS/ gewesenen Senioris des Elbingischen Ministerij, hinterbliebenen Tochter den 8. Octobris Anno 57. gehaltener Hochzeit Entworffen von guten Freunden. Gedruckt zu Elbing/ bey Achatz Corellen: 1. Beiträger: »Simon Dachius in Acad. Regiom. Poës. Prof. Publ.«: »Nuptiis Reverendi & Clarissimi Dn. CYRIACI MARTINI &c.«, [Inc.:] »HAEret adhuc, dubioqve redit Pax anxia gressu,« [Bl. )(1v]; 2. Anonym: »EX

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wiederholt poetologische Stellungnahmen finden, sondern gerade die literarische Verortung von Verfasser und Widmungsadressaten in der literarischen Hierarchie eine zentrale Rolle spielt. Ausdruck findet dieses Austarieren der eigenen dichterischen Position im gegenseitigen Lob sowie in der poetisch verbrämten Selbsteinschätzung der eigenen literarischen Potenz. Zwar sind auch diese Themen stark topisch fundiert, aber gerade die wiederholte Auswahl dieser Gehalte im Findungsprozeß der inventio weist darauf hin, daß sie zentral mit der Adressaten-Verfasser-Konstellation – und damit einer spezifisch Dach zugeschriebenen Rolle – verknüpft sein muß, da eine ähnliche thematische Häufung im innerstädtischen Elbinger Kontext bisher nicht belegt werden konnte. Schon im frühsten überlieferten Dach-Druck, einer Hochzeitsschrift an den Elbinger Gymnasialkollegen Johannes Cramer und dessen Braut Regina Braun von 1636, 24 deuten sich insbesondere drei Themen an, die in den folgenden Jah_______

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CABALA Trigonali.« sowie »Votum ȚıȩȥȘijȠȞ.« [Bl. )(2r], 3. »Andreas Hinnius Ecclesiast. Elbing.« [Bl. )(2v]: [Inc.:] »INfestis totum signis ferè territat Orbem« [[Bl. )(2r], 4. »Gotofr. Fr. F. Zamelius.« [Bl. )(2v]: »Ad Rev. Dn. SPONSUM.«, [Inc.:] »ET firmata pio est felix Ecclesia coetu« [ebd.], 5. »Thomas Polus Reval. Liv.« [Bl. )(4v]: [Inc.:] »QVà curva nostris littora moenibus« [Bl. )(3r] sowie [Inc.:] »WAr diß dein Raht und Schluß/ du Himmels=Hertzog du« [Bl. )(4r]. – 1652: PAN: Fb 15413 8° adl. 24 b: SIMULACHRA SILENORVM. Sive EPITAPHIA CLARISSIMORUM, […] ROTGERVM ZVM BERGEN REGIVM SECRETARIVM Vigilantissimi Catelli CYGNI obitu perturbatum, […], REGIOMONTI, Praelo REUSNERIANO, MDCLII: 4. Beiträger: »S. Dachius« [Bl. )a(1v] mit zwei Gedichten: »In obitum Cygni Catelli | A lanione bigarum rotis crudeliter obtriti dum | herum suum ad hortum comitaretur. | Epitaphia. | I. | [Inc.:] CYgnum delicias Domini tegit urna catellum« [Bl. )a(1r] sowie »2. | [Inc.:] Vnius an verè tam grandia fata Catelli« [Bl. )a(1v], mit ebenfalls abgedruckter deutscher Fassung [»Epigramma secundum tam argutum | atq[ue] acutum visum est, ut in vernaculam nostram id transferendum mihi sumpserim.«, ebd.]: [Inc.:] »WJe daß ein Hündlein dann so starckes leben hat/« [ebd.], 6. Beiträger: »J. Pastorius D. Historicus Regius &c.« [Bl. )b(2r]: »In Cygnum, catellum lepidissimum | Nobilisiimi [!] VIRI | ROTGERI ZVM BERGEN, | misero fato abreptum, sed ab Hero & aliis e- | jus Amicis post fata multis carminibus ce- | lebratum.«, [Inc.:] »DElicias inter serum tibi venerat aevum,« [)a(4v] sowie »Aliud. | Epitaphium Cygno Cani,«, [Inc.:] »CYgnos alios ante fatum suum canere perhibent.« [)b(1r], 7. Beiträger: »Simon Dachius, Poës. Prof. Publ. « [Bl. )b(3r]: »Aliud. | [Inc.:] QVid, Montane, rotae obtritum fles mole catellum,« [Bl. )b(2r], »Aliud. | [Inc.:] Vt tuus iste, fuit vitae splendore beatus« [Bl. )b(2v, lateinisch-deutscher Beitrag], 11. Beiträger: »B. Voidius, Pastor Primarius Elbingensis Poëta Coronatus Caes.« [Bl. )c(1r]: [Inc.:] »NVper ut à nobis cursum deflectere Titan« [Bl. )c(1r] sowie [Inc.:] »DA newlich Cynthius den Wagen zog zurück« und »HJer liegt ein Hundsperson mit grosser Pomp begraben« [Bl. )c(1r]. – Sowie mit Analyse: 1636: Bres-UB: 300-353553 (vgl. Anm. 24), 1641: BUT: Pol.7.II.6398 (vgl. Anm. 67), 1641: Bres-UB: 497-353750 (vgl. Anm. 56), 1642: SPK: Yi 851–1,29 (vgl. Anm. 40), 1644: PAN: Cf 9973 8° adl. 2 a (vgl. Anm. 54, Dublette: PAN: Oe 11 8° adl. 189c, weiteres Exemplar mit geringfügigen Abweichungen: BUT: Pol.6.II.469, Provenienz: StA Elbing), 1647: PAN: Qb 10070 8° adl. 11aa (vgl. Anm. 33), 1647: PAN: Qb 10068 8° adl. 18f (vgl. Anm. 79). Bres-UB: 300-353553: īĮȝȒȜȚĮ Solennitati Nuptiarum Elbingensi Praestantißimi & Doctißimi Dn: JOHANNIS CRAMERI, Gymnasii Elbingensis Collegae, & in Theologicis Informatoris […], SPONSI: Nec non […] Virginis, REGINAE BRAVNJN […] DN. GREGORII BRAVN/ Civis quondam Elbingensis primarii filiae superstitis, SPONSAE Consecrata & ab Amicis Regiomontanis transmissa. […] M. DC. XXXVI. 18. Aug: REGIOMONTI Typis LAVRENTII SEGEBADII.

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ren zwischen Dach und den Elbingern auf unterschiedliche Weise verhandelt werden: das gegenseitige Lob, der Bescheidenheitstopos und die Liebesdichtung, die Dach als Metier zugeschrieben wird. Dach publiziert hier – zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht als Professor der Poesie eine bessere Stellung in der städtischen Hierarchie Königsbergs eingenommen hatte – an vorletzter Stelle der Königsberger Freunde Cramers, 25 verweist allerdings unter dem Deckmantel der topischen Bescheidenheit nahezu offensiv auf seine eigene dichterische Bedeutung. Dach beginnt sein Gedicht, dem hochzeitlichen Anlaß angemessen, mit einer Anrede an Venus und der Frage, ob die Göttin sich nicht freue, daß er – in seiner Rolle als Gelegenheitsdichter zu Hochzeiten in Königsberg – ihren zusammen mit dem Sohn Amor in der jeweiligen Hochzeit vollzogenen Sieg besinge: VEnuß/ bist du nicht vergnüget/ Daß ich hie zu Königsbergk Singe/ wie nechst deiner Stärck Auch dein kleiner Sohn gesieget?

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In seine weiteren auf die Situation in Elbing bezogenen Ausführungen fließt dann der genannte dichterische Bescheidenheitstopos ein, indem er sich zu den gelehrten Elbingern in Beziehung setzt: Sol auch Elbing durch ein Lied Mein verächtlich Spiel erfahren/ Wo bey den Gelehrten Scharen Dieser vnd auch jener blüht? Dieser/ der/ so künstlich singet/ Vnd die hohe Trompte rührt/ Die selbst Maro hat geführt: Jener/ den jhm Phöbus dinget/ Vnd mit seinem Zweigen ehrt. Jch bin nur vor schlechte Hirten/ Vnd mein Krantz seind deine Myrten/ 27 Der mir auch noch kaum gehört.

Die bescheidene Herabsetzung seines »verächtlich Spiel[s]« basiert auf einem Vergleich der unterschiedlichen Ebenen der drei genera dicendi. Während »dieser« und »jener« aus Elbing – es handelt sich hierbei vermutlich um Friedrich _______ 25

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Ebd.: »ab Amicis Regiomontanis transmissa« [Bl. A1r]: 1. »M. Ioachimus Babatius, Diac: Eccles: Cniph.« [Bl. A2r], 2. »Georgius Colbius Ecclesiae Cath: apud Cniphovianos in monte Borussorum regio Diac:« [Bl. A2r], 3. »M. Christophorus Schultz Diac: Löbn.« [Bl. A2r], 4. »M. Albertus Linemannus Mathem: Professor Publicus.« [Bl. A2v], 5. »Valentinus Thilo.« [Bl. A2v], 6. »M. Andreas Mylius Ebraeo Ling: P.P.« [Bl. A3r], 7. »Christophorus Schroederus Scholae Palaeopol: apud Regiomontanos Rector.« [Bl. A3r], 8. »Christophorus Wilkau S.L.P.« [Bl. A3v], 9. »Simon Dach.« [Bl. A4v], 10. »Albertus Kieper.« [Bl. A4v]. Simon Dach: [Inc.:] »VEnuß/ bist du nicht vergnüget/«. In: īĮȝȒȜȚĮ Solennitati Nuptiarum […] JOHANNIS CRAMERI, […] Nec non […] REGINAE BRAVNJN (wie Anm. 24), Bl. A3v–A4r. Ebd., Bl. A4r.

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Zamehl und Balthasar Voidius – in der Vergil-Nachfolge und mit dem Dichterlorbeer gekrönt offensichtlich einem erhabenen Stil anhängen, 28 treibt sich Dach poetisch gesehen bei den »schlechte[n] Hirten« auf der Ebene des genus humile herum und kann nur den von Venus vergebenen Myrthenkranz erwarten. Damit variiert Dach ein Rechtfertigungsmuster, das ähnlich in den Amores des Ovid zu finden ist und schon vor ihm an prominenter Stelle zur Aufwertung deutschsprachiger Liebesdichtung verwendet wurde: Martin Opitz, der einflußreichste Vertreter der nationalsprachigen Liebesdichtung, benutzt diesen Vergleich in seinem Einleitungsgedicht zum fünften Buch der Deutschen Poemata (An die Deutsche Nation) und partizipiert damit am zeitgenössischen Dichtungsdiskurs. 29 Anders als seine Vorbilder, die erst durch äußere Einwirkung der Liebesgottheiten oder der Geliebten dazu gebracht werden, sich der neuen Thematik zuzuwenden, beschreibt Dach jedoch einen offenbar selbstgewählten Zustand und nimmt von einer überregionalen Proklamation – und reichte sie nur bis nach Elbing – bewußt Abstand: Nein/ mich schreckt die Furcht der wachen Wo daß Meer zu hoch vnd tief/ Darumb soll mein kleines Schiff/ Sich nicht weit vom Vfer machen: Lest deß Pregels grüner Rand Jhm mein schlechtes Spiel vor allen Wie ich mercke/ nur gefallen/ 31 Bin ich weit genug bekant.

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In seinem Umfeld – nahe am Ufer des Pregels – kann sich der Dichter ohne Rechtfertigungsdruck dem von ihm gewählten Thema widmen, wenn auch im weiteren Umkreis die Wellen der poetologischen Diskussion warten. Mit dem Rückzug auf seinen Königsberger Rezipientenkreis wertet Dach implizit seine _______ 28

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Friedrich Zamehl wurde bereits 1614 in Königsberg zum Dichter gekrönt und hatte neben einer poetischen Beschreibung Elbings (Laus drusidos, 1631) u.a. Werke auf Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges (Philyra recepta, sive Tillius exarmatus, 1631; Philyra secundum recepta, sive Phallosthenes exarmatus, 1633) verfaßt. Neumann: Friedrich Zamehl (wie Anm. 7), S. 151 f. Voidius wurde erst 1644 zum Dichter gekrönt. Vgl. Jacobs: Balthasar Voigt (wie Anm. 11), S. 16. »Da kam der Venus Kind/ bracht’ einen Kranz von Myrten | Vor meine Lorbeerkron’/ vnd stieß mich zu den Hirten«. In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hg. von George SchulzBehrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. Stuttgart: Hiersemann 1978–1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, 300–301), Teil 2, S. 599–601, hier S. 600. »An die Deutsche Nation.« leitet als Gedicht Nr. 39 das fünfte Buch der »Poetischen Wälder: Worinnen Amatoria vnd weltliche Getichte sind.« (ebd., S. 595) ein. In Amores II, 1 spricht Ovid ebenfalls von einer Abwendung von einem Heldengedicht zugunsten der dem Leser vorliegenden Liebesdichtung. Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte. Amores. Hg. von Walter Marg und Richard Harder. 7. Aufl. München: Artemis & Winkler 1992, S. 54– 57. Daß die Zeitgenossen diese Kontexte verifizieren konnten, ist durch ein Lektüreexemplar der Opitzischen Acht Bücher Deutscher Poematum des Kaspar von Barth belegt, vgl. Schulz-Behrend a.a.O., Teil 1, S. X sowie Teil 2, S. 599, hier Anm. [39]. Simon Dach gebraucht das Wort ›Wache‹ in der Bedeutung ›Welle‹. Vgl. DWb 13 (1922) = 27 (1984), Sp. 33. Dach: »VEnuß/ bist du nicht vergnüget/« (wie Anm. 26), Bl. A4r.

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Existenz als Kasualpoet sogar wieder auf, da der selbstbewußte Rückzug auf den regionalen Wirkungskreis diesem Dasein eine eigene Wertigkeit zuschreibt, die es mit dem überregionalen Kontext – und den angeblich auf wichtigeren poetischen Gebieten tätigen Elbingern – aufnehmen kann, da er sein Metier zufriedenstellend beherrscht. Seinen Status als Kasualdichter betont auch seine erneute, nahezu nonchalante Hinwendung an Venus (»Dione«), der er aufträgt, weiterhin »den Hertzen gut vnd wol« zu tun. 32 Damit erhebt er sich nahezu auf gleiche Ebene mit der Göttin und deutet an, daß sie ihm gleichzeitig weiterhin genügend Anlässe zum Schreiben liefern solle. Obwohl dieser letzte Absatz auch auf den aktuellen Anlaß der Elbinger Hochzeit bezogen werden könnte, enthält das Gedicht keine spezifisch das Adressatenpaar betreffende Invention, sondern ist vielmehr im ganzen als poetologische Stellungnahme zu lesen. Damit führt Dach den im Gedicht eingenommenen Bescheidenheitsgestus und seine angebliche Minderwertigkeit gegenüber den vorgeblich auf wichtigerem literarischen Terrain tätigen Elbingern ad absurdum. Anläßlich der Hochzeit liefert der Dichter Dach eben kein kleines Gelegenheitsgedicht auf die Adressaten, sondern einen allgemeinen poetologischen Exkurs. Neben den erwähnten vorbildhaften, literarisch angesehenen Elbinger Poeten etabliert – nicht rechtfertigt – Dach selbstbewußt seine eigene Existenz als regionaler Gelegenheitsdichter als bedeutend. Ein Lob Dachs für einen Elbinger Kasualdichter ist jedoch kein Einzelfall – wie Dachs Epicedium auf den Elbinger Studenten Michael Meienreis belegt, der in Königsberg am 18. Juni 1647 an einem schweren Fieber verstarb. 33 Der Dichter widmet sein Leichencarmen Sigismund Meienreis, dem gelehrten Elbinger Bürgermeister und Vater des Verblichenen. Zwar sind die Eltern nach der Konvention des Leichengedichts die ersten Ansprechpartner unter den Trauernden, aber Dachs direkte Hinwendung an den Vater ist im Vergleich mit der vollkommenen Auslassung des Brautpaares Cramer-Braun auch als Tribut an den politischen und gelehrten Rang des Widmungsadressaten zu werten. Sigismund Meienreis war nicht nur kirchenpolitisch aktiv – er begleitete die Elbinger Theologen 1645 zum Colloquium Charitativum in Thorn –, sondern zählt zu den Chronisten der Elbinger Lokalgeschichte des 17. Jahrhunderts. 34

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Ebd., Bl. A4r–A4v: »Vnter dessen/ du Dione/ | Thue den Hertzen gut vnd wol | Denen dies zu ehren soll: | Sag auch deinem kleine [!] Sohne/ | Daß er stets durch seine List | Diesen einverleibten Hertzen | Mög erregen solche Schmertzen/ | Derer Zwegk vergnügung ist.« PAN: Qb 10070 8° adl. 11aa: Monumenta Lugubria Honori & memoriae NOBILISS: FLORENTISS: DOCTISS: Viri-Iuvenis DN. MICHAELIS MEIENRISII Elbing: Patricij Magno animi moerore â Fautoribus & Amicis Regimonti posita. Excusa ELBINGAE Apud ACHATIUM CORELLIUM. ANNO 1647. Sigismund Meienreis (1595 – 1654) setzte die »Collectaneen« seines Vaters Andreas fort. Toeppen: Die Elbinger Geschichtsschreiber (wie Anm. 8), S. 21.

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Ungewöhnlich vor dem Hintergrund der üblichen Varianten des traditionellen Lob-Klage-Trost-Schemas 35 sind jedoch Anfang und Ende des Leichengedichts, die anstatt auf den Verstorbenen oder Widmungsadressaten auf Friedrich Zamehl d. Ä. fokussiert sind. Neben Zamehl, der zu diesem Anlaß selbst ein Carmen verfaßt hat, aber am 4. September desselben Jahres verstarb, 36 gibt sich Dach nicht nur wieder bescheiden, sondern etabliert ihn gleich in der ersten Gedichtzeile als Bewertungsmaßstab für sein Gedicht, über den er aber auch gleichzeitig die gebührende Wertschätzung für seinen Beitrag einfordert: SI nostris aliquis post aurea metra Zamel[ii], Magne Vir, in vestrâ Druside restat honos, Et patrio nondum totus succumbis amori, Sed lachrymas dominâ sub ratione premis, Perlege qvodcunq[ue] est: requiem si ceperis inde, 37 Gaudeo; si nullam fortè, recuso legi. (Wenn, angesehener Mann, nach den vortrefflichen Versen des Zamehl den Unsrigen irgendein Ruhm in Eurer Drausenstadt übrig bleibt, und du noch nicht ganz von väterlicher Liebe überwältigt bist, sondern du die Tränen durch die Vernunft als deine Herrin unterdrückst, lese alles was hier steht durch: Wenn du Ruhe hierin gefunden hast, freue ich mich; wenn du vielleicht keine findest, weigere ich mich gelesen zu werden.)

Dach führt aus, nur wenn ihm und den übrigen in der Schrift vertretenen Königsbergern nach den erwartungsgemäß vortrefflichen Versen des Zamehl noch der einem Gelegenheitsdichter gebührende Ruhm zustehe, weil der Trauernde seelisch in der Lage sei, das ihm gewidmete Gedicht adäquat zu erfassen, und das Gedicht qualitativ so gut verfaßt sei, daß es dem Vater »Ruhe« bringen werde, wolle er gelesen werden. Damit formuliert der Dichter einen hohen Anspruch an Wirkung und Qualität eines Gelegenheitsgedichts, für die er den Lohn _______ 35

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Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147. PAN: Qb 10070 8° adl. 11b: CIPPUS DN. MICHAELI MEIENRISIO NOBILI apud ELBINGANOS Patricio in Patriâ positus. ANNO M. DC. XLVII. Typis CORELLIANIS, 1. Beiträger: »Frid. Zamelius.« [Bl. [A]1v]: »MAGNIFICO AC NOBILISS. | DN. SIGISMUNDO MEGERISIO [!] | Elbingensium PraeCos. Fil. unici | obitum moerenti [...]« [Inc.:] »Pone gravem luctum: quid Te Pater atteris Vrbis?« sowie »EPITAPHIUM.«, [Inc.:] »GEntis honor Michäel [!], qvam frundea Maja tuetur.« [ebd.]. Auf Zamehls Tod: u.a. PAN: Qb 10068 8° adl. 18: PAX JUSTIFICATIS. Christliche Leichpredigt Von dem Friede welchen alle durch den Glauben gerechtfertigte mit Gott haben: Auß dem Sprüchlein S. Pauli Röm: 5.v.I. […] Bey Volckreicher Leichbestatung [!] Deß Weyland Ehrenvesten/ […] Hn. Fridrich Zameelen der Königl. Stadt Elbing wolverdienten Rahtsverwandten. Welcher Anno 1647. den 4. Septemb. [...] entschlaffen/ und folgenden 8. Tag selbigen Monats/ [...] in sein Ruhbetlein deß Grabes gesetzet worden. Gehalten/ und auff begehren zum Druck übergeben/ Von David Holstio, Diener Christi am Evangelio. Gedruckt zu Elbing/ bey Achatz Corellen. Simon Dach: »Ad MAGNIFICVM, NOBILISSIMVM, & AMPLISSIMVM Dn. SIGISMUNDUM MEIENREIS Prae-Consulem Elbingae gravissimum«, [Inc.:] »SI nostris aliquis post aurea metra Zamel[ii],« In: Monumenta Lugubria Honori & memoriae […] MICHAELIS MEIENRISII (wie Anm. 33), Bl. A2r. – Ich danke Dr. Veronika Marschall für ihre Hilfe bei komplizierteren Fragen bei den lateinischen Übersetzungen.

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in Form der entsprechenden Wertschätzung verlangt. Zamehl, ein vorbildliches Exemplar der Dichterzunft, fungiert als Vergleichsobjekt, das Dach als denjenigen, der damit verglichen wird, aufwertet. Es folgt das eigentliche, auf die Adressatenfamilie bezogene Leichencarmen, das den unumkehrbaren frühen Tod des Michael Meienreis betont und dann wieder – quasi als Klammer – das Lob Zamehls und die Wirkungskraft der Poesie aufnimmt: Inter Amicorum solantia verba Zamel[ii] Heroam accipies, si valet ille, tubam. Ille tuo pellet, si quisquam, corde dolorem, 38 Carminis & natum reddet honore tibi. (Zwischen den tröstenden Worten der Freunde wirst du die heroische Poesie Zamehls empfangen, wenn jener es vermag. Jener wird, wenn überhaupt einer [dazu fähig ist], den Schmerz aus deinem Herzen vertreiben, und, indem er Dich mit einem Gedicht ehrt, Dir den Sohn zurückgeben.)

Zamehl, dem hier mit seiner ›epischen‹ Poesie (»Heroa[] tuba[]«) wieder der erhabene Stil zugeordnet wird, ist in Dachs Argumentation als einziger in der Lage, dem Vater durch ein derartiges Gedicht den Sohn zurückzugeben, weil er durch die Dichtung gleichsam wiedergeboren werde. Dieser Verdienst begründe in Preußen den dichterischen Ruf des Elbinger Dichters: Scilicet hoc uno mea Prußia Vate superbit, Nec doctâ minor est Hellade nec Latio. Hunc audi, qvi, carminibus velut ipse perennat, 39 Qvos canit aeternùm vivere poße facit. (Natürlich glänzt mein Preußen durch diesen einen Dichter, und ist nicht weniger [bedeutsam] als das gelehrte Hellas oder Latium. Höre diesen, der – genauso wie er sich selbst durch seine Gesänge lange erhält – bewirkt, daß diejenigen, die er besingt, ewig leben können.)

In Dachs Wertung steht Zamehl den antiken Vorbildern an Gelehrtheit nicht nach und erfüllt mit der dem Gedicht inhärenten memoria eine der zentralen Grundbedingungen, die zur Rechtfertigung der Sinnhaftigkeit und des Werts von frühneuzeitlicher Kasualpoesie gehören: Durch seinen dichterischen Akt verewigt er den Adressaten und sich selbst als Dichter. Die zentrale Stellung Zamehls in der Wertschätzung Dachs zeigt sich außerdem an einem weiteren Carmen des Königsbergers auf eine Elbinger Hochzeit, in der wieder Zamehl im Text angesprochen wird, ohne als anlaßstiftender Adressat oder offizieller Widmungsempfänger präsent zu sein. In seiner Verfasserschrift auf die Hochzeit von Daniel Plato und Anna Reimann, die 1642 in Elbing ge-

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Ebd., Bl. A3v. Ebd.

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feiert wurde, 40 nimmt Dach sowohl in seinem lateinischen, an den Brautvater Reimann gerichteten Poem als auch in seinem deutschen Hochzeitsgedicht Bezug auf die Elbinger Zentralfigur neulateinischen Dichtens. Das erste Mal erscheint Friedrich Zamehl vor Dachs Ausführungen, die sein Nicht-Erscheinen bei der Hochzeit auslegen, in einer Reihung lobender Anreden an den Brautvater Christoph Reimann, der seinerseits Dach anläßlich der Hochzeit 1641 ein lateinisches Gedicht gewidmet hatte. 41 In dieser Aufzählung wird Reimann nicht nur für sein Pastorenamt – als Priester des göttlichen und nicht nur des dichterischen Worts – und moralische Belange, sondern auch als eine Person, die einen Dichter zu würdigen weiß, sowie als »Verehrer« oder »Freund« des Zamehl gelobt. Dabei erscheint Zamehl als einzige konkrete Person in einer Reihe allgemein positiv besetzter Zuschreibungen und dient der Aufwertung des Widmungsempfängers. 42 In dem folgenden deutschen Gedicht nimmt Zamehl sogar noch größeren Raum ein: Nachdem Dach das Gedicht mit einer persönlichen Entschuldigung an den »Schwäger«, auch nach drei Einladungen sein Fernbleiben von der Hochzeit zu verzeihen, begonnen hat, 43 wendet er sich wiederum der Person Zamehls zu: Jch sol Euch ewig meiden Sol nimmer meine Seel’ An ewren Augen Weiden/ 44 Jhr wehrter Herr Zameel /

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SPK: Yi 851–1,29: Bey Hochzeitlichem Ehren-Tage Hr. Daniel Plato Vnd Jungfr. ANNEN Reimannin Geschrieben Von Simon Dachen. 5. Mertz ANNo [!] 1642. Gedruckt zu Elbing/ Durch Wendel Bodenhausen. Zu Christoph Reimann, der zur Zeit der Abfassung des Gedichts Pastor an der Elbinger evangelischen Hauptkirche St. Marien war, in Königsberg studiert hatte und mit Anna, geb. Starke, Witwe des Kaufmanns Boy aus Königsberg, verheiratet war vgl. Rhode: Presbyterologia Elbingensis (wie Anm. 12), S. 39 f. Zu seinem Gedicht auf Dach s.u. Anm. 56. Simon Dach: »AD CHRISTOPHORVM REIMANNVM«, [Inc.:] »REimanne, cordis integerrimi Vindex,«. In: Bey Hochzeitlichem Ehren-Tage (wie Anm. 40), Bl. A1v: »REimanne, cordis integerrimi Vindex, | Vatum Aestimator non ineruditoru[m], | Modeste verbi sanctioris Antistes, | Censura morum, criminumq[ue] Sufflamen, | Cultor Zamel[ii], candidum mihi Pectus, | […]«. Übersetzung: »Reimann, Beschützer des lautersten Herzens, Würdiger der äußerst geschickten Dichter, bescheidener Priester des heiligeren Wortes, Richter der Sitten und Hemmschuh der Laster, Freund des Zamehl, Herz, das mir redlich ist, [...]«. Simon Dach: [Inc.:] »AVff Dreyen Hochzeit-Schreiben«. In: Bey Hochzeitlichem EhrenTage (wie Anm. 40), Bl. A2v: »AVff Dreyen Hochzeit-Schreiben | Gehorch’ ich/ Schäger [hs. korrigiert: Schwäger] nicht! | Mich zwinget aus zu bleiben | Der weg/ der gantz gebricht: | So hält’ auch sonst durch sachen | Mich mein verhängnis an/ | Daß ich mich auff=zu=machen | Kein Mittel finden kan.« Diese Passage zitiert auch Schoolfield, der das Dach-Gedicht zusammen mit anderen ähnlichen Inhalts nutzt, um zu belegen, daß Dach Königsberg selten verließ. Vgl. George C. Schoolfield: Memory’s Lane: Simon Dach’s Memel Epithalamium of January 18, 1655. In: Life’s Golden Tree. Essays in German Literature from the Renaissance to Rilke. Ed. by Thomas Kerth and George C. Schoolfield. Columbia/SC.: Camden House 1996, S. 64–100, hier S. 84 f. In diesem Exemplar hs. korrigiert: Zamehl.

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Muß ewrer nur geniessen Jn Schrifften jederzeit/ Eüch Mündlich selbst zu grüssen 45 Jst nie Gelegenheit.

Nach der bedauernden Feststellung, daß er vom langen Weg und anderen »sachen« von der Teilnahme an der Hochzeit abgehalten werde, beklagt er nicht etwa zuerst, das Fest zu verpassen oder die Adressaten nicht zu treffen, sondern daß er Zamehl nicht persönlich begegnen und ihn somit weiterhin nur über seine Dichtung »jederzeit« genießen könne. Da er nicht in der Lage sei, die durch die göttliche Vorsehung aufgezwungene Abwesenheit zu ändern, schicke er statt dessen stellvertretend sein Gedicht. 46 Den personifizierten Versen (»Jch sprach zu meinen Reimen« 47 ) wird vom Sprecher Dach beschrieben, was bei der Hochzeit auf sie zu komme. Sie werden angewiesen, stellvertretend für Dach nicht nur dem ›realen‹ Hochzeitsgeschehen beizuwohnen und die tugendhafte Braut sowie die Hochzeit feiernden Elbinger zu sehen, sondern ihnen wird auch in Aussicht gestellt, von Cupido erkannt und von ihm seiner Mutter Venus vorgestellt zu werden, da der kleine Liebesgott Dach oft betört und dieser dann Lieder für Venus verfaßt habe. 48 Mit dieser Allusion auf denselben Liebesdichtungs-Diskurs wie schon im oben erwähnten Hochzeitsgedicht an Johannes Cramer 49 gelingt Dach wiederum die Wendung ins Poetologische. Bevor Dach schließlich konventionell mit einem Bescheidenheitstopos zu seinem dichterischen Können – seiner »Geige«, die ihn »Mehr/ als sie sol/« bekannt mache – und mit den üblichen guten Wünschen endet, 50 ergibt sich noch_______ 45 46

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Dach: »AVff Dreyen Hochzeit-Schreiben«. (wie Anm. 43), Bl. A2v. Ebd., Bl. A2v–A3r: »Du hast dir vorgenommen/ | Wo Gott dich leben lässt/ | So soltu/ sprach ich: kommen | Auff Platen Hochzeit-Fest. | Jch sah’ auch Lvst vnd Leben | Vnd Schertz schon vmb mich stehn/ | Die wolten mich vmbgeben | Vnd sämptlich mit mir gehn. | | [Bl. A3r:] Nichts solte mich bewegen | Von diesem Sinn’. Ach nein! | Jch werde kaum zu gegen | Durch wenig Reime seyn/ | Der Mensch kan jhm [!] erzwingen | Jn Sachen einen Schluß/ | Gott ist/ der allen dingen | Den fortgang geben muß. | | Jch sprach zu meinen Reimen: | Geht/ Kinder/ jhr für mich/ | Kein wetter wird euch säumen/ | Des Weges Last kan sich | Euch nicht entgegen stellen/ | Jhr traget freyen Sinn/ | Vnd geht durch Wind vnd wellen | Ohn allen Schaden hin.« – Zur Versendung eines Gedichts anstelle persönlicher Anwesenheit vgl. auch Anm. 2. Ebd., Bl. A3r. Ebd., Bl. A3r–A3v: »Jhr werdet frölich sehen | Die Zucht der schönen Braut/ | Der zwischen Lust vnd flehen | Für jhrem Liebsten grawt/ | Er träget kein Erbarmen/ | Vnd nimt bey finstrer Nacht | Durch wilden Raub der Armen | Der Jugend besten Pracht. | | [Bl. A3v:] Cupido wird euch kennen/ | Weil jhr mich angehört/ | Mich mehr als einmal nennen | Als den er offt Bethört/ | Euch seiner Mutter zeigen/ | Die mich imgleichen zwang/ | Das ich auff meiner Geigen/ | Manch schönes Lied jhr sang. | | Jhr werdet ferner schawen | An ewres Herren stat | Den Kern der Jung vnd Frawen/ | Die jetztund Elbing hat: | Hie wird man Täntze halten/ | Dort sehn den Edlen Wein/ | Jn aller Köpffen walten | Vnd wenig nüchtern seyn.« Dach: »VEnuß/ bist du nicht vergnüget/« (wie Anm. 26), Bl. A3v–A4v. Dach: »AVff Dreyen Hochzeit-Schreiben«. (wie Anm. 43), Bl. A4r: »Jch trinck auff langes Leben | Des Bräutgams vnd der Braut/ | Gott wolt’ auch jhnen geben | Worauff dir Heyraht

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mals eine andere Wendung durch die erneute Ansprache der Elbinger literarischen Bekannten. Da Dach nun – wie er in beiden Fällen schon bedauert hat – nicht selbst erscheinen könne, gibt das Dachsche Sprecher-Ich den ihn vertretenden Versen Anweisung, was sie diesen beiden Personen gegenüber zu erwarten hätten: Kömt Herr Zameel indessen Euch etwa zu Gesicht (Er ist/ was mich besessen/ Er/ meiner Künste Liecht/ Ein Außbund der Gelartten) Bezeüget jhr jhm frey/ Wie ich Jhm auff zu wartten So sehr bemühet sey Herr Reimann wird euch lieben/ Euch heben vber Gold/ Der zweymahl mir geschrieben/ Daß ich doch kommen wolt? Jch aber wil begehen Auch hie den Hochzeit-Tag/ Nach Lust vnd Frewde stehen/ 51 So viel ich kan vnd mag.

Hier unterscheidet Dach nun deutlich hierarchisch: Während die Verszeilen Zamehl seiner Zuneigung versichern sollen, geht er selbstverständlich davon aus, daß Reimann eben diese Zeilen lieben werde. Zamehl qualifiziert sich durch seine außerordentliche Gelehrtheit und wird von Dach als leuchtendes dichterisches Vorbild – »Er/ meiner Künste Liecht« – installiert. Damit beschreibt er Zamehl nicht nur als den eine freundschaftliche Verpflichtung ausübenden Verfasser von Gelegenheitsgedichten ohne tiefergehenden künstlerischen Anspruch, sondern erkennt ihn explizit als Dichter an. Reimann dagegen tritt nicht als literarisch gleichrangig auf. Er wird als Liebhaber der Dichtung und damit als erfahrener Rezipient gewürdigt, der poetische Qualität erkennen und ihren Wert nach (»vber Gold«) schätzen kann. Obwohl auch Reimann – zum Beispiel im Falle von Dachs Hochzeit – an der Gelegenheitsdichtungspraxis teilnimmt, gilt das Lob, das Dach Reimann zu Teil werden läßt, seinem Einschätzungsvermögen als nicht selbst produktiver Rezipient und Kunstkenner, nicht jedoch seinen Fertigkeiten als Gelegenheitspoet. Wie exponiert dieser Dichter-Diskurs in der Dachschen Hochzeitsschrift erscheint, zeigen die im Gedichttext genannten Namen. Da Dach im ersten Beitrag in der dritten Person von sich spricht, erscheint dreimal der Name Dach. Ebenfalls dreimal genannt wird Zamehl – einmal im ersten, zweimal im zweiten Beitrag. Der Brautvater Reimann wird namentlich zweimal – einmal in jedem _______

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schawt. | Die Geige leg’ ich nieder | Nicht weit mir von der Handt/ | Die mich macht hin vnd wieder | Mehr/ als sie sol/ bekant. | | Der Braut sagt aller massen/ | Sie soll Jhr das Beschwer | Den Muth nicht nehmen lassen/ | Hie geht es so daher: | Jn Liebe wird erkohren | Durch Streit des Friedens Sinn/ | Was hie stirbt/ wird geboren/ | Verlust ist hie Gewinn.« Ebd., Bl. A3v–A4r.

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Gedicht – erwähnt. Dagegen fällt wörtlich der Name des Bräutigams und Adressaten nur einmal als Attribut zum Anlaß, dem Hochzeitsfest. Die Braut wird wie häufig überhaupt nicht namentlich erwähnt. 52 Damit kommt es zu einer für den Anlaß ungewöhnlichen Betonungsverschiebung auf den nicht mit der Hochzeit verbundenen impliziten Adressaten Friedrich Zamehl, die um so mehr auffällt, da zu den Umständen von Anlaß, Ort und Personen jenseits des poetologisch verwertbaren Amor-Venus-Themas nur das Konventionellste gesagt wird (Tugend der Braut, Hochzeit feiernde Gäste). Mit Zamehl und in zweiter Linie mit Reimann steht Dach in einem ›literarisch‹ zu nennenden Kontakt, den er deutlich auf Kosten des Adressatenpaares hervorhebt. Die implizite Adressierung des Gedichts an Friedrich Zamehl ist außerdem ein geschickter Schachzug, den so Angeredeten über das literarische Medium persönlich zu erreichen. Dach kann davon ausgehen, daß seine Zeilen gedruckt werden und – so verewigt – in die Hände des anscheinend eingeladenen Zamehl gelangen. 53 Tatsächlich wird der Druck also nicht nur den anlaßstiftenden Adressaten überreicht, sondern auch denjenigen, die mit Dach als Mitglieder der res publica litteraria in unterschiedlicher Wertschätzung in Kontakt stehen – dem Widmungsadressaten Christoph Reimann und dem implizit intendierten Adressaten Friedrich Zamehl. Ein von Dach direkt an Zamehl adressiertes Gelegenheitscarmen umfaßt das Textkorpus nicht. Erhalten ist nur ein Gratulationsgedicht anläßlich der Dichterkrönung des Elbinger Seniors und Pastor primarius Balthasar Voidius durch den Pfalzgrafen Willich von Westhoven in Königsberg. 54 Obwohl Dach Voidius sowohl für seine gelehrte Kunstfertigkeit beim Dichten als auch seine Bescheidenheit lobt, nimmt er hier jedoch die Position einer bewertenden Instanz ein, die bestimmt, daß die Dichterkrönung gerechtfertigt war und Voidius nicht zu bescheiden sein und die gebührenden Ehren zurückweisen dürfe. Anders als in den Elogen auf Zamehl, in denen Dach immer eine vergleichende Relation zwischen sich und dem Elbinger Poeten aufbaut, wahrt er hier professionelle Distanz. _______ 52

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Es muß betont werden, daß diese Aufzählung nur explizit genannte und v.a. im deutschen Beitrag auch im Druckbild hervorgehobene Namen berücksichtigt. Plato wird zu Anfang des deutschen Gedichts als »Schwäger« angesprochen, die Braut ebenfalls in Bezug auf ihre Tugend erwähnt. Dach hat seine Verse offensichtlich in handschriftlicher Version nach Elbing geschickt, wo die Adressaten der Schriften die Gedichte in den Druck gegeben und wohl auch finanziert haben. Am Anlaßort (Königsberg) gedruckt ist außerdem die Hochzeitsschrift der Elbinger auf Dach (s.u. Anm. 56), während die Sammelschrift der Königsberger Freunde auf die Hochzeit des Gymnasialrektors Cramer (wie Anm. 24) im Wohnort der Verfasser die Druckerei verließ und offensichtlich dort finanziert und im fertigen Zustand nach Elbing gesandt wurde. PAN: Cf 9973 8° adl. 2 a: Laurea M. BALTHASARIS VOIDII. Typis haeredum WENDELINI BODENHAUSEN Anno M. DC. XLIV, hier an fünfter Stelle auf Bl. C1v der Beitrag von »Simon Dachius Poes. P.P. | in Acad. Regiomont.«: [Inc.:] »CUm versûs facili dares Camaenâ«. Ein Abdruck des Gedichts ist außerdem zu finden bei Jacobs: Balthasar Voigt (wie Anm. 11), S. 17, eine inhaltliche Paraphrase in Jacobs Artikel in der ADB (wie Anm. 11), S. 202.

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Ein Blick auf die Elbinger Perspektive zeigt, daß sich die in Dachs Versen angelegten Zuschreibungen, die die jeweilige Wertigkeit der Elbinger als Dichter festlegen, in den Drucken der Kasualpoeten aus dem Königlichen Preußen widerspiegeln. Zentrale Quellen zu diesem Thema sind zwei Drucke anläßlich von Dachs Hochzeit mit Regina Pohl im Jahre 1641 – eine Verfasserschrift 55 sowie ein Sammeldruck, in dem die Epithalamien der schon als Adressaten der Dachschen Gedichte erwähnten Elbinger Friedrich Zamehl, Balthasar Voidius und Christoph Reimann sowie des Rektors des Elbinger Gymnasiums, Michael Mylius, vereint sind. 56 Die Initialstellung im Druck hat mit Friedrich Zamehls Carmen zugleich der umfangreichste Beitrag des bekanntesten der Elbinger Gelegenheitsdichter. 57 Inhaltlich knüpft der häufig von Dach Gelobte an die von dem Königsberger so oft auf sich bezogene Diskussion zur Rechtfertigung der (kasualen) Liebesdichtung an und vertritt hier die Position des befreundeten Poeten. Zamehl beginnt mit einem allgemeinen Einstieg zur Wertung von (Gelegenheits-)Literatur: CErtum est Aonii posthac temeraria Regni Stemmata cum fatuis animo dimittere cycnis: Quos nemo patrium melicè feriisse Caystru[m] Novit, & arguto Parcas absolvere cantu. 58 Conscia mansurae praescribam symbola famae. (Es ist beschlossen, von nun an die zufälligen Kränze der Äonischen Herrschaft [i.e. der Herrschaft des Helikons] mitsamt den geschmacklosen Schwänen [scil. Dichtern] aus dem Herzen zu entlassen: Niemand hat bemerkt, daß sie musikalisch auf dem heimischen Caystrus gerudert und mit klangreichem Gesang die Parzen abgelöst haben. Ich will bewußte Kennzeichen eines Ruhms, der bleiben wird, vorschreiben.)

Zamehl setzt sich hier gegen die Sorte von Poeten ab, die er anprangert, die vom Helikon vergebenen Lorbeerkränze zufällig erhalten zu haben, obwohl sie sich _______ 55 56

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S.u. Anm. 67. Bres-UB: 497-353750: MONVMENTA NVPTIIS SIMONIS DACHII REGINAM POHLIAM domum ducentis erecta ab AMICIS & FAUTORIBUS Elbingensibus M D C XLI IV. Kal. Aug. REGIOMONTI PALAEOPOLI. Typis haered. Segebadianorum. Beträger: »Frid. Zamelius.« [Bl. ʌ3r]: [Inc.:] »CErtum est Aonii posthac temeraria Regni« [Bl. ʌ2r], »M. Balth: Voidius.« [Bl. ʌ4r]: [Inc.:] »ET tandem, DACHI, sacros nunc concipis ignes.« [Bl. ʌ3v] sowie »Aliud.«, [Inc.:] »INsedit tecto dudùm jam DACHIVS alto,« [Bl. ʌ3v], »Christoph. Reimannus Pastor Ecclesiae Elbing.« [Bl. ʌ4r]: »Dn: Sponso Affini cariß:«, [Inc.:] »PVlcher olor Veterum tenuit sacra stemmata Vatum,« [Bl. ʌ4r], »in calce literarum suarum Michaël Mylius, Gymnas. Patr. Rector.« [Bl. ʌ4v]: [Inc.:] »CVm Tua jam Sponsus celebrabis gaudia, DACHI,« [Bl. ʌ4v]. Die Initialstellung in der im Druck widergespiegelten städtischen Hierarchie kommt Zamehl nicht nur aufgrund seiner dichterischen Bekanntheit, sondern auch als Ratsmitglied zu. Da die protestantischen Elbinger Kirchen dem Rat unterstellt waren, erscheinen in der städtischen Rangordnung die Vertreter dieser Stadtregierung vor den Geistlichen. Vgl. Rhode: Presbyterologia Elbingensis (wie Anm. 12), S. 272. Friedrich Zamehl: [Inc.:] »CErtum est Aonii posthac temeraria Regni«. In: MONVMENTA NVPTIIS SIMONIS DACHII REGINAM POHLIAM (wie Anm. 56), Bl. ʌ2r.

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nie im heimischen Umfeld 59 ausgezeichnet hätten. Das Bild vom Entlassen der Parzen (»Parcas absolvere«) spielt auf diejenigen dichterischen Fähigkeiten an, die die Kritisierten nicht besitzen, gute Dichter, die im Stande sind, die Aufgaben der Göttinnen zu übernehmen, jedoch auszeichnen. Die Parzen sind in der antiken Literatur beispielsweise als Sängerinnen eines Schicksalsliedes zu ›kasualen‹ Anlässen wie Götterhochzeiten oder Heldengeburten belegt. Zudem läßt sich die Parzen-Formulierung als Chiffre für ein Weiterleben in der Dichtung lesen, da eine Amtsenthebung der Parzen das menschliche Sterben verhindert. 60 Danach vollzieht der gekrönte Dichter den symbolischen Akt der Niederlegung seines Lorbeerkranzes, mit dem er den Makel der gerade genannten Zufälligkeit und vor allem der schwerwiegenden Einschränkung der Freiheit eines Poeten, der nur auf den Gunstbeweis und nicht auf die Literatur schaue, verbindet. 61 Diese Verquickung von Poesie und Lorbeer führt der Verfasser auf einen ›Urheber von Dichtung‹ zurück, der das Dichten erfunden und auch gleichzeitig als Erster den Kranz als äußeres Zeichen des Lohns für sich beansprucht habe: Autorem sequimur. Cultu quid profuit illo, Quo minimae plebis meruêre cavilla Poëtae Mentiti non frunde suâ? Profecimus omnes, Quotquot Acidalio colimus sub federe Musas, Dic mihi, qui parvae superaverit ardua Cyrrhae 62 Absq[ue] deâ, quae Cypron habet? [...] (Wir folgen diesem Urheber. Was nützte er durch jenen Kultus, mit dem die Dichter den Scherz des geringsten Volkes verdient haben, die nicht durch ihr Laub gelogen haben? Wir

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»Caystros« bzw. »Caystrus« heißt ein Fluß in Ionien, auf dem »jetzt, wie zu Homers Zeiten, zahlreiche Scharen von Schwänen sich niederlassen«. Karl Ernst Georges: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1 (A – H). 13. Aufl. Nachdruck der 8. verb. u. verm. Aufl. von Heinrich Georges. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 1972, Sp. 1052 f., hier Sp. 1053. Die Parzen fungierten in der lateinischen Literatur seit Catull als Spinnerinnen der Schicksalsfäden, Sängerinnen eines Schicksalsliedes (carmen) anläßlich von »Götterhochzeiten und Heroengeburten« sowie als Chronistinnen menschlicher Einzelschicksale, die außerdem den Todestag eines Menschen festlegten. Albert Henrichs: Parcae. In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 9 (Or – Poi). Hg. von Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Stuttgart [u.a.]: Metzler 2000, Sp. 327. Zamehl: »CErtum est Aonii posthac temeraria Regni« (wie Anm. 58), Bl. ʌ2r: »Ergò & quae nostram substringunt praemia frontem | Ipse verecundas deponam vertice laurus | AEquior, & castis referam sua germina silvis, | Qui primus potuit de stirpe avellere ramum, | Quo caput ornaret, quamvis invenerit artem | Carminis, in falso neglexit honore pudorem, | Aut titulo aut habitu non pugnaturus amori.« Übersetzung: »Also will ich selbst als ziemlich gleichmütig die ehrwürdigen Lorbeeren vom Haupt ablegen, die unsere Stirn als Gunstbeweise einschränken, und will den unschuldigen Wäldern ihre Sprößlinge zurückerstatten; wer als erster einen Zweig vom Stamm abreißen konnte, mit dem er das Haupt schmücken wollte, hat, obgleich er die Kunst des Gesangs erfunden hat, in falscher Ehre sein Schamgefühl vernachlässigt und wird nicht – entweder mittels Titel oder äußerer Erscheinung – gegen die Liebe ankämpfen.« Ebd., Bl. ʌ2r.

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alle sind vorwärts gekommen, soviel wie nur unter dem Acidalischen Vertrag die Musen verehren; sag mir, wer hat die steilen Anhöhen des kleinen Cyrrha bezwungen und fern von der Göttin, die Cyprus besitzt?)

Der Kult des Äußeren bewirke, so Zamehl, allerdings nur, daß die breite Masse über diejenigen Dichter scherze, die dem Anschein eines guten Poeten, der nur durch eine Häufung von äußerlichen Gunstbeweisen vorgespiegelt werde, nicht entsprächen. Dagegen bemerkt Zamehl, daß ein wahres Bündnis mit den Musen nur möglich sei, wenn die Macht der Venus (»deâ, quae Cypron habet«) daran mitwirke, die – so ist zu ergänzen – im Rahmen der Drei-Stile-Lehre keines Lorbeers würdig ist, ohne die aber das dem Apoll geweihte »Cyrrha« von einem Dichter nicht bezwungen werden könne. 63 Dieses Argument führt der Dichter in den folgenden Zeilen 64 am Beispiel ausführlich aus und kommt aufgrund seiner eigenen Person – er schreibt selbst in seinem Alter noch Verse 65 – und am Beispiel der Hochzeit Dachs mit Regina Pohl zu der conclusio, daß die Liebe einen zentralen Anteil an der Dichtung besitzen müsse: Crede mihi, DACHI, (toties repetamus oportet) 66 A Venere est, nostris si versibus ulla venustas. (Glaube mir, Dach, (es ist nötig, daß wir es so oft wiederholen) von Venus kommt es, wenn irgendeine Feinheit im Reden in unseren Versen ist.)

Zamehl, der von Dach vor allem für seine Verdienste im Bereich des Epischen und Heroischen gelobt wird, versucht hier nicht, Dach von seiner Position zu überzeugen, sondern spiegelt ihm gerade die literarischen Elemente als Vorzüge zurück, die Dach für sich selbst als Verdienst reklamiert – zum einen die Distanzierung von denjenigen Poeten, die sich nicht im heimischen Bereich durch die Verewigung von Personen im Kasualgedicht hervorgetan haben, und zum anderen das Primat der Liebesdichtung. Dabei wird Venus hier noch stärker als in den zitierten Dach-Passagen als alleinige Urheberin der poetischen Eleganz der Reime gezeigt, die es dem Dichter letztendlich ermöglicht, den Musenberg zu erklimmen. Zamehl gibt somit auf gleicher Ebene – poetologisch argumentierend von Dichter zu Dichter – dem Königsberger Kollegen das hohe Lob zurück. Genau wie Dach etabliert sich der Elbinger selbstbewußt als normative Instanz, wertet aber sein dichterisches Gegenüber durch die Hervorhebung der stilistischen Präferenzen des Königsbergers auf. Neben dem Beitrag des prominentesten Elbinger Poeten findet sich auf Dachs Hochzeit eine weitere in Elbing gedruckte Verfasserschrift »von der Hand eines Freundes« (»ab Amicâ Manu«), deren Schreiber sich im Text selbst als _______ 63 64 65 66

»Cirrha« bzw. »Cyrrha« ist die dem Apoll geweihte Hafenstadt von Delphi. Vgl. Georges: Ausführliches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch (wie Anm. 59), Sp. 1176 f. Zamehl: »CErtum est Aonii posthac temeraria Regni« (wie Anm. 58), Bl. ʌ2v. Zamehl war 1590 geboren, im Jahr 1641 also knapp über 50 Jahre alt. Vgl. Neumann: Friedrich Zamehl (wie Anm. 7), S. 150. Zamehl: »CErtum est Aonii posthac temeraria Regni« (wie Anm. 58), Bl. ʌ3r.

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»Mylius« benennt. 67 Damit liegt ein zweites Gedicht des Elbinger Rektors Michael Mylius zu diesem Anlaß vor. Anders als der genannte Sammeldruck, der in Königsberg erschienen ist und somit offensichtlich dort finanziert wurde, 68 erscheint diese Schrift – vermutlich auf Kosten des Verfassers – in Elbing. Beide Umstände verleihen dem Inhalt zusätzlichen Nachdruck. Nach einem kurzen Musenanruf wendet sich Mylius »an den weitberühmten Herrn Bräutigam, den höchst angesehenen Freund« (Ad Clarissimum Dn. Sponsum Amicum Honoratissimum 69 ), dem er die Gedichte der vorliegenden Schrift ans Herz legt. 70 Der Elbinger Rektor betont mit seinen Einleitungszeilen, daß er nicht nur durch die Konvention verpflichtet sei, ein Carmen zu überreichen, sondern daß der angesehene und produktive Poet Simon Dach von ihm ein Gedicht wünsche. Aber sofort im nächsten Vers bittet Mylius den Adressaten um Gnade: Sed Tu da veniam: Phoebei luminis ignes Laeserunt vultus, & via dura pedes. Hinc Mihi, quod doleo, labens procumbit humi pes, 71 Horridaq[ue] ad leges verba coacta vides. (Aber sei du gnädig: die Flammen des Phoebischen Lichts haben mir das Gesicht versehrt und der harte Weg die Füße. Von daher wankt mir, was mich schmerzt, der [Vers-]fuß und fällt nieder zu Boden, und du siehst schreckliche Worte nach den Regeln genötigt.)

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BUT: Pol.7.II.6398 (Provenienz: StB Königsberg): VIRO Clarißimo & Excellentißimo DN. M. SIMONI DACHIO In Almâ Regiomontanâ P.P. ac Philosophicae Facult. p.t. Decano Spectabili: Cum REGINA POHLIA Virgine Lectißimâ Nuptiarum Solemnia 29. Iul. celebraturo, Honoris ergo haec Sacra sunt ab Amicâ Manu. [Kolophon:] TYPIS ELBINGANIS M.DC.XLI. Da die Hochzeitsschrift in Elbing gedruckt wurde, ist davon auszugehen, daß es sich bei dem im Gedicht genannten »Mylius« um den Elbinger Gymnasialrektor handelt und nicht um den Königsberger Georg Mylius, der auch in Heinrich Alberts Arien vertreten ist und bereits 1640 verstarb. Vgl. die biographische Kurznotiz von Alfred Kelletat: Biographien. In: KELLETAT, S. 295–304, hier S. 300 sowie z.B. Heinrich Albert: ARIEN Ander Theil/ Darinnen die jenige Weltliche Lieder/ so in seinen 6. unterschiedenen Theilen vorhin in Folio gedruckt; Jetzund aber zu besserem Nuz [!] und Brauch sambt dem Basso Continuo in solche kleinere Form zum Druck befödert. [!] von Ambrosio Profe. Zum Brieg/ druckts und verlegts Christoff Tschorn. Anno 1657, hier: »DAmon war mit brunst beeilet« (»Aria 48. H.A.«, S. 166–171, hier S. 171 mit der Unterschrift: »Georg Mylius.«). Michael Mylius ist außerdem Beiträger in der schon erwähnten Hochzeitsschrift der Elbinger Freunde und Gönner (wie Anm. 56). MONVMENTA NVPTIIS SIMONIS DACHII REGINAM POHLIAM (wie Anm. 56), Bl. ʌ1r: »ab AMICIS & FAUTORIBUS Elbingensibus«. [Michael] Mylius: VIRO Clarißimo & Excellentißimo DN. M. SIMONI DACHIO (wie Anm. 67), Bl. ʌ1v. [Michael] Mylius: »Ad Clarissimum Dn. Sponsum Amicum Honoratissimum.«, [Inc.:] »QUae petis, almorum Dachi flos candide Vatum,« In: [ders.]: VIRO Clarißimo & Excellentißimo DN. M. SIMONI DACHIO (wie Anm. 67), Bl. ʌ1v: »QUae petis, almorum Dachi flos candide Vatum, | Dat Thalamo Mylius carmina pauca Tuo.« Übersetzung: »Wenige Gedichte, die du erbittest, oh Dach, strahlende Zierde der fruchtspendenden Dichter, überreicht zu deiner Hochzeit Mylius.« Ebd., Bl. ʌ1v.

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Auf dem harten Weg zum Dichtertum und getroffen von der versehrenden Helligkeit, die der Dichtergott Phoebus Apoll bzw. im übertragenen Sinne der bewunderte Poet Dach ausstrahlt, beginnt der Sprecher Mylius zu wanken. Dem Bild des strauchelnden Fußes wird durch die im zweiten Teilsatz genannte Konsequenz des Wankens – nämlich die gemäß der Dichtungsregeln zusammengezwungenen »schrecklichen Worte« – eine poetologische Ebene unterlegt. Obwohl der Verfasser gerade hier vorführt, daß er in der Lage ist, mit dem Bild der versehrten Füße und dem der holpernden Versfüße zu spielen, wertet er jedoch sein Gedicht offensiv als ein nach vorgegebenen Regeln handwerklich zusammengesetztes Machwerk und betont damit seine mindere poetische Qualität. Nach diesen angemessenen topischen Bescheidenheitsfloskeln widmet er sich ausgiebig der captatio benevolentiae. 72 Mit einer Bitte, Dach möge seine kärglichen Gedichte trotz allem lesen, geht Mylius schließlich zur poetischen Rechtfertigung seines Tuns über: Est equidem, fateor, Sylvarum gratia major: 73 Sed tamen & multos arbuta parva juvant. (Es ist freilich, gestehe ich, an den Wäldern größerer Gefallen zu finden, und dennoch ergötzen auch die kleinen Baumpflanzungen viele.)

Mit diesem Bild greift der Verfasser auf die gleiche wortspielerische Taktik zurück wie schon oben: Die silvae lassen sich unschwer als ein größeres literarisches Sammelwerk, als »poetische Wälder« lesen. Die kleinen Baumpflanzungen (»arbuta parva«) werden demgegenüber mit den auch von Mylius überreichten einzelnen Gelegenheitsgedichten gleichgesetzt. Dieses die Rezeption menschlicher Leser betreffende Bild überhöht der Rektor schließlich durch das Argument, daß selbst den Göttern ein geringes Opfer gefalle: Nec Superis semper Taurus cadit altus ad aras, 74 Soepe [!] etiam tenuis spica placere solet. (Und nicht immer wird den himmlischen Göttern auf den Altären ein majestätischer Stier geopfert, oft pflegt auch eine zarte Kornähre zu gefallen.)

Es folgen gleich drei dieser »Kornähren«, typische Hochzeitsgedichte, in denen ein ausführlicher Kinderwunsch (im »Votum Connubiale« 75 ) und zweideutige Anspielungen auf der Basis von Liebeskriegsmetaphorik (im »Votum Paradoxon« 76 ) den größten Raum einnehmen. _______ 72

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Ebd., Bl. ʌ1v: »Non Mihi Te durum promittit cognita Virtus, | Nam Mentem mites erudiêre [!] Deae. | Mitis es, ac animo nil gestas fellis amari, | Nec Tua ventosus pectora fastus habet.« Übersetzung: »Deine bekannte Tugend verheißt mir, daß du nicht streng bist, denn gütige Göttinnen bildeten deinen Geist aus. Du bist sanft, und du trägst keinerlei bittere Gehässigkeit im Herzen, und eitler Dünkel wohnt nicht in deiner Brust.« Ebd., Bl. ʌ1v. Ebd., Bl. ʌ2r. [Michael] Mylius: VIRO Clarißimo & Excellentißimo DN. M. SIMONI DACHIO (wie Anm. 67), Bl. ʌ2r–ʌ2v. Ebd., Bl. ʌ2v.

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Insgesamt stehen im Verhältnis geringe 36 Gedichtzeilen zur standardisierten Hochzeitsthematik ausführlichen 28 Zeilen poetischer Reflexion und Beziehungsdiskussion gegenüber, auf die Mylius mit seiner »Peroratio« nochmals zurückkommt: Peroratio. SEd jam consvetum Studii redeamus in orbem, Circumstant humeros nunc graviora Meos. Restat, ut haud multo properatum tempore carmen, 77 Cum veniâ multâ, Candide Sponse, legas. (Aber nunmehr wollen wir in die vertraute Welt der Wissenschaft zurückkehren, bedeutendere [Studien] umlagern nun meine Schultern. Es bleibt, daß du, herausragender Bräutigam, dieses in Eile geschriebene Gedicht mit großer Nachsicht liest.)

Die »Peroratio« betont noch einmal den Grundtenor: Mylius inszeniert sich als ein dem gelehrten Leben zugehöriger Gelegenheitspoet, der in der Dichtung nur handwerklich dilettiert. Dies wird zwar in Form dieser Kasualgedichte als durchaus wertvoll kategorisiert, aber als übergeordnete, richtende Instanz wird mehrfach der Adressat und Dichter Simon Dach angerufen. Die Beziehung zwischen dem Elbinger Rektor und dem Königsberger Professor der Poesie wird also als eine in der Kommunikationsform der Kasualdichtungspraxis gleichwertige inszeniert – Dach wünscht und Mylius übergibt etwas Angemessenes. Auf der poetischen Ebene erscheint der Adressat und Dichter Dach jedoch als die deutlich höherrangige Figur. Ein Blick in einige Kasualschriften jenseits des direkten Kontakts zwischen Simon Dach und den Elbingern bestätigt das beschriebene Verhältnis zwischen dem Königsberger und den Poeten aus dem Königlichen Preußen: Die Außenwirkung beschränkt sich auf die dichterischen Zentralfiguren Simon Dach und Friedrich Zamehl d. Ä. Neben vielen in den Biographien des letzteren erwähnten bekannten Gelehrten wie Johann Peter Titz oder Johannes Mochinger 78 betont auch Christoph Kaldenbach in seinem Epicedium auf Zamehl 79 den Rang des heute nahezu unbekannten Elbinger Dichters: Jaces; nec orba te valentibus nostri Plebs principem votis chori remolimur, Sacerque Voidius, nova nitens lauru, Tuique solers praeco Dachius plectri, Et aestimator verus; & sui Phoenix

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[Michael] Mylius: »Peroratio.« [Inc.:] »SEd jam consvetum Studii redeamus in orbem«. In: VIRO Clarißimo & Excellentißimo DN. M. SIMONI DACHIO (wie Anm. 67), Bl. ʌ2v. Ferdinand Neumann z.B. erwähnt lobende Äußerungen von Johann Peter Titz, Axel Oxenstierna, Johannes Mochinger und dem »italienische[n] Dichter Heinrich Rocca aus Ferrara«. Neumann: Friedrich Zamehl (wie Anm. 7), S. 149 (Titz), S. 152 (Oxenstierna), S. 155 (Mochinger, Rocca). PAN: Qb 10068 8° adl. 18f: Tumulo FRIDERICI ZAMELII, Elbingensium Senatoris, ac Poetae Clarissimi, scripsit Christophorus Caldenbachius. REGIOMONTI, Typis JOHANNIS REVSNERI Anno 1647; [Inc.:] »NOn ergo lentum febre languida Soli« [Bl. ʌ1v].

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Opitij renatus igne, transscripto Moestum usque, Titius, Vistulam levans cantu; 80 [...] (Da liegst du; und nicht wir, die verwaiste Menge, holen dich als den Führer unseres Chors mit wirksamen Wünschen zurück, und nicht der ehrwürdige Voidius, der durch neuen Lorbeer glänzt, und nicht Dach, der kunstfertige Herold deiner Laute und wahrer Würdiger; und nicht Titz, der aus dem Feuer wiedergeborene Phoenix seines Opitz, der fortwährend die traurige Weichsel aufrichtet, nachdem der Gesang [auf ihn] übertragen worden war.)

Zamehl wird hier als Dichter durch eine fiktive Versammlung von Trauernden gewürdigt, in der neben dem Elbinger Dichterkollegen Voidius mit Dach und dem ›Opitz-Nachfolger‹ Titz illustre Poeten den Verlust beklagen. Bemerkenswerter Weise wird Simon Dach sogar explizit als ›kunstfertiger Lobredner‹ der Zamehlschen Dichtung vorgestellt. Auch den Zeitgenossen war also Dachs ausgesprochene Vorliebe und Wertschätzung für den Elbinger bekannt. Die Ausstrahlung, die Dach als literarisches Vorbild für Elbing hatte, zeigt sich in einem 1658 von Samuel Land abgefaßten Hochzeitsgedicht auf den Elbinger Drucker Achatius Corell mit Anna, verwitwete Preuss, geborene Grashoff. 81 Samuel Land, gebürtig in der Elbinger Neustadt, studierte zu dieser Zeit nach dem Besuch des Elbinger und Thorner am Danziger akademischen Gymnasium. 82 Auch Land verstärkt die Aussage, daß die Liebe – hier natürlich zwischen dem Hochzeitspaar – eine zwingende Macht sei, mit einer literarisch-theoretischen Reflexion. Wieder vor dem Hintergrund der drei genera dicendi wird betont, daß selbst die wichtigen, ›hochwertigen‹ Dichter wie Vergil, Catull, Tibull und Properz die Liebesdichtung nicht gemieden hätten. 83 Nach dieser antiken Fundierung überträgt Land das Exempel auf die deutsche Dichtung: In einer Reihe mit dem selbstverständlich zuerst genannten deutschen Vergil Martin _______ 80 81

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Ebd., Bl. ʌ2r. BUT: Pol.7.II.1958: CUPIDINIS Triumphs=Bogen. Auff den Hochzeitlichen Freuden=Tag Des […] Hn: Achatz Corellen/ Vornehmen Bürgers Bräutigams/ Mit Der […] Fr: Anna Graszhoffin/ Des Weyland Ehrenvesten […] Hn: MARTJN PREVSSEN/ […] Bürgern und Mältzenbräuern in Elbing nachgelassenen Ehelichen Fr: Wittiben Braut. Billig und Willig Den Preussischen Preiß=Corallen zu Ehren auffgespannet von Samuel Land/ D. H. S. G. ȋȡȠȞȠįȓ[ıIJ]ȚȤȠȞ Annum Festivitatus Nuptialis referens PreVssIa CoreLLI nVnC VXor FILIa FratrIs VXor CoreLLI LVnaqVe Mater erIt. [s.l.: s.p.] (1658); [Inc.:] »WAs das Poëten=Volck von Venus hat gesungen« [Bl. ʌ1v]. Vgl. Die Matrikel des Gymnasiums zu Elbing (1598 – 1786). Hg. von Hugo Abs. Unveränderter Nachdruck der Ausg. Danzig: Danziger Verlags-Gesellschaft 1936–1944 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens, 19). Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1982 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 49), S. 115 und S. 122. Samuel Land: CUPIDINIS Triumphs=Bogen. (wie Anm. 81), Bl. ʌ2r: »Denn nicht allein hievon der grosse Maro singet: | Daß auch insonderheit stets dieser Liebes=pein/ | Der höh sie Geist und Sinn muß unterworffen seyn/ | Der im Poeten=Volck mit Lieb=Gedichten ringet. | Catullus auch darzu/ Tibullus hat imgleichen/ | Wie auch Propertius vor dieser Liebes=Macht/ | Die bald nach jhrer Lust Betrübniß hat gebracht/ | Durch jhren hohen Sinn und Geist nicht können weichen.«

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Opitz nennt er Paul Fleming, Johann Rist, Johann Peter Titz, und – noch vor Christoph Kaldenbach – Simon Dach. Die Aufzählung der Dichtergrößen dient in diesem Falle dazu, die literarischen Qualitäten des in der Stadt äußerst produktiven und beliebten die Elbinger Gelegenheitsdichters Achatius von Domsdorff 84 hervorzuheben: Auch unser Maro selbst der Deutschen Pierinnen Mein Opitz/ Flemming/ Rist/ und andere noch mehr Die uns in allem sonst gegeben gute Lehr Han dieser Venus=Macht sich nicht entreissen können. Vnd wenn gleich allezeit das tieff=gegründte Sinnen Vnd lieblich Redens=Art/ die Peter Titz und Dach/ Vnd der zu Tübingen berühmter [!] Kaldenbach/ Auch unser Domsdorff hat/ der Deutschen Castalinnen Jn unser Drausen=Stadt gar weitberühmter Sänger 85 Vnd nähst dem Opitz folgt; [...]

Der Königsberger Dach ist hier – wie auch der inzwischen schon in Tübingen lehrende Kaldenbach – Teil einer illustren Reihe vorbildhafter Dichter. Er erscheint damit als kanonisierte Größe. Daß dies nicht nur theoretisch der Fall ist, belegt eine Leichenpredigt (Statua pie Defunctorum. Das ist: Christliche Ehren=Seule) auf den Tod von Erich Oxenstierna 1657, 86 in der der Elbinger Pastor David Kluge ein Dachsches Leichengedicht (»M. Simon Dach. in cant. funebr.«) als Essenz seiner allgemeinen Aussagen zum Thema Tod zitiert. 87 Dachs Werk ist also im Bewußtsein _______ 84 85

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Zu Domsdorff vgl. Anm. 13. Samuel Land: CUPIDINIS Triumphs=Bogen. (wie Anm. 81), Bl. ʌ2v. Es folgt der auf Land gemünzte Bescheidenheitstopos, der diesen berühmten Vorbildern nicht genügen kann: »[...] Von erster Jugend auff/ | Vnd in nachfolgendem des gantzen Lebens Lauff | Der Himmels=Erden=HErr/ und aller Ding’ Anfänger | Mir hätte eingepflantzt: So würde mir doch nimmer | So/ wie es sich gebührt/ zu reden müglich seyn/ | Noch daß ich würdiglich beschriebe diese Pein/ | Die so wol Mann regier’t/ als auch das Frauenzimmer.« [Ebd.]. PAN: Qb 10068 8° adl. 20: Statua pie Defunctorum. Das ist: Christliche Ehren=Seule/ Aus dem Proph. Esa. 57. v. I,2. Der Gerechte kommet umb/ und niemand ist/ der es zu Hertzen nehme/ &c. Bey hochansehnlicher Trauerbegängnüß und Leich=Abführung Des Weyland/ Erläuchten Hoch und Wolgebohrnen Graffens und Herrens/ Herrn Erich Oxenstirns Axels Sohn/ Graffen zu Südermöre/ Freyherren zu Kymitho/ Erbherren auff Tyddöö/ Wybi und Juhlstadt &c. Jhrer Königl. Mayt. und Dero Reich Schweden Raht und Cantzlern/ Praesidenten des Königlichen Commercien Collegij, General Gouverneurn in Preussen/ auch OberLandpflegern über Wester Nordland/ Lapmarcken/ Jempterland und Herredahlen/ &c. &c. Welcher den 23. Octob. St. vet. des 1656. Jahres zu Frauenburg selig im HErren entschlaffen und den 27. Maji St. vet. des 1657. Jahres aus der Pfarrkirchen zu Elbing nach geschehener Leich=Sermon abgeführet worden. Auffgerichtet und auff begehren zum Druck übergeben von M [!] Davide Klug/ Templi Parochial. Elbing. Pastore & Inspectore, totius Palatinatus Marioburg. [!] Superintendente & Reg. Consistorij Praesid. Gedruckt zu Elbing/ bey Achatz Corellen. Dublette zu BE: Pol.7.II.594. Der vollständige zitierte Textausschnitt lautet bei David Kluge: Statua pie Defunctorum (wie Anm. 86), S. 36: »Nimb mich weg Gott für den Jammer/ | Vnd für meiner Feinde List/ | Laß mich gehn in meine Kammer/ | Biß dein Zorn fürüber ist/ | Schleuß die Thür auch nach mir zu | Daß ich in der lieben Erden | Haben möge meine Ruh | Biß ich aufferweckt sol werden.«

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Fridrun Freise

Kluges eine adäquate Quelle, die sich neben Bibelzitaten, wenigen religiösen Traktat- und Predigtauszügen sowie einem eigenen Leichencarmen als gleichwertige Belegstelle eignet. Während ein Großteil der Drucke vor allem im dichterischen Medium soziale Beziehungen dokumentiert, hebt sich eine kleine Spitzengruppe von bekannten Verfassern heraus, die auch tatsächlich an einem poetischen Diskurs partizipiert. Auf dem Niveau anerkannter Dichter begegnen sich allerdings nur Simon Dach und Friedrich Zamehl, wobei ersterer seine künstlerische Wertschätzung auch eindeutig auf den zweiten fokussiert. Trotz der wiederholten Lobeshymnen macht Dach jedoch selbst im Bescheidenheitsgestus seine eigene literarische Positionierung selbstbewußt und selbstverständlich deutlich. Er akzeptiert Zamehls literarische Verortung, während dieser dem Königsberger eine Abhandlung zu dessen selbstgewählter Nische der Liebesdichtung widmet. Diese wechselseitigen Zuschreibungen zeigen eine Praxis schreibender Selbstvergewisserung und gegenseitiger Bestätigung als Dichter eines gehobenen Niveaus. Schon Balthasar Voidius gegenüber etabliert sich Dach als Dichtungsautorität, als die ihn auch die übrigen Elbinger Poeten ansehen, die sich bewußt im wissenschaftlich-gelehrten Milieu situieren. Ganz deutlich zeigt sich dieses Gefälle in dem Hochzeitsgedicht des Elbinger Rektors Mylius. Wie die beiden zuletzt angeführten Texte – Lands Hochzeitsgedicht und die Leichenpredigt auf Oxenstierna – belegen, bleibt die Hochschätzung Simon Dachs als dichterische Autorität nicht nur auf den inneren Zirkel poetisch interessierter und versierter Gelehrtenfreundschaft beschränkt. Dach fungiert auch für die ›Alltagspoeten‹ als kanonisierte Autorität, die argumentativ eingesetzt werden kann. Simon Dach wird somit sowohl von den reflektierenden als auch von den nur an der sozialen Praxis teilnehmenden Kasualpoeten als Vorbild installiert. Deshalb läßt sich nicht nur von Dachs literarischen Kontakten in die Stadt im Königlichen Preußen sprechen, sondern auch von seinem – als dem Königsberger – Einfluß auf die Gelegenheitsdichtung in der Elbinger kasualliterarischen ›Provinz‹.

Andreas Waczkat

Simon Dachs Liederspiele und die Anfänge der deutschen Oper

Nachdem sich in den Jahren um 1600 in Italien unter dem vermeintlichen Rekurs auf die griechische Tragödie eine neue Art des musikdramatischen Komponierens herausbildete, gilt diese Zeit gemeinhin als die Geburtsstunde der Gattung ›Oper‹. Zunächst vornehmlich in den florentinischen und römischen Akademien diskutiert, stellte diese neue Gattung – über deren genaue Bezeichnung und Bedeutung im 17. Jahrhundert freilich alles andere als Einigkeit herrschte 1 – Librettisten und Komponisten neue Herausforderungen. Diese sind offenbar durchaus erfolgreich bewältigt worden; die neue Gattung fand mit all ihrer Vielgestaltigkeit schnell das Interesse in den deutschsprachigen Ländern nördlich der Alpen. Daß man dort jedoch nicht die Gattung assimilierte, sondern vielmehr einige der Diskurse darüber aufnahm und fortführte, dürfte im wesentlichen drei Gründen geschuldet sein: Zunächst gibt es bei den italienischen Vorbildern kaum verbindliche Gattungsmerkmale, die über die grundsätzliche Verständigung auf ein recitar cantando hinausreichen; eine Assimilation konnte somit höchstens auf dem Weg über einzelne als musterhaft angesehene Beispiele geschehen. Sodann war die politische Landschaft nördlich der Alpen, bedingt durch die konfessionelle Spaltung seit dem 16. Jahrhundert ebenso wie durch die Wirrnisse des Dreißigjährigen Krieges, extrem zersplittert. Ein Interesse an oder gar die aktive Förderung von Dichtkunst und Musik ist in dieser zersplitterten Landschaft keineswegs überall in erfolgversprechendem Maß auszumachen, wobei eine besondere Nähe oder Distanz zur Kultur der Romania weder vom geographischen Ort noch von der Konfession signifikant abhingen. Schließlich waren auch die poetologischen Voraussetzungen in den jeweiligen Nationalsprachen grundverschieden. Während die theoretische Untermauerung der madrigalischen Dichtung in italienischer Sprache der Herausbildung der Oper allenthalben vorangegangen war, 2 eilte sie in deutscher Sprache der Entwicklung nach. Die Suche nach adäquaten deutschsprachigen Texten für eine musikdramatische Übersetzung bewegt Heinrich Schütz bekanntlich bei Günter Grass, am Treffen in Telgte teilzunehmen – womit Grass das glühende Interesse des Dresdner Hofkapellmeisters treffend umschreibt, 3 wenngleich die literarisch bestimmte Konzentration auf Schütz der Polyphonie auch der deutschsprachi_______ 1 2

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Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert. Laaber: Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen, 11), S. 7. Vgl. dazu dies.: Al modo d’Orfeo. Dichtung und Musik im italienischen Sologesang des frühen 17. Jahrhunderts. 2 Teile. Laaber: Laaber 1995 (Analecta Musicologica, 29), hier Teil 1, S. 67 f. u.ö. Günter Grass: Das Treffen in Telgte. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994, S. 69.

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Andreas Waczkat

gen Diskussionsbeiträge um 1647, dem symbolhaft gedeuteten Jahr des fiktiven Treffens, nicht ganz gerecht wird. So zählen zu den entsprechenden Spuren aus der Frühgeschichte des deutschsprachigen Musiktheaters auch die vom Königsberger Domorganisten Heinrich Albert vertonten Dichtungen Simon Dachs: die beiden Liederspiele Cleomedes und Sorbuisa. In den Dach-Ausgaben von Hermann Oesterley und Walther Ziesemer jeweils in die Rubrik »Dramatisches« eingeordnet, 4 handelt es sich hierbei um fünfaktige musikalische Schauspiele, die in der früheren musikwissenschaftlichen Forschung unumwunden als »regelrechte fünfaktige Opern« bezeichnet worden sind. 5 Einer der ersten Apologeten Alberts, der Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, sieht in Alberts Beiträgen dramatische Monodien, wertet die Rolle des Librettisten Dach allerdings herab. Dieser habe es dem Komponisten sehr schwer gemacht, Talent zu zeigen, denn nach Charakterausdruck und Führung der Handlung gehörten beide Dramen – Kretzschmar setzt den Begriff als Zeichen seiner Distanzierung in Anführungsstriche – aufs Kindertheater. 6 Eingedenk der Tatsache, daß von Alberts dramatischen Monodien zu den beiden Dramen keinerlei Zeugnis erhalten ist, mutet diese Einschätzung recht kühn an. Unabhängig davon gebietet jedoch allein schon die Unschärfe des faktisch gar nicht benutzten Gattungsbegriffs ›Oper‹ gerade in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 7 einige Zurückhaltung; und so spricht die jüngere Forschung vorsichtiger von einer Beteiligung Alberts – und Dachs, so wäre zu ergänzen – an der Frühgeschichte des deutschen Musiktheaters. 8 Die strophischen Chöre in beiden Dramen, die recht detaillierten Angaben zur Musik bereits im Text, die unter anderem in Sorbuisa auch die Bezeichnung »Klag= Lied« 9 einschließen, und die ansonsten vielleicht zum gesprochenen Vortrag eingerichteten Dialoge bedeuten allerdings eine Nähe zum ›Liederspiel‹; ein Schauspiel, dessen einziger musikalischer Inhalt in liedhaften Formen besteht, das gesungene Rezitativ aber ausspart. Als Sonderform des musikalischen Dramas ist das Liederspiel zwar vornehmlich mit jüngeren Werken verknüpft, insbesondere den kleinen Einaktern in der Nachfolge Johann Friedrich Reichardts, 10 doch findet der Begriff auch auf die frühen Formen der deutschen Oper im 17. Jahrhundert Anwendung. So wird etwa Georg Philipp Harsdörffers _______ 4 5

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OESTERLEY erwähnt Sorbuisa nur, weil dieses Drama nicht vollständig erhalten ist. Hermann Kretzschmar: Einleitung. In: Heinrich Albert: Arien. Hg. von Eduard Bernoulli. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1903 (Denkmäler deutscher Tonkunst, 12), S. XIV. – Ebenso Helmuth Osthoff: Heinrich Albert. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 17 Bde. Hg. von Friedrich Blume. Kassel: Bärenreiter 1949–1986, hier Bd. 1, Sp. 288–293, hier Sp. 289. Kretzschmar: Einleitung (wie Anm. 5), S. XIV. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 7. Werner Braun: Heinrich Albert. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Hg. von Ludwig Finscher. Sachteil. 10 Bde. Kassel: Bärenreiter 1994–1999. Personenteil. Bde. 1 ff. Kassel: Bärenreiter 1999 ff., Personenteil, Bd. 1, Sp. 339–345, hier Sp. 340. Simon Dach: Das Schawspiel SORBUISA. In: ZIESEMER II, S. 311–318, hier S. 316. Susanne Johns: Liederspiel. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Sachteil, Bd. 5, Sp. 1328–1335, hier Sp. 1328.

Simon Dachs Liederspiele

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geistliches »Waldgedicht« Seelewig, 1644 in seinen Frawen-Zimmer GesprächSpielen als Beispiel des »gesangsweis auf Italianische Art« 11 gesetzten Musiktheaters gedruckt und sogleich vertont von Sigmund Theophil Staden, ebenfalls als Liederspiel, Singspiel oder auch Gesangspiel bezeichnet. 12 Obwohl in der Seelewig der Dialog rezitativisch durchkomponiert ist und dabei gelegentlich sogar jene expressiven kompositorischen Mittel verwendet, wie sie insbesondere Claudio Monteverdi der italienischen Oper erschlossen hat, 13 bleiben doch die Arien in der typischen Form des Strophenlieds – gewiß kein verbindliches Kriterium eines ›Liederspiels‹, doch immerhin eine Möglichkeit, in der Heterogenität der musikdramatischen Kompositionen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine erste Orientierung zu erlauben. Eine Zusammenstellung der benutzten Bezeichnungen umfaßt neben den Begriffen Singspiel oder Operetta häufig auch den Anlaß oder Inhalt anzeigende Untertitel: Freudenspiel, Trauerspiel, Gesungenes Drama, Pastorale, Singendes Hirtengedicht oder – vielleicht deutlichster Hinweis auf die aus der Heterogenität entstandenen Unsicherheiten – Theatral-Poetisch-Musikalisches Werk. 14 Ein grundsätzliches Dilemma bleibt dabei bestehen: Von Seelewig und dem ebenfalls in den Gespräch-Spielen enthaltenen, wiederum von Staden vertonten Der VII Tugenden Planeten, Töne oder Stimmen Aufzug 15 einmal abgesehen, fehlen zu den meisten musikdramatischen Versuchen in deutscher Sprache vor etwa 1680 wesentliche Teile der Musik. Die Frühgeschichte der deutschen Oper damit wie Werner Braun als »Daten ohne Anschauungsmaterial« 16 zu bezeichnen, wird freilich dem aktuellen Quellenstand nicht gerecht. Gertraut Haberkamp weist für 21 deutschsprachige Bühnenwerke mit Musik bis 1677 immerhin sechs zumeist vollständige Partituren, dazu eine erhebliche Zahl separat gedruckter _______ 11

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Georg Philipp Harsdörffer: Das geistliche Waldgedicht oder Freudenspiel genannt Seelewig. Gesangsweise auf italianische Art gesetzet. In: Ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hg. Von Irmgard Böttcher. 8 Teile. Tübingen: Niemeyer 1968–1969 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 13–20), hier Teil 4 (ND der Ausg. Nürnberg: Endter 1644), S. 32–155 und 489–622 (Noten), Zitat am Beginn der Noten S. 489. Vgl. etwa die Literaturhinweise in: Volker Meid: Georg Philipp Harsdörffer. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Personenteil, Bd. 8, Sp. 725 f., hier Sp. 726. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 252–255. Gertraut Haberkamp: Werke mit Musik für die deutschsprachige Bühne des 17. Jahrhunderts. Der aktuelle Quellenstand. In: In Teutschland noch ganz ohnbekandt. MonteverdiRezeption und frühes Musiktheater im deutschsprachigen Raum. Hg. von Markus Engelhardt. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1996 (Perspektiven der Opernforschung, 3), S. 1–28, hier S. 5. Die zuletzt genannte Gattungsbezeichnung gehört zu Georg Weber: Kampf und Sieg oder gantzer Lebens-Lauff eines recht Christlichen Kreutzträgers. In diß Theatral-PöetischMusikalische werk gesetzt. Hamburg: In verlegunge deß Autors 1645. Haberkamp berichtet auch von einer Verwendung des Begriffs ›Oper‹, der jedoch in den von ihr angeführten Werk(unter)titeln nicht nachgewiesen ist. Georg Philipp Harsdörffer: Der VII Tugenden Planeten Töne oder Stimmen. Aufzug. In kunstzierliche Melodien gesetzet von Sigmund Gottlieb Staden. In: Ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 11), hier Teil 5 (ND der Ausg. Nürnberg: Endter 1645), S. 280– 310 und [500]–[537] (Noten). Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden: Akademische Verlags-Gesellschaft; Laaber: Laaber 1981 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 4), S. 91.

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Arien und Chöre der übrigen Werke nach, 17 wenngleich gerade von den besonders interessierenden, sicher mit komponierten Rezitativen an Stelle des gesprochenen Dialogs versehenen Werken – also ›Opern‹ im moderneren Verständnis der Gattung – nur eines greifbar ist: Das Neu erfundene Freuden-Spiel genandt Friedens-Sieg, das Sophie Elisabeth, die hochbegabte Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, 1642 auf den Text von Justus Georg Schottelius komponiert hat. 18 Brauns Wertung der Frühgeschichte der deutschen Oper als »Daten ohne Anschauungsmaterial« wird aber auch den eigenständig überlieferten Texten nicht gerecht, um so mehr, als sich die Erkenntnis immer weiteren Raum verschafft, daß Libretti eine eigenständige literarische Geltung beanspruchen, 19 wenn auch im Hinblick auf ihren besonderen Textcharakter von der Prämisse auszugehen ist, daß sich Musik und Libretto nicht rückstandslos voneinander ablösen lassen, erst recht nicht, wenn – wovon im Fall der frühen Oper allenthalben auszugehen ist – Komponist und Librettist in engem Austausch gearbeitet haben. Doch nicht nur aufgrund der Eigenwertigkeit der Texte wird man im Fall der beiden Liederspiele Dachs nicht von »Daten ohne Anschauungsmaterial« sprechen dürfen. Zwar sind von Sorbuisa nur ein Szenar sowie die strophischen Texte der Chöre und des erwähnten »Klag=Lied[s]« erhalten, im Fall des textlich vollständig überlieferten Cleomedes aber sind sogar zwei der Schlußchöre Alberts bekannt. Albert hat sie – Ausweis der Flexibilität der Gattung – seinen Ariensammlungen beigegeben. Der Schlußchor des zweiten Aktes findet sich im _______ 17

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Haberkamp: Werke mit Musik (wie Anm. 14), S. 18–28. Haberkamp verzeichnet die Quellen für das gesamte 17. Jahrhundert. Das hier gewählte Grenzjahr 1677 korrespondiert mit der Eröffnung der Hamburger Gänsemarktoper als erstem öffentlichen Opernhaus auf deutschsprachigem Boden. Die davon abhängige deutliche Veränderung im Quellenstand ist in Haberkamps Zusammenstellung unmittelbar ersichtlich. Insbesondere die frühen der bei Haberkamp erwähnten Beispiele werden zumindest seitens der musikwissenschaftlichen Forschung allerdings dem Sprechdrama zugerechnet, wobei das wohl zuerst von Paul Hankamer geprägte Schlagwort von der »Veroperung« des Sprechdramas als Tendenz zur Gattungsinterferenz akzeptiert wird. Vgl. Achim Aurnhammer und Dieter Martin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Musikalische Lyrik. 2 Teile. Hg. von Hermann Danuser. Laaber: Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen, 8), Teil 1, S. 334–348, hier S. 345. Dazu Karl Wilhelm Geck: Sophie Elisabeth Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg (1613 – 1676) als Musikerin. Saarbrücken: Saarbrücker Druck und Verlag 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Musikwissenschaft, N.F. 6.), S. 271–309. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Sophie Elisabeth, gebürtige von Mecklenburg-Güstrow, wesentliche Anregungen von ihrer Stiefmutter Elisabeth von Hessen-Kassel, ihrerseits Tochter von Moritz dem Gelehrten, empfangen und in reger fachlicher Korrespondenz mit Heinrich Schütz gestanden hat. Dieter Borchmeyer: Libretto. A. Textform. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Sachteil, Bd. 5, Sp. 1116–1123, hier Sp. 1119. – Die gewachsene Bedeutung ist allein daran schon abzulesen, daß der Umfang des Sachartikels »Libretto« von 24 Spalten in der 1960 erschienenen ersten Auflage der Enzyklopädie auf nunmehr 143 Spalten in der aktuellen Auflage zugenommen hat. – Außerdem: Bernhard Jahn: Das Libretto als literarische Leitgattung am Ende des 17. Jahrhunderts? Zu Zi(e)glers Roman Die asiatische Banise und seinen Opernfassungen. In: Die Oper am Weißenfelser Hof. Hg. von Eleonore Sent. Rudolstadt: Hain 1996 (Weißenfelser Kulturtraditionen, 1), S. 143–169.

Simon Dachs Liederspiele

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vierten Teil der Arien von 1641, der Schlußchor des vierten Aktes im sechsten Teil von 1645. 20 Albert beabsichtigte ausweislich der Widmungsvorrede zum sechsten Teil der Arien auch einen Druck der »Comoedien-Music« Sorbuisa, mußte darauf jedoch verzichten. Sein »Beutel [habe] soviel nicht darstrecken wollen/ selbiges Wercklein drucken zu lassen.« 21 Cleomedes und Sorbuisa – nach der Hauptperson, dem Markgrafen Albrecht, auch Prussiarchus genannt – sind wie alle größeren musikdramatischen Darbietungen im frühen 17. Jahrhundert jeweils für besondere festliche Anlässe entstanden. Cleomedes wurde anläßlich eines Besuchs von König Wáadysáaw IV. im Juni 1635 aufgeführt; als allegorisches Schauspiel verkörpern die Personen verschiedene Mächte der politischen Landkarte des Dreißigjährigen Krieges: Die Nymphen Cleomedes, Venda und Herophile stehen für »Wladislaum IV.«, »Kron Pohlen« und »Kron Schweden«, 22 das Drama verherrlicht in Form eines Hirtenspiels die politischen Erfolge des polnischen Königs. Wáadysáaw war spätestens bei seinem Italien-Aufenthalt 1624/25 durch zwei ihm gewidmete drammi per musica von Marco da Gagliano und Francesco Caccini mit der neuen Gattung bekannt geworden und brachte sie mit nach Warschau, wo von 1635 bis 1648 eine italienische Opernbühne bestand. 23 Dach und Albert könnten somit der Opernbegeisterung des polnischen Königs mit dem dezidierten Versuch eines deutschsprachigen Gattungsbeitrags begegnet sein. Für Sorbuisa hingegen ist ein anderer Rahmen anzunehmen. Das Schauspiel entstand 1644 anläßlich des »feyerlich begangenen Academischen Jubel=Fests […] in der hohen Schuel zu Königsberg«, 24 also des 100. Geburtstags der Albertina. Gegenstand ist hier die Zivilisierung Ostpreußens durch Wissen und Kultur, dramatisch sinnfällig gemacht durch das Heimischwerden Apolls und der Musen als Allegorie der Akademie auf dem Königsberg als einem nördlichen Helikon. 25 Eine – vielleicht nicht überraschende – musikdramatische Parallele dazu findet sich in Gestalt eines Balletts von Heinrich Schütz, in dem der Parnaß samt Apoll und den Musen nach Dresden versetzt wird. 26 Nach einer _______ 20 21 22 23 24 25 26

Albert: Arien (wie Anm. 5), S. 125–129 und S. 186. So Albert in der Widmungsvorrede zum sechsten Teil der Arien; vgl. ebd. S. 174. Simon Dach: CLEOMEDES[,] Der allerwertheste und lobwürdigste trewe Hirt der Crohn Pohlen. In: ZIESEMER II, S. 281–310, hier S. 281. Alina ĩórawska-Wittkowska: Warschau. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Sachteil, Bd. 9, Sp. 1896–1906, hier Sp. 1898. Dach: Das Schawspiel SORBUISA (wie Anm. 9), S. 311. Vgl. dazu auch Ulrich Maché: (sub verbo). In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 2. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1989, S. 505 ff., hier S. 506. Heinrich Schütz: Wunderliche translocation Des Weltberühmbten vnd fürtrefflichen Berges Parnassi/ vnd seiner Neun Göttin/ mit jhren Großfürsten und Præsidenten Apolline/ Welche von den vnsterblichen Göttern/ Ihr Kayser- vnd Königliche Majestät auch Ertzherzogliche Durchleuchtigkeit zuempfangen vnd zu ehren in die Wolverwartete Hauptvestung Dreßden ablegirt worden sein/ Inmassen sie solches selbst nach folgender weiß reseriren. In: Heinrich Schütz: Gesammelte Briefe und Schriften. Hg. von Erich Hermann Müller. Regensburg: Bosse 1931 (ND Hildesheim: Olms 1971), S. 44. Müllers Lesefehler sind nach der in Vorbereitung befindlichen Neuausgabe durch Manfred Fechner, Konstanze Kremtz und den Autor berichtigt.

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gesungenen Einleitung Apolls trägt hier jede der Musen dem Kurfürsten in einer eigenen Strophe ihren jeweiligen Glückwunsch vor, bevor sich Apoll und die Musen in einem Schlußchor zur Herrscherhuldigung vereinen. 27 Die Verankerung der beiden Liederspiele Dachs in den Anfängen der deutschen Oper läßt sich historisch leicht nachvollziehen. Als erstes Zeugnis gilt die 1627 in Torgau aufgeführte »Pastoral-Tragicomœdie« Dafne von Martin Opitz, 28 eine deutsche Bearbeitung der ersten Fassung von Ottavio Rinuccinis Dafne von 1598. Die Musik von Heinrich Schütz ist vollständig verloren, und über ihren tatsächlichen Anteil an dem Werk lassen sich nur Indizien anführen. 29 Sie könnte aber in Königsberg bekannt gewesen sein: Unter den Schütz-Quellen der Gottholdschen Sammlung in der Universitätsbibliothek Königsberg befand sich zumindest ein Textbuch der Daphne. 30 Die Königsberger Schütz-Quellen dürften sehr wahrscheinlich aus Alberts Nachlaß stammen. Albert bestätigt in der Widmungsvorrede zum sechsten Teil seiner Arien, daß sein Vetter, »der hochberühmte Capellmeister Schütze«, viele Kompositionen »von Ihm mir anvertrauet und in die Hände gegeben« habe. 31 Da Albert und Schütz in engem Kontakt standen, ist sehr gut denkbar, daß Schütz seinem verwandten Kollegen auch einige musikalische Proben übermittelt hat. Schütz’ zweiter musikdramatischer Versuch ist das Ballet Von dem Orpheo und der Euryidice, entstanden und aufgeführt 1638 in Dresden anläßlich der Hochzeit des Kurprinzen Johann Georg II. von Sachsen mit Magdalena Sibylla von Brandenburg. Textdichter ist August Buchner. 32 Zusammen mit Opitz’ 1635 veröffentlichtem zweiten Opernlibretto Judith, Bearbeitung von Andrea Salvadoris La Giuditta 33 und (teilweise?) vertont von Matthäus Apelles von Löwenstern, 34 sowie den Beiträgen von Sophie _______ 27

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Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585 – 1672): Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. »Zum Auffnehmen der Music/ auch Vermehrung unserer Nation Ruhm«. Bern [u.a.]: Lang 2004 (Contacts, 63), S. 196 f. Die zumeist angegebene sinnfällige Gattungsbezeichnung »Pastoral-Tragicomœdie« ist in keiner Quelle mehr nachweisbar. Sie wird zusammen mit einem ausführlichen Bericht von der Aufführung gegeben in: Moritz Fürstenau: Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden. 2 Teile. Dresden: Kuntze 1861–1862, S. 98. Fürstenau beruft sich dabei auf ein von ihm nicht genauer benanntes, bislang nicht nachgewiesenes Hofdiarium. Vgl. dazu auch die vorzügliche Darstellung bei Rothmund: Heinrich Schütz (wie Anm. 27), S. 258–264. Rothmund: Heinrich Schütz (wie Anm. 27), S. 260 ff. Joseph Müller: Die musikalischen Schätze der Königlichen- und Universitätsbibliothek zu Königsberg in Preußen. Aus dem Nachlasse Friedrich August Gottholds. Ein Beitrag zur Geschichte der Tonkunst. Bonn: Marcus 1870 (ND Hildesheim [u.a.]: Olms 1971), S. 325. Albert: Widmungsvorrede (wie Anm. 21). Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 246 f. Mit der Musik von Marco da Gagliano 1626 uraufgeführt. Im Druck der von Andreas Tscherning erweiterten Fassung von Opitz’ Judith sind Löwensterns Chöre enthalten: Chore so bey dieser Tragedien sollen inserirt werden/ In drey Stimmen [Tenor I/II und Baß]/ sampt einem Baßo Continuo. Rostock: Wilden 1646. Ob Löwenstern mehr als nur diese Chöre komponiert hat, ist nicht bekannt. Die gelegentlich geäußerte Vermutung einer Bestimmung des Judith-Librettos für die Vertonung durch Schütz ist von Rothmund: Heinrich Schütz (wie Anm. 27), S. 304–307, deutlich in Frage gestellt worden.

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Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg und Harsdörffer/Staden ist damit das bekannt gewordene Repertoire deutschsprachiger musikdramatischer Werke in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits referiert 35 – daß die Zahl gering ist und nach der Jahrhundertmitte recht sprunghaft ansteigt, muß angesichts der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges nicht weiter irritieren. Eine Gemeinsamkeit all dieser Werke liegt darin, daß sie im Rahmen von Sprachgesellschaften entstanden und diskutiert wurden und die deutschsprachige Oper zu einem Gegenstand der protestantischen Länder machten. Allen voran stand hier die Fruchtbringende Gesellschaft, der Opitz und Harsdörffer angehörten, der seinerseits dann für die Verbindung zum Nürnberger Kreis der Pegnitzschäfer steht. Von Opitz ging mit der Daphne nicht nur das erste musterhafte Werk aus, sondern mit dem Buch von der deutschen Poeterey 1624 auch eine Gattungspoetik, die für Dachs Liederspiele maßgeblich wurde. Thomas Bauman sieht in der Daphne einen »Präzedenzfall für andere Literaten, die sich im Rahmen umfassenderer Bemühungen um die Hebung des literarischen Niveaus der deutschen Sprache mit Opernfragen beschäftigten«. 36 Analog gilt das für die theoretische Fundierung im Buch von der deutschen Poeterey, die sich unbeschwert von den Schwierigkeiten einer Gattungsdefinition als Theorie des musikdramatischen Librettos in deutscher Sprache verstehen läßt. So sieht Ulrich Schreiber hier den Beginn einer eigenständigen deutschen Ästhetik der Oper, die sich von den theoretischen Erwägungen italienischer Opernlibrettisten deutlich abhebt, indem Opitz einerseits die dramaturgischen Konsequenzen der Handlung ernst nimmt, andererseits aber nach einem metrischen Regelmaß der Verse strebt, 37 die der beinahe prosahaften Metrik des italienischen Rezitativs entgegensteht. Tatsächlich ist die Biegsamkeit des italienischen Verses eine Bedingung dessen, was in den italienischen Akademien zur Maxime erhoben worden war: die Deklamationsform des recitar cantando, des singenden Sprechens. 38 Elisabeth Rothmund indes hat herausgestellt, daß das Opitzsche Regelmaß in den beiden Libretti sich vornehmlich auf das Metrum bezieht. Im Bezug auf Verstypen und Reimanordnungen weist sie auf eine breite Palette von Möglichkeiten hin; ein entscheidender Unterschied zum italienischen Madrigalvers bleibt aber darin bestehen, daß der im Italienischen mögliche Wechsel des Metrums innerhalb eines Verses bei Opitz nicht vorkommt. 39 Wenn für solche Wechsel des Metrums dramatische wie musikalische Gründe gleichermaßen angenommen _______ 35

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Haberkamp: Werke mit Musik (wie Anm. 14), S. 18 führt noch zwei weitere Werke an – dafür fehlt Opitz’/Schütz’ Daphne –, die aufgrund ihres Charakters als Sprechdrama hier unerwähnt geblieben sind; vgl. Anm. 17. Thomas Bauman: Libretto. B. III. Das deutschsprachige Libretto. 1. 17. und 18. Jahrhundert. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Sachteil, Bd. 5, Sp. 1163– 1168, hier Sp. 1163. Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Kassel: Bärenreiter 1988, S. 144 f. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 7 f. Rothmund: Heinrich Schütz (wie Anm. 27), S. 315–352, bes. S. 338 f. Vgl. auch Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 245 f.

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werden können, müßte man Paul Flemings berühmt gewordenes Diktum, die Musen könnten nun »durch Opitz’ Gunst auch hochdeutsch reden«, 40 mit dem Blick auf die junge Oper daher mit einem einschränkenden ›ja, aber‹ versehen: hochdeutsch ja, aber nicht eigentlich dramatisch im Sinne eines recitar cantando der italienischen Vorbilder. Betrachtet man Dachs Cleomedes mit den zwei erhaltenen Chorsätzen Alberts genauer, wird die große Nähe zu Opitz’ Daphne schnell deutlich. Schon in der äußeren Anlage zeigen sich deutliche Übereinstimmungen: In fünf Akten mit einem Prolog gebaut, endet jeder Akt mit einem strophisch gegliederten Chor. Noch deutlicher wird die Nähe beider Texte anhand der Techniken, durch metrische Flexibilität eine Trennung von ›rezitativischer‹ und ›arioser‹ Sprache zu etablieren. Für Opitz’ Daphne-Libretto hat Silke Leopold dies unlängst ausgeführt; 41 ihre Beobachtungen lassen sich unschwer auch Dachs Cleomedes adaptieren. Demnach läßt ein Text wie Vendas Monolog am Beginn des ersten Aktes, obwohl die metrische Biegsamkeit des italienischen Rezitativs zweifellos nicht vorhanden ist, dennoch dessen Anmutung erahnen: Venda. [»Rezitativ«] ICH ärmste muß nun auch empfinden, Was das sey vor ein Hertzeleid, Wenn Seelen, die sich ewiglich verbinden, O Todt, durch deine Grausamkeit Einander nun gesegnen müssen. Die Thränen, die ich muß vergiessen Sind, ach! umb Nicomedis Todt, Ihr Nymphen, klaget meine Noht, Die gleichet Staal und harten Steinen, Die meinen Fall nicht helffen wil beweinen. In was für Friede bin ich doch Die Zeit her unter ihm gesessen, Die Feinde haben noch Nicht seiner Tapferkeit vergessen, Wie hertzlich kunt’ er vor mich sorgen, Es möchte seyn umb Mitternacht, Und wenn in rohten Morgen Die Sonne wiederumb erwacht, Wie klüglich kunt’ er meine Sachen richten! Mit was geradem Recht Wust er, was streitig war, zu schlichten! Das gantze sterbliche Geschlecht Weiß mir kein einig Bild zu zeigen, An dem die Güt’ und Freundligkeit So, wie an ihm, sich möcht eräugen. Wer wird mich nun (o grosses Hertzeleid) So Väterlich bewahren! Wer wird mich nun in seinem Schutz Zu wieder aller Feinde Trutz

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Schreiber: Opernführer (wie Anm.37), S. 144. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 245 f.

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Simon Dachs Liederspiele Zu nehmen keiner Mühe sparen! Weg, meine Zier! Weg, o du stoltzes prangen! Es finde sich bey mir Die Farbe bleicher Wangen, Mein weinen lasse nimmer nach, 42 Rinn, o du trübe Thränen Bach.

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Das Nebeneinander von drei- bis fünfhebigen Versen, von Kreuz- und Paarreim, von klingender und stumpfer Endung unterliegt einer Ordnung, in der die Verse und der Textinhalt unterschiedlich aufeinander bezogen sind. So könnten die ersten vier Verse aus kreuzgereimten vier- und fünfhebigen Jamben durchaus als Liedstrophe aufgefaßt werden, stünde nicht am Ende der vierten Zeile ein Enjambement, das die relative metrische Geschlossenheit inhaltlich dem folgenden öffnet. Die beiden folgenden, regelmäßig paargereimten vierhebigen Jamben wiederum lassen keinen Eindruck von Geschlossenheit entstehen, da sie inhaltlich eine Art Scharnier darstellen: die fünfte Zeile schließt den in den ersten vier Zeilen begonnenen Satz ab, die sechste Zeile, wiederum über ein Enjambement mit der folgenden verknüpft, eröffnet einen zweiten. Die folgenden Textzeilen bestätigen den Eindruck metrischer Vielfalt, kulminierend in den Zeilen 27 bis 32. Höhepunkt ist – ganz getreu der Textaussage – die Zeile 31, die als einzige zweihebige Zeile des gesamten Monologs ohnehin heraussticht, zusätzlich betont im doppelten Ausruf »Weg« zusammen mit der Zeile 32. Von diesen in metrischer und inhaltlicher Ordnung ambivalenten Versen heben sich die gleichmäßig gebauten ›ariosen‹ Strophentexte deutlich ab. Evident ist das in der Vorrede des Mercurius sowie im Fall der fünf Schlußchöre am Ende eines jeden Aktes, erkennbar sind diese Strophentexte jedoch auch an anderen Stellen, etwa in Vendas »O die güldne Frewden-Sonne«, das unmittelbar vor dem Chor der Hirten am Ende des ersten Aktes steht: Venda. [»Arie«] O die güldne Frewden=Sonne, Die, o Gott, mich jetzt anlacht, Nun ich höre solche Wonne, Bin ich wie vom Tod’ erwacht! Nun erfahr ich in der That, Daß die Götter sich nicht schämen Unsrer Pein sich an=zu=nehmen. Großer Bot, weil dieser Raht Dir an mich ist mit gegeben, Trag’ ich kein Bedencken nicht In des Cleomedis Pflicht Huld und Liebe stets zu leben; Wie Ihr Götter es versehn, 43 Also sol es auch geschehn.

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Dach: CLEOMEDES (wie Anm. 22), S. 283. Ebd., S. 286.

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Durchgehend in vierhebigen Trochäen gehalten und mit regelmäßigem Reim ausgestattet, läßt dieser erste Vers die Artigkeit eines freudigen Lieds anklingen. Eine Gemeinsamkeit mit dem eröffnenden Monolog Vendas liegt darin, daß der Text nicht strophisch gebaut ist, wie es die Vorrede und die Chöre jeweils auszeichnet. Darin hebt sich Dachs Cleomedes letztlich auch von Opitz’ Daphne ab, in der strophische Hymnen allenthalben in den Text eingestreut sind, während Dach die strophischen Texte nahezu ausschließlich der Vorrede und den Chören vorbehält. Nichtstrophische ›ariose‹ Verse ziehen sich durch das gesamte Liederspiel hindurch: Der Auftritt »Ich wohn’ in ungehewren Wüsten« des Satyrs Agathyrsus nach Vendas Monolog etwa – er vertritt »den Moßcowiten« – liest sich auf diese Weise wie eine veritable Auftrittsarie, und am Ende des zweiten Aktes findet sich ein Dialog zwischen Venda und Cleomedes, der entsprechend als ›Liebesduett‹ bezeichnet werden könnte. Für eine konsequente Musikalisierung wären damit die Möglichkeiten deutlich abgesteckt. Inwieweit Albert ihnen gefolgt ist, wie weit er Cleomedes überhaupt vertont hat, muß jedoch offen bleiben, da lediglich die Musik zu den Hirtenchören am Ende des zweiten und vierten Aktes überliefert ist. Diese beiden Chöre zeigen bereits zwei unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit strophischen Texten. Weniger auffällig zeigt sich der Schlußchor des zweiten Aktes, »Alle Güter, die wir haben«, den Albert dem sechsten Teil seiner Arien beigegeben hat. Der überwiegend homophon gehaltene Satz enthält im Druck nur den Text der ersten Strophe; die übrigen sieben Strophen lassen sich der Musik aber ohne Schwierigkeiten unterlegen (vgl. das Notenbeispiel 1). Mutmaßlicherweise wird sich der Hirtenchor im Liederspiel auch hinsichtlich der Besetzung von der Druckfassung unterschieden haben. Im Druck teilt Albert den Satz für zwei Sopranstimmen, die erste etwas höher geführt als die zweite, und einen Basso continuo mit. Die Baßstimme ist aber rhythmisch kaum eigenständig und wäre mit geringen Änderungen als gesungene Baßstimme eines Chorsatzes vorstellbar, ebenso leicht wäre eine Tenorstimme aus dem harmonischen Zusammenhang heraus zu entwerfen, so daß sehr gut denkbar ist, daß es sich bei der gedruckten Fassung des Chors letztlich um eine zweistimmige Einrichtung eines ursprünglich ganz regulär vierstimmigen Satzes handelt (vgl. das Notenbeispiel 2). Zwei Merkmale fallen an dem Satz besonders auf. Zum einen seine relative Kürze: Da Albert auf Melismen oder Textwiederholungen weitestgehend verzichtet, umfaßt der Satz in moderner Zählung lediglich zwölf Takte. 44 Bei achtfacher Wiederholung zu jeder Strophe könnte die Musik damit leicht den Charakter von Einförmigkeit annehmen, wenn Albert nicht mit Wechseln des Metrums gegensteuern würde: Die erste und die dritte Zeile jeder Strophe stehen im dreizeitigen tempus perfectum, die zweite und vierte kontrastieren im zweizeitigen tempus imperfectum. Die fünfte und sechste Zeile schließen sich _______ 44

Die Edition der Arien in den Denkmälern der Tonkunst (wie Anm. 5), S. 186, zählt die Brevistakte und kommt daher nur auf sechs Takte Umfang.

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Notenbeispiele 1 und 2:

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mit einer winzigen Imitation im tempus imperfectum an. Musikalisch sind erste und dritte Zeile ebenso eng verwandt wie zweite und vierte. Das Reimschema ababcc spiegelt sich damit deutlich in der musikalischen Motivik aba’b’c. Eine deutlich ambitioniertere musikalische Gestaltung findet sich in der Vertonung des Schlußchors zum vierten Akt, den Albert wohl in der originalen Fassung im vierten Teil seiner Arien (als Nr. 10) im Druck veröffentlicht hat (Notenbeispiele 3a und 3b): Chor der Hirten. Es bild’ ein Mensch ihm niemals ein, Daß ihn der Frewden güldner Schein Werd immer ungewölckt anlachen: Das Glücke leucht’ ihm noch so klar, So ist doch allerhand Gefahr Von hinten her in stetem wachen. Diß ist des Glückes bester Fundt, Der Tugend wolgelegten Grundt Und Boden bey uns umb=zu=reissen, Wir werden anfangs sehr erfrewt, Dann hebt es an mit Grausamkeit Instendig auff uns zu=zu=schmeissen. Es gönnt so lang’ uns guten Wind, Biß daß wir sicher worden sind Und seines Frevels gantz vergessen: Dann setzt er auff uns ohne Ruh Mit seinem Ungewitter zu, Und meinet uns nur gar zu fressen. Wer dann bey solcher schlawen List Mit Weißheit nicht verwaret ist, Der wird sich auff den Kummer legen, Der ihn am meisten nachmahls stürtzt, Und ihm seine kurtzes Leben kürtzt, Der nie was guttes kan erregen. Wie lang ein Mensch verschonet bleibt, Daß sich kein Unfall an ihn reibt, So wird er doch zuletzt befinden: Wie groß allhie der Wechsel sey, Und wie anmütig, sich dabey 45 Auff Weißheit und auff Tugend gründen.

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Die fünf Verse dieses Chors sind einzeln vertont, es handelt sich trotz des strophischen Textes um einen durchkomponierten Satz. Voran steht eine instrumentale fünfstimmige Symphonia (Zeile 1 des Notenbeispiels), eine kürzere zweite Symphonia steht zwischen dem ersten und zweiten Vers (im Notenbeispiel nicht wiedergegeben). Sie kann »si placet« zwischen den weiteren Versen wiederholt werden. Die einzelnen Verse sind unterschiedlich komponiert und besetzt: Vers 1 für den Cantus (Zeile 2 des Notenbeispiels), Vers 2 für den Te_______ 45

Dach: CLEOMEDES (wie Anm. 22), S. 303.

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Notenbeispiel 3a

nor (Zeile 3), Vers 3 für den Altus, Vers 4 für den Bassus (Zeile 4), jeweils als solistische Stimme. Vers 5 steht am Abschluß als fünfstimmiger Chorsatz (Zeile 5). Die vier solistischen Verse sind mit vergleichsweise großem Tonumfang und auszierenden Melismen technisch nicht anspruchslos; bemerkenswert ist etwa die kleine lautmalerische Koloratur des Soprans am Ende von Zeile 2. Wenn diese Abschnitte auch von vokaler Virtuosität noch denkbar weit entfernt sind, scheint doch sicher, daß hier keine singenden Schauspieler, sondern nur schauspielernde Sänger zum Einsatz gekommen sein können. Das spätere Schawspiel Sorbuisa ist schwieriger zu beurteilen. Der überlieferte Text umfaßt nur das Szenar, den lateinischen Eingangschor, den »Chor des Ersten Acts«, den »Auffzug Apollens und der Musen im dritten Act«, das »Klag=Lied Sorbuisen da sie in Ohnmacht fällt« im vierten Akt und die Schluß chöre aller fünf Akte, im letzten Akt von »Apollo sampt den Musen auff dem

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Notenbeispiel 3b:

dem Preußischen Helicon« vorgetragen. Die zum Teil recht detaillierten Angaben zur musikalischen Gestaltung umfassen Beschreibungen des Eingangschors »Durch eine starcke vollstimmige Music«, des Chors des ersten Aktes, »Wird von dreyen Gratien oder Huldinnen gesungen«, und des Aufzugs Apollos und der Musen, zu dem es heißt, sie »Singen eins umbs ander«. 46 Anhand der von Albert vertonten Texte ist in allen diesen Fällen die ›ariose‹ Textgestaltung Dachs nachvollziehbar. Das betrifft neben den Chören insbesondere das »Klag=Lied Sorbuisen«, das in insgesamt drei Strophen ein Regelmaß vierhebiger Jamben erkennen läßt – auch wenn die dritte Zeile des ersten Verses die Regelhaftigkeit scheinbar stört. Klag=Lied Sorbuisen da sie in Ohnmacht fällt. Im vierdten Act. O Noht, weit über alle Noht, Daß die sich sencket in den Todt, Die kaum an hub recht zu leben, Und erst sich setzt in ihren Standt, Der auch der Himmel selbst ein Pfandt Der höchsten Wolfahrt jetzt gegeben!

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Simon Dach: Das Schawspiel SORBUISA (wie Anm. 9), hier S. 312 f.

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Ihr Götter, liebt ihr wahre Trew, Kompt eilends, springt Sorwisen bey, Schickt Hülffe, daß sie sich erquicke! Vollbringt an ihr, was ewer Rhat So herrlich angefangen hat, 47 Kehrt von ihr alles Leid zurücke!

Die dritten Zeilen der anderen Strophen umfassen im Gegensatz zu jener der ersten Strophe des »Klag=Lied[s]« jeweils neun Silben, hier fehlt am Beginn der dritten Zeile eine Silbe, vielleicht infolge eines Übermittlungsfehlers. Wenn Albert nur zwei Aktschlüsse aus Cleomedes im Druck herausgegeben hat, erlaubt das letztlich ebensowenig sichere Rückschlüsse auf den tatsächlichen Umfang seiner Komposition wie die unvollständige Textüberlieferung von Sorbuisa. In beiden Fällen gilt, daß der Anlaß der Aufführung ebenso die Textüberlieferung geprägt wie das Käuferinteresse die Publikation der Musik bestimmt hat. Ein höfisches Repräsentationsspiel wie Cleomedes hatte es leichter, an die Öffentlichkeit zu kommen, weil die Textpublikation gleichzeitig politisches Dokument war. Ein akademischer Festakt dagegen war an eine andere Art von Öffentlichkeit gerichtet. Mit der Publikation seiner Arien schließlich wandte sich Albert an ein zahlendes Publikum, das – wie es auch die zahlreichen Raubkopien seiner Sammlungen belegen – in dieser Musik ein geeignetes Repertoire für das häusliche Musizieren entdeckt hatte. Rezitative aus einem Schauspiel gehörten nicht dazu, lediglich einige Chöre, deren moralisierende Texte ohnehin schon außerhalb der Schauspielhandlung standen. Auch ohne sichere Hinweise reizt die Frage, wie man sich die Aufführungen der beiden Liederspiele Dachs vorzustellen habe, zu Spekulationen. Der abweichende Überlieferungsbefund hat zu der Vermutung geführt, daß es sich bei Cleomedes wohl um ein durchkomponiertes Liederspiel, bei Sorbuisa dagegen um ein Sprechschauspiel mit Gesangseinlagen gehandelt habe. 48 Diese Vermutung läßt sich allerdings nicht weiter stützen; die Unwägbarkeiten der Textüberlieferung entziehen diesbezüglichen Spekulationen den Boden. Allenfalls die Textmenge wäre noch als Argument heranzuziehen, wobei diese im Fall von Sorbuisa auch nicht sicher bekannt ist. Cleomedes umfaßt 1150 Zeilen und liegt damit bei etwa drei Vierteln des Umfangs eines metastasianischen Opernlibrettos. 49 Als Sprechschauspiel mit Gesangseinlagen dauerte eine Aufführung des Cleomedes wohl kaum länger als eine Stunde; die Textmenge entspricht recht genau derjenigen von Opitz’ Daphne oder Harsdörffers Seelewig. In die Richtung eines Sprechschauspiels weist Dachs Bezeichnung des Schawspiel[s] Sorbuisa. Albert allerdings sprach von der beabsichtigten Drucklegung der »Comoedien-Music« und benutzte damit einen Terminus, der im musikalischen Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts gleichermaßen auf durchkomponierte Opern wie auf die Schauspielmusik zu reinen Sprechdramen verwies; immer_______ 47 48 49

Ebd., S. 317. Braun: Heinrich Albert (wie Anm. 10), Sp. 340. Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 6.

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hin: Alberts prominenter Vetter Schütz benutzte dieses Wort, um damit seine eigenen Versuche einer durchkomponierten vollständigen Oper zu kennzeichnen. In einem Schreiben an den Dresdner Hofbeamten Friedrich Lebzelter definierte er die Oper als »nemblich wie eine Comedi von allerhandt Stimmen in redenden Stylo übersetzet vndt auf den Schaw gebracht vndt und singende agiret«. 50 Der für seine gelegentlichen Fehleinschätzungen – zu schweigen von den ideologisch belasteten Darstellungen – berüchtigte Musikwissenschaftler HansJoachim Moser 51 hat Königsberg in seiner Geschichte der deutschen Musik als »Schützsche Opernfiliale« bezeichnet. 52 Tatsächlich wird sich der fachliche Austausch zwischen Schütz und Albert auch auf Fragen der musikdramatischen Komposition erstreckt haben. Indem wenigstens zwei der Schlußchöre aus Alberts Vertonungen von Dachs Liederspielen erhalten sind, rücken diese damit auf zu erstrangigen Quellen für die Kenntnis um die Anfänge der deutschen Oper. Daß diese Anfänge musikalisch wie textlich – und sehr wahrscheinlich auch in der Darbietung – weitaus unspektakulärer ausfallen als ihre italienischen Pendants, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Dach und Albert – im Gegensatz zu Opitz und Schütz von unmittelbaren italienischen Vorbildern weitgehend unangefochten 53 – eigenständige Beiträge zu einer Gattung geliefert haben, von der sie zuvor bestenfalls literarische Kenntnis hatten.

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Schütz: Gesammelte Briefe und Schriften (wie Anm. 26), S. 125 f. Ludwig Finscher: Hans-Joachim Moser. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (wie Anm. 8), Personenteil, Bd. 12, Sp. 528 f. Finscher notiert Mosers »oft allzu schnelle und assoziative Produktion«. Hans-Joachim Moser: Geschichte der deutschen Musik. 3 Bde. Bd. 2. Vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Tode Joseph Haydns. 4. Aufl., unveränd. Abdr. der durchges. 3. Aufl. Stuttgart [u.a.]: Cotta, 1928, S. 164. Susanne Rode-Breymann hat darauf hingewiesen, daß der produktiven Auseinandersetzung mit italienischen Vorbildern in Alberts Arien kein zentraler Stellenwert beigemessen werden kann; vgl. Susanne Rode-Breymann: Musikalische Lyrik im 17. Jahrhundert. In: Musikalische Lyrik (wie Anm. 17), S. 269–333, hier S. 303. Diese Einschätzung betrifft zumal die Arienkomposition, läßt also den im Hinblick auf die Assimilation der Gattung weitaus zentraleren Aspekt des rezitativischen Komponierens außer Acht.

Dieter Breuer

Simon Dachs Übersetzung des Christus Patiens von Carolus Malapertius SJ

Man möchte wol vielleicht, wann Menschen wo verbleichen, Durch ein geschicktes Lied beklagen ihre Leichen: Bey dem Tod’ aber kriegt Gesetz und Art nicht stat, 1 Der einig weder Maß noch seines gleichen hat.

Der Dichter Simon Dach, der so viele Leichencarmina zum Broterwerb hatte verfassen müssen, scheint hier seinem Herzen einmal mehr Luft gemacht, sich selbst karikiert und zugleich durch die Überbietungsfigur auf die schwierige Aufgabe des christlichen Dichters, die jede mögliche dichterische Form übersteigende Vergegenwärtigung von Leiden und Sterben Jesu Christi, verwiesen zu haben. Doch finden sich die beiden zitierten Alexandrinerpaare in seiner Übersetzung von zwei Distichen aus der ersten Elegie des Christus Patiens des belgischen Jesuiten Carolus Malapertius (1580 – 1630). 2 Mit dieser lateinischen Dichtung hatte sich Dach in der vorösterlichen Zeit 1651 näher beschäftigt. Bei Malapertius lauten die Verse: Composuis fac posse modis mortalia plangi Funera, cum flendi de grege turba sumus. At numeros frustra, modulosque in morte requiries 3 Quae caret exemplo, quae caret una modo.

Die Poemata des Malapertius mit dem Christus Patiens waren zuerst 1616 in der berühmten Antwerpener Offizin Plantin-Moretus (in 12° mit 135 Seiten) erschienen. Der Antwerpener Zensor Egbertus Spitholdius bescheinigt dem Autor im Approbationsvermerk vom 30. Oktober 1615, daß die Dichtungen »et ingenij acumine, et styli nitore, et pietatis ardore ita excellunt, vt è calamo in praelum, e praelo in manus eruditorum meritissimo transfundi possint« (daß sie sowohl durch die Schärfe des Ingeniums als auch durch den glänzenden Stil und die Glut der Frömmigkeit so herausragen, daß sie aus der Stille der Studierstube in die Druckerei und aus der Druckerei in die Hände der Gebildeten verdientermaßen gelegt werden können). 4 Die beiden zitierten Distichen bestätigen diese Charakteristika, und auch Simon Dach wird sie in seiner dedicatio anerkennend _______ 1 2 3 4

Simon Dach: Carl Malaperten Leidender Christus ins Deutsche übersetzt von Simon Dach, 1651. 2. April. In: ZIESEMER III, S. 370–383, hier S. 372 (1. Klaglied, V. 9–12) Zu Malapertius vgl. Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Bd. 5. Bruxelles, Paris 1894, Sp. 395 f. Carli Malapertii e Societate Jesu Christus Patiens. In: Caroli Malapertii Montensis Belgae e Societate Jesu Poemata. Köln: Bernardus Gualtherus 1620, S. 89–106, hier S. 89, V. 9–12. Ebd. S. [139].

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Dieter Breuer

wiederholen. Die Poemata, die außer dem Christus Patiens die Tragödie Sedecias, die Hexameterdichtung De Ventis libri II und ein Buch »Vermischte Gedichte« enthalten, 5 wurden 1620 in Köln, 1622 in Dillingen, 1624 in Douai und 1634 nochmals in Antwerpen nachgedruckt. 6 Ich habe die 1620 bei Bernardus Gualtherus in Köln erschienene Ausgabe benutzt. 7 Malapertius war eigentlich Mathematiker und ist durch eine Reihe von Publikationen zur Arithmetik, Geometrie und Astronomie hervorgetreten. Er lehrte zunächst in Polen, was die Widmung der Poemata an Wáadysáaw, den Sohn des polnischen Königs Zygmunt III. Wasa, 8 erklärt, dann in Douai, Arras und – auf Wunsch des spanischen Königs Philipp IV. – in Madrid. Der Christus Patiens ist in neun unterschiedlich lange Elegien gegliedert, die jeweils eine Station der Passion Christi in epischer Erzählung vergegenwärtigen und sodann andachtsvoll beklagen und meditieren: »Coena ultima«, »Oratio in Horto«, »Comprehensio«, »Deductio ad Caipham et nocturnae contumeliae«, »Accusatio coram Pilato et Herode«, »Accusatio altera apud Pilatum et flagellatio«, »Coronatio et condemnatio«, »Crucifixio«, »Mors« – insgesamt 255 Distichen. Simon Dach hat sich genau an diese Vorgaben gehalten. Die Elegien heißen bei ihm »Klaglieder« und tragen die Überschriften: »Das letzte Abendmal«, »Das Gebet im Garten«, »Die Greiffung«, »Darstellung vor Caipha und nächtliche Schmache«, »Anklage vor Pilato und Herode«, »Andere Anklage vor Pilato«, »Krönung und Verurtheilung zum Tode«, »Creutzigung«, »Der Tod«. Jedem Distichon entspricht ein Alexandrinerpaar. An die neunte Elegie hat Dach allerdings noch ein sechsstrophiges Gedicht über die Liebe Christi angehängt, das er kurz zuvor (Datum: 8. Februar 1651) ebenfalls aus dem Lateinischen übersetzt hatte. Versehen mit einer lateinischen Widmungsvorrede an den Altstädter Ratsherrn Reinhold Langerfeld, erschien die Übersetzung unter dem Titel Carl Malaperten Leidender Christus ins Deutsche übersetzt von Simon Dachen mit Datum vom 2. April 1651 in Königsberg im Druck. Wenn der Antwerpener Zensor das anspielungsreiche lateinische Werk in die Hände der Gebildeten (»in manus eruditorum«) gelegt wissen will, so hat auch Dach den christlich-humanistischen Bildungsanspruch des Autors getreulich in der Volkssprache weitergegeben. Das beginnt bei der einleitenden Anru_______ 5

6 7 8

Inhalt: Dedicatio »Wladislao Sigismundi III. Poloniae regis Filio, Principi iuventutis« (S. 3), »Poematum index« (S. 4), Sedetias Tragoedia (S. 5–61), De Ventis Liber I Quo tempestas describitur, quae Festis Pasachalibus in Belgio vicinisque locis magna stragae desaeuiit, an. M.DC.VI. (S. 62–76), De ventis Liber II. Quo de Ventorum origine & progressu disseritur (S. 76–88), Christus Patiens (S. 89–106), Miscellaneorum Liber unus (S. 107–132), Antonii des Lions Bethuniensis e Societate Jesu De Angeli Tutelaris Cultu (S. 132–138), »Approbatio« (S. [139]). Vgl. die Aufstellung bei Sommervogel: Bibliothèque (wie Anm. 2), Sp. 396. Benutztes Exemplar (Mikrofilm): Universitäts- und Landesbibliothek Münster, Sign.: RJES X 1302. Der Widmungsadressat verbindet Dach mit Malapertius: Dach hat 1635 anläßlich der Huldigung der preußischen Stände vor König Wáadysáaw IV. (1632 – 1648) in Königsberg sein Festspiel Cleomedes verfaßt und zusammen mit Heinrich Albert zur Aufführung gebracht.

Dachs Übersetzung des Christus Patiens

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fung der Muse, wohl der Polyhymnia, um diese und die von ihr geforderten »Naenia docta«, die »gelehrte Klage«, sogleich abzuweisen. 9 MVSA quid huc properas lugubri in syrmate? Frustra es: Non facit ad luctus naenia docta meos. Huc lacrymae, huc densi sine lege, sine ordine planctus. Ad numerum tantus respuit ire dolor. WAs kömmst du, Musa, her im langen Trawer=Kleide? Gelehrte Klage reumt sich nicht zu meinem Leide. Kommt Thränen, Angst und Noht, kommt ohn Geschick’ heran, Dieweil mein Schmertz nicht Art noch Weise halten kan.

Auch die mythologischen Anspielungen, mit denen der neulateinische Dichter seine Elegien – allerdings nur gelegentlich – schmückt, hat Dach in seiner Übersetzung nicht übergangen; auch er sieht sich dem gleichen humanistischen Bildungsideal verpflichtet, wie die folgenden Beispiele zeigen: VIX croceum liquit Tithoni Aurora cubile; Iam viduis Scribae prosiliere toris Pontifices quae sacra pios tam mane vocarent. Plebs stupet; at templi nemo tenebat iter. DIe Morgenröthe fährt kaum aus Tithonus Bette, Die Schrifftgelehrten sind schon auff als umb die wette, Das Volck verwundert sich was heiligs sie heraus 10 Gelockt, denn keiner macht sich in des Herren Haus. * Phoebe vides? pergis sceleratam extendere lucem, Anne Thyesteâ praecipitare viâ? Dieß siehst du, Sonn, und dehnst noch schändlich aus dein Licht, 11 Warumb doch hältst du jetzt Thyestis Strasse nicht? * Non ita tecta sonant largo cum Iuppiter imbri Frigore concretas eiaculatur aquas. Die Dächer geben nicht so einen deichten Schall, 12 Wenn Jupiter uns schreckt durch seinen Hagel=Fall.

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Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 89 (Elegia I, V. 1–4), Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371. – Dach übersetzt »sine lege, sine ordine« mit »ohn Geschick’« im Sinne von »ohne Schicklichkeit« (aptum); das meint die Nichteinhaltung der im hohen Stil üblichen Regeln hinsichtlich Metrum und Gattung. Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 96 f. (Elegia V, V. 1–4); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 376 f. (Anspielung auf den Mythos von Eos bzw. Aurora und ihren Gemahl Tithonos). Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 100 (Elegia VI, V. 29 f.); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 379 (Anspielung auf die Umkehrung des Sonnenlaufs angesichts des Verbrechens des Thyestes, der seinem Bruder Atreus dessen Kinder zum Mahl vorsetzt).

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Dieter Breuer *

Pro tonitru nomen, pro Ioue Caesar erat. Der Nahm’ ist ihm sein Blitz, sein Jupiter der Käyser[.]

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Der Fall der Elegia VI, V. 29 f zeigt aber auch, daß Dach gleichwohl nicht in jedem Fall an der gelehrten Umschreibung festhält, sondern zwischen den Ansprüchen der Literati und der Illiterati zu vermitteln sucht. So auch, wenn er den biblischen »Vates nobilis« (gemeint ist der Prophet Jeremia), auf den Malapertius in Elegia I, V. 7 f. nur anspielt, durch die genealogische Umschreibung »Helkias Sohn« identifizierbar macht. 14 Schon diese wenigen Beobachtungen bestätigen, was Dach in seiner lateinischen Widmungsvorrede über die Ziele seiner Übersetzung darlegt: CUm hisce diebus, quos Dominicae passionis meditationi destinavit Ecclesia, in pietatis essem exercitio, Christi patientis a Carolo Malapertio aliquot elegiis, piene magis an docte haut facile dixerim, scripti in mentem venit, quod jam olim eundem poetam non semel avide legissem; nactus ergo ejus ab amico copiam vix primam poematii Elegiam legendo absolvi, cum me tam elegans atque pium carmen in vernaculam nostram transferendi impetus incessit, eum praecipue in finem, ut, cum mihi esset in argumento tam sancto elaborandum, studium pietatis eo exercerem melius, & crucis Christi, quam Bernhardus sublimiorem suam Philosophiam salutavit, miserandam imaginem cordi meo altius imprimerem. Cum autem finito labore, etiam aliorum latii praesertim sermonis rudium, pietatem hac mea qualicunque opella nonnihil juvari posse intelligerem, non abs re futurum existimavi, si, quem ego in transferendo fructum percepissem, & alii legendo 15 consequerentur. (Als ich in diesen Tagen, die die Kirche dem Angedenken der Passion des Herrn bestimmt hat, meine Andachtsübungen machte, kam mir etwas von dem in Elegien verfaßten Christus Patiens des Carolus Malapertius, eine ebenso fromme wie gelehrte Dichtung, in den Sinn, denn ich hatte jenen Poeten schon früher und nicht nur einmal begierig gelesen. Ich besorgte mir also von einem Freund ein Exemplar und hatte kaum die erste Elegie zuende gelesen, als mich die Begierde überkam, diese so elegante wie fromme Dichtung in unsere Muttersprache zu übersetzen, vor allem zu dem Zweck, daß ich mich, wenn ich mich schon an einem so heiligen Gegenstand abzuarbeiten hätte, umso mehr in der Andacht übte und das bewundernswerte Bild des Kreuzes, das Bernhard von Clairvaux als seine sublimere Philosophie gefeiert hatte, meinem Herzen umso tiefer einprägen könnte. Als ich aber nach beendeter Arbeit erkannte, daß auch die fromme Andacht anderer, vor allem derer, die der lateinischen Sprache unkundig sind, durch dieses mein wie immer zu beurteilendes Werkchen durchaus gefördert werden könnte, kam ich zu dem Schluß, daß dies nur geschehen würde, wenn andere durch Lektüre erlangten, was ich bei der Übersetzung genossen hatte.)

Demnach verfolgt Dach mit seiner Übersetzung ein Ziel, das auch für sein übriges Werk wie für das seiner Freunde im Königsberger Dichterkreis gilt: für je_______ 12 13 14 15

Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 100 (Elegia VI, V. 49 f.); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 379. Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 102 (Elegia VII, V. 34); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 380. Vgl. Jer. 1, 1. Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 370. Übersetzung der Vorrede hier und in den folgenden Zitaten vom Vf.

Dachs Übersetzung des Christus Patiens

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dermann, nicht nur für die Literati verständlich zu schreiben. Selbst der gravitätische Alexandrinervers kommt bei ihm leicht daher. Er hält sich an Opitzens Vorgaben für den Gebrauch der alexandrinischen Verse, daß diese »wegen jhrer weitleufftigkeit der vngebundenen vnnd freyen rede zue sehr ähnlich sindt, wann sie nicht jhren mann finden, der sie mit lebendigen farben herauß zue streichen weiß«. 16 Die eingangs zitierten Beispiele zeigen, daß Dach dies sogar noch unter der erschwerten Bedingung der zeilengetreuen Übersetzung zu leisten vermag. Er schreibt dazu in seiner Widmungsvorrede: non quod sperem me eximiam authoris scriptionem versione adaequasse, quis enim hoc sibi sumat? cum pressae illius adstrictaeque dictionis felicitate nostra lingva latina non paullo sit inferiori sed sensum, quoad fieri potuit, exprimere in praesentia satis esse duxi, qua in re veniam facile merebor apud eos, qui molestiam translationis hanc versuum 17 numerum non excedentis subierunt. (Nicht daß ich hoffen könnte, ich hätte die vortreffliche Schrift des Autors adäquat wiedergegeben, denn wer könnte dies von sich behaupten? Da unsere Sprache in Bezug auf den komprimierten, gedrängten Ausdruck sehr viel weniger glücklich ist als die lateinische, habe ich geglaubt, es sei genug, wenigstens den Sinn, soweit möglich, zutreffend auszudrücken. Hierin werde ich leicht die Nachsicht derer erlangen, die die Mühe auf sich nehmen, beim Übersetzen die vorgegebene Anzahl der Verse nicht zu überschreiten.)

Mit dieser Beschränkung hat sich der Übersetzer aber zugleich den Freiraum verschafft, sein poetisches Ideal in der Volkssprache zu verwirklichen: »ut jucundae imitationis, excitatae masculaeque dictionis, metri denique blandientis lenocinio non fortius tantum sed & felicius animos penetrent & quasi captivos redigant« ([...] durch den verlockenden Reiz einer geglückten imitatio, eines erregten und kraftvollen Ausdrucks und eines schmeichelnden Metrums stärker und erfolgreicher in die Gemüter einzudringen und diese gleichsam gefangen zu nehmen). 18 Ein Beispiel solch einer geglückten imitatio ist bereits seine Übersetzung des eigentlichen Handlungsbeginns in der ersten Elegie FESTA aderant, agni properataque fercula tosti, Et qui lege volunt azyma crusta dies. Cura fuit patrios seruari ex ordine ritus, Impler: et rebus symbola prisca nouis. Discipuli Paschae praeeunt pars iussa parando, Pars Domini cingunt ambitiosa latus. Die Ostern waren da, das Lamm wird gahr gemacht, Das Brot ohn Sawerteig wird auff den Tisch gebracht, Der Herr will auch das Fest, den Vätern gleich, begehen,

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Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem »Aristarch« (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen »Teutschen Poemata« (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der »Trojanerinnen«. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB, 18214), S. 53. Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371. Ebd.

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Die Bilder sollen nun mit That erfüllet stehen, Theils Jünger richten zu das Lamm auff sein Begehr, 19 Theils warten sonst ihm auff und stehen umb ihn her.

Nicht Überbietung (aemulatio), sondern »geglückte Nachahmung« (»iucunda imitatio«) bestimmt Dachs Aneignung der Passionselegien des von ihm bewunderten Malapertius. Deshalb weist er im folgenden auch den möglichen Vorwurf zurück, aus Ehrgeiz und Ruhmsucht mit dieser Übersetzung an die Öffentlichkeit getreten zu sein: Vanae cujusdam gloriolae captandae occasionem nemo mihi obijciat [!], qui laureolam in mustaceo quaerere ineptum semper judicavi, & inanem hanc laudis affectationem a 20 modestia nostra alienam esse ultro, qui me familiarius norunt, confitebuntur. (Niemand möge mir vorwerfen, eine Gelegenheit zu eitlem Ruhm erhaschen zu wollen, wo ich mich doch stets für ungeeignet gehalten habe, auf wohlfeile Weise ein Lorbeerkränzlein zu ergattern. Wer mich kennt, wird zugeben, daß diese törichte Sucht nach Lob unserer Bescheidenheit gänzlich fremd ist.)

»Modestia nostra« – das ist kein unbescheidener Majestätsplural, sondern ein Verweis auf das Bescheidenheitsideal der einst in der Kürbishütte zusammengeschlossenen Königsberger Dichter und Musiker. 21 Wohlfeiles Lob konnte Dach, wie er im folgenden Teil seiner Vorrede zugibt, auch aus einem anderen und gravierenderen Grund nicht erwarten, und zwar deshalb, weil er sich mit der Übersetzung eines Jesuiten bei der in Königsberg herrschenden kämpferischen lutherischen Orthodoxie verdächtig machte. Dach verwendet viel Mühe darauf, diesen Verdacht, mit dem konfessionellen Gegner zu sympathisieren und den Glaubensgenossen die falsche Lektüre zugänglich gemacht zu haben, zu entkräften; bereits mit seiner Berufung auf Bernhard von Clairvaux gleich eingangs der Vorrede stellt er sich in die Tradition lutherischer Passionsandacht. 22 Er erklärt sich aber noch deutlicher: Hominem a nobis in fidei professione dissidentem nostris legendum propinasse culpabor, at cur? non dissidium hic religionis ullum, si quid scrupulosius rimantem offendat, id in 23 nostro sermone ita opinor temperavi, ut litigandi mecum ansam omnem praeciderim. (Ich werde beschuldigt werden, daß ich einen Menschen, der in Bezug auf sein Glaubensbekenntnis von uns abweicht, den unseren zur Lektüre nahegelegt habe. Aber warum diese

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Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 90 (Elegia I, V. 27–32); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 372. Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371. Vgl. Alfred Kelletat im Nachwort zu seiner Ausgabe (in: KELLETAT, S. 331–420, hier S. 347–359). Vgl. dazu Ulrich Köpf: Passionsfrömmigkeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1997, S. 722–764; Johann Anselm Steiger: »Mein Niedrig=gehn soll Euch erheben«. Zur poetisch-meditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichts von Simon Dach (1605 – 1659). In: Praxis Pietatis. Beiträge zur Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans Jörg Nieden und Marcel Nieden. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1999, S. 175–199. Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371.

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Beschuldigung? Hier gibt es auch gar keinen Dissens in der Religion. Wenn etwas Anstößigeres einen Kritiker verletzen könnte, habe ich es, wie ich meine, in unserer Ausdrucksweise so gemildert, das jeder Anlaß, mit mir zu streiten, entfällt.)

Eine solche ›Milderung‹ betrifft möglicherweise die Abendmahlslehre, die Malapertius in seiner ersten Elegie erläutert. Magnus vbi praeijt tunc primum verba Sacerdos Mystica, mortali vix referenda sono: Panis abest, viuus Christi conuersus in artus, Et quae nota putes pocula sanguis erant. Certa fides, fidei quam firmat idoneus auctor, Quae posuit rerum soluere iura potens. Nunc quoque conuiuas idem indiuisus in omnes Diditur, orbiculo dissimulante Deum Diditur. Et totis tot per miracula saeclis AEternum ipse sui pignus amoris erit. Der grosser Priester spricht die Worte, die so vol Geheimniß sind und schier ein Mensch nicht melden sol, Schaw, was geschieht? das Brot ist Christus Leib, der Reben Gewächs sein wares Blut das er für uns gegeben. Daß dieses war sey, zeugt der Warheit Seel und Licht Der der Natur Gesetz, ihr Stiffter, leicht zerbricht, Auch jetzt noch giebt er sich doch unzertheilt zum besten Mit unter in dem Brod uns seinen lieben Gästen, Durch dieses Wunder=Werck, das aller Welt bekand, 24 Wil er uns ewig seyn selbst seiner Liebe Pfand.

Hier hat Dach tatsächlich den zwischen den Konfessionen umstrittenen dogmatischen Sachverhalt im Sinne der lutherischen Orthodoxie verändert. Er ersetzt die von Malapertius verwendete, auf die katholische Transsubstantiationslehre verweisende Aussage (»orbiculo dissimulante Deum | Diditur«) durch die Formel Luthers gemäß der Konsubstantiationslehre, derzufolge der Leib Christi »Mit unter in dem Brod« verborgen sei. 25 Als anstößig hätte auch der im Schlußteil der ersten Elegie dargestellte Abschied Jesu von seiner Mutter aufgefaßt werden können, da Malapertius hier nicht biblisch Überliefertes ausmalt. 26 Doch hat Dach diese Genreszene aus dem legendären Marienleben ohne Abstriche übernommen. Dach geht indes in der Verteidigung der Jesuitenpoesie noch einen Schritt weiter. Als Professor Publicus Poëseos, als der er seine Vorrede unterzeichnet, hat er einen Blick für dichterische Qualität und wendet sich gegen einen konfes_______ 24 25

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Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 90 (Elegia I, V. 39–46). Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 372. Hervorhebung im Text vom Vf. Luther verwendet die Formel »in, mit und unter« Brot und Wein in: Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, 1528 (Weimarer Ausgabe Bd. 26, S. 447), ist sich aber bewußt, daß auch diese Formulierung von den Schwärmern ebenso angegriffen werde wie das »etwas finstere« Herrenwort. Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 91 (Elegia I, V. 51–66); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 372 f.

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sionellen Fundamentalismus, der die Leistungen der Andersgläubigen auf dem Gebiet der Poesie und Poetik nicht wahrhaben will, aber insgeheim ausbeutet: quam saepe illorum, quos damnamus, ipsi aut plumis nos ornamus aut vitula aramus, nomina autem ingrati dissimulamus. magna certe operarum nostrarum pars cum gratia simul periret, si ab illis abstinendum omnino esset. pietatem, quoqunque sive ore proferatur seu calamo scribatur, suspiciendam esse censeo perinde ut virtutem etiam in gentilibus 27 admiramur atque amplectimur. (Wie oft schmücken wir uns mit den Federn jener, die wir verdammen, oder pflügen mit ihrem Kalb, verheimlichen aber undankbar ihren Namen. Gewiß würde ein großer Teil unserer Werke mit schönem Dank sogleich verschwinden, wenn man sich von jenen fernhalten müßte. Nach meinem Urteil ist Frömmigkeit verehrungswürdig, durch welchen Mund auch immer sie vorgetragen oder mit welcher Feder auch immer sie zu Papier gebracht wird, so wie wir tugendhaftes Verhalten auch bei den Heidenvölkern bewundern und gutheißen.)

Als Simon Dach am 2. April 1651 dieses für Toleranz und geistige Offenheit werbende Bekenntnis niederschrieb, befanden sich Königsberg und seine Universität auf dem Höhepunkt eines immer gehässiger werdenden innerkonfessionellen Streits zwischen lutherischer Orthodoxie, angeführt durch den Theologieprofessor und Domprediger Coelestin Myslenta, und den lutherischen Synkretisten, angeführt durch den Schloßprediger und Theologieprofessor Christian Dreier, mit dessen Hilfe der calvinistische brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm I. die preußischen Stände und die Theologen der Universität auf seine religionspolitische Linie zu bringen versuchte. 28 Dieser Streit hatte derart schlimme Formen angenommen, daß der 1650 verstorbene Theologieprofessor Michael Behm, ein Anhänger Dreiers, einst ›Mitglied‹ der Kürbishütte und Freund Dachs, erst zwei Jahre nach seinem Tod, 1652, in der Professorengruft des Königsberger Doms bestattet werden konnte. 29 Hinzu kam, daß die Jesuiten des Braunsberger Kollegs, die bereits seit den 1630er Jahren in Königsberg missioniert hatten, im Frühjahr 1651 in der Kaplanei der katholischen Pfarrkirche in Königsberg auf dem Sackheim eine ständige Missionsstation eröffneten, zunächst mit zwei, ab 1679 mit vier Patres, die sich durch pietas und eruditio, durch aufopfernde Seelsorge besonders in Pestzeiten, durch Predigt, Aufbau einer Trivialschule und Teilnahme an theologischen Disputationen rasch Ansehen verschafften, zumal sie für ihre Dienste kein Geld nahmen. 30 Trotz ständiger Anfeindungen durch die lutherische Pfarrgeistlichkeit, trotz des Protestes der Stände und trotz der ständigen Bemühungen des _______ 27 28

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Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371. Näheres dazu bei Thomas Kaufmann: Theologische Auseinandersetzungen an der Universität Königsberg im 16. und 17. Jahrhundert. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 243–318, hier S. 303–318. Ebd. S. 315. Dach schrieb u.a. ein Trostgedicht auf den Tod Behms: ZIESEMER III, S. 330 f. ([Inc.:] »O Eitelkeit, was setzest du«). Vgl. dazu Dieter Breuer: Der Anteil der Jesuiten an der Kulturentwicklung im Hochstift Ermland und im Herzogtum Preußen (Braunsberg, Rössel, Königsberg). In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 28), S. 319–333, hier S. 328–333.

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Landesherrn, die Jesuiten ›abzuschaffen‹, blieben diese bis zur Aufhebung des Ordens (in Preußen 1780) in Königsberg, gestützt auf Privilegien des ermländischen Bischofs und des polnischen Königs. An der Königsberger Konversionswelle im Gefolge des Synkretismusstreits unter den Professoren der Universität hatten sie großen Anteil. Simon Dach dürfte die jesuitischen Gelehrten, die sich in Königsberg aufhielten – Thomas Clagius, der 1633 »Regiomonti sub missionis tempore« sein Jason-Drama verfaßt hatte (gedruckt in Wilna 1643), Johannes Kühn (in Königsberg 1651 – 1653), Michael Radau (ab 1654) – gekannt haben, wenn nicht persönlich, dann doch mindestens deren Schriften zur Rhetorik und Poetik, die wie Radaus Orator extemporaneus (Wilna 1640) oder Lauxmins Praxis Oratoria (Wilna 1645) zu den europaweit verlegten Grundschriften der Argutialehre gehörten. 31 Zudem gab es gelehrte Beziehungen zwischen dem Braunsberger Kolleg und der Königsberger Artistenfakultät; Thomas Clagius SJ, in den Jahren 1650 – 1653 Rektor des Braunsberger Kollegs, berief 1650 den Königsberger Orientalisten Johann Stephan Rittangel zu Gastvorlesungen über die hebräische Grammatik nach Braunsberg. 32 Clagius, der wiederum mit Dachs Freund Christoph Kaldenbach befreundet war, vermittelte 1651 den Druck von Kaldenbachs Lyricorum libri III in der Braunsberger Druckerei; die 22. Ode des ersten Buchs ist Clagius gewidmet: »Ad Thomam Clagium S.J. Cum bibliothecam Scriptorum S.J. a Philippo Alegambe concinnatam misisset auctori«. 33 Diesen zeitgeschichtlichen Kontext gilt es zu beachten, wenn man Dachs Vorrede und hier seine Abweisung jeglichen konfessionellen Eiferertums würdigen will. Mit seiner Einstellung steht er den Synkretisten und damit der Politik seines Kurfürsten nahe. Mit seinem Eintreten für die geistliche Dichtung der Jesuiten geht er in der ideologisch aufgeheizten Situation von 1651 einen riskanten eigenen irenischen Weg, auf dem ihn der Adressat der Vorrede, der Altstädter Ratsherr Reinhold Langerfeld, ein entfernter Verwandter, 34 schützen soll: Tibi autem, mi Langerfeldi, hoc quicquid est inscribere placuit, quod tu post Robertinum öëôëúóüò÷ unus soleas Nostras esse aliquid putare nugas. Dum tibi me probem aliis improbari non abnuo. Latinos veteres, Italos, Gallos aliosque scriptores praesertim poetas omnes ita familiares tibi reddidisti, ut tuum de singulis judicium satis interdum mirari nequeam. [...] Accipe igitur exiguum hoc munusculum, ut, si qui sinistelli de eo rumores extiterint, eo statim confutentur, quod tibi placuisse dicar.

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32 33 34

Vgl. Franz Dittrich: Geschichte des Katholicismus in Altpreußen von 1525 bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 13 (1901), S. 1–289 und 493–741, hier S. 115–181. Zu Clagius vgl. Georg Lühr: Cursus gloriae mortalis dramatica poesi expressus sive Iason fabula. Ein Drama des Jesuiten Thomas Clagius. Mit Beiträgen zur Geschichte des Königlichen Gymnasiums zu Rössel. In: Programm des Königlichen Gymnasiums zu Rössel. Rössel: Kruttke 1899, S. 1–47. Vgl. Franz Hipler: Literaturgeschichte des Bisthums Ermland. Braunsberg [u.a.]: Peter 1873, S. 184 f. Lühr: Cursus gloriae (wie Anm. 31), S. 7. Vgl. die genealogische Tabelle zur Verwandtschaft von Simon Dach und seiner Ehefrau Regina Pohl bei ZIESEMER I, S. XII.

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(Du aber, lieber Langerfeld, läßt es dir gefallen, was immer es ist, dir zuzueignen, denn du anerkennst seit dem Tode Roberthins als einziger unsere poetischen Kleinigkeiten. Wenn ich nur deinen Beifall habe, macht es mir nichts aus, von anderen getadelt zu werden. Die alten Lateiner, die Italiener, Franzosen und andere Schriftsteller, vor allem die Poeten, sind dir so vertraut und geläufig, daß ich bisweilen dein Urteil nicht genug bewundern kann. [...] Nimm also dieses unbedeutende Werkchen an, damit es, wenn deswegen irgendein häßliches Gerede entstünde, dieses umso eher zurückgewiesen würde, weil man sagt, daß 35 es dir gefallen habe.)

Simon Dach, der 1648 im kurfürstlichen Rat Roberthin seinen Freund und Förderer verloren hatte, erhofft sich vom literarisch gebildeten Politiker Langerfeld Schutz im Falle »häßlichen Geredes«. In Kenntnis der von den Theologen geschürten Feindseligkeit in Stadt und Universität darf man diese Widmungsadresse nicht nur als topisches Kompliment abtun. Die neunte und letzte Elegie (»Der Tod«), die mit der Marienklage einen Bogen zurück zur ersten Elegie schlägt und im übrigen den letzten Worten Jesu am Kreuz gewidmet ist, endet mit dem Todesschrei, dessen Vergegenwärtigung das meditierende Ich zunächst nicht in Worte fassen kann: Dixit, et exclamans (quid singultantia rumpis Verba dolor, sinedum paucula, iam taceo) Dixit et exclamans (iam iam hoc caput obruo luctu, Dic tamen hoc vnum dic dolor) emoritur. Er spricht es, schreyet und (was brichst du mir das Wort, O Schmertz, ich schweige schon, nur noch ein wenig, fort!) Er spricht es, schreyt und muß (befall mich stracks mit Leiden, 36 Nur sag dies eine noch, mein sag es, Schmertz!) verscheiden.

Dach beläßt es aber nicht bei diesem hochdramatischen Verstummen des betrachtenden Ich, sondern fügt eine andere Übersetzungsarbeit an. Er überträgt die sechs Distichen der lateinischen Elegie mit dem Incipit »Huc me sidereo descendere jussit olympo« 37 in sechs schlichte Kreuzreimstrophen, die den Leser auf die mittlere Stilebene zurückgeleiten. In diesem Gedicht des italienischen Humanisten, Archäologen und Kanonikers an St. Peter in Rom Maphaeus Vegius (Maffeo Vegio, 1407 – 1458) erklärt der gekreuzigte Gottessohn in einer Art sermonicatio dem betrachtenden Frommen das Motiv für seine Menschwerdung und Passion: die Liebe. Die lateinische Elegie ist seit Josquin des Prez häufig als Motette vertont worden, unter anderem von Orlando di Lasso und Leonhard _______ 35 36 37

Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 371. Malapertius: Christus Patiens (wie Anm. 3), S. 106 (Elegia IX, V. 59–62); Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 383. Zum Autor des Gedichts vgl. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 17 Bde. Hg. von Friedrich Blume. Kassel: Bärenreiter 1949– 1986, hier Bd. 3, Sp. 389; Lexikon für Theologie und Kirche. 3., völlig neu bearb. Aufl. 11 Bde. Hg. von Walter Kasper [u.a.]. Freiburg/Brsg. [u.a.]: Herder 1993–2001, hier Bd. 10, Sp. 576. Vgl. dazu auch Willem Elders: Zusammenhänge zwischen den Motetten »Ave Nobilissima Creatura« und »Huc me sydereo« von Josquin des Prez. In: Tijdschrift van de Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis 22 (1971/72), S. 67–79.

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Lechner (Motectae Sacrae, 1575). Simon Dach kannte sie vermutlich über seinen Freund, den Königsberger Domorganisten Johann Stobäus. 38 Huc me sydereo descendere jussit Olympo, Hic me crudeli vulnere fixit amor. Langueo, nec quisquam nostro succurrit amori, Quem nequeunt durae frangere jura crucis. Pungentem capiti Dominum gestare coronam Fortis amor docuit verbera tanta pati. Felle sitim magni regis satiavit amaro, Pectus ut hauriret lancea fecit amor. De me solus amor potuit inferre triumphum, Ille pedes clavis fixit et ille manus. Si cupis ergo animi mihi signa rependere grati, Dilige pro tantis, sat mihi solus amor. DIe Lieb’ hat mich auff Erden Aus dem Gestirn gebracht, Sie heisst mich Blut=arm werden, Sie hat mich Wund gemacht. Sie kräncket mich im Hertzen, Wer rahtet meiner Glut? Nicht Creutz noch Todes=Schmertzen Bezwingen ihren Muht. Die Liebe lehrt mich tragen Die spitze Dornen=Krohn’, Hat also mich zuschlagen, Sie wircket diesen Hohn. Ja daß ich Gall genossen In meinem Durst, ein Speer Die Seiten mir durchstossen, Rührt bloß von Liebe her. Sie kan mich einig zwingen, Daß diese Nägel mir Durch Händ und Füsse dringen, Dies alles danck’ ich ihr. Für solche Trew und Schmertzen, Mensch, wilst du danckbar seyn? So liebe mich von Hertzen, Ich wil nur Lieb’ allein.

Diese Elegie bot Dach die Möglichkeit zu einer Milderung der hartgefügten Aposiopese bei Malapertius, die nicht nur durch die Liebesthematik geboten war, sondern auch seinem poetischen Naturell besser entsprach. Auch hier hat _______ 38

Lateinischer Text nach: Werken van Josquin des Prés. Hg. von A. Smijers. 16. Lieferung: Motetten, Heft VI. Amsterdam [u.a.]: Alsbach 1936, Nr. 32. Übersetzung: Dach: Carl Malaperten Leidender Christus (wie Anm. 1), S. 383 (Datiert auf »1651. 8. Hornung.«).

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er zeilengetreu übersetzt; den sechs Ikten des lateinischen Verses entsprechen jeweils zwei dreihebige Verse. Dem angestrebten Wechsel der Stilebene gemäß ist der Alexandriner zugunsten der Form des schlichten Andachtslieds aufgegeben. Auch hier hat Dach aus einer ›römischen‹ Quelle geschöpft, die zugleich auf eine ihm gemäße Weise den Königsberger Konfessionsstreit kommentiert.

Friedrich Vollhardt

Trost, Buße, Erbauung Die ›Frömmigkeitskrise‹ im frühen 17. Jahrhundert und die geistliche Lyrik Simon Dachs Am 21. Februar 1646 stirbt Regina Martini im Alter von sechzehn Jahren. Simon Dach ist mit dem Mädchen verwandt, ihre Mutter bezeichnet er als »Muhme« und den Vater – dieser ist Pfarrherr zu Heiligenbeil – als seinen »Schwager«. Das aus dem genau datierten Anlaß geschriebene und auf die familiäre Konstellation bezogene Klag= und Trost=Reimchen beginnt wie folgt: WEnn ich ein Frembder möchte seyn, So wüst ich Euch in Ewrer Pein, Herr Schwager, tröstlich beyzuspringen, Nun ewer Leid geht mich auch an, Was soll ich wol zu marckte bringen, Das ewren Schmertzen lindern kann? Ich misse nur nicht den Verstandt, Mir schlackert beydes Muth vnd Handt, Ich henge meinen Kopff darnieder, Und trage Zorn ohn maaß vnd Ziel Auff schöne Reim vnd weise Lieder, 1 Vnd fluche meinem SeitenSpiel.

Die Herstellung von Kasualpoesie wird nicht selten, wie man an diesen Versen sieht, zu einem selbstreflexiven Unternehmen, das auch Selbstkritik einschließt. Die Forschung zu Dach hat die Stellen gesammelt, an denen er sich über sein Warengeschäft, die Zeitnot bei zunehmender Nachfrage, die Wirkungslosigkeit des vielfach Wiederholten, das gewohnheitsmäßige Versemachen und die Kurzlebigkeit seines Produkts beklagt. Die Gründe für die Ablehnung der Massenware, die repräsentativen Zwecken dient, sind hier bereits vorformuliert, einige Jahrzehnte später mußten Frühaufklärer wie Hunold und Canitz 2 diese nur noch programmatisch oder satirisch einsetzen, um mit der Gattung abzurechnen. Jch werd’ auff allen Seiten Besprengt nicht ohn Beschwer Jn Lust= vnd Trauer=Zeiten Wie auff der Hatz ein Beer[,]

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Simon Dach: »Klag= und Trost=Reimchen.« In: ZIESEMER III, S. 124–127, hier Str. 1 f. – Die Vortragsform der folgenden Ausführungen wurde weitgehend beibehalten. Zu dem um 1700 eintretenden Wandel in der Kasualdichtung vgl. Christoph Siegrist: Frühaufklärerische Trauergedichte zwischen Konvention und Expression. In: Text und Kontext 6 (1978), S. 9–20.

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lautet die vielzitierte Strophe aus einem der Gedichte Dachs. 3 Noch eindringlicher heißt es in einer der Gedächtniß-Schriften: Doch spieltest du auch noch so schön So wirst du durch dein Leid=Gethön Der Menschen Noht nicht gnug beweinen, Bedenck ich sie, wird Spiel vnd Schertz Mir stracks ein Eckel, vnd mein Hertz Ist bey den Seiten wie aus Steinen. […] Ich schreibe von des Todes Macht Schier alle Stunde Tag vnd Nacht, Mein Reim=Brunn wil mir nicht mehr taugen, Die Adern sind fast alle leer, Die Hände werden mir zu schwer, 4 Kein Thrän ist mehr in meinen Augen.

Es ist unschwer zu erkennen, daß die eingangs zitierten Verse nicht zu diesen Beschwerden über das anlaßbezogene Schreiben passen, trotz des erwähnten »marckte[s]« und dem Fluch über das »SeitenSpiel«. Denn diese Klage soll ja nur zum Ausdruck bringen, daß jeder Versuch einer Sinnstiftung angesichts des Todes eines sechzehnjährigen Mädchens, das am Beginn ihres Erwachsenendaseins aus dem Leben gerissen wird, vor fast unüberwindlichen Schwierigkeiten steht. Der Autor verfügt zwar auch für den keineswegs seltenen Fall des Sterbens in jungen Jahren über eine Sammlung von Argumenten, sowohl was die für das Epicedium verbindliche Trauer als auch den Trost betrifft; dennoch gerät die Betrachtung in diesem besonderen Fall – der frühe Tod einer Verwandten – offenbar in die Nähe einer tabuisierten Zone, wo der routinierte Griff zu einer bewährten wie erwartbaren Formel zur Zumutung werden könnte. Oder verhält es sich umgekehrt? Wird der Tod eines Kindes in der Frühen Neuzeit im Rahmen der Statistik betrachtet, kann dieser als ein alltägliches, ja banales Ereignis erscheinen. 5

I Man wird mir entgegenhalten, daß solche Fragen falsch gestellt sind, da sie von den Konventionen der rhetorisch begründeten Gattung wegführen, bei der es nicht auf »die vermeintliche Loslösung vom Schema, seine Überwindung, son_______ 3

4 5

Zit. nach Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2. Aufl. München: Beck 1982 (Edition Beck), S. 50. Simon Dach: »Schuldiges Gedächtniß.« In: ZIESEMER IV, S. 117 ff., hier S. 118, Str. 9 und12; vgl. auch Schöne: Kürbishütte und Königsberg (wie Anm. 3), S. 50. Zu den divergierenden Deutungsmustern vgl. Marion Kobelt-Groch: »Freudiger Abschied Jungfräulicher Seelen«. Himmelsphantasien in protestantischen Leichenpredigten für Kinder. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 31 (2004), Heft 2, S. 117–147, bes. S. 119 f.

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dern seine Erfüllung [ankommt]. Nur in der Art und Qualität der Erfüllung, in der selbständigen Aneignung und Abwandlung des Schemas liegen die Kriterien, nach denen sich ein einzelnes Beispiel einer Gattung wie des Epicediums beurteilen läßt.« 6 Das ist zweifellos richtig und hat doch etwas von einem Passepartout, mit dem man noch die entschiedenste Infragestellung der konsolatorischen Funktion des Trauergedichts als besonders raffinierte Erfüllung des Schemas verstehen kann. Die rhetorischen Mittel sollen der Erregung und Dämpfung von Affekten dienen; in der Tradition der Gattung sind dies Verzweiflung, Trauer und Trost (ob unsere affektiven Einstellungen zum Tod Wandlungen unterliegen, die von der Poetik der antiken Gattung nicht erfaßt werden, lasse ich hier beiseite). Zu fragen ist einerseits, ob es über den anlaßbezogenen Trauerakt hinaus in den geistlichen Gedichten Dachs noch weitere Funktionen der Affekterregung gibt, und andererseits, wie die Freiräume aussahen, in denen, veranlaßt durch den Einzelfall, die Frömmigkeitspraxis der Zeit reflektiert oder die Individualität des Autors ins Spiel gebracht wurde. 7 Ich werde auf das zitierte Klag= und Trost=Reimchen für Regina Martini und die eben angesprochenen Fragen zurückkommen, da es mir um solche Aspekte im Werk von Simon Dach geht, die mit der emotionalen Anteilnahme der Rezipienten und deren Erbauung zu tun haben. Auch die Lyrik Dachs partizipiert an jener breiten Bewegung im deutschen Protestantismus, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschiedene literarische Gattungen in seelsorgerlichen Dienst nimmt. Die Flut von Trost- und Ermahnungsschriften scheint eine Frömmigkeitskrise anzuzeigen, die zu kontroversen Deutungen herausgefordert hat. In diesem Kontext werde ich einige Beispiele aus dem Werk Dachs zu kommentieren versuchen. Dabei muß ich von anderen, bereits gut etablierten und plausiblen Forschungsansätzen absehen, die im Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Kasualdichtung notwenig zu berücksichtigen wären. Erwähnen möchte ich nur zwei Themenkomplexe: (1) »Simon Dach taucht fast nie allein auf.« 8 Seit den frühen Editionen, etwa dem von Hermann Oesterley in der Reihe der Deutschen National-Litteratur (1876) herausgegebenen Band, erscheint Dach im Kreis seiner Freunde. Er wird so als kollektiver Akteur und die im Königsberger ›Kreis‹ entstandene Poesie als eine sozietätsstiftende und -stabilisierende Kraft betrachtet. Die Betonung _______ 6

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8

Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147, hier S. 138. Daß solche Spielräume von Dach früh genutzt wurden, zeigt ein neu entdecktes Epicedium aus dessen Schulzeit, in dem er den Tod seines Mentors Christian Vogler beklagt; vgl. Michael Schilling: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928 – 1992). Hg. von Mirosáawa Czarnecka, Andreas Solbach, Jolanta Szafarz [u.a.]. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2504), S. 367–377, bes. S. 376. Karl Eibl: Simon Dach (1605 – 1659). In: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29 (1994), S. 103–108, hier S. 103.

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des Gesellschaftlichen bei gleichzeitiger Zurückstellung des Individuellen erklärt ohne weiteres die Bevorzugung bestimmter Gattungen, wozu das Lied gehört, und die zahlreichen Vertonungen. 9 Da die Gelegenheitspoesie Dachs und seiner Freunde zudem das gesellschaftliche Leben der Region in vielen Einzelmomenten über einen langen Zeitraum hinweg abgebildet und festgehalten hat, eröffnet sich für die Forschung die Möglichkeit einer sozialhistorischen Befragung des Materials, wobei sich die Menge der Daten nicht als Last, sondern als günstige Voraussetzung für serielle Untersuchungen erweist. (2) Seit dem Modellversuch Albrecht Schönes (1975) sind solche Untersuchungen auch an anderen Textcorpora vorgenommen worden, etwa am Beispiel von Epicedien in pommerschen Leichenpredigten. 10 Dabei hat sich die Beobachtung Schönes bestätigt, wonach die Leichgedichte zum einen der Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens der Auftraggeber dienten, zum anderen aber – und vor allem – einer »poetische[n] Gedächtnisstiftung«; 11 diese Funktion behielt die Kasualdichtung im Übergang von der humanistischen Gelehrsamkeit in die bürgerliche Alltagswelt bei, auch über den eintretenden Sprachenwechsel hinaus. An dieser Praxis partizipierte auch der Adel: »778 der namentlich adressierten Gelegenheitsgedichte Dachs sind an Bürgerliche, 179 an Angehörige des Adels gerichtet, der doch […] gegenüber der Bürgerschaft nur eine kleine Minderheit darstellte«, wie Schöne nachweist. 12 Daß die Königsberger Dichter dem Vergänglichen Dauer geben, ist ein »zentraler Topos« der literarischen Gattung, ihr »poetologisches Glaubensbekenntnis gewissermaßen, dem sie zugleich ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit verdankt.« 13 Nicht zu vergessen ist dabei der durch die Drucklegung gewonnene Prestigecharakter der Schriften, die der »Selbstdarstellung von Familien gehobener und höherer Schichten« 14 dienen. In dieser Funktion werden die Leichenpredigten und Trostgedichte nach der Mitte des 18. Jahrhunderts von gedruckten Biographien abgelöst, einem neuen Typ der Personalschrift, die nicht mehr, hier liegt ein entscheidender Unterschied, nach einer Synthese von gesellschaftlichem und kirchlich-theologischem Anliegen sucht. _______ 9

10

11 12 13

14

Vgl. zur Geselligkeit im Freundeskreis Dachs zuletzt: Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/2: Barock-Humanismus: Liebeslyrik. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 80–108 [mit weiteren Hinweisen]. Vgl. Robert Seidel: Epicedien in pommerschen Leichenpredigten aus der Sammlung Stolberg. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Horst Langer. Tübingen: Niemeyer 1994 (Frühe Neuzeit, 19), S. 239–265. Schöne: Kürbishütte und Königsberg (wie Anm. 3), S. 51. Ebd., S. 46. Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier S. 952. Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680 – 1815). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 127), S. 113.

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Mit diesem Stichwort komme ich zurück zum Thema – nicht ohne am Ende des Exkurses mit Genugtuung zu vermerken, daß die seit zwanzig Jahren totgesagte Methode der sozialgeschichtlichen Analyse sich im Falle der Kasualpoesie noch immer auf das beste bewährt. »Man kann diesen Texten nicht gerecht werden, wenn man sie isoliert«, warnt denn auch Wulf Segebrecht und verweist den Interpreten auf den Kontext, das heißt die Adressaten und die den Umständen angepaßte rhetorische Praxis, über die sich sowohl »das Gattungstypische als auch die spezifische Eigenart« der Gedichte von Simon Dach erschließt. 15 Diese engeren Kontexte werde ich im folgenden nur unzureichend beschreiben können. Statt dessen werde ich weiter ausgreifen und nach der eben genannten Frömmigkeitskrise fragen, auf welche – sollte es sich um ein faßbares Phänomen in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts handeln – auch die Königsberger Dichter in ihrer geistlichen Lyrik reagiert haben dürften.

II Udo Sträter hat in einer 1995 publizierten Studie die Historikerzunft mit der These überrascht, daß im 17. Jahrhundert nicht das »halsstarrige Volk«, sondern der »ungehörte Bußprediger« des Trostes bedurfte. 16 Das ist in äußerster Verkürzung das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erklärungsansätzen für die nach der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert einsetzende Flut von Erbauungsliteratur. Versteht man diese als Symptom einer Krise, bleibt zu fragen: welcher? Sträter sieht diese nicht in der zunehmenden Angst vor Krieg und Seuchen begründet, aus der sich ein Trostbedürfnis unschwer erklären ließe, sondern in der kirchlichen Verkündigung. Nicht in einer Krise der Frömmigkeit bestehe das Problem, sondern in deren Abwesenheit: »Wenn ein Thema die lutherische Kirche des 17. Jahrhunderts von Johann Arndt an durchzieht, dann ist es der Kampf gegen diese Sicherheit und Sorglosigkeit, die ohne wahre Buße und Reue, ohne Umkehr und Lebensänderung auf das Seelenheil hoffen läßt […].« Arndt selbst sei es in dieser Perspektive um Kirchenkritik und -reform gegangen, weniger um »die Erbauung trostbedürftiger Seelen«; im selben Zeitraum entsteht nun auch verstärkt »das Bedürfnis nach Modellen devotionaler Praxis und meditativer Verinnerlichung der Glaubenslehren […].« 17 Diese Modelle dürften auch in der Poesie der Zeit zu finden sein, vermutlich sogar in jenen Trostschriften, die vordergründig eine andere Funktion zu erfüllen scheinen. Diese Thesen sind nicht unwidersprochen geblieben. Johannes Wallmann hat noch einmal die triftigen Annahmen der älteren Forschung geprüft, um einen Vermittlungsversuch mit den Überlegungen Sträters zu unternehmen: »non _______ 15 16 17

Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken (wie Anm. 13), S. 953. Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen: Mohr 1995 (Beiträge zur historischen Theologie, 91), S. 21. Ebd., S. 24 und 29.

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sunt adversa, sed diversa.« 18 Zu bedenken ist, daß Erbauungsschriften ganz unterschiedlichen Frömmigkeitstypen angehören können, die kaum etwas gemeinsam haben und daher auch nicht als Ausdruck ein und derselben Erfahrung oder Mentalität beschrieben werden können. Wenn Arndt von einer »Krise des Christentums« spricht, »die noch gar nicht erkannt ist, die er erst aufdecken und zeigen muß«, 19 dann hat dieser Bußaufruf wenig zu tun mit der konkreten Situation eines Notleidenden oder Trauernden, dem Trost gespendet werden soll. Noch deutlicher, auch streitbarer hat sich Anselm Steiger gegen die »Forschungslegenden von der dogmatistisch-starren und in einer Frömmigkeitskrise steckenden Orthodoxie« gewandt und darauf hingewiesen, daß die Bußpredigt nicht auf ihre drohende Funktion zu reduzieren sei, wenn diese umgekehrt »die Menschen gerade von aller Weltangst und der Furcht, einem unabänderlichen Fatum ausgeliefert zu sein, befreien« wollte. 20 Dennoch dürfte es bei der Produktion von Erbauungsliteratur ein Gespür dafür gegeben haben, was mit dem – weiterhin explikationsbedürftigen – Begriff der Frömmigkeitskrise umschrieben worden ist. Weniger wohl auf der Seite der Rezeption. Denn welches sorglose, über Trost- und Heilsgewißheit verfügende Individuum würde freiwillig zu einer Buße und Umkehr fordernden Schrift greifen? Und wie verhielt es sich bei solchen Texten, die Affekte der Trauer auslösen sollten? Welche Motive bei der Lektüre geistlicher Lyrik im 17. Jahrhundert eine Rolle spielten, läßt sich nicht leicht analysieren. Mit Hilfe der in der Debatte genannten Stichworte – also: Trost (Abschnitt III), Buße (Abschnitt IV) und meditative Verinnerlichung der Glaubenslehren (Abschnitt V) – soll hier ein Versuch der Annäherung an die geistlichen Gedichte Dachs unternommen werden, wobei auch die Frage nach den möglichen Ursachen des Krisenbewußtseins berührt wird. Damit zurück zu dem Leichgedicht für Regina Martini, einem Beispiel zum Stichwort ›Trost‹.

III Es handelt sich um ein regelmäßig gebautes, zwanzig Strophen umfassendes Gedicht. Die ersten drei Strophen bilden ein Proömium, das, wie bereits gezeigt, die besondere Anteilnahme des Autors beschreibt. Die angeschlossene laudatio verteilt sich über vier Strophen, der eine doppelt so umfangreiche lamentatio _______ 18

19 20

Johannes Wallmann: Reflexionen und Bemerkungen zur Frömmigkeitskrise des 17. Jahrhunderts. In: Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 25–42, hier S. 28. Ebd., S. 30. Johann Anselm Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Konzepte der MelancholieTherapie im 16. und 17. Jahrhundert. Heidelberg: Manutius 1996, S. 78. – Weitere Beiträge zu der hier nur angedeuteten Kontroverse verzeichnet – aus der Sicht der Literaturwissenschaftlerin – Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der ›meditatio mortis‹ in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit, 90), S. 51–62.

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folgt. Die fünf Strophen des Trostteils werden, wie in der Gattung üblich, durch eine den Übergang anzeigende Konjunktion eingeleitet: Indessen weil ihr schöner Geist Sich vber Lufft vnd Himmel reisst Dem ewign Breutigam entgegen, Der hertzlich sich mit Ihr ergetzt, Vnd seiner thewren Liebe wegen Ihr einen schönen Krantz auffsetzt. Dort prangt sie nun in heilger zier Vnd kennet dessen nichts, was wir Für Hertzleid vnd verlangen machen, Vnd legten wir vns in den Todt, So liebt doch Sie weit andre sachen, Vnd mercket nicht auff vnser Noht. Herr Schwager, vnd Fr. Muhm, wie nu? Misgönnt ihr Ihr die seelge Rhue? Das dient nicht Gnade zu erwerben, Gebt Gott die Ehr’ vnd halttet ein, Gott lesst die Menschen beydes sterben Vnd beydes auch gebohren seyn. Die Bosheit hat sie nicht verkehrt, Die böse Welt war Ihr nicht wehrt, Drumb eilte Gott mit Ihr von hinnen. War sie an Jahren gleich nicht alt, So war sie doch schon graw an Sinnen Vnd schönen gaben mannigfalt. Gerewet etwa euch der Müh In ihrer Zucht? ihr habet Sie Erzogen Gott, vnd nicht der Erden: Wol ewig Ihr! ja wol auch Euch, Wenn ihr davor gelohnt sollt werden, Dort ewig in dem Himmelreich! 21

Die consolatio enthält eine Reihe konventioneller Argumente, die man rasch überliest, weshalb sie hier noch einmal genannt seien: Da wird die Freude der Toten mit dem Leid der Verwandten kontrastiert (»Dort prangt sie nun in heilger zier | Vnd kennet dessen nichts, was wir | Für Hertzleid vnd verlangen machen«), es wird an die Sterblichkeit aller Menschen erinnert (»Gott lesst die Menschen beydes sterben | Vnd beydes auch gebohren seyn«) und im Falle des Kindes auch daran, daß es nur eine Leihgabe Gottes 22 sei (»ihr habet Sie | Erzogen Gott, vnd nicht der Erden«); und schließlich kann, in den beiden Schlußversen, auf die Kompensation des Verlustes im Jenseits verwiesen werden. In zwei Strophen wird dazu ausführlich die Erhöhung geschildert, die das Mädchen erfährt: Christus begegnet ihr – und ihrem Alter durchaus gemäß – als Bräutigam, _______ 21 22

Dach: »Klag= und Trost=Reimchen« (wie Anm. 1), S. 126 f., hier Str. 16–20. Vgl. zu diesem Topos: Kobelt-Groch: »Freudiger Abschied Jungfräulicher Seelen« (wie Anm. 5), S. 129–135.

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der »seiner thewren Liebe wegen« ihr einen Kranz aufsetzt. Sofort vergißt sie ihr irdisches Leben und das hier nicht mehr erfüllbare Eheglück. 23 Diese dem Kind zuteil gewordene Ehre darf nun bei den Hinterbliebenen keinerlei Trauer mehr zulassen. Mehr noch: der Tod muß als besondere Gnade erfahren werden. Das stellt natürlich hohe Anforderungen an die Gefühle der Adressaten, aber auch an den Autor und seine Fähigkeit, der persönlichen Betroffenheit im Blick auf die Situation und die Rezipienten adäquaten Ausdruck zu verleihen. Genau in der Mitte der consolatio spricht Dach die Eltern direkt an: »Herr Schwager, vnd Fr. Muhm, wie nu? | Misgönnt ihr Ihr die seelge Rhue? | Das dient nicht [!] Gnade zu erwerben [.]« Der Text muß für den Leser ein Angebot schaffen, damit dieser die ungeheure Forderung der göttlichen Gnade nicht einfach ablehnt; er muß die Möglichkeit eröffnen, »aus ›Rührung‹ zu weinen« und gleichzeitig durch das Motiv der Trauer den »legitimen Sinn dieser Tränen« 24 liefern. Allein schon der Umstand, daß die Erlösung des Mädchens aus der »böse[n] Welt«, wie es in der vorletzten Strophe heißt, keine Freude bei den Trauernden auslöst, soll auf die Schwierigkeit der Gläubigen hindeuten, die von dem Gedicht geforderte Sinnstiftung zu übernehmen. Zum einen müssen die Eltern ihre Emotionen, die aus der Liebe zu dem Kind herrühren, bewältigen – das gehört auf die persönlich-affektive Seite –, indem sie zum anderen (und mit ihnen die Leser des Trostgedichts) die Nichtigkeit der Welt und ihre Abhängigkeit von Gott erkennen – das gehört zu den durch das kirchliche Lehramt verbürgten Glaubenswahrheiten, also auf die Seite des Intellekts –, durch die wir uns im Sterben erlöst wissen, ganz im Sinne der älteren ars moriendi-Lehren. 25 Nur so erscheint der Tod des Mädchens nicht als eine »paradoxe ›Strafe‹ « 26 für deren Frömmigkeit. Sollte diese Deutung zutreffen, bleibt noch hinzuzufügen, daß die in dem Gedicht Dachs vorgezeichnete Reflexion eine für die religiöse Lebenspraxis offenbar nicht selbstverständliche ist, sondern wiederholt und eingeprägt werden mußte, um diese zu überformen. Aufschlußreich ist, daß Dach in einem parallel gelagerten Todesfall vollkommen anders argumentiert. Ich komme damit zu meinem zweiten Beispiel und dem Stichwort ›Buße‹.

_______ 23

24 25

26

In der Leichenpredigt zum Tod eines Mädchens im heiratsfähigen Alter gehörte die ›Jesusminne‹ zu den beliebtesten Motiven; vgl. Anna Linton: Der Tod als Brautführer. Bridal Imagery in Funeral Writings. In: Daphnis 29 (2000), S. 281–306, bes. S. 298: »In viewing death as a ›Brautführer‹ who has come to lead the girl to her nuptial home, the poets construe death as a natural stage in the development of a Lutheran woman rather than an interruption, as the fulfilment rather than the destruction of all that was intended.« Peter-Michael Spangenberg: Maria ist immer und überall. Die Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 232. Auf die Verbindungen zwischen den populären ›Sterbebüchlein‹ und der geistlichen Lyrik verweist Ferdinand van Ingen: Vanitas und Momento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen: Wolters 1966, S. 122 ff. Spangenberg: Maria ist immer und überall (wie Anm. 24), S. 232.

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IV In dem Gedicht auf den Tod eines dreizehnjährigen Jungen wird dessen Vater erwähnt und angesprochen, nicht jedoch mit jenen komplexen Trostgründen, wie sie eben beschrieben wurden. Im Gegenteil: Der Leser wird am Beginn in einer achtteiligen Strophengruppe mit der Umkehrung aller Glaubensgrundsätze, mit einer radikal weltimmanenten Negation des Heils konfrontiert. Die beiden ersten Verse geben das Thema der im Gedicht entfalteten apologetischen Argumentation vor: »WOfern, wie Epicur bewehrt, | GOtt an den Weltbau sich nicht kehrt [.]« Es ist zwar schwer vorstellbar, daß es um 1650 in der Umgebung Königsbergs ein mondänes aristokratisches Milieu gab, in dem ein Libertinismus gepflegt wurde, wie man ihn aus dem Späthumanismus in der Romania kennt. 27 Doch der Adressat der Trost=Reime dürfte Verbindungen zu einem solchen antiklerikalen Milieu gehabt haben, da die von Dach mit Emphase formulierte Mahnung zur Glaubensfestigkeit sonst unverständlich bliebe. Bei dem in solcher Weise zur Buße Ermahnten handelt es sich um den »Land=Hoffmeister« Gottfried Freiherrn zu Eulenburg, zugleich kurfürstlicher Regimentsrat: WOfern, wie Epicur bewehrt, GOtt an den Weltbau sich nicht kehrt, Vnd nirgends auff sol Achtung geben, Es gehe seinen Raht nicht an Der Mensch mag üben was er kann Er mag gleich sterben oder leben, […] Drumb geht die Sonn auff ihrer Bahn Gesetz=loß und nach eignem Wahn, Der Mond und andre Stern imgleichen: […] Der Mensch und alles was er macht, Lässt die Vorsehung sich nicht leiten. Vnd sterben wir denn endlich hin, So bleibet weder Geist noch Sinn, Wir müssen wie ein Rauch vergehen, Die Seele sol noch übrig seyn? Das bild’ ein Mensch ihm nimmer ein, Wir werden nimmer aufferstehen. Styx, Pluto und der Höllen Hund Sind ein Geschwetz’ und blosser Fund Sind Träume die uns furchtsam machen. Die Kinder kehren sich daran, Die man erschrecken will, ein Mann Der klug ist, wird darüber lachen.

_______ 27

Vgl. Gerhard Schneider: Der Libertin. Zur Geistes- und Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1970; zur neueren Forschung Martin Mulsow: Libertinismus in Deutschland? Stile der Subversion im 17. Jahrhundert zwischen Politik, Religion und Literatur. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 37–71.

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Ist dem, Herr Landhoffmeister, so, Ist CHristus und der Glaube Stroh Vnd dürres Heu bey heissem Fewer, So wil ich nicht dawieder seyn, […]. Was ich sampt andern schreiben kan Nehmt anders nicht als Mährlein an, Denn was wird ewer Leid versüssen, Wan Christus nichts als Trug und List Vnd unsre Hoffnung eitel ist? So trettet alle Schrifft mit Füssen. Kommt diesem armen Leben ab, Legt bey den Sohn euch in das Grab Vnd seyd noch ärger als die Heyden. 28 […]

Die Konventionen der Gattung werden bewußt ignoriert, das Leichgedicht (»Legt bey den Sohn euch in das Grab«) wandelt sich zur Bußpredigt. Zwar spricht Dach auch von der äußerlich untadeligen Lebensführung des Adressaten, die auf eine entsprechende Glaubenshaltung schließen läßt; wenige Verse später wird dieser Eindruck jedoch mit einer Frage bekräftigt, die rhetorisch zu verstehen ist, womit das zuvor gespendete Lob in einem merkwürdigen Licht erscheint: »Ist nicht durch dieses gantze Land, | Herr, Ewer Wandel gnug bekant[.]« 29 Wird hier mit dem Publikum kommuniziert, folgt kurz danach noch einmal eine direkte Anrede mit der wiederholten Ermahnung, im Glauben an die Offenbarungslehren fest zu bleiben: Ich hab’ Euch nichts, Herr, vorzuschreiben, Hoff’ aber daß ihr selbst ohn mich, Denn was bin nach den andern ich? 30 Am Wort beständig werdet bleiben.

Wie immer man den »Wandel« des Regimentsrats einzuschätzen hat (die zeitgenössischen Leser werden es gewußt haben) – die Klage Dachs gilt in diesem Gedicht nicht mehr nur den Symptomen einer Frömmigkeitskrise, sondern einer gefährlicheren, an Grundsätzliches rührenden Religionskritik, die Eudämonie als ein Denk- und Handlungsmodell offeriert 31 und zugleich Vorstellungen eines gottfernen Universums bereithält. Die Hoffnung auf himmlischen Beistand oder Erlösung wird hier zur Illusion: _______ 28 29 30 31

Simon Dach: [Inc.:] »WOfern, wie Epicur bewehrt«. In: ZIESEMER IV, S. 447–450, hier S. 447 f., Str. 1–9. Ebd, Str. 10. Ebd., S. 449, Str. 21. Vgl. Claudia Schmitz: Rebellion und Bändigung der Lust. Dialogische Inszenierung konkurrierender Konzepte vom glücklichen Leben (1460 – 1540). Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit, 88); dies. und Martin Mulsow: Eigennutz, Statuserhaltung und Naturzustand: Tradierung des ethisch-politischen Epikureismus vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In: Der Garten und die Moderne. Epikureische Moral und Politik vom Humanismus bis zur Aufklärung. Hg. von Gianni Paganini und Edoardo Tortarolo. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2004, S. 47–85.

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Die Götter, spricht er [scil. Epikur]: sind zu groß Zu reich zu aller Sorgen loß, Als daß sie sollten sich beschweren Vnd Kummer nehmen für die Welt, Die Luft, so sie umbgeben hält, 32 Lässt sie an Arbeit sich nicht kehren.

Mit dem Namen des antiken Philosophen setzt Dach in die erste Verszeile (siehe oben) ein Signal, das an Luthers Charakterisierung der Freigeister unter dem Begriff des ›Epikureismus‹ erinnern soll. Der Reformator verstand darunter zunächst die Leugnung der Providenz Gottes und die der Auferstehung der Toten, schließlich die Bestreitung der gesamten Offenbarungslehre. 33 Dach nimmt dieses Schema auf, schickt ihm aber einen naturphilosophischen Entwurf voraus. Aus der Beschreibung der kontingenten Naturgewalten folgt dann die Verneinung der Vorsehung und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod: »Wir müssen wie ein Rauch vergehen, | […] Wir werden nimmer aufferstehen.« Diente die explicatio naturae in der antiken, von Diogenes Laertios überlieferten Lehre dazu, die Furcht vor dem Tod zu vertreiben, so hält Dach dem nicht einfach die christliche Auferstehungshoffnung entgegen, er argumentiert nicht Pro und Contra, sondern formuliert nur seine Skepsis hinsichtlich der Trostfunktion des epikureischen Motivs, dessen Leistungsfähigkeit einer emotionalen Prüfung unterzogen wird: So wil ich nicht dawieder seyn, Lasst Euch [scil. der Regimentsrat] mit Weh und Klagen ein 34 Rufft hierzu allem Vngehewer.

Eine Entscheidung bleibt dem Leser überlassen, sie kann nicht zweifelhaft sein. Die Erwartungen des Auftraggebers wurden durch dieses Gelegenheitsgedicht vermutlich nicht erfüllt, dafür aber ein doppeltes Ziel des Verfassers: Zur Umkehr aufzurufen und die Furcht vor einem Libertinismus zu bekämpfen, wie er in der Mitte des 17. Jahrhunderts offenbar zur Alltagswelt gehörte. Das letzte Stichwort lautet: ›meditative Verinnerlichung der Glaubenslehren‹.

V Zur privaten Andacht ist wohl kein Gegenstand geeigneter als die auf das persönliche Leben und Sterben bezogene Passion Christi. Das läßt sich auch an der Lyrik Dachs zeigen. Zwei seiner großen Passionsdichtungen sind nicht aus einem Auftrag enstanden, haben folglich auch keinen persönlichen Adressaten. Umfangreich und formal anspruchsvoll ist Dachs 1651 gedruckte Übertragung des Leidenden Christus von Carolus Malapertius (1580 – 1630), einem jesui_______ 32 33

34

Dach: »WOfern, wie Epicur bewehrt« (wie Anm. 28), Str. 2. Vgl. Hans-Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1971 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 26), bes. S. 60, Anm. 128. Dach: »WOfern, wie Epicur bewehrt« (wie Anm. 28), Str. 7.

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tischen Mathematiker und Dichter. 35 Aufschlußreich ist hier Dachs lateinische Widmung zu diesem Werk, in der er auf die Entstehung eingeht und berichtet, daß er das Gedicht zunächst zur eigenen Erbauung übersetzt habe: »praecipue in finem, ut […] miserandam imaginem cordi meo altius imprimerem.«36 Für die früher entstandene Rede [Christi], da er vor die Sünde der gantzen Welt sterben soltte (1635) gilt dies wohl nicht im selben Maße. Hier sind umgekehrt der Publikumsbezug und die wirkungsästhetischen Aspekte hervorzuheben, also die poetische inventio sowie die gesuchte metaphorische Gestaltung, in der die Verfolgung und Peinigung Christi mit einer Tierhatz verglichen wird. Dazu kommt, daß der Erlöser selbst über seine Leiden spricht, was die Intensität erhöhen soll. Ob diese Kunstgriffe geeignet waren, »die compassio des Rezipienten herauszufordern«, 37 ist aus heutiger Sicht schwer zu prüfen. Nicht zu bestreiten ist dagegen, daß es sich bei dem Gedicht um »ein Kompendium lutherischer Passionstheologie und -meditation« handelt, »das auf eine unverwechselbare Art eine Menge von diesbezüglich zentralen Topoi zusammenstellt und in poetische Sprache faßt« 38 – nicht mehr und nicht weniger, möchte man hinzufügen. Anselm Steiger hat gezeigt, wie genau der Autor die protestantische Versöhnungslehre in seinem Werk abbildet und wie groß dabei die Nähe zur Psalmen-Auslegung Luthers ist. In zehn Abschnitten (und 35 Strophen) wird das Passionsgeschehen von der exinanitio über die Kreuzigung und die oboedientia Christi bis hin zur Gerichtsankündigung geschildert. Die dogmatische Strenge im Aufbau und in der Durchführung der Passionsbetrachtung läßt vermuten, daß Dach hier eine Vorlage benutzt hat, möglicherweise Johann Gerhards Meditationes Sacrae, einen ›Klassiker‹ der lutherischen Erbauungsliteratur. 39 Wenn jedoch bereits dieser Typ von erbaulichen Schriften seinen Erfolg nicht nur dem geistlichen Gehalt, sondern der »literarischen Leistung« 40 verdankte, dann ist zu fragen, wie Dach in seiner lyrischen Adaptation der theologischen Lehrstücke nach einer Steigerung der Wirkung durch den poetischen Sprachgebrauch gesucht hat. Zu bedenken ist ferner, daß es »aufgrund der ineffabilitas der Passion Christi« notwendig erschien, eine möglichst »kunstvolle und bilderreiche Sprache zu Hilfe zu nehmen.« 41 Bei Dach wird das Leiden des von wilden Tieren verfolgten Heilands wie folgt geschildert: _______ 35 36 37 38

39 40

41

Vgl. den Beitrag von Dieter Breuer in diesem Band. Zit. nach Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin: Duncker & Humblot 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft, 3), S. 213. Ebd., S. 212. Johann Anselm Steiger: »Mein Niedrig=gehen sol Euch erheben«. Zur poetisch-meditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichtes von Simon Dach (1605 – 1659). In: Praxis Pietatis. Beiträge zur Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans Jörg Nieden und Marcel Nieden. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1999, S. 175–199, hier S. 182. Vgl. ebd., S. 189 u.ö. Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. In: Rhetorik 5 (1986), S. 97–113, hier S. 100. Vanessa Lohse: Poetische Passionstheologie. Beobachtungen zu Catharina Regina von Greiffenbergs Betrachtungen des Leidens Christi. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in

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Ich [scil. Christus] werde wie ein Hirsch geplaget, Das von den Hunden wird gejaget, Leufft schnell vnd furchtsam durch den Wald, Schreyt jämmerlich vnd suchet Hecken Sich vor den Winden zu verstecken, Vnd find doch nirgends Auffenthalt. Die Hunde wollen nicht ablassen, Vnd meinen jetzt nur anzufassen, Das arme Wild ist über das Auch von der Schlangen wund gebissen, Vnd sehnet sich nach kühlen Flüssen, Bis daß es fellet müd’ vnd laß. […] Hie werd’ ich durch den Stich der Schlangen Am Holtze werden auffgehangen, Hie wird das Opfer abgethan, Daß alle Welt von ihren Sünden Sol ledig machen vnd entbinden, 42 Hie stirbt der rechte Pelican.

Auch in den folgenden Strophen werden die gewagten Vergleiche virtuos eingesetzt. Das erzeugt überraschende Effekte, welche die Zuhörer – wir haben es mit einem Lied zu tun – als unterhaltsam empfunden haben dürften. Zu fragen bleibt jedoch, ob das Verfahren dieser affektbetonten Poesie tatsächlich einer Verinnerlichung der Kreuzestheologie diente. Viel eher ist zu vermuten, daß der Leser hinter der sprachlichen Artistik und der ebenso detailfreudigen wie abstrusen Beschreibung des Jagdgeschehens eine »spirituelle Leere gespürt« 43 haben dürfte. Es finden sich jedoch auch einfachere Formen, die Dach speziell zur meditativen Andacht verfaßt hat – auch auf Bestellung. Ich erwähne nur das für »Hn. Zacharias Kröhlen bey seinen gesunden Tagen schon auff sein Begehren« geschriebene Lied »Freu, meine Seele, dich«. An zentraler Stelle des Gedichts wird der meritorische Aspekt des Passionsgeschehens hervorgehoben und damit der Grund genannt, weshalb ein Individuum, das dieses Geschehen auf das eigene Leben bezieht und derart gerechtfertigt an diesem partizipiert, sein Heil findet; neben dem satisfaktorischen Aspekt erhält das Passionsgeschehen hier _______ 42 43

der Frühen Neuzeit. 2 Bde. Hg. von Johann Anselm Steiger. Wiesbaden: Harrassowitz 2005 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 43), Bd. 1, S. 289–299, hier S. 297. Simon Dach: »Christi Rede, da er vor die Sünde der gantzen Welt sterben soltte.« In: ZIESEMER III, S. 18–22, hier Str. 11 f. und 14. Burghart Wachinger: Die Passion Christi und die Literatur. Beobachtungen an den Rändern der Passionsliteratur. In: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen: Niemeyer 1993 (Fortuna Vitrea, 12), S. 1–20, hier S. 14 (am Beispiel einer Passionspredigt aus dem 14. Jahrhundert, wo mit einem ähnlichen Aufwand an Bibelzitaten die Phasen einer Hirschjagd auf die Passion gedeutet werden).

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»auch das monitum: den Bezug auf das christliche Leben.« 44 Von dieser ›Freude‹ vermittelt das Gedicht Dachs einen lebhaften Eindruck: FReu, meine Seele, dich, Dein Abschied nähert sich, Der HERR wird jetzund kommen, Hab’ unbesorgten Wahn, Es ist im huy gethan So bist du hingenommen. Wie ich umb Abends=Zeit Mich leg’ auff eine Seit, Vnd gantz nicht kan besinnen, Wenn mich der Schlaff befällt, Nicht anders schickt die Welt Vns durch den Tod von hinnen. So ist des Glaubens Grund, Dein höchster Trost, dir kunt, Daß Christus zwar gestorben, Doch aufferstanden sey, Vnd uns durch solche Treu 45 Das Leben hab’ erworben.

_______ 44 45

Gerhard Hahn: Die Passion im geistlichen Lied. In: Die Passion Christi in Literatur und Kunst (wie Anm. 43), S. 297–319, hier S. 310. Simon Dach: [Inc.:] »FReu, meine Seele, dich«. In: ZIESEMER III, S. 226; der Adressat zitiert nach ebd., S. 486 (Nr. 173).

Johann Anselm Steiger

Simon Dachs geistliche Dichtung und die Poiesis des himmlischen Jerusalem

I Simon Dach, 1 Kopf des sogenannten Königsberger Dichterkreises, war Prediger als Dichter. ›Studienabbrecher‹ zwar, aber theologisch profund gebildet und vor allem durch die Sprachwelt der Heiligen Schrift zutiefst geprägt war er. Das Studium der Bibel und deren Verdichtung, ihre Umsetzung in poetische Sprache und Gesang, hat er nie abgebrochen. Nach seinem Studium in Wittenberg und Königsberg wurde Dach Hauslehrer, dann Lehrer an der Domschule in Königsberg (1633) sowie deren Konrektor (1636 – 1639) und schließlich Professor für Poesie an der Universität (1639). Das Werk, das Dach hinterlassen hat, wird man als riesig bezeichnen dürfen – quantitativ und qualitativ. Kurz bevor Königsberg gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu dem wurde, was Dach geradezu prophetisch in seiner Kürbs=Hütte 2 beschrieben hat (»Wie liegt hie alles _______ 1

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Vgl. zu Dach Ulrich Maché: (sub verbo). In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 2. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1989, S. 505 ff. (Lit.); Erich Trunz: Simon Dach. In: Deutsche Schriftsteller im Porträt. Das Zeitalter des Barock. Hg. von Martin Bircher. München: Beck 1979, S. 56 f. (Kupferstich-Porträt); C[arl] J[ohann] Cosack und Karl Johannes Hermann Jacoby: (sub verbo). In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3., verb. und verm. Aufl. Bd. 4. Leipzig: Hinrichs 1898, S. 395–401; Lebensbilder der Liederdichter und Melodisten. Bearb. von Wilhelm Lueken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957 (Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch, 2/1), S. 175 f.; Friedrich Wilhelm Bautz: (sub verbo). In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 1. Hamm: Bautz 1976, Sp. 1189 ff. (Lit.); Karl Eibl: Simon Dach (1605 – 1659). In: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren. Hg. von Dietrich Rauschning und Donata von Nerée. Berlin: Duncker & Humblot 1994 (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., 29), S. 103–108. – Bibliographie der Forschungsliteratur und Textausgaben in: KELLETAT, S. 305–313 (vgl. als Ergänzung hierzu die Literatur-Angaben bei Bautz und Dünnhaupt). Zu beachten v.a. auch das Nachwort Alfred Kelletats, ebd., S. 331–420, der u.a. auf die Vita Dachs eingeht (S. 297 sowie S. 340 ff.). Die zeitgenössischen Dach-Drucke bibliographiert: Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2., verb. u. wesentlich verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Teil 2. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher, 9), S. 998–1255 (Sekundärliteratur ebd., S. 997 f.). Vgl. hierzu Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2., durchges. Aufl. München: Beck 1982. Zuerst in: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von Albrecht Schöne. München: Beck 1976, S. 599–660 (hiernach wird im folgenden zitiert).

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doch so plötzlich vmbgekehrt, | Recht wie ein wilder Feind wo eine Stadt verheert | Vnd auf den Grund geschleifft!«), 3 und kurz bevor ein großer Teil des gedruckten und handschriftlich überlieferten Oeuvres Dachs in Flammen aufging, hat Walther Ziesemer, Herausgeber der in den Jahren 1936 – 1938 erschienenen, bislang umfänglichsten Textausgabe, Dachs literarisches Schaffen – wenngleich unter Ausschluß der lateinischen Dichtung – für die Nachwelt konserviert. 4 Zu Dachs Dienstpflichten als Professor für Poesie gehörte es unter anderem, Gelegenheitsgedichte 5 zu verfassen, nicht zuletzt aus Anlaß einer großen Menge von Todesfällen, 6 den Hinterbliebenen poetisch Trost (consolatio) zu spenden, mithin die Wirkfunktion, die der Leichenpredigt eigen ist, in ein anderes literarisches genus zu übertragen. In diesen Gedichten nun ist nicht nur auffällig häufig von der biblischen Verheißung der Herabkunft des himmlischen Jerusalem die Rede. Vielmehr verarbeitet Dach eine große Anzahl von im eschatologischen Sachzusammenhang einschlägigen Bibeltexten, und seine im höchsten Maße kunstvoll gewirkten Gedichte verraten eine profunde Kenntnis der Behandlung der sog. vier letzten Dinge sowohl im Kontext der zeitgenössischen Dogmatik als auch in der Erbauungsliteratur.

II Blicken wir zunächst darauf, wie Dach sein poetisches Amt innerhalb einer Selbstreflexion seines Tuns zur Sprache gebracht hat: WAs thu ich? schreib ich oder nicht? Man hat mir newlich mein Geticht, Ist mir es recht zu Ohren kommen, Zu sehr verächtlich mitgenommen,

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Simon Dach: »Klage über den endlichen Vntergang vnd ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens.« In: ZIESEMER I, S. 91–96, hier S. 93, V. 101 ff. Aufgrund der mittlerweile erzielten Fortschritte bezüglich der bibliographischen Erschließung des Werks Dachs erscheint eine Ergänzungsausgabe zur Ziesemerschen Edition in der Tat als ein dringendes Desiderat. Vgl. Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ospreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier S. 962. Vgl. zur Gattung z.B. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977; Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147, hier zu Dach S. 116–123; Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin: Duncker & Humblot 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft, 3), S. 199– 229 u.ö. Zu Dachs poetischer Anmahnung einer Gehaltszahlung vgl. Wilhelm Kühlmann: Bevor es die IG Medien gab. Zu einem Gedicht von Simon Dach. In: Ders.: Literarische Miniaturen. Heidelberg: Manutius 1996, S. 17–20 (zuerst in: FAZ Nr. 116, 19.5.1990). Vgl. Simon Dach: »Schuldiges Gedächtniß.« In: ZIESEMER IV, S. 117 ff., hier S. 118 (Str. 12): »Ich schreibe von des Todes Macht | Schier alle Stunde Tag und Nacht, | Mein Reim=Brunnen wil mir nicht mehr taugen, | Die Adern sind fast alle leer, | Die Hände werden mir zu schwer, | Kein Thrän ist mehr in meinen Augen.«

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Vor erbarn Ohren trag ich schew Zu melden wo es gut zu sey, Was grösser Schmache kan auff Erden Der edlen Kunst erwiesen werden? Die von dem Höchsten selber rührt Vnd Geist vnd Himmel mit sich führt, Die bleiben wird in jenem Leben, 7 Die hie dem Tod’ vns kan entheben[.]

Hieran wird deutlich: Die poetische Sprache ist nach Dach keineswegs nur eine Artikulationsform des Trostes und des göttlichen Worts unter anderen. Vielmehr kommt der Dichtkunst höchste Würde zu, weil sie – hierin dem Predigtamt in nichts nachstehend – von Gott selbst gestiftet worden ist. Aber mehr noch: Mögen andere Künste am Jüngsten Tage unnötig und überflüssig werden, da die letztgültige illuminatio der menschlichen Vernunft die ursprünglichen Seelenkräfte des Menschen nicht nur wiederherstellen, sondern ungeahnt perfektionieren wird und vieles, was hier und jetzt noch mühsam erforscht, gelehrt und gelernt werden muß, zur selbstverständlichen Kompetenz werden wird, so gilt dasselbe mitnichten von der ars poetica. Sie nämlich hat im Kontext der ewigen himmlischen Liturgie ihren festen Platz und in David, dem vom Geist Gottes inspirierten Poeten der Psalmen – so Dach – ihren höchsten Lehrer.8 Nach 1 Kor 13 wird die endzeitliche Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht, 9 also die beata visio Dei, die Johann Gerhard »ëŵüøĀŤë Dei« 10 nennt, prophetiae, linguae und scientia unnötig werden lassen (1 Kor 13, 8) und eine Destruktion derselben nach sich ziehen, weil nun eine andere Qualität von Erkenntnis gestiftet ist, die ihren Grund darin hat, von Gott erkannt zu sein (1 Kor 13, 12), so daß die Bruchstückhaftigkeit menschlicher Erkenntnis und Wissenschaft ein Ende hat (1 Kor 13, 9 f.) 11 und durch eine im höchsten Maße perfekte Theognosie und Theosophie abgelöst wird, 12 worin die endgültige Restitution der imago Dei 13 _______ 7 8 9

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Dach: »Klag= und Trost=Gedichtchen.« In: ZIESEMER IV, S. 78 ff., hier S. 78 (Str. 1 ff.). S. u. S. 377 ff. Vgl. Leonhart Hütter: Compendium locorum theologicorum ex Scripturis Sacris et Libro Concordiae, lateinisch – deutsch – englisch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des Compendium versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Teilbde. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2006 (Doctrina et Pietas II, 3), S. 622: »Ergoné statuis Beatos visuros Deum sicuti est? Maximè: Haec enim praecipua pars erit beatitudinis nostrae, quòd à facie ad faciem videbimus Deum, & tam essentiam, quàm voluntatem ipsius, non modò perfectè cognoscemus, sed & summo cum desiderio ac voluptate exequemur. 1. Cor. 13, 12. Videmus nunc per speculum in AEnigmate: tunc autem à facie ad faciem. 1. Joh. 3, 2. Filioli, nunc Filii Dei sumus: sed nondum apparuit, quid erimus. Scimus autem, quòd cùm apparuerit, similes ei erimus: quoniam videbimus eum, sicuti est.« Johann Gerhard: Loci Theologici [...]. Hg. von Eduard Preuß. 9 Bde. Berlin: Schlawitz; Leipzig: Hinrichs 1863–1875, hier Bd. 9, 357b. Ebd., 356b–357a. Vgl. ebd., 357a. Zur poetischen Verarbeitung dieser Thematik bei Dach vgl. Johann Anselm Steiger: Der Mensch in der Druckerei Gottes und die imago Dei. Zur Theologie des Dichters Simon Dach (1605 – 1659). In: Daphnis 27 (1998), S. 263–290.

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kulminiert. Typologisch vorgebildet wird diese mit der glorificatio einhergehende Stiftung von himmlischer Erkenntnisfähigkeit in der Erzählung von der Verklärung des Sohns Gottes, die es unter anderem mit sich bringt, daß Petrus ohne vorherige Unterrichtung die auf dem Berge erscheinenden Gestalten treffsicher als Mose und Elia identifiziert (Mt 17, 4; Lk 9, 33). 14 Die letztgültige Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit 15 gründet nach Gerhard darin, daß das Schauen durch den Spiegel sowie die enigmatische Erkenntnis (1 Kor 13, 12), mithin die visio Dei specularis bzw. visio reflexa, ein Ende finden werden, um der visio intuitiva seu directa 16 von Angesicht zu Angesicht Platz zu machen, wodurch die Schauenden selbst zu Spiegeln der göttlichen essentia und deren Herrlichkeit werden. 1 Kor 13, 13 zufolge »bleibt«, wie Luther singularisch und somit sachlich zutreffend übersetzt, um die Zusammengehörigkeit dessen, was bleibt, sichtbar werden zu lassen, »Glaube/ Hoffnung/ Liebe/ diese drey«. Dach geht einen Schritt weiter, indem er die Poesie als solche apostrophiert, die ebenfalls bleibt, was keineswegs im Gegensatz zu Paulus steht, denn: Wie anders als eben poetisch sollen sich fides, spes und caritas – und gerade die Letztgenannte, die ja »die grössest vnter jnen« (1 Kor 13, 13) ist – denn sprachlich vernehmbar machen? Kurz: Die Prophetie hat im himmlischen Jerusalem keine Bedeutung mehr, weil alles erfüllt sein wird, wohl aber die Poesie, in der allein sich sprachlich alles erfüllen kann, weil sie sich (und dies schon vor der Zeit) einen Reim auf das machen kann, was ehedem ungereimt erschien, Verheißung und Erfüllung konkordant zusammenbringt, mithin auch die Prophetie aufbewahrt und die erfüllte Verheißung in angemessener sprachlicher Fülle verbalisiert. Wo die irdisch-vorläufige visio Dei specularis seu reflexa in die visio Dei intuitiva a facie ad faciem überführt wird, also Spekulation und Reflexion alten Stils zu ihrem Ende kommen und die Intuition anhebt, bedarf es auch eines neuen sachgemäßen Sprachgestus – eben des poetischen. Daß nach 1 Kor 13, 8 die linguae abgetan werden, ist indes nicht dahingehend zu verstehen, daß in der ewigen societas beatorum Nonverbalität und Quietismus herrschen – im Gegenteil. Laut Gerhard ist der unaufhörliche Lobgesang der angemessene (poetische!) Sprachgestus der beati. 17 Und auch die Kommunikation derselben über die endzeitlich eröffneten mysteria der Trinität, der göttlichen Prädestination, der Pas_______ 14

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Vgl. Hütter: Compendium locorum theologicorum (wie Anm. 9), S. 624: »Deinde exemplum hujus rei videre licet in historia transfigurationis Christi: Ubi Petrus statim cognovit Mosen & Eliam, nunquam antehac visos: cùm exiguum tantùm gustum vitae aeternae perciperet, Luc. 9, 32. & 33.« Vgl. ebd., S. 622/624: »Nam in altera illa vita restaurabitur plenissimè imago illa Dei, ad quam primus homo erat conditus, quae inter reliqua, perfectam etiam sapientiam & cognitionem in se continebat. Quemadmodum ergo Adamus, vi imaginis hujus statim cognovit Evam, quam priùs non viderat: ita & nos virtute imaginis hujus in nobis restauratae, cognoscemus singulos & universos, quantumvis hac in vita nobis neque visos neque cognitos.« Vgl. Gerhard: Loci Theologici (wie Anm. 10), Bd. 9, 396b, 398b und 399a. Vgl. ebd., 406b.

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sion Christi etc. 18 setzt eine sprachliche Artikulationsfähigkeit der Auferstandenen ja notwendig voraus. 1 Kor 13, 8 und die pluralische Formulierung, wonach die Sprachen ein Ende haben werden, legt Gerhard dahingehend aus, daß es im himmlischen Jerusalem nur noch eine Sprache, nämlich die hebräische geben wird, 19 mithin die Ursprache, deren sich Gott von Anfang an bedient hat und die im Paradies gesprochen wurde, wohingegen die »diversitas linguarum« 20 ein Epiphänomen des babylonischen Turmbaus und der auf ihn folgenden Sprachverwirrung ist. Wenn Dach den Gesang des psalmodierenden David als Mittel- und Bezugspunkt himmlisch-poetischer Sprachlichkeit schlechthin definiert, 21 so deckt sich dies mit dem im dogmatischen Kontext Abgehandelten. Ist also die Dichtkunst nach Dach die eschatologische ars schlechthin, so gilt umgekehrt, daß sie im Hier und Jetzt ihre Aufgabe darin hat, einen Vorschmack, eine praegustatio, zu geben auf das, was dereinst sich endgültig offenbaren wird. Der Dichter hat also dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Poesie »Geist vnd Himmel mit sich führt«, 22 das heißt den glaubenden Menschen schon jetzt den von Tod, Sünde und Verderben geprägten Lebensbezügen zu entreißen fähig ist und sprachlich die resurrectio carnis Gestalt werden läßt vor der Zeit (»Die hie dem Tod’ vns kan entheben«). 23 Oder mit den letzten beiden Versen von Dachs Kürbs=Hütte formuliert: »Es ist kein Reim, wofern ihn Geist vnd Leben schreibt, | Der vnß der Ewigheit nicht eilends einverleibt.« 24 Somit rückt Dach die geistliche Dichtkunst auf dieselbe Ebene wie die ars concionandi, die »der Hellen Pforten« (vgl. Mt 16, 18) und »des Todes Macht« in der Verkündigung des Evangeliums überwindet: Poesie und Predigt sind ebenbürtig, ja erstere eine Artikulationsform der letzteren. Bei Dach verlängert sich demnach Luthers Überzeugung in die geistliche Poetik hinein, wonach ein Christenmensch geistlich bereits im Reiche Gottes, seiner menschlichen Natur nach jedoch, soweit sie den alten Adam und die Sündhaftigkeit an sich trägt, noch Teil der alten Kreatur ist. Erst in diesem Zusammenhang wird die Tragweite dessen deutlich, was Dach, Gott anredend, sagt: »Denn wir sind dir beydes hier | Frembd’ und Reichsgenossen.« 25 Mit dieser Definition der Dichtkunst steht Dach in der Barockzeit keineswegs allein. Vergleichbar hiermit haben Johann Rist (1607 – 1667) 26 sowie die _______ 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. ebd., 379b. Vgl. ebd., 406b–407a. Ebd., 406b. S. u. S. 377 ff. Dach: »Klag= und Trost=Gedichtchen« (wie Anm. 7), V. 10. Ebd., V. 12. Dach: »Klage über den endlichen Vntergang […] der Musicalischen Kürbs=Hütte« (wie Anm. 3), S. 96, V. 229 f. Dach: [Inc.:] »HErr, wir wallen sämptlich dir«. In: ZIESEMER III, S. 361 f., hier S. 361, V. 3 f. Vgl. Johannes Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis/ Jn sich begreiffend Die allerfürtreflichste Sprüche der heiligen Schrifft/ Alten Testaments/ Jn gantz Lehr= vnd Trostreichen Liederen und HertzensAndachten [...]. Lüneburg: Stern 1660, Bl. d 2r: »Jhr himlische Tichter [...] wollet ihr dem Himmel von Tage zu Tage noch mehr gleich und ähnlich werden/ so entschlaget euch/ so viel nur immer müglich/ aller weltlichen Eitelkeiten/ netzet

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Nürnberger Pegnitzschäfer Johann Klaj (ca. 1616 – 1656) und Sigmund von Birken (1626 – 1681) die Dichtung als einen Prozeß bezeichnet, innerhalb dessen der Dichter aus der Heiligen Schrift wie aus einer Quelle schöpft und den biblischen Sprachduktus imitiert. Indem der Poet die Sprache Gottes nachspricht, schöpferisch tätig wird und den creator mundi, den höchsten und ersten ʌȠȚȘIJȒȢ 27 nachahmt, vollzieht sich – so Klaj – die Restitution der imago Dei sowie die Erhebung des Dichters in Engelssphären. 28 Durch die fides poetica, in der der eschatologische Lobgesang jetzt schon hörbar wird, und durch die geistlich-poetische Kreativität schafft sich Gott eine neue Kreatur. So betrachtet ist Klajs sog. Engeltheorie keineswegs singulär, sondern vielmehr eine zugespitzte Variante der weitverbreiteten Rede von der Erhebung des Menschen vermittels von Poesie. Hält man die dogmatische sowie die erbauungsliterarische Beschäftigung mit den Eschata neben Klaj, so wird deutlich: Klaj variiert den verbreiteten Konsens, dem zufolge sich im Prozeß geistlicher Dichtung eine Vorwegnahme des für die Endzeit Verheißenen vollzieht, dahingehend, daß er besonderes Augenmerk auf einen Topos richtet, der innerhalb der Lehre von der glorificatio der Auferstandenen abgehandelt wird. Die endzeitliche Verherrlichung, so heißt es, wird die Glaubenden den Engeln nicht nur assoziieren, sondern sie (nach Mt 22, 30) zu ūûƼññïõøó machen. 29 Nichts anderem als dieser Angelisierung sowie der himmlischen Musikalität greift die geistliche Dichtung vor. Somit befindet sich Klajs ›Engeltheorie‹ keineswegs, wie behauptet worden ist, im Gegensatz zu »protestantischer Anschauung«, 30 ist vielmehr umgekehrt ohne diese weder möglich noch zu verstehen. _______

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eure Federn in den Ströhmen/ welche aus dem Paradys Gottes fliessen/ und schreibet dem Schöpfer zu Ehren/ und zu Erbauung seiner Kirchen nur solche Bücher/ welche nach dem Himmel schmekken.« Vgl. Johann Klaj: Redeoratorien und Lobrede der Teutschen Poeterey. Tübingen: Niemeyer 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 4), S. [388]. Vgl. hierzu Conrad Wiedemann: Johann Klaj und seine Redeoratorien. Untersuchungen zur Dichtung eines deutschen Barockmanieristen. Nürnberg: Carl 1966 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft, 26), S. 65–72, und ders.: Engel, Geist und Feuer. Zum Dichterselbstverständnis bei Johann Klaj, Catharina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin: Schmidt 1968, S. 85–109. Vgl. Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch. Kritisch hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Johann Anselm Steiger. 2 Bde. StuttgartBad Cannstatt: frommann-holzboog 2000 (Doctrina et Pietas I, 3), S. 249 f.: »DEvota anima non debes amare vitam fugientem sed potius permanentem. Eò ascende per desiderium, ubi juventus sine senectute, vita sine morte, gaudium sine tristitia, regnum sine commutatione. Si delectat te pulcritudo, justi fulgebunt sicut Sol; si velocitas aut fortitudo, electi erunt similes Angelis Dei; si longa & salubris vita, ibi sana est aeternitas & aeterna sanitas; si satietas, satiabuntur electi cùm apparuerit Domini gloria, si melodia, ibi Angelorum chori concinunt sine fine«. Vgl. Conrad Dieterich: Institutiones Catecheticae. Leipzig: Schürer und Götze [1640] (Privatbes.), S. 631. Wiedemann: Engel, Geist und Feuer (wie Anm. 28), S. 89: »Seine [scil. in diesem Fall: Birkens] Metaphorik des Herabströmens und Wiederaufsteigens bleibt im übrigen spezifisch neuplatonisch und will protestantischer Anschauung einigermaßen schwer ein.«

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III Das Amt des Dichters besteht – wie wir sahen – nach Dach darin, den Menschen aus der Sphäre des alten Äon herauszureißen und ihn proleptisch schon jetzt in himmlische Kontexte zu versetzen. Gerade darum kommt dem biblischprophetischen Erzählzusammenhang vom neuen, himmlischen Jerusalem bei Dach eine zentrale Bedeutung zu. So wie der Seher Johannes von Patmos im Anschluß an die alttestamentliche Prophetie seine Leser an seiner Vision teilhaben läßt, ihnen einen Blick in die himmlische Heimat vergönnt und die detaillierte Beschreibung der Herrlichkeit der endzeitlichen Gottesstadt, rhetorisch betrachtet, einer sub oculos subjectio gleichkommt, die im Geiste gegenwärtig werden läßt, was noch aussteht, so ist es auch Dach darum zu tun, dem Christenmenschen sein himmlisches Heimatrecht vor Augen zu führen, ja ihn visionär-poetisch zu entführen in diese neue und letzte Heimat. Nur weil Dach mit Luther die Doppelexistenz des Christenmenschen ernstnimmt, der geistlich betrachtet als Gerechtfertigter bereits vom Tode auferstanden ist, zugleich aber noch der leiblichen resurrectio harrt, mithin einem Pilger gleichzuachten ist, der fern der Heimat im »Pilger=Land« 31 wallt und doch schon – jedenfalls geistlich – in ihr ist, kann es in einem anderen Gedicht Dachs, das sich ebenfalls um das neue Jerusalem dreht, heißen: HErr, wir sehnen da uns hin, End uns dieses Pilger=Leben, Laß von hier sich unsern Sinn Stets hinauff erheben, Bis nach unserm Tode wir Gar bey Dir 32 Ohn auffhören schweben.

Insofern gilt von allen Menschen, was Dach anläßlich der Geburt seines Sohns Christoph so formuliert: Du bist ja hier, mein Sohn, des Höchsten Gab und Seegen, Die Mutter, der du vor warst eine schwehre Last, Hat ihrer Treuen Pfand, dich, hertzlich nun umfasst Vnd ist allein bemüht, dich an die Brust zu legen. Wird aber dein die Welt, dies Elend, auch so pflegen? Mit nichten! Du bist hier ein Pilgrimm und ein Gast. Das Beste, das du hier stets zu gewarten hast, 33 Ist Arbeit, Müh und Noth, ist Hagel, Blitz und Regen.

Nach Luther wendet der Glaube, der es an sich hat, gegen den Augenschein zu glauben, den Blick von den weltlichen, leiblichen und irdischen Dingen ab und erhebt sich im Geiste und im Sinne des sursum corda in himmlische Gefilde. _______ 31 32 33

Simon Dach: »Wander=Lied.« In: ZIESEMER III, S. 66, V. 1. Dach: [Inc.:] »HErr, wir wallen sämptlich dir« (wie Anm. 25), Str. 6. Simon Dach: »Bey der Geburt seines Sohnes Christoph Dach.« In: ZIESEMER III, S. 77 f., hier Str. 1 f.

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»Das macht der glaube, der die augen gewand hat von dem leiblichen ansehen und fülen nach dem fleisch hinauff jnn jenes leben und dem selben nach gedacht.« 34 Genau dies löst Dach poetisch ein, so etwa, wenn er das soeben zitierte Gedicht für seinen Sohn folgendermaßen abschließt: Nur der, so stets hinauf in seine Heymath schaut, Nach Gott, und sich in ihm sein wahres Erbtheil baut, 35 Wird hier in Unlust Lust und Ruh in Unruh finden.

Ähnlich sieht auch Johann Gerhard den dogmatischen locus ›De vita aeterna‹ dort im Sinne des »usus ʌĮȡĮȚȞİIJȚțȩȢ« 36 zu seinem Ziel kommen, wo sich die Seele im meditativen Gespräch mit sich selbst zu einem Aufstieg in die endzeitliche Heimat auffordert: »Adscende ergo eo per desiderium, non enim sumus mundi incolae, sed advenae.« 37 In Gerhards detaillierter, meditativ-kontemplativer Beschreibung der eschatologischen Heimat, die auf diese exhortatio folgt, wird greifbar, wie sich die systematisch-theologische Analyse des letzten Glaubensartikels im Medium der applicatio desselben an die Gebets- und Meditationssprache zurückgibt und hier erst zu ihrer eigentlichen Zweckbestimmung kommt. Genau diese Programmatik nun löst Dach poetisch ein, woran erkennbar wird, daß die sich den Eschata zuwendende geistliche Dichtung an dem Punkt einsetzt, wo die dogmatische Reflexion aufhört, wobei umgekehrt Dachs poetisch-meditative Vision des neuen Jerusalem ständig auf die lutherisch-orthodoxe Dogmatik rekurriert, was unter anderem auch daraus erhellt, daß er sich genau auf diejenigen biblischen Texte bezieht, die auch in letzterer eine prominente Rolle spielen. Die geistliche Dichtkunst hat also die Aufgabe, den Glaubenden an die Hand zu nehmen und ihn himmelwärts streben zu lassen. Daß Dach mit diesem eschatologisch-poetischen raptus keineswegs alleine steht, verrät unter anderem Johann Matthäus Meyfarts Jerusalem-Lied: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir! Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir; weit über Berg und Tale, weit über blaches Feld schwingt es sich über alle 38 und eilt aus dieser Welt.

Bei Andreas Gryphius vollzieht sich ebenfalls auf poetische Weise eine ascensio, innerhalb deren der Anbruch des Jüngsten Tages proleptisch erfahrbar _______ 34

35 36 37 38

Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. (Weimarer Ausgabe.) Weimar: Böhlau 1883 ff. (fortan zit.: WA), hier: WA 45, 639, 27 ff. (»Das 14. und 15. Kapitel S. Johannis«, 1537 f.). Dach: »Bey der Geburt« (wie Anm. 33), Str. 4. Gerhard: Loci Theologici (wie Anm. 10), Bd. 9, 424b. Ebd., 425b. Evangelisches Kirchengesangbuch 320, 1.

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wird (»Jch schaw/ ach! ach/ der Tag bricht an!« 39 ), was zur Folge hat, daß die Tränen über irdisches Leid nun erscheinen als das, was sie eigentlich sind, nämlich als Freudentränen, wobei hierin vor der Zeit das Abwischen aller Tränen (Offb 21, 4) konkret erfahrbar wird. Die meditativ-poetische, zugleich visionäre Aufwärtsbewegung, durch die sich der Glaube bereits in die himmlische Heimat versetzt, kommt einem weder dem Traum noch dem Wachsein eindeutig zuzuordnenden Seelenzustand gleich (»Ach nein! mir traumt ach nein ich wache!«), was Gryphius auch als »süsse[n] wahn« bezeichnet, also als einen furor spiritualis, der von der hier bereits geistlich erfahrbaren Herrlichkeit auf die höhere der himmlischen Existenz schließt: O alzu süsser wahn! was bild’ ich mir doch eyn? Jch fühle ja daß ich noch muß in schmertzen seyn! Ach/ kan die Hoffnung mich so ohne maß’ ergetzen! 40 Wie frölich werd’ ich seyn/ wenn GOTT mich wird entsetzen.

Kontrastierend zu dieser Aufwärtsbewegung jedoch vollzieht sich in solch poetischer Entsetzung und Ekstase, deren Movens nichts anderes ist als das verbum Dei, zugleich eine umgekehrte Bewegung: die vorweggenommene Abwärtsbewegung und Herabkunft des neuen Jerusalem, von der die Offenbarung des Johannes spricht (Offb 21, 2.10). Dies wiederum rückt die geistliche Dichtung in die Nähe der Musik, die ebenfalls eine vorzeitige, wenngleich vorübergehende Vergegenwärtigung des Eschaton bewerkstelligt. Dies wird deutlich, wenn Dach die Violine nicht nur als eine Beherrscherin der Affekte bezeichnet, die die Menschen lachen macht, wenn sie lacht, und klagen, wenn sie klagt, 41 sondern zudem, den musikalischen Einbruch der Ewigkeit in die Zeit ahnend, fragt: Sag ist er menschlich dein Gesang, Vnd rührt der angenehme Klang 42 Zu uns herab aus jenem Leben?

Es wäre ein grobes Mißverständnis, zu meinen, christliche Eschatologie habe es zu tun mit dem Glauben an eine ewige Fortdauer menschlicher Existenz im Jenseits oder in der Transzendenz. Vielmehr ist dies im Kontext des letzten Glaubensartikels das Entscheidende: Daß die Transzendenz in die Immanenz einbricht, das Jenseits sich diesseits offenbart und wirklich wird, so wie – jedenfalls reformatorisch betrachtet – die Erlösung des Menschen nicht zuvörderst dadurch bewerkstelligt wird, daß Gott den Menschen in seine Sphäre hinaufzieht und der Theosis entgegenführt, indem er ihn attrahiert, sondern dadurch, daß Gott sich in Christus entäußert, Mensch wird, den Tod und das Gericht Gottes erleidet, um so und hier, also in der Immanenz, die Verderbens_______ 39

40 41 42

Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. 8 Bde. und 6 Ergänzungsbde. Tübingen: Niemeyer 1963–1987, hier Bd. 4: Trauerspiele I. (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 12), S. 48. Ebd. Vgl. Dach: »Schuldiges Gedächtniß« (wie Anm. 6), V. 13 ff.: »Du hast mein Hertz in deiner Macht, | Ich lache wird von dir gelacht, | Vnd klage hebst du an zu klagen.« Ebd., V. 22 ff.

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mächte zu überwinden. Die endzeitliche Abwärtsbewegung des himmlischen Jerusalem bildet diese Kenosis Gottes in seinem Sohn ab und durchkreuzt sämtliche Jenseitsspekulationen und -träumereien, denen die Bodenhaftung der exinanitio als nicht nur in christologischer, sondern auch in eschatologischer Hinsicht zentraler Kategorie fehlen.

IV Diese soeben beschriebene Doppelbewegung zu vollziehen – hierin besteht die poetisch-eschatologische Programmatik Dachs. Sie läßt sich besonders gut an dem Trostgedicht beobachten, das Dach 1648 aus Anlaß des Todes des Königsberger Ratsherren Dietrich Schwartz (* 20. März 1572) verfaßt hat. Das Gedicht setzt ein mit einem Bericht darüber, daß Schwartz einige Zeit vor seinem Tode in einem Traum bereits Einblick in das ihm verheißene himmlische Leben genommen und eine praegustatio (»vor=zu=schmecken«) erfahren hat, die so intensiv war, daß er, vom Schlaf erwacht, seiner Verwunderung Ausdruck verleiht darüber, daß er noch nicht endgültig dort ist, wo er im Traume schon fest glaubte zu sein. Die vorzeitige Vergegenwärtigung des status gloriae (»der auserwehlten Stand«) im Traum Schwartzens läßt Dach in seinem Gedicht hörbar werden, indem er den Verstorbenen in direkter Rede auftreten läßt: [4] Wie? sprach er: werd’ ich in der Welt Vnd meinem Jammer noch befunden? Ich hielte mich schon in das Zelt Der ewign Herrlicheit entbunden. [5] Ach Gott, was Frewd’ hab ich erkant! Was Lieblicheit! was schönes Wesen! Fürwar der auserwehlten Stand Im Himmel ist recht auserlesen. [6] Wie taug doch nicht der Erden Zier Ihm im geringsten bey zu kommen, Wenn werd ich endlich doch von hier Zu meinem Gott hinauff genommen? [7] Es wehret’ auch nicht lange Zeit, Sein schöner Wunsch ist ihm geworden, Ein süsser Schlaff verkürtzt sein Leid Vnd setzt ihn in der Frommen Orden, [8] Da wo=er=hin nicht lang zuvor Sein liebstes Hertz voraus geschicket, Die Sinn’ vnd Stimme hebt empor 43 So bald sie ihn von fern erblicket[.]

_______ 43

Simon Dach: [Inc.:] »HErr Schwartz auch mein ich sey durch Zwang«. In: ZIESEMER III, S. 234–237.

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Die erste hier zitierte Strophe (Str. 4) artikuliert die Verwunderung Schwartzens darüber, sich nach dem Erwachen doch noch in irdischen Lebensbezügen wiederzufinden. Strophe 5 beschreibt in einer Reihung von drei exclamationes in geradezu hymnisch anmutender Weise Herrlichkeit, »Lieblicheit« und »Frewd’« der himmlischen Daseinsform, wird aber durch das einleitende »Ach« zugleich zur Klage, die sich aus dem Umstand speist, daß der Traum eben nur eine praegustatio war. Strophe 6 schließt die direkte Rede Schwartzens ab und kulminiert in der sich dringlich, weil fragend artikulierenden Sehnsucht nach dem Zeitpunkt des Todes, die wiederum getragen wird vom Heimweh nach der himmlischen Heimat, mithin von der Sehnsucht nach dem neuen Jerusalem und der ungeahnten Gottesnähe: »Wenn werd ich endlich doch von hier | Zu meinem Gott hinauff genommen?« In den Strophen 7 und 8 schaltet sich das lyrische Ich ein, um recht knapp zu berichten, daß Schwartz »nicht lange Zeit« nach seinem Traum gestorben ist (der Tod wird als »süsser Schlaff« und Verkürzung der Leidenszeit bezeichnet) und dorthin gelangt ist, wohin er »nicht lang zuvor | Sein liebstes Hertz voraus geschicket«. Sodann ist von der Wiederbegegnung zwischen Schwartz und eben diesem ›seinem liebsten Herzen‹, nämlich seiner Ehefrau Regina, die Rede (Str. 9), die am 1. Februar 1648, also knapp ein dreiviertel Jahr zuvor, verstorben war. 44 Regina nun läßt Dach ebenfalls mit einer direkten, jedoch viel ausführlicheren, zehn Strophen umfassenden direkten Rede auftreten. Nach einer kurzen Begrüßung ihres Ehemannes und eingeleitet mit der exhortatio »O komm« (Str. 10) übernimmt es Regina, den Neuankömmling durch die himmlische Heimat zu führen. In diese eschatologische Sightseeing-Tour wird der Leser des Gedichts hineingenommen, was sich sprachlich-grammatikalisch unter anderem darin manifestiert, daß Regina in Strophe 18 die Aufforderung, durch die Tore in das himmlische Jerusalem einzutreten, nicht, wie es eigentlich notwendig wäre, singularisch ihrem Gatten auf den Kopf zusagt, sondern pluralisch formuliert: [18] Lasst vns zu ihren Thören ein Mit Lustgeschrey vnd jauchtzen gehen, Vnd den, der war, ist, vnd wird seyn Durch aller Zungen Thon erhöhen.

Hieran wird deutlich: Auf der Textebene des Gedichts erfährt der Leser genau das, was Dietrich Schwartz im Rahmen seines Traums widerfahren ist: eine praegustatio des himmlischen Jerusalem. Die detaillierte poetische Beschreibung der himmlischen Heimat hat einen durchdachten, kunstvollen Aufbau: Str. 10 Str. 11 Str. 12 Str. 13

Wohnungen der Gerechten Haus der Engel Stämme Israels, Patriarchen, Propheten Märtyrer

_______ 44

Vgl. die beiden von Dach zu diesem Anlaß verfaßten Texte: »Frewdiges Sterb=Lied« und [Inc.:] »IHr habt wohl nimmermehr gedacht« (ZIESEMER III, S. 187–190).

374 Str. 14 Str. 15 Str. 16 Str. 17 Str. 18

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Christus, das Lamm spielende Kinder himmlisches Jerusalem dito dito

Anhand der Komposition dieses Textausschnittes zeigt sich nicht nur, daß die Beschreibung der Gottesstadt den weitaus größten Raum einnimmt, sondern auch, daß die Betrachtung des Sohns Gottes in Gestalt eines Lamms, dessen Blut nach Offb 7, 14 f. die Kleider der Märtyrer hell macht und weiß wäscht, die Mittelachse dieser gesamten kontemplativen Passage darstellt. Somit ist Dachs in diesem Gedicht ausgebreitete Eschatologie konsequent auf die Soteriologie als deren Mitte bezogen. Zudem fällt auf, daß der in Rede stehende Textabschnitt derjenige ist, der so stark von biblischer Sprache geprägt und durchdrungen ist wie sonst keiner in vorliegendem Gedicht. Dies mag folgende Synopse veranschaulichen: [10] Oh komm, beschau mit mir das Reich, Die Wohnung der gerechten Seelen, Für der der Erden Pracht ist gleich Den Schatten und Gefängnis=Hölen. [11] Dieß ist der reinen Engel Hauß, Schaw sie, wie Sturm vnd Flammen, fahren, Sie richten den Befehl so aus Des Höchsten, sind sein Zeug vnd Scharen. [12] Das sind die Stämm aus Israel, Dies ihre Väter vnd Propheten, Mang welchen David singt so hell, Vnd bleibt ein König der Poeten.

Joh 14, 2

Ps 148, 8; Joel 2, 11 Offb 21, 12 Offb 18, 20; 21, 14

[13] Dies ist der Märtrer grosse Schar Die Palmen in den Händen tragen, Ihr Kleid ist weiß, ihr Antlitz klar, Sie kommen her aus grossen Plagen.

Offb 7, 9 Offb 7, 14; Mt 13, 43

[14] Das Lamb im Stul hat sie so weiß Gewaschen durch sein Blut vnd Leiden, Dem geben sie auch Danck und Preiß Vnd lassen sich stets von ihm weiden.

Offb 7, 10 Offb 1, 5; 7, 14 Offb 7, 10 f. Offb 7, 17

[15] Schaw dort den grünen Berg hinan, Da spielen Knaben an den Bächen, Wie jauchtzen sie! darunter dann Wir unsern Sohn auch wollen sprechen. [16] Vnd dieses ist des Höchsten Stadt, Er selbst ihr Tempel wohnt darinnen, Sie ist die Gold für Mauren hat, Vnd Edelstein sind ihre Zinnen. [17] Sie darff des Sonnen=Scheines nicht, Kein Monde darff bey Nacht sie mahlen,

vgl. Jes 35, 10; 51, 11; 65, 14

Offb 21, 3.22 Offb 21, 18.21 Offb 21, 11.18–20

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Dachs geistliche Dichtung Die Klarheit Gottes ist ihr Liecht, Das Lamm an stat der güldnen Stralen. [18] Lasst vns zu ihren Thören ein Mit Lustgeschrey vnd jauchtzen gehen, Vnd den, der war, ist, vnd wird seyn Durch aller Zungen Thon erhöhen.

Offb 21, 23; 22, 5

Offb 1, 4

In Strophe 10 veranlaßt Regina ihren Mann zunächst, die »Wohnung der gerechten Seelen« zu betrachten. Deutlich nimmt Dach hiermit Bezug auf Joh 14, 2, auf die Verheißung, mit der Jesus in den Abschiedsreden seine Jünger tröstet: Er wolle zum Vater gehen und ihnen die endzeitlichen Wohnungen bereiten (»Jn meines Vaters hause sind viel Wonungen [...] Jch gehe hin/ euch die Stete zubereiten« 45 ). Das Thema ›Wohnung‹ wird in Strophe 16 wieder aufgegriffen, wo der Blick darauf gerichtet wird, daß Gott im neuen Jerusalem Wohnung nimmt. Hier wird einerseits, wie häufig in vorliegendem Text, auf Offb 21 rekurriert, nämlich auf den freudigen Ausruf »Sihe da/ eine hütte Gottes bey den Menschen/ vnd er wird bei jnen wonen« (Offb 21, 3). Auch die Bezeichnung Gottes als »Tempel« stützt sich auf diesen biblischen Text insofern, als in Offb 21, 22 davon die Rede ist, daß Gott im neuen Jerusalem – anders als im Alten Bund (vgl. 1 Kön 8, 12 f.; Ps 46, 5; 68, 6; 76, 3 u.ö.) – nicht im Tempel wohnen (mithin nicht in einem »templum [...] materiale«, 46 wie Gerhard sagt), sondern selbst als Tempel bei den Menschen wohnen wird (»Vnd ich sahe keinen Tempel darinnen/ Denn der HERR der allmechtige Gott ist jr Tempel/ vnd das Lamb«). Zugleich wird hiermit der in Strophe 10 gesponnene Faden aus Joh 14 wieder aufgenommen, wo Jesus den Jüngern verheißt, ihnen die Wohnungen zu bereiten, um dereinst mit dem Vater gemeinsam Wohnung bei den Menschen zu machen (Joh 14, 23: »Wer mich liebet/ der wird meine wort halten/ Vnd mein Vater wird jn lieben/ vnd wir werden zu jm komen/ vnd Wonung bei jm machen«). Die Verheißung des endzeitlichen Friedens und der ewigen Nähe Gottes unter Zuhilfenahme der Metaphorik des Um- und Einzugs in die himmlischen Wohnungen kehrt in Dachs Gedichten recht häufig wieder. Hierbei versteht es Dach, ein und denselben Sachzusammenhang zu variieren, indem er seine Gedichte aus unterschiedlichen biblischen Texten speist. So kann Dach die Verheißung der himmlischen Wohnungen mit einem weiteren biblischen Text kombinieren, nämlich mit 2 Kor 5. Somit greift Dach einen paulinischen Text auf, der den Tod metaphorisch als Abbruch der Lehmhütte (vgl. auch 2 Petr 1, 13 f.) des Leibes beschreibt und die Gewißheit der leiblichen Auferstehung in das Bild des Überkleidetwerdens mit dem von Gott selbst erbauten Bau 47 faßt _______ 45

46 47

Die Lutherbibel wird hier wie im folgenden nach folgender Ausgabe zitiert: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. Hg. von Hans Volz, 2 Bde. München: Rogner & Bernhard 1972. Gerhard: Loci Theologici (wie Anm. 10), Bd. 9, 163a. Vgl. Simon Dach: »Einfältige Klag= und Trost=Reime.« In: ZIESEMER IV, S. 109 ff., hier S. 111 (Str. 20): »Gott aber wolt’ ihr geben | Ein Hauß in jenem Leben | Das keine Hand gebawt, | Da eitel lieblich Wesen | Vnd mehr noch als wir lesen | Wird reichlich angeschawt.«

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(»WJr wissen aber/ so vnser jrdisch Haus dieser Hütten zubrochen wird/ das wir einen Baw haben von Gott erbawet/ ein Haus/ nicht mit henden gemacht/ das ewig ist im Himel. Vnd vber demselbigen sehnen wir vns auch/ nach vnser Behausung/ die vom Himel ist/ Vnd vns verlanget/ das wir da mit vberkleidet werden«; 2 Kor 5, 1 f.). Hiermit verarbeitet Dach einen Text, der auch in den zeitgenössischen Leichenpredigten häufig begegnet, 48 bezieht aus ihm die entscheidende inventio für sein Trostgedicht und stellt dieses zugleich in den Kontext von Offb 21, indem er den neuen, göttlichen Bau (anders als Paulus) ebenfalls als eine Hütte (vgl. Offb 21, 3) bezeichnet. WIr trösten vns mit dieser Zuversicht, Wenn vnser Leib die Leimen=Hütte bricht Vnd endlich mus verwesen in der Erden, Daß wir ein Hauß im Himmel haben werden, Vnd einen Baw, an welchem Gott allein Ohn einig’ Hand hat Baw=Herr wollen seyn, Die Hütte wird ohn End vnd ewig halten Vnd nimmermehr durch Macht der Zeit veralten. Wie wird es doch vmb vns so herrlich stehn Wenn wir damit bekleidet werden gehn. Der mus zu sehr an dieser Erden hangen Der nicht nach Ihr trägt hertzliches Verlangen, Den diese Last des Leibes nicht beschwert Noch vmbgethan zu werden dort begehrt. Geht allezeit mit Christo hie verbunden Vnd werdet nie ohn ihn vnd nackt befunden, Entladet euch ohn unterlaß der Schuld, Vnd wallet stets in Hoffnung vnd Gedult, So wird das Hauß im Himmel euch vmbgeben, 49 Dort sollet ihr im schawen allzeit schweben.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang dürfte sein, daß sich die intertextuellwechselseitige Auslegung von Joh 14 und 2 Kor 5 auch in der zeitgenössischen dogmatischen Literatur findet, so z.B. bei Rudbeckius 50 und Gerhard, der Gott im Anschluß an 2 Kor 5, 1 »architectus coelestis habitaculi« 51 nennt, um sodann auf die von Christus verheißenen »mansiones multae« 52 zu sprechen zu kommen. _______ 48

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50

51 52

Vgl. z.B. Johann Gerhard: Sämtliche Leichenpredigten nebst Johann Majors Leichenrede auf Gerhard. Kritisch hg. und kommentiert von Johann Anselm Steiger. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2001 (Doctrina et Pietas I, 10), S. 129–160. Simon Dach: »Christlicher Trost.« In: ZIESEMER III, S. 386–389, V. 1–20. Vgl. auch Dachs »Wander=Lied« (wie Anm. 31), Str. 4: »Vnd, wenn wir nun den letzten Außzug halten | Aus dieser Welt, vnd durch den Todt erkalten, | Hilff vns getrost des Leibes Hütte räumen, | Daß wir vns nit aus schrecken selbst versäumen, | Brich ab dieß Erden=hauß, | Vnd führ die Seel’ heraus, | Entreiß sie dem Getümmel, | Bring sie zu wahrer Ruh, | Vnd stell ihr wieder zu | Ihr Vaterland, den Himmel.« Johannes Rudbeckius: Loci theologici. Föreläsningar vid Uppsala universitet 1611–1613. Hg. von Bengt Hägglund. Mit einer deutschen Einleitung: Wittenberg-Orthodoxie in Uppsala am Anfang des 17. Jahrhunderts. Stockholm: Almquist und Wiksell 2001 (Acta Regiae Societatis Humaniorum Litterarum Lundensis, 83), S. 345. Gerhard: Loci Theologici (wie Anm. 10), Bd. 9, 380a. Ebd., 380b.

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Die Sozialität des neuen Jerusalem malt Dach als eine Assoziierung der vom Tod Auferstandenen mit den zwölf Stämmen Israels, also mit dem von Gott zuerst erwählten Volk, vor Augen. Hiermit läßt Dach Offb 21, 12 in sein Trostgedicht einfließen, wo davon die Rede ist, daß die zwölf Tore des neuen Jerusalem die Namen der zwölf Stämme tragen. Vom Volk Israel als ganzem richtet sich sodann der Blick auf die »Väter vnd Propheten«, von denen auch Meyfarts Jerusalem-Lied spricht, 53 sowie schließlich auf David, der in deren Mitte (»mang«) als Psalmensänger auftritt. Der Wendung »Vnd bleibt ein König der Poeten« kommt hierbei im Hinblick auf das Selbstverständnis Dachs als geistlichem Dichter hohe Bedeutung zu. Ähnlich heißt es in einem anderen Trostgedicht: So singet sie [scil. die Verstorbene], so der Propheten Vnd Märtrer grosse Zahl, So David welcher den Poeten 54 Zuvor thut allzumahl[.]

Die poetica sacra hat sich nach Dach auszurichten an der poetica biblico-sacra, zuallererst jedoch an den Psalmen Davids, worin Dach mit Andreas Gryphius einer Meinung ist. 55 So erfährt die geistliche Dichtung eine Fokussierung hin auf den Psalter, was unter anderem anhand der Tatsache greifbar wird, daß Dach eine Fülle von Psalmzitaten und -allusionen in seine Texte einflicht. Wie eng miteinander verzahnt 2 Kor 5 und Offb 21 in Dachs eschatologischen Gedichten sind, erhellt auch aus einem weiteren Trostgedicht, in dem Dach das himmlische Jerusalem »Vnsre Bürger=Stadt« 56 nennt, es mithin als den Ort besingt, an dem die Glaubenden Heimat- und Bürgerrecht haben. In der vierten Strophe des Gedichts heißt es: Vnsre Stadt, die deine Hand Selbst so herrlich auffgeführet, Da man keiner Sonnen=Brand Vnd kein Mond=Licht spüret, Weil dein Herrlicheit allein, Sie mit Schein 57 Vnvergleichlich zieret.

Gott, der biblisch gesehen selbst Licht und Quelle desselben ist (vgl. 1 Joh 1, 5), wird im himmlischen Jerusalem alles erleuchten sowie mit Herrlichkeit antun und somit die Himmelskörper Sonne und Mond, die Lichtquellen des alten Äon, ersetzen. Dieses Motiv entstammt klar erkennbar ebenfalls Offb 21, wo es heißt: »Vnd die Stad darff keiner Sonnen noch des Monden/ das sie jr scheine/ Denn die herrligkeit Gottes erleuchtet sie/ vnd jre Leuchte ist das Lamb« (Offb _______ 53 54 55 56 57

Evangelisches Kirchengesangbuch 320, 5. Simon Dach: »Christliches Gedächtniß.« In: ZIESEMER IV, S. 111 ff., hier S. 112 (Str. 7). Vgl. Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke (wie Anm. 39), Bd. 2: Oden und Epigramme (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N.F. 10), S. 98. Dach: [Inc.:] »HErr, wir wallen sämptlich dir« (wie Anm. 25), V. 16. Ebd., Str. 4.

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21, 23). Dieser Topos verbindet vorliegendes Gedicht mit dem Trostgedicht anläßlich des Todes von Schwartz, in dem es innerhalb der Beschreibung des neuen Jerusalem heißt: »Sie darff des Sonnen=Scheines nicht, | Kein Monde darff bey Nacht sie mahlen, | Die Klarheit Gottes ist ihr Liecht, | Das Lamm an stat der güldnen Stralen.« (Str. 17). 58 Im Unterschied hierzu allerdings spricht ersteres Gedicht in der Anrede Gottes davon, daß dieser selbst die himmlische Heimatstadt gebaut hat (»Vnsre Stadt, die deine Hand | Selbst so herrlich auffgeführet«). Dies ist ein Gedanke, den Dach in seiner biblischen Vorlage Offb 21 nicht vorgefunden haben kann, sondern aus 2 Kor 5, 1 (»[...] das wir einen Baw haben von Gott erbawet«) herübernimmt, indem er diesen Text mit ersterem synoptisch liest. Bleibt noch der Einwand, den die aufgeklärte Vernunft gegen solch bilderreiche Welt apokalyptischer Sprache zu machen pflegt und recht schnell bei der Hand ist, all dies als naiv und kindlich sowie als Ausdruck einer noch nicht zur Vernunft gekommenen, eben jüdischen, nicht aber eigentlich neuzeitlich-christlichen Mentalität abzutun. Dies jedenfalls ist einer der Gründe, weswegen der Theologie seit der Aufklärungszeit die apokalyptische Eschatologie weitestgehend abhanden gekommen ist und auch sporadische, meist religionsgeschichtlicher Interessenlage entspringende Wiederbelebungsversuche den Kern der von der Apokalyptik des neuen Jerusalem intendierten Sache nicht getroffen haben. Das Luthertum des 17. Jahrhunderts jedoch, in dessen Kontext Dachs geistliche Poetik unbedingt gelesen werden muß, hat sich des Bild-, Metaphern- und Sprachreichtums der biblischen Apokalyptik keinesfalls in naivunreflektierter Weise bedient. Vielmehr war man sich der Tatsache bewußt, daß es sich innerhalb der apokalyptischen Diktion und deren Verwendung von Motiven wie Gastmahl, Hochzeit etc. um – wie Johann Gerhard sagt – »parabolicae descriptiones«, 59 mithin zunächst einmal um uneigentliche Redeweisen handelt. Ihnen aber kommt eine sehr hoch zu veranschlagende hermeneutische Valenz zu, da es der Heilige Geist selbst ist, der sich ihrer bedient, damit überhaupt zur Sprache gebracht werden möge, wovon eigentlich gar nicht, uneigentlich aber nur nach vorgängiger Offenbarung des Heiligen Geistes gesprochen werden kann. – Warum? Weil die Mysterien, deren endgültige Offenbarung und Aufschlüsselung noch ausstehen, die capacitas der menschlichen Vernunft und darum auch die Fähigkeiten von deren Artikulations-Vehikel, also der Sprache, weit übersteigen. Dies ist der Grund, weswegen nicht nur bei Dach, sondern etwa auch bei Andreas Gryphius, ebenso aber in der sich mit den vier letzten Dingen befassenden Meditations- und Predigtliteratur sowie in den entspre_______ 58 59

Vgl. auch Simon Dach: »Frülings=Gedancken.« In: ZIESEMER IV, S. 5 f., V. 47 f.: »Denn da ist weder Ziel noch Zeit | Noch Nacht noch Sonnen=wende«. Johann Gerhard: Scholae Pietatis libri V. Das ist: Fünff Bücher/ VOn Christlicher vnd heilsamer Vnterrichtung/ was für Vrsachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen/ auch welcher gestalt er sich an derselben vben soll [...]. Bd. 1. 2. Aufl. Jena: Steinmann 1625 (1. Aufl. 1622), Bl. 291v: »Ex parabolica descriptione, aus der Vorbildung derselben Frewde. Denn was in diesem Leben einem Menschen anmutig vnd lieblich seyn kan/ dasselbe brauchet der heilige Geist/ die ewige Himmelsfrewde etlicher massen dadurch vorzubilden.«

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chenden Abschnitten der Loci-Dogmatiken 60 des barocken Luthertums insgesamt immer wieder daran erinnert wird, daß hier geredet wird von Dingen, die letztlich ineffabile sind, sich also der Aussagbarkeit entziehen. Dies geschieht häufig unter Verweis auf Jes 64, 3 (»Wie denn von der Welt her nicht gehöret ist/ noch mit Ohren gehöret/ hat auch kein Auge gesehen/ On dich Gott/ was denen geschicht/ die auff jn harren«) bzw. auf 1 Kor 2, 9, wo dieser alttestamentliche Text zitiert wird (»Das kein Auge gesehen hat/ vnd kein Ohre gehöret hat/ vnd in keines Menschen Hertz kom[m]en ist/ das Gott bereitet hat/ denen/ die jn lieben«). 61 Bei Dach ist darum zum Beispiel zu lesen: Die Engel selbs sind hoch erfrewt Von wegen unsrer Seligkeit, Da wiederfährt den Frommen Was nimmermehr Vns zu Gehör 62 Noch in das Hertz ist kommen.

Oder in Bezug auf die himmlischen Klänge: Da höret man den Lobgesang Der Engel, und der Music Klang Durch aller Hertzen dringen, Vnd Frewden die kein Aug erkant, Kein Ohr gehört und kein Verstand 63 Vns hie weis vor zu bringen.

Gerade weil Herrlichkeit und Glückseligkeit der am Ende der Zeiten in das himmlische Jerusalem Entrückten ineffabile sind 64 (vgl. 1 Petr 1, 8) und menschliche Vernunft und Sprache völlig unzulänglich sind, kommt es darauf an, sich eine metaphern- und tropenreiche Sprache anzueignen, die das noch nicht Sichtbare und noch nicht Aussprechbare in Bildern wie durch einen Spiegel erkennen läßt, durch den wir noch sehen müssen (1 Kor 13, 12). In diesem Zusammenhang sagt Johann Matthäus Meyfart, 65 dessen recht weitverbreitete eschatologische Schriften Dach bekannt gewesen sein mögen, zumal er ihn als _______ 60

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Vgl. Hütter: Compendium locorum theologicorum (wie Anm. 9), S. 620: »Quid est vita aeterna? Cùm oculus non viderit, neque auris audierit, neque in cor hominis adscenderit, quae praeparavit DEVS diligentibus se, 1. Cor. 2, 9. utique nemo mortalium verbis satis dignè explicare poterit, quid sit vita aeterna.« Vgl. z.B. Gerhard: Loci Theologici (wie Anm. 10), Bd. 9, 426b; Gerhard: Schola Pietatis (wie Anm. 59), Bl. 289r–v; Gerhard: Meditationes Sacrae (wie Anm. 29), S. 261; Rudbeckius: Loci theologici (wie Anm. 50), S. 349. Simon Dach: »Verlangen nach der Ewigkeit.« In: ZIESEMER III, S. 401, Str. 6. Dach: »Frülings=Gedancken« (wie Anm. 58), Str. 10. Hütter: Compendium locorum theologicorum (wie Anm. 9), S. 620, spricht von einer »ineffabilis Beatitudo«. Vgl. auch Dieterich: Institutiones Catecheticae (wie Anm. 29), S. 631: »Quaenam & qualis erit futura beatitas, gloria & felicitas aeternae vitae? Erit planè ineffabilis.« Vgl. Erich Trunz: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München: Beck 1987.

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eine wichtige Autorität nennt: 66 »Menschliche Gedancken können diese Herrligkeit nicht erreichen/ sondern wie Kinder müssen sie mit Bildern sich belustigen.« 67 Darüber hinaus aber erfahren sämtliche Metaphern, die zunächst im uneigentlichen Sinne gebraucht werden, um das auszusagen, was anders nicht sagbar ist, eine Umwertung. In der Grammatik des Heiligen Geistes nämlich wächst ihnen nun eigentliche Bedeutung zu, indem, um mit Luther zu sprechen, jede Vokabel, die im geistlichen Sachzusammenhang gebraucht wird, eine neue significatio bekommt. 68 In dieser Perspektive jedoch erhält nun die irdische Sphäre, mithin die Immanenz, aus der die geistlichen Metaphern ursprünglich entlehnt worden sind, uneigentliche Bedeutung. Dies mag zunächst den Eindruck erwecken, als gehe hiermit eine Abwertung des Irdischen, Leiblichen und Kreatürlichen einher. Doch ist in Wahrheit genau das Gegenteil der Fall. Zwar ist es zutreffend, daß dieser hermeneutische Prozeß der Konstituierung einer nova grammatica, einer Grammatik des Heiligen Geistes, es mit sich bringt, daß – auch bei Dach – von der Inkommensurabilität der himmlischen Freude und Seligkeit mit weltlich-leiblichen Ergötzlichkeiten immer wieder gesprochen wird und werden muß. Umgekehrt aber wird es einzig und allein auf diese Weise möglich, die irdischen Lebensbezüge von ihrem trügerischen Anspruch, letztgültig zu sein, ein für allemal zu befreien, um sie sodann als Räume der Erfahrung des Ewigen in der Zeit neu entziffern zu können. Mit anderen Worten: Wenn der Heilige Geist Phänomene aus dem Bereich menschlicher Empirie und Alltagswelt entlehnt, um sie metaphorisch auf Geistliches zu übertragen, so hat dies notwendig zur Folge, daß der Kontext, dem die Metaphern entnommen wurden, selbst zur Metapher wird. Das aber heißt: Die Tatsache der ineffabilitas der himmlisch-endzeitlichen Mysterien sowie die Notwendigkeit parabolischallegorischer Sprache sind die Bedingungen der Möglichkeit dafür, im Bereich des Alltags zu entdecken, daß dieser gleichnishaft über sich hinausverweist, ja selbst Sphäre von Niegesehenem und Unerhörtem ist.

V Hierin liegt das Geheimnis der Barockzeit, die eben keineswegs als Epoche besonders intensiver vanitas-Erfahrung schon hinreichend beschrieben ist, wenn nicht deren gleichzeitige radikale Weltzugewandtheit mitbedacht wird. Dieses _______ 66 67

68

Vgl. Simon Dach: [Inc.:] »WAs bey vns rühmlich tichten kan«. In: ZIESEMER III, S. 401– 404, hier S. 402 (Str. 11, V. 65). Johann Matthäus Meyfart: Das Erste/ Das Ander Buch Von Dem Himlischen Jerusalem/ Auff Historische Weise/ ohn alle Streitsachen/ Aus den holdseligsten vnd frölichsten Contemplationen, so wol Alter als Newer/ doch gelehrter Vätter vnd Männer beschrieben [...]. Coburg: Gruner und Forckel 1627 (HAB Wolfenbüttel: 913. 4. Theol.) Zitiert wird nach der 2. Aufl., Coburg: Gruner 1634 (HAB Wolfenbüttel: Th 1777), hier Bd. 1, 134. Luther (wie Anm. 34), WA 39/II, 94, 17 f. (»Disputation de divinitate et humanitate Christi«, 1540).

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Equilibre zeigt sich bei Dach besonders markant. Der Fehler zur Rechten, den er meidet, ist die etwa aus dem Kontext mittelalterlicher Mystik und dem frühneuzeitlichen Spiritualismus bekannte Abneigung bzw. Perhorreszierung des Leiblich-Irdischen als eines Bereichs, den man ein für allemal hinter sich lassen muß, will man eine geistliche Existenz begründen. Der Fehler zur Linken jedoch, der sich bei Dach ebenfalls nicht findet, ist die Vergötzung des Irdischen, mithin dessen baalistische Verabgötterung. Die Weltflucht, das die Flüchtigkeit der Welt fliehende Himmelaufwärtsstreben Dachs ist nicht Selbstzweck, sondern hat sein notwendiges Korrektiv in eben genau der umgekehrten Blickrichtung, die fähig ist, das Himmlisch-Endzeitliche in dessen Knechtsgestalt, also im Irdischen als Gleichnisraum von Höherem zu entziffern. Einzig und allein diese Wechselbewegung, dieses Hin- und Her-Oszillieren zwischen Himmel und Erde trägt hier und jetzt dem Umstand Rechnung, daß auch die endzeitliche und endgültige Entrückung in das himmlische Jerusalem nur möglich ist, weil dieses vom Himmel herabfährt (Offb 21, 2.10). Nur der poetische Prozeß der ständigen Verdiesseitigung des Himmlischen und der Transzendierung des Alltäglichen nimmt zudem die Tatsache hermeneutisch ernst, daß der auferstandene Christus derselbe ist wie der Gekreuzigte und auch der zum Jüngsten Gericht erscheinende Sohn Gottes nicht ein reines Geistwesen, sondern als Gottmensch wahrer Mensch ist und noch die Wundmale an sich trägt, an denen sichtbar wird, daß er als Richter zugleich auch derjenige ist, der um willen der sündigen Menschen Gottes Gericht erlitten hat. 69 Nur in diesem Kontext läßt sich verstehen, wie es möglich ist, daß Dach einerseits (vergleichbar Johann Rist 70 ) den Frühling als Sinnbild des himmlischen Jerusalem vor Augen malen kann – selbstverständlich unter schroffer Betonung der Inkommensurabilität des irdischen mit dem himmlischen Frühling –; er diese Jahreszeit andererseits aber auch als Hymnus zu Gehör bringen kann, den die Schöpfung Gott zollt, ohne die eschatologische Perspektive sogleich ins Zentrum des Interesses zu rücken, obgleich sie – zunächst unausgesprochen – den cantus firmus des gesamten Lieds bildet, um an dessen Ende dann auch explizit zu Wort zu kommen. Dachs Frühlings=Lob= und Dancklied ist von genau derselben poetischen Bewegung gekennzeichnet wie das sog. Sommerlied Paul _______ 69

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Vgl. Johann Anselm Steiger: »Mein Niedrig=gehn sol Euch erheben«. Zur poetischmeditativen Passionsfrömmigkeit des barocken Luthertums am Beispiel eines Gedichtes von Simon Dach (1605 – 1659). In: Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans-Jörg und Marcel Nieden. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1999, S. 175–199. Vgl. Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt/ Vermittelst eines anmutigen und erbaulichen Gespräches/ Welches ist dieser Art/ die Fünffte/ Und zwar eine Mäyens=Vnterredungen [sic!]/ Beschrieben und fürgestellet Von Dem Rüstigen. Frankfurt/M.: Schiele 1667 (HAB Wolfenbüttel: Lo 6455 [2]), S. 5: »Jn Summa/ ich/ und ein jedweder nebenst mir/ müssen bekennen/ daß eben dieser Monat der Mäy/ gleichsam ein außbündiger/ lustvoller Außzug aller Schönheiten und Liebligkeiten deß gantzen Jahres sey/ Ja diese Zeit stellet uns gleichsam etlicher massen und nur Schattensweise ein Ebenbild für der himlischen Lieblichkeit/ Lust und Freude/ deren die ausserwelten Kinder Gottes im andern und ewigen Leben vollenkömlich werden geniessen.«

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Gerhardts, 71 dessen Duktus Dach einige Jahre zuvor, nämlich im letzten Jahr des Dreißigjährigen Kriegs (1648) vorwegnimmt. Hier ein Ausschnitt: Itzt geusst sich dein Segen auß Vnd erfüllt Land, Stadt und Hauß. Wenn sich deine Hand auffthut, Trieffen wir von deinem Gut; Es wird Furchtbarheit gehegt, Wo sich hin dein Fußstapf regt, Der Milch, Oel und Honig trägt. Itzund nimt der Ackersmann Sich des Landes Arbeit an; Wild und Hauß=Vieh ist erfrewt Ob der schönen Vorjahrs=Zeit, Weil Du’s gnädig angeblickt Vnd ihm Nahrung zugeschickt, Die sein mattes Hertz erquickt. Bäch und Ströme fliessen klar, Da der geylen Kälber Schaar Neben hin mit springen geht. Vmb die liebe Morgenröth Hört man durch Geschrey und Klang Tausent Vögel Lobgesang, Alles sagt dir Preyß und Danck. Itzund wird nach seiner Art Wald, Gepüsch und Feld gepaart, Auch der Fische Heer, o Gott, Mehrt sich jetzt auf dein Gebot. Graß und Laub kömpt itzt herfür, Alle Bäum und ihre Zier Grünen ihrem Schöpffer, Dir. Es bemühet sich die Bien, Vmb ihr Honig außzuziehn, Vnd die Schwalb hengt ihr Gemach Vnter armer Leute Dach. Summa: alles ist belebt, Nun dein Segen sich erhebt 72 Vnd umb uns, dein Völcklein, schwebt.

Wer so singt, wie Dach und Paul Gerhardt es tun, gibt zu erkennen, daß er bereits im Glauben und im Geiste im himmlischen Jerusalem gewesen ist, begriffen hat, daß dieses mehr als eine Metapher bzw. eine solche neuer Qualität ist, weil ihr eigentliche Bedeutung zukommt, der sodann aber zurückgekehrt ist, um den eschatologisch-poetischen Mehrwert der Schöpfung als Konzert von _______ 71

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Evangelisches Kirchengesangbuch 371. Vgl. hierzu Johann Anselm Steiger: »Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’«. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie). Berlin/New York: Walter de Gruyter 2007. ZIESEMER III, S. 92 f., Str. 4–8.

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himmlischen Metaphern und Signaturen zu entziffern. 73 Oder markanter formuliert: Wer so singt, lebt schon im neuen Jerusalem und ist mit ihm gemeinsam bereits wieder dahin zurückgekehrt, wohin es sich erst noch sichtbar und endgültig herabsenken wird. 74 Ausgangspunkt und Vorbild für Martin Luthers zentrales Interesse daran, die Kreatur geistlich zum Sprechen zu bringen, ist bekanntermaßen die Gleichnisverkündigung Jesu. 75 Die biblische Sprache der Schöpfung, die lingua naturalis, versteht der sündige und ungläubige Mensch – so Luther – nicht, weil seine Sinne geistlich versagen, 76 er ist darum jedoch um so mehr auf sie angewiesen. Diesen Gedanken entfaltet Luther in einer Predigt über Mt 6, jenen Text, in dem Jesus gleichnishaft von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde spricht. Einen Offenbarungscharakter für sich hat die Natur nicht. Sie ist stumm. Zwar gibt es eine Sprache der Natur, jedoch versteht sie der Ungläubige nicht, wie Luther anhand von Röm 1, 20 aufzeigt. 77 Die Kraft, wirksam sprechen zu können, erhält die creatura erst aufgrund der exaltatio, die ihr Christus, der Schöpfer, durch seine Gleichnisrede angedeihen läßt und sie hierdurch zur Szenerie des Reichs Gottes macht. Hierin wird der Anbruch der ȕĮıȚȜİȓĮ epiphan, daß Christus die unvernünftigen Vögel zu doctores in geistlichen Dingen macht, die den Menschen, das Vernunftwesen, belehren. »Sihe also machet er die vogelin zu Meistern und lerern, das ein omechtiger sperling zu unsern grossen, ewigen schanden im Euangelio stehen mus als des aller weisesten menschen Doctor und prediger.« 78 Vermittels der Predigt Christi, des Logos, erfährt die Schöpfung eine Sprachbegabung, während der Mensch lernt, daß seine Vernunft verfinstert ist und des Lichts der evangelisch interpretierten Natur bedarf. Im Reich Gottes kehrt sich alles um: Der Vogel, der nicht sprechen kann, predigt, während der Mensch verstummt angesichts des Umstandes, daß er trotz Vernunft und Bibel törichter ist als jedes auch noch so kleine Geschöpf und von sich aus in geistlichen Dingen nichts zu sagen hat. _______ 73 74

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Eben dieser Zusammenhang bleibt Bruno Nick: Das Naturgefühl bei Simon Dach. Diss. phil. Greifswald 1911, völlig verschlossen. Erst in diesem Kontext wird sichtbar, wie tiefgreifend die theologische Reflexion ist, die es Dach ermöglicht, die Zerstörung der ›Kürbishütte‹ zugunsten eines Straßenbaus als Szenerie en miniature, also als »Gleichung [...] der biblischen Heilsgeschichte« zu zeichnen, wie Albrecht Schöne treffend herausgearbeitet hat: »Wüst und leer die Erde am Anfang. Dann die Schöpfung, das Paradies. Und die Apokalypse am Ende, mit der das Chaos wiederkehrt. Das Königsberger Gärtchen mit der Kürbishütte wird zum Modell der Welt« (Schöne: Kürbishütte und Königsberg [wie Anm. 2], S. 625). Vgl. Luther (wie Anm. 34), WA 43, 139, 10 f. (»Vorlesungen über 1. Mose«, 1535–45): »Nec frustra est, quod Christus ubique in Euangelio inculcat creaturarum imagines seu similitudines«. Ebd., 11 ff.: »sed nos surdi, caeci et stupidi sumus, nec admiramur, nisi illa, quae singularem speciem habent«. Vgl. etwa Luther (wie Anm. 34), WA 56, 174, 18 ff. (»Vorlesung über den Römerbrief«, 1515 f.). Luther (wie Anm. 34), WA 32, 462, 1 ff. (»Wochenpredigten über Mt 5–7«, 1530/32).

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Aber der mensch ist toll und töricht worden, nach dem er von Gottes wort und gebot gefallen ist, das hinfurt keine creatur lebt die nicht klüger sey denn er, und ein kleines zeisichen, das weder reden noch lesen kann, sein Doctor und Meister ist jnn der schrifft, ob er 79 wol die gantze Bibel und seine vernunfft zu hulffe hat.

Auch hierin besteht eine paradoxe Umkehr der Verhältnisse: Der Mensch, der, seitdem er geschaffen ist, den Auftrag hat, sich die Kreaturen untertan zu machen und das dominium terrae auszuüben (Gen 1, 28), sieht sich in den Vögeln aus Mt 6 konfrontiert mit eben dieser von ihm eigentlich zu beherrschenden Kreatur, die ihm geistlich weit überlegen ist und als sein Pfarr-Herr fungiert: Im ersten buch Mose haben wir ein gebot, das wir Herrn sein sollen uber alle Creaturn, Und wir machen uns selbs also zu schanden, das Gott auch die Vogel mus uns zu Meistern setzen und zeigen, wie wir dem Mammon dienen und den rechten warhafftigen Gott ver80 lassen.

Um zu artikulieren, was die Natur, geistlich zum Sprechen gebracht, sagt, verwendet Luther nicht selten die rhetorische Figur der oratio ficta. Auf diese Weise gelingt es Luther zum Beispiel, den gleichnishaften Verweis Jesu auf die Vögel, die anschaulich werden lassen, daß es nichts nützt, zu sorgen, zu amplifizieren und zudem einen Vogel als Prediger zu inszenieren. Der Vogel verhält sich derart, so Luther, als wolt er zu uns sagen: Sihe du elender mensch, du hast haus und hoff, gelt und gut und ierlich den acker vol korns und allerley gewechs mehr denn du darffest, Noch kanstu nicht friede haben und hast jmer sorge du werdest hungers sterben, Und wo du nicht vorrat sihest und fur dir weist, kanstu Gott nicht vertrawen das er dir einen tag zu essen gebe, So doch unser so unzelich viel ist der keines sein lebtag ein mal sorget und doch Gott teglich uns 81 erneret.

Und wenig später: Ich singe und bin frölich und weis doch kein körnlin das ich essen sol, mein brod ist noch nicht gebacken, mein korn noch nicht geseet, Aber ich hab einen reichen herrn, der fur mich sorget, die weil ich singe odder schlaffe, der kan mir mehr geben denn alle menschen 82 und ich mit unserm sorgen vermochten.

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Ebd., 463, 15–19. Luther (wie Anm. 34), WA 22, 271, 9–13 (»Crucigers Sommerpostille«, 1544). Vgl. Johann Gerhard: Postilla: Das ist/ Erklärung der Sontäglichen vnd fürnehmesten Fest=Euangelien/ vber das gantze Jahr [...]. Jena: Steinmann 1613, 3 Teile und Appendix (HAB Wolfenbüttel: 419–420 Theol.), Bd. 2, S. 269: »Zwar dem Menschen waren alle Thier vnnd alle Creaturen vnter Henden geben/ daß er jhr HErr seyn solte/ Aber durch den Fall ists mit den Menschen dahin kommen/ daß numehr die Creaturen seine Meister vnd Lehrer seyn müssen/ das macht die leidige Sünde. Denn wie vorher im Stand der Vnschuld der Mensch ist weit vber der Natur anderer sichtbaren Creaturen gewesen/ dieweil er das Bild Gottes an sich trug/ also ist er nach dem Fall weit vnter die Natur geworffen/ denn Gott hasset nichts/ das er geschaffen/ aber den Sünder hasset er/ darumb ist der Mensch durch die Sünde weit vnter die Natur gesetzt.« Luther (wie Anm. 34), WA 32, 462, 4–10. Ebd., 463, 5–8.

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Wer diese exaltatio biblica in Bezug auf die Vögel begriffen hat, lernt das in das Buch der Natur hineingeschriebene Evangelium per analogiam fidei biblisch zu lesen und erfährt, daß »all blumlein und voglein haben das Euangelium am hals geschrieben.« 83 Von Mt 6 aus wird es nach Luther dann möglich, auch den außerbiblischen Vögeln mit neuen Augen und Ohren zu begegnen. Biblisch belehrt, hört der Glaubende nun im Vogelgesang die Liturgie und den Lobgesang der Natur. Die Vögel singen »jrem herrn Laudes und metten des morgens frue ehe sie essen, und weis doch jr keiner ein körlin im vorrat, machen ein schones langes Benedicite und lassen unsern Herrn Gott sorgen.« 84 Aufgrund der Belehrung über die biblische Offenbarungsqualität der Vögel vermittels der Gleichnisrede Jesu kann der Glaubende nun auch umgekehrt durch den Vogelgesang im Buch der Natur an die Heilige Schrift erinnert werden. Darumb Wenn du eine nachtgal hörest, so hörestu den feinsten prediger, als der dich dieses Euangelij vermanet, nicht mit schlechten blossen worten sondern mit der lebendigen that 85 und exempel.

Die soeben skizzierten Aspekte der Interpretation von Mt 6 finden sich in einer Fülle von Predigten lutherischer Theologen der Barockzeit zum 15. Sonntag nach Trinitatis wieder, etwa – um an dieser Stelle nur ein prominentes Beispiel zu nennen – bei Johann Michael Dilherr. 86 Zudem hat Luthers Auslegung von Mt 6, wie er sie in seinen Wochenpredigten über Mt 5–7 vorgetragen hat, vielen lutherischen Theologen als direkte Vorlage gedient, wie etwa in Hermann Heinrich Freys ›Vogelbuch‹ sichtbar wird, das den die Vögel betreffenden Passus vollständig abdruckt. 87 Genau in dieser Auslegungstradition steht ein Frühlingsgedicht Dachs, das eine ganze Reihe von Motiven der lutherischen Exegese von Mt 6 zusammenführt und in einen Hymnus auf die Vögel gießt. Das in Rede stehende Vor=Jahrs Liedchen jedenfalls ist ein solenner Beleg dafür, daß Dachs geistliche Lyrik schlechterdings nicht ohne Beachtung des Kontextes der Predigtpraxis, ja überhaupt der exegetischen Tradition des barocken Luthertums entzifferbar ist. Das lyrische Ich präsentiert sich in Dachs Gedicht als ein solches, das den vom Vogelgezwitscher ertönenden Frühlingswald mit dem biblischen Text Mt 6 synoptisch liest und im Sinne Luthers als Predigt der Kreatur an den _______ 83 84 85 86

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Luther (wie Anm. 34), WA 29, 551, 7 f. (»Predigten des Jahres«, 1529 [5.9.]). Luther (wie Anm. 34), WA 32, 462, 23 ff. Ebd., 462, 26–29. Vgl. Johann Michael Dilherr: Heilige Sonn= und Festtags=Arbeit/ Das ist: Deutliche Erklärung Der jährlichen Sonn= und Festtäglichen Evangelien: in welcher Dreyständig=nachdenckliche Sinnbilder vorangesetzet; Hernach Die Wort gründlich erwogen/ nützliche Lehren herausgezogen/ und über die meinsten Text Drey Predigten zu finden sind: So/ in unterschiedlichen Jahren/ gehalten worden. Nürnberg: Endter 1674 (Bibliothek des Fachbereichs Evang. Theologie der Universität Hamburg: L IV d 853), S. 693–697 (zweite Predigt zum 15. Sonntag nach Trinitatis). Hermann Heinrich Frey: Biblisch Vogelbuch. In: Ders.: Therobiblia. Biblisch Thier-, Vogel- und Fischbuch (Leipzig 1595). Hg. von Heimo Reinitzer. Graz: Akademische Druckund Verlagsanstalt 1978 (Naturalis historia bibliae, 1), Bl. 26v–28r.

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Menschen dekodiert. Entsprechend der diesbezüglich einschlägigen Predigttradition werden die Vögel als Kreaturen hymnisch besungen, die einmalige Exempel der evangelischen Sorglosigkeit sowie des Vertrauens auf den alles Lebende versorgenden himmlischen Vater abgeben. DIe Lust hat mich gezwungen Zu fahren in den Wald, Wo durch der Vögel Zungen Die gantze Lufft erschallt. Fahrt fort, ihr Frewden Kinder, Ihr Püsche=Bürgerey Vnd Freyheit=volck nicht minder, Singt ewre Melodey! Ihr lebt ohn alle Sorgen Vnd lobt die Güt’ vnd Macht Des Schöpffers von dem Morgen Biß in die späte Nacht. Ihr bawt euch artig Neste, Nur daß Ihr Junge heckt, Seyd nirgends Fremd’ vnd Gäste, Habt ewren Tisch gedeckt. Ihr strebet nicht nach Schätzen Durch Abgunst Müh’ vnd Streit, Der Wald ist ewr Ergetzen, Die Federn ewer Kleidt. Ach wolte Gott, wir lebten In Vnschuld, gleich wie Ihr, Nicht ohn auffhören schwebten In sorglicher Begier! Wer ist, der also trawet Auff Gott, das höchste Gut, Der diese Welt gebawet, Vnd allen gutes thut? Wir sind nicht zu erfüllen Mit Reichthumb vnd Gewinn, Vnd gehn vmb Geldes willen Offt zu der Höllen hin. O, daß wir Gott anhiengen, Der vns versorgen kan, Vnd recht zu leben fiengen 88 Von Euch, Ihr Vögel, an!

Wir haben es bei Dach mit einem poietischen Prozeß zu tun, in dem die Flucht in die himmlische Transzendenz eine Kondeszendenz in die Immanenz nach sich zieht, die nun als eine für das Jenseitige transparente Wirklichkeit dechiffriert wird. Ergebnis dieses poietischen Prozesses, dieser Poiesis des himm_______ 88

ZIESEMER I, S. 107.

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lischen Jerusalem, ist jedoch nicht nur die sich in der geistlichen Dekodierung der Schöpfung und des Alltags manifestierende Weltzugewandtheit, sondern auch eine Lebensbejahung, die sich in der Welt gerade darum heimisch weiß, weil ihr bewußt ist, daß die wahre Heimat eine andere ist. An Dachs Dichtung wird mithin in geradezu schlagender Weise deutlich, daß es schlecht bestellt ist um die ausgetretene These vom sog. weltflüchtigen Pessimismus der Barockzeit. Nicht nur Dachs geistliche Lieder, sondern insbesondere seine Hochzeits-, Gratulations- und sonstigen ›weltlichen‹ Gelegenheitsgedichte sprudeln über von einer ganz erstaunlichen Lebensfreude, ja Lebenslust der Kinder Gottes. Weder im schlechten Sinne moralisierend noch kulturpessimistisch in Bezug auf die Jugend liest man da: Junge Leut entschuldigt man, Lieb vnd Lust steht ihnen an Wie dem Gold ein Demantstein, Wie die Süssigheit dem Wein, Wie dem Felde Gras vnd Kraut, Wie ein schönes Kleid der Braut, Wie dem Held ein freyer Muht 89 Vnd ein Federpusch dem Hutt.

Weit entfernt von der verfehlten Meinung einiger kopfhängender Pietisten, der Tanz sei eine ernstzunehmende Gefährdung des Seelenheils, dichtet Dach: WEr erst den Tantz hat auffgebracht, Hat die Verliebten wol bedacht In ihren schweren Flammen: Wann nichts sonst ihren Sinn begnügt, Kein Ort sie an einander fügt, 90 Bringt sie der Tantz zusammen.

Und auch die Ehe hat es mit mehr zu tun als mit der Produktion neuer ›Kohorten‹: IN seiner Liebsten Armen Entschlaffen vnd erwarmen, Ist, was in dieser Zeit Vns einig noch erfreut: Wann Gnüge, Schertz vnd Lachen Vmb vnser Bett’ her wachen, Vnd man kein Licht erkennt, 91 Ohn was im Hertzen brennt.

Wie wenig die Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Dichtung auf diejenige Dachs (und der Barockzeit insgesamt) angewandt werden kann, wird unter anderem in der Tatsache sichtbar, daß vor der Hand durch mehrere Strophen hindurch säkular anmutende Hochzeitsgedichte unerwartet ins Geistliche _______ 89 90 91

Simon Dach: [Inc.:] »Junge Leut entschuldigt man«. In: ZIESEMER II, S. 54, Str. 1. Ders.: »Johann Mellhorn und Anna Koese.« In: ZIESEMER I, S. 231, Str. 1. Ders.: »Bey Hochzeitlicher Ehren=Frewde Hn. Reinhold Nauwercks vnd Jungfr. Barbara Witpohlin.« In: ZIESEMER I, S. 124 f., Str. 1.

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umschlagen. Dies ist zum Beispiel in dem Glückwunschgedicht für Georg Andressen und Maria Salbert der Fall, in dessen siebenter Strophe recht unvermittelt die Ehe als »ein Bild der Ewigheit« bezeichnet wird, womit deutlich auf den zeittypisch-lutherischen Topos Bezug genommen wird, dem zufolge die Ehe zeichenhaft hinweist auf die Vermählung mit dem himmlischen Bräutigam Christus. 92 Aber nichts, auch was es sey, Kömpt gewünschter Heyraht bey, Sie kan vns der Müh gelosen, Ist ein Bild der Ewigheit, Hegt sie Dornen jederzeit, 93 Ey, sie trägt auch schöne Rosen.

Der spätmittelalterliche Mystiker Johannes Tauler (und nicht nur er) sowie weite Teile des frühneuzeitlichen Spiritualismus halten die Übung von Gelassenheit, mithin die Überwindung sämtlicher Bindungen an Welt, Fleisch und Irdisches für die unabdingbare Voraussetzung des Aufstiegs zu Gott, von wo es keinen Weg mehr gibt zurück. Dem Luthertum der Barockzeit geht es um eine Gelassenheit anderer Qualität. Ihr zufolge kommt der Glaubende dort bereits wieder her, wo der Christ nach Tauler erst noch hinstrebt, lebt also gelassen in der Welt, die er bereits hinter sich gelassen hat, um sich jedoch nach Erlangung des himmlischen Heimatrechts in sie erneut zu entäußern und sich das Irdische, den Alltag und die Zeit neu anzuverwandeln. Nur wer dem Irdischen entflohen ist, erkannt hat, daß es hienieden keine bleibende Stadt gibt, die zukünftige gesucht (Hebr 13, 14), gefunden und sich in ihr bereits eingewohnt hat, kann auch und zugleich die alte Welt als zumindest vorläufige Heimat wiederentdecken und sich in ihr, gleichsam in Zelten, einrichten. Zeugnis hiervon legt Dachs Mey=Liedchen ab: KOmm, Dorinde, lass vns eilen, Nimm der Zeiten Güt in acht, Angesehen, das verweilen Selten grossen Nutz gebracht, Aber weißlich fortgesetzt, Hat so manches Paar ergetzt. Wir sind in den Frühlings Jahren, Lass vns die Gelegenheit Forn ergreiffen bey den Haaren, Sehn auff diese Meyen=Zeit, Da sich Himmel, See vnd Land Knüpffen in ein Heyraht=Band. Wenn sich die Natur verjünget, Liegt in Liebe kranck vnd wund,

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Vgl. Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582 – 1637). Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 1997 (Doctrina et Pietas I, 1), S. 106 ff. Simon Dach: »Georg Andressen und Maria Salbertin.« In: ZIESEMER I, S. 172 f., Str. 7.

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Alles sich zu nehmen zwinget, Thut sie frey dem Menschen kundt: Daß sich Er, die kleine Welt, Billich nach der grossen Helt. Still zu seyn von Feld vnd Püschen, Von dem leichten Heer der Lufft, Da sich jedes will vermischen, Jedes seines Gleichen rufft, Hört man in den Wäldern nicht, Wie sich Baum vnd Baum bespricht? An den Bircken, an den Linden, Vnd den Eichen nimbt man wahr, Wie sich Aest’ in Aeste binden, Alles machet offenbahr Durch das Rauschen, so es übt, Daß es sey, wie wir, verliebt. Lust betrübt, die man verscheubet. Dieser Eyfer, dieser Brand, Diese Jugend, so vns treibet, Hat nicht ewig den Bestand, Zeigt sich Wind= vnd Vogel=leicht, 94 Ist geflügelt, kömpt vnd weicht.

Wer glaubend erfahren hat, daß sich das Ewige im Irdischen abbildet, dem öffnet sich umgekehrt auch der Blick dafür, daß sich die Liebe, die ewig bleibt, kosmisch versinnlicht und vergegenständlicht. Die Verjüngung der Schöpfung im Frühling öffnet den Liebenden nicht nur die Augen für die Harmonie der Kreaturen untereinander, sondern obendrein für den Umstand, daß die Natur selbst als Sinnbild der Liebesbeziehung gelesen werden kann. Wer die Immanenz als Kommunikationsmedium der Transzendenz zu entziffern im Stande ist, der kann nun umgekehrt auch den Makrokosmos als Artikulationsforum der Liebe zweier Menschen, zweier Mikrokosmoi, dechiffrieren. Deutlich aber ist: In der letzten Strophe des Gedichts beginnt sich der Blick bereits wieder himmelwärts zu richten angesichts der Vergänglichkeit der Jugend. Aber noch diese Vergänglichkeit bildet Dach an Windeseile, Vogelleichtigkeit und Geflügel ab, also an Dingen, die selbst dem unterliegen, was sie bezeichnen: der Flüchtigkeit.

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ANHANG Letztes Ehrengedächtnis dem [...] Hn. Dietrich Schwartzen […], den Hinterlassenen zu Trost aus schuldiger Danckbarkeit geschrieben. [30. September 1648]. Zitiert nach: ZIESEMER III, S. 234–237 und S. 487 (Titelansetzung). [1] HErr Schwartz auch mein ich sey durch Zwang Des Creutzes redlich mitgenommen, Er hat so lang alt, schwach und kranck Sein Theil rechtschaffen überkommen. [2] Kein Wächter nimmt den Morgen an Mit also hertzlichem Verlangen, Als dieser abgekränckte Mann Hat, seine Rhu, den Tod vmbfangen. [3] Für allen da die Himmels=Lust Sich ihm beguntte zu entdecken, Die durch den Traum ihm ward bewust Vnd gleichsam sich gab vor=zu=schmecken. [4] Wie? sprach er: werd’ ich in der Welt Vnd meinem Jammer noch befunden? Ich hielte mich schon in das Zelt Der ewign Herrlicheit entbunden. [5] Ach Gott, was Frewd’ hab ich erkant! Was Lieblicheit! was schönes Wesen! Fürwar der auserwehlten Stand Im Himmel ist recht auserlesen.

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[6] Wie taug doch nicht der Erden Zier Ihm im geringsten bey zu kommen, Wenn werd ich endlich doch von hier Zu meinem Gott hinauff genommen? [7] Es wehret’ auch nicht lange Zeit, Sein schöner Wunsch ist ihm geworden, Ein süsser Schlaff verkürtzt sein Leid Vnd setzt ihn in der Frommen Orden,

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[8] Da wo=er=hin nicht lang zuvor Sein liebstes Hertz voraus geschicket, Die Sinn’ vnd Stimme hebt empor So bald sie ihn von fern erblicket [9] Vnd spricht: so kan ich dich nun auch, Du meiner Seelen Pfand, vmbfangen? Bist du der Erden Dampff vnd Rauch, Vnd ihrer Noht dennoch entgangen? [10] Oh komm, beschau mit mir das Reich, Die Wohnung der gerechten Seelen, Für der der Erden Pracht ist gleich Den Schatten und Gefängnis=Hölen.

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[11] Dieß ist der reinen Engel Hauß, Schaw sie, wie Sturm vnd Flammen, fahren, Sie richten den Befehl so aus Des Höchsten, sind sein Zeug vnd Scharen. [12] Das sind die Stämm aus Israel, Dies ihre Väter vnd Propheten, Mang welchen David singt so hell, Vnd bleibt ein König der Poeten. [13] Dies ist der Märtrer grosse Schar Die Palmen in den Händen tragen, Ihr Kleid ist weiß, ihr Antlitz klar, Sie kommen her aus grossen Plagen. [14] Das Lamb im Stul hat sie so weiß Gewaschen durch sein Blut vnd Leiden, Dem geben sie auch Danck vnd Preiß Vnd lassen sich stets von ihm weiden. [15] Schaw dort den grünen Berg hinan, Da spielen Knaben an den Bächen, Wie jauchtzen sie! darunter dann Wir unsern Sohn auch wollen sprechen. [16] Vnd dieses ist des Höchsten Stadt, Er selbst ihr Tempel wohnt darinnen, Sie ist die Gold für Mauren hat, Vnd Edelstein sind ihre Zinnen.

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392 [17] Sie darff des Sonnen=Scheines nicht, Kein Monde darff bey Nacht sie mahlen, Die Klarheit Gottes ist ihr Liecht, Das Lamm an stat der güldnen Stralen. [18] Lasst vns zu ihren Thören ein Mit Lustgeschrey vnd jauchtzen gehen, Vnd den, der war, ist, vnd wird seyn Durch aller Zungen Thon erhöhen. [19] So spricht sie, vnd hält immer an Ihm Lieb vnd Ehre zu erzeigen, Bricht ab von Blumen was sie kan, Vnd kröhnt sein Har mit grünen Zweigen. [20] So ist Herr Schwartz nun auch dahin, Die Welt, die Bosheit dieser Zeiten Kömpt nimmer mehr ihm in den Sinn, Er lässt vns andre sorgen streiten.

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[21] Für keinem Tod’ hat ihn gegrawt, Kein Hellen=Anlauff kan ihn hindern, Er hat viel Ehr vnd Lust geschawt An seinen vnd an Kindes=Kindern. [22] Durch Gott vnd strenger Arbeit Fleiß Hatt’ er das Glück in seinen Mächten, Das sich gar bald zu wenden weis, Sieht Raht vnd Vorsicht nicht zum rechten. [23] Es käme mancher wol empor, Was hilfft’s? er mus dem Glücke dienen, Das lasst jhn niemals recht hervor Auch hat sein Stern ihm nie geschienen. [24] Der oder jener greifft sich an, Vnd zwar am Fleiß ist viel gelegen, Du aber bleibst ein armer Mann, Fasst Gott dich nicht in seinen Segen. [25] Hat wer erst den und nachmals thut Was ihm den wil zu thun gebühren Mit Raht vnd Recht, der wirbet Gut Vnd kan den Preiß für andern führen.

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[26] Wol vnserm Alten welchen Gott Hie nie aus seiner Gunst gelassen, Drumb ihn das Glück auch nicht in Spott, Wie gern es wolte, kunte fassen. [27] Hierzu kam die Gerechtichkeit Die er gemängt in allen Handel, Auch Glaub und Trew die jederzeit Ihm unterhielten seinen Wandel. [28] Schweig ich die Sorgen, damit er, O Kneiphoff, dir offt kam zu statten Da, als er noch lebt’ ohn Beschwer, Vnd deinen Sachen kuntte rahten? [29] Er ist mit seinem Segen dir, Gesteh’ es nur, auch beygesprungen, Du hubest von ihm Hülff und Zier Das rühmlich ihm wird nachgesungen. [30] Ich weis, was Gutthat auch auff mich Auß seinem Hause sey geflossen, Es rühmen dieses sonst, was ich, Von ihm auch andre Kunst=Genossen.

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[31] Auch hat die arme Schülerey, Weil er gelebt, in manchen Jahren In Speiß vnd Kleidung vielerley Sein’ Hand vnd Liebes=That erfahren. [32] Das Armut in dem Hospital Verschweig ich auch anjetzt mit Willen, Daß seinen Hunger mannigmal Mit seinem Vorraht können stillen. [33] O daß mir hierzu Krafft gebricht, Die Gnade währe wehrt zu preisen Die vnsrer Lande Haupt vnd Liecht Ihm jederzeit pflag zu erweisen. [34] Georg= vnd Friedrich Wilhelm, ja, Der schon ihm das Gestirn erlesen, Selbs Vnser grosse Vladisla Sind gnädigst offt bey ihm gewesen.

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394 [35] Das machte sein belebter Geist Vnd freyer Muth in allen dingen Der leichtlich Hertzen zu sich reisst, Auch hohe Huld kan an sich bringen.

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[36] Nichts aber was es möchte seyn, Nicht Herren Gunst, nicht Glückes=Sachen, So bald sich naht sein Stündelein, Vermag ihm Säumnis hie zu machen. [37] Sein Hertz schleusst eilends alles aus Ohn Christum, den wil er gewinnen, Sonst stellt er Kinder, Enckel, Hauß, Glück, Welt vnd Zeit fern aus den Sinnen. [38] Der bleiche Todt, der hagre Mann Ist da vnd wil sein Ampt verrichten, Es klopfft mir, spricht er jemand an, Was? jaget ihr ihn weg? mit nichten. [39] Er komm’ vnd thu mir, was er wil, Ich fühle keine Todes schmertzen, Mein Jesus macht mich froh vnd still, Den halt ich fest in meinem Hertzen. [40] In dieser Trost=Beständigheit Schickt=er den Geist=zu seinem HErren, Es mag sich über ihm der Neid Noch eins so reissen oder zerren.

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[41] Vnmüglich ist es, wie ich halt’, An dieser Erden können kleben, Vnd alles zeitlichen so bald Vnd so beständig sich begeben. [42] Ihr Eidam vnd ihr Kinder weint, Ihr habt wol Vrsach ihn zu klagen, Der euch so trewlich hat gemeint, Den laßt ihr jetzt zu Grabe tragen. [43] Flieht aber dißfals Heyden Brauch, Die Trostlos sind vnd billich schreyen, Ihr habet warlich Vrsach auch Ob seinem End’ euch zu erfrewen.

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[44] Ihr seyd versichert, daß ihr ihn (Wird euch nun Gott der Welt entbinden, Er laß euch alt von hinnen ziehn) Dort frölich werdet wieder finden. [45] Indessen bringet sein Gebein Zu Grabe mit recht trewen Zehren, Lasst nirgends wo gebrechen seyn, Was könnt ihr Ihm sonst mehr gewehren? [46] Lasst seine Vorsorg’ offenbahr In einen schönen Leich=Stein’ hawen, Vnd ewrer Kinder=Kinder Schar Den Vrsprung ihrer Wolfahrt schawen!

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Žavinta Sidabraitơ

Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach in litauischen Gesangbüchern der Aufklärung

Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach in den litauischen protestantischen Gesangbüchern der Aufklärungsepoche besaß eine direkte Verbindung mit den radikalen Veränderungen in der Praxis der Einführung von Kirchengesangbüchern im damaligen Königreich Preußen. Die deutsche Forschung bezeichnet das 18. Jahrhundert als Umbruchzeit der Kirchengesangbücher. Das Verlangen nach Veränderungen wurde sowohl im litauischen als auch im deutschen Protestantismus grundsätzlich durch die Ideen der Aufklärungsepoche bedingt, die immer tiefer auch in die Kirche vordrangen und ihr inneres wie äußeres Leben veränderten. Die orthodoxe Dogmatik wurde abgelöst. Das ›Alte‹ und das ›Neue‹ im Protestantismus, vor allem konservative supranaturalistische und radikalrationalistische Strömungen, rivalisierten miteinander. Die Regierungszeiten von Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740) und von seinem Nachfolger Friedrich II. (1740 – 1786) waren eine Epoche der großen religiösen Bewegung und Freiheit in Preußen. Die Monarchie war durch eine für die damalige Zeit besondere Toleranz in bezug auf unterschiedliche religiöse Einstellungen gekennzeichnet. Sie stellte die Interessen des Staats über die Religion und mischte sich in die Streitigkeiten der Theologen nicht ein. Die während ihrer Studien an verschiedenen Universitäten mit den neuen Ideen in Berührung gekommenen Pfarrer versuchten, diese in der kirchlichen Praxis zu verwirklichen. Das schlug sich vor allem in den Predigten und Gesangbüchern nieder. Kirchenlieder wurden in ihrer Struktur redigiert, umgestaltet und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der einfache Gläubige einer Pfarrgemeinde konnte diese ständigen Korrekturen beliebter Kirchenlieder nicht immer nachvollziehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte im preußischen Königreich der sogenannte Kirchenliederkrieg: Die Gemeinden begegneten den neuen Gesangbüchern mißtrauisch und weigerten sich oft, sie zu benutzen. Das Schicksal des von Johann Samuel Diterich und anderen vorbereiteten Berliner Gesangbuchs ist in dieser Hinsicht symptomatisch. Das Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den königl. preuß. Landen wurde 1780 gedruckt und von den Kirchenbehörden dezidiert zur Verwendung empfohlen und auch ständig in den Predigten vorgestellt, es rief aber einen großen Widerstand der Pfarrgemeinden und jahrelange kontroverse Diskussionen in diesen hervor. Diese Kontroversen erreichten sogar den König. Die Gegensätze zwischen den Pfarrern, die die neuen Gesangbücher einführten, und den Gemeindemitgliedern, die die alten behalten wollten, waren äußerst scharf: Die Gläubigen sangen weiterhin die alten Kirchenlieder und verließen die Kirche lärmend als Zeichen ihres

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Protestes. Der Höhepunkt des Widerstands war die Bitte des Kaufmanns Apitzsch, die 1781 im Namen einiger Berliner Pfarrgemeinden an den König gerichtet wurde. Es wurde gebeten, wieder das alte Gesangbuch Geistliche und liebliche Lieder von Johann Porst (1668 – 1728), das erstmals 1708 erschienen war, benutzen zu dürfen. Friedrich II. antwortete mit den bekannten Worten auf diese Petition: »Ein Jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist; was die Gesangbücher angeht, so steht einem Jeden frei zu singen: Nun ruhen alle Wälder, oder dergleichen thöricht und dummes Zeug; aber die Priester müssen die Toleranz nicht vergessen [...]«. 1 Vergleichbare Vorgänge spielten sich auch in den litauischen Gemeinden in Ostpreußen ab. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Bedarf an einem neuen litauischen Gesangbuch groß. Die Unzufriedenheit der Pfarrer mit dem erstmals 1732 veröffentlichten, von Johann Behrendt (1666 – 1737) und Johann Jakob Quandt (1686 – 1772) zusammengestellten, noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Adam Friedrich Schimmelpfennig (1699 – 1763) vermehrt und wiederholt aufgelegten Gesangbuch wuchs rasch. Es konnte die veränderten Ansprüche der Gläubigen sowohl in einigen Glaubensfragen als auch sprachlich und poetisch nicht mehr befriedigen. Hatte sich bis dahin die Kirchenleitung um die Herausgabe der Gesangbücher gekümmert, übernahmen jetzt die Pfarrer selbst die Initiative. Doch ihre Vorstellungen, was in den Gesangbüchern und wie es zu verändern sei, waren sehr unterschiedlich. Etwa um 1765 bereiteten Gottfried Ostermeyer (1716 – 1800), Pfarrer aus Trempen, und Paul Schröder, Pfarrer aus Balleten, auf Anregung des Georgenburger Pfarrers Christian Lovin einen Plan zur Umgestaltung des Gesangbuchs vor. Sie setzten sich das Ziel, die bis dahin selbständigen Teile von Behrendt und Fabian Ulrich Glaser (1688 – 1747), der 1740 in Königsberg eine Sammlung litauischer Kirchenlieder veröffentlicht hatte, zu vereinen. Die Psalmen sollten in die Gesamtstruktur des Gesangbuchs einbezogen werden, zugleich sollten neue Kirchenlieder eingeführt oder alte Kirchenlieder, die ihrer Meinung nach nicht mehr in die Zeit paßten, gegen neue ausgetauscht werden. 2 Die Umsetzung dieses Konzepts hätte voraussichtlich die traditionelle Zusammenstellung der Gesangbücher radikal geändert. Doch Lovin begann sehr bald zu zweifeln, ob es gelänge, dieses große Projekt zu verwirklichen; er lehnte es deshalb ab und wurde sogar zu seinem Gegner. Ostermeyer, der einen unnachgiebigen Charakter besaß, blieb schließlich mit dieser Arbeit fast allein, Schröder half ihm nur ab und zu dabei. Es scheint, daß etwa zu gleicher Zeit auch der Pillkallener Kantor Christian Gottlieb Mielcke (1732 – 1807) mit der Arbeit an einem neuen Gesangbuch begann. Ostermeyer war in seiner Arbeit indes schneller und gab sein Gesangbuch 1781 heraus, während Mielcke sein Vorhaben noch nicht abgeschlossen hatte. _______ 1 2

Johann Friedrich Bachmann: Zur Geschichte der Berliner Gesangbücher. Ein hymnologischer Beitrag. ND der Ausg. Berlin 1856. Hildesheim [u.a.]: Olms 1970, S. 216. Gotfrydas Ostermejeris: Pirmoji lietuviškǐ giesmynǐ istorija. [Erste Geschichte der litauischen Gesänge]. In: Ders.: Rinktiniai raštai. [Gesammelte Werke]. Hg. von Liucija Citaviþinjtơ. Vilnius: Mokslo ir enciklopedijǐ leidykla 1996, S. 378.

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Nach der Herausgabe des Gesangbuchs von Ostermeyer kam es auch über die Prinzipien der Zusammenstellung litauischer Gesangbücher zu heftigen Kontroversen. Wenn man an die Grundsätze denkt, nach denen Ostermeyer sein Gesangbuch zusammenstellte, darf man wohl behaupten, daß sein Schicksal von vornherein bestimmt war. Aus den erhaltenen Fragmenten und aus den Erklärungen von Ostermeyer selbst wird deutlich, daß sein Gesangbuch sowohl seinem Geist als auch seiner Struktur nach wirklich ›revolutionär‹ war. Der Liedbestand und die Reihenfolge der Lieder waren von ihm gravierend verändert worden. Ein derart verändertes Gesangbuch hätte sich wohl nur auf Druck der obersten Kirchenbehörden durchsetzen lassen, wie es im Falle des Berliner Gesangbuchs versucht worden war. Aus den geführten Kontroversen ist zu erkennen, daß Ostermeyer auf diese Unterstützung gehofft hatte, um dadurch seine schärfsten Gegner zum Schweigen zu bringen. Er erhielt aber eine solche Unterstützung nicht. Sein Gesangbuch wurde, anders als das Berliner Gesangbuch, das in einzelnen Pfarrgemeinden einige Zeit in Gebrauch blieb, fast gleich nach seiner Drucklegung zu Makulatur. Heute existiert kein Exemplar mehr von Ostermeyers Gesangbuch. Erhalten blieb nur ein unvollständiges Manuskript, das der Kulturhistoriker Woldemar Hoffheinz entdeckte und beschrieb. 3 Das Gesangbuch von Ostermeyer rief den Widerstand nahezu aller Gruppen in der lutherischen Kirche Ostpreußens hervor. Mielcke wurde dabei zum Wortführer der Gegner des Trempener Pfarrers. Die günstige öffentliche Stimmung und seine persönlichen Eigenschaften – sein verletzter Ehrgeiz, sein heftiger Charakter sowie seine guten Kenntnisse der litauischen Sprache – prädestinierten den Pillkallener Kantor für diese Rolle. Im großen und ganzen vertraten Ostermeyer und seine Gegner zwar die gleiche Ausgangsposition, 4 nämlich den Wunsch, das alte Gesangbuch zu reformieren; unterschiedlich war nur der Weg, den sie dafür beschreiten wollten, also der Umfang der Veränderungen. Mielcke brachte in die Diskussionen immer wieder die über das Berliner Gesangbuch entstandenen Polemiken ein. Das Schicksal beider Gesangbücher zeugt davon, wie wenig die Kirchengemeinden damals zu derart gravierenden Neuerungen, wie sie die Gesangbücher von Diterich und Ostermeyer in den Gottesdienst eingeführt hätten, bereit waren. Mielcke berief sich auf die unter Friedrich II. weitgehend gewährte religiöse Freiheit, als er Ostermeyers Versuche, die Kontroversen zu beenden, mit dem Hinweis konterte, schließlich »leben wir […] unter dem Preussischen Scepter, wo Gewissens-Zwang längst verbannet worden« sei. 5 Das Schicksal des Berliner Gesangbuchs diente ihm zur Legitimation seiner Kritik, die er ungeachtet seiner geringeren Stellung in der _______ 3 4

5

Woldemar Hoffheinz: Bericht über einen litterarischen Fund. In: Mitteilungen der litauischen litterarischen Gesellschaft 5 (1882), S. 263–275. Vgl. Vytautas Vanagas: Gotfridas Ostermejeris – pirmasis lietuviǐ literatnjros istorikas. [Gottfried Ostermeyer – der erste litauische Literaturhistoriker.] In: Literatnjra ir kalba 5 (1961), S. 417. Christian Gottlieb Mielcke: Bescheidene Beantwortung des Bedenkens, so Herr Pfarrer Ostermeyer von Trempen, über einen Entwurf zum neuen Littauischen Gesangbuch bekannt gemacht. Königsberg: Hartung 1788, S. VIII.

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kirchlichen Hierarchie erhob (wobei er sich sogar auf den oben erwähnten Kaufmann Apitzsch bezog). Mielcke beließ es jedoch keineswegs nur bei seiner Polemik gegen Ostermeyers Gesangbuch, sondern er beobachtete auch die Reaktionen der Gemeinden aufmerksam und lernte aus den Fehlern seines Opponenten. Als im Jahre 1806 endlich sein Gesangbuch herausgegeben wurde, waren diesem die Erfahrungen und Lehren der rund vier Jahrzehnte anzumerken, die seit dem Beginn seiner Arbeit an dem Manuskript vergangen waren. In diese Jahrzehnte fielen auch die Arbeit an seiner litauischen Grammatik (mit einem Poetikteil) sowie an seinem zweiteiligen litauisch-deutschen und deutsch-litauischen Wörterbuch. Er verfolgte die andernorts über neue Gesangbücher geführten Diskussionen, er studierte aber ebenso die Traktate von Ostermeyer, seine Grammatik und seine Erste Littauische Liedergeschichte. Doch ungeachtet aller Bemühungen und der akribischen Vorbereitung fand auch Mielckes Gesangbuch keine Anerkennung in den litauischen Gemeinden, viele Pfarrer waren damit unzufrieden, und der Pfarrer von Gumbinnen, Karl Gotthard Keber (der später selbst ein Gesangbuch vorbereitete), bemühte sich darum, daß das königliche Konsistorium die Verbreitung des Gesangbuchs verbot. 6 Schließlich wurde auch dieses Gesangbuch zu Makulatur. Heutzutage sind in Litauen nur noch zwei Exemplare bekannt, die in der Abteilung der seltenen Drucke bzw. in der Abteilung der Lituanistik in der Bibliothek der Universität Vilnius aufbewahrt werden. Ein weiteres Exemplar befindet sich in der Universitätsbibliothek in ToruĔ. Die langen Jahrzehnte, die Mielcke für die akribische Vorbereitung seines Gesangbuchs gebraucht hatte, erwiesen sich jetzt als entscheidender Nachteil. Er konnte nicht mehr auf die erneuten kulturellen Veränderungen reagieren, er schrieb isoliert von den kulturellen Zentren – und er besaß letztlich auch eine zu große Selbstüberschätzung. Mielcke strebte einerseits nach einem erneuerten, modernen und seiner Zeit entsprechenden Gesangbuch, andererseits zwangen ihn die Angst vor einem Mißerfolg und seine Erfahrungen als Kantor, der täglich mit den Gesangbüchern arbeitete und deshalb sehr gut die Erwartungen der künftigen Benutzer kannte, zu Kompromissen. In seiner Polemik gegen Ostermeyer betonte er, daß man die Verbindung zu der durch Jahrhunderte gewachsenen Tradition nicht abbrechen dürfe und plädierte für eine nachsichtige Behandlung der Mängel des alten Gesangbuchs. Es war sein Bestreben, möglichst wenige Kirchenlieder des alten Gesangbuchs zu verändern, wenngleich auch er nicht anders als Ostermeyer die Notwendigkeit grundsätzlicher Umstrukturierungen erkannte. Im Gegensatz zu Ostermeyer war Mielcke davon überzeugt, daß es wichtig sei, die erste Zeile und die Strophenzahl der Kirchenlieder beizubehalten. Es schien ihm besser, ein Kirchenlied, in dem die erste Zeile nicht mehr in die Zeit paßte, ganz abzulehnen als die erste Zeile zu verändern. Dadurch sollte dem Gottesdienstbesucher erleichtert werden, ohne Mühe ein Kir_______ 6

Juozas Girdzijauskas: Kristijonas Gotlybas Milkus. In: Kristijonas Gotlybas Milkus: Pilkainis. [Pillkallen.] Hg. von Liucija Citaviþinjtơ und Juozas Girdzijauskas. Vilnius: Vaga 1990, S. 18.

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chenlied, auch wenn es stark umgestaltet war, zu finden und zu erkennen. Ostermeyer hatte diesen Grundsatz nicht akzeptiert. Die Herausgeber der litauischen Gesangbücher des 18. Jahrhunderts übernahmen den größten Teil der übersetzten deutschen Kirchenlieder des 17. Jahrhunderts. Das ›düstere‹ barocke Kirchenlied fand seinen Platz in den litauischen Gesangbüchern dabei früher und fester als das ›frohe‹ Lied Gerhardtscher Prägung. Den größten Einfluß auf die litauischen Gesangbücher übte dabei das Schaffen der preußischen Dichtergruppe in Königsberg, deren Seele Simon Dach, der »Sänger von Tod und Freundschaft«, war. 7 Seit der Reformationszeit erklangen im protestantischen Kirchenlied die Themen von menschlichem Elend und Tod, von Angst und Verurteilung. Der Gläubige der Barockzeit lebte in der ständigen frommen Angst vor der Sündhaftigkeit. 8 Die Kirchenlieder der Königsberger Dichter waren vielfach direkte Reflexionen dieser pessimistischen Weltwahrnehmung, die von den furchtbaren Ausmaßen der Pestepedemien gerade in diesem Territorium verstärkt wurden.9 Mielcke übernahm in sein Gesangbuch 25 Kirchenlieder von Simon Dach. Bei Schimmelpfennig waren es noch 26. 10 Dachs Lied »Der Nacht Gefahr und Grauen« 11 in der Übersetzung von Jakob Perkuhn lehnte Mielcke möglicherweise wegen der schlechten Übersetzung ab. Die übernommenen Kirchenlieder wurden meistens in den ersten Teil seines Gesangbuchs aufgenommen, in den zweiten, sogenannten Glaserschen Teil kamen nur zwei von Glaser selbst übersetzte Kirchenlieder. Die von Dach aufgenommenen Kirchenlieder wurden von jener pessimistischen Stimmung und der Spannung im ständigen Anblick von Pest und Sünde beherrscht, die den vom Gefühl der Schuld durchdrungenen Gläubigen nach der Versöhnung mit Gott und der Hoffnung jenseits des Irdischen suchen lassen. Diese barocke Weltwahrnehmung übte in Ostpreußen einen längeren Einfluß auf die litauische Kultur als auf die deutsche aus. Noch im Gesangbuch von Mielcke findet sich ein Echo davon. Zwar ist die für die barocke Literatur in Deutschland typische Spannung zwischen Ewigkeit des Geistigen und Endlichkeit des Körperlichen 12 nicht mehr zu merken. Doch die Gedanken der Vergänglichkeit und Eitelkeit des Menschen behalten ihren Platz. 13 Mielcke hielt sich mit der Übernahme dieser Lieder einerseits an die alten Traditionen, andererseits war diese pessimistische Weltwahrnehmung jedem Li_______ 7 8

9 10 11 12 13

Paul Gabriel: Das deutsche evangelische Kirchenlied von Martin Luther bis zur Gegenwart. 3., durchges. Aufl. Berlin: Evangelische Verlags-Anstalt 1956, S. 103. Vgl. Ingeborg Röbbelen: Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelischlutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1957 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 6), S. 79. Vgl. Johannes Westphal: Das evangelische Kirchenlied nach seiner geschichtlichen Entwicklung. 6., verm. und verb. Aufl. Berlin: Union 1925, S. 114. Vgl. das Verzeichnis im Anhang. »Morgen=Lied an der Mittwoche.« In: ZIESEMER IV, S. 485 f. Vgl. Gerald Gillespie: Renaissance, Mannerism, Baroque. In: German Baroque Literature. The European Perspective. Hg. von Gerhart Hoffmeister. New York: Ungar 1983, S. 6. Vgl. Giles R. Hoyt: Vanity and Constancy. In: ebd., S. 218.

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tauer in Ostpreußen relativ nahe (auch Donelaitis oder die Predigten Mielckes in seiner Postille waren davon geprägt). Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Kirchenlieder bei der Herausgabe der Gesangbücher kaum redigiert und blieben dem Original nahe. Die Aufklärungszeit hob nun die Erfahrungskräfte der menschlichen Vernunft hervor und strebte danach, das Kirchenlied zu einem nicht nur den Glauben kündenden, sondern auch, und das ist das Wichtigste, zu einem den Christen ausbildenden Element der konfessionellen Liturgie zu machen. Fast jeder Herausgeber von Gesangbüchern lenkte mit dem Pflichtgefühl eines Religionslehrers in seinem Vorwort die Aufmerksamkeit auf die ›unvermeidlichen‹ Korrekturen der alten Kirchenlieder, die die Reinheit der Lehre im Text verbreiten sollten. An das Kirchenlied als ein Medium der Lehre wurden hohe Anforderungen gestellt, die nicht nur die Richtigkeit der verkündeten Wahrheiten betrafen, sondern ebenso Klarheit des Gedankens, Reinheit der Sprache und Beachtung der poetischen Regeln einforderten. Diese Forderungen erfüllten nicht alle alten Kirchenlieder, weshalb die Bearbeiter nun intensiv in die Texte einzugreifen begannen. Mielcke griff unter diesen Prämissen ebenfalls in die alten Übersetzungen der Dachlieder ein. So tauscht er beispielsweise »bơdną Ubagą« (»den armen Bettler«; Sch 109) 14 in dem von einem Unbekannten übersetzten Kirchenlied »Auch diese Nacht hat sich verlohren« 15 gegen die theologisch genauere und dem Original nähere Wendung »pawargussƳ Artimą« (»den müden Nächsten«; M 109) oder das theologisch gesehen fälschlich benutzte »Jơzǐ, Griekus atleidusƳ« (»Jesus, der die Sünden vergeben hat«; Sch 377) im Lied »Ich bin ja, Herr, in deiner Macht«, 16 in der Übersetzung von Johann Behrendt, gegen »Jơzǐ, už Griekus mokơjusƳ« (»Jesus, der für Sünden gezahlt hat«; M 376) aus. In dem Bestreben, die ›Heiligkeit‹ des geschriebenen Worts in der protestantischen Tradition zugunsten der Reinheit der Lehre abzulösen, mündeten die einleitenden Überlegungen der Herausgeber häufig in die Besprechung _______ 14

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Benutzt wurden die folgenden Ausgaben: [Adam Friedrich Schimmelpfennig:] Isznaujo perweizdetos ir pagerintos Giesmu=Knygos, kurruose brangiausos senos ir naujos Giesmes suraszytos Diewui ant Garbes ir Prusu Karalysteje esantiems Lietuwininkams ant Duszu Iszganimo podraug su Maldu=Knygomis, kurruose ne tiktay senos, bet ir naujos Maldos randamos yra. [Von neuem durchgesehene und verbesserte Gesangbücher, in denen wertvolle alte und neue Gesänge Gott zu Ehren und für die Litauer im preußischem Königreich zur Erlösung der Seele geschrieben sind, zusammen mit Gebetbücher, in denen nicht nur alte, sondern auch neue Gebete zu finden sind.] Königsberg: Hartung [1752]. [Christian Gottlieb Mielcke:] Senos ir naujos krikszczoniszkos Giesmơs, ypaczey Senniemsiems ant Gero su dideleis Rasztais iszspaustos draug su naujom’s Maldǐ Knygelemis. [Alte und neue christliche Gesänge, besonders für die Älteren mit großen Buchstaben gedruckt, zusammen mit neuen Gebetbüchern.] Königsberg: Hartung 1806. – Im folgenden werden diese beiden Gesangbücher im Text mit den Kürzeln Sch = Adam Friedrich Schimmelpfennig und M = Christian Gottlieb Mielcke mit der Nummer des jeweiligen Lieds zitiert. »Am Sonntag.« In: ZIESEMER IV, S. 483. »Christliche Todes Erinerung Des […] Herrn Robert Robertihns […].« In: ZIESEMER III, S. 206 f.

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sprachlicher und stilistischer Besonderheiten eines Kirchenlieds. Mielcke bildete hier keine Ausnahme. Charakteristisch für seine Haltung war, daß er Ostermeyer nur Vorwürfe in bezug auf philologische Verstöße gegenüber der Lehrreinheit machte, für die sein Vorgänger die aus dem Mittelalter geerbten ›Fremdkörper‹ und die in der protestantischen Hymnologie existierende Tradition einer Heidenlexik nicht weit genug abgestreift habe. 17 Der Satzbau eines Kirchenlieds sollte den religiösen Gehalt und Sinn vor allem ganz präzise übermitteln. In dieser Hinsicht zeigen die von ihm umgestalteten Kirchenlieder Mielcke als einen überzeugten Vertreter der Aufklärungszeit. In seiner polemischen Auseinandersetzung mit Ostermeyer legte er die Richtlinien seiner Arbeit fest und formulierte seine Prioritäten. Aus seinen Erläuterungen wird ersichtlich, daß ihm die wichtigsten Anliegen bei der Redigierung waren, zur Klarheit des Gedankens und einen der lehrhaften Bestimmung des Gesangbuchs entsprechenden Stil zu finden: Er wollte seine »Verbesserungen vornehmlich auf diejenige[n] Stellen einschränken, die dem gemeinen Mann unverständlich oder anstößig werden können«. 18 Bei der Umgestaltung der Kirchenlieder korrigierte er nicht nur eindeutige grammatische oder lexikalische Fehler, sondern er bemühte sich ebenso, »unverständliche oder übertrieben mystische Redensarten« zu tilgen. 19 Derartige Korrekturen unklarer oder ›unreiner‹ Stellen nahm Mielcke auch häufig an den Übersetzungen der Kirchenlieder Simon Dachs vor. Mielcke beherrschte die litauische Sprache gut, er hatte an der Universität Poetikvorlesungen besucht und besaß die Fähigkeit, Gedanken stringent in Versen zu formulieren. Obwohl es ihm nicht gelang, alle ›Unreinheiten‹ zu korrigieren, kommen sie in seinem Gesangbuch im Vergleich zu der Ausgabe von Schimmelpfennig doch wesentlich seltener vor. Mielckes Bearbeitungen zeugen davon, daß er die Lieder sowohl im Original als auch in der vorliegenden litauischen Übersetzung sehr aufmerksam gelesen hatte und bei seinen Korrekturen auf den gesamten Inhalt des einzelnen Kirchenlieds achtete. Dabei versuchte er stets, die inhaltliche Einheitlichkeit zu bewahren. Den stilistischen Bearbeitungen Mielckes ist größere Beachtung zu widmen. Als Aufklärungstheologe wollte er die expressive und überschwengliche Bildlichkeit der barocken Übersetzungen aus dem Gesangbuch beseitigen. Mielcke war wohl der erste Vertreter einer litauischen Sprachlehre, der sich darüber geäußert hat, daß der Stil und Ton eines poetischen Werks nach seinem Zweck und Empfänger gerichtet sein müssen. Er ist für ein unzierliches, von poetischem ›Schmuck‹ nicht überladenes und somit auch für den litauischen Bauern leicht verständliches Kirchenlied. Diese Meinung teilten auch die anderen da_______ 17

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Vgl. Paul Böckmann: Der Lobgesang auf die Geburt Jesu Christi von Martin Opitz und das Stilproblem der deutschen Barocklyrik. In: Archiv für Reformationsgeschichte 57 (1966), S. 184. Mielcke: Bescheidene Beantwortung (wie Anm. 5), S. 81. Christian Gottlieb Mielcke: Kurze Anleitung zur littauischen Poesie. In: Ders.: AnfangsGründe einer Littauischen Sprach-Lehre, worinn zwar die von dem jüngern Ruhig ehemals herausgegebene Grammatik zum Grunde gelegt, aber mit starken Zusätzen und neuen Ausarbeitungen verbessert und vermehret worden. Königsberg: Hartung 1800, S. 193–208, hier S. 203.

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maligen Verfasser deutscher Kirchenlieder, deren Hauptziel eine stilistische ›Neutralisierung‹ des Kirchenlieds war. So stellte zum Beispiel Johann Friedrich Bahrdt, Verfasser des frühsten aufklärerischen Gesangbuchs, seine Ziele wie folgt vor: Ich habe […] alle Ausdrücke [verbessert], die nur auf einige Weise konnten falsch verstanden, unrichtig ausgelegt, oder sonst zum Nachteil der Wahrheit und Gottseligheit, oder zur Bescheidigung irriger Meynungen und lasterhaftter Siten gemißbraucht werden, daran sich schwache oder leichtsinnige Gemüther einen Anstoß, oder Gelegenheit nehmen könnten, 20 darüber zu spotten, und ihren Schertz damit zu treiben.

Darin drückt sich ein für die Zeit kennzeichnendes Mißtrauen in die Gemeindemitglieder aus. Alles mußte eindeutig und klar sogar für einen nicht besonders gebildeten Christen sein, keine Allegorien, keine Andeutungen, keine Tropen durften ihm unverständlich bleiben. Mielcke allerdings bemühte sich, bei seinen Korrekturen die stilistischen Eingriffe soweit wie möglich abzumildern, um die ›künstlerische‹ Qualität der Texte zu wahren. Einerseits sprach Mielcke über ein mit einfachen stilistischen Mitteln gestaltetes und damit auch für den ungebildeten litauischen Bauern verständliches Kirchenlied, andererseits aber kritisierte er wie die anderen Verfasser und Herausgeber von Gesangbüchern dieser Zeit jeden »pöbelhaften« Ausdruck in Kirchenliedern. Dabei unterschied Mielcke ganz strikt religiöse Dichtung, also Kirchenlieder, von weltlicher Dichtung. In letzterer könne man einen »pöbelhaften Ausdruck«, so Mielcke in einer frühen Schrift gegen Ostermeyer, »wohl brauchen«, aber es »ist in einem jeden Liede ein unausstehlicher Fehler, der den sanger in seiner Andacht stohret, und wider die Ehrfurcht lauft, die Er Gott, seine Sache in anständigen Ausdrücken vorzutragen, schuldig ist«. 21 Das Thema des Glaubens mußte also in einer erhabenen Sprache verhandelt werden. Mit dieser Auffassung stand Mielcke nicht allein. 22 Den barocken Ton, der für Melchior Schwabe, von 1650 bis 1663 Pfarrer in Walterkehmen und Übersetzer der meisten Kirchenlieder von Simon Dach, kennzeichnend war, fand Mielcke unannehmbar.Wie strikt Mielcke zwischen weltlicher Dichtung und Kirchenlied trennte, zeigt sich in seinem Umgang mit den Liedern Schwabes und Schimmelpfennigs. Beide zählte er zwar zu den »besten litauischen Dichtern«, 23 doch bei der Vorbereitung seines Gesangbuchs ging er mit ihren Kirchenliedern ganz unterschiedlich um: Die stilistisch ›neutraleren‹ Kirchenlieder von Schimmelpfennig redigierte er nur wenig, die durch barocken ›Schwulst‹ ausgezeichneten Kirchenlieder Schwabes gestaltete er wesentlich um, so sehr er auch ihre poetische Expressivität verstand. Diese Ablehnung barocken Schwulststils und seiner Bildlichkeit war auch für die Literatur des polnischen Klassizismus der _______ 20

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Johann Friedrich Bahrdt: Das privilegirte, neu verfertigte evangelische Gesangbuch […] nebst einem gantz neu ausgearbeiteten Gebet- und Communion-Buch […]. 2. Aufl. Leipzig: Schönermarck 1764, S. VI f. (erstmals 1753). Mielcke: Bescheidene Beantwortung (wie Anm. 5), S. 67 f. Vgl. beispielsweise Johann Friedrich Mudre: Geistliche Lieder und Gedichte. Friedrichstadt bei Dresden: [o.D.] 1770, S. 4. Mielcke: Kurze Anleitung zur littauischen Poesie (wie Anm. 19), S. 204.

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Aufklärungszeit kennzeichnend. 24 Obwohl in den neuen Kirchenliedern des Gesangbuchs von Mielcke noch ab und zu ›barocke‹ Spuren zu finden sind, stützte er sich bei seinen Umgestaltungen auf diese klassizistische Ästhetik, die die Klarheit und Einfachheit des Stils sowie die Reinheit und Richtigkeit der Sprache bevorzugte, und die die Gattungen des hohen und niederen Stils streng unterschied. 25 Kaum ein Wort des niederen Stils blieb von Mielcke bewahrt, überall erkennt man sein Bemühen, die Texte zu ›veredeln‹. Das betraf auch die bis in das 18. Jahrhundert wirkende Tradition, das Sprechen über Gott mit Bildern und Vergleichen des Körpers und des körperlichen Daseins zu gestalten. Die Dogmen von der Körperlosigkeit als einem wesentlichen göttlichen Merkmal und von der körperlichen Sünde sowie die neuen ästhetischen Ansprüche führten dazu, daß aus der religiösen Dichtung auch diese lexikalische Schicht eines ›körperlichen‹ Wortschatzes, als vermeintliches Merkmal eines niederen Stils, von Mielcke beseitigt wurden. Das zeigt sich auch in den bearbeiteten Kirchenliedern von Simon Dach. In der von Fabian Ulrich Glaser vorgenommenen Übersetzung des Lieds »Du unbegreiflich höchstes Gut« 26 wird die gemütlichmenschliche Bitte an den Allmächtigen, »Lenk szen manĊsp Malonơs sawo Auseles« (»richte deine Öhrchen auf mich hin«; Sch 503), von Mielcke durch die sich wiederholenden farblosen Worte »meldziams iszklausyk mannĊ« (»bete, hör mich«; M 500) ersetzt. Auch die biblische Metapher, »Ak, kur Jaunikki miels essi? Kur Diewo tu Avinơli, ganaisi [...]« (»Wo bist du gnädiger Bräutigam? Wo bist du Gottesschäffchen?«; Sch 503), klingt offenbar zu ›familiär‹ für Mielcke und er greift hier wieder zu einer Vereinfachung: »Ak, kur tu Jezau miels! Essi, kam nuo mannes passislepi?« (»Wo bist du gnädiger Jesus? Warum verbirgst du dich vor mir?«; M 500) Doch reichte Mielckes poetisches Talent nicht in allen Fällen aus und er glitt öfter in ›farblose‹ Verallgemeinerungen ab. Darin lag die allgemeine Schwäche aller aufklärerischen Bearbeitungen: bildlich-verständliche Worte wurden durch abstrakte Begriffe der Moralphilosophie ersetzt, und diese sonderte sich von den Erfahrungen des menschlichen Glaubens ab. 27 Das kommt besonders deutlich bei Mielckes Versuchen zum Ausdruck, die von Schwabe übersetzten Kirchenlieder zu bearbeiten. Zwar waren seine Varianten oft präziser und grammatisch korrekter, sie waren jedoch auch häufig stilistisch schwächer. Metaphern waren bei Mielcke oft »zum Tode verurteilt«. 28 Das geschieht zum Beispiel auch in dem von Glaser übersetzten Kirchenlied »Du unbegreiflich höchstes Gut«. Es scheint, daß die für den barocken Ausdruck typische _______ 24

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L.A. Sofronova, A.W. Lipatov: Barokko i problemi istorii slavianskich literatur i iskusstv. [Barock und Geschichtsprobleme der slawischen Literatur und Kunst.] In: Barokko v slavianskich kulturach. [Barock in slawischen Kulturen.] Moskva: Izd. Nauka 1982, S. 10. Vytautas Galinis: Literatnjros raida. [Literaturentwicklung.] In: Literatnjros teorijos apybraiža. [Abriß der Literaturtheorie.] Vilnius: Vaga 1982, S. 352. Bei ZIESEMER über Verzeichnisse der Gedichtanfänge nicht nachzuweisen. Westphal: Das evangelische Kirchenlied (wie Anm. 9), S. 186. Leonas Gineitis: Pirmoji polemika lietuviǐ raštijos klausimais (Naujai surastǐ raštǐ šviesoje). [Die erste Polemik über litauische Schriftfragen (im Licht der neugefundenen Schriften.] In: Literatnjra ir kalba 6 (1962), S. 250.

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Hyperbolik für Mielckes Verständnis viel zu ›stark‹ war: Ausdrücke wie »Razbaininkǐ Kuopos« (»Truppen der Räuber«; Sch 147, übersetzt von Schwabe), »gywa Pekla« (»lebendige Hölle«; Sch 40, übersetzt von Behrendt), »prakeikta Peklos Bơsą« (»verfluchter Teufel der Hölle«; Sch 40, übersetzt von Glaser) etc. lehnte Mielcke in seinem Gesangbuch ganz und gar ab. Die volkstümliche Lexik war ebenso wie die sentimentale, in bezug auf Gott familiäre Atmosphäre, die mit Diminutiven geschaffen wurde, für die Vertreter der neuen Kirchenlieddichtung nicht annehmbar. Diminutiva waren sowohl in der deutschen weltlichen und religiösen Barockdichtung als auch in der Dichtung der Nachbarvölker verbreitet. Der polnische Literaturhistoriker Czesáaw Miáosz bezeichnete dies als eine der spezifischen Erscheinungen in der polnischen Barocklyrik. 29 Der Christ der Aufklärungszeit, der bereit war, die Religion der Vernunft zu verkünden, verlor die Beziehung des Barockmenschen zum Schöpfer in der Vertrautheit des Herzensgebets. Gott wurde der liebende Vater im Himmel und nicht mehr das die Sorgen seiner Kinder fühlende Väterchen, wie er es noch dem gläubigen Kirchenliedsänger Schwabes oder den Bauern von Kristijonas Donelaitis gewesen war. Mielcke lehnte Diminutive für Kirchenlieder grundsätzlich ab. Er war davon überzeugt, daß ein gerechter und vornehmer Litauer auf die Benutzung von Diminutiven überhaupt verzichten müsse: »Einige von diesen Verkleinerungs-Wörtern sind lächerlich, und wenn sie von Gott und Jesu gebraucht werden, anstößig,« schreibt er in seiner »Kurze[n] Anleitung zur littauischen Poesie«. 30 Seine negative Einstellung gegen die Diminutive resultierte aber ebenso aus ihrem ausführlichen Gebrauch in den litauischen Kirchenliedern, um dadurch die notwendige Silbenzahl in den Zeilen zu erreichen. Diese Diminutive nannte er grundsätzlich »die armselige Zuflucht der Poeten oder Reimschmiede«. 31 Mielcke war aus den genannten Gründen bestrebt, alle diminutiven Formen in seinem Gesangbuch ungeachtet ihrer poetischen Motivation zu beseitigen. Bei der Korrektur wählte er meistens den leichtesten, keine eigenen poetischen Bemühungen erfordernden Weg: Nachdem er die diminutiven Formen getilgt hatte, ersetzte er die fehlenden Silben einfach durch Adjektive, wie beispielsweise »szirding« (»herzlich«), »mylimasis« (»lieblich«), »gerasis« (»am besten«) etc.; wegen ihrer häufigen Wiederholung allerdings gewann der stilistische Ausdruck seiner Kirchenlieder hier etwas Schablonenhaftes und wurde nicht reicher, sondern oftmals ärmer. Den im Aufklärungszeitalter entstandenen Abstand zwischen dem Allmächtigen und dem Menschen illustrieren auch das Ausscheiden der diminutiven, dadurch intimen und für die Übersetzungen Schwabes typischen Anrede Gottes als »Tetutơl« (»Väterchen«) und das Austauschen der früher gerne benutzten Anrede »mielo Jezulelio« (»gnädiger kleiner Jesus«) durch »miela Pona« (»gnädiger Herr«). _______ 29 30 31

Czesáaw Miáosz: Lenkǐ literatnjros istorija. [Geschichte der polnischen Literatur.] Vilnius: Baltos lankos 1996, S. 135. Mielcke: Kurze Anleitung zur littauischen Poesie (wie Anm. 19), S. 202. Ebd., S. 201.

Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach

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Mielcke hielt die Poetik des Volkslieds nicht passend für das Kirchenlied und versuchte, sie aus dem Gesangbuch zu beseitigen, obgleich er die Schönheiten des litauischen Volkslieds und von Donelaitis’ Metai durchaus zu schätzen wußte. In einigen Fällen kann man theologische Überzeugungen für seine Umarbeitungen erkennen, in anderen Fällen entstanden seine Korrekturen einzig aus diesem Bestreben, sich vom Volkslied zu distanzieren. So wird die volkstümlich und warm klingende Zeile »Saulele miela t’užtekie« (»Liebes Sönnlein, geh auf!«; Sch 286) in dem von Schwabe übersetzten Kirchenlied »Gerechter Gott, wo will es hin« 32 in die leblose und für die litauische Sprache nicht typische Zeile »Saule Szillumma te duodie« (»Sonne, gebe Wärme«; M 260) verwandelt. Trotz Mielckes negativer Einstellung gegen den Gebrauch der diminutiven Formen in der litauischen Sprache überhaupt und insbesondere in der religiösen Dichtung sowie seines eindeutigen Bemühens, bei seiner Bearbeitung diese Formen auszumerzen, blieben in seinem Gesangbuch in den Übersetzungen von Dach-Liedern dennoch viele Diminutiva und Koseformen stehen. So können wir beispielsweise in seiner Bearbeitung der Schimmelpfennig-Übersetzung des Lieds »Es vergeht mir alle Lust« 33 eine ganz entgegengesetze Tendenz im Vergleich mit seinen Behandlungen von Schwabes Übersetzungen beobachten. Mielcke näherte sich hier dem Ton des Volkslieds, wenn er die Zeile »jau tekơk Saule, skubbrey« (»geh’, Sonne schnell auf«; Sch 358) durch »Jau tekkơk Saulel Skubrey!« (»geh’, Sönnchen schnell auf!«; M 358) ersetzt. Diese Abweichungen zeugen von einem poetischen Geist Mielckes, der bei seiner Bearbeitung durchaus mit dichterischem Fingerspitzengefühl gegen die selbst gesetzten Regeln verstößt. Man muß jedoch zugeben, daß in vielen Fällen der poetische Verlust in Mielckes Bearbeitungen überwiegt. Sein eigenes poetisches Gefühl erlaubte ihm einerseits, tiefe ›Gräben‹ des künstlerischen Ausdrucks zu bemerken und sie ›auszugleichen‹, andererseits ›fällten‹ die allgemeinen Vorstellungen der Kirchenlieddichtung seiner Zeit und ein Mangel an Talent oftmals selbst die ausdrucksvollsten ›Gipfel‹ des barocken Kirchenlieds. Bei der Bearbeitung der Kirchenlieder befaßte sich Mielcke auch mit der Phonemik. Klangkorrekturen erfolgten aber nur vereinzelt, er korrigierte nur einzelne Stellen, wo die sich wiederholenden Laute besonders das Ohr beim Hören störten. Als Beispiel dafür sei die Bearbeitung der ersten zwei Zeilen der zwölften Strophe des von Schwabe übersetzten Kirchenlieds »Gerechter Gott, wo will es hin« 34 genannt: Potám Saulelei duok szwiesuot ir szwiesti Szwiesą sawo [...] (Sch 286)

Potám Saulelei duok szwiesuot, spindơt mums Szwiesa sawo [...] (M 260)

_______ 32 33 34

»In kalter Winters=Zeit.« In: ZIESEMER IV, S. 490 f. »Affecto coeli sidera, sordet humus.« In: ZIESEMER III, S. 39 f. Wie Anm. 32.

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Žavinta Sidabraitơ

In diesem Bereich verfuhr Mielcke allerdings inkonsequent und nahm nur teilweise Bearbeitungen vor, die aber keinen spürbaren positiven Einfluß auf die Phonemik der litauischen Kirchenlieder ausübten. Mielckes Bearbeitungen der Kirchenlieder Simon Dachs entstanden also, so können wir zusammenfassen, in jenem Spannungsfeld zwischen der barocken Poetik und dem »Ordnungs-, Maß- und Harmonieprinzipien« des Klassizismus, der in der Aufklärungszeit vorherrschte. 35 Seine Bearbeitungen waren der Versuch, die im offiziellen litauischen Gesangbuch in Ostpreußen enthaltenen Übersetzungen Dachscher Kirchenlieder im Geiste des neuen Verständnisses seiner Zeit umzugestalten. Er hielt sich an die Prinzipien der klassizistischen Poetik, rationalem Denken, Klarheit, Korrektheit und Einfachheit der poetischen Sprache und des poetischen Stils wies er den Vorrang zu. 36 Seine Bemühungen waren auf eine moderate ›Modernisierung‹ ausgerichtet. 37 Da das Gesangbuch von Ostermeyer nicht erhalten blieb, ist Mielckes Gesangbuch das einzige für uns erreichbare Beispiel für die Bearbeitungen Dachscher Kirchenlieder in den litauischen Gesangbüchern dieser Zeit. Mielckes Arbeit allerdings fand keine Nachfolger: Die späteren Herausgeber litauischer Gesangbücher, Karl Gotthard Keber (1832) und Friedrich Kurschat (1841) übernahmen seine Korrekturen nicht und kehrten zurück zu den im Gesangbuch von Schimmelpfennig gedruckten Kirchenliedern Simon Dachs.

_______ 35 36

37

Vytautas Kubilius: Žanrǐ kaita ir sintezơ. [Änderung und Synthese der Genres.] Vilnius: Vaga 1986, S. 15. Juozas Girdzijauskas: Lietuviǐ XVII – XIX a. poetikos rnjpesþiai. [Die Sorgen der litauischen Poetik des 17. – 19. Jahrhunderts.] In: Lietuviǐ poetikos pradmenys. [Anfänge der litauischen Poetik.] Hg. von Juozas Girdzijauskas. Vilnius: Vaga 1985, S. 19. Dmitrii Lichatschev: Tekstologia. Leningrad: Nauka 1983, S. 82.

Die Rezeption der Kirchenlieder von Simon Dach

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ANHANG Verzeichnis der Kirchenlieder Dachs in den litauischen Gesangbüchern von Schimmelpfennig und Mielcke in alphabetischer Reihenfolge der Übersetzer Johann Behrendt (1666 – 1737) Ich bin ja, Herr, in deiner Macht O Theures Blut! O rothe Fluth! Was? soll ein Christ sich fressen Ernst Ditzel (1629 – 1692) Gleichwol hab’ ich uberwunden O Christe, Schutz=Herr deiner Glieder Was willst du armes Leben? Fabian Ulrich Glaser (1688 – 1747) Du unbegreiflich höchstes Gut (bei Ziesemer nicht nachzuweisen) Was ich heut von dir gebeten Wer, O Jesu, deine Wunden Johann Andreas Kaiser (1650 – 1710) Gott herschet, und hält bey uns Hauß Daniel Klein (1609 – 1666) O Wie Seelig seydt ihr doch, Ihr Frommen Jakob Perkuhn (um 1640 – 1709) Der Nacht Gefahr und Grauen (fehlt bei Mielcke) Du siehest Mensch wie fort und fort Matthaeus Praetorius (um 1635/36 – 1704) Die grosse Nichtigheit Philipp Ruhig (1675 – 1749) Schöner HimmelsSaal Adam Friedrich Schimmelpfennig (1699 – 1763) Es vergeht mir alle Lust Herr, wir wallen sämptlich dir Melchior Schwabe (1624 – 1663) Ach wie verkehrt es sich so sehr Bey dieser Sterbens=Sucht Gerechter Gott, wo wil es hin Gott du hast unser gnug begehrt Herr ich denk an jene Zeit (bei Ziesemer nicht nachzuweisen) Herr, nun lehret uns die Pest (bei Ziesemer nicht nachzuweisen) Ich steh in Angst und Pein Jesu, Quell gewünschter Frewden Unbekannter Übersetzer Auch diese Nacht hat sich verlohren

Roman Luckscheiter

Tragikomik einer preußischen Dichterliebe Dramatisierungen von Simon Dachs »Ännchen von Tharau«-Lied seit Anfang des 19. Jahrhunderts Das populäre »Ännchen von Tharau«-Lied ist überliefert als Simon Dachs poetischer Beitrag zur Hochzeit seines Freundes Johannes Portatius im Jahr 1637. 1 Daß es zu einem der erfolgreichsten Volkslieder wurde, ist nicht nur auf den zu Herzen gehenden Text und die eingängige Melodie zurückzuführen, sondern auch auf die Übertragung des ursprünglich in Plattdeutsch abgefaßten Lieds ins Hochdeutsche durch Herder 1778. Die Rezeptionsgeschichte des Volks- und Studentenlieds ist indes keineswegs auf die Geschichte des deutschen Liedguts beschränkt; zumindest ist das Lied ab dem 19. Jahrhundert auch zum Stoff für mehrere Dramen, Opern und Singspiele sowie für einige wenige Romane und einer Ballade 2 geworden. Hier soll es in erster Linie um die dramatischen Adaptationen gehen. In seiner Einleitung zur Werkauswahl Simon Dachs erwähnt Heinrich Stiehler 1896 eine lyrische Oper von Roderich Fels aus dem Jahr 1878 (Musik: Heinrich Hoffmann), die »an mehreren deutschen Bühnen« mit Erfolg aufgeführt worden sei. 3 Eine vorläufige Recherche ergab jedoch mehr als ein Dutzend Titel, die quer über den deutschsprachigen Raum verteilt erschienen sind. Im Zentrum der dramatischen Bearbeitungen steht die reizvolle Vermutung, es handle sich bei Ännchen von Tharau nicht bloß um die höflich bedichtete Gattin des jungen Pfarrers Portatius, sondern zugleich oder statt dessen um Dachs Geliebte oder gar Braut. Daß es sich bei dieser Spekulation um sensationslustige Legendenbildung handle, die zurückzuführen sei auf eine Kolportage von 1723 und noch in einem Artikel der Unterhaltungen des literarischen Kränzchens in Königsberg von 1866 auftauche, hat 1876 Hermann Oesterley in seiner Simon Dach-Ausgabe vehement klarzustellen versucht. 4 Dem dramaturgischen Reiz einer fiktiven Liebe zwischen Ännchen, der schönen Tochter des Pfarrers Neander in Tharau, und Simon Dach, dem armen Dichter(professor) aus Memel, tat das freilich keinen Abbruch. _______ 1

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Dachs Autorschaft ist allerdings umstritten. Überliefert ist das Lied aus den Arien oder Melodeyen (1648) von Heinrich Albert, der wie Dach dem Königsberger Dichterkreis angehörte. Siehe: Gedichte des Barock. Hg. von Ulrich Maché und Volker Meid. Stuttgart: Reclam 2000 (RUB, 9975), S. 89 f. und S. 361. Otto Friederich Gruppe: Aennchen von Tharau. In: Ignaz Hub: Deutschlands Balladen- und Romanzen-Dichter. [...] Zweite Abtheilung. Von L. Uhland bis auf die neueste Zeit. Karlsruhe: Creuzbauer 1853, Nr. 630. Heinrich Stiehler: Simon Dach. Sein Leben und seine ausgewählten Dichtungen fürs deutsche Volk. Königsberg: Hartung 1896, S. 13 f. OESTERLEY, S. 34–39.

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Große Schauspiele sind aus dem Stoff nicht hervorgegangen; viel eher handelt es sich bei den meist im Selbstverlag erschienenen Bühnenstücken um – freiwillig oder unfreiwillig – amüsante Unterhaltungsliteratur für kleinere Theater. Der Herausforderung, die sich durch die spezifische Historizität der Vorlage ergab, haben sich die diversen Autorinnen und Autoren auf unterschiedliche Weise gestellt; Differenzen gibt es bereits bei der Datierung der Handlung und bei der Auswahl der historisch verbürgten Personen aus dem sozialen, politischen und literarischen Umfeld Dachs, wozu ihnen die ausführliche Darstellung der Vita Dachs und dessen Freundeskreises in der Allgemeinen Deutschen Biographie 5 respektive Karl Goedekes Geschichte der deutschen Dichtung 6 gedient haben mögen. So spielen die Ännchen-Dramen mal »gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges« (Fels), mal präzise 1636 (Bink), 1641 (Schwetschke) oder gar »1637 – 1640« (Najmajer). Die jeweilige Entscheidung hing in erster Linie ab von der Positionierung des Geschehens in der beruflichen Karriere Dachs: So konnte die Ernennung Dachs zum Professor durch den Kurfürsten Georg Wilhelm 1639 als Voraussetzung einer glücklichen Liebe oder als Kompensation einer unglücklichen Liebe ins Spiel gebracht werden, während ein späterer Zeitpunkt die Nähe Dachs zum nachfolgenden Herrscher, dem jungen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und dessen Friedenspolitik in den Focus rückte. In allen Fällen wird das »Ännchen«-Lied in seiner hochdeutschen Version neben anderen Gedichten Dachs als Zitat eingebaut und von Dach, seinen Freunden oder gar seinem Kontrahenten mindestens einmal komplett vorgetragen. Zuvor sei jedoch Herders Fassung, die als Übersetzung »aus dem Preußischen Plattdeutsch« betitelt ist, vollständig zitiert: Annchen von Tharau ist, die mir gefällt; Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld. Annchen von Tharau hat wieder ihr Herz Auf mich gerichtet in Lieb’ und in Schmerz. Annchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut, Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut! Käm’ alles Wetter gleich auf uns zu schlahn, Wir sind gesinnet bei einander zu stahn. Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein Soll unsrer Liebe Verknotigung sein. Recht als ein Palmenbaum über sich steigt, Je mehr ihn Hagel und Regen anficht; So wird die Lieb’ in uns mächtig und groß Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Not. Würdest du gleich einmal von mir getrennt, Lebtest, da wo man die Sonne kaum kennt;

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Hermann Oesterley: (sub verbo). In: ADB 4, S. 685 ff. Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 3. Bd. 2. ganz neu bearb. Aufl. Dresden: Ehlermann 1887, S. 123 ff.

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Ich will dir folgen durch Wälder, durch Meer, Durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer. Annchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn, Mein Leben schließ’ ich um deines herum. Was ich gebiete, wird von dir getan, Was ich verbiete, das läßt du mir stahn. Was hat die Liebe doch für ein Bestand, Wo nicht Ein Herz ist, Ein Mund, Eine Hand? Wo man sich peiniget, zanket und schlägt, Und gleich den Hunden und Katzen beträgt? Annchen von Tharau, das woll’n wir nicht tun; Du bist mein Täubchen, mein Schäfchen, mein Huhn. Was ich begehre, ist lieb dir und gut; Ich laß den Rock dir, du läßt mir den Hut! Dies ist uns Annchen die süßeste Ruh, Ein Leib und Seele wird aus Ich und Du. Dies macht das Leben zum himmlischen Reich, 7 Durch Zanken wird es der Hölle gleich.

Die Rezeption des Lieds, die hier anhand exemplarischer (und allesamt nur schwer greifbarer) Texte nachgezeichnet werden soll, läßt sich grob in zwei Kategorien ordnen, die sich freilich überschneiden können: Zum einen bietet der Stoff Gelegenheit, die Liebe eines Dichters zum bisweilen satirisch verwendeten Gegenstand einer (Tragi-)Komödie zu machen, zum anderen kommt mit der Figur des Königsberger Dichters Dach auch ein literarischer Patriotismus ins Spiel.

1. Liebesdramen Betrachtet man die Dramentexte zunächst auf der Ebene der Liebesgeschichte, dann lassen sich für das vorliegende Korpus drei grundlegende Konstellationen ausmachen. Die erste Variante, wie sie Gustav Schwetschke 1852 realisiert hat, 8 läuft nach einigen Hindernissen auf eine glückliche Ehe von Simon und Ännchen hinaus. Im Dorf Tharau bei Königsberg sind die Mitglieder der »Dichtergesellschaft zur Kürbishütte« besorgt, daß Hans von Tharau seine Tochter nicht dem »feinen« Simon Dach von der Albertus-Schule geben könnte, mit dem sie ein »Liebesbündniß« geschlossen habe, sondern dem Ritter Christian von Kalnein. 9 Dach, heißt es, wanke deswegen schon seit einer Weile »bleich und _______ 7 8 9

In: Johann Gottfried Herder: Werke. Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 112 f. Gustav Schwetschke: Aennchen von Tharau. Drama in zwei Aufzügen. Mit zwei Musikbeilagen. Halle: Schwetschke 1852. Ebd., S. 6.

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tiefsinnig« umher, 10 und der Jungfrau geht es auch nicht viel besser. Der Vater überdenkt seine Entscheidung für Kalnein erst, als ihn der Kurfürst Friedrich Wilhelm persönlich von Dach als »belobte[n] Name[n], der ganz Preußen schmückt« überzeugt. Der von Albert und anderen Mitgliedern der Kürbishütte heimlich arrangierte Quartett-Vortrag des »Ännchen«-Lieds vor dem Kurfürsten mag seinen Anteil an der günstigen Fügung gehabt haben. Die zweite Variante stellt sich sehr viel düsterer, aber dadurch auch etwas spannender dar: Sie endet mit Ankes tragischem Tod. In Marie von Najmajers Oper und Hermann Binks Trauerspiel erkennt Ännchen zu spät, daß Simon der Richtige gewesen wäre und stirbt vor Schmerz und Entkräftung. Der erste Akt der aus dem Nachlaß edierten Oper der aus Ungarn stammenden Marie von Najmajer 11 (1844 – 1904) kulminiert im Zusammentreffen von Simon Dach, der gerade vom angebeteten Ännchen eine ihm unverständliche Zurückweisung erhalten hat, und dem Rittmeister Kurt von Flammberg, der soeben aus dem Krieg zurückgekehrt ist und in Anke seine Jugendliebe wiederfindet. Und obgleich das Ännchen, das Kurts und nicht Simons Gefühle erwidert, dem Dichter anbietet, man könne doch »für immerdar« gute Freunde bleiben, 12 zieht sich Dach konsterniert und unversöhnlich zurück. Das Schicksal wird ihn rächen – Anke bekommt nämlich das ihr von Dach gewidmete Lied danach erst und durch Zufall zu Gehör, was ihr ein »Ach« entreißt, wie es bei Kleist nicht hinreißender Verwirrung signalisieren könnte; kurz darauf muß sie auch noch erfahren, daß Kurt wieder in den Krieg ziehen will und gedenkt, sie als »Hausfrau« zurückzulassen, da er im Felde unbelästigt und frei sein wolle. 13 Im dritten Akt dann begegnet Anke dem einsamen Dichter vor dessen kleinen Anwesen, das ihm der Kurfürst gerade geschenkt hat. »Ich bitte dich!«, singt Anna flehend, »o sag’ mir, daß du mir verzeihst – | Dann kann ich ruhig...« – Simon: »Liebling früher Jahre! (er legt seine Hände auf Annas Haupt) Gesegnet sei, wie meine Jugend!« – Anna: »... sterben« (sie stirbt). – Simon: »Mein Ännchen tot?! Mir kannst du niemals sterben!« Ende. Eine doch recht knappe Anspielung auf den Topos der Unsterblichkeit einer bedichteten Person. In Hermann Binks Trauerspiel 14 darf Ännchen 1929 wenigstens etwas elaborierter sterben. Daß es dazu kommen muß, liegt in diesem Fall am Stiefvater _______ 10 11

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Ebd., S. 19. Marie von Najmajer: Hildegund – Ännchen von Tharau – Der Goldschuh. Dramatischer Nachlass. Wien [u.a.]: Braumüller 1907. Marie von Najmajer hatte sich zunächst, mit Unterstützung durch Grillparzer, einen Namen als Lyrikerin gemacht; später verfaßte sie v.a. Romane über emanzipierte Frauengestalten (Die Schwedenkönigin, 1882). Vgl. Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gedichte und Lebensläufe. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. Frankfurt/M.: Fischer 1978 (Fischer-Taschenbücher, 1994), S. 225 ff. Najmajer: Ännchen von Tharau (wie Anm. 11), S. 74. Ebd., S. 89 f. Hermann Bink: Ännchen von Tharau. Trauerspiel in fünf Akten. Leipzig: Strauch 1929. Hermann Bink hat darüber hinaus 1963 einen Aufsatz »Simon Dach und das Ännchen von Tharau« im Oldenburger Memelland-Kalender, S. 29 ff., veröffentlicht. Über Ostpreußen hat er mehrfach publiziert, darunter Ostpreußisches Lachen (München: Aufstieg-Verlag 1961) und die von ihm gesammelten Alt-Königsberger Sagen und Geschichten (Königsberg: Gräfe & Unzer 1932).

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Stolzenberg, bei dem Anke auch der Überlieferung zufolge nach dem Tod ihres Vaters 1630 aufwuchs. Stolzenberg – nomen est omen – ist zu stolz, um einen armen Dichter als Schwiegersohn zu akzeptieren, wie es seine Tochter gerne hätte. Stolzenberg bewirbt sich um das Amt des Bürgermeisters in der Altstadt und ist dabei auf den Onkel eines gewissen Partatius angewiesen, der wiederum ein starkes Interesse an der »schönsten Perle« im Hause Stolzenberg hat und nach dem Prinzip ›Eine Hand wäscht die andere‹ vorgeht. Um Ankes Sturheit in dieser Angelegenheit zu brechen, führt ihr Stiefvater Dach in eine Falle. Er kündigt ihm eine große Überraschung an (macht ihm damit Hoffnungen) und lädt ihn dafür um Mitternacht in eine üble Spelunke; Anke gegenüber berichtet er, Dach habe zwei Gesichter und treibe sich nachts in unfeinen Etablissements herum. Als Anke von ihrem Stiefvater dann des Nachts in die Kneipe der Zuhälter und Trunkenbolde geführt wird, und dort tatsächlich ihren angebeteten Dach unter den dubiosen Gestalten sitzen sieht, verliert sie umgehend das Bewußtsein und kann sich auch dann nicht mehr erholen, als ihr der hinzugerufene Arzt die Intrige erklärt und Simons reinen Charakter bescheinigt. »Wie wohl das tut!« ruft Ännchen aus, und Simon schöpft schon Hoffnung: »Ännchen, glaubst du an mich?« – »Felsenfest!«, lautet ihre Antwort, doch ihre Rede geht weiter: »O, nun sterbe ich leicht. […] Leb wohl, mein Simon!« (Stirbt.) 15 Die dritte Variante, die am häufigsten anzutreffen ist, sieht den Königsweg im Kompromiß, der Tragikomödie: Ännchen bleibt am Leben, findet ihr Glück aber bei einem jungen Soldaten, während Simon Dach großzügig Verzicht leistet und sich mit seinem Dichterruhm, zu dem sein Liebeslied an Ännchen erheblich beigetragen hat, zufrieden gibt. Diese Lösung bietet unter anderem Willibald Alexis in seinem Drama von 1828 an, das hier nun etwas ausführlicher vorgestellt werden soll. 16 Wie später in Fontanes Effi Briest spielt sich die in Liebesangelegenheiten alles entscheidende Szene auf einer Schlittenfahrt ab. 17 Schon bei Alexis verliert dabei nämlich der abwesende ältere (Ehe-) Mann seine junge Frau an einen jüngeren Soldaten. Während Dach »auf dem Katheder« seinen Pflichten nachgeht, ist »sein« Ännchen mit von der Partie, die auf Schlitten den »siegreichen Truppen« des Großen Kurfürsten entgegenfährt. Weil aber das Pferd durchgeht, landet Anna auf dem brüchigen Eis und wird, wie die Kammerjungfer berichtet, von einem »nachsprengenden« »DragonerOfficier« aus dem Schnee gerettet. 18 Dem nichtsahnenden Dach wird der Retter später von dem Vorfall erzählen, es sei passiert, »was man so eine Lebensret_______ 15 16

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Bink: Ännchen von Tharau (wie Anm. 14), S. 47. Willibald Alexis: Aennchen von Tharau. Drama in drei Akten. Die Uraufführung soll am 18. Januar 1828 am Königstädtischen Theater in Berlin stattgefunden haben. Dazu: Lionel Thomas: Willibald Alexis. A German Writer of the nineteenth Century. Oxford: Blackwell 1964, S. 35. Die Druckfassung erschien ein Jahr darauf im: Jahrbuch deutscher Bühnenspiele 8 (1829), S. 129–206. Es ist durchaus davon auszugehen, daß Fontane das Ännchen-Drama kannte. Zur Vorbildfunktion, die Willibald Alexis auf Fontane ausübte, sind im Hinblick auf die vaterländischen Romane bereits zahlreiche Aufsätze erschienen, die sich insbesondere auf Fontanes Alexis-Porträt von 1872 stützen. Alexis: Aennchen von Tharau (wie Anm. 16), S. 132 f.

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tung nennt; – sie fiel mir in den Arm«. 19 Willibald Alexis konfrontiert hier die Liebesgeschichte eines Geistesmenschen mit derjenigen eines Tatenmenschen und komponiert daraus vordergründig eine Dichtersatire. Ein erstes Indiz für die unvorteilhafte Weltferne des Dichters liefert bereits die Information, daß Dach, während sein Ännchen den körperlichen Erstkontakt mit dem Dragoner erlebte, ausgerechnet über die Ars amandi dozierte – das eben ist der Unterschied von Theorie und Praxis. Verschärft wird dieser Kontrast dann im zweiten Akt, als der Offizier namens Simon von Osten bei Simon Dach erscheint und bei ihm – als dem »geschicktesten Versifex im Orte« – ein Gedicht bestellt, weil er gehört hat, daß das Herz der von ihm Begehrten sich nur durch Verse erobern ließe. 20 Daß seine Angebetete Ännchen heißt, hält Dach für einen bloßen, ja sogar inspirierenden Zufall und läßt sich zu der Auftragsarbeit überreden. Dem Soldaten drängt die Zeit: »Seelensmann, nun schnell, hier ein Stuhl, die Feder in die Hand – ich zähle bis hundert.« Als Dach etwas mehr über das Mädchen erfahren will, zeigt sich Osten wenig kooperativ: »Gelehrter Herr, können Sie das nicht Alles auch aus dem Namen abstrahieren? – Sehen Sie, erzählen ist meine Sache nicht.« Und in der Tat – Dach vollbringt das Wunder und gerät über dem Vornamen ins poetische Schwärmen: Ännchen! Herr Rittmeister, Sie haben es getroffen. Das ist das Brautlied der Natur, die Frühlingswinde fingen es, wenn die Maysonne durchs Eichenlaub auf der Wiese spielt; der Bach murmelt, der Zephyr säuselt ihn. Ännchen, Herr Rittmeister, ist das Zauberwort, das die todte Natur lebendig macht. […] So stelle ich sie mir vor: – Eine anmuthige Gestalt, ein frisches, holdes Wesen; ein feines, blühendes Gesicht. […] Unschuldsvoll, ein Kind und doch ein majestätisches Kind. Wenn sie so inmitten vom Zimmer stehen bleibt und um sich schaut, man weiß nicht wie einem geschieht.

Baß erstaunt über die vermeintliche Einbildungskraft des Dichters ruft der Soldat daraufhin aus: »Sind denn die Dichter Hexenmeister?« 21 Bald ist Dachs Gelegenheitspoem fertig, die letzten Zeilen lauten: Amors Pfeil, er hat getroffen, Bis zum Herzen drang er – offen Steht die Wunde – wer darf hoffen – (hier unterbricht ihn Osten: »Genug, genug – offen, troffen, hoffen.«) Daß die Wunde jemals heile, die geschossen Amors Pfeile.

Ungelesen nimmt der Soldat ihm das Gedicht ab und bietet dem »Herzens-Professor« als Gegenleistung an, ihm behilflich zu sein, wenn er einmal einen Nebenbuhler haben sollte, der aus dem Weg zu räumen wäre. Das komische Fazit dieser Begegnung: Der Dichter hat sich unwissend selbst geschadet und auch sein Kunde hat ohne es zu ahnen versprochen, gegen sich selbst vorzugehen. Doch dazu kommt es nicht. Ein zweites Zusammentreffen im selben Akt, diesmal aber im Zimmer von Ännchens Tante, klärt die Angelegenheit zugunsten _______ 19 20 21

Ebd., S. 165. Ebd., S. 162. Ebd., S. 163 f.

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des Soldaten. Eine mißverständliche Bemerkung Ankes veranlaßt Dach zunächst, sie liebkosend an sich zu ziehen, woraufhin die Bestürmte sich loswindet und feststellt: »Ich kann nicht – es geht nicht«. 22 Die Tante bereitet den verwirrten Dichter auf die bittere Wahrheit vor, indem sie ihm schonend beibringt, daß sich ihre Nichte nicht nur nach Aspekten der Vernunft entschieden habe. Sie bringt dafür Ännchens Faible für Pferde ins Spiel: »Der vernünftige Mensch kann was Besseres lieben, als unvernünftige Thiere, aber da es nun einmal ist, und, lieber Professor, da Sie nicht gerne mit den wilden Thieren zu thun haben, habe ich schon lange gedacht, ein kurfürstlicher Rittmeister wäre doch die beste Parthie für das Ännchen«. 23 Ännchen selbst, dem diese Begründung nun doch zu profan zu sein scheint, fügt hinzu: »Ach, lieber Simon Dach, wenn nicht das Gedicht« – gewesen wäre, will sie vollenden und meint damit die Zeilen, die Osten ihr geschickt hatte. Da erkennen Dach und Osten die prekäre Verquickung. Während der Rittmeister sich über den gelehrten »Stubenhocker« ausläßt und ankündigt, ihm »aufs Dach« steigen zu wollen, 24 tritt der Dichter mit Pathos ab: So löschte die Sonne aus – Eis und Meer und Wälder und das alte Chaos! – Die Ostsee heult und das Haff brauset! – Die Palmenbäume bersten und Liebe und Schmerz heulen fort im Winde und ich will mit ihnen singen, daß mein Ännchen mich betrogen hat, die 25 Natur aus ist, die Liebe eine Thorheit und die Treue sich selbst verrathen hat.

Der dritte Akt bringt schließlich eine Lösung, bei welcher der Dichter dann doch noch einen Sieg einholt. Nachdem Dach selbst geklagt hatte, sich mit seinem Liebeslied ein Spottlied geschrieben zu haben, 26 verdichten sich nun die Zeichen dafür, daß es ihm wenigstens langfristig Erfolg beschert und sich sein heimlicher Trost erfüllt: »Singen werden Sie’s vielleicht nach hundert und aber hundert Jahren. […] Wenn Ännchen und ich längst vergessen im Grabe ruhen, soll es ein Gassenhauer [sein]«. 27 Als der Große Kurfürst höchstpersönlich in die Stadt einzieht, feiern die Studenten nicht nur ihn, sondern lassen auch Simon Dach in ihren Rufen hochleben. Der Kurfürst findet diese Kombination nur gerechtfertigt und erklärt, Dach habe mit seinen Liedern »so viel für die gute Sache gethan im Lande, wie ein Regiment«. 28 Am Ende erteilen dann nicht nur der Kurfürst, sondern auch der gerühmte Dichter dem Rittmeister und Ännchen den ehelichen Segen in seiner Rolle als oberster Standesbeamter und säkularer Priester. Dach sieht sich fortan als legitimer Nachfolger Dantes: »Der Professor Dach giebt das Fräulein von Tharau dem Rittmeister von Osten; aber wie jenem Dichter in Italien keine irdische Gewalt seine Laura entriß, so bleibt dem Dichter Simon Dach ewig sein Ännchen von Tharau!« 29 _______ 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 181. Ebd., S. 184. Ebd., S. 175 f. Ebd., S. 186. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192 f. Ebd., S. 203. Ebd., S. 206. Hervorhebungen im Original im Sperrdruck.

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In der lyrischen Oper von Roderich Fels 30 von 1878 läuft die Sache ganz ähnlich ab. Ännchen, das im Hinblick auf ihren gelehrten Verehrer-Professor schon sehr früh geargwöhnt hatte: »Sein Glück – weh mir – wird’s auch das meine sein?«, 31 wird von demselben freigegeben, so daß ein fescher Student zum Zuge kommen kann. Auch hier wird deutlich, daß das Liebeslied allein keine Liebe bewirkt, denn Anke hatte es mehrfach zu Gehör bekommen, ohne sich in letzter Konsequenz für Dach zu entscheiden. Nur wenn andersherum zur Liebe das Lied kommt, findet es seine ideale Bestimmung und macht den Ruhm des entsagenden Dichters aus, sobald er es veräußert und erkennt, daß das Lied der Bedichteten und in letzter Instanz der Allgemeinheit gehört. In einer der wenigen Prosafassungen, erschienen 1954 in der Reihe Berühmte Liebespaare, Heft 11, 32 als Kurzfassung eines weitschweifigen Romans desselben Verfassers, Paul Hain, aus dem Jahr 1936, erfährt der Leser diese Lehre und die endgültige Veräußerung des Lieds aus der personalen Erzählperspektive des geläuterten Dichters: Simon Dach ist einige Tage für niemanden zu sprechen. Er muß einen Traum endgültig begraben. Damit muß er allein fertig werden. An einem Abend nimmt der junge Professor ein paar Notenblätter aus einem Schubfach seines Sekretärs. Seit dem Sommer hat er sie nicht mehr angeschaut. Er setzt sich an die kleine Hausorgel und schlägt die ersten Töne an. Dann nickt er still und bedächtig und liest halblaut Strophe für Strophe. Ist es nicht, als hätte er die Verse für die Anke und – den Portatius geschrieben? Das ist doch die Not und die Liebe dieser beiden, die die Zeilen enthalten. Das Lied gehört Anke. Das ist seine Be33 stimmung gewesen.

Besonders hervorgehoben wird in diesen Beispielen der Edelmut des Simon Dach, der ihn gegenüber anderen, einfacheren Geistern auszeichnet. Um diese Charakterisierung noch stärker zu unterstreichen, hat der oberbayrische Schriftsteller Leonhart Wohlmuth (1823 – 1889) in seiner Version von 1883 34 eine Kontrastfigur eingeführt, die es ganz und gar nicht erträgt, daß dieses Ännchen _______ 30

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Roderich Fels: Aennchen von Tharau. Lyrische Oper in drei Aufzügen. Musik von Heinrich Hofmann. Berlin: Koepfel 1878. Roderich Fels war das Pseudonym von Siegfried Henschel, der zum Umfeld der Wiener Moderne gehörte. Seine Schwester Laura wiederum stand dem George-Kreis nahe. Siehe: Rosenfeld. Eine Familiengeschichte in Briefen, Fotos, Büchern, Dokumenten. (Bearb.: Georg Fritsch). Wien: [o.V.] 2001 (Exportkatalog, Georg Fritsch Antiquariat, 18). Seine Erzählung Barbara Ubryk oder Die Krakauer Klostergeschichte von 1871 fiel der österreichischen Zensur zum Opfer. Vgl. Gertrude Langer-Ostrawsky: Der Strich des Zensors. Die Theaterzensur-Abteilung im Niederösterreichischen Landesarchiv. In: Sichtungen. Archiv-Bibliothek-Literaturwissenschaft 6/7 (2005), S. 223–251, hier S. 239. Fels: Aennchen von Tharau (wie Anm. 30), S. 20. Paul Hain: Hochzeitslied für Anke. Simon Dach und Ännchen von Tharau. Bad Pyrmont: Neues Verlagshaus für Volksliteratur 1954. Hain hat seit den zwanziger Jahren mehrere Trivialromane vorgelegt (Das Frühlingsmädel, 1927; Wovon träumst du, Dina, 1937; Es muß ein Traum bleiben, 1960; etc.). Hain: Hochzeitslied (wie Anm. 32), S. 62. Leonhart Wohlmuth: Aennchen von Tharau. Schauspiel in drei Aufzügen. Bühnenmanuskript. Bayreuth: Burger 1883. Wolhmuth hatte bereits Dramen über Elisabeth von Baiern (1857) und Mozart (1854) veröffentlicht.

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die Werbung seines großen Meisters ausgeschlagen und statt dessen den vermögenden Rittmeister Heinrich von Rosen bevorzugt hat. Diese Figur heißt Jakob Ehrlich und ist Dachs Famulus. Eigenhändig – und entsprechend plump – parodiert er das Lied für Ännchen von Tharau in einer Schmähfassung: Ännchen von Tharau mir gar nicht gefällt, Sie hängt an Reichthum, an Gut und an Geld! Ännchen von Tharau, Du treuloses Herz, machst mir nur Kummer, Betrübniß und Schmerz! Drum zittert vor Ingrimm und lodert vor Wuth Mir meine Seele, mein Fleisch und mein Blut! Ännchen von Tharau, was bist Du so stolz! Glaubst Du denn, wir sind von Stroh oder Holz? Ännchen von Tharau, Du liebst den Rittmeister – Heinrich von Rosen, ich weiß es, so heißt er – Ännchen, Du Spröde, Du Stolze – Du – Du – 35 Glaubst Du, wir weinen? Wir lachen dazu!

Gelegentlich stellt sich der Eindruck ein, die Dramatiker wollten den tugendhaften Dichter Dach in seiner tragikomischen Weltferne vorführen und dazu seine einschlägigen Texte konterkarieren. In Max Kaisers »Spiel um die Liebe eines Dichters« von 1950 36 sieht Ännchen in Dachs großmütigem Verzicht – sie hatte gemeint, dem einsamen Mann »das Leben freudvoller gestalten zu können«, bis plötzlich ihr Jugendfreund Just nach vier Jahren aus dem Krieg heimkehrt und ihr klarmacht, wen sie wirklich liebt – in Dachs Verzicht also sieht Ännchen die lebenswirkliche Bestätigung seiner dichterischen Tugendlehre und zitiert (aus Anerkennung wie aus Erleichterung) sein entlastendes Freundschaftsgedicht: Der Mensch hat nichts so eigen, so wohl steht ihm nichts an. Als dass er Treue zeigen 37 und Freundschaft halten kann.

2. Patriotische Stücke Über das Motiv der Treue und über die Präsenz der Kriegsheimkehrer-Figuren sowie des Großen Kurfürsten eröffnet sich in allen Ännchen-Dramen jenseits der Liebesgeschichte als latenter Gegenstand des dramatischen Geschehens die zusätzliche Dimension des Patriotismus. Der triviale Stoff erfährt eine politische Aufladung durch seine Situierung im historischen Raum, in dem es um Krieg und Frieden in Preußen geht. Auf dieser Ebene steht das wechselseitige Abhän_______ 35 36

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Wohlmuth: Aennchen von Tharau (wie Anm. 34), S. 51. Max Kaiser: Ännchen von Tharau. Ein Spiel um die Liebe eines Dichters und sein Lied in 3 Bildern mit Gesangeinlagen. Stade: Teich [1950]. Ungefähr zeitgleich erschien am selben Ort von ihm Der Trompeter von Säckingen. Ein Spiel in vier Bildern nach Victor von Scheffel. Kaiser: Ännchen von Tharau (wie Anm. 36), S. 62.

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gigkeitsverhältnis von Fürst und Dichter im Mittelpunkt. Bei Najmajer lobt Kurfürst Georg Wilhelm den Dichter und Professor Dach, bevor er ihn mit Lorbeer krönt, mit den Worten: Du bist der Hochschullehrer hier geworden Auf mein Geheiß, nicht weil ich jemals glaubte, Daß Dichtung lehren sich, erlernen lässt: Prophet, Erzieher sei dem deutschen Volke, 38 Durch lange, harte Kriegszeit schwer gedrückt.

Bei Leonhart Wohlmuth ist es dann Friedrich Wilhelm, der das Ende des Dreißigjährigen Krieges in der Wohnung des Simon Dach zu begehen gedenkt, an der »Städte der Wissenschaft und Kunst« nämlich, »im Hause des Dichters, der schon in viel tausend Herzen den Keim erhabener Gefühle, den Keim treuer Vaterlandsliebe und eines gläubig frommen Sinnes gepflegt hat!« Seiner Meinung nach solle Dach »nicht nur Lieder dichten, sondern auch im lebendigen Vortrage die Jugend für das Ideal [seiner] Kunst begeistern.« 39 Aus Dachs Perspektive wiederum werden bei Willibald Alexis 1828/29 die Verdienste des Großen Kurfürsten gerühmt: unser herrlicher junger Fürst vor dem Thore, mit der edlen Stirn, mit dem muthig großen Auge, mit dem Heldenarme und dem Willen, die Wunden zu heilen, die Nackten zu kleiden, die Wüsteneien in Lustgärten umzuwandeln. […] [D]a müssen einem Preußen doch 40 wohl Freudenthränen über die Wangen laufen.

Die Leistung von Friedrich Wilhelms Friedenspolitik mit Schweden wird reflektiert im emotionalen Ausnahmezustand, in den Anke und ihre jeweilige Jugendliebe geraten, wenn sie, lang getrennt allein durch die Fordernisse und Schrecken des Krieges, einander wiedersehen. Insbesondere in Kaisers Drama von 1950, aus der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit also, wird diesem Leid eine ausführliche Dialogszene zwischen Anna und dem Soldaten Just gewidmet: »Warum liessest du mich all die Jahre ohne ein Lebenszeichen von dir?« – »Konntest du nicht annehmen, Anna, dass Umstände vorlagen, die mir die Möglichkeit nahmen, dir Nachricht zu geben? – Es war Krieg – Anna. […] Der Krieg bestimmte mein Verhalten, Anna.« 41 Am stärksten hat sich die politische Dimension aber im frühesten der hier vorzustellenden Ännchen-Dramen niedergeschlagen, in demjenigen von Gustav Schwetschke von 1852. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich dabei um das einzige Drama, bei dem Simon Dach preußischen Ruhm und private Liebe zugleich erwirbt. Sein Kontrahent nämlich, Christian von Kalnein, der in diesem Fall nicht von Ännchen, sondern von ihrem Vater favorisiert wird, redet sich um jede Chance, als er sich vor dem inkognito anwesenden Kurfürsten als stolzer Deutschordensritter zu erkennen gibt. Ihm gelten nur Erbe und adlige Tradition: _______ 38 39 40 41

Najmajer: Ännchen von Tharau (wie Anm. 11), S. 77. Hervorhebungen im Original im Sperrdruck. Wohlmuth: Aennchen von Tharau (wie Anm. 34), S. 60 f. Alexis: Aennchen von Tharau (wie Anm. 16), S. 136 f. Kaiser: Ännchen von Tharau (wie Anm. 36), S. 57 f.

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[…] fest an unsrer Väter Erbtheil halten wir, Am Lohn durchfochtner Kämpfe, und es soll Nicht König oder Kurfürst unser Recht 42 Im Kleinsten beugen […].

Der unerkannte Kurfürst begegnet ihm mit einem Appell ans Pflichtgefühl gegenüber der Heimat und des Volkes: […] Wüßtet Ihr, Wie selig stunde Preußens Regiment, Gäb’ in des Einen Führers starke Hand 43 Der stolze Ritter sein verrottet Recht?

Dann führt er dem Ritter vor, was andere für die »heilige Gemeinsamkeit | der deutschen Sitte, die uns treu vereint« getan haben, und wendet sich Ännchen zu: Sagt, edles Fräulein, dringt das Dichterwort Der fernen Heimath nicht zu eurem Ohr Als Gruß verwandter Geister?

und Ännchen reagiert emphatisch: O gewiß! […] Was im Sudetengau erhaben klang Und zierlich in dem Meißnerlande, tönt In deutschem Herzen an des Beltes Strand 44 Mit ungeschwächtem süßen Widerhall.

Das ist für den Kurfürsten der Moment, um diesbezüglich Simon Dach als Meister der einigenden Sprachkunst zu loben und Ännchens Vater Hans von Tharau nahezulegen, daß es geradezu ein Verrat am Vaterland wäre, wenn er seiner Tochter nicht die Hochzeit mit dem Dichter gewährte. 45 Auf exemplarische Weise klingt hier die latente Thematisierung der Situation Königsbergs an. Der Autor Gustav Schwetschke, der nicht nur Buchdrucker, sondern auch Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche war, 46 verband offenbar mit der Bearbeitung des Ännchen-Stoffes auch das politische Anliegen der nationalen Einheit. 47 Auch bei anderen Autoren haben politische Motive eine Rolle gespielt, _______ 42 43 44 45 46

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Schwetschke: Aennchen von Tharau (wie Anm. 8), S. 58. Ebd., S. 61. Ebd., S. 65. Ebd., S. 70. Vgl. seine 1874 im eigenen Verlag in Halle erschienenen Erinnerungen aus den Frankfurter Parlamentstagen. Zudem hat er 1850 eine Auswertung der Messekataloge von 1564 bis 1765 unter dem Titel Codex nundinarius im eigenen Verlag in Halle publiziert. Im Hallenser Stadtmusem Christian-Wolff-Haus befindet sich ein Porträt von ihm. Gustav Schwetschke hat sich mehrfach als patriotischer Dichter hervorgetan. Von ihm liegen vor: Gedichte eines patriotischen Freundes. Altes und Neues, mit einem west-östlichen Diwan. Leipzig: Kirchner 1847; Der Oberon von Sanssouci. Ein tragikomisches Heldengedicht. Ebd. 1848; sowie das »Ludwigslied« von 1870 (»Herr Ludwig, Fürst von Bayerland, | Deß soll sich Deutschland freuen!«). Mit Arnold Ruge und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben war er bekannt, ein Zusammentreffen ist aus dem Jahr 1841 verbürgt.

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als sie einen Text und eine Biographie aus dem entfernten Königsberg für ihre Schauspiele bearbeiteten. Letztlich haben sie vor allem aber ein Stück über ihresgleichen geschrieben: ein Dichterdrama. Und darin haben sie ihren Anspruch auf Zeitlosigkeit nicht nur gegenüber den irdischen Widrigkeiten zu legitimieren gesucht, sondern auch ihren Anteil am nationalen Gemeinwohl. Das miteinander sympathisierende Paar aus Regent und Dichter, wie es der historische Simon Dach und ›sein‹ Großer Kurfürst personifizierten, bot ihnen eine Folie, vor der sie ihre eigene Stimme aufwerten konnten. Roderich Fels ging dabei einen Schritt weiter als seine Kollegen und läßt in seiner lyrischen Oper 1878 sein Ännchen euphorisch ausrufen: Was ist ein König gegen einen Dichter? Des Weltalls Herr ist der Poet!

Simons Antwort setzt dem nun aber noch eins drauf: Doch was kein Fürst, kein König ihm kann geben, […] Das ist ein trautes Heim – ein häuslich Weben, 48 Und drin des Weibes keusche Lichtgestalt.

In den dichterischen Selbstreflexionen im Medium des Simon Dach werden neben literarischen und politischen eben auch private Kategorien des Glücks verhandelt. Und das erzeugt mitunter Formen der Selbstironie.

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Fels: Aennchen von Tharau (wie Anm. 30), S. 16.

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›Brot und Spiele‹ Zur Theatralität von Günter Grass’ Treffen in Telgte und zur Rolle des Simon Dach Günter Grass’ Erzählung Das Treffen in Telgte versammelt, so lesen wir zu Anfang, »Männer des bloßen Wortgeschehens« (S. 7) zu einer Begegnung. 1 Wörter sind in diesem Text jedoch nicht lediglich Elemente der gesprochenen oder der geschriebenen Sprache, über deren Zustand ja debattiert werden soll. Wörter, das Sprechen, wird genutzt, um mit einer zweiten Handlung, die ebenso existentiell, wenn nicht sogar im gewählten kulturgeschichtlichen Kontext noch existentieller, metaphorisch verbunden zu werden: mit dem Essen. Diese beiden Handlungen, das Speisen und das Sprechen oder das Hören und Aufnehmen von Vorgelesenem, bilden die beiden Konstituenten des Textes, der Produktion und Funktion allgemein der Sprache und insbesondere der poetischen Sprache über die Metapher des Speisens reflektiert: Poetische Produkte werden vorgelesen und verspeist, denn die Poeten reisen, so lesen wir ebenfalls zu Beginn, »ausgehungert auf literarische Wechselworte« (S. 9) an. Dieser auffälligen Verzahnung von Lesen und Essen hat sich die Forschung bisher nicht gewidmet. Sie konzentrierte sich eher auf Fragen nach aktuellen Zeitbezügen des Textes und nach erzähltechnischen Besonderheiten, insbesondere nach der Rolle des Erzählers. Die Widmung an Hans Werner Richter, den Wortführer der Gruppe 47, stellte nach Erscheinen des Textes den Blick für eine Weile fest und in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Simon Dach, seinem barocken vermeintlich integrem Pendant. Die Einschätzung, daß die barocke literarische und kulturelle Welt wie die Schilderungen des Treibens der damaligen Dichterpersönlichkeiten vor allem Analogien zur Gegenwart des Autors bildeten, wurde jedoch »von der Literaturkritik […] überschätzt«. 2 Verweyen und Witting haben mit ihrem _______ 1

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Zitiert wird im laufenden Text nach der Ausgabe: Günter Grass: Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock. 7. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004. Der Text entspricht demjenigen der von Volker Neuhaus und Daniela Hermes herausgegebenen Werkausgabe (Bd. 9. Hg. von Claudia MayerIswandy. Göttingen: Steidl 1997). Andreas Graf: »ein leises ›dennoch‹ «. Zum ironischen Wechselbezug von Literatur und Wirklichkeit in Günter Grass’ Erzählung Das Treffen in Telgte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 282–295, hier S. 283, Anm. 1. Vgl. in diesem Sinn auch Manfred Durzak: Harsdörffer-Variationen. Zur BarockRezeption im »Treffen in Telgte« von Günter Grass. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern [u.a.]: Lang 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur, 1), S. 365–379, hier S. 371. Zur dezidierten Gegenposition vgl. etwa Hartmut Laufhütte: Die Gruppe 1647 – Erinnerung an Jüngstvergangenes im Spiegel der Historie. Günter Grass: ›Das Treffen in Telgte‹. In: Lite-

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Aufsatz Polyhistors neues Glück ein Zeichen gesetzt. Sie wiesen auf die Funktion der frühneuzeitlichen Prätexte für die Ausgestaltung des Textes hin. 3 Grass macht sich einen frühneuzeitlichen Topos zu eigen und entwickelt ein gelehrtes Erzähler-Ich, einen poeta doctus par excellence. 4 Zudem entwirft er einen unzuverlässigen und schillernden Erzähler, der in verschiedene Rollen schlüpft. Dieser hat immer wieder Fragen nach den erzähltechnischen Raffinessen provoziert. Mehr oder weniger erfolglos müssen jedoch die Versuche verlaufen, dem rätselhaften namenlosen Ich-Erzähler eine der historischen Dichter-Persönlichkeiten zuzuweisen. 5 Ich möchte den Blick auf andere Besonderheiten des Textes richten, auf seine inwendige ästhetische Faktur, auf die kunstvolle Verzahnung von Lesen und Essen und auf seine besondere Metaphorizität. Zugrunde liegt meine Beobachtung, daß die Erzählung dieses ›Wörteressen‹ theatral inszeniert, es im dramatischen Modus schildert. Zu dem narrativen und dem lyrischen Moment des Textes, die der Untertitel Eine Erzählung und dreiundvierzig Gedichte aus dem Barock vorgibt, tritt ein theatrales Spielen, das den barocken Topos von der Allgegenwärtigkeit des Theaters, des theatrum mundi, reproduziert. Beispielsweise wird auf zwei Bühnen abwechselnd gespielt, gelesen und gegessen: im _______

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raturgeschichte als Provokation: Festschrift für Dietrich Jöns. Hg. von Hartmut Laufhütte unter Mitwirkung von Jürgen Landwehr. Tübingen: Narr 1993 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, 24), S. 359–384, hier S. 367–381. Überzeugend haben sie nachgewiesen, daß Grass die von Albrecht Schöne herausgegebene Anthologie: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, in der zweiten Auflage (München: Beck 1968 [Die deutsche Literatur, Texte und Zeugnisse, 3]) ausgeschrieben hat. Vgl. Theodor Verweyen und Gunther Witting: Polyhistors neues Glück. Zu Günther Grass’ Erzählung »Das Treffen in Telgte« und ihrer Kritik. In: Germanistisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 30 (1980), S. 451–465, hier S. 454 f. Vgl. in diesem Sinne auch den Beitrag von Günther Weydt: Rathstübel Plutonis und Treffen in Telgte. Humanistische Gesprächsspiele bei Grimmelshausen und Grass. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff. Amsterdam: Rodopi 1988 (Chloe, 7), S. 785–790. Das dezidierte literarische und historische Wissen hat dem Roman nicht selten den Vorwurf zur Schau getragener Gelehrtheit eingetragen. Vgl. dazu auch: Werner Zimmermann: Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung (1979). In: Ders.: Deutsche Prosadichtungen des 20. Jahrhunderts: Interpretationen für Lehrende und Lernende. Unter Mitarbeit von Klaus Lindemann. 3. Teil. Düsseldorf: Schwann 1988 (Schwann-Deutsch), S. 141–167, S. 149 f., und Manfred Durzak: Harsdörffer-Variationen (wie Anm. 2), hier S. 368 f. Dafür sind verschiedene mehr oder weniger überzeugende Vorschläge gemacht worden: Vgl. etwa Alexander Weber: Johann Matthias Schneuber: Der Ich-Erzähler in Günter Grass’ »Das Treffen in Telgte«. In: Daphnis 15 (1986), Heft 1, S. 95–122. Wimmer plädiert mit Haberkamm für Gelnhausen/Grimmelshausen; Ruprecht Wimmer: »Ich jederzeit«. Zur Gestaltung der Perspektiven in Günter Grass’ Treffen in Telgte. In: Simpliciana 6/7 (1984/85), S. 139–150, hier S. 147 ff.. Vgl. Klaus Haberkamm: ›Mit allen Weisheiten Saturns geschlagen‹. Glosse zu einem Aspekt der Gelnhausen-Figur in Günter Grass’ Treffen in Telgte. In: Simpliciana 1 (1979), S. 67–78, hier S. 68. – Wade geht von einer konstruierten beobachtenden Erzählerinstanz mit journalistischen Qualitäten aus, die v.a. eine berichtende Funktion erfüllt. Zu dieser gehört auch das Phänomen der Vergegenwärtigung, womit die Analogie zur Gruppe 47 auf einer zweiten Zeitebene geschaffen wird. Mara R. Wade: Das Treffen in Telgte: Zur Erzähltechnik von Günter Grass. In: Annali Studi tedesci 30 (1987), Heft 1–3, S. 339–338, hier S. 351 ff.

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Brückenhof in der Kleinen und Großen Wirtsstube. Die theatrale Präsentation von poetischen Produkten, die konsumiert werden, umrahmen reale Akte des Essens, die zunehmend in Form eines Zeremoniells gestaltet erscheinen. Es bleibt nicht dabei, wie Christoph Sieger im Nachwort der Werkausgabe anmerkt, daß die Mahlzeiten die Dramaturgie des Treffens ›versinnlichen‹, da sie stets opulenter werden, sie jedoch »über der Handlung«, kontrapunktisch, stehen, um die Desillusionierung auszugleichen über die Erkenntnis, daß Sprachkunst in Zeiten des Krieges nichts bewirken kann. 6 Auch sind diese Mahlzeiten nicht lediglich unter Aspekten der Diätetik bedeutsam, wie der neuere Beitrag von Helgard Mahrdt mit Blick auf Grass’ Butt hervorhebt. 7 Zu zeigen ist, wie die Semiotik der Speisen im erzählten theatralen Spiel Anteil hat an der Diskussion über das Thema, über das gesprochen werden soll, den Zustand der allgemeinen und der poetischen Sprache. Schließlich steht zur Diskussion, welche Verbindung diese Speisezeichen eingehen mit anderen nonverbalen Zeichen wie Mimik, Gestik und Kinetik der Figuren. Dabei soll die gängige Lesart, daß die Erzählung, zumal im Kontext der Gruppe 47 entstanden, allgemein die Wirkung von Sprache und Sprachkunst in Krisenzeiten diskutiert oder in Frage stellt, nicht vorrangig überprüft werden. Von Interesse sind vielmehr die Geschehnisse in den Systemen der Sprachen. Die Verzahnung von Lesen und Speisen diskutiert das Verhältnis von Zeichen und Bedeutung, eine allgemein sprachkritische Problematik, die jedoch hier durch ihre Gebundenheit an tatsächlich existentielle Fragen, wie Hunger und Tod, ihre besondere Brisanz erhält: Was passiert im Kollektiv mit Zeichensystemen in Zeiten manifester leiblicher Bedrohung. Wie werden sie außer Kraft gesetzt, beispielsweise durch kollektives Vergessen, oder auch neu mit Bedeutung versehen? Zunächst ist anzumerken, daß es sich bei der Metapher des ›Wörteressens‹, die gleich zu Beginn in der Wendung »ausgehungert auf literarische Wechselworte« (S. 9) begegnet, keineswegs um eine ›kühne Metapher‹ handelt, die Bildfelder unerwartet miteinander kombiniert. Sie kann auf eine reiche Tradition zurückblicken: Schon die antiken philosophischen Diskurse nutzen sie zu unterschiedlichen Zwecken. Beispielsweise profiliert Platon mit ihr ein bestimmtes Dichtungsverständnis. Der Dialog Ion erzählt von den Dichtern, die wie die Bienen »aus honigströmenden Quellen« (534b) schöpfen und das Aufgenommene zu den Hörern weitertragen. 8 In den diätetischen Diskursen findet sich die Vorstellung, daß das Gelesene in das Gedächtnis wie in einen Magen _______ 6

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Christoph Sieger: Nachwort [zum Treffen in Telgte]. In: Günter Grass: Werkausgabe in zehn Bänden. Hg. von Volker Neuhaus. Bd. 6: Das Treffen in Telgte. Kopfgeburt oder die Deutschen sterben aus. Hg. von Christoph Sieger. Darmstadt [u.a.]: Luchterhand 1987, S. 272–278, hier S. 276. Vgl. Zimmermann: Das Treffen in Telgte (wie Anm. 4), S. 159. Vgl. Helgard Mahrdt: Essen. Trinken. Dichten. Zur Bedeutung des Symposiums in Günter Grass’ Erzählung Das Treffen in Telgte. In: Text & Kontext 22 (2000), Heft 1/2, S. 195– 211, hier S. 203. Zitiert wird nach: Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hg. von Gunther Eigler. 2. unveränd. Aufl. Bd. 1: Iǀn. Hippias elattǀn [...]. Bearb. von Heinz Hofmann. Griechischer Text von Louis Bodin […]. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 17.

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aufgenommen wird: In seinen Briefen an Lucilius warnt Seneca davor, seinen ›Magen‹ mit zuviel oder mit schlechter Lektüre zu belasten (vgl. Sen. epist. 84, 7). 9 Quintilian exponiert in seiner Institutio oratoria den Vorgang des Merkens von Gelesenem als Verdauungsvorgang (vgl. Quint. inst. 11, 2, 41–44). 10 Dieses Bild kehrt in der Vorstellung des ›Schriftessens‹ bei den Kirchenvätern, der ruminatio, wieder. 11 Ein Sprung in die Moderne beweist die Weiterschreibung dieses Diskurses, der Lesen und Essen miteinander verzahnt: In der Literaturkritik der Klassischen Moderne, etwa bei Hermann Bahr, findet sich die Forderung an die Lektüre als Delikatesse, die in einen rauschartigen Zustand versetzen soll, um dem ennui entgegenzuwirken. 12 Als berühmtes Motiv der Sprachkritik fungiert die Metapher in Hofmannsthals Chandos-Brief, wo es heißt, daß die Worte wie »modrige Pilze« im Munde zerfallen: 13 Ein sicheres Urteil ist dem Modernen nicht mehr möglich, da er keine verbindliche Zuordnung von Zeichen und Bedeutung stiften kann. Viele Aspekte dieser Beispiele klingen, wie zu zeigen sein wird, auch im Treffen in Telgte an. Die Metapher erhält hier jedoch eine zusätzliche Konnotation, indem der leibliche Hunger die Bildfelder ›Vorlesen‹ und ›Essen‹ bisweilen in ein Spannungsverhältnis setzt. Dies resultiert aus der Bewegung der Bilder, die bisweilen selbständig und bisweilen verankert erscheinen, dann wieder auseinandertreten, um am Ende auf groteske Weise wieder zusammengeführt zu werden. Solche verschiedenen Verzahnungen demonstrieren besonders gut vier Szenen: erstens die Ankunft in Oesede und die Speisung der Wirtin Libuschka im Brückenhof, zweitens der Skandal um die Tragödie von Gryphius und die anschließende Suppenmahlzeit, drittens das Festmahl auf dem Hof, und schließlich das Fischessen am Ende. Neu diskutiert wird im Laufe der Argumentation auch die Rolle des Simon Dach. _______ 9

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Zitiert wird nach: L. Annaei Senecae ad Lucilium epistulae morales. Hg. von L[eighton] D[urham] Reynolds. 2 Tle. Teil 1: Libri I–XIII. 10. Aufl. Oxford [u.a.]: Clarendon 1991 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis), S. 286. Zitiert wird nach: M. Fabii Quintiliani institutionis oratoriae libri duodecim. Hg. von Michael Winterbottom. 2 Tle. Teil 2: Libri VII-XII. Oxford: Clarendon 1970, 2, S. 650 f. Vgl. etwa: Sancti Aurelii Augustini Hipponensis episcopi opera omnia, post Lovaniensium Theologorum recensionem […]. Editio novissima, emendata et auctior. Accurante JacquesPaul Migne. Bd. 4/1. (ND der Ausgabe Paris 1841.) Turnhout: Brepols 1991 (Patrologiae cursus completus, Series Latina, 36), Ennarationes in Psalmos, Sp. 386. Vgl. auch das Essen der Schriftrolle in Ez 3, 1 ff.; vgl. Offb 10, 9. Vgl. dazu Günter Butzer: Pacman und seine Freunde. Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), Sonderheft, S. 228–244, hier S. 236. Vgl. Hermann Bahr: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hg. von Claus Pias. Bisher Bd. 1–3, hier Bd. 1: Zur Kritik der Moderne. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2004 (zuerst 1890), S. 188 und 241. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/M.: Fischer 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden; Fischer-Taschenbuch, 2165), S. 461–472, hier S. 465.

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1. Ankunft in Oesede und Speisung der Wirtin Libuschka im Brückenhof Die Ankunft in Oesede gibt den Blick auf eine Bühne frei, welche den Hunger auf poetische Worte als Adiaphoron entlarvt. Die Schweden belegen den Ort, bezeichnenderweise den Speisesaal, dessen Raumtext nicht deutlicher sein kann: »[…] der große Wirtssaal, in dem man eigentlich hatte tagen, das ersehnte Gespräch führen, sich aus Manuskripten vorlesen wollen, war zum Proviantlager gemacht worden« (S. 10). Diese Szene weist die Problematik leiblicher Versorgung noch ganz jener Gruppe zu, die antipodisch zu den friedliebenden Poeten aufgestellt ist. Ein Poetenfest, ein ›Wörteressen‹, erscheint den Kriegsführenden grotesk. In der Auseinandersetzung, deren Wortlaut wir nur imaginieren können, wird der Poetenführer Dach »schroff abgewiesen« (ebd.). Zum Raumtext, den Zeichen der Proviantsäcke, tritt der gleichfalls vielsagende Körpertext, mimische und kinetische Zeichen der Kriegstreibenden: Man hört »Gelächter« und sieht »ödes Grinsen« (ebd.). Man sieht namenlose Gestalten des Krieges auf der Bühne hin und hergehen: »Kuriere gingen ab, kamen« (ebd.). Sie tragen Briefe, welche die Akten mit ihrer eigenen Sprache füllen. Diese Akten verdrängen jene Manuskripte der Poeten. Die in ihnen aufgehobene Sprache lenkt ihre rastlosen Bewegungen, die den Gegenpol bilden zum erhofften otium, der tätigen Muße, die die Poeten suchen, die sie dann im Brückenhof zu finden hoffen. Die Begegnung mit den Kriegstreibenden legitimiert ihre Mission, die Abfassung des Friedensmanifestes, stellt aber implizit auch den Gegenstand ihrer Dichtung heraus, nämlich den Krieg und alles, was mit ihm verbunden ist. Als Produkte des ›Wörteressens‹ werden die Poeten Speise konsumieren, die ohne den Krieg so nicht zubereitet worden wäre. Insofern ist der Krieg auch Mittel und dienlich, er wird genutzt, seine Praktiken finden nicht nur Eingang in die Kunst, sondern in das unmittelbare Leben: Der Krieg lehrt Überleben. Der Brückenhof kann nämlich nur durch sprachliche List okkupiert werden. Der Ireniker Dach, der ›praktische Christ‹, läßt den noch jungen Gelnhausen operieren, der die anwesenden Gäste vertreibt mit dem Vorwand, er müsse Pestkranken Quartier bieten. Diese Handlung wird von ihren Akteuren sogleich als »Satyrspiel« theatral verkauft (S. 17), ihre Illegitimität entschärft, die Realität eingeholt in die poetische Fiktion, strukturell der theatrale Charakter des folgenden vorbereitet. In dieser Szene verhindert die leibliche Not die Verzahnung der Bildfelder ›Lesen‹ und ›Essen‹ insofern, als das Lesen als ein Adiaphoron dargestellt wird, das Essen als notwendige existentielle Tätigkeit. Den beiden Handlungen werden auf der Bühne deutlich zwei unterschiedliche Gruppen zugeordnet. Auf der einen Seite stehen die Kriegstreibenden, auf der anderen die Poeten. Die Schilderung der ersten Speisung in der Kleinen Wirtsstube verbindet die beiden Akte, indem das verbale Spiel der Wörter, die Zitate der Wirtin Libuschka, nonverbale Zeichen leiblicher Nahrung untermalen. Während Libuschka Moscherosch und Lauremberg sättigend »Braunbier, Käse und Brot« anbietet, »wußte sie in raffenden Sätzen den Inhalt einiger Traumgesichte aus Moscheroschs Philander herzusagen. So belesen und ge-

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schaffen für das Treffen der Poeten war die Wirtin Libuschka […]« (S. 18 f.). Als androgyne Figur in soldatische Hosen gekleidet, stellt sie im Verein mit ihren mütterlichen Zügen eine geniale Mischung dar: 14 Sie partizipiert an den Tätigkeiten der eigentlich als rein männlich eingeführten Poetengruppe, an den Geschäften der ›Männer des bloßen Wortgeschehens‹. Die Metapher der ›Wörter als Nahrung‹ wird in ihr hypostasiert, indem sie auch als Frau qua natürlichem Geschlecht und in ihrer Funktion als Wirtin die Nährende ist, die den nach literarischen Worten Ausgehungerten zudem aus dem Gedächtnis hersagt. Manuskripte sind gar nicht vonnöten. Die außergewöhnliche literarische Belesenheit und ihr exzellentes Gedächtnis umschreibt Simon Dach in dem Brief an seine Pohlin. Libuschka sei »im Literarischen wie eine Füchsin im Gänsestall bewandert« (S. 22). Die Wendung läßt die Metapher des ›Gedächtnisses als Magen‹ anklingen. Außerdem stellt für Libuschka das Gelesene in ihrem Gedächtnis einen Fundus an Nahrung für andere bereit. Das Benötigte liegt ihr in jedem Fall gleichsam zu Füßen. Sehr wohlwollend ist der Vergleich jedoch nicht. Im selben Atemzug bezeichnet Dach sie denn auch als ein »Luder« (S. 22). Ihre Belesenheit und ihr sicherer Zugriff auf ihr Gedächtnis sind ihm suspekt. Sie besitzt nicht nur ein gefüllteres und geordneteres Gedächtnis als die angereisten männlichen Dichter, deren Manuskripte sie im Kopf hat, sondern sie bedient sich aus ihrem Gedächtnis wie aus einem Magazin. Zielsicher greift Libuschka auf die Produkte derjenigen zurück, die mit ihr am Tisch sitzen, natürlich, um diesen zu schmeicheln. Beiderlei Nahrung, die sie vorsetzt, Zitate und leibliche Speise, erhalten so eine besondere Würze. Ihre mangelnde poetische Gabe vermag sie auf diese Weise auszugleichen und deshalb wird sie akzeptiert, da sie eine Konkurrentin auf Augenhöhe nicht darstellt, sondern geschickt reproduziert. Die Qualität der poetischen Nahrung ergibt sich aus der Tatsache, daß sie das Eigene ist, was Dichtern immer am besten gefällt. Auf die Qualitäten der poetischen Nahrung verweist die leibliche. Diese ist einfach, schmackhaft und sättigend: Braunbier, Käse und Brot. Gleichwohl sieht die von Dach anberaunte Leseordnung eine solche gewissermaßen intime Konstellation nicht vor. Fortan soll es zunächst um die Sprache an sich gehen. Sodann sind die Poeten aufgerufen, fremde Produkte zu goutieren und zu beurteilen.

2. Die Suppenmahlzeiten und Gryphius’ Lesung Die erste kleine Suppenmahlzeit, die in der Großen Wirtsstube eingenommen wird, bildet proleptisch ein Vorspiel zur Lesung von Gryphius aus seiner Tragödie Leo Armenius, der sich ebenfalls eine Suppenmahlzeit anschließt. Beide _______ 14

In ihrer Mütterlichkeit liegt für Silke Umbach: Die Wirtin vom Brückenhof. Die Libuschka in Grass’ Das Treffen in Telgte und ihr Vorbild bei Grimmelshausen: die Landstörtzerin Courasche. In: Simpliciana 14 (1992), S. 105–129, ein wichtiger konzeptioneller Unterschied zu Grimmelshausens Vorbild (vgl. S. 112 und S. 117–120).

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Mahlzeiten sind Zeichen für den Zustand der Sprache, einmal für die allgemeine, sodann für die poetische Sprache. Sie sind jedoch auch Zeichen für die reale Not des Krieges. Schon während der ersten Suppenmahlzeit wollen sich die Poeten über die Sprache »im Disput erhitzen« (S. 29), denn im Mund selbst, Ort der artikulierten Sprache, wird deren allgemeiner Zustand sinnfällig. »In der vom Wurstbrühen fetten Suppe schwammen Mehlklietern« (S. 29). Sinnlicher Mangel bildet nun die Vorstellung einer »Natursprache« aus, die »mit besserer Zukost gesättigt« ist (S. 29). Reicht das Mahl nicht aus, die Poeten leiblich-sinnlich ruhig zu stellen, so vermag auch nicht die derzeitige Sprache, die als »zerstört« bezeichnet wird (S. 29), verbindliche Handlungsakte zu stiften. Von hier aus ist der Einsatz derjenigen Sprache zu verstehen, welche die Figur Simon Dach nutzt. Diese ist keinesfalls so bruchlos ›sympathisch‹ gezeichnet, wie es die Forschung gerne sehen möchte, 15 da sich offenbar anders die vermutlich intendierte Engführung zwischen der literarischen Figur und Hans Werner Richter nicht aufrecht erhalten ließe. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die »große Integrationsfigur« 16 vor allem als eine geschickt befehlende Herrscherfigur. Diese kann jedoch trotz Spiel und Kalkül die Ordnung nicht bewahren, sondern unter ihrer Ägide kommt es am Ende, wie zu zeigen sein wird, zu einem grotesken Finale. Nicht durch Wörtersprache, sondern durch befehlende Deixis und durch Bewegungen gelingt es Dach, den Disput nicht ernsthaft eskalieren zu lassen. Würdig geht er den langen Tisch hinauf und hinab, schafft durch Bewegungen und »Handzeichen« (S. 31) Ordnung im äußeren Verhalten. Die Anwesenden sind alle lutherisch »merkwürdig gehorsam«, akzeptieren seine »Obrigkeit« (ebd.), opfern ihm ihr »Gezänk« und ihre »Gewohnheiten« (ebd.). Später dringt seine ordnende Zeichensprache bis in den Intimbereich ein. Nachdem er »die Gesellschaft ins Bett« geschickt hat, geht er »noch einmal die Flure ab« und sieht nicht nur milde über das körperliche Begehren hinweg, sondern verordnet dieses geradezu, indem er »mit den Fingern ein Zeichen« gibt, »still und unter der Decke zu bleiben« (S. 51). Diese Deixis ist auch Metareflexion über den Zustand der Sprache und der Speise, die beide als mangelhaft deklariert nach Ausgleich suchen. Vermag für die desolate Wörtersprache das nonverbale gestische Zeichensystem zumindest vorübergehend verbindlich einzutreten und Ordnung zu schaffen, so gibt es für das sinnlich-leibliche Bedürfnis keinen wirklich adäquaten Ersatz: Eher sublimierende Funktion haben das reichliche Braunbier am Abend, die teils anzüglichen Erzählungen, die man einander in geselliger Runde ›auftischt‹ und schließlich die durch Handzeichen verordnete und heimliche Intimität. Einen Höhepunkt der ›Wörterspeisung‹ soll Gryphius’ Lesung aus seiner Tragödie Leo Armenius bilden. Dieser Lesung folgt ebenfalls eine Suppenmahl_______ 15 16

Vgl. Wade: Das Treffen in Telgte (wie Anm. 5), S. 341. Vgl. auch Zimmermann: Das Treffen in Telgte (wie Anm. 4), S. 143 f. Vgl. Weber: Johann Matthias Schneuber (wie Anm. 5), S. 111.

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zeit, die delikat semiotisch auf sie zurückverweist. Als Bühnenraum öffnet sich wieder die Große Wirtsdiele. Als hors d’œuvre geben Birken, Scheffler und Greflinger Verse zum besten, bevor Gryphius seine Tragödie zu lesen beginnt: »jedem Wort Gewicht gebend, doch offenbar mehrere Manuskriptblätter zu lang – etliche Zuhörer, nicht nur die jungen, auch Weckherlin und Lauremberg schliefen ein […]« (S. 77). Gryphius liest die Verhaftungsszene, den Reyen der Höflinge, »nach der viel zu beredt hinverzögerten Gerichtsszene« (S. 78) das Urteil über Balbus und das Zwiegespräch zwischen Theodosia und Kaiser Leo, will gerade noch den Chor der Höflinge sprechen lassen, als Dach ihn bittet »(die Hand auf des Vortragenden Schulter), es nun genug sein zu lassen. Ein jeder könne sich nach dem Gehörten ein sattes Bild machen. Er, jedenfalls, sei vom Steinschlag der Wörter wie zugeschüttet« (S. 79). Auch Logau beklagt den »Wortschwall« (S. 80), Hoffmannswaldau gibt zu bedenken, Gryphius sei nun einmal »ins Chaos vergafft. Seine Worte […] widersprüchlich […]. Mit Wortkraft lege er seine Schwäche bloß« (S. 80). Schütz, extra wegen Gryphius angereist, beklagt die »vielen, zu vielen Wörter«, die »so heftig« stürmen, daß »eine überfüllte Leere« entstehe (S. 82). Gryphs Körperlichkeit, seine Wohlgenährtheit, scheinen einen solchen Wortschwall zu produzieren: ›feist geworden‹ (S. 21), immer noch nicht vom Weltekel »leergemolken« (S. 63) […], »saß [er] wie verdonnert« da (S. 83): Sein aufgedunsener Körper gleicht seiner Sprache, mit zu vielen Wörtern überladen. Die Kritik der Poeten bedient sich des Bildes der Mahlzeit und weist auf die reale voraus: »Der übergroße Wortaufwand ersaufe in purpurner Brühe« (S. 80), meint Logau, und Dach, diesmal nicht dezent, hebt die Versammlung auf: Man solle nun »friedlich die Suppe löffeln, die man sich eingebrockt habe« (S. 83). Der Beginn des zwölften Kapitels nimmt die Metapher direkt auf: »Schmackhaft und mager. Die Schwarte drin hatte schon gestern herhalten müssen. Eine Suppe, die nur kurz sättigte, aber lange erinnert sein wollte: Grütze mit Kerbel geschönt. Dazu knapp Schwarzbrot.« (S. 84) ›Grütze mit Kerbel geschönt‹ – diese Nahrung wird verzehrt, hört man Gryphius’ Tragödie Leo Armenius. So metaphorisiert gerät die poetische Sprache unter einem bestimmten Aspekt ins Visier. Zur Diskussion steht das Verhältnis von Inhalt und Form, von res und verba. Diesbezüglich verfehlt Gryphius’ Spache das aptum. Entsprechend spottet Logau »über die zeitgenössische Kunst des Suppenverlängerns« (S. 84). Wie die geschönte Suppe nicht sättigt, so schafft Gryphius’ Sprache durch ornatus bloß Illusionen von Inhalt. 17 Nicht von ungefähr aber werden die ›Männer des bloßen Wortgeschehens‹ unruhig. Gryphius hat sie bei ihrem eigenen Tun ertappt. Ihr Selbsthaß findet Dach als Opfer. Man wirft ihm jedoch nicht vor, schlechte Manuskripte vorlesen zu lassen, sondern nicht ausreichend sättigende Nahrung, nicht genug »Bohnen und Speck« bereitgehalten zu haben (S. 85). Erst als Gelnhausen erwartet wird, der vielleicht »etwas Handfestes« bringen werde, waren sie »über den Suppenstreit hinweg und bissen sich _______ 17

Zimmermann (Das Treffen in Telgte [wie Anm. 4]) spricht von einer »Parodie auf den Ästhetizismus« (S. 152).

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an Sprachgebilden fest: genügsame Wortwiederkäuer, denen notfalls Selbstzitate Sättigung brachten« (S. 86), ähnlich wie in der Libuschka-Szene zu Beginn. Der zum ersten Mal sprachlich geäußerte Unmut über die mangelhafte Speise wird im Bild des ›Wiederkäuens‹ poetischer Sprachgebilde aufgehoben, die gleichwohl leiblich-sinnlich nicht sättigen. Trotz enger Verzahnung der Bildfelder läßt die hier anklingende Ironie die Akte ›Vorlesen‹ und ›Essen‹ auseinandertreten, ihre gleichwertige existentielle Bedeutung wird bestritten; poetische Sprache verliert zunehmend an Aussagekraft, verblaßt – wie Gryphius’ Lesung schon demonstrierte – zu einer leeren Hülle, ein Tatbestand, den auch Dach, der ›praktische Christ‹, nur noch kommentarlos hinnehmen kann. Im Vorfeld des Festmahls nimmt die Unordnung ihren Lauf. Dach sieht »sich der neuerlich aufwallenden Redekunst wie ausgeliefert« (S. 94 f.); er verliert die Leseordnung aus dem Griff. Auch sein gestisches Zeichensystem versagt. Er gibt keine Handzeichen mehr. Wie die poetische Sprache nur noch zur inhaltlosen Form wird, so sind auch seine verbalen und nonverbalen Zeichensysteme außer Kraft gesetzt und bieten keine Orientierung mehr. Deutliches Anzeichen dafür ist, daß einzelne Mitglieder der Versammlung einfach den Raum verlassen – es entsteht Bewegung –, nicht nur, um auszutreten, sondern um nach Telgte zu laufen – wahrscheinlich aus Hunger – oder um im Hof mit den Musketieren Würfel zu spielen. Johann Rists Maskenlesung aus Das Friedejauchtzende Teutschland ist poetischer Kommentar zur Unordnung der Verhältnisse und dient als Prolepse auf die Katastrophe, als plötzlich Gelnhausen wie ein deus ex machina auf die Bühne springt, der noch unerkannte Dichter.

3. Gelnhausens Festmahl Gelnhausens Bericht fingiert wundersame Geschehnisse, die das Festmahl legitimieren sollen, die, selbst schon fast poetische Produkte, nicht wirklich geglaubt werden. Die Zusammenführung der Bildfelder ›Speisen‹ und ›Essen‹ suggeriert die Fortsetzung der Leseordnung und täuscht darüber hinweg, daß Sprachkunst nun wirklich keinen mehr interessiert: Noch im grünen Wams, die Feder am Hut, sprang er zwischen die Herren, salutierte nach kaiserlicher Manier und rief das Ende der Grützsuppenzeit aus. Er habe dem schmalhansigen Elend den Schlußpunkt gesetzt. Ihm seien fünf Gänse, drei Ferkel und ein fetter Hammel zugelaufen. Mit Würsten habe man ihn unterwegs beworfen. Das alles wolle er vorzeigen zum Beweis. Schon könne man seine Leute draußen im Hof den Spieß drehen sehen. Das werde ein Fest geben, dem die versammelten Dichter nur noch etliche lucullische Doppelreime, epicureische Jamben, bacchantische Sinnsprüche, dionysische Daktylen und platonische Gescheitheiten besteuern müßten. (S. 103 f.)

Diese Worte verschleiern, was alle wissen, daß das Mahl unter höchst fragwürdigen Umständen zubereitet wird. Der Erzähler schreibt dem Noch-nicht-Poeten Gelnhausen die Fortsetzung der ›Leseordnung‹ metaphorisch zu: Er bereite ein »Festgedicht« (S. 104), eine Wendung, die das Ereignis in die Ordnung zurück-

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holt. Dach nutzt die günstige Gelegenheit, seinem Zeichensystem den Anschein von Verbindlichkeit zurückzugeben. Er löst durch »Zeichen« (S. 104) die Versammlung auf, die sich auch ohnehin aufgelöst hätte. So aber gibt er sich die Rolle des Wohltäters, des ›Euergetes‹, der Brot und Spiele verordnet, als ob er es wäre, der außer der Ordnung ein Zeremoniell gestatte und inszeniere. Die Erzählung hat bisher beide Bildfelder auch real exponiert. Es wurde real gelesen und gegessen, beides metaphorisch variantenreich miteinander verknüpft. Nun wird durch einen Noch-nicht-Poeten aufgetischt, der ungeübt in der Zubereitung poetischer Speisen Delikatessen serviert zu einem Zeitpunkt, zu dem das sinnlich-leibliche Bedürfnis nach Speisen sich zunehmend Raum verschafft. Das Essen koppelt sich vom Bildfeld des ›Lesens‹ ab, wird selbständig, verdrängt gar die Leseordnung und findet ganz außerhalb der bisherigen gewohnten räumlichen Ordnung statt: im Freien. Es stellt zudem den Entwurf des Friedensmanifestes in Frage, das kurz zuvor diskutiert wurde und das die »unzehlige[n] Sünden des unbußfertigen Teutschlandes« (S. 88) anklagt. Sie, die Dichter, die mit der deutschen Sprache ein »letztes Band« knüpfen wollten, sie, »das andere, das wahrhaftige Deutschland« (S. 89), begeben sich nun ohne Zögern daran, an fremder Kriegsbeute zu mahlen. Die Mission, die deutsche Sprache von fremden Einflüssen zu reinigen, käme, bliebe man in der Metapher, Speisevorschriften gleich. Diese Mission hat man für einen Moment der Existenz vergessen zugunsten des Genusses der pikarischen Festmahlzeit, die eben das Fremde und dies im Überfluß auftischt. Anstelle von Suppe Spießbraten, Würste und Gänsebrust. Den theoretisierenden Sprachpuristen wird auf Tellern und Schüsseln, die aus einem Wasserschloß geraubt wurden, ein opulentes Festmahl kredenzt, was semiotisch zudem an das Abendmahl denken läßt, haben doch die Tischtücher vormals einem »Altar« (S. 105) gedient, »schwersilberne Leuchter kirchlichen Urspungs« (S. 106) sind zu sehen; sogar einen »Baldachin« spannt man auf, flechtet »Girlanden« mit Blumen durchwirkt (ebd.); eine bronzene Apollofigur stellt man auf die Mitte der Tafel. »Aus katholischem Haus« (S. 107) sei dies alles, gesteht Gelnhausen dem fragenden Dach, der sich wiederum tolerant zeigt, als ›praktischer Christ‹ »praktische Frömmigkeit« (S. 63) beweist und »restliche Zweifel […] zerstreute« (S. 109): »Ihm jedenfalls lasse auch ein katholisches Ferkel das Wasser im Munde zusammenlaufen« (S. 110). Die eigenen ›Wörterspeisungen‹ konnten eine solche Zufriedenheit bisher ebenso wenig auslösen wie das Gefühl friedlicher Gemeinschaft, welches das Festmahl durch verordnetes Vergessen seiner Herkunft unter den Dichtern stiftet, die gleichwohl wissend sind: Zurecht bemerkt Laufhütte, daß die »Merkmale« dafür, woher die Speisen eigentlich stammen, »jedem hätten auffallen können.« 18 Erst Gelnhausens Geständnis gibt den Zeichen des Mahls offiziell ihre Bedeutung zurück und erinnert an seine Genese. Das Festmahl, »eine Freßund Sauforgie gargantuesken Ausmaßes«, 19 avanciert so unversehens zu einem _______ 18 19

Laufhütte: Die Gruppe 1647 (wie Anm. 2), S. 364. Ebd.

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Gedächtnismahl. Es erinnert durch Verzehr geraubter leiblicher Speise daran, was eigentlich und in welchem Zustand etwas anderes zu verzehren sei: die Sprache. Eigentlich sollten poetische Speisen gelesen und gehört werden, die dem aptum in jeder Hinsicht entsprechen. Nun aber entsteht Chaos: »Ekel kam auf«; Birken »erbrach« sich, Scheffler, Czepko und Schlegel »weinten«, Gryphius »torkelte um den Tisch«, Logau schwindelte es (S. 121). Die moralische Entrüstung scheint geheuchelt. Wenn Durzak meint, daß die Entrüstung der Poeten pharisäisch anmutet, weil sie sich in anderen Dingen weniger hemmungslos zeigen, 20 so ist zu bedenken, daß ihre Reaktion nicht so sehr moralische Empörung über Gelnhausens Aktion offenbart, sondern der Vorfall ihnen vielmehr ihr eigenes Tun unrühmlich vor Augen führt: Sie haben ihr Ziel aus den Augen verloren, haben ihre Manuskripte gegen einen wüsten Festschmaus vertauscht und haben ihren leiblichen Bedürfnissen freien Lauf gelassen. 21

4. Das Fischessen als groteskes Finale Erscheint den Poeten in der Rückschau der »Räuberfraß« an »Bestialität« kaum noch zu überbieten (S. 138), soll die Unterzeichnung des Manifestes durch ein ›schlichtes Mittagsmahl‹, »ehrlich« und »karg« (S. 140) abgeschlossen werden. Stolz zeigt Greflinger seine nächtlich gefangene Beute. Obgleich wieder ein Mahl außer der Ordnung, wird auch Dach, der ›praktische Christ‹, beim Betrachten der Netze milde: »Man freute sich auf den ehrlichen Fisch« (S. 142). Auf den ersten Blick paßt ein Fischmahl in seiner Semiotik ausgezeichnet zu der Unterzeichnung eines Friedensaufrufs. Es alludiert beispielsweise auf den wundersamen österlichen Fischfang und das darauf folgende Mahl im Johannesevangelium (Kap. 21) und so auf die friedliche Einigkeit der Poetengruppe. Der Fisch stimmt alle »immer freundlicher«, man möge dem »Frieden« Bücher widmen, von »Friedensfeiern« und »Friedensspiele[n]« dichten (S. 169). Simon Dach läßt sich feiern. Er steht aufrecht und sein Blick fällt »auf die gehäuften, zwischen Kopf und Schwanz blanken Fischgräten«, in der linken Hand hält er »das gerollte und mittlerweile versiegelte Manifest« (S. 170): In Betrachtung der zernagten Fische weist er darauf hin, »es stimme ihn froh, daß Greflingers Fisch sie alle wieder ehrlich gemacht habe« (ebd.); später möge man sich an diese Begegnung erinnern, »wo ihnen die Sprache Weite versprochen, Glanz abgegeben, das Vaterland ersetzt und allen Jammer dieser Welt benannt habe« (S. 171). Da geht plötzlich der Brückenhof in Flammen auf. Man könnte dieses Ende schlicht als Allegorie auf das Ende der Kürbishütte lesen, auf die letztendliche Machtlosigkeit der Dichterworte angesichts des Krieges. 22 Ich meine aber, daß das Feuer nicht unbedingt Gutes zerstört, sondern auf den Scheincharakter die_______ 20 21 22

Vgl. Durzak: Harsdörffer-Variationen (wie Anm. 2), S. 376. Silke Umbach (Die Wirtin vom Brückenhof [wie Anm. 14]) erkennt die »besondere Funktion« der Gelnhausen-Figur darin, daß er »Erkenntnisprozesse« auslöse (S. 110). Vgl etwa Mahrdt: Essen. Trinken. Dichten (wie Anm. 7), S. 207.

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ses vermeintlich friedlichen Ausgangs verweist. Dieser kann nur unter den Bedingungen einer Sprache stattfinden, deren Zeichen je nachdem, wie es ins prudentistische Kalkül des Überlebens paßt, geglaubt und Bedeutung zugewiesen wird. Recht marginal kommt die Bemerkung des Erzählers einher, daß es den Poeten erst dann »leicht« fiel zu essen, nachdem der Domorganist Albert »biblische, das Fischereiwesen betreffende Stellen« anzitiert hatte (S. 168). Dieser erst allegorisiert das Fischessen als ein christliches Gedächtnismahl. Seine Zitationen zwingen den nonverbalen Zeichen der Speise eine Bedeutung auf, indem sie sprachliche Zeichen ihrer Bedeutung entkleiden, die in Passagen der undramatischen Narration proleptisch die Katastrophe schon andeuten – und dies wie folgt: Der Ich-Erzähler läßt einmal Zesen nach einem Streit mit Greflinger zum Fluß eilen und dort eine grausame Beobachtung machen: »zwei aneinandergebundene Leichen« trieben »gegen das Ufer: Die waren, obgleich gedunsen, kenntlich als Mann und Frau« (S. 46). 23 Der Ich-Erzähler könnte an dieser Stelle tatsächlich aus dem Blickwinkel Greflingers erzählen, der Zesen bei seiner Beobachtung selbst beobachtet, also das aufschreibt, was sowohl er als auch seine Figur sehen. Später berichtet Zesen: Er komme vom Fluß. Der führe Leichen. Zuerst habe er nur zwei treiben sehen […]. Dann seien mehr, immer mehr Leichen flußab gekommen. Der Mond habe ihr treibendes Fleisch gezeigt. Er finde nicht Worte, so viel Tod zu nennen. Schlimme Zeichen stünden über dem Haus. Nie werde Frieden werden. Weil man die Sprache nicht rein halte. Weil die entstellten Wörter zu treibenden Leichen gedunsen seien. (S. 56 f.)

Dies will man nicht hören, »erst erschreckt, dann belustigt« hörte man »den wirren Zesen« (S. 57) an, den man schließlich für ›schier verrückt‹ (S. 58) erklärt. Noch in seiner Lesung verfolgt ihn dieses »schröcklich Bild« (S. 96). Die Prägnanz und Bedeutung des gesehenen Bildes resultiert nicht allein aus der »Vergegenwärtigung grausamer Realität«, die in die »Wirklichkeit« der versverliebten Poeten einbricht. 24 Es hat die Funktion einer zukunftsgewissen Vorausdeutung, die Schreckliches erahnen läßt. In diesem Zusammenhang spielt die Figur Greflinger, die beim Sehen dabei war und mitgesehen hat, eine entscheidende Rolle: Das 17. Kapitel beginnt folgendermaßen: »Greflinger – um es gleich zu sagen – war fischen gegangen« (S. 130). Morgens sah man ihn »im Ufergebüsch neben den toten oder noch zuckenden Fischen« – er »schlief sich die Mühe des nächtlichen Fischfangs weg« (S. 138). Greflinger geht im Wissen darum, daß im Fluß Leichen treiben, ebendort fischen. Diese Fische aber nähren sich von den Leichen. Der Text läßt durchblicken, daß die Poeten Menschenfleisch verspeisen, »das unter der röschen Haut weiße, sacht von der Hauptgräte fallende Fleisch der Barben« (S. _______ 23

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Die Forschung hat nachgewiesen, daß diese Szene, welche ein Liebesspiel im Tode andeutet, offenbar aus Edgar Hilsenraths Roman Nacht inspiriert ist, der im Jahre 1978 erschienen war. Vgl. dazu etwa Andreas Graf: »ein leises ›dennoch‹ « (wie Anm. 2), S. 287. Ebd., S. 285.

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168). Die Poeten wissen um die Bewandtnis des Fleisches. Der Hunger läßt sie aber vor diesem kannibalistischen Akt nicht zurückschrecken. Spielerisch wenden sie ihr Wissen ins Komische, indem sie im Hecht zuerst Gelnhausen wiedererkennen, dann Harsdörffer (S. 169). Dieser kannibalistische Akt ist möglich geworden, weil einer Sprache nicht Gehör geschenkt wurde: den Worten Zesens. Seine Sprache wird absichtlich der Lüge verdächtigt und Vergessen verordnet. Die Poeten schenken den manifesten Grausamkeiten vor ihrer Tür nur insofern Beachtung, als sie selbst Nutznießer von ihnen werden. Sie bereiten mit diesem Bild ihre Texte zu, nutzen es für ihre poetische Speise. Sie entkleiden es seiner eigentlichen Aussage, seiner Realität der schwimmenden Leichen in demjenigen Fluß, aus dem sie sich bedienen, um sich selbst leiblich Speise bereiten zu können. Das Nichternstnehmen der Erzählungen Zesens weist schon auf ein Rezeptionsphänomen dieses Bildes der treibenden Leichen hin, das kaum noch mächtig genug erscheint, um wahrhaft an die atrocitas des Krieges zu mahnen. Der Fisch kann nur unter diesen Bedingungen einer zur Form erstarrten Sprache genossen werden, die bewußt ihres Wahrheitsgehalts entkleidet ist. Wie das Mahl Zesens Sprache in eine poetische Floskel wendet, so ist auch das Manifest eine bloße Form, ein poetischer und sprachkünstlerischer Versuch, der »zwischen den Gräten des Fischgerichtes […] auf dem langen Tisch […]« verbrennt. Nicht von ungefähr hatte man es einfach »vergessen« (S. 173), weil seine Sprache einen Frieden entwirft, der formale Konstruktion ist, unter ihren Produzenten selbst nicht herrscht. Ihrer leiblichen Zerfleischung, versinnbildlicht im Fischessen, entsprechen die zornigen Dispute über seine Abfassung, die Gryphius sogar die Distel zerschlagen läßt. Schließlich wird das Manifest zum Produkt einer autokratischen Handlung. Derjenige, der die allgemeine Aufregung zur Verfassung ›eines Papiers‹ nutzt, ist kein anderer als Simon Dach, dem es wieder einmal klug gelingt, für sich Ruhm zu erlangen. Im nervösen Hunger auf den Fisch wird als letzte Fassung verlesen und unterschrieben, was er im Alleingang konzipierte, während er am kannibalistischen Akt teilnehmender Zuschauer war. Um aber dem Frieden eine Chance zu geben, ist zu bedenken, daß es eine Variante des Kannibalismus gibt, die das Verspeisen von Menschenfleisch als einen Akt der Liebe begreift.

Stefan Hanheide

Wesensmerkmale der Lieder Simon Dachs innerhalb der Musik des 17. Jahrhunderts im Spiegel ihrer Wahrnehmung am Beginn des 21. Jahrhunderts Man spricht in der Musikgeschichte – ja weit darüber hinaus in der Geschichte der abendländischen Kultur – von einem Jahrhundert des Liedes. Daß damit das 19. Jahrhundert gemeint ist, dürfte unstrittig sein. Komponisten von Franz Schubert bis Gustav Mahler und Richard Strauss haben dieses Lieder-Jahrhundert geprägt, Schubert allein schuf über 600 Lieder innerhalb seines kurzen Lebens, das ist ungefähr ein Lied pro Woche während seiner Schaffenszeit. Nach ihm stehen große Namen für eine spezifisch deutsche Liedkultur, die es so nirgendwo anders in der Welt gegeben hat: Robert Schumann, Johannes Brahms, Hugo Wolf, Richard Strauss, Max Reger. Auch hier ließen sich große Zahlen nennen. Daneben gibt es eine unüberschaubare Zahl von Kleinmeistern des Lieds. Im 20. Jahrhundert nimmt die Liedproduktion langsam ab, wenn sie auch noch bedeutende Schöpfungen hervorgebracht hat, etwa von Seiten der Zweiten Wiener Schule oder vom späten Richard Strauss. Das 18. Jahrhundert ist demgegenüber kein Jahrhundert des Liedes. Weder an dessen Anfang bei Händel, Bach oder Telemann noch an dessen Ende bei Haydn und Mozart spielt das Lied irgendeine entwickeltere Rolle. Erst langsam, etwa in den Berliner Liederschulen, wird das Fundament gelegt für die Entwicklung im 19. Jahrhundert, und auch Beethoven hat diesen Zug noch weitgehend an sich vorüberfahren lassen. Sucht man nach einem Jahrhundert, das dem 19. in Sachen Liedkultur zur Seite gestellt werden kann, dann käme am ehesten das 17. in Frage, das Musikwissenschaftler ebenso als große Liederzeit erfassen. 1 Hier wie dort läßt sich eine hohe Zahl an Produktionen ausmachen. In ihrer Zweckbestimmung waren die Lieder beider Jahrhunderte durchaus vergleichbar: für den privaten Freundes- oder Familienkreis, für gesellige Zusammenkünfte und für Hausmusik. Die Königsberger Runde und der Freundeskreis um Schubert haben viele Gemeinsamkeiten: Man pflegt das Lied in geselligem Beisammensein, Dichter und Komponisten leben in lockerem Verbund miteinander – hier in Wien, dort in Königsberg – und greifen ihre Produkte gegenseitig auf. Das Lied ist für die private Innenwelt konzipiert, nicht für die öffentliche Außenwelt. Aus heutiger Sicht jedoch unterscheiden sich beide Jahrhunderte in einem entscheidenden Gesichtspunkt: in ihrer öffentlichen Wirksamkeit. Die Lieder des 19. Jahrhunderts sind omnipräsent im Musikleben. Neueinspielungen der Winterreise, der Schönen Müllerin, der Dichterliebe, der Mörike-Lieder oder der Kindertotenlieder erscheinen in laufender Folge. Jeder Liedersänger muß _______ 1

Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Laaber: Laaber 1981 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 4), S. 168.

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mit solchen Produkten auf den Markt treten, wenn er Erfolg haben will. Die Tonträgerkataloge sind voll von Gesamteinspielungen. Die Lieder Schuberts gelten als musikalisches Allgemeingut: der Erlkönig, Gretchen am Spinnrade, Der Tod und das Mädchen, sie sind selbstverständlicher Gegenstand des Musikunterrichts, bestimmen sogar die zentralen Abiturprüfungen. Das Thema »Einsamkeit und Tod in den Liedern Franz Schuberts« ist thematischer Schwerpunkt in den Abiturprüfungen im Land Niedersachsen. 2 Die Aussage dieser Kunstwerke scheint für heutige junge Menschen relevant zu sein, vor allem der Weltflucht-Gedanke scheint ihren Nerv zu treffen. Auch Schumanns oder Mahlers Lieder findet man in Schulbüchern. Eigene Konzertzyklen widmen sich dem Lied: die Schubertiaden in Hohenems oder Feldkirch, die Richard StraussTage in Garmisch-Partenkirchen, und noch an vielen anderen erlesenen Orten. Allerdings zeigt sich eine Verschiebung des sozialen Bezugsrahmens. Liederabende gehören zur absoluten Hochkultur, nicht selten, wie an den genannten Orten, müssen sie sehr teuer bezahlt werden, was nur der finanziellen Oberschicht der Gesellschaft möglich ist. In der privaten Geselligkeit von Haus, Freundeskreis und Familie spielt das Lied in keinster Weise noch eine Rolle. An diese Stelle ist der Rundfunk getreten. Man schalte ein, und es kommt Schubert. Diese öffentliche Wirksamkeit ist dem Lied des 17. Jahrhunderts völlig verwehrt. Heinrich Albert (1604 – 1651), der Freund Simon Dachs, hat immerhin 120 3 seiner Dichtungen in seinen Arien vertont. Sie wurden noch zu Lebzeiten publiziert, liegen heute in einer brauchbaren, wenn auch heutigen Editionsstandards keineswegs genügenden Neuausgabe 4 vor und sind in jeder qualifizierteren Bibliothek zu haben. Wenn man von Simon Dach-Vertonungen spricht, so stehen diese Kompositionen Heinrich Alberts im Zentrum. Von einer Reihe anderer, heute fast namenloser Komponisten sind einzelne Dach-Vertonungen bekannt. Dazu gehören die Königsberger Altstädter Kantoren Georg Huck, Konrad Matthaei und Johann Weichmann, der Königsberger Altstädter Organist Johann Knuz, ferner Christoph Kaldenbach und Georg Colbe d. J., und, will man auch Kaldenbach und Weichmann heute als nahezu unbekannt einstufen, schließlich als einziger namhafter Komponist Johann Stobäus. Um nochmals den Blick auf die schulische Bildung zu lenken, läßt sich feststellen, daß nur eine einzige Dach-Vertonung heute noch in breiteren Kreisen bekannt ist. Es ist das Gedicht »Der Mensch hat nichts so eigen«. Die Vertonung ist zu finden in der Chorliederbuch-Reihe für höhere Schulen Ars musica. Diese Liederbuch-Reihe war in der Chor- und Schulszene in Deutschland in den siebziger bis neunziger Jahren äußerst verbreitet, heute wird es durch neuere Publikationen langsam verdängt. Allerdings ist das Dach-Gedicht in dem Band für gemischte Stimmen nicht mit _______ 2 3

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http://www.nibis.de/nli1/gohrgs/zentralabitur/musik.pdf. Vgl. Klaus-Jürgen Sachs: Heinrich Alberts Arien oder: »Die Würde der viel schönen Texte« und die stilistische Vielfalt ihrer Vertonungen. In: Aneignung durch Verwandlung: Aufsätze zur deutschen Musik und Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. von Wolfram Steude. Laaber: Laaber 1998 (Dresdner Studien zur Musikwissenschaft, 1), S. 149–176. Heinrich Albert: Arien. 2 Bde. Hg. von Eduard Bernoulli. In Neuaufl. hg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel; Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1958 (Denkmäler deutscher Tonkunst, 12–13).

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dem originalen Satz von Heinrich Albert abgedruckt, denn dieser ist mit ein und zwei gleichen Stimmen und Generalbaß besetzt. Um den Dach-Text im vierstimmigen gemischten Chor singen zu können, wurde ihm ein entsprechender Satz aus Heinrich Schützens Becker-Psalter von 1628 hinzugefügt, der original mit dem Text Aus meines Herzens Grunde verbunden ist. In dieser Form wurde und wird er von vielen Chören gesungen. Allein in dem Ars musica-Band für gleiche Stimmen ist der originale zweistimmige Albert-Satz abgedruckt. 5 Die mangelnde Präsenz der Dach-Vertonungen Alberts im heutigen Musikleben zeigt sich vor allem auf dem Tonträgermarkt. Man suche nach einem Lied Alberts im Bielefelder Katalog, dem internationalen Verzeichnis von Musikwerken auf Tonträgern. Er erscheint jährlich und listet alle Einzelwerke, die auf Tonträgern derzeit lieferbar sind, auf. Das Ergebnis ist über alle Maßen enttäuschend. Von Heinrich Albert findet man ganze zehn Sätze, verstreut in irgendwelchen Samplern. Es gibt keine einzige CD, die allein oder vor allem AlbertLieder oder Dach-Vertonungen brächte. 6 Auch der 400. Geburtstag des Königsberger Komponisten im Jahre 2004 hat keine größere Resonanz hervorgebracht. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, Gründe für das Ausbleiben einer breiteren Wahrnehmung in der Gegenwart aufzuzeigen und dabei Wesensmerkmale der Albertschen Dach-Vertonungen zu benennen. Dieses Ausbleiben liegt keineswegs an der mangelnden Repräsentanz des 17. Jahrhunderts im öffentlichen Musikleben grundsätzlich. Vor allem im Vergleich zur Literatur muß das hervorgehoben werden. Die breite öffentliche Wahrnehmung von Literatur beginnt heute wohl kaum vor Goethe, reicht aber bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Wahrnehmung der Kunstmusik beginnt viel früher, geht bis in die Renaissance und das Mittelalter zurück, breitet sich im Barock erheblich aus, findet ihr Zentrum in Klassik und Romantik, läuft aber am Beginn des 20. Jahrhunderts langsam aus und spielt in der Gegenwart keine Rolle. Eine Sendung wie das Literarische Quartett oder andere Literatursendungen auf die Musik bezogen, ein musikalisches Quartett etwa, wäre absurd, würde man dort neueste Kompositionen von Stockhausen, Henze, Gubaidulina und Penderecki diskutieren. Auch ein musikalischer Reich-Ranicki mit doppelter Brillanz würde nicht für genügend Einschaltquoten sorgen können. An diese Stelle sind die musikalischen Hitparaden und Charts für die Pop-Musik getreten, die gegenwärtige Kunstmusik spielt demgegenüber kaum eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Dagegen wird aber die Musik des 17. Jahrhunderts breit rezipiert. Sie ist im Musikleben omnipräsent, im Rundfunk und auf dem Schallplattenmarkt, in Schulen, Hochschulen und im Laienmusikwesen. Auch gibt es eigene Festivals für diese sogenannte Alte Musik, Spezialensembles mit einer Fülle von laufend erscheinenden Neuproduktionen. Die italienische und französische Oper des 17. _______ 5

6

Ars musica. Ein Musikwerk für höhere Schulen. Bd. 4. Chorbuch für gemischte Stimmen. Hg. von Gottfried Wolters. Wolfenbüttel [u.a.]: Möseler 1965, S. 190; Bd. 5. Chorbuch für gleiche Stimmen. In Zusammenarbeit mit Renate Krokisius hg. von Gottfried Wolters. Wolfenbüttel [u.a.]: Möseler 1967, S. 208 f. Stand der Untersuchung Sommer 2005.

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Jahrhunderts haben Hochkonjunktur: Monteverdi, Scarlatti, Lully und Rameau figurieren auf Opernspielplänen – je ambitionierter sich das Haus geben will, desto stärker ist das Engagement im Terrain noch unbekannter alter Opern. Selbstverständlich liegt auch von jedem Werk Heinrich Schützens mindestens eine Einspielung vor. Bei zentralen Werken wie der Geistliche[n] Chor-Music von 1648 kann man aus einer breiten Palette von Einspielungen wählen. Auch viele seiner deutschen Zeitgenossen sind zahlreich präsent. Auskunft darüber gibt wiederum der Bielefelder Katalog. Von Samuel Scheidt verzeichnet dieser Katalog 108 Titel, von Johann Hermann Schein 92 Werke, von Melchior Franck 62 Titel, von Johann Rosenmüller 53 Werke. Auch die englischen Zeitgenossen sind häufig vertreten, allen voran John Dowland, aber auch William Byrd, Thomas Morley und Orlando Gibbons. Demgegenüber nur zehn Albert-Sätze, davon längst nicht alle auf Texte Simon Dachs! Wie läßt sich dieses vergleichsweise geringe Interesse an den Gemeinschaftsproduktionen des Königsberger Liederkreises erklären? Zunächst scheint grundsätzlich geistliche Vokalmusik 7 stärker nachgefragt zu sein als weltliche. Bei Johann Hermann Schein zum Beispiel finden sich die geistlichen Madrigale aus Israelsbrünnlein stärker präsent als die prominenten weltlichen Sammlungen Venus-Kräntzlein, Musica boscareccia und die Diletti pastorali, ganz zu schweigen vom geselligen Studenten-Schmauß. 8 Die Texte aus der Bibel sind zeitungebunden, haben allgemeingültigen Charakter und Ewigkeitswert gegenüber den zeit- und regionalgebundenen Texten Dachs oder den eigenen Dichtungen Scheins. Im weltlichen Bereich hat es instrumentale Musik leichter als die Vokalmusik mit deutschen Texten des 17. Jahrhunderts. Aber die Schlußfolgerung, weltliche Vokalmusik des 17. Jahrhunderts habe es heute grundsätzlich schwer, läuft in die falsche Richtung. Prinzipiell ist im 17. Jahrhundert die weltliche Musik der geistlichen von der Bedeutung her überlegen. Und die wichtigen Gattungen der weltlichen Musik erfreuen sich hoher Konjunktur, allen voran die Oper und das Madrigal. Die Stoffe der Oper besitzen einen ähnlichen Ewigkeitswert wie die Bibel, indem sie auf zwei gleichermaßen traditionellen Textgenres basieren. Zum einen auf antiker Mythologie: Orpheus, Odysseus, Alceste – zum anderen auf landesgeschichtlichen Sujets: Poppea oder Roland. Auch die Texte des italienischen Madrigals weisen diese Traditionsbindung auf, indem sie sich einerseits auf Petrarca als ihren Urvater berufen – dessen Canzoniere erlebte im 16. Jahrhundert rund 130 Auflagen 9 – und andererseits große geschichtsträchtige Literatur darstellen: Torquato Tassos Gerusalemme liberata 10 und Ludovico Ariostos Orlando furioso, 11 um nur die wichtigsten _______ 7 8

9 10 11

Jedoch ist im aktuellen Evangelischen Kirchengesangbuch Simon Dach als Textdichter nicht mehr zu finden. Die Diletti pastorali sind madrigalisch durchkomponiert, die Musica boscareccia verfügt über zumeist 3-4 Strophen, die länger sind als diejenigen Alberts. Das Venus-Kräntzlein ist mit seinen vielen kurzen Strophen am ehesten mit der Dimension Alberts zu vergleichen. Silke Leopold: Claudio Monteverdi und seine Zeit. Laaber: Laaber 1982 (Große Komponisten und ihre Zeit), S. 93. Gedruckt 1581, in den folgenden zwei Jahrzehnten bereits in 28 Ausgaben verbreitet. Gedruckt 1516 und sprachlich überarbeitet 1521.

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Textquellen zu nennen. Gleichzeitig handelt es sich hier um hochstehende, dramatisch aufgeladene Liebeslyrik. Diese dramatischen Spannungen lassen sich in den Dichtungen Simon Dachs nicht in gleicher Intensität finden, und so mag hier ein erster Grund, wenngleich nicht der entscheidende Faktor, für das zurückhaltende Interesse der heutigen Öffentlichkeit an den Liedern Heinrich Alberts liegen. Weitaus gewichtiger noch als das beschränkte dramatische Spannungspotential dürfte die musikalische Schlichtheit und Begrenztheit anzusehen sein. Diese Begrenztheit betrifft vor allem die Taktzahl: Wenige Takte nur für die erste Strophe des Lieds, im ersten Arien-Band gibt es kaum ein Lied mit mehr als zwölf Takten. Dann folgen etliche Strophen, die in weitgehend gleicher Form gesungen werden müssen – nur sechs der 190 Arien sind nicht strophisch. 12 Das sei an dem erwähnten Lied »Der Mensch hat nichts so eigen«, das »die Königsberger Freundschaft ins Grundsätzliche hebt«, 13 gezeigt. Das fünfstrophige Lied war in der ersten Auflage des mit »Ander Theil« betitelten zweiten Teils der Arien zunächst einstimmig publiziert worden; 14 hier in der Auflage von 1651 findet sich eine zweite Singstimme zwischen Oberstimme und Basso continuo:

Abb.: Heinrich Albert: Perstet amicitiae semper venerabile Faedus! Aus: Arien. Ander Theil [1640], zweistimmige Fassung der Auflage: In Verlegung des Autoris. Gedruckt zu Königsberg in Preussen durch Johann Reusner, 1651.

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Vgl. Sachs: Heinrich Alberts Arien (wie Anm. 3), S. 153. Werner Braun: Albert, Heinrich. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Hg. von Ludwig Finscher. Sachteil. 10 Bde. Kassel: Bärenreiter 1994–1999. Personenteil. Bde. 1 ff. Kassel: Bärenreiter 1999 ff., Personenteil, Bd. 1, Sp. 339–345, hier Sp. 341. Eduard Bernoulli: Revisionsbericht. In: Albert: Arien (wie Anm. 4), Bd. 2, S. VII.

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Möglichkeiten der Abwechslung liegen einerseits in der vokal-instrumentalen Besetzung der Stimmen bei den mehrstimmigen Liedern: Einzelne Stimmen können mit für jede Strophe unterschiedlichen Instrumenten besetzt oder auch mal weggelassen werden. Andererseits liegen variative Freiheiten in der Gestaltung und in den Instrumenten des Generalbasses: Die Umsetzung der Bezifferung läßt sich für jede Strophe neu gestalten, und es steht eine Bandbreite von Instrumenten dafür zur Verfügung: Albert selbst nennt auf dem Titelblatt zum ersten und zweiten Teil der Arien »ein Positiv/ Clavicimbel/ Theorbe oder anders vollstimmiges Instrument«. Neben der genannten Orgel, dem Cembalo und der Theorbe kommen das Regal, die Chitarrone und die Harfe in Frage. Die acht Arien-Bände präsentieren sich als eine breite Palette von Vertonungsmöglichkeiten, 15 wofür schon der Titel Arien oder Melodeyen spricht: Es gibt »Sologesänge, Duette und Terzette, Strophenmonodien, schlichte Strophenlieder und kantatenähnliche Stücke«. 16 Inhaltlich zeigen sich drei Kategorien: »freie Lieder, Gelegenheitsgesänge und (Huldigungs-)Kantaten«. 17 Die starke Gelegenheitsbindung der Texte Dachs an Trauer- und Hochzeitsfeierlichkeiten dürfte ebenso ein Grund für die heutige Zurückhaltung bezüglich dieser Werke sein. Gegenüber der strophischen Anlage bei Albert ist das italienische Madrigal durchkomponiert und entgeht somit von vornherein der Gefahr der Wiederholung und dem Zwang zur Abwechslung. Allerdings betont auch Albert wiederholt, in den Vorreden zum dritten, vierten und fünften Arien-Band, daß »ein jeglicher Verß seine eigene Melodey haben solte«, 18 dies aber aus Kostengründen nicht geschehen könne, und auch so dem Hauptzweck genüge getan sei, daß »die viel fürtrefflichen Reyme [...] auch anderweit bekannt würden.« 19 Ja, er lobt sich sogar, stärker Sorge zu tragen als der Dichter selbst: daß ich euch soviel schöne Texte/ die meisten theils von unserm Poeten dieses Ortes herrühren/ (mit seiner Bewilligung) mittheile/ welche von mir fast besser/ als von Ihme 20 selbsten/ sind verwahret und auffgehoben worden[.]

Ein Vergleich zwischen zwei Produktionen aus dem Jahre 1638 soll die Spezifika der Albertschen Dachvertonungen kenntlich machen. Zum Vergleich stehen das erste Arien-Buch von Heinrich Albert und das achte Madrigalbuch von Claudio Monteverdi. 21 In beiden Fällen handelt es sich um eine Sammlung von Vokalwerken auf zeitgenössische Dichtungen. Bei Albert finden sich 25 Nummern, davon vier in zwei unterschiedlichen Besetzungen in den einzelnen Auf_______ 15 16

17 18 19 20 21

Vgl. Sachs: Heinrich Alberts Arien (wie Anm. 3). Susanne Rode-Breymann: Musikalische Lyrik im 17. Jahrhundert. In: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Hermann Danuser. Laaber: Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen, 8/1), S. 269–333, hier S. 300. Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen: Niemeyer 2004 (Frühe Neuzeit, 100), S. 174. Albert: Arien (wie Anm. 4), Vorrede dritter Teil. Ebd., Vorrede vierter Teil. Ebd., Vorrede fünfter Teil. Monteverdis acht Madrigalbücher erschienen zwischen 1587 und 1638, Alberts acht ArienBände zwischen 1638 und 1650.

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lagen, eine nur textlich unterschieden. Bei Monteverdi sind es 33 Nummern, was aber häufig Einzelteile von mehrteiligen Werken sind, an integralen Werken sind es 22. Also alles in allem eine vergleichbare Anzahl von Einzelstücken. Die Besetzung ist bei Albert ein- bis fünfstimmig mit Generalbaß, sieben der Sätze verfügen über eine drei- bis siebentaktige Symphonia zu ein bis drei Stimmen, in einigen Fällen ist als Instrument die Violine angegeben. Die Stimmenzahl bei Monteverdi ist ein- bis sechsstimmig mit Generalbaß, wozu zwei bis drei Violinen hinzutreten. Also auch hier keine großen Unterschiede. Vergleicht man aber den Umfang des Partiturneudrucks, so haben wir bei Albert 30 Seiten, bei Monteverdi dagegen 347, also fast der zwölffache Umfang! Der Unterschied liegt zu einem gewissen Teil in der Durchkomposition bei Monteverdi bzw. der strophischen Anlage bei Albert. Alberts Arien im ersten Band verfügen im Durchschnitt über fünfeinhalb Strophen, es reicht von drei bis 15 Strophen. Würde man diese im Partiturdruck ausdrucken, müßte sich die Seitenzahl entsprechend erhöhen, aber auch so ergäbe sich bei weitem noch nicht die Dimension eines ›normalen‹ Madrigalbuchs Monteverdis – das achte ist ja besonders umfangreich. Natürlich besagen solche Berechnungen nur begrenzt etwas über den musikalischen Gehalt. Keineswegs ist etwa Olivier Messiaens Oper Saint François d’Assise höherwertiger als Alban Bergs Wozzeck, nur weil sie mehr als doppelt so lange dauert. Aber das Miniaturhafte der musikalischen Substanz in den Arien Alberts könnte doch als ein Grund für die mangelnde heutige Repräsentanz angeführt werden. Natürlich liegt auch Monteverdis achtes Madrigalbuch, überschrieben mit dem Titel Madrigali guerrieri et amorosi, gleich in mehreren Gesamteinspielungen vor, produziert von den namhaftesten Spezialisten für die Musik des 17. Jahrhunderts: René Jacobs, Anthony Rooley, Jordi Savall. Über die Quantität der Einspielungen Alberts wurde schon gesprochen. Die geringfügigere musikalische Substanz gegenüber »Compositiones aus Italien (welches billich die Mutter der edlen Music zu nennen)« sei, spricht Albert dezidiert an. Er zieht hier einen Vergleich mit Heinrich Schütz, seinem Lehrer und Oheim. Schützens Orientierung an italienischen Vorbildern benennt er allerdings nur bezüglich dessen erster Italienreise von 1609 bis 1611, die ihn zu Giovanni Gabrieli führte, nicht mit dessen zweiter Italienreise 1628/29, wo er in die Nähe von Monteverdi kam. Das wäre 1645, als Albert dies schrieb, immerhin der Erwähnung wert. Sollte er mehr als fünfzehn Jahre nach dieser Reise seines Oheim noch nicht davon erfahren haben? Die in der italienischen Tradition stehenden Kompositionen Schützens machen, so bekundet Albert, mich unterweilen so bestürzt und zaghafft, daß ich mich fast nicht mehr unterwinden mag einiges Lied oder Melodey aufzusetzen/ befürchtende es mir für eine Vermessenheit von selbigen so hocherfarnen Meistern gedeutet und ausgelegt werden möchte.

Er bezeichnet seine »Compositiones als Beyläuffer«! 22 Sicher muß sich dieser Vergleich zwischen dem 71jährigen Venezianer und dem 34jährigen Königs_______ 22

Albert: Arien (wie Anm. 4), Vorrede sechster Teil.

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berger Meister den Vorwurf der Ungerechigkeit gefallen lassen, des Vergleichs von Äpfeln mit Birnen – oder besser von Melonen mit Rosinen. Aber er kann doch das Besondere dieser Arien zutage fördern helfen. Dabei ist deren musikalische Qualität unstrittig: Die Beseeltheit der musikalischen Sprache, die hohe Noblesse der harmonisch-melodischen Linie und die maßvolle Verwendung des Ornaments lassen Gesänge wie »Auf mein Geist«, »Soll denn mein junges Leben«, »Mein schönes Lieb«, »O, wie groß ist doch der Mann« als nicht übertroffene Muster des frühmonodischen Stiles im deutschen Liede 23 erscheinen[,]

urteilte Helmuth Osthoff. Alberts Arien zielen, wie er schon in der Vorrede zum ersten Band schreibt, auf das häusliche und gesellige Musizieren in sowohl geistlicher als auch weltlicher Form, für Menschen, die »offt an einem Tage des Morgens andächtig/ des Mittags in einem Garten oder lustigen Orte und des Abends bei einer Ehrlichen Gesellschaft/ auch wohl gar bei der Liebsten/ frölich« 24 sind. Als ein Charakteristikum seiner Lieder nennt Albert schon in der Vorrede zum ersten Teil, »daß sie mehr auff Tugendt und Sittsamkeit als Geilheit zielen«. 25 Er wiederholt es ähnlich im vierten Teil, daß »sie nimmer aus den Schranken der Erbarkeit lauffen/ auch oftermals mit vielen Lehren und Ermahnungen zu guten Tugenden gezieret seyn«. 26 Eine solche Charakterisierung trifft nun auf Monteverdis Madrigale in keinster Weise zu. Vielleicht liegt in diesem Punkt der Textausrichtung aber auch der Rangunterschied zu einer Gattung, die formal ganz ähnlich angelegt ist wie Alberts Arien, dem englischen Lute Song. Auch er ist strophisch mit (allerdings auskomponierter) Lautenbegleitung. Aber er erlebt eine erheblich stärkere Repräsentanz im Musikleben: John Dowlands Lieder (um 1600) lassen sich im Konzertleben, auf dem Tonträgermarkt und im Gesangunterricht ständig antreffen. Lieder wie Come again, Flow my tears und In darkness let me dwell werden von jedem Sänger gekannt. Die Lebensbefindlichkeit ist hier ähnlich wie im italienischen Madrigal: Melancholie und Liebessehnsucht. Und diese Befindlichkeit bringt Dowlands Musik zum Ausdruck. Sie hat gegenüber der Musik Alberts eine Klanglichkeit, die man viel früher, um 1400, als »contenance angloise« bezeichnete. Damit meinte man eine neuartige Annehmlichkeit des Klangs, der von England auf das Festland herüber kam und dort faszinierte. Gegenüber dieser Annehmlichkeit, die man dem englischen Lute Song zuschreiben kann, sind Alberts Arien ein wenig strenger, auch vermittelst ihrer sittsamen, tugendhaften, ehrbaren, lehrhaften und ermahnenden Texte – vielleicht dürfen sie als preußisch charakterisiert werden. _______ 23

24 25 26

Helmuth Osthoff: Heinrich Albert. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 17 Bde. Hg. von Friedrich Blume. Kassel: Bärenreiter 1949–1986, hier Bd. 1, Sp. 288–293, hier Sp. 292. Die genannten Lieder finden sich innerhalb der Arien-Bände im ersten Teil. Albert: Arien (wie Anm. 4), Vorrede erster Teil. Ebd., Vorrede erster Teil. Ebd., Vorrede vierter Teil.

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Das Kunstlied ist nach der berühmten Definition Hans Heinrich Eggebrechts »ein in Musik geronnenes Verstehen des Gedichts, ein Verstehen von Kunst durch Kunst«. 27 Der Komponist nimmt das Gedicht als vollendetes Kunstwerk und interpretiert es nicht mit Worten, sondern mit den Mitteln einer anderen Kunst, der Musik, schafft somit über ein Kunstwerk ein neues Kunstwerk, das gleichzeitig sein Verstehen dieses Kunstwerks zum Ausdruck bringt. Für das italienische Madrigal trifft diese Definition sicher in gleicher Weise zu, wohl auch für Dowlands Songs. Vielleicht aber tut man den Liedern Heinrich Alberts schon ein wenig Gewalt an, wenn man ihnen diese Bedeutung überstülpt. Er wollte, wie er mehrfach in seinen Vorworten ausführt, lediglich ein Transportmedium für die Texte sein. So schreibt er schon in der Vorrede zum ersten Arien-Band: Ich bitte aber/ man wolle nicht dafür halten/ daß Ich mit meinen Melodeyen gedächte große Kunst an den Tag zu legen/ [...] Sondern Ich hab es gethan umb der Worte willen/ die mir nach und nach zu handen gekommen sind und wohlgefallen haben/ wie ich denn auch 28 meisten theils von guten Freunden darumb bin ersuchet worden.

Was man also heute als ein Defizit ansehen könnte, mindestens aber als einen Grund für die mangelnde öffentliche Wirksamkeit der Lieder Alberts benennen muß, nämlich ihre in bewußter musikalischer Schlichtheit ausgestaltete Funktion des Transports von Gedichttexten, das war im 17. Jahrhundert das Wesen und Ziel dieser Lieder. Und daß dieses Ziel erreicht wurde, dafür spricht die Wirkungsgeschichte. Alle acht Bände der Arien Alberts – mit Ausnahme des letzten – erlebten mindestens drei bis vier Auflagen in kurzer Zeit. 29 Ein ebenso beredtes Zeugnis für das Interesse an den Liedern Alberts aber liefern seine eigenen Klagen über die zahllosen Raubdrucke. Diese Klagen finden sich in der Vorrede zum siebten Teil, datiert mit dem Johannisfest 1648, und abermals in einem eigenen Text, datiert mit dem Michaelisfest 1648. In letzterem beklagt Albert sich über die widerrechtliche Veröffentlichung seiner ersten sechs ArienBände und der Musicalischen Kürbshütte unter dem Titel Poetisch-Musicalisches Lust-Wäldchen/ 1648. Dessen Drucker und Verleger ihren Namen beyzusetzen/ scheu getragen haben. Der Nachdruck sei von ihm keineswegs »wegen Mangel der Exemplarien bewilliget worden, sintemal derselbigen noch etliche Hundert bey mir vorhanden«. 30 Der Raubdruck ist ein untrügliches Zeugnis für gute Marktchancen des Produkts. Hermann Kretzschmar merkt allerdings an, daß Albert verhältnismäßig schnell aus der praktischen Kunst verschwunden sei und gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Vergessenheit gerate, 31 ein Los, das er allerdings mit den meisten seiner Zeitgenossen teilt. _______ 27

28 29 30 31

Hans Heinrich Eggebrecht: Vertontes Gedicht. Über das Verstehen von Kunst durch Kunst. In: Ders.: Sinn und Gehalt. Aufsätze zur Musikalischen Analyse. Wilhelmshaven: Heinrichshoven 1979 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft, 58), S. 214. Albert: Arien (wie Anm. 4), Vorrede erster Teil. Vgl. die Übersicht bei Sachs: Heinrich Alberts Arien (wie Anm. 3). Albert: Arien (wie Anm. 4), S. 243 f. Hermann Kretzschmar: Einleitung. In: Albert: Arien (wie Anm. 4), Bd. 1, S. XX.

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Stefan Hanheide

Ein Gedanke Albert Schweitzers, eines Pioniers der Wiederbelebung Alter Musik, der sich vor ziemlich genau einhundert Jahren für die Verbreitung der Musik Johann Sebastian Bachs engagierte, sei am Schluß dieser Ausführungen genannt. Er unterschied zwischen einer unmittelbar künstlerischen Befriedigung und einem nur historischen Interesse an Alter Musik. 32 Mit dieser Unterscheidung läßt sich durchaus operieren. Nur schätzte Schweitzer dieses künstlerische Interesse ganz anders ein als heute, indem er vorgab, der gesamten Musik vor Bach sei es nicht mehr verliehen, unmittelbar künstlerisch zu befriedigen – sie sei nur noch historisch von Interesse. Einhundert Jahre Beschäftigung mit Alter Musik haben dieses Urteil gründlich revidiert und zu einer Omnipräsenz der Kompositionen jenseits von Bach im Musikleben geführt. Wenn wir das Interesse an den Arien Alberts heute noch als ein vornehmlich historisches verorten müssen, so bleibt demzufolge eine berechtigte Hoffnung auf einen Wandel der Interessenlage. Dann würden die Texte Simon Dachs, verbreitet durch die Kompositionen Heinrich Alberts, wie im 17. Jahrhundert so auch im 21. Jahrhundert, auf ein verbreitetes, unmittelbar künstlerisches Interesse stoßen.

_______ 32

Albert Schweitzer: Johann Sebastian Bach. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1976 (ND der Ausgabe 1908), S. 43.

Anna Gajdis

Die Rezeption von Simon Dach in Polen

Die vorliegenden Überlegungen zur Rezeption von Simon Dach in Polen sollten vielleicht mit einer schlichten Vorbemerkung beginnen. Der deutsche Barockdichter und »der weiße Magister« aus der Stadt an der Pregel 1 ist in der polnischen Literatur kaum rezipiert worden. Nach ersten Anzeichen des Interesses der polnischen Literaturforscher und Literaturkritiker an der Dichtkunst und an der Gestalt Simon Dachs, die erst auf das frühe 19. Jahrhundert zu datieren sind und die sich vorwiegend in den ältesten polnischen Enzyklopädien finden, sind lediglich vereinzelte Publikationen oder Übersetzungen einzelner Gedichte von Dach zu verzeichnen, die seit 1945 in der polnischen Literatur erschienen sind. Ein größeres Interesse an Simon Dach ist nur im Kreis der Literaten und Literaturforscher zu beobachten, die heutzutage in Olsztyn (Allenstein) leben und wirken und öfter mit der dortigen Gesellschaft Borussia zusammenarbeiten. Die ersten Spuren des Königsberger Barockdichters Simon Dach sind in den philosophischen und literarischen Schriften von Kazimierz BrodziĔski zu finden. Kazimierz BrodziĔski (1791 – 1835), polnischer Dichter, Literaturkritiker, Vorläufer der polnischen Romantik und Professor an der Universität Warschau, befaßte sich zwar auch mit der Rezeptionsgeschichte der deutschen Literatur in Polen, aber sein Hauptaugenmerk galt vor allem der deutschen Aufklärung und den Poeten der Sturm-und-Drang-Periode. Die Autoren der Monographie 2 zur Rezeptionsgeschichte der deutschen Literatur bei Kazimierz BrodziĔski vertreten den Standpunkt, daß er sich so wenig für das deutsche Mittelalter und die deutsche Reformation interessiere, daß er solche Namen wie Ulrich von Hutten oder Albrecht Dürer ohne Kommentar ließ. 3 Erst in seinem Aufsatz O pieĞniach ludu niemieckiego i angielskiego (Über die Lieder des germanischen und englischen Volkes) fand BrodziĔski von allen deutschen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts nur Simon Dach erwähnenswert, und besonders sein Gedicht Lob des Weins. Dithyrambus, das ihn an eine der Oden von Horaz erinnerte. 4 Dieser _______ 1 2

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Vgl. Agnes Miegel: Ostland. Gedichte. Jena: Eugen Diedrichs 1940, S. 39. Maria Adamiak, Eugeniusz Klin und Monika Posor: Recepcja literatury niemieckiej u Kazimierza BrodziĔskiego. Wrocáaw: Ossolineum 1979, S. 6 f. – Zu Kazimierz BrodziĔski vgl. außerdem: Kazimierz BrodziĔski i jego epoka. Materiaáy ze sympozjum naukowego w 150 rocznicĊ Ğmierci pisarza. Hg. von Halina Bednarczyk, Eugeniusz Gáomb, Krystyna Gáomb [u.a.]. Tarnów: Tow. Literackie im. Adama Mickiewicza 1988; Stanisáaw RzeĨnik: Kazimierz BrodziĔski. Zarys Īycia i twórczoĞci. Tarnów: [o.V.] 1982. Vgl. Adamiak [u.a.]: Recepcja literatury niemieckiej (wie Anm. 2), S. 5. Es handelt sich um Simon Dach: »Quid non ebrietas designat?« In: ZIESEMER II, S. 328 f.

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Anna Gajdis

kurzen Notiz fügte der Verfasser seine eigene Übersetzung des Dachschen Gedichts an. 5 Weitere Informationen über die Rezeption des Dichters Simon Dach in Polen sind den alten polnischen Enzyklopädien aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu entnehmen. Als erstes Beispiel kann die Wielka Encyklopedyja Powszechna Ilustrowana (Große Allgemeine Illustrierte Enzyklopädie) dienen, in der der damalige polnische Leser den Lebenslauf von Simon Dach und die Titel ausgewählter Gedichte lesen konnte. 6 In einer anderen Enzyklopädie, Encyklopedja Powszechna (Allgemeine Enzyklopädie), von Stanisáaw Orgelbrand konnte man neben dem Lebenslauf des Dichters auch einen Verweis auf die deutsche Sekundärliteratur zu Dach finden. Dem Verfasser nach sind zwei Werke erwähnenswert: die Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts (Bd. 5, Leipzig 1823) 7 und das Buch von Christian August Gebauer, Simon Dach und seine Freunde als Kirchenliederdichter (Tübingen 1828). 8 In der bekanntesten polnischen Bibliographie von Karol Estreicher, der Bibliografia Polska, wurde ein weiterer Schritt gemacht, indem der Verfasser auf die polnische Thematik der behandelten Werke des Dichters hinwies. 9 Eine weitere Spur ist das Liederbuch der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, ĝpiewnik KoĞcioáa Ewangelicko-Augsburskiego w PRL, in dem das Gedicht O jakeĞcie wy báogosáawieni, CoĞcie przez Ğmierü w niebo przeniesieni (O Wie seelig seydt ihr doch, Ihr Frommen, Die Ihr durch den Todt zu Gott gekommen!) 10 publiziert wurde. 11 Die wenig umfangreiche Rezeption des Dichters in Polen beweist, daß er eigentlich nur als Dichter eines einzigen Gedichts berühmt gewesen ist: nämlich der Anke van Tharaw. Es wurde im Laufe der Zeit vier Mal in verschiedenen Publikationen veröffentlicht, aber in den meisten dieser Quellen gibt es außerhalb des Textes des Gedichts keinen Kommentar, weder zur zweifelhaften Autorschaft von Dach noch Informationen zum Lebenslauf des Dichters. Im Band Die deutsche Lyrik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts von Eugeniusz Klin und Anna Stroka, der eigentlich nur als didaktische Hilfe für polnische Germa_______ 5

6 7

8 9 10 11

Kazimierz BrodziĔski: O pieĞniach ludu niemieckiego i angielskiego. In: Ders.: Pisma estetyczno-krytyczne. Warszawa: Gabin. Filol. Tow. Nauk. 1934, Bd. 1, S. 143; vgl. Adamiak [u.a.]: Recepcja literatury niemieckiej (wie Anm. 2), S. 6 f. Wielka Encyklopedyja Powszechna Ilustrowana. Warszawa: Drukarnia Artystyczna S. Sikorskiego 1894, Bd. 13, S. 948. Simon Dach, Robert Roberthin, Heinrich Albert: Auserlesene Gedichte. Hg. von Wilhelm Müller. Leipzig: Brockhaus 1823 (Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, 5). Stanisáaw Orgelbrand: Encyklopedja Powszechna. Warszawa: Wydawnictwo Tow. Akcyjnego Odlewni Czcionek i Drukarni S. Orgelbranda Synów 1899, Bd. 4, S. 186. Karol Estreicher: Bibliografia Polska. Kraków: Uniwersytet JagielloĔski 1897, Bd. 15, S. 11. ZIESEMER III, S. 14. ĝpiewnik KoĞcioáa Ewangelicko-Augsburskiego w PRL. Warszawa: Wydawnictwo StraĪnica Ewangeliczna 1956, S. 460; vgl. Simon Dach, seine Freunde und Johann Röling. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin, Stuttgart: Spemann 1883 (Deutsche National-Litteratur, 30), S. 3.

Die Rezeption von Dach in Polen

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nistikstudenten konzipiert wurde, findet man dieses Gedicht zum ersten Mal abgedruckt. 12 Nicht nur den polnischen Germanistikstudenten, sondern auch allen Interessierten steht im übrigen eine zweibändige Geschichte der deutschen Literatur, Dzieje literatury niemieckiej, zur Verfügung. Marian Szyrocki präsentiert darin einen kurzen Lebenslauf von Dach mit dem Verweis auf seine enge Zusammenarbeit mit dem Königsberger Dichterkreis und besonders auf sein Stück Cleomedes (1635). 13 Des weiteren ist die Anthologie Ty siĊ pojawiasz jak miáoĞü… Antologia niemieckojĊzycznej poezji miáosnej (Du kommst wie Liebe… Anthologie der deutschsprachigen Liebeslyrik) zu nennen, in der neben dem Lebenslauf des Dichters das Gedicht Anusia z Tharau in der Übersetzung von Jerzy Litwiniuk publiziert wurde. 14 In dieser Übersetzung wurde das Gedicht dann noch einmal in der Rubrik »Album poezji miáosnej« (»Album der Liebeslyrik«) einer der populärsten polnischen Frauenzeitschriften, Zwierciadáo (Spiegel), gedruckt, bemerkenswert ist aber, daß die Notiz zur Autorschaft Dachs äußerst kurz ist und keine näheren Informationen über ihn liefert. 15 Die vierte Quelle bildet der Band Borussia. Ziemia i ludzie. Antologia literacka, auf den noch einmal zurückzukommen sein wird. Der bisher größten Aufmerksamkeit erfreut sich der Königsberger Dichter im Umkreis derjenigen polnischen Dichter, Literaturforscher, Publizisten und Historiker, die entweder mit der Kulturgesellschaft Borussia in Olsztyn verbunden sind oder deren wissenschaftliches Augenmerk der Geschichte, Kultur und Literatur Ostpreußens gilt. Die Mitglieder der genannten Kulturgesellschaft bemühen sich um die Erforschung der polnischen Identität auf dem Gebiet des vergangenen »Atlantis des Nordens«, wie sie den ehemaligen ostpreußischen Raum nennen. Sie versuchen, für den gegenwärtigen Leser aus Ermland oder Masuren auch das preußische und deutsche Erbe zu entdecken und die Spuren dieser Kulturen als Denkmäler der Menschheit zu definieren. 16 Eine der wichtigsten Quellen, die den polnischen Leser mit der verdrängten und für viele unbekannten Literatur und Kultur Ostpreußens vertraut machen kann, ist der von Kazimierz Brakoniecki und Winfried Lipscher herausgegebene Band Borussia. Ziemia i ludzie. Antologia literacka (deutscher Titel: Meiner Heimat Gesicht. Ostpreußen im Spiegel der Menschen und Landschaft), in dem sich zwei Gedichte von Dach befinden: Perstet amicitiae semper venerabile Faedus! und Anusia z Tharau, beide in der Übersetzung von Andrzej Kopacki. Der den beiden Gedichten beigefügten kurzen Notiz zu Dach sind die wichtigsten Informationen zum Leben des Dichters und die Bemerkung der Herausgeber über die zweifelhafte Autorschaft Dachs für das Gedicht Anke van Tharaw zu entneh_______ 12 13 14 15 16

Eugeniusz Klin und Anna Stroka: Die deutsche Lyrik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Warszawa: PWN 1967, S. 29. Marian Szyrocki: Dzieje kultury niemieckiej. Warszawa: PWN 1969, Bd. 1, S. 151. Ty siĊ pojawiasz jak miáoĞü... Antologia niemieckojĊzycznej liryki miáosnej. Hg. von Anna Milska und Krystyna KamiĔska. Warszawa: PIW 1987, S. 88 f. Simon Dach: Anusia z Tharau. (Übersetzt von Jerzy Litwiniuk.) In: Zwierciadáo (Pismo Ligi Kobiet Polskich) 15 (1988), S. 10. Vgl. Hubert Oráowski: Za górami, za lasami... O niemieckiej literaturze Prus Wschodnich 1863 – 1945. Olsztyn: Borussia 2003, S. 8 f.

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Anna Gajdis

men. 17 Auf der Umschlagseite der deutschsprachigen Ausgabe der besprochenen Anthologie betonen die beiden Herausgeber des Bandes, selbst Mitarbeiter der Borussia, Ostpreußen sei »schon in früheren Zeiten eine Euro-Kulturregion gewesen, als dieser Begriff noch nicht erfunden war und Kultur noch keine Grenzen kannte, als die Menschen diese Kultur lebten, erlebten und sich in ihr wiederfanden.« 18 Auf diese Art und Weise werden diese beispielhaften Gedichte aus dem Gesamtwerk von Simon Dach im multikulturellen Kontext der ostpreußischen Vielfalt hervorgehoben und sein Name wird neben die ›klassischen‹ und vergessenen Autoren Ostpreußens gestellt. Weitere Publikationen stammen von bedeutenden Historikern aus Olsztyn. In Tadeusz Orackis Sáownik biograficzny Warmii, Prus KsiąĪĊcych i Ziemi Malborskiej od poáowy XV w. do koĔca XVIII w. (Biographisches Wörterbuch von Ermland, vom Herzogtum Preußen, vom Bezirk Marienburg seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) sind die Grundinformationen zu Simon Dach zu finden. 19 In diesem Handbuch unterstreicht Oracki die Bedeutung der polnischen Thematik im Werk von Simon Dach. Unter den wichtigsten Gedichten nennt der Verfasser die Gelegenheitsgedichte auf den Tod des polnischen Königs Zygmunt III. Wasa, Auff Ihrer Königlichen Mayst. in Pohlen vnd Schweden Sigismundens des dritten Tödtlichen vnd Traurigen Abschied (1632), 20 das Stück Cleomedes, das Gelegenheitsgedicht auf die Vermählung des Königs Wáadysáaw IV. mit Cecilia Renata, Odae sub gratulatione academica super auspicatissimo thalamo Vladislai Maximi Polonorum Regis […] (1637) 21 und das zusammen mit der Rede von Valentin Thilo herausgegebene Gelegenheitsgedicht Ad manes Vladislai IV invictissimi quondam Polonorum regis (1648). 22 Die gleichen Informationen lassen sich im Handbuch von Jan Cháosta, WiĊksi i najwiĊksi: twórcy kultury niemieckiej z Prus Wschodnich (Die Größeren und die Größten: Deutsche Kulturschaffende aus Ostpreußen), finden. 23 In seinem Aufsatz Simon Dach (1605 – 1659) – poeta królewieckiego baroku (Simon Dach [1605 – 1659] – der Königsberger Barockdichter) setzt es sich der Historiker Janusz JasiĔski zum Ziel, nicht nur die Gestalt von Simon Dach, sondern auch andere Dichter aus dem sogenannten Königsberger Dichterkreis zu präsentieren. 24 In seinem Buch Albertyna. Uniwersytet w Królewcu (1544 – 1945) _______ 17 18 19 20 21 22 23 24

Borussia. Ziemia i ludzie. Antologia literacka. Hg. von Kazimierz Brakoniecki und Winfried Lipscher. Olsztyn: Wspólnota Kulturowa »Borussia« 1999, S. 33 ff. Meiner Heimat Gesicht. Ostpreußen im Spiegel der Menschen und Landschaft. Hg. von Kazimierz Brakoniecki und Winfried Lipscher. Augsburg: Weltbild 2001. Tadeusz Oracki: Sáownik biograficzny Warmii, Prus KsiąĪĊcych i Ziemi Malborskiej od poáowy XV w. do koĔca XVIII w. Olsztyn: Pojezierze 1984, S. 41 f. ZIESEMER III, S. 5–12. Verzeichnet im Anhang bei ZIESEMER II, S. 347. Verzeichnet im Anhang bei ZIESEMER IV, S. 515. Jan Cháosta: WiĊksi i najwiĊksi: twórcy kultury niemieckiej z Prus Wschodnich. Olsztyn: KsiąĪnica Polska, 1999, S. 27 f. Janusz JasiĔski: Simon Dach (1605 – 1659) – poeta królewieckiego baroku. In: Ders.: Historia Królewca. Olsztyn: KsiąĪnica Polska 1994, S. 90–94.

Die Rezeption von Dach in Polen

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(Albertina. Die Universität in Königsberg [1544 – 1945]) bezieht sich Jerzy Serczyk nicht nur auf die Gestalt von Simon Dach, sondern auch auf die preußisch-polnischen Beziehungen zu dieser Zeit und auf die polnische ›indirekte‹ Anwesenheit in Königsberg, die ihren Ausdruck beispielsweise in den auf polnisch oder litauisch gehaltenen Andachten in den protestantischen Kirchen Königsbergs fand. 25 Zum Schluß ist noch auf Erwin Kruk, den bekannten masurischen Dichter und Literaturkritiker der Gegenwart, zu verweisen, der in seinem Aufsatz W Ğpiewnym ogrodzie (In der Kürbishütte) über sein kleines übersetzerisches Abenteuer berichtet, das mit der Tournee der Gruppe »Neue Kürbishütte« verbunden war. Professor Oskar Gottlieb Blarr gründete 1991 in Düsseldorf die Gruppe »Neue Kürbishütte«, mit der er im Oktober 1998 eine Tournee in Ermland und Masuren startete. Im Vorfeld wandte sich Professor Blarr an Erwin Kruk mit der Bitte, das in das Programm des Konzerts aufgenommene Lied Musikalische Kürbs=Hütte ins Polnische zu übersetzen. Das Lied wurde später dem polnischen Publikum auch vorgetragen. 26 Den kurzen Beitrag von Kruk könnte man als Versuch definieren, die Gestalt des unbekannten deutschen Barockdichters darzustellen und besonders das Lied Musikalische Kürbs=Hütte, auf das der Verfasser näher eingeht. Simon Dach, so darf man also zusammenfassen, ist in Polen kaum rezipiert worden. Bekannt ist er nur entweder im Kreis der polnischen Barockforscher oder bei den Literaten, Publizisten und Historiker, die mit der Kulturgesellschaft Borussia zusammenarbeiten, und dort erfreut sich Simon Dach des größten nicht nur wissenschaftlichen Interesses. Die meisten polnischen Forscher zeichnen seinen Lebenslauf nach und weisen vor allem auf die polnische Thematik seiner Gedichte hin. Die Historiker sind dagegen bemüht, den Dichter im weiten kulturellen Kontext Ostpreußens zu präsentieren.

_______ 25 26

Jerzy Serczyk: Albertyna. Uniwersytet w Królewcu (1544 – 1945). Olsztyn: OĞrodek BadaĔ im. Wojciecha KĊtrzyĔskiego 1994, S. 34 ff. Erwin Kruk: W Ğpiewnym ogrodzie. In: Ders.: Szkice z mazurskiego brulionu. Olsztyn: Mazurskie Towarzystwo Ewangelickie 2003, S. 191–196.

Wladimir Gilmanov

Dach-Rezeption in Rußland

1. Dach in der ›Vor-Kaliningrader‹ Rezeption Wenn schon die Kunst ein Geheimnis des im bildhaft Sichtbaren Unsichtbaren ist, so scheint die Barockkunst im allgemeinen und die Barockdichtung von Simon Dach im konkreten eine noch nicht entdeckte ›terra incognita‹ für die russische Literaturforschung geblieben zu sein. Dabei geht es nicht direkt um den historisch-faktischen Diskurs der Barockzeit oder um die Phänomenologie des Werks der Barockdichter: Es gibt eine, übrigens ziemlich beschränkte, Reihe von wissenschaftlich fundierten Abhandlungen über den deutschen Barock; 1 sie hinterlassen aber einen widerspruchsvollen Eindruck der eklektischen Synthese zwischen gediegenem Wissen über den phänomenologischen Diskurs und mangelndem instrumentalisierten Verstehen der Epistemologie des Barock, was wohl, einerseits, durch die ideologischen Gründe, andererseits durch die Kompliziertheit der Barockproblematik und den spürbaren Mangel an notwendigen hermeneutischen Ansätzen zu erklären wäre. Vor diesem Hintergrund ist der Königsberger Dichter Dach eine augenfällige Randfigur nicht nur in der Kaliningrader Forschung, sondern insgesamt in Rußland, denn er wird nur nebenbei und ganz kurz, gewöhnlich im Kontext der Dichtung von Martin Opitz, erwähnt. So hat ein sehr bekannter sowjetischer Literaturwissenschaftler, Boris Ivanoviþ Purischev, in seinem in der Sowjetunion berühmten Buch »Essays über die deutsche Literatur« (1955) ziemlich ausführlich die deutsche Literaturentwicklung im 17. Jahrhundert dargestellt samt dem Werk von Martin Opitz, Paul Fleming, Friedrich von Logau, Johann Michael Moscherosch, Justus Georg Schottelius, Andreas Gryphius, Hans Jacob Christoph Grimmelshausen, Christian Reuter. In diesem grundlegenden 400-seitigen Werk wird Dach nur _______ 1

Vgl. Boris Ivanoviþ Purischev: Oþerki nemeckoi literatury. XV – XVII v.v. [Essays über die deutsche Literatur. 15. – 17. Jahrhundert.] Ɇoskau: Gos. izd-bo chudɨž. lit. 1955; Jurij Borisoviþ Vipper: Ɉ raznovidnostiach stilia barokko v zapadnojevropeiskich literaturach XVII veka. [Spielarten des Barockstils in westeuropäischen Literaturen des 17. Jahrhunderts.] In: Ders.: Tvorceskie sud’by i istorija (O zapadnojevropeislich literaturach XVI – pervoj poloviny XIX veka.) [Schöpferische Schicksale und die Geschichte. (Über die westeuropäischen Literaturen des 16. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.)] Ɇoskau: Chudozestv. Literatura 1990, S. 147–158; Aleksandr Viktoroviþ Michailov: Pɨetika barokko: zaveršenije ritoriþeskoi epochi. [Barock-Poetik: Vollendung der rhetorischen Epoche.] In: Istoriþeskaja poetika: Literaturnyje epohi i tipy hudosestvenogo soznanija. [Historische Poetik: Literaturepochen und Typen des künstlerischen Bewußtseins.] Ɇoskau: Nasledije 1994.

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einmal erwähnt in einem kurzen Abschnitt über die »Dichter der Opitz-Schule«, die sich der Darstellung des Kriegsleidens zuwenden. Dach steht am Ende des Namensverzeichnisses hinter Georg Rudolf Weckherlin und Johann Rist. Im Anschluß daran schreibt Purischev: Die Dichter der Opitz-Schule traten zuweilen in der Rolle der Entlarver der Schattenseiten des gesellschaftlichen Lebens auf. So stand Weckherlin gegen die Lüge auf, die sich Nester in allen Ständen gebaut hatte. J. Rist lachte das Schmarotzertum des höfischen Lebens aus. Dem Vermächtnis von Opitz folgend und zwar seiner Forderung, die Poesie soll die Erscheinungen nicht so darstellen, wie sie sind, sondern wie sie sein könnten oder sollten, gaben sich die klassizistischen Dichter am häufigsten der erdichteten poetischen Welt hin, der Welt der wolkenlosen Idylle, wo ungebrochene Harmonie, Zufriedenheit und Freude herrschen. Das war schon die Art von Opitz. Eine Welt voller Freude und Heiterkeit schuf Fleming in seinen Gedichten. »Güldne Ruh« im Schatten des duftenden Gartens besang 2 Simon Dach (Horto recreamur amoeno). Das reale Leben klopfte aber gebieterisch an die 3 Tür der deutschen Poesie. ›Goldene Ruhe‹ war nur ein tröstliches Märchen.

Ohne die Korrektheit der angeführten These zu kommentieren, sei darauf hingewiesen, daß dieser Ausschnitt die einzige Stelle ist, wo Simon Dach erwähnt wird. Es ist aber deutlich zu erkennen, daß der Verfasser über das Werk Dachs Bescheid weiß und sich sogar auf eines seiner deutschsprachigen Gedichte bezieht. Dieses ›einzige Mal‹ im großen Buch des sowjetischen Wissenschaftlers ist charakteristisch für die Dach-Rezeption in Rußland bis zur Wende im Schicksal Kaliningrads in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, trotz der Tatsache, daß die russischen Literaturforscher über Dachs Biographie und die Grundausrichtung seiner Dichtung gut Bescheid wußten. So ist eine kurze, aber präzise, von L. Genin verfaßte Skizze über Dach in der »Kurzen Literaturenzyklopädie« (1964) enthalten. 4 Erwähnt wird Dach, übrigens auch nur einmal, im vierten Band der neunbändigen akademischen Standardenzyklopädie in der Dichterreihe Opitz, Fleming und andere. 5 Im Autorenkollektiv, das an der Enzyklopädie »Geschichte der Weltliteratur« gearbeitet hat, findet sich auch der Name des Mitglieds der Russischen Akademie der Wissenschaften Jurij Borisoviþ Vipper, der als einer der besten Kenner der Barockdichtung in der russischen Literaturwissenschaft gilt. Ihm wurde anvertraut, das Vorwort zum 41. Band »Europäische Dichtung des 17. Jahrhunderts« der in der UdSSR populärsten Reihe »Bibliothek der Weltliteratur« zu verfassen. In diesem inhaltsreichen Vorwort sind tiefsinnige Einsichten in das Spezifische der deutschen Barockdichtung zu finden. Nach Vipper würden in der deutschen Dichtung die tragischen und irrationalen Aspekte des Barock besonders ausdrucksvoll geäußert, was vor allem durch die apokalyptischen Auswirkungen _______ 2 3 4

5

Simon Dach: »Horto recreamur amoeno.« In: ZIESEMER I, S. 139 f. Purischev: Oþerki (wie Anm. 1), S. 284. Vgl. Kratkaja literaturnaja enciklopedija. [Kurze Literaturenzyklopädie.] Red. A. A. Surkov. 9 Bde. Moskau: Sovetskaja enciklopedija 1962–1978, Bd. 2: Gavriliuk-Ejulfigar Širvani (1964), S. 542. Vgl. Istorija vsemirnoj literatury. [Geschichte der Weltliteratur.] 9 Bde. Bd. 4. Ɇoskau: Izd. »Nauka« 1987, S. 241.

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des Dreißigjährigen Krieges erklärbar sei. Der Verfasser bewundert die Tatsache, daß in Deutschland inmitten des Untergangs und Verfalls die Dichtkunst so eine Blütezeit erlebt habe. Gerade zu der für die Nation schwersten Zeitperiode sei es die Poesie gewesen, die zum Hort der besten geistigen Bestrebungen des Volkes geworden wäre. In dieser Poesie fänden sowohl die endzeitliche Tragik des deutschen Volkes als auch seine Träume von der Einheit und dem friedlichen Leben ihre Widerspiegelung. Gerade in der Poesie, betont Vipper, äußere sich des Volkes unbeugsamer Wille zur Erhaltung der hohen ethischen Werte und sein unlöschbarer Drang nach Schönheit. Und gerade im 17. Jahrhundert würden der Grundstein für die deutsche Nationalpoesie der Neuzeit gelegt und Voraussetzungen für die weiteren herausragenden Leistungen geschaffen. Nach Vippers Auffassung ist es kein Wunder, daß in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts immer wieder das Thema des Todes auftauche, denn manchmal erscheine der Tod als die einzige Erlösung vom unerträglichen Leid des Infernos des realen Lebens. Die poetische Vorstellungskraft könne diesem irdischen Leid nur die Glückseligkeit des Himmelreichs entgegensetzen. Die deutsche Barockdichtung sei von einer Religiosität mit didaktischer Färbung durchdrungen gewesen: Das Unheil der Welt wäre Gottes Strafe für die menschlichen Sünden, Laster und Verbrechen. Vipper betont aber, daß der Schöpfer oft in den Hintergrund gerückt werde. Hoch gepriesen werde die Schöpfung, die magische Schönheit der Natur, der Mutter des Lebens. Und nach dieser Darstellung folgt ein Vermerk in Klammern: »Dieses Motiv erklingt voller Innigkeit und herzlicher Schlichtheit in der Poesie der lutherischen Dichter Dach und Rist und viel raffinierter und manierlich mit sinnlicher Prägung bei katholischen Dichtern in der Art von Spee«. Das ist das einzige Mal, daß Dach erwähnt ist. Dominant sind die anderen herausragenden Namen: Opitz, Fleming, Gryphius, Hoffmannswaldau. In dem Sammelband sind auch die bekanntesten Gedichte der deutschen Barockdichter in der Übersetzung von Lev Ginsburg vertreten: 16 Gedichte von Martin Opitz, 16 von Friedrich Logau, 15 von Paul Fleming, 20 von Andreas Gryphius, zehn von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau; und nur drei von Simon Dach: Anke van Tharaw, das »Freundschaftslied«, die »Einladung zum Frohsein«. 6 Im Anhang mit dem Personenregister ist auch eine kurze Lebensbeschreibung Dachs enthalten. Einer der Schüler von Professor Purischev war Sergei Dmitrijeviþ Artamonov, der Verfasser des Lehrbuchs »Geschichte der ausländischen Literatur des 17. – 18. Jahrhunderts« für Hochschulen, das mehrere Ausgaben in den siebziger und achtziger Jahren erlebt hat. In bezug auf Dach bleibt er ›dem _______ 6

Auf der Grundlage des 41. Bandes der »Bibliothek der Weltliteratur« ist es unmöglich, das Original für Ginsburgs »Einladung zum Frohsein« nachzuweisen. Unter diesem Titel findet sich bei ZIESEMER kein Gedicht! Der Titel der kleinen achtzeiligen Übersetzung ist wohl von Ginsburg. Ginsburgs Übersetzung ist eine zweistrophige freie dichterische Variation, eher motivmäßig einem Dach-Gedicht ähnlich. Ich neige zu der Meinung, daß Ginsburg von dem Gedicht »Das welcke Fleisch, die blosse Haut« [Inc.] (ZIESEMER III, S. 15 f.) ausgeht: Die Metrik stimmt, auch einige semantisch wichtige Lexeme entsprechen dieser möglichen Vorlage, unter ihnen »Fröligkeit« in der letzten Strophe.

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einzigen Mal‹ seines Lehrers, der offizieller Rezensent des Lehrbuchs war, treu. Im Kapitel »Literatur Deutschlands« steht der Name Dach in einem kurzen Abschnitt, der von Opitz handelt: Opitz wurde von seinen Zeitgenossen vergöttert, sie nannten ihn den deutschen Homer, Vergil, Horaz. Seine begeisterten Nachfolger verbreiteten seine Theorie in den deutschen 7 Universitäten: Buchner in Wittenberg, Dach in Königsberg, Tscherning in Rostock.

Etwas ausführlicher werden Dach und sein Freundeskreis in einem neuen Lehrbuch für Hochschulen »Geschichte der ausländischen Literatur des 17. Jahrhunderts« dargestellt, verfaßt von N. A. Shirmunskaja im Jahre 1999. In einem umfangreichen Abschnitt über den Königsberger Dichterkreis steht Simon Dach im Mittelpunkt. Die Verfasserin schreibt: Die Teilnehmer des Dichterkreises nannten sich mit allegorischen Hirtennamen und nach ihrem Treffpunkt – den Sommergarten des Komponisten und Domorganisten Heinrich Albert – »Kürbislaube«. Darin zeigte sich die für die Barockdichtung charakteristische Vorliebe für allegorische Sinnbilder: Der Kürbis, eine schnell wachsende, bunte großförmige Gattung, die aber kurzlebig und hinfällig ist, diente als Sinnbild für Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des menschlichen Lebens. Im Königsberger Kreis, dessen Teilnehmer öfter auch für sich selbst Epicedien verfaßten, wurden die melancholischen Sterbe- und Untergangsmotive entwickelt. Es waren Menschen mit bescheidenem Einkommen und Sozialstatus – Kleinbürger, Lehrer, Musiker, was bis zum gewissen Grad den demokratischen Charakter ihrer Poesie bestimmt hat. Ihre beliebteste Gattung war das volksnahe Lied, melodisch, ungekünstelt, offenherzig. Das alles unterschied die Königsberger Lyrik wesentlich von der »hohen« Opitz-Poesie, obgleich Opitz für sie eine unbestreitbare Autorität 8 war.

Danach betont Shirmunskaja, daß der bekannteste Dichter des Kreises Simon Dach gewesen sei, zuerst Geigenspieler und Musiklehrer, später Universitätsprofessor, was übrigens wenig seine materielle Lage beeinflußt hat: Sein ganzes Leben lang kämpfte Dach gegen Not, und die einzige Möglichkeit des Literaturverdienstes waren für ihn die zahlreichen Gelegenheitsgedichte nach dem Auftrag der wohlhabenden und renommierten Personen. Durch hoffnungslose Verzweiflung ist eines seiner letzten Werke – die Fleh=Schrifft des schwer kranken Dichters an den »allergnädigsten Kurfürsten« mit der Bitte um ein Stück Brot ge9 prägt. In der deutschen Literaturgeschichte ist aber nicht seine Gelegenheitsdichtung geblieben, sondern seine mit tiefen und aufrichtigen Gefühlen erfüllten Lieder, die die wahren menschlichen Werte besingen – Liebe, Treue, Freundschaft. Das berühmteste unter ihnen, »Anke van Tharaw«, eine treuherzige Liebeserklärung voller Begeisterung über das reine, treue und liebende Mädchen, wurde auf einheimischem Dialekt verfaßt, später von J. G. Herder ins Hochdeutsche übersetzt und in seinen Sammelband Volkslieder (1778)

_______ 7

8

9

Sergei Dmitrijeviþ Artamonov: Istorija zarubežnoi literatury XVII – XVIII vv. uþebnik dlia studentov pedagogiþeskich institutov. [Geschichte der ausländischen Literatur des 17. – 18. Jahrhunderts.] Ɇoskau: Prosvešþenije 1978, S. 202. Nina Aleksandrovna Shirmunskaja, Zacharij Isaakovic Plavskin, Margarita Vasijevna Rasumovskaja [u.a.]: Istorija zarubežnoi literatury XVII vekɚ. [Geschichte der ausländischen Literatur des 17. Jahrhunderts.] Pod readkzijej M. V. Rasumovskaja. Ɇoskau: Akademija; Vysschaja Schkola 1999, S. 185. Simon Dach: »Unterthänigste letzte Fleh=Schrifft an Seine Churfürstl. Durchl. meinen gnädigsten Churfürsten und Herrn.« In: ZIESEMER II, S. 262.

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aufgenommen. Zur Zeit wird jedoch Dachs Autorschaft in Zweifel gestellt in der Annahme, sein Freund, der Komponist Heinrich Albert sei der Autor. Das setzt aber auf keinen Fall die unbestrittenen poetischen Verdienste Dachs herab, der als der bedeutendste 10 Vertreter des Königsberger Dichterkreises gilt.

2. Die Kaliningrader Dach-Rezeption Eine qualitativ und quantitativ neue Etappe in der russischen Dach-Rezeption begann mit der Wende in der gesamten Geschichte Rußlands und mit der Öffnung des Kaliningrader Gebiets in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die ersten bekannten Kaliningrader, die ihre Aufmerksamkeit auf Dach lenkten, waren der Dichter Sem Simkin und der Historiker Aleksej Gubin. Gegen Anfang der neunziger Jahre wandte sich Sem Simkin dem Werk der Königsberger Dichter zu und begann mit der Übersetzung ihrer Gedichte ins Russische. Das Ergebnis dieser Arbeit war der in der Nachkriegszeit erste Sammelband der Königsberger Dichtung in der Übersetzung von Sem Simkin. Die Anthologie erschien 1993 in Kaliningrad unter dem Titel »Du, mein einzig Licht«. Ganz am Anfang finden sich acht Werke von Dach: – Trost-Reimchen. Auf den Tod eines Sohnes des Königsberger Buchdruckers Johann Reusner, 1650 [= ZIESEMER III, S. 310 f.]; – »Glück zu, jhr grünen Bäume« [= ZIESEMER I, S. 48 f.]; – »Wenn ich in dem Wiesen-Schnee.« Georg Andressen und Maria Salbertin [= ZIESEMER I, S. 172 f.]; – Bey der Geburt seines Sohnes Christoph Dach [= ZIESEMER III, S. 77 f.]; – Eine neue Übersetzung des »Freundschaftslieds« [= ZIESEMER I, S. 66 f.]; – »Kürbislaube« [= ZIESEMER I, S. 91–96]; – Klugheit, wie man spricht, kömmt vor Jahren nicht [= ZIESEMER I, S. 106 f.]; – Gesang bey des Edlen und Hochberühmten Herren Martin Opitzen von Boberfeldt etc. etc. hocherfrewlichen Gegenwart Zu Königsbergk in Preussen Im Jahre 1638. Den 29. Tag des Hew-Monats Gesungen von Simon Dachen [= ZIESEMER I, S. 51 f.]. 11 In der Anthologie sind auch drei Gedichte von Martin Opitz, Robert Roberthins Rede einer verstorbenen Jungfraw aus dem Grabe, das Vorjahrs-Lied von Christoph Wilkau und Heinrich Alberts Gedicht »Ich empfinde gar ein Grawen« enthalten. Aleksej Gubin, der sich bereits zur Sowjetzeit mit der regionalen Kultur beschäftigte, war einer der ersten, der über Dach schrieb. 1992 veröffentlichte er in der populären Zeitschrift »Rußlands Westen« sein Essay unter dem Titel »Ein _______ 10 11

Shirmunskaja [u.a.]: Istorija (wie Anm. 8), S. 185. Vgl. Sem Simkin: Svet ty moi jedinstvennyj. Stichi kenigsbergskich poetov. [Du, mein einziges Licht. Gedichte der Königsberger Dichter.] 3. Aufl. Kaliningrad: Kaliningradskoe Knižnoe Izdat. 1999, S. 9–19. – Wegen der teilweise abweichenden Titelangaben in dieser Edition wurden die ZIESEMER-Nachweise im Text vom Herausgeber ergänzt.

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Lied für Ännchen. Kürbishütte«. 12 Im ersten Teil seines Essays berichtet er ziemlich ausführlich über den Anfang des Dichterkreises dank Heinrich Albert, der von dem Stadtfiskus ein Grundstück geschenkt bekommen hatte, auf dem die berühmte »Kürbislaube« entstand. Der ›Begründer‹ »der Gesellschaft der Sterblichkeit Beflissenen«, Robert Roberthin, wird von Gubin nicht nur als ein fleißiger Jurist und Diplomat, sondern auch als ein begeisterter und talentvoller Dichter bezeichnet. Seiner Dichtung sei der gekünstelte hochtrabende »Salonstil« fremd gewesen, er dichtete in einfacher volksnaher Sprache, die jedem Königsberger verständlich gewesen sei. Der Verfasser erinnert den Leser an eine lustige Geschichte, die sich im Garten der »Kürbishütte« abgespielt habe. Robert Roberthin, vier Jahre älter als Heinrich Albert, verhielt sich demnach etwas herablassend gegen den Besitzer der »Kürbislaube«. Albert habe darauf eine witzige Antwort auf Roberthins Manier gefunden: Im Freundeskreis sei es üblich gewesen, im kleinen Garten Alberts Kürbisse zu wählen und in deren Schale ihre Schäfernamen einzuritzen: Unbemerkt für alle grub Albert zwei Kürbisse in seinem Garten aus, den größten und den kleinsten unter allen. In die Schale des größten ritzte er seinen Namen und in die des kleinsten den Namen Roberthins ein. Die beiden Kürbisse nun setzte er anstelle derer, die die Freunde, mit ihren Namen versehen, früher gesetzt hatten. Bei der »Kürbisparade« sah Roberthin mit Verblüffung, daß sein Kürbis noch kleiner geworden war, während der von Albert am höchsten herangewachsen war. Lange hörte das Gelächter in der »Kürbislaube« nicht auf. Lauter als alle, schreibt Gubin, habe Martin Opitz gelacht, der im Sommer 1638 nach Königsberg kam und sich schnell mit dem Dichterkreis befreundete. Unter den Königsberger Freunden habe er aber vor allem Simon Dach ausgesondert. Nach dieser Exposition stellt der Verfasser kurz den Lebensweg Dachs dar und berichtet ganz ausführlich von der Entstehung des berühmten Hochzeitslieds Anke van Tharaw. Ganz barock ist der Schluß des Essays unter der Überschrift »Anstatt Epilog« geprägt. Gubin schreibt: Die Zeit ist unerbittlich. Einer nach dem anderen verließen die Freunde unsere Welt. 1639 verstarb Martin Opitz in Danzig. 1646 verschieden der Komponist Johann Stobäus und der Pastor Johannes Portatius, der erste Gatte Ännchens von Tharau. 1648 begegnete seinem Tod R. Roberthin. Am 6. Oktober 1651 verschied Heinrich Albert, Dichter, Komponist und Domorganist. Am 15. April 1659, in seinem Haus am Blauen Turm, starb Simon Dach an der Tuberkulose. Er wurde in der Professorengruft am Dom beigesetzt. Etwas früher, 1641 schon, wurde die Kürbishütte auf der Lomse wegen Bebauung des Weidendamms abgeris13 sen.

1995 wurde an der Kaliningrader Staatlichen Universität dann ein fundamentales Werk von Professor Kasimir Kleofasoviþ Lavrinoviþ unter dem Titel »Albertina. Essays zur Geschichte der Königsberger Universität. Zum 450jährigen Jubiläum« herausgegeben. In diesem beachtenswerten Werk ist ein umfassendes Kapitel über Simon Dach enthalten. Sein Titel lautet »Simon Dach – Pro_______ 12 13

Aleksej Gubin: Pesnia dlia Ⱥnchen. Ɍykvennaja izbuška. [Ein Lied für Ännchen. Kürbishütte.] In: Zapad Rossii [Rußlands Westen] 4 (1992), S. 147–151. Ebd., S. 151.

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fessor und Dichter«. 14 Der erste Name, der ganz am Anfang dieser Skizze steht, ist Doktor Christoph Tinctorius, der damalige Dekan der medizinischen Fakultät an der Albertina. Tinctorius wollte ein Arzneimittel »gegen alle Krankheiten« erfunden haben: »medicamento universali sive Chymicorum Panacea«. Er gehörte auch zum Dichterkreis, der 1636 vom Hofrat Robert Roberthin begründet worden sei. Lavrinoviþ nennt einige ›Mitglieder‹ des Freundeskreises: Christoph Kaldenbach, Christoph Wilkau, Valentin Thilo, Rotger zum Bergen, Heinrich Albert. (Die anderen – der Hofkapellmeister Johann Stobäus, der Kirchenliederdichter Georg Werner, der kurfürstliche Rat Michael Adersbach, der Elbinger Ratsherr Gottfried Zamehl – werden von ihm nicht erwähnt.) Der Verfasser betont aber, daß die Hauptfigur in diesem Kreis einer der besten deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts, Simon Dach, war. Er gehört auch zu den allerbesten Namen der Stadtgeschichte Königsbergs und seiner Universität. Sein Kunstwerk ist einer der Höhepunkte des Kulturlebens Königsbergs. Es zeichnet sich durch Gattungsvielfalt aus: von den dem kurfürstlichen Haus gewidmeten Gedichten bis zu Gelegenheitswerken, die den Freunden gewidmet sind; von geistlichen Liedern bis zu Hoch15 zeitscarmina.

Lavrinoviþ hat die offenherzige und ungekünstelte Dichtungsart Dachs hervorgehoben, die der volkstümlichen Liederkunst nah gestanden habe. Aus diesem Grund seien Dachs Werke nicht selten zu Volksliedern geworden, die sein Leben überdauert hätten. Im zweiten Teil seiner Skizze berichtet Lavrinoviþ über Dachs Tätigkeit an der Königsberger Universität. In seine Professorenzeit fiel das erste große Jubiläum der Universität – der 100. Gründungstag. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm nutzte das Jubiläum als Demonstration des Selbstbewußtseins und für die Verherrlichung des brandenburgischen Hauses aus. Er selbst kam zur feierlichen Eröffnung der Festlichkeiten am 27. August 1644. Innerhalb der sieben Jubiläumswochen, bis zum 14. Oktober, fanden verschiedene akademische Veranstaltungen, Disputationen etc. statt. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten aber, so Lavrinoviþ, sei ein von Simon Dach verfaßtes Festspiel in vier Akten gewesen, der Prussiarchus, gewidmet der Gründung und den ersten Jahren der Universitätsgeschichte. Die Hauptfigur war Herzog Albrecht. Das Festspiel wurde vor dem kurfürstlichen Hof im Schloß aufgeführt und habe großen Erfolg geerntet. Einige Monate später, im Mai 1645, gelangte der Prussiarchus zum zweiten Mal im Zusammenhang mit dem Besuch der Königin Maria Eleonora, der Witwe des Schwedenkönigs Gustav Adolf und der Schwester des Kurfürsten Georg Wilhelm, in Königsberg zur Aufführung. Im Wintersemester _______ 14

15

Kasimir K. Lavrinoviþ: Albertina. Oþerki istorii Kenigsbergskowo universiteta. K 450-letiû so vremeni osnovaniâ. [Albertina. Essays zur Geschichte der Königsberger Universität. Zum 450jährigen Jubiläum.] Kaliningrad: Knižnoe Izd. 1995, S. 91–95. – Das Werk liegt auch in deutscher Übersetzung vor: Kasimir Lawrynowicz: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Hg. von Dietrich Rauschning. Berlin: Duncker & Humblot (1999) (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, 13) (Anm. des Herausgebers). Lavrinoviþ: Albertina (wie Anm. 14), S. 92.

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Wladimir Gilmanov

1656 wurde Dach zum Rektor gewählt. Laut einigen Berichten, die Lavrinoviþ konsultiert, kam gerade in diesem Jahr der Name »Albertina« zu Ehren des Begründers Herzog Albrecht auf. Am Ende seines Kapitels zieht Lavrinoviþ eine kurze Bilanz über das dichterische Werk von Simon Dach, der am 15. April 1659 im Alter von 54 Jahren verstarb. Dachs Erbe bestehe aus etwa 1500 Werken, ein Sechstel davon auf Latein verfaßt. Die meisten wären bereits zu seiner Lebzeit herausgegeben worden. Nach dem Tod des Dichters seien seine Werke in einer Einzelausgabe erschienen. Der Verfasser präzisiert allerdings nicht, daß der von ihm erwähnte Band Chur=Brandenburgische Rose, Adler, Löw und Scepter heißt und daß er keine repräsentative Anthologie der Lyrik Dachs ist, weil er nur die dem brandenburg-preußischen Fürstenhaus gewidmeten Gedichte enthält. Ganz am Ende erwähnt Lavrinoviþ noch, daß in der Vorkriegszeit in Königsberg eine Straße den Namen von Simon Dach trug, übrigens eine kleine, die durch den Krieg spurlos untergegangen ist. Eine kurze, aber inhaltsreiche Skizze über Simon Dach ist außerdem in dem Kaliningrader Almanach für Landeskunde »Vaterland« vom Jahr 2003 enthalten. Ihr Verfasser ist Pavel Grɚbalov. 16 Trotz einiger kleinerer Fehler, zum Beispiel bei der Übersetzung der Benennung des Dichterkreises »Gesellschaft der Sterblichkeit Beflissener«, zeichnet sich diese Skizze durch einige Informationen und Namen aus, die früher in der russischen Dach-Rezeption nicht erwähnt wurden, etwa den Namen von Johann Schimmelpfennig, einem der größten Wohltäter Königsbergs, der auch dem Dichterkreis angehörte. Lobgepriesen werden auch Johann Stobäus, Kapellmeister der Hofkapelle und Nachfolger der Preußischen Tonschule, und Heinrich Albert, der als Urheber der deutschen weltlichen Liederkunst bezeichnet wird, vor allem im Zusammenhang mit dem von ihm edierten Sammelwerk ein- und mehrstimmiger Lieder, den Arien, in dem auch Dachs Lieder erschienen. Grabalov schließt nicht aus, daß Albert das Gedicht Anke van Tharaw nicht nur vertont, sondern auch selbst verfaßt habe, obwohl »die Autorschaft in der letzten Zeit wiederum Simon Dach zugeschrieben wird«. Bei der kurzen Charakteristik der Dichtkunst Dachs verweist Pavel Grabalov auf dessen Vertrautheit mit den dogmatischen Grundsätzen der protestantischen Lehre. Er schreibt: »Die lutherische Frömmigkeit war die Urmutter seiner Dichtkunst«. In seinen Gelegenheitsgedichten beweise Dach, daß »er sich in Freud und Leid seiner Mitbürger einfühlen und ihnen seinen Gottesglauben einflößen kann«. 17 In der Vielfalt der Arbeiten über Simon Dach ist aber ganz deutlich der Mangel an eigentlichen literaturwissenschaftlichen Forschungen zu dem Dichter zu erkennen. Der einzige Literaturwissenschaftler aus Kaliningrad, der in den letzten Jahren eine gewisse Aufmerksamkeit auf Dachs Lyrik gerichtet hat, ist _______ 16

17

Pavel Grɚbalov: Vzaimoproniknovenije kultur Kenigsberga – Kaliningrada. [Wechselseitigkeiten der Kultur Königsberg – Kaliningrad.] In: Krajevedþɟskij ɚlmanach »Ɉtþestvo« [Vaterland. Landeskundlicher Almanach]. Kaliningrad: IP Mischutkina I. V. 2003, S. 46– 51. Ebd., S. 47.

Dach-Rezeption in Rußland

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der Literaturforscher der Staatlichen Universität zu Kaliningrad Wladimir Ivanoviþ Greschnych. Im April 1996 fand in Kaliningrad eine internationale Konferenz statt, die dem 50. Gründungsjahr des Kaliningrader Gebiets gewidmet war. In der Arbeitsgruppe »Probleme der Literaturtypologie« hielt Professor Greschnych einen Vortrag zum Thema »Barock. Simon Dach: Ein Blick in die Zukunft«, dessen Inhalt in dem Sammelband der Materialien der Konferenz, herausgegeben im Verlag der Staatlichen Universität Kaliningrad 1997, veröffentlicht wurde. 18 Greschnych fängt seine Darstellung mit einer allgemeinen Charakteristik der deutschen Barockliteratur an. Das thematische Spektrum der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts sei ziemlich breit. Es sei aber so, daß die staatliche Zerrissenheit zwei besondere ›Stimmungen‹ beeinflußt habe: einerseits die Entwicklung des »tragischen Weltbildes«, anderseits das Entstehen des »optimistischen Vorgefühls«. Die ›tragische Stimmung‹ in der Dichtkunst sei durch »das Gedächtnis der Vergangenheit« und die optimistische durch ein »intensives Erleben der Gegenwart« verursacht worden. Das ›Vergangene‹ für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts entstände einerseits aus dem ›Weltbild der späteren Wiedergeburt‹, aus der sie das Krisenbewußtsein geerbt habe, anderseits aus dem Weltbild des Mittelalters, »ein eigenartiger Orientierungspunkt im ambivalenten Welterlebnis«. Die deutsche Barockliteratur sei eine »komplizierte ästhetisch-ideologische Erscheinung, die einen bedeutenden Einfluß auf das geistige Leben nicht nur des 17. Jahrhunderts, sondern auf die gesamte Literaturentwicklung der nachfolgenden Epochen« 19 geübt habe. Greschnych ist der Auffassung, das Werk Simon Dachs und der anderen Dichter der »Königsberger Schule« lasse sich ›organisch‹ in den Gesamtstrom der Barockliteratur Deutschlands der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einschreiben. In seinem Frühlingslied 20 äußere Robert Roberthin ein von ihm feinfühlig empfundenes Bild der Naturharmonie und gleichfalls eine zunehmende Unruhe des Menschengeistes. Die dichterische Entwicklungslogik im Gedicht sei traditionell: vom Allgemeinen zum Einzelnen. Das Einzelne werde aber nicht konkretisiert und bliebe auf dem Niveau des abstrakten Begriffs, in dem ein bestimmtes Zeichen, Symbol, Sinnbild verborgen ist. Das sei, so Greschnych, die Eigenart und Logik des dichterischen Bewußtseins der Epoche und der Dichter der »Königsberger Schule« gewesen.

_______ 18

19 20

Wladimir Ivanoviþ Greschnych: Barokko. Simon Dach: Vzgliad v budušþeje. [Barock. Simon Dach: Ein Blick in die Zukunft.] In: Ⱥktualnyje probjemy lingvistiþeskoi semantiki i tipologiji literatury. [Aktuelle Probleme der linguistischen Semantik und Literaturtypologie.] Kaliningrad: Izdatelstvo Kaliningradskogo gosudarstvenogo universiteta. 1997, S. 58–61. Ebd., S. 59. Erneut läßt sich unter diesem Titel das Gedicht nicht identifizieren. Greschnych entnimmt die russische Übersetzung wiederum dem Band »Europäische Dichtung des 17. Jahrhunderts« in der »Bibliothek der Weltliteratur« (vgl. Anm. 6), sie stammt erneut von Ginsburg, der die Originale nicht nachweist.

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Nach diesen einführenden Worten wendet sich der Verfasser der Dichtung von Simon Dach zu, der ihm zufolge ein wahres Naturgefühl und seinen Ausdruck mit dem wahren Schönheitsgefühl der Kunstpoesie zu vereinigen wisse: In seinen Gelegenheitsgedichten verbindet er ein wahres Lebensgefühl und dichterischen Realismus. In seiner dichterischen Welt geht er von der Natur aus, die für ihn als Mutterschoß und gleichzeitig als geistige Substanz gilt, mit der man ins Gespräch kommen 21 kann.

Greschnych unternimmt einen Versuch, »die Logik der Ideenbewegung« in Dachs Carmina secessum scribentis et ocia quaerunt zu analysieren. GLück zu, ihr grünen Bäume, Ihr Hauß der Sicherheit, Ihr Vorraht guter Reime, Schatz aller Fröhligkeit! Fahrt fort, lasst ewre Lieder, Mir bringen Lust vnd Ruh! Ich setze mich hie nieder 22 Vnd hör’ Euch fleissig zu[.]

Es entfalte sich hier ein ganz besonderes Bild der ›Ideenbewegung‹, die durch die zwei Logiken bestimmt sei – durch die naturbedingte und durch die rationalistische: Die naturbedingte Logik, die der Naturintonation, entfesselt die Sprache, macht sie rhythmisch und musikalisch. Die rationalistische Logik ist ein konkreter Adressat, der den Dichter verpflichtet, in seinem poetischen Wort den ästhetischen Normen seiner Zeit zu 23 entsprechen.

Nach Greschnychs Auffassung verkörpere Dach in seinem Werk die ›titanische‹ geistige Anstrengung des Barock, das Vergangene mit der Gegenwart, die natürliche Melodie des Worts mit den literarischen Gesetzen seiner gattungsmäßigen Verbindungen zu vereinigen: Dach versteht und reflektiert dichterisch die schwere Bürde der zerrissenen Welt, ist sich aber dessen bewußt, daß auch zu unruhigen Zeiten geistige Einheit der Menschen möglich ist. Die Idee von der geistigen Vereinigung wird aber in qualvollen Widersprüchen geboren. Sie entblößt die Unbeständigkeit der Weltansichten, des politischen Geschmacks und der dichterischen Orientierungspunkte. Das erklärt wohl, warum endlose Bewegung, verschiedene Ideenkombinationen zu der Hauptbesonderheit der europäischen Barocks geworden sind, und warum die Barockdichtung bestrebt ist, das Unvereinbare zu vereinen, 24 eine Erscheinung durch eine andere zu erkennen.

Und als Beispiel dieser Besonderheit führt der Verfasser drei Zeilen aus dem Sonett Bey der Geburt seines Sohnes Christoph Dach an:

_______ 21 22 23 24

Greschnych: Barokko (wie Anm. 18), S. 60. ZIESEMER I, S. 48 f., hier Str. 1. Greschnych: Barokko (wie Anm. 18), S. 60. Ebd.

Dach-Rezeption in Rußland

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Nur der, so stets hinauf in seine Heymath schaut, Nach Gott, und sich in ihm sein wahres Erbtheil baut, 25 Wird hier in Unlust Lust und Ruh in Unruh finden.

In dieser ›Vereinigung der polaren Anfänge‹ seien Dachs geistige Verwandtschaft mit den vergangenen Kulturen und seine Anknüpfung an die europäische Literaturtradition bei der Strukturierung des künstlerischen Bildes zu spüren, gleichfalls aber sein Vorgefühl für die grundlegenden Veränderungen in dem nachfolgenden romantischen Weltbild zu erkennen. Am Ende stellt Greschnych die Frage: Was hat Dach in seiner Dichtung entwickelt? Seine Antwort lautet: eine besondere poetische Praxis, für die eine freie Gedankenbewegung als das wichtigste Charakteristikum gelte. In dem berühmten Gelegenheitsgedicht »Ännchen von Tharau« gebe es beispielsweise einen konkreten Adressaten und eine konkrete Logik der Gedankenbewegung, die durch den Namen »Ännchen« bedingt sei: »Der Name bedingt einen eigenartigen magischen Ideenkreislauf. Der Name fesselt die Aufmerksamkeit des Lesers, zwingt die ständige Rückkehr zu sich«. 26 Die Gestalt von Ännchen bleibe aber unvollendet, lasse sich nicht herauskristallisieren und entgehe der Auffassung. Im Gedicht entwickle sich ein Gedankenspiel, dessen Emblem Ännchens Name sei. Die Autorgedanken kreisten um diesen Namen, sie seien fragmentarisch in ihrer Struktur und jede Strophe biete eine eigene ›These‹ über Liebe, Treue, Freude und Herzensverbundenheit. Nach Greschnychs Auffassung sei das Gedicht besonders dadurch interessant, daß in ihm das ›Prinzip der figürlichen Offenheit und Unvollendung‹ vorweggenommen werde, das in der Romantik und dann auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts anzutreffen sei. Simon Dach, schlußfolgert Greschnych, sei somit zwar zweifellos ein Dichter seiner Zeit, sein künstlerisches Denken überhole jedoch seine Zeit und richte sich in die Zukunft. Das war es, was die Dach-Rezeption in Rußland anbelangt. Die Bilanz sieht ziemlich trostlos aus: wenig übersetzt, wenig ausgelegt, wenig verstanden… Abschließen aber will ich pathetisch in Anlehnung an das Wort des oben erwähnten, früh verstorbenen Kasimir K. Lavrinoviþ aus dem Nachwort seines Buchs über die Albertina; wenn denn dieses Pathos durch die zwei zusammenhängenden Anlässe erlaubt ist: den 750jährigen Geburtstag Königsbergs und den 400jährigen Geburtstag von Simon Dach: Wenn der Krieg oder der andere böse Wille alles in der Stadt zerstört hätte, was an ihre berühmte Universität erinnert, so würde auf dieser Erde ein unauslöschbares Gedächtnis bleiben, unanfechtbar gegen Kriege, Bulldozer oder Propaganda. Denn undenkbar ist Philosophie ohne Kant, Mathematik ohne Jacobi und Hilbert, Astronomie ohne Bessel, Physik ohne Kirchhoff und Neumann, Physiologie ohne K. Baer und Helmholtz, Literatur ohne 27 Dach und Hoffmann.

_______ 25 26 27

ZIESEMER III, S. 77 f., hier S. 78. Greschnych: Barokko (wie Anm. 18), S. 60. Lavrinoviþ: Albertina (wie Anm. 14), S. 383. – Hervorhebung vom Vf.

Axel E. Walter

Dach digital? Vorschläge zu einer Bibliographie und Edition des Gesamtwerks von Simon Dach nebst einigen erläuterten Beispielen vernachlässigter bzw. unbekannter Gedichte 1. Bibliographie und Edition in einem Dach-Portal Die grundlegenden Mängel der bibliographischen Erschließung und der editorischen Bewahrung des poetischen Gesamtwerks von Simon Dach sind hinlänglich bekannt. Die Forschung hat sie immer wieder beklagt – und doch in den letzten Jahrzehnten zu wenig unternommen, um an dieser Situation etwas zu ändern. Der etwas umständlich formulierte Titel meines Beitrags mag bereits die Vielzahl der unerledigten oder zumindest doch nicht hinreichend bewältigten Aufgaben im Bereich der notwendigen Grundlagen andeuten, für die hier ein Konzept zur Diskussion gestellt und sogleich an einigen Beispielen vorgeführt werden soll. Ausgehen werde ich dabei von einem höchst beachtenswerten Vorschlag, den Wulf Segebrecht vor einiger Zeit unterbreitet hat. Mehr als ein Dutzend Jahre sind inzwischen verstrichen, seit diese Überlegungen erstmals auf der Tagung zur »Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit« in Rauschen (heute: Svetlogorsk) präsentiert wurden, ohne daß Segebrechts ›unvorgreifliche Gedanken‹ aufgegriffen worden wären. Das ist überaus verwunderlich, denn es handelt sich ohne Zweifel um den wichtigsten Diskussionsbeitrag, der für eine Verbesserung der Forschungssituation seit langem vorgelegt worden ist. Segebrechts Überlegungen zielen auf die Schaffung einer historisch-kritischen Ergänzungsausgabe der Gedichte Simon Dachs, in der nur die Texte ediert werden, die nicht in anderen Ausgaben erreichbar sind. Dieses Unternehmen, so entwickelt Segebrecht seine – ausdrücklich als vorläufig deklarierten – Gedanken weiter, sei zu flankieren durch eine biographisch-rhetorische Kommentierung aller Texte Dachs. 1 Überzeugend legitimiert ist dieser Vorschlag nicht nur durch die Defizite des Vorliegenden, sondern genauso durch die exponierte Bedeutung Dachs für die Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts: Seine Realisation würde am – bereits durch die Zahl seiner Casualia äußerst prägnanten – Beispiel Simon Dach ebenso die Praxis der Gelegenheitsdichtung in ihrer Blütezeit deutlicher als bisher nachvollziehen lassen wie auch ermöglichen, »ein Sensorium sowohl für das Typische und Gängige als auch für das exzellent Gelungene im Bereich der Kasualpoesie zu entwickeln«. 2 Nichts _______ 1

2

Wulf Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen: Niemeyer 2001 (Frühe Neuzeit, 56), S. 943–962, hier S. 961 f. Ebd., S. 960.

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scheint gerade für diesen Dichter nötiger und wünschenswerter, dessen Bild, zudem nur aus der Kenntnis von – deutschsprachigen – Teilen seiner Dichtung konturiert, durch vielfach stereotype literaturgeschichtliche Wertungen des in der poetischen Praxis seines Jahrhunderts eher Untypischen so nachhaltig geprägt ist. 3 Segebrecht entwickelte seinen Vorschlag pragmatisch als Surrogat einer historisch-kritischen Gesamtausgabe, gegen die er mit dem Hinweis auf entsprechende Vorhaben zu anderen Dichtern, die sich über Jahrzehnte hinzögen und äußerst teuer seien, schlagende Argumente anführt. Aber bleibt man damit nicht auf halbem Wege stehen? Ziesemers Dach-Ausgabe ist textlich zu wenig genau, um auch für die dort abgedruckten, fast ausnahmslos deutschsprachigen, Gedichte den Rückgriff auf die kasualen Einzeldrucke und andere zeitgenössische Ausgaben entbehren zu können. Jede Stichprobe erweist für jedes einzelne Gedicht Transkriptionsfehler und unerklärte Texteingriffe. Die Titel sind von Ziesemer bei den meisten Gelegenheitsgedichten auf die Namen der Adressaten reduziert und auch im Anhang nach den Titelblättern nur selten vollständig (und dann in der Regel unzuverlässig) angegeben, jede bibliographische Deskription fehlt, die Nachweise verschiedener Exemplare für die einzelnen Texte sind beschränkt (wobei – wie jetzt zu konstatieren – glücklicherweise die benutzten Königsberger Bestände stets angegeben sind), Worterklärungen oder Textvarianten fehlen fast durchgängig. Wenn man Ziesemers Ausgabe zur Grundlage einer Ergänzungsedition machte, manifestiert das zudem definitiv eine – in der gewählten ›Gattungs‹-Rubrizierung inkonsistente und inkonsequente wie in der sprachlichen Trennung gesellschaftliche, personelle und intratextuelle Bezüge auflösende – Aufteilung des gesamten Textkorpus. Obwohl er selbst in seiner Einleitung zum ersten Band betont hat, daß sich eine »scharfe Trennung von weltlichen und geistlichen Liedern [...] nicht bis in jede Einzelheit durchführen [lasse], da vielfach auch die ›weltlichen‹ Lieder von der frommen, geistlichen Gesinnung getragen sind, die Simon Dach eigen war«, 4 führte Ziesemer diese Zweiteilung in seiner Ausgabe durch. Er schafft damit, da einerseits auch die lateinische Dichtung in den Anhängen entsprechend aufgeteilt ist und andererseits im zweiten Band die »Gedichte an das kurfürstliche Haus« und »Dramatisches« eigene Abschnitte bilden (beide ›Teile‹ werten aber nur die Chur= Brandenburgische Rose aus), sechs parallele Chronologien, durch die Dachs Gesamtwerk in seinen vielfältigen Verwobenheiten gänzlich unüberschaubar wird. 5 Ihnen käme mit den ›Nachträgen‹ eine weitere konkurrierende chronologische Ordnung hinzu. _______ 3

4 5

Zur Rezeption Dachs und zur Editionsgeschichte seines Werks über die Epochen vgl. jetzt meine Abhandlung: Bemühungen um Simon Dach. Eine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung der Dach-Ausgaben und zur Rezeption eines »ostpreußischen« Dichters. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 14 (2006), S. 7–106. Walther Ziesemer: Einleitung. In: ZIESEMER I, S. VII–XVI, hier S. IX. Oesterley hatte im wesentlichen die gleiche Anordnung gewählt, jetzt ist nur die Folge der geistlichen und weltlichen Gedichte getauscht, die »Freundschaftsdichtung« ist ebenso wie die »Gelegenheitsdichtung« darin eingeordnet.

Dach digital?

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Besonderes Gewicht legt Segebrecht auf eine neue Bearbeitung der Kommentare, die durchgehend zu ergänzen seien; entstehen sollte ein umfassender »biographisch-rhetorischer Kommentar« zu sämtlichen, also auch zu den bereits in den verschiedenen Ausgaben vorliegenden Texten Dachs. 6 In der Tat bedürfen Ziesemers Kommentare einer grundsätzlichen Revision, selbst die biographischen Angaben zu den Adressaten können davon nicht ausgenommen werden und sind vielfach zu ergänzen. Aber, so ist noch einmal zu fragen, ist der Aufwand, der dafür und insbesondere für den rhetorischen Kommentar erforderlich sein wird, wirklich so viel geringer als der Aufwand für eine historischkritische Gesamtausgabe, daß man gegen sie ausschließlich mit den Faktoren Zeit und Kosten argumentieren darf? Ich denke, das alles bietet keine hinreichenden Gründe, an einer historisch-kritischen Gesamtausgabe nicht festzuhalten. Sie würde freilich, da ist Segebrecht uneingeschränkt zuzustimmen, ein langfristiges Projekt für eine fernere Zukunft darstellen, sofern sich ein entsprechendes Vorhaben überhaupt konkretisiert. Aber muß – und kann – man solange warten? Entscheidend für die Forschung ist doch zweifellos, in einer zuverlässigen Form und in absehbarer Zeit Zugang zu allen – in irgendeiner Publikationsform erhaltenen – Texten Simon Dachs zu gewinnen. Vornehmlich betrifft dies die lateinische Dichtung einschließlich der akademischen orationes und selbstverständlich die neuen Funde seit 1945, doch genauso die bereits bekannte deutschsprachige Dichtung. Die zeitgenössischen Drucke bieten die einzige zuverlässige Textbasis. Sie indes warten noch auf ihre verläßliche bibliographische Erschließung, die an keiner Stelle – weder in den Ausgaben Oesterleys und Ziesemers noch in den Personalbibliographien Dünnhaupts – gewährleistet ist. Ganz im Gegenteil offenbart Dünnhaupt einen fahrlässigen Umgang des Bibliographen mit seinen Lesern wie mit wissenschaftlichen Grundstandards. Das wird nicht nur in einer erklecklichen Zahl von Doppelnennungen einzelner Titel oder der, von wenigen Ausnahmen abgesehen, falschen Nachweise einstiger Königsberger Bestände in osteuropäischen Bibliotheken deutlich, sondern in dem ganz offenkundigen Verzicht auf Autopsie in vielen Fällen. Dünnhaupts Titelansetzungen fallen entsprechend disparat aus, diplomatische Aufnahmen wechseln sich mit der Wiedergabe von Überschriften und Kurztiteln aus Ziesemers Ausgabe ab, die teilweise sogar zu diplomatischen Titeln verwandelt werden. Mein Vorschlag ist deshalb ein anderer, durchaus bescheidenerer und sicherlich sogleich Widersprüche der Sachwalter editorischer Prinzipien provozierender, da seine Realisation für einen Dichter des Barock editionsphilologisches Neuland betreten würde. Ich möchte die Einrichtung eines Dach-Portals im Internet anregen, das die Aufgaben der bibliographischen Erschließung und der – ich wähle ganz bewußt diese Formulierung – Bereitstellung der Texte Dachs parallel und mit der bis dato hier wie dort nicht gegebenen Verläßlichkeit erfüllen kann. 7 _______ 6 7

Segebrecht: Unvorgreifliche, kritische Gedanken (wie Anm. 1), S. 962. Die folgenden Überlegungen habe ich erstmals am Ende (S. 102–106) des in Anm. 3 genannten Aufsatzes skizziert; sie wurden danach auf der Jahrestagung der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung im Juni 2007 in Hamburg von

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1.1. Möglichkeiten und Grenzen bibliographischer Ermittlungen Die Möglichkeiten, das über Jahrhunderte Vernachlässigte und Versäumte aufzuholen, sind nach dem Zweiten Weltkrieg zwar empfindlich reduziert, doch auch nach 1945 läßt sich noch das meiste ausgleichen und einiges finden, was Ziesemer entgangen war. Dünnhaupts Bibliographie besitzt ihr unbestrittenes Verdienst zum einen darin, erstmals die – durchgängig lateinischen – akademischen Festdichtungen, die Dach im Rahmen seiner Amtspflichten als Professor poëseos alljährlich zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten abzuliefern hatte, als eigene ›Werkgruppe‹ erkannt und bibliographisch (mit den üblichen Mängeln seiner Titelangaben) weitgehend zusammengeführt zu haben. Diese Dichtungen nehmen unter den lateinischen Texten Dachs einen beachtlichen Anteil ein, durch den sich die personale Produktion im Neulateinischen im Verhältnis zur deutschsprachigen Dichtung deutlich verringert. Zum zweiten tritt Dünnhaupt selbst den Beweis an, daß sich noch manches Unbekannte entdecken läßt, wenn man den Gang in die Bibliotheken wirklich auf sich zu nehmen gewillt ist und gezielt in zeitgenössischen Drucken nach Dachbeiträgen sucht. So kann er insgesamt 17 neue Funde beibringen: Es handelt sich um zwölf kasuale Einzeldrucke, die hauptsächlich in den Tübinger Beständen sowie in Wrocáaw, Zwickau und Erlangen-Nürnberg vorhanden sind, 8 um einen Beitrag zu einer Leichenpredigt, 9 eine Porträtunterschrift 10 sowie drei Gedichte, von denen zwei als Widmungsgedichte erschienen 11 und eines nur in Constantin Christian Dedekinds (1628 – 1715) Sammlung AElbianische Musen-Lust nachzuweisen ist. 12 Es ist sicher damit zu rechnen – und hat sich in den zwei Jahrzehnten seit Erscheinen seiner Personalbibliographien auch schon mehrfach erwiesen –, daß intensive und gezielte Recherchen nach wie vor weitere unbekannte Texte und – in größerer Zahl – noch nicht beschriebene Erstdrucke sowie weitere Publikationen bekannter Texte erbringen. In Vorbereitung einer vollständigen Dach-Bibliographie habe ich inzwischen in einem ersten Schritt die Verzeichnisse von Oesterley und Ziesemer und die Personalbibliographie Dünnhaupts zusammengeführt. Ergänzt wurden die Kir_______

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9 10 11 12

mir zur Diskussion gestellt. Aus den positiven Reaktionen auf das Konzept, das in diesem Kreis auf Erfahrungen mit dem Projekt »Das virtuelle preußische Urkundenbuch« stieß, sind manche Anregungen dankbar aufgegriffen worden. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Zweiter Teil. Stuttgart: Hiersemann 1990 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, 9/2), S. 996–1230. Angesichts der großen Ungenauigkeiten der Titelansetzungen Dünnhaupts verweise ich hier und in den folgenden Anm., da selbst keine Autopsie der Drucke möglich war, nur auf die von Dünnhaupt vergebenen Nummern. Es sind Nr. 670, 671, 672, 696, 826, 884, 989 und 719/767 (Doppelaufnahme mit je unterschiedlicher Datierung): Tübingen; Nr. F 10: Wrocáaw; Nr. 138: Zwickau; Nr. 350: Erlangen-Nürnberg; dort auch der unten in Anm. 56 vorgestellte Kasualdruck. Nr. 1028A. Nr. 906.II. Nr. 418 und 589. Nr. 1136.

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chenlieder Dachs, die noch nicht systematisch in den protestantischen Gesangbüchern ermittelt worden sind, für die aber von Ernst Friedrich Johann Mantzel, Georg Christoph Pisanski und Irmgard Scheitler Verzeichnisse vorliegen, die zwar alle unvollständig sind, für weitere Recherchen jedoch zusammengenommen einen guten Ausgangspunkt bieten. 13 Die Zusammenspielung der aus diesen ›Quellen‹ zu ermittelnden Titel ist in einer vorläufigen Datenbank erfolgt: Sie enthält insgesamt 1.397 Nummern. Die Arbeiten für eine Dach-Bibliographie können nunmehr an verschiedene Forschungsvorhaben anschließen, deren Ergebnisse eine verhältnismäßig konkrete Planung der weiteren Recherchen erlauben. Profitieren kann ein entsprechendes Vorhaben zum einen von den an der Universität Osnabrück unter der Leitung von Klaus Garber seit mehr als einem Jahrzehnt für ein Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums betriebenen systematischen Recherchen in Bibliotheken Mittel- und Osteuropas. Die inzwischen vorliegenden zwanzig Bände verzeichnen zahlreiche Dach-Drucke aus den Bibliotheken in Wrocáaw, ToruĔ, Kaliningrad, Riga, Tartu und Tallinn. Darunter sind auch zwei bislang übersehene Erstdrucke 14 und ein gänzlich unbekanntes Gedicht. 15 In den _______ 13

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Ernst Johann Friedrich Mantzel: Anderes Stück Der POËTIschen Meister=Stücke, enthaltend: Andreas Tscherningen Und Simon Dachen Lebens=Beschreibungen, und Beste VERSE. Rostock [u.a.]: Fritsch 1724, S. 76 ff. (bezieht sich auf die Arien in der Ausgabe: Poetisch-Musicalisches Lust Wäldlein, Das ist, Arien oder Melodeyen Etlicher theils Geistlicher, theils Weltlicher […] Lieder [...] zu singen gesetzt von Heinrich Alberten. Königsberg: [o.D.] 1648, und das Gesangbuch von: Peter Sohren: Musicalischer Vorgeschmack/ Der Jauchtzenden Seelen im ewigen Leben. Das ist/ Neu-außgefärtigtes/ vollständiges und mit Fließ durchsehenes nützliches Evangelisch-Luthrisches Gesang-Buch/ Darinnen Herrn D. Lutheri und aller anderer Geistreichen Gottseligen so wol Alten als Neuen Lehrer/ wolgesetzte Gesänge/ an der Zahl über 1100. Texten/ in richtiger Ordnung befindlich/ und mit Discant und Bass überzeichnet […]. Hamburg: Heinrich Völcker 1683). – Georg Christoph Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte in vier Büchern. Mit einer Notiz über den Autor und sein Buch hg. von Rudolf Philippi. Königsberg: Hartung 1886 (Publicationen und Republicationen der Königsberger literarischen Freunde, 1) (ND Hamburg: Verein für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V. 1994 [Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 80/1]), S. 412 f. – Irmgard Scheitler: Das geistliche Lied im Barock. Berlin: Duncker & Humblot 1982 (Schriften zur Literaturwissenschaft, 3), S. 207 f., Anm. 47, S. 209 f., Anm. 49 und S. 211 f. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Bd. 1 ff. Hg. von Klaus Garber. Hildesheim [u.a.]: Olms 2001 ff.; Bd. 7: Reval. Estnische Akademische Bibliothek, Estnisches Historisches Museum, Estnische Nationalbibliothek, Revaler Stadtarchiv [...]. Hg. von Sabine Beckmann und Martin Klöker (2003), Nr. 0475 ([Inc.:]»Amor, laß dich auch nun hören« = ZIESEMER I, S. 246 f.); Bd. 12: Riga, Akademische Bibliothek Lettlands, Historisches Staatsarchiv Lettlands, Spezialbibliothek des Archivwesens, Nationalbibliothek Lettlands, Baltische Zentrale Bibliothek […]. Hg. von Sabine Beckmann und Martin Klöker (2004), Nr. 0423 ([Inc.:] »Als der Himmel emsig war« = ZIESEMER II, S. 214 ff.). – Vor Abschluß dieses Aufsatzes konnten nur die Bände 1–16 ausgewertet werden. Zwey Heyraths=Gedichte […]. Königsberg: Johann Reusner (1648), kasuale Sammelschrift mit zwei deutschen Beiträgen, darunter als erster Beitrag Simon Dach: [Inc.:] »Sey erfrewt, mein Rittershusen«. Verzeichnet in: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 14), Bd. 7, Nr. 0420.

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folgenden Bänden dieses Handbuchs, die unter anderem für die Bibliotheken in Vilnius, die Nationalbibliothek Warschau und die Universitätsbibliothek ToruĔ geplant sind, werden sicherlich weitere Entdeckungen zu gewahren sein. Insbesondere werden durch dieses Handbuch Exemplare kasualer Einzeldrucke der Forschung zugeführt bzw. erstmals wieder nachgewiesen. Zum zweiten sind im Rahmen der ebenfalls von Osnabrück aus in den letzten Jahren unternommenen intensiven Bemühungen um die virtuelle Rekonstruktion der Altdrucke Königsberger Provenienz in Archiven und Bibliotheken Polens, Litauens und Rußlands die nach 1945 noch erhaltenen Königsberger Bestände, deren einstiger Reichtum an Dach-Drucken sich in Ziesemers Ausgabe abbildet, wieder zugänglich. 16 Dadurch konnten viele Gelegenheitsdrucke mit Dachschen Texten zurückgewonnen werden. Mit diesen beiden Projekten ist der ›Kernbereich‹ der poetischen Produktion Simon Dachs besser als zuvor zu dokumentieren, zumal sie selbstverständlich auf einer Autopsie der Drucke basieren. Zum dritten wird eine Dach-Bibliographie noch durch ein anderes Großprojekt wesentlich erleichtert und bereichert: Das VD 17 weist bereits jetzt neben weiteren bisher unbeachteten Exemplaren von Dach-Drucken vier unbekannte Gedichte nach. 17 Auch hier ist künftig mit einigen Zuwächsen zu rechnen. _______ 16

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Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) behauptet S. 997, ein »Großteil der lange in Königsberg verloren geglaubten Drucke hat sich inzwischen andernorts wiedergefunden, oder konnte durch inzwischen aufgefundene Zweitexemplare wettgemacht werden«. Diese verheißungsvolle Angabe zu den erhaltenen Beständen Königsberger Provenienz ist schlichtweg falsch! Vgl. zur wirklichen Situation: Axel E. Walter: Die virtuelle Rekonstruktion der versunkenen Königsberger Bibliothekslandschaft. In: Königsberger Buchund Bibliotheksgeschichte. Hg. von Axel E. Walter. Köln [u.a.]: Böhlau 2004 (Aus Archiven, Bibliotheken, Museen Mittel- und Osteuropas, 1), S. 695–786. Noch erschreckender aber ist, daß Dünnhaupts ›Nachweise‹ Königsberger Exemplare in Vilnius und St. Petersburg fast durchgängig unzutreffend sind. Vgl. dazu die Korrekturen von: Walter: Bemühungen um Simon Dach (wie Anm. 3), S. 97 ff. Stand Ende 2006. Bis dahin waren folgende Beiträge von Dach, die bislang nicht bibliographiert worden sind, im VD 17 nachgewiesen: 1) Intimatio genethliake[n] De Deo Conspicuo Facto In Carne Solemnibus Incarnationis Filii Dei/ Ex debito pietatis, & devotae gratitudinis officio publice proposita a Rectore & Senatu Academiae Regiomontanae […]. Königsberg: Reusner 1642 (Herzogin Anna Amalia-Bibliothek Weimar, Sign.: 4,4:38 [59e]). – 2) Honor Novissimus Dulcissimae/ Memoriae Matronae Catharinae Meieriae, Viri Clarissimi & Humanissimi Dn. M. Guilielmi Breuseri, Scholae Quedli[n]burg. Pro-Rectoris meritissimi, Coniugis Desideratissimae/ Consecratus a Fautoribu[s] & Amicis […]. Halberstadt: Kolwald [ca. 1651] (Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: Q 153.2° Helmst. [98]). – 3) (als lateinisches Parallelstück zu dem von Dach gelieferten deutschen Gedicht, das Dünnhaupt als Nr. 749 aufführt:) Amicum alloquium Quo Virum Doctißimum atq[ue] Clarißimum Dn. Johannes Sandium, […] Electori Brandeb. in noblissimo eius dicasterio quod in Borussia est a secretis Amicum & Fautorem meum magnum In funere Castißimae foeminarumq[ue] Lectißimae, Annae Winnenfengiae, Coniugis Eiusdem desideratissimae Ex pio affectu Consolari conabatur Simon Dachius 1651. 23. Augusti. Königsberg: Reusner 1651 (Herzogin Anna Amalia-Bibliothek Weimar, Sign.: 4° XXXVII:63 [112]). – 4) Votiva Acclamatio, Viro Plur. Reverendo, Clarissimo Eruditione Ac Virtute Praestantissimo Dn. Johanni Malinae, Crucisberga Silesio Antistiti hactenus Coetus Iuv. August. Confess. Vilnensi vigilantissimo & optime merito, Nunc vero

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Weitere Recherchen nach unbekannten Gedichten und Liedern Simon Dachs stehen in ihrem Aufwand und in ihrer Aussicht auf Erfolg in Abhängigkeit von den medialen Formen ihrer zeitgenössischen Publikation. Zugewinne, wenngleich quantitativ überschaubar, werden für eine Bibliographie sicherlich am einfachsten durch eine systematische Auswertung der verschiedenen Preußischen Gesangbücher zu erzielen sein. Für diese ›Werkgruppe‹ wären ebenso die in die litauischen Kirchengesangbücher übersetzten Lieder Dachs zu berücksichtigen. Vereinzelt fanden Kirchenlieder auch schon zu seinen Lebzeiten in Gesangbücher außerhalb des Herzogtums Eingang. Hier wäre etwa sein Lied »Ey so gebt Gott allerseits« zu nennen, das zuerst in die bis weit in das 18. Jahrhundert hinein sehr einflußreiche Kirchenliedersammlung Praxis pietatis melica (1647) des Kantors an der Berliner Nikolaikirche Johannes Crüger (1598 – 1663) einging. Ziesemer druckt es übrigens doppelt: einmal nach diesem Erstdruck, das andere Mal in abweichender Schreibweise nach dem Preußischen Gesangbuch von 1657. 18 Die Rezeption der Kirchenlieder löste sich bereits zu Lebzeiten des Dichters von dessen Person ab und tradierte sich seither als ein aus dem Gesamtwerk isolierter Strang in einem ganz spezifischen Kontaktraum gesellschaftlicher Kommunikation. Dünnhaupts Behauptung, daß »Dachs Kirchenlieder überhaupt nie in Einzeldrucken erschienen« 19 seien, stimmt nicht. Etwa zwei Drittel der bislang bekannt gewordenen Kirchenlieder Dachs sind zunächst als kasuale Epicedien entstanden, die übrigen wurden von ihm, wie in dem erwähnten Beispiel, eigens für die Gesangbücher verfaßt. Für die kasualen Verfasserschriften Dachs sind die einschlägigen Bestände in Wrocáaw, Berlin, Tübingen und London erfaßt. Durch die Osnabrücker Forschungsprojekte sind in den berücksichtigten mittel- und osteuropäischen Bibliotheken und Archiven auch die kasualen Sammelschriften sowie die erhaltenen Dach-Bestände Königsberger Provenienz erschlossen. Unter den großen europäischen Bibliotheken, die bedeutende Bestände an frühneuzeitlichen Drucken aus dem alten deutschen Sprachraum ihr eigen nennen, dürfte insonderheit noch die Nationalbibliothek in St. Petersburg, die eine einmalige Sammlung personaler Gelegenheitsdrucke besitzt, große Aussicht auf weitere Funde bieten. 20 Ich habe an anderer Stelle für Christoph Kaldenbach diese Be_______

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Pastori Ecclesiae Tilsensis primario, eiusdemq[ue] Districtus Archipresbytero, nec non Scholae Illustris Provincialis Inspectori ad officium hoch celebre legitime vocato, Exhibita a Fautoribus & Amicis in Academia Regiomontana viventibus. Anno 1658. Königsberg: Mense 1658 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sign.: Xc 580 [19]). ZIESEMER III, S. 92 f. und IV, S. 488 f. – Eine Doppeledition kommt bei Ziesemer noch in einem weiteren Fall vor, s. unten Anm. 83. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 997. Dünnhaupt widerlegt seine Behauptung selbst bibliographisch mehrfach und verweist auf die Kirchenlieder (allerdings keinesfalls immer), sobald ihm ein separater Einzeldruck bekannt wurde. Zu den dortigen Casualia-Beständen erstmals Klaus Garber: Auf den Spuren verschollener Königsberger Handschriften und Bücher. Eine Bibliotheksreise nach Königsberg, Vilnius und Sankt Petersburg. In: Altpreußische Geschlechterkunde 41 (1993), S. 1–22, S. 18 ff.; weiterhin Axel E. Walter: Königsberg, St. Petersburg, Vilnius. In: Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle »Literatur der Frühen Neuzeit« der Universität Osnabrück. Hg. von der Forschungsstelle »Literatur der Frühen Neuzeit« der Uni-

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stände mit reichem Ertrag ausgewertet. 21 Für Simon Dach wäre dies vielleicht mit der Aussicht auf ähnliche Erfolge, insbesondere in der lateinischen Abteilung, nachzuholen. Ob man irgendwo noch einmal auf eine geschlossene Sammlung wie einst überraschend in der Predigerbibliothek des Klosters in Preetz stoßen wird, 22 bleibt aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ungewiß. Die größte Lücke in unserer Kenntnis der Dachschen Dichtung stellt seine ›Frühzeit‹ dar. Dünnhaupts Bibliographie und Ziesemers Ausgabe der deutschen Gedichte setzten erst mit dem Jahre 1630 ein. Michael Schilling hat allerdings vor einigen Jahren ein unbekanntes Gedicht aus Dachs Magdeburger Gymnasialzeit entdeckt. 23 Dach kehrte 1626 wieder nach Königsberg zurück und immatrikulierte sich an der dortigen Universität. Bis Ende 1637 trat er als Dichter nur selten in Erscheinung, verfügte er offenbar nur über ein wenig gefestigtes Netzwerk von Beziehungen zu Angehörigen des führenden städtischen Bürgertums und der landesherrlichen Beamtenschaft – und somit nur über wenige Auftraggeber für kasuale Beiträge. Gerade einmal neunzig Gedichte sind aus diesen ersten Jahren, deutlicher zweisprachig ausgerichtet als in den folgenden zwei Jahrzehnten, bisher ermittelt. Erst mit seiner Präsentation als poetische Begabung sowohl vor dem Kurfürsten als auch im gleichen Jahre 1638 in der bürgerlichen Öffentlichkeit als Hauptbeiträger zum ersten Band der Arien entwickelte Dach sich zum führenden Poeten in Königsberg – und von dort aus im gesamten Herzogtum. Gleichwohl erscheint es doch kaum vorstellbar, daß er in den Jahren nach seiner Rückkehr nach Königsberg an den dort längst etablierten gesellschaftlichen Kommunikationsformen, die zu allen möglichen Gelegenheiten poetische Beiträge einforderten, nur so gering partizipiert haben sollte, zumal doch gerade Studenten sich ihre ersten Sporen in der Gelehrtenrepublik gerne poetisch verdienten. Wenn Ziesemer für diese Jahre keine Dichtungen entdecken konnte, muß das nicht bedeuten, daß es sie nicht gab, wie Schillings Fund belegt. Für Dach ist der durchaus ungewöhnliche Fall festzustellen, daß seine Dichtung unter den ansonsten doch gerade in den Bibliotheken vor Ort am vollständigsten verwahrten regionalen Kleinschriften keineswegs am reichsten gesammelt gewesen war. 24 Zudem dürfte er als junger Poet in erster Linie als _______ 21 22 23

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versität Osnabrück. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 2000 (Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, 3), S. 69–92, hier S. 79–82. Axel E. Walter: Caldenbachiana in St. Petersburg. Ein Beitrag zur Bibliographie des Königsberger Dichterkreises. In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 1), S. 963–993. Dieter Lohmeier: Simon Dach-Drucke in der Predigerbibliothek des Klosters Preetz. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 3 (1976), S. 172–174. Michael Schilling: Simon Dach in Magdeburg. Ein unbekanntes Epicedium aus der Schulzeit des Königsberger Poeten. In: Memoria Silesiae. Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928 – 1992). Hg. von Mirosáawa Czarnecka, Andreas Solbach, Jolanta Szafarz [u.a.]. Wrocáaw: Wydawn. Uniw. Wrocáawskiego 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2504), S. 367–377. Die Durchsicht der Verzeichnisse der großen Königsberger Bibliotheken aus der Mitte des 18. Jahrhunderts fördert zwar Bände mit Gedichten von Etmüller, Derschau oder Röling zutage, gibt aber keine vergleichbaren Konvolute mit Dachdrucken zu erkennen. Zu den einstigen Königsberger Dach-Beständen jetzt mein in Anm. 3 genannter Aufsatz, S. 56–60.

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Beiträger zu kasualen Sammelschriften aufgetreten sein, so daß die Ermittlung schwieriger fällt als bei den Verfasserschriften. Wie jede gediegene Bibliographie kann ein entsprechendes Vorhaben zu Dach also trotz aller Vorarbeiten natürlich nicht ohne eigene Bibliotheksrecherchen auskommen. Sie dürfen sich zunächst vorrangig auf die in Königsberg gedruckten Schriften konzentrieren, da Dach nur relativ selten außerhalb des Herzogtums Preußen als poetischer Beiträger auftrat; sie müssen aber selbstverständlich in ausgewählten Bibliotheken systematisch auf die zu seinen Lebzeiten im protestantischen Norden und Osten gedruckten Casualia ausgedehnt werden, soweit diese noch nicht in anderen Projekten ausgewertet worden sind. Unterblieben ist bislang eine systematische Suche nach Widmungsgedichten Dachs. In der deutschen und erst recht in der europäischen Gelehrtenrepublik seiner Zeit stand er bemerkenswert isoliert da, in die gängigen Formen gelehrter und poetischer Kommunikation war er außerhalb der Grenzen des Herzogtums kaum eingebunden. Briefe sind von ihm überhaupt nicht überliefert, ob sie jemals existierten, erscheint fraglich, denn es zeigt sich mehrfach, wie Dach das ihm anstammende Medium des Gedichts dazu nutzte, persönliche Anliegen vorzutragen. 25 Widmungszuschriften lieferte er offenbar ebenfalls nur selten und – soweit gegenwärtig zu übersehen – dann fast nur zu Schriften, die in Königsberg gedruckt wurden; gleichwohl darf man sich auch hier natürlich nicht auf den Druckort beschränken. 26 Doch blieben vordringlich die zeitgenössischen Schriften von Angehörigen der Königsberger Universität auszuwerten. Mit Arnoldts Historie der Königsbergischen Universität 27 und Pisanskis Literärge_______ 25

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So nutzt er mehrfach die Form des Gedichts, um finanzielle Angelegenheiten gegenüber kurfürstlichen Beamten vorzutragen; es handelt sich in diesen Fällen um poetische Gesuche, die in einer halbamtlichen Kommunikation mit Entscheidungsträgern des frühabsolutistischen Fürstenstaates den doch dafür gemeinhin genutzten Brief zu ersetzen scheinen. Vgl. bes. die finanziellen Bittgedichte aus dem Herbst 1646: »An Hn. Johann Reimann, ObristenLieutenant vnd Hauptmann zu Ragnit.« In: ZIESEMER I, S. 166; »An Hn. Ahasverus Brand Obermarschall.« In: ZIESEMER I, S. 166 f.; »An Johann Jordan Churfl. Br. Pr. Cammerschreiber.« In: ZIESEMER I, S. 170 f., die alle ›Eingaben‹ um die Auszahlung des Dach vom Großen Kurfürsten zusätzlich zu seinem Gehalt zugestandenen Gnadengelds formulieren. Diese Gedichte gehören übrigens in die Vorgeschichte der »Danckbarliche[n] Auffrichtigkeit« (vgl. dazu unten Anm. 157). Auch das Dankgedicht für eine Lieferung Holz »An die Fr. von Möllensche Barbara gebohrne Elertin.« In: ZIESEMER I, S. 171 f., war nur in der Handschrift des Königsberger Staatsarchivs überliefert. Als er im Herbst 1652 erneut finanzielle Bitten vorzutragen hatte, wählte Dach wieder die Gedichtform: »An die Hn. Ober=Rähte.« In: ZIESEMER I, S. 295 f., vgl. auch »An Hn. Friedrich Schlieben Hauptmann zur Tilsit.« In: ebd., S. 297. Beide waren ebenfalls nur in dieser Handschrift erhalten. Ein Beispiel behandelt: Joachim Dyck: »Lob der Rhetorik und des Redners« als Thema eines Casualcarmens von Simon Dach für Valentin Thilo. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5 (1978), Heft 1, S. 133–140; es ist zugleich einer der ganz wenigen Forschungsbeiträge zu einem lateinischen Gedicht Dachs. – Vgl. auch unten Beispiel 1, Text 2 sowie – als Beleg eines Widmungsgedichts außerhalb Königsbergs – die Anm. 171. Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. 2 Teile. Königsberg: Johann Heinrich Hartung 1746; ders.: Zusätze zu seiner Historie der Königsbergischen Universität. Nebst einigen Verbesserungen derselben, auch zweyhundert und funfzig Lebensbeschreibungen Preußischer Gelehrten.

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schichte stehen zwei Werke zur Verfügung, die eingehend über die Schriften der Universitätsangehörigen informieren und als ›Leitfäden‹ für bibliographische Recherchen dienen können. Nicht in den Aufgabenbereich des Poetik-Professors, sondern in den des Professors für Beredsamkeit fielen damals die Orationen und Intimationen, mit denen die Universität anläßlich von Promotionen oder Todesfällen von Angehörigen des akademischen Rechtsbereichs aufwartete. Valentin Thilo (1607 – 1662), zum engeren Freundeskreis um Dach zählend, übte dieses Amt seit 1634 aus. 28 Er gab seine zu diesen diversen Anlässen gehaltenen Reden in mehreren Bänden heraus. 29 Die intimationes, die jeweils als Separatdrucke erschienen, bieten für die jeweiligen Adressaten wertvolle biographische Ergänzungen für eine Untersuchung der Gelegenheitsgedichte Dachs, die nicht selten zu den gleichen Anlässen entstanden. 30 Es bleibt noch im einzelnen zu untersuchen, inwieweit sich Dach über die zu seinen Amtspflichten gehörenden Festdichtungen an den verschiedenen medialen Formen der akademischen Kommunikation beteiligte. Das steht in erster Linie für Dissertationen und Disputationen zu erwarten, die häufig mit Gedichtbeigaben versehen waren. Hier wird eine Zusammenarbeit mit dem Projekt von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski sicherlich Früchte tragen, wobei erneut die Recherchen vornehmlich auf Königsberger Drucke konzentriert werden dürften. 31 Bereits jetzt sind auch hier erste Funde zu vermelden. 32 _______

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Königsberg: Johann Heinrich Hartung/ Witwe 1756; ders.: Fortgesetzte Zusätze zu seiner Historie der Königsbergischen Universität. Nebst Nachrichten von dreyhundert und eilf Preußischen Gelehrten, auch Zusätzen zu des Herrn Profeßor Hambergers itztlebendem gelehrten Deutschland, und Verbeßerungen desselben. Königsberg: Johann Daniel Zeisen/ Witwe, Johann Heinrich Hartung/ Erben 1769; ND aller vier Bände: Aalen: Scientia 1994. Zum ihm die jeweils knappen Einträge von Emil Joh. Guttzeit: (sub verbo). In: APB 2, S. 730; und: Ulrich Maché: (sub verbo). In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 11. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1991, S. 336. – Als Kirchenlieddichter und Verfasser rhetorischer Lehrbücher war Thilo nicht nur ein produktiver, sondern seinerzeit auch ein über die Grenzen des Herzogtums hinaus bekannter Autor, der weit mehr als Dach in die kulturellen Austauschprozesse zwischen dem Herzogtum und der übrigen Gelehrtenrepublik integriert war. Eine Behandlung seines Werks bildet ein dringendes Desiderat der kulturgeschichtlichen Forschung zu Königsberg im 17. Jahrhundert. S. die von Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 13), S. 400 ff. genannten Titel; vgl. auch den Anhang von Manfred Komorowski in diesem Band, S. 62 f. Den Königsberger Sammlern war das bewußt: So finden sich etwa in den Konvoluten der Wallenrodtschen Bibliothek, die Dach-Drucke versammeln, diese Reden und Intimationes mit den Gedichten zusammen den jeweiligen Adressaten zugeordnet; z.B. im Band SS 40 (W), heute Akademiebibliothek St. Petersburg, Sign.: 1278.q./10864–11074. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) gibt ihn für die Akademiebibliothek Vilnius an! Vgl. zu diesem Projekt den Beitrag dieser beiden führenden Königsberger Universitätshistoriker: Erfassung und Erschließung von Königsberger Universitätsschriften der Frühen Neuzeit – Eine Projektskizze. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (wie Anm. 16), S. 787–800. Nachgewiesen sind: 1) ein unbekannter Beitrag Dachs in der: Disputatio juridica de injuriis. Königsberg: Johann Reusner 1646, die der Livländer Franz Hermann von Puttkamer unter dem Präsidenten Adam Riccius im April 1646 respondierte. – 2) ein Exemplar von: De veterum symbolis, civilibus & ecclesiasticis, dissertatio philologica. Regiomonti:

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Freilich läßt sich für eine Dach-Bibliographie anhand der Einzeldrucke und der seit seinen Lebzeiten in verschiedene Sammelwerke, Kirchengesangbücher und andere gedruckte Medien aufgenommenen Gedichte und Lieder keine Vollständigkeit mehr erreichen. Die vorrangige Publikationsform der Dichtungen Dachs als kasuale und damit nur in geringen Auflagen und wenig über den Ort des Ereignisses hinaus verbreitete Einzeldrucke 33 hat von Anfang an Verluste begünstigt. Bereits Ziesemer konnte ein Dutzend Gedichte nicht mehr nachweisen, die Mitte des 18. Jahrhunderts von der Königlich Deutschen Gesellschaft in Königsberg im Neuen Büchersaal gemeldet worden waren. 34 Mit dem Untergang der Königsberger Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg hat sich der Druckbestand noch einmal dezimiert, 35 so viel inzwischen auch wiedergefunden werden konnte. Über die Jahrhunderte ist zudem einiges verloren gegangen, was sich einstmals nur in privaten Sammlungen befand. Im bibliophilen 18. Jahrhundert _______

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Johann Reusner 1655 (Respondent: Johann Pedanus aus Sensburg), zu dem Dach neben Heinrich Bussenius ein Glückwunschgedicht beitrug. Zu Bussenius (1626 – 1665), der 1651 in Königsberg den Magister erworben hatte und 1656 Rektor der Kneiphöfischen Schule wurde vgl. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 13), S. 260; Arnoldt: Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 124, und Bd. 4, S. 59. ZIESEMER II, S. 359, Nr. 74, kannte Dachs Gedicht »Symbola si tollis rerum, sermone carebo« nur aus einem Band des Königsberger Staatsarchivs; die Datenbank weist nun für dieses verlorene Exemplar eines in der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel nach. – Die Adresse: http://www.forschungen-engi.ch/publikationen/publikationen.htm. Zur Auflage und Verbreitung von Gelegenheitsdrucken vgl. die grundlegenden Bemerkungen von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977, S. 190–192. Vgl. Walther Ziesemer: Einleitung. In: ZIESEMER IV, S. V–VII, hier S. V. An dieser Stelle sei als Beispiel nur auf die: Chur=Brandenburgische Rose/ Adler/ Löw und Scepter/ von Simon Dachen/ Weyland Prof. Poëseos auff Chur=Brandenburgischer Preußischer Akademie Königsberg Poëtisch besungen. […] Königsberg: Friedrich Reusner Erben [1680/81] eingegangen. Ich benutze hier und im folgenden das Exemplar aus der Universitätsbibliothek Wrocáaw (Sign.: 353528 [ehem. 4 E 220]). Verschollen ist eine offenbar als Einzeldruck erschienene Sammlung von vier Dach-Gedichten, die Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) unter Nr. 1140 aufführt. Das hier von ihm wieder einmal in die Akademiebibliothek Vilnius verlagerte Konvolut SS 42 (W) befindet sich dort nicht, es ist vielmehr bis heute nicht wieder nachzuweisen! Es bleibt deshalb offen, woher er seine diplomatische Titelansetzung hat. Seine Angabe, daß in dieser Sammlung auch die bekannte »Unterthänigste letzte Fleh=Schrifft an Seine Churfürstl. Durchl. meinen gnädigsten Churfürsten und Herrn.« (In: ZIESEMER II, S. 262) als viertes und letztes Stück stand, bleibt somit erst noch zu verifizieren. In der Chur=Brandenburgische[n] Rose finden sich die hier zusammengeführten Gedichte auf Bl. Y[1]v–[Y4]r, bei ZIESEMER II, S. 255 ff. – Aber andernorts sind natürlich ebenfalls Kriegsverluste zu beklagen, so auch in dem vom Kriege nicht minder schwer getroffenen Breslau. Hier ist der einzige Ziesemer bekannte Erstdruck (die von ihm angegebene Sign.: »Brand. fol. 5 Tom. IX 44«; der Band gehörte also nicht zur Sammlung von Arletius) verloren von: »Unterthänigste Pflicht/ welche der Gnädigsten Churfürstin bey Jhr. Churfürstl. Durchl. höchst=erfrewlichen Ankunfft in Dero Hertzogthumb Preußen und Residenz Königsberg in einer feyerl. Music schuldigst erwiesen von sämptlichen Studiosis Preuscher Nation auff der hiesigen Churfürstl. Universitaet Königsberg 1655. 15. ChristM.« (Chur=Brandenburgische Rose: Bl. T[i]v–Tijr; ZIESEMER II, S. 242 f.). Dünnhaupt a.a.O. weist bei seiner Nr. 1045 auf den Kriegsverlust hin – und setzt dann aus der Chur=Brandenburgische[n] Rose einen diplomatischen Titel an, den er am Ende nur dahingehend ergänzt, daß er ohne Druckerangabe erschienen sei!

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waren Privatbibliotheken mit mehr als 10.000 Bänden nicht selten; an vielen Orten übertrafen sie nicht nur in ihrer Größe, sondern in ihrer Bedeutung für das gelehrte Leben die ›öffentlichen‹ Bibliotheken. 36 Die Wallenrodtsche Bibliothek in Königsberg und vor allem die Sammlung von Arletius in Breslau sind Beispiele dafür, welche Rolle privaten Sammlungen auch für eine DachPhilologie zugewachsen war. Daß auch andernorts unikate Einzeldrucke existierten, hatte bereits Ziesemer für seine Dach-Ausgabe feststellen können. Eine vage Vorstellung davon, was hier über die Zeitläufte eingebüßt worden sein dürfte, gewinnt man aus Lausons Lobrede auf Dach aus dem Jahre 1759. 37 Er zitiert ausführlicher aus zwei Gedichten seines dichterischen Vorgängers (»Du stiller Wald von Anmuth reich« und »Du kühler Frischingk, dessen Bach«), die Ziesemer beide nur noch aus der Handschrift des Staatsarchivs kannte. 38 Lauson wiederum wußte von dieser Handschrift nichts, er hatte für seine Rede aber Zugang zu Pisanskis Sammlung und scheint seine Vorlagen dort gefunden zu haben. Pisanski (1725 – 1790) hinterließ in seiner Privatbibliothek die nach Arletius größte Dach-Sammlung, die jemals in ›öffentlichen‹ Bibliotheken oder privaten Händen nachzuweisen war. 39 Sie ist seit der Auktion seiner Bibliothek verschollen. _______ 36

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Vgl. die Beiträge in dem Band: Öffentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammern, Forschungsinstrumente oder Bildungsstätten? Hg. von Paul Raabe. Bremen [u.a.]: Jacobi 1977 (Wolfenbütteler Forschungen, 2); weiterhin einführend: Horst Gronemeyer: Bibliophilie und Privatbibliotheken. In: Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. (Paul Raabe zum 60. Geburtstag gewidmet.) Hg. von Werner Arnold, Wolfgang Dittrich und Bernhard Zeller. Wiesbaden: Harrassowitz 1987, S. 461–472; als Forschungsaufriß: Hermann Staub: Privatbibliotheken der frühen Neuzeit: Probleme ihrer Erforschung. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 9 (1984), S. 110–124. Zu Königsberger Privatsammlungen der Aufsatz von Janusz Tondel: Auktionskataloge im alten Königsberg. In: Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte (wie Anm. 16), S. 353–415; demnächst auch Axel E. Walter: Die Königsberger Universitätsbibliothek in der Frühen Neuzeit. In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski unter Mitarbeit von Karin MartiWeissenbach. Köln [u.a.]: Böhlau 2008 [im Druck]. Johann Friedrich Lauson: Das lorrbeerwürdige Andenken eines vor hundert Jahren verstorbenen großen Preußischen Dichters, M. Simon Dach, wagte sich vor einer ansehnlichen Versammlung in der Domschule zu Königsberg in einer Gedächtnißrede zu erneuren […]. Königsberg: Driest 1759, S. 25 ff. Beide in: ZIESEMER I, S. 195. Catalogus Bibliothecae, omni scientiarum genere, praesertim libris rarissimis & rarioribus, nec non ad theologiam & borussiae historiam spectantibus & manuscriptis instructae, viri dum viveret summe reverendissimi & doctissimi Georgii Christophori Pisanski […]. Königsberg: Driest [1791], S. 164 f. Pisanski hatte demnach folgendes zusammengebracht: »Eine Sammlung von 80 Gedichten der Königsberger Professoren der Poesie, Georgi, Vogt, Boy und Dach. Sim. Dachs Churbrand. Rose etc. 1680. Desselben einzelne Gedichte auf mancherlei Vorfälle, mehr als 600 Stücke, Volumina II. Ein geschriebenes Verzeichnis der sämtlichen Gedichte des Sim. Dach«. Philippi gibt in seiner Vorrede zu Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 13) an, daß das einzige erhaltene Exemplar dieses Auktionskatalogs sich im Besitz der Königlich Deutschen Gesellschaft in Königsberg befinde (S. XVI). Es ist von da über die Königsberger Stadtbibliothek nach 1945 in die Universitätsbibliothek ToruĔ gelangt (heutige Sign.: Pol. 8. II. 2940). Nach diesem seltenen Exemplar wurde hier zitiert.

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Neben den gedruckten Schriften Simon Dachs gab es einst eine durchaus beachtliche handschriftliche Überlieferung. Naturgemäß ist die Gefahr des Verlusts dieser materiellen Überreste noch größer. Das Beispiel des »Grethke«Lieds zeigt, daß einige Texte Dachs schon zu seinen Lebzeiten wohl nur in Abschriften verbreitet waren. 40 Erhalten hat sich lediglich ein Autograph von Johann Stobäus in der British Library. Es wurde Anfang des Jahres 1640 abgeschlossen und enthält zehn Lieder Dachs. 41 Nur handschriftlich vorhanden – und in dieser Form noch eineinhalb Jahrzehnte nach Dachs Tod in Königsberg greifbar – waren offenkundig einige Kirchenlieder: So fanden in das Preußische Gesangbuch von 1675 zehn Lieder Aufnahme, für die bislang keine früheren Publikationen nachzuweisen sind. 42 Von den in die Chur=Brandenburgische Rose aufgenommenen Gedichten erschienen zwar die meisten zuvor als Separatdrucke, einige befanden sich nur in den Arien, jeweils eines entstammte dem Preußischen Gesangbuch von 1657 43 und den Preußischen Fest-Liedern von 1642. 44 Doch für knapp ein Drittel der Gedichte lassen sich erneut (noch) keine früheren Publikationsorte ermitteln. 45 Auch wenn bei dieser Textsorte, deren re_______ 40 41

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Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Jahn in diesem Band. Vgl. zu dieser Handschrift: Robert Priebsch: »Grethke, war umb heffstu mi« etc., das »Bauer-Lied« Simon Dachs. In: Miscellany presented to Kuno Meyer by some of his friends and pupils on the occasion of his appointment to the chair of celtic philology on the university of Berlin. Hg. von Osborn Bergin und Carl Marstrander. Halle: Niemeyer 1912, S. 65–78. Sie sind bei ZIESEMER IV, S. 493–504 ediert. [Inc.:] »Ist es sicher oder nicht« (Chur=Brandenburgische Rose [wie Anm. 35], Bl. Hiijr– I[i]r; ZIESEMER II, S. 184 ff.). [Inc.:] »Du gesegneter des Herren« (Chur=Brandenburgische Rose [wie Anm. 35], Bl. E[i]v–Eijv; ZIESEMER II, S. 167 f.). Das betrifft insgesamt 17 Gedichte. Zum benutzten Exemplar vgl. Anm. 35. Die Angaben übernehmen die Überschriften der Chur=Brandenburgische[n] Rose: (Bl. A[i]r–Aijr:) »Bey Oratorischem Act, Am Churfürstl. hohen Geburts=Tage/ von vier Preußischen von Adel in der Königsbergischen Academie angestellet.« (= ZIESEMER II, S. 145 f.). – (Bl. [C4]r–v:) »An Churfürstl. Durchl. alß auff Dero Gnädigsten Befehl/ Balthasar=Ludwichen von Setchawen/ Preuß: Jägermeisters Adeliche Leiche auff das Königsberg. Residentz=Hauß eingebracht ward/ im Jahr 1640.« (= ZIESEMER II, S. 158 f.). – (Bl. [D4]v–E[i]v:) »Bey Oratorischem Act, nach und über jetztgedacht=höchst=betrawerlichen Churfürstl. Leichbegängnüß in dreyen Morgenländischen Sprachen auff der Königsb. Academie den 3. OsterM. 1642. gehalten.« (= ZIESEMER II, S. 165 f.). – (Bl. Eiijr–[E4]r:) »Auff Sr. Churfl. Durchl. hochheiliges Symbolum; Domine fac me scire vias tuas.« (= ZIESEMER II, S. 172 f.). – (Bl. Fijv–Fiijr:) »Sehnliche Klage des Hertzogthumbs Preußen/ über obhandener Abreise/ in der Melodey des 115. Psalms im Lobwasser zu singen.« (= ZIESEMER II, S. 175 ff.). – (Bl. Fiijv–[F4]v:) »Hertzliches Bethlied/ umb ferneren Auffwachs des HochFürstl. Hauses zu Brandenburg/ und sonderlich umb beständiges Wolergehen unsers gnädigsten ChurFürstens und Herrens/ als der noch einigen Seulen unsers lieben Vaterlandes; Allen getrewen Einwohnern dieses Hertzogthumb[!] zu flehen/ und in der Weise wie nach einer Wasserquelle zu singen 1644.« (= ZIESEMER II, S. 177 f.). – (Bl. G[i]r–Giijr:) »Bey unverhofft= und höchsterfrewlicher Ankunfft Sr. Churfl. Durchl. in Dero Hertzogthumb Preußen/ und Residentz Königsberg 13. Horn. 1645.« (= ZIESEMER II, S. 178–181). – (Bl. Giijr–Hijr:) »An Jhre Majest. Die Verwittibte Königin in Schweden/ Fr. Fr. Maria Eleonora Geb. MargGräffin und Churfürstl. Princeßin zu Brandenburg/ [et]c. [et]c. als Selbige Sich bey Dero Churfürstl. Hohen Anverwandten in Königsberg auff dem Preußischen

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präsentativer Anspruch noch ausgeprägter war als bei der übrigen Kasuallyrik,46 handschriftliche Versionen um die Mitte des 17. Jahrhunderts schon eher eine Ausnahme gebildet haben, sind sie nicht auszuschließen – ebensowenig natürlich künftige Funde. Die Unterzeichnung der Vorrede der ersten Ausgabe durch des »Seel. Simon Dachens Wittwe und Erben« 47 würde dann darauf schließen lassen, daß sich Gedichtmanuskripte über den Tod Dachs hinaus in Familienbesitz befunden hätten. Das bekannteste Manuskript ist jenes aus dem einstigen Königsberger Staatsarchiv. Es ist zugleich – neben den Breslauer Manuskripten 48 – das einzige, über das sichere Nachrichten existieren. Da sich in dieser Handschrift weder die erwähnten Kirchenlieder noch die Gedichte aus der Chur=Brandenburgische[n] Rose befanden, kann also in Königsberg – einschließlich des StobäusAutographs – von mindestens vier handschriftlichen Überlieferungssträngen ausgegangen werden, deren Ursprünge jeweils im 17. Jahrhundert lagen. Ob sich daraus auf Initiativen des Königsberger Umfelds von Dach für eine Ausgabe spekulieren läßt, muß dahin gestellt bleiben. Mit Ausnahme der Stobäus-Handschrift ist diese handschriftliche Überlieferung heute verloren. Was wir über die Handschrift aus dem Staatsarchiv Königsberg wissen, ist ausschließlich zwei Aufsätzen von Walther Ziesemer aus dem Jahre 1924 zu verdanken. Eine erste Nachricht über dieses Manuskript fand sich bereits im _______

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Residentz=Hauß eine Zeitlang auffgehalten/ den 20. Hornung 1645.« (= ZIESEMER II, S. 181–184). – (Bl. Miijv:) »Jm Königsbergischen Collegio beym Orator Act. Damahls gesungen.« (= ZIESEMER II, S. 209). – (Bl. R[i]r–Riijr:) »Da Se. Churfürstl. Durchl. unser gnädigster/ Herr Jhren höchst=angenehmen Gebuhrts=Tag beginge[n]/ und in Jhr 35stes Jahr traten/ 1654. den 16. Horn.« (= ZIESEMER II, S. 232–235). – (Bl. Riijr–[R4]v:) »Bey abermahligem durch des Allerhöchsten Gnade erlebten und begangenen erfrewlichsten Chur=Fürstl. Hohen Gebuhrts=Tag 1655. 16. Horn.« (= ZIESEMER II, S. 235 ff.). – (Bl. Siijv–T[i]r:) »Bey höchst=sehn= un[d] erfrewlicher Ankunfft beyder ChurFürstl. Durchl. in dero Hertzogthum Preußen und Residentz=Stadt Königsb. 1655.« (= ZIESEMER II, 240 ff.). – (Bl. V[i]v–Vijv:) »Liebreiches Schreiben Chur=Printzl. Durchl. Hr. Hr. Carol Aemilius, gleich eben auch an demselben Jhrem Gebuhrts=Tag an die Fr. Mutter Unsere Gnädigste Churfürstin und Fraw.« (= ZIESEMER II, S. 246 f.). – (Bl. X[i]v–[X4]r:) »Unterthänigste Auffwartung/ als Jhre Hoch=Fürstl. Durchl. die Hertzogin aus Churland/ Fr. Fr. Loysa Charlotta/ gebohrne Marggräffin und Churfürstl. Princeßin zu Brandenburg [et]c. [et]c. Dero hohe Churfürstl. Bluts= und Anverwandten in Begleitung eines Fürstl. Printzen und zwey Fürstl. Fr. zu Königsberg in Preüssen ersuchten/ und vorgedachter Hoch=Fürstl. Tauffe beywohnten.« (= ZIESEMER II, S. 251 ff.). – (Bl. [X4]v:) »Geringe doch trew=gesinnte Music/ Jhr. Fürstl. Gnaden Hn. Hn. Friedrich Casimiru[!]/ in Lieffland/ Churland und Semgallen Hertzogen/ den 30sten HewM. erwehnten Jahres von 4. Knaben eines Hauses gebracht.« (= ZIESEMER II, S. 254). – (Bl. [X4]v–Y[i]r:) »An die anwesenden zwey Fürstl. Fr. und jetzt gedachten Fürstl. Printzen aus Churland.« (= ZIESEMER II, S. 254 f.). – (Bl. Zijv–[Z4]r:) »Erst=Jährliche Gebuhrtß=Feyer Sr. Fürstl. Durchl. Hn. Hn. Friedrichs/ Marggraffen zu Brandenburg/ in Preußen/ [et]c. [et]c. [et]c. Hertzogen [et]c. [et]c. den 1/11. HewM. 1658. schuldigst begangen.« (= ZIESEMER II, S. 260 f.). Vgl. dazu Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen: Niemeyer 1997 (Frühe Neuzeit, 34). Chur=Brandenburgische Rose (wie Anm. 35), [Bl. 2v]. Dazu am ausführlichsten Hermann Oesterley: [Einleitung.] In: OESTERLEY, S. 5–9.

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Jahrgang 1839 der Preußischen Provinzialblätter in einem »Verzeichnis der bis jetzt gesammelten Gedichte von Simon Dach«, das offenbar in Vorbereitung einer Dach-Ausgabe entstanden ist. 49 Wie aber schon rund einhundert Jahre zuvor im Umfeld Leipzig-Breslau und damit von Gottsched und Arletius realisierte sich dieser Plan nicht, 50 sondern gelangte über ein frühes Stadium der Diskussion nicht hinaus. Oesterley blieb diese Handschrift aus dem Staatsarchiv verborgen, obwohl er 1873 in der Altpreußischen Monatsschrift einen Aufruf lanciert hatte, daß es »für jeden Preußen eine Ehrenpflicht ist nach Kräften dabei mitzuwirken, daß die Werke dieses echtpreußischen Dichters so vollständig wie möglich gesammelt werden«. 51 Aber einen Hinweis auf das Manuskript erhielt er aus Königsberg offenkundig nicht, auf den Aufsatz in den Provinzialblättern stieß er ebensowenig. 52 Erst Ziesemer wertete es aus. 53 Unter den mehr _______ 49 50

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In: Vaterländisches Archiv für Wissenschaft, Kunst, Industrie und Agrikultur oder Preußische Provinzial-Blätter 22 (1839) 458–475, hier S. 460. Ungeklärt (und mysteriös) ist in diesem Zusammenhang das Schicksal der bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts offenkundig bedeutendsten privaten Sammlung an Dach-Drucken, die der Königsberger Stadtsekretär Heinrich Bartsch (1667 – 1728) zusammengetragen hatte. Er übersandte sie kurz vor seinem Tod nach Leipzig an Gottsched, der später in einer Anmerkung zum Artikel: Der königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen Schreiben, auf das, von Hrn. Professor Arlet ausgefertigte Verzeichniß, der deutschen und lateinischen Gedichte von Simon Dachen. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 10 (1750), S. 149–156, hier S. 151, angab, sie »niemals wirklich erhalten« zu haben. Ob Gottsched vielleicht jener ungenannte Gönner und Freund war, dem Arletius öffentlich für eine große Zahl von Dach-Drucken dankte? Vgl. [Johann Caspar Arletius:] Zuverlässige Nachricht von der Ausgabe einiger trefflichen deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 7 (1748), S. 253–267, hier S. 261. Die Möglichkeit, daß sich hier ein Ursprung der Arletius-Sammlung erkennen lassen könnte, ist keineswegs auszuschließen: Die beiden noch 1723 von [Gottlieb Siegfried] Bayer: Das Leben Simonis Dachii eines Preußischen Poeten. In: Erleutertes Preußen 1 (1723/24), S. 159–195 und 855–857, zitierten lateinischen Gedichte Dachs sind später nicht mehr in Königsberg, wohl aber in Breslau nachzuweisen. Hermann Oesterley: Aufforderung in Betreff der Gedichte von Simon Dach. In: Altpreußische Monatsschrift 10 (1873), S. 379–383, hier S. 380. Erst siebzig Jahre später findet sich ein erneuter, nunmehr pauschaler Hinweis auf diese Handschrift unter den »Mitteilungen« in der Zeitschrift Euphorion 16 (1909), S. 241: »Herr Regierungsrat a. D. Franck in Königsberg hat im dortigen Staatsarchiv einen Quartband mit etwa 250 Gedichten Simon Dachs gefunden, der in der Churbrandenburgisch-Preußischen Kanzlei entstanden ist; Abschriften, wie es scheint, nicht nur nach Drucken.« Ziesemer stellte zwei Schreiberhände fest, die er auf die Mitte des 17. Jahrhunderts datierte, aber nicht zuordnen konnte. Im ersten Teil enthielt die Handschrift 110 Gedichte Dachs und einen Anhang, »der vier deutsche und ein lateinisches Gedicht aus den Jahren 1653, 1654 und 1658 enthält.« (Dieses und die folgenden Zitate in: Walther Ziesemer: Neues zu Simon Dach. In: Euphorion 25 [1924], S. 591–608, hier S. 594.) Der zweite Teil umfaßte 200 Gedichte, die, »soweit sie datiert sind, aus der Zeit bis 1651« stammen. Hierbei handelte es sich zum größten Teil um Abschriften gedruckt vorliegender Texte, die »sachlich« geordnet sind; wobei nicht erkennbar wird, ob diese ›Sachgruppen‹ – »Hochzeitsgedichte«, »weltliche Lieder vielfach schäferlichen Charakters«, »Gedichte an den Kurfürsten«, »Arien aus dem Prussiarchus«, »Gedichte an das Haus Brandenburg=Preußen« und »Verschiedenes, meist Gratulationsgedichte« – vom Schreiber oder von Ziesemer so bezeichnet wurden. Letzteres scheint im Blick auf Ziesemers spätere Ausgabe das Wahrscheinlichere.

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als 300 Gedichten befanden sich 73 bis dahin unbekannte Texte. Von ihnen waren nur wenige an Personen oder spezifische Anlässe gebunden. In ihrem Ton und ›Gehalt‹ sind viele dieser unbekannten Texte den Liedern Dachs in den Arien durchaus vergleichbar. Wie gut gerade sie dem festgefügten Bild des Dichters einzupassen sind (und es nochmals tiefer konturieren), findet einen sprechenden Beleg darin, daß Kelletat in seine Reclam-Ausgabe (nach Ziesemers Abschriften) 18 Texte daraus aufnahm, womit diese Handschrift innerhalb des Gesamtwerks einen exponierten Stellenwert zugewiesen erhält. Ihr Verlust wird sich für die nur dort erhaltenen Texte aus den genannten Gründen voraussichtlich nur selten aus zeitgenössischen Einzeldrucken kompensieren lassen. Aber auch hier sind die Aussichten keinesfalls hoffnungslos: Immerhin zwei unbekannte Einzeldrucke sind inzwischen aufgetaucht, der eine in der Ratsschulbibliothek Zwickau, 54 der andere in der Akademiebibliothek Tallinn. 55 Von den Gedichten aus der Chur=Brandenburgische[n] Rose sind ebenfalls einige in kasualen Erstdrucken (wieder) gefunden worden. 56 Wenn künftig systematische Recherchen initiiert werden, dürften also gewisse Chancen bestehen, weitere Drucke zu entdecken. Die verschiedenen Forschungsprojekte haben erwiesen, daß sich noch Beachtliches vor allem im Bereich des sog. Kleinschrifttums entdecken läßt. Trotz aller Verluste stehen die Voraussetzungen für eine zuverlässige und – soweit wie es noch möglich ist – vollständige bibliographische Erfassung und editorische Bereitstellung der Dichtungen Simon Dachs heute wieder günstiger als lange Jahrzehnte zu erwarten war. _______ 54 55 56

[Inc.:] »Güldner Titan, dessen Gaben«. In: ZIESEMER I, S. 39): Ratsbibliothek Zwickau, Sign.: 6.5.19 (34). Nachweis bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), Nr. 138. [Inc.:] »Amor, laß dich auch nun hören« (Nachweis oben Anm. 14). »Uber die darauff den 29sten Tag geregten Monats erfolgende H. Tauff=Feyer des Durchl. Churfürstl. Printzen Hn. Hn. Friedrichen/ Marggrafen zu Brandenburg in Preüssen [et]c. [et]c. Hertzogen [et]c. [et]c.« (Chur=Brandenburgische Rose [wie Anm. 35]: Bl. [V4]r– X[i]v; ZIESEMER II, S. 249 f.). Ziesemer fand sein Exemplar in der Gottholdschen Sammlung in Königsberg (Sign.: Tl 2 [G]), es ist bislang nicht wiederentdeckt, dafür aber ist ein Exemplar im Kloster Preetz ermittelt worden. Ebenfalls in der dortigen Predigerbibliothek befindet sich ein Erstdruck von: »Incolumi Principe cuncta valent. Oder Der höchst= erfrewliche Geburts=Tag Sr. Churfürstl. Durchl. 6/16. Horn. 1656.« (Chur=Brandenburgische Rose: Bl. Tijr–[T4]v; ZIESEMER II, S. 243–246). Zu diesen Drucken vgl. Lohmeier: Simon Dach-Drucke (wie Anm. 22), S. 173. Von dem Ziesemer nur in einem unvollständigen Exemplar aus dem einstigen Provinzialmuseum Mitau bekannten Genethliakon »Schuldigste Glückwünschung Beyden Hoch=Fürstl. Durchl. Durchl. in Lieffland/ zu Churland und Semgallen etc. etc. Hertzogen und Hertzogin etc. etc. über höchst=erfrewlicher Geburth Jhres erstgebohrnen Sohnes/ unterthänigst abgestattet den 6. New=JahrsM. 1648.« (Chur=Brandenburgische Rose: Bl. [N4]v–Oiijr; ZIESEMER II, S. 214– 217) weist das Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums nun in Band 12 für die Akademische Bibliothek Lettlands in Riga ein vollständiges Exemplar nach (Nr. 0423, vgl. oben Anm. 14). Neben Dach war hier Christoph Tinctorius mit einem lateinischen Gedicht vertreten (zu ihm s. unten Anm. 111). Einen weiteren Druck entdeckte Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg (Nr. 344): »Demüthigstes Geleit/ da Se. Churfl. Durchl. auß dero Herzogthumb Preußen in die Marck Brandenburg zu reisen entschlossen den 17. Hornung 1643.« (Chur=Brandenburgische Rose: Bl. [E4]r–Fijv; ZIESEMER II, S. 173 ff.) Ziesemer war kein Erstdruck bekannt, er edierte nach der Rose.

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1.2. Konzeptionelle Überlegungen zur Anlage eines Dach-Portals In einem Dach-Portal könnte die bibliographische Erschließung in einer differenzierten Datenbank geschehen. Sämtliche Feldeinträge der Erfassungsmaske müßten sich über den Volltext recherchieren lassen, sie wären außerdem alle zu indizieren für entsprechende Register. Diese Datenbank wäre in zwei, miteinander verknüpfte, Erfassungsebenen zu strukturieren: Auf der ersten Ebene wäre der jeweilige Erstdruck bibliographisch aufzunehmen, auf der zweiten Ebene das einzelne Dach-Gedicht. Es darf keiner Betonung, daß das Leitprinzip nur die Autopsie sein kann! Wo kasuale Einzeldrucke nicht (mehr) nachzuweisen sind, wäre auf die Arien, die Preußischen Gesangbücher, die Chur= Brandenburgische Rose und andere zeitgenössische Ausgaben zurückzugreifen, wo auch diese nicht vorliegen, auf spätere Textzeugen, in manchen Fällen, vor allem dem einst nur handschriftlich Überlieferten, wird schließlich auf Ziesemer vertraut werden müssen. Die Titelaufnahme auf der ersten Ebene hätte selbstverständlich diplomatisch zu sein, Druckort, Drucker und Druckjahr wären als eigene Felder für angesetzte und damit standardisierte Aufnahmen, die automatisch für ein Register indiziert werden müßten, vorzusehen. Auf dieser Ebene wären auch das Format und die Kollation des Druckes zu verzeichnen. Genau anzugeben wäre natürlich das bibliographierte Exemplar; sofern von einem Druck mehrere Exemplare nachzuweisen sind, sollte man sich auf eine Auswahl – sie ist in den folgenden Beispielen auf drei Exemplare begrenzt – beschränken. 57 Angesichts des Löwenanteils der Dachschen Produktion, des anlaß- oder adressatengebundenen Gelegenheitsschrifttums also, das nach gegenwärtigem Kenntnisstand mehr als 85 Prozent seiner Einzeltitel ausmacht, wäre der Erfassung der Personen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Auf der Ebene der Gesamtaufnahme sollten deshalb der Adressat, sonstige Personen und die übrigen Beiträger in kasualen Sammelschriften, aber ebenso im Falle von ›Monographien‹ andere Widmungsbeiträger aufgenommen werden. 58 Für die einzelnen Beiträge wäre der Sprachstand auszuweisen. 59 Hinzu käme ein eigenes Feld für _______ 57 58

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Sie sind in den Beispielen stets an die erste Stelle gesetzt und mit einem * markiert. Nicht aufzunehmen sind die von den Autoren der Monographien durch Widmungsadressen angesprochenen Personen; sie sind ›Angelegenheit‹ des Autoren und nicht auf die Gedichtbeiträger, die ihrerseits nur den Autoren ansprechen, zu beziehen. Weitere Angaben zu den übrigen Beiträgern dürften wegen der vollständigen digitalen Kopien verzichtbar sein. Hier kann – und muß – ein auf einen einzelnen Autoren konzentriertes Projekt mit der detaillierten Erfassungsmaske des Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 14) nicht konkurrieren. Wichtiger scheint die Perspektive einer ›biographischen Datei‹, in der natürlich die Funktion der jeweiligen Person in einem Druck – als Adressat oder Beiträger – zu vermerken wäre; in vielen Fällen wird für eine Person in dieser ›biographischen Datei‹ beides festzustellen sein. – Hinsichtlich des Sprachstands scheint eine Doppelverzeichnung auf den Erfassungsebenen 1 und 2 im Blick auf die Benutzbarkeit der Datenbank sinnvoll, da entsprechende Recherchen so für unterschiedliche Zwecke sofort Informationen erhalten können. Auf die Markierung der Stellung der einzelnen Beiträge durch die Verzeichnung der Seiten- oder Blattangaben ließe sich dagegen angesichts der vollständigen Digitalisate der Drucke und der Auflistung aller Beiträger

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Komponisten, das wie die anderen Felder optional auszufüllen wäre. 60 Auch diese Felder ließen sich automatisch in ein Register überführen. Dafür erscheint es sinnvoll, die Personennamen bei der Einzelaufnahme sogleich mit Hilfe der Register Ziesemers und des Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums sowie der PND und spezieller biographischer Hilfsmittel für diesen Kulturraum von Arnoldts Gelehrtenbiographien im Anhang seiner Universitätsgeschichte bis hin zur Altpreußischen Biographie anzusetzen. Nur wo dieses nicht möglich ist, wären entsprechende ›Gedichtbeigaben‹ für den Registereintrag – nicht aber bei der Einzelaufnahme – zu übernehmen. Denn von Anfang an sollte in dieses Vorhaben die Perspektive eingeschlossen sein, ein biographisches Verzeichnis des gesamten Personenkreises zu erarbeiten, den Dach in und mit seiner Dichtung ansprach; dafür wären mittelfristig Kurzbiographien zu erarbeiten. 61 Diese ›biographische Datei‹ wäre mit den Personen-Feldern der Erfassungsmaske zu verlinken, d.h. sie ließe sich aus anderen Gedichten immer weiter ergänzen; dieses Vorgehen würde die Erfassungsmaske entlasten. Biographische Kontexte und damit die Einbindung der Dichtung Dachs in die Netzwerke gesellschaftlicher Kommunikation wären so bereits über die Indizes zu rekonstruieren. Auf der zweiten Ebene der bibliographischen Erfassung, mit der ersten über ein link zu verbinden, wäre dann jeder einzelne Dach-Text zu erschließen. 62 Ziel dieser Erfassung müßte es zum einen sein, durch das nunmehr genau anzugebende Datum, 63 die Überschrift und das Incipit (den vollständigen ersten Vers einschließlich letztem Satzzeichen) jedes Gedicht eindeutig zu identifizieren und damit gleichzeitig die Informationen für einen jeweiligen Index verfügbar zu machen. Zum zweiten würden durch Felder für die Publikationsform, die ›Position‹ im Druck (als Seiten- oder Blattangabe), den Umfang (die Zeilenzahl), das Versmaß, die ›Gattung‹ (nach einem noch zu erarbeitenden Katalog) und den Sprachstand wiederum über entsprechende Register unter anderem einige poetologische Grundinformationen aufbereitet, die eine systematische Erschließung der Dichtungen Dachs entscheidend vorbereiten und leicht die von _______ 60

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in der Erfassungsmaske verzichten; über jeden einzelnen Namen wäre zudem das entsprechende Digitalisat aufzurufen. Für diesen Bereich der bibliographisch-biographischen Erschließung möchte ich sowohl hinsichtlich der Kirchenlieder als auch jener Lieder, die spätere Komponisten fanden, im gegenwärtigen Stadium der Überlegungen noch keine abschließenden Vorschläge präsentieren, die nur im Zusammenwirken mit fachkundigen Musikwissenschaftlern präzisiert werden sollten. Zu überlegen bliebe sicherlich, ob generell sonstige im Titel erwähnte Personen aufzunehmen sind. Für die Verfasserschriften Dachs erscheint das überaus sinnvoll. In den Beispielen wurde darauf zunächst verzichtet. Sofern in einem Druck, also auch in kasualen Einzelschriften, mehrere Texte Dachs vorhanden sind, würden sie alle mit der entsprechenden Aufnahme auf Ebene 1 zu verlinken sein. Vgl. dazu auch das Beispiel 2, Texte 4–7. Anzusetzen in der Form: Jahr – Monat – Tag; dadurch würde über die Sortierfunktion der Datenbank sofort die jährliche Produktion Dachs in der Reihenfolge der Veröffentlichungen überschaubar. – Ermittelte Datumsangaben wären in Klammern zu setzen; bei ›Monographien‹ könnte dafür vielfach – als terminus post quem – die Datierung der Vorrede herangezogen werden (wie unten Text 2). Das ist in jedem Fall im Kommentarfeld zu vermerken.

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ihm gepflegten Formen, Textsorten etc. (und zugleich mögliche ›Vorlieben‹ und ihre eventuell bevorzugte Wahl für spezifische Anlässe) erkennen ließen. Zum dritten wären auf dieser Ebene bibliographische Nachweise des einzelnen DachTextes, seine weiteren Editionen (also auch in Anthologien und Auswahlausgaben) und wissenschaftliche Literatur, in der er behandelt wird, zu verzeichnen. Schließlich bliebe als zunächst ›offenes‹ Feld ein Kommentarfeld vorzusehen, das für Bemerkungen zur bibliographischen Erfassung, nicht aber zu philologischen ›Exkursen‹ dienen sollte. Ein besonderes Augenmerk wird auf einen wesentlichen Produktions- und Rezeptionskontext der Dachschen Dichtung zu richten sein, der bislang weder bibliographisch faßbar noch editorisch im Rahmen seines Gesamtwerks zugänglich ist. Das ›Zusammenspiel‹ von Wort und Musik, das im geselligen Umkreis der Kürbishütte gepflegt und das seit Johannes Eccard in der gesellschaftlichen Kommunikation zu allen Gelegenheiten in Königsberg einen festen Platz besaß, trug zweifellos entscheidenden Anteil an der Schulung des spezifischen poetischen Tons, der Dach gemeinhin und zu Recht unter den Dichtern des Barock attestiert wird. Soweit es zu überblicken ist, liegen bzw. lagen für bis zu zwanzig Prozent der deutschsprachigen Gedichte und Lieder zeitgenössische Vertonungen vor. 64 Die Kirchenlieder bilden auch dabei vielfach Sonderfälle, indem sie überwiegend auf bekannte Kirchenliedmelodien verfaßt wurden, die jedoch ihrerseits für die Umsetzung des dichterischen Worts in Verse den musikalischen Rahmen vorgaben. Sogleich mit der ersten posthumen Teil-Ausgabe von Dach-Gedichten, der Chur=Brandenburgischen Rose, setzte eine Aufteilung der editorischen Pflege ein. Unter der dort versammelten Panegyrik auf das Herrscherhaus sind viele Gedichte enthalten, deren Überschriften zu erkennen geben, daß sie in einer musikalischen Aufführung vorgetragen worden sind. Doch die Notenbeigaben fehlen. Die – wenn man sie schon für das 19. Jahrhundert so nennen darf – ›germanistische Philologie‹ kümmerte sich in der Folge weiterhin nur um die Texte, während sich die ›Musikwissenschaft‹ der Arien und damit der Melodeyen annahm. 65 Diese Trennung zwischen ›Fächern‹ zerreißt neuerlich _______ 64

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Es gibt bislang keine vollständigen Ermittlungen, die Angabe bezieht sich auf die oben, S. 469, vorgestellte Datenbank. In der Ausgabe: Preussische Festlieder. Zeitgenössische Kompositionen zu Dichtungen Simon Dachs. In Auswahl hg. von Joseph Müller-Blattau. Kassel: Bärenreiter 1939 (Landschaftsdenkmale der Musik. Ostpreussen und Danzig, 1) listet der Herausgeber in einem Anhang Kompositionen und Komponisten von Dach-Liedern auf (S. 31 f.), dieses Verzeichnis umfaßt allerdings nur 98 Einträge. Ziesemer: Einleitung (wie Anm. 34), S. VI, gibt an, zusätzlich zu den Kompositionen in den Arien »weitere etwa 100 bisher unbekannte Kompositionen zu Dachs Gedichten« gefunden zu haben. Leopold Hermann Fischer gab 1883/84 die Texte der Arien und der Musicalischen Kürbshütte – ohne Noten – in der Reihe Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts heraus: Gedichte des Königsberger Dichterkreises aus Heinrich Alberts Arien und musicalischer Kürbshütte (1638 – 1650). Halle: Niemeyer 1883 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, 44–47). Die Melodien lieferte, in einer knappen Auswahl, in einem eigenen Band im folgenden Jahr Robert Eitner nach: Musikbeilagen zu den Gedichten des Königsberger Dichterkreises. Halle: Niemeyer 1884 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, 48). Damit wurden die

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kommunikative Kontexte und Wirkungsabsichten, für die nicht nur die Arien vorgesehen waren. So sind die sog. Kunstlieder, 66 für die Dach mit verschiedenen zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeitete, als musikalische Interpretationen seiner Gedichte zu verstehen. Zwei Produktionskontexte sind dabei – wie für die Kirchenlieder – zu unterscheiden. Zum einen wurden Gedichte, die zuvor in kasualen Einzeldrucken erschienen waren, nachträglich vertont, womit sie ihrer ursprünglichen Situativität und Personalisierung enthoben und anderen Rezeptionsvorgängen zugeführt wurden. Diese ›einfache‹ Überführung erweist wiederum, wie sehr ein liedhafter Ton Dachs poetischem ingenium verinnerlicht war. Zum zweiten sind viele Lieder von ihm speziell für Liederwerke verfaßt worden. Das gilt allein bei den Arien für etwa die Hälfte der Texte. Die Auslassung der Noten aus den bisherigen Editionen Dachscher Dichtung verschließt somit einen zentralen Aspekt für das Verständnis seiner Dichtung. 67 Das sei hier nur angedeutet am Beispiel einer größeren Liedergruppe in den Arien, die wie keine sonst die Editionsgeschichte und Rezeption Dachscher Dichtung beeinflußt hat. 68 Es gehörte zu den beliebten Gepflogenheiten im gelehrt-literarischen Kommunikationssystem, barockes Weltverständnis in einem Text-Bild-Programm emblematisch zu codieren und den Leser damit zur scharf_______

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Arien erstmals nicht mehr nur als Sammlung von Gedichten, zumal Dachs, rezipiert, sondern im Zusammenklang mit ihren zeitgenössischen Kompositionen in ihrer Eigenheit als Lieder erkennbar. Das schmale Heftchen Eitners und die große Einleitung Fischers stehen am Beginn der musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit ›den‹ Königsbergern um Dach und Albert. Vgl. dazu: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Gudrun Busch und Anthony J. Harper. Amsterdam: Rodopi 1992 (Chloe, 12). Diese hier zunächst nur thesenhaft formulierte Überlegung knüpft an erste Vorgespräche an, die zwischen dem Vf. und dem Musikwissenschaftler Prof. Dr. Erich Fischer (Bonn) geführt worden sind – mit der Perspektive, diese Fragestellung im Rahmen eines kleineren interdisziplinären Forschungsvorhabens einmal genauer verfolgen zu wollen. Als ein Beleg für die bis heute ungebrochene Wirkung mag der Hinweis auf Conradys Gedichtbuch, die populäre Standardanthologie für die deutschsprachige Lyrik, dienen. In den neusten Auflagen findet man – neben dem unvermeidlichen »Ännchen von Tharau«, das unter der Zuweisung »Unbekannter Verfasser [Simon Dach?]« aufgenommen ist – drei Lieder aus den Arien: »Veris temporis fervet Hymen« ([Inc.:] »Die Sonne rennt mit prangen«; ZIESEMER I, S. 11), »Horto recreamur amoeno« ([Inc.:] »Der habe Lust zu Würffeln vnd zu Karten«; ZIESEMER I, S. 139 f.), und das ›Freundschaftslied‹ »Perstet amicitiae semper venerabile Faedus!« (ZIESEMER I, S. 66 f.). Vgl. Der Neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neu hg. und aktualisiert von Karl Otto Conrady. Düsseldorf [u.a.]: Artemis & Winkler 2000. Lediglich das erstgenannte Lied ist zuvor in einem kasualen Einzeldruck, als eines von zwei deutschsprachigen unter ansonsten lateinischen Beiträgen, aus dem Jahre 1632 festzustellen. Vgl. dazu unten S. 486 f. ›Der‹ Conrady zitiert es nach der textlich veränderten Ausgabe in Band 1 der Arien; die beiden anderen Lieder sind nur in den Arien, Band 6 bzw. Band 2, überliefert. – Im Vergleich mit früheren Ausgaben sind bezeichnenderweise mit dem Krankheitsgedicht »Als ich Anno 1650 den 25. Augustm. in der Nacht für große Engbrüstigkeit nicht schlafen konnte« (ZIESEMER I, S. 252 f.) und dem »Abschiedsliedchen« ([Inc.:] »Meines Lebens Ziel ist hier«; ZIESEMER IV, S. 8 f.) die beiden Gedichte aussortiert, die in ihrer Topik und Argumentation am deutlichsten im barocken Weltdenken verhaftet sind – und am wenigsten ›volksliedhafte‹ Ansprüche erfüllen. Ich beziehe mich auf die Auflage: Das große deutsche Gedichtbuch. 2. Aufl. Hg. von Karl Otto Conrady. Königstein/Ts.: Athenäum 1978.

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sinnigen Entschlüsselung sinnvoller Wahrheiten herauszufordern. Die weite Verbreitung der Emblembücher zeugt von der Beliebtheit dieser Gattung. 69 Bei den Königsberger Dichtern übernahm, Schöne hat uns das eindrucksvoll nachgewiesen, die Kürbishütte die sinnstiftende Funktion einer aus der Erfahrungswirklichkeit zu abstrahierenden Wahrheit, die dann wieder auf die eigene Lebenswelt zurück zu beziehen war. 70 41 der von Dach ausschließlich für die Arien verfaßten Lieder nun könnte man als emblematische Dichtungen definieren, in denen Text und Noten dem Zusammenwirken von subscriptio und pictura im Emblem entsprechen. 71 Die Titel dieser Lieder formulieren Sinnsprüche oder Sentenzen mit exemplarischem Wahrheitsgehalt, der sich aus der eigenen Erfahrungswirklichkeit ableitet, und sind in diesem Sinne als inscriptio zu verstehen, die dann in Musik und Wort ausgelegt wird. Schon eine flüchtige Durchsicht der inscriptiones deutet an, was in diesen Liedern verhandelt wird: Der Mensch als Mikrokosmos (Orbis ad exemplum se quoque formet homo), 72 zu dessen höchsten Gütern die Freundschaft, die über den Tod hinaus bewahrt bleiben möge (Perstet amicitiae semper venerabile Faedus!), 73 Weisheit und Tugend (Ne reputes alium sapiente bonoque beatum), 74 Keuschheit und Enthaltsamkeit (Casta placent superis) 75 zählen, der sich der treuen Liebe hingeben und sie pflegen soll (Res est solliciti plena timoris amor), 76 der aber nur in Gottes Natur Ruhe findet (Horto recreamur _______ 69

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Zur Entwicklung dieser Gattung im 16. und 17. Jahrhundert: Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch. Frankfurt/M.: Athenäum 1987. Den besten Überblick – mit einem grundlegenden Vorwort – bietet: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. [Erstmals 1967, leicht zugänglich als:] Taschenausgabe. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1996. Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. 2., durchges. Aufl. München: Beck 1982 (Edition Beck). Vgl. außerdem die Aufsätze von Leopold Kretzenbacher: Zur »Kürbishütte« in Alt-Königsberg. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 26 (1983), S. 61–78, und Werner Braun: Emblemata musica: Zu Heinrich Alberts Musicalischer Kürbs=Hütte. In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 1), S. 561–578, die Schönes Interpretation aus volkskundlicher und musikwissenschaftlicher Perspektive untermauern. Vgl. dazu etwa: Peter Keller: Die Oper Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern [u.a.]: Haupt 1977. [Inc.:] »Sol sich der Mensch, die kleine Welt« (ARIEN I, 16; ZIESEMER I, S. 48). – Ich zitiere hier und im folgenden nach den Exemplaren (in Kopie) der Bibliothek des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück: Erster [bis] Achter Theil der Arien/ Etlicher theils Geistlicher/ viel schöner Lehr- und Trostreicher/ Theils Weltlicher/ zu Ehrlicher Liebe und geziemender Ergetzlichkeit dienender Lieder […]. Von Heinrich Alberten [erstmals Königsberg 1638–1650, Bd. 1–7 im Selbstverlag des Autoren, Bd. 8 bei Pasche Mense gedruckt]. In Osnabrück sind vorhanden: die Bde. 1 und 6 in der 4. Aufl. 1652, die Bde. 2, 3, 4 und 5 in der dritten Aufl. 1651, Bd. 7 in der (zweiten?) Aufl. 1654, Bd. 8 in der Erstauflage 1650. Nachweise erfolgen in der Form: Band und Nummer. Das bekannte Freundschaftslied [Inc.:] »Der Mensch hat nicht so eigen« (ARIEN II, 10; ZIESEMER I, S. 66 f.). [Inc.:] »Wer die Weißheit ihm erkohren« (ARIEN III, 11; ZIESEMER III, S. 40). [Inc.:] »Hie habt ihr, ihr Jungfrawen« (ARIEN I, 7; ZIESEMER I, S. 44 f.) und [Inc.:] »Was ist die Lieb’ auf allen Seiten« (ARIEN VI, 23; ZIESEMER I, S. 140 f.). [Inc.:] »O Jhr Außzug meiner Frewden« (ARIEN I, 12; ZIESEMER I, S. 46).

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amoeno) 77 und stets weiß, daß die ewige Liebe, das ewige Glück, der ewige Frühling nur im Jenseits zu erlangen sind (Perpetui coelum tempora veris habet). 78 Das alles geschieht mit einem belehrenden oder erbaulichen Impetus, der der eigenen Dichterrolle eingeschrieben ist. Es sind unerschütterliche Grundwahrheiten des irdischen und gottgefälligen Lebens, was auch darin deutlich wird, daß in zwei Fällen – Casta placent superis und Horto recreamur amoeno – die gleiche inscriptio gewählt ist, die dann mit variierten Argumenten ausgeführt wird, ohne daß es zu einer grundlegend neuen Auslegung käme. Was Dach im liedhaften Ton formulierte, adaptierte die Lebenswelt eines bürgerlichen Publikums und war von diesem in die eigene Wirklichkeit zu decodieren. Dem Wahrheitsanspruch wird dadurch eine überzeitliche Verbindlichkeit gewonnen, daß die inscriptiones überwiegend in dem durch die Antike verbürgten und dem Gelehrtenstand vorbehaltenen (neu)lateinischen Idiom verfaßt sind. 79 Dabei läßt sich nicht klären, ob Dach oder Albert die von Ziesemer zitierten und in der Dach-Rezeption eingeführten Titel dieser Lieder formulierten. Albert hat in der Vorrede zum fünften Band der Arien beansprucht, die Texte Dachs »fast besser/ als von Ihme selbsten/ […] verwahret und auffgehoben« 80 zu haben, und er verstand, wie er wiederholt in seinen Vorreden zu den einzelnen Bänden andeutet, seine Melodeyen durchaus als einen ›Dienst‹ am poetischen Wort – warum sollte der musikalische Interpret, der doch ein ›Gesamtkunstwerk‹ schaffen wollte, diesem nicht auch die sentenziöse Überschrift verliehen haben? Auf jeden Fall vermitteln die Lieder in dieser Form zwischen gelehrter Autorität der Dichtung und (stadt)bürgerlichem Kommunikationsraum. Welche Rolle die musikalischen Interpretationen dabei jeweils übernahmen, wissen wir bis heute nicht und können es aus Ziesemers Ausgabe nicht einmal ansatzweise erkennen. Für die Lieder und Gedichte, die bereits zu seinen Lebzeiten sowohl in kasualen Einzeldrucken als auch in Sammelwerken erschienen, wären in einem Dach-Portal zwei bibliographische Datensätze bereitzustellen. Das Lied »Die Sonne rennt mit prangen« bietet dafür ein – sicherlich exponiertes – Beispiel: 81 Es erschien zuerst 1632 als einer der frühen deutschsprachigen Beiträge Dachs zu einer Königsberger Hochzeitsschrift und wurde mit den Noten Alberts 1638 im ersten Band der Arien noch einmal gedruckt, nunmehr aber mit der lateinischen Überschrift Veris temporis fervet Hymen und einer veränderten _______ 77 78 79

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[Inc.:] »An diesem Orth alhie« (ARIEN III, 24; ZIESEMER I, S. 88 f.) und [Inc.:] »Der habe Lust zu Würffeln vnd zu Karten« (ARIEN VI, 21; ZIESEMER I, S. 139 f.) [Inc.:] »Der Mey, des Jahres Hertz, beginnt« (ARIEN III, 1; ZIESEMER I, S. 70). Eine der wenigen Ausnahmen mit einem deutschen Sinnspruch ist die »Anke van Tharaw«. Sie ist überschrieben »Trewe Lieb ist jederzeit | zu gehorsamen bereit« – auch das ist sentenzenhaft und aus Dachs Lied »Officiosus Amor« (ARIEN I, 14; ZIESEMER I, S. 46 f.) übernommen. Es dürfte als ein weiterer Hinweis dienen, daß diese inscriptiones nachträglich – und dann vom Herausgeber? – den Liedern zugefügt wurden. – Es bliebe noch in jedem Einzelfall zu überprüfen, inwieweit diese Überschriften auf antike Texte rekurrieren. ARIEN V, Bl. 2r. S. oben Anm. 68.

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ersten Strophe. 82 Die Anlage zweier bibliographischer Datensätze stellte somit zum einen die Kompositionen, die diesen Texten als musikalische Interpretation zuwuchs oder in die sie eingepaßt wurden, zur Verfügung, zum anderen macht sie mögliche textliche Veränderungen einschließlich der Titel – beispielsweise in der Chur= Brandenburgische[n] Rose – sofort erkennbar. Eine Identifikation dieser Doppelverzeichnungen ließe sich über das Register der Gedichtanfänge leicht erreichen, im Kommentarfeld wären die jeweiligen Zusammenhänge festzuhalten. 83 Diese womöglich zunächst einmal als unnötig aufwendig erscheinende Doppelverzeichnung ergibt sich aus der meines Erachtens reizvollsten Perspektive des hier unterbreiteten Vorschlags. Denn für jeden einzelnen Dach-Text sollten – wiederum über ein link aufzurufen – vollständige Digitalisate über das Portal zugänglich sein. Da es sich in der ganz überwiegenden Mehrzahl um Kleinschrifttum handelt, das in der Regel keine Neudrucke erlebte, würde es ausreichen, jeweils ein Exemplar zu digitalisieren, wobei die Entscheidung zwischen mehreren Exemplaren nach pragmatischen Erwägungen (Vollständigkeit, Lesbarkeit, gegebenenfalls handschriftliche Notizen in einem Druck) zu treffen (und im Kommentar-Feld der Erfassungsmaske knapp zu begründen) wäre. Bei kasualen Sammelschriften, an denen Dach mit einem – oder mehreren – Beiträgen beteiligt war, sollte die ganze Schrift präsentiert werden, um damit auch das poetische und personale ›Umfeld‹, in das sich Dachs Dichtung im Einzelfall integriert hat, sofort sichtbar zu machen. Ziesemers nur gelegentliche und stets spärliche Angaben zu weiteren Beiträgern – nicht aber den Beiträgen – einer Sammelschrift leisten das nicht. Bei Widmungsgedichten ließe sich die Digitalisierung sinnvoll auf das Titelblatt und sämtliche poetische Beigaben beschrän_______ 82

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Das Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 14) weist in Bd. 1 als Nr. 0460 das Ziesemer bekannte Breslauer Exemplar nach und ein weiteres Exemplar in Bd. 7 (2003), Nr. 0289, in der Akademiebibliothek Tallinn. Genauso verhielte es sich mit einem eher selten Sonderfall, der sich im Epicedium »Was haben wir zu sorgen« dokumentiert. Es ist bei Ziesemer ebenfalls doppelt ediert (ZIESEMER III, S. 280 und IV, S. 60). Nach Ausweis des Titelblatts wurde es von Dach mehr als drei Jahre vor dem Tod des Adressaten auf dessen Wunsch hin geschrieben. Ziesemer nimmt es in seiner Chronologie dementsprechend einmal für das (Produktions-)Jahr 1649 und einmal für das (Publikations-)Jahr 1652 auf, Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) verfährt genauso, indem er diese Verfasserschrift – mit abweichenden Titelansetzungen – unter den Nummern 631 und 827 erfaßt. Für den Druck allerdings verweist er richtig auf zwei Ausgaben, von denen nur die eine die Noten Heinrich Alberts enthält (S. 1152). – Der Auftraggeber und Adressat des Gedichts, Sigismund Scharff von Werth (1611 – 1652), dessen Familie den kaiserlichen Adel besaß, und seine Familie – seine Frau war eine Tochter von Johann Schimmelpfennig (1604 – 1669), einem der reichsten und einfußreichsten Männer der Stadt, der im kulturellen Leben ein großer Mäzen war – konnten es sich offenbar leisten, den Anlaß mit großem repräsentativen Aufwand zu inszenieren, und dafür verschiedene Druckversionen der memorialen Beigaben anfertigen zu lassen, wobei dem poetischen Text die vorrangige Funktion zugewiesen ist. – Zu Scharff von Werth vgl. Fritz Gause: Scharff von Werth, Familie. In: APB 2, S. 597 f., zu Dachs verschiedenen Gedichten auf ihn die Register bei ZIESEMER; zu Johann Schimmelpfennig, auch im Umkreis der Freunde um die »Kürbishütte« eine wichtige Gestalt vgl. wiederum Fritz Gause: (sub verbo.) In: APB 2, S. 607 f.

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ken, auf eine komplette digitale Kopie des jeweiligen Buchs könnte man verzichten, weil es als eigenständige poetische oder gelehrte Schrift des Autors vom Widmungsbeiträger unabhängig entstanden ist. Für alle Schriften hätte natürlich das Prinzip der Erstausgabe zu gelten. 84 Die Digitalisierung der Texte kann ebenfalls an Vorarbeiten anderer Forschungsprojekte anknüpfen, die in den letzten Jahren vorrangig in Osnabrück verfolgt worden sind. Im Rahmen der dortigen Projekte zum personalen Gelegenheitsschrifttum und zur Rekonstruktion der Königsberger Altdruckbestände sind große Teile der Kasualdrucke in mittel- und osteuropäischen Bibliotheken verfilmt worden. Mit der Digitalisierung eines beachtlichen Textkorpus’ könnte also ohne Zeitverzug begonnen werden, für die bereits bibliographisch erfaßten weiteren ›Titel‹ ließen sich Digitalisate gezielt in Auftrag geben. Zusätzliche Recherchen sind in dem abgesteckten Rahmen zu realisieren, die daraus resultierenden weiteren Digitalisierungen wären dem Portal nach und nach zuzuführen. Der Vorteil eines Dach-Portals gegenüber gängigen Vorhaben einer Bibliographie oder einer (Ergänzungs-)Ausgabe, wie Segebrecht sie vorschlug, liegt darin, daß die Einträge sukzessive auf den verschiedenen Ebenen vorgenommen und jederzeit ergänzt werden könnten, etwa auch durch neue Funde bislang nicht bekannter Erstdrucke. Der Zugang zu den Texten ist somit nicht vom Abschluß eines druckfertigen Bandes abhängig, sondern erweitert sich kontinuierlich durch die regelmäßige Aktualisierung der Datenbank. Die Bereitstellung im Netz wäre unabhängig von der Produktions- oder Anlaß-Chronologie, die sich jederzeit durch die Sortier- und Recherchefunktionen herstellen ließe. 85 Die Einspielung der Datensätze, die Administration der Datenbank und die zusätzlichen Recherchen müßten dabei durch Mitarbeiter eines an einem universitären Standort einzurichtenden Forschungsprojekts erledigt werden. Es wird aufgefallen sein, daß zwei für jede Edition eines Dichters des 17. Jahrhunderts ganz zentrale Aspekte von mir bis jetzt elegant ausgeklammert worden sind: zum einen die rhetorisch-poetologische und ›sachliche‹ Kommentierung aller Texte, zum anderen die Übersetzung der lateinischen Gedichte. Die langen Zeitspannen von Dichtereditionen erklären sich hauptsächlich aus diesen Arbeiten. Es ist einzugestehen, daß durch das vorgeschlagene Verfahren die Maßstäbe einer historisch-kritischen Edition zugunsten eines ›bloßen‹ Textzugangs herabgesetzt werden. Dagegen stehen die Vorteile eines Konzepts, das die technischen Möglichkeiten von Datenbanken und der Präsentation von Volltextdigitalisaten in einem Internet-Portal dazu nutzen kann, durch die Kombination von deskriptiver Bibliographie, sachlicher und biographischer Erschließung der Drucke und Edition aller Texte den nirgends gewährten zuverlässigen Zugang zu einem herausragenden poetischen Gesamtwerk des 17. _______ 84

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Inwieweit hier, aus verlagsrechtlichen Gründen etwa bei Ziesemers Ausgabe, Transkriptionen angefertigt werden müßten, die dann auf der gleichen Ebene wie die Digitalisate zu installieren wären, bedürfte noch der Klärung. Das bedeutet keineswegs, daß Auswahlpublikationen in Buchform zu einem gegebenen Zeitpunkt damit ausgeschlossen wären; sie würden aber nicht das Ziel dieses Projekts, sondern eine Option darstellen.

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Jahrhunderts überhaupt zu eröffnen und infolgedessen wesentlich zu erleichtern. Zudem wäre die Kommentierungsarbeit künftiger Interpreten durch die Anlage der bibliographischen Datenbank bereits für einige Grundfragen entlastet. Dazu trüge sicherlich auch die Aufnahme der, im Falle Dachs im Vergleich mit seinen poetischen Zeitgenossen wie Opitz oder Gryphius nicht sonderlich zahlreichen wissenschaftlichen Literatur zu den jeweiligen Einzeltexten bei. Ein Dach-Portal möchte ich ausdrücklich als ›Plattform‹ verstehen, die durch den einfachen Textzugang und die vorgeleisteten Erschließungen weitere Spezialforschungen vorbereiten und zugleich initiieren soll. Der dringendste Bedarf einer bibliographischen Erfassung und einer Edition der einzelnen Texte besteht für die lateinische Dichtung Simon Dachs und ebenso für seine – freilich nur verschwindend wenigen – griechischen Texte. 86 Sogar über die Anzahl besteht Ungewißheit, die aus der Unkenntnis dieser ›Textgruppe‹ und dem über Jahrhunderte mangelnden Engagement für ihre Erschließung geradezu resultieren muß. Ulrich Maché gibt in seinem DachEintrag in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie ihre Zahl mit 259 an und zählt damit offenkundig Oesterleys Verzeichnis aus, das genau diese Anzahl aufführt. 87 Dünnhaupt dagegen versteigt sich zu der Behauptung, daß die lateinischen Dichtungen Dachs »fast die Hälfte des Gesamtoeuvres« 88 ausmachten. Wenn man seine Personalbibliographie und die gerade in diesem Bereich deutlich voneinander abweichenden Verzeichnisse Oesterleys und Ziesemers auszählt, 89 kommt man indessen auf bislang rund 300 Texte und damit auf einen Anteil von etwa einem Fünftel des poetischen Gesamtwerks. Die Einseitigkeit der Rezeption ist hier von Anfang an noch ausgeprägter als bei den deutschen Gedichten und Liedern. Die lateinische Produktion Dachs fand kein Interesse der nachfolgenden Generationen, denen es stets um den ›teutschen‹ Dichter ging, von dem man eine genaue Vorstellung aus seinen deutschen Liedern und somit aus den Arien für das kulturelle Gedächtnis herauskristallisiert hatte. Noch in Kelletats Reclam-Ausgabe ist der Anteil der Arien überproportional im Verhältnis zur poetischen Gesamtproduktion: Fast _______ 86

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Für die oben (S. 469) vorgestellte Datenbank konnten gerade einmal – mit der frühen Magdeburger Übungsschrift – vier griechische Texte Dachs übernommen werden. Vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), Nr. 85 (1632), Nr. 231 (1640), Nr. 232 (1640). Sie sind alle nur wenige Verse lang. Dachs griechisches Erstlingswerk fehlt bei Dünnhaupt, es ist erstmals erwähnt von Oesterley: [Einleitung] (wie Anm. 48), S. 25. Ulrich Maché: (sub verbo). In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus. Bd. 1 ff. München [u.a.]: Saur 2005 ff., hier Bd. 2, S. 423 f. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 996. ZIESEMER veröffentlicht insgesamt 118 Texte, die OESTERLEY nicht kennt, darunter auch 24 lateinische Gedichte. Er fand sie vornehmlich in der Handschrift des Königsberger Staatsarchivs, aber ebenso in Drucken der Bibliotheken in Königsberg und vereinzelt in Archiven und Bibliotheken anderer Orte. Die lateinische Produktion ist aber nur sehr schwer in seiner Ausgabe zu fassen. Er nennt fast immer, wenn Dach zum selben Anlaß ein deutsches und ein lateinisches Gedicht verfaßte, beide in seinen Anhängen nur unter den deutschen Gedichten, nimmt die lateinischen aber nicht noch einmal in die eigens dafür vorgesehenen Anhänge auf.

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ein Drittel der hier edierten Gedichte und Lieder Dachs sind dort erschienen. 90 Ziesemer bringt nur verschwindend wenige lateinische Gedichte (in die Anhänge verbannt) zum Abdruck, ediert aber immerhin die Einladung zu Dachs Antrittsvorlesung und den Text der unter seinem Vorsitz abgehaltenen Magisterdisputation. Die Begründung für diese Beschränkung ist fadenscheinig und falsch: Er erklärt in seiner Einleitung zum vierten Band seine knappe Auswahl damit, daß »die meisten der lateinischen Gedichte offiziellen Universitätsanlässen entspringen, […] welche Dach als berufener Professor der Poesie regelmäßig einzureichen hatte.« 91 Man wird den eigentlichen Grund aber zweifellos darin erkennen dürfen, daß für einen Dichter, der seit dem 19. Jahrhundert dem ›Volk‹ nahe gebracht werden sollte, der in der Zeit zwischen den Weltkriegen zudem den genuinen ›deutschen‹ Kulturbeitrag des dem Reich nur durch den Korridor verbundenen Ostpreußen beweisen sollte, die lateinische Produktion keine nationale Referenz legitimierte. Dafür konnte man sich zudem auf die Dach in der regionalen Memoria seit dem 18. Jahrhundert zugewiesene Position des »großen preußischen Dichters« stützen, den seine Landsleute Gottsched, Jester, Lauson und Pisanski propagiert hatten. Mit Ziesemers Ausgabe manifestierte sich endgültig auch die sprachliche Teilung in der Dach-Edition – mit den bis heute gravierenden Folgen, daß die lateinische Dichtung fast gänzlich unbekannt geblieben ist. Nach der sozialgeschichtlichen ›Wende‹ der Germanistik und nach der literaturwissenschaftlichen Rehabilitierung der Gelegenheitsdichtung hat sich daran nur wenig geändert. Lateinische Gedichte Dachs sind nur ganz vereinzelt in Aufsätzen ediert und behandelt worden. Alfred Kelletat hat in seinem grundlegenden Nachwort zu Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis nicht als einziger die Bedeutung einer Erschließung dieses großen Werkanteils betont: Zu wissen, was in Dachs über 250 lateinischen Poemen verborgen ist, wäre heut noch wichtiger als früher, da man in ihnen nicht anders als in den deutschen biographische wie lokal- und zeitgeschichtliche Mitteilungen erwarten darf, für die andre Quellen inzwischen verschlossen oder für immer verloren sind. Ebenso ließe sich eine genauere Kenntnis von Dachs Zusammenhang mit den antiken Autoren und ihres Einflusses auf ihn gewinnen, wovon man bisher nur wenig Allgemeines weiß. Damit würde sich sein Bildungshorizont 92 für uns erst schließen.

Aber Kelletat, der hier so vehement einer intensiveren Beschäftigung mit der lateinischen Dichtung Dachs das Wort führt, hat mit seiner Reclam-Ausgabe unverständlicherweise die große Chance vergeben, dazu etwas beizutragen. Freilich bleibt fraglich, ob die lateinische Dichtung Dachs wirklich nur wegen ihres sozialgeschichtlichen Mitteilungscharakters und ihres eruditären Zeugniswerts mit Ertrag auszuwerten wäre. Zumal der erste Aspekt auch für die deutschsprachige Dichtung keineswegs so allgemein zu formulieren ist, wie es gerne gehalten wird. Für die lateinische Dichtung kann möglicherweise sogar _______ 90 91 92

Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Hg. von Alfred Kelletat. Stuttgart: Reclam 1986 (RUB, 8281). Ziesemer: Einleitung (wie Anm. 34), S. VI. Alfred Kelletat: Nachwort. In: KELLETAT, S. 331–420, hier S. 383.

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noch mehr mit Konventionellem gerechnet werden, weil die Verbindung zur Musik fehlt. Kelletat überträgt bei seinem Plädoyer für die lateinische Dichtung Dachs auf diese letztlich eine Erwartungshaltung, die aus der üblichen, gleichermaßen eingeschränkten wie selektiven Lektüre seiner deutschen Gedichte gewonnen ist. Die Erträge derart unreflektierter hermeneutischer Rückübersetzungen auf den Dichter und seine Lebenswirklichkeit blieben stets genauer zu überprüfen, als es vielfach geschehen ist. Entscheidender wäre doch wohl, die lateinische Dichtung zunächst einmal in ihrer Stellung in diesem poetischen Gesamtwerk zu verorten, daraus dann spezifische Kommunikationssituationen und -räume zu rekonstruieren, die der Dichter dem Neulateinischen vorbehielt – und zugleich intratextuelle Interdependenzen zwischen seinen deutschen und lateinischen Gedichten festzustellen, zumal wenn, wie häufiger, Dach zum gleichen Anlaß poetische Beiträge in beiden Sprachen einreichte. Das Auslassen der lateinischen Dichtung in Ziesemers willkürlich geordneter Edition der deutschen Gedichte löst somit vollkommen die Zusammenhänge eines dichterischen Werks auf, dessen gelehrter Verfasser – wie alle seine poetischen Zeitgenossen – ebenso selbstverständlich wie souverän zwischen beiden Sprachen changieren konnte. In diesem Zusammenhang wäre auch zu untersuchen, welche Bedeutung Dach selbst seinem lateinischen Dichten zuwies, dessen Anteil mit den Jahren geringer geworden zu sein scheint. Damit wäre die Überprüfung einer hier nur vorläufig formulierten Beobachtung zu verbinden, wonach kasuale Verfasserschriften in lateinischer Sprache von Dach im Verhältnis seltener vorgelegt worden zu sein scheinen als im deutschsprachigen Werkanteil, wo sie mit den Jahren kontinuierlich zunahmen. Für ein Dach-Portal ist es unentbehrlich, neben den Digitalisaten der lateinischen Texte auch deren Übersetzungen anzubieten. Vice versa aber sollte ein entsprechendes Vorhaben selbst von der Forschung profitieren, indem es in der Forschungslandschaft als eine zentrale Schnittstelle interdisziplinärer Kooperation installiert werden müßte, an deren Fortentwicklung die wissenschaftliche Gemeinschaft, denkbar wäre die gezielte Vergabe von Paßwörtern, auch von ›außen‹ beitragen könnte. So wäre es überaus hilfreich, Übersetzungen lateinischer Texte – selbstverständlich unter Angabe des Verfassers – aus vorliegenden oder noch entstehenden Forschungsarbeiten zu übernehmen. Für die Übersetzungen wäre, wiederum über ein link mit der Erfassungsmaske verbunden, ein eigenes Feld vorgesehen. Warum müßte man etwa für die in unserem Band übersetzten Texte noch einmal eine weitere Übersetzung anfertigen? Es ist doch kaum anzunehmen, daß die Autoren einer Zusammenarbeit mit einem Dach-Portal nicht zustimmen würden. Selbstverständlich müßte es aber die Aufgabe eines entsprechenden Forschungsvorhabens sein, gerade in diesem Bereich Vollständigkeit zu erzielen. Durch die ›Importe‹ würde diese Tätigkeit so weit wie möglich entlastet, was angesichts der Zahl der zu bearbeitenden Texte wünschenswert sein muß. Ich möchte deshalb die vertiefende Vorstellung des hier entwickelten Konzepts an einigen ausgewählten Beispielen selbst dafür nutzen, ein wenig dazu beizutragen.

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2. Präsentation und Diskussion einiger Beispiele Es ist sicherlich widersprüchlich, Beispiele für ein auf die technischen Möglichkeiten der Neuesten Medien konzipiertes Vorhaben im ›alten‹ Medium des Buchdrucks zu präsentieren. Es schafft aber durch eine exemplarische Demonstration des vorgeschlagenen Vorgehens und der daraus zu gewinnenden Erträge eine hilfreiche Transparenz für weitere Diskussionen dieses digitalen Projekts. Darüber hinaus eröffnet es wünschenswerte darstellerische Optionen, bereits an zwei ausgewählten Beispielkomplexen mit insgesamt sieben Texten Zusammenhänge des durch die bisherigen bibliographischen und editorischen Versäumnisse zerteilten und unzuverlässig erschlossenen poetischen Werks anzudeuten. Zugleich erfüllt sich mit diesem letzten Kapitel dadurch noch einmal das dem Herausgeber dieses Sammelbands besonders angelegene Interesse, nämlich die Texte Dachs selbst zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Auswahl der Beispiele sollte möglichst eine ganze Reihe zentraler Aspekte für die textliche Analyse und die kulturellen wie sozialen Kontexte der Dichtung Dachs erkennbar werden lassen. Das kann natürlich im vorgegebenen Rahmen nicht über einige Andeutungen hinaus entwickelt werden, eine eingehende Interpretation der Texte muß an dieser Stelle leider unterbleiben. Ausschlaggebend für die Auswahl waren folgende Erwägungen: Die führende Rolle, die Dach im Laufe der Zeit als Gelegenheitsdichter in Königsberg zuwuchs, und damit auch sein poetisches Wirken in das Umland anzudeuten; die engen Verbindungen Dachs zur kulturellen Trägerschicht von Stadt und Land zu markieren, die in dem Adressatenkreis deutlich werden und dazu führten, daß er vielfach mehrere Gedichte auf ein und dieselbe Person über einen Zeitraum von Jahrzehnten lieferte; den so pauschal attestierten Zudrang von Lebenswirklichkeit 93 an einzelnen Textzeugnissen zu überprüfen; Dach als (neu)lateinischen Dichter zu präsentieren und dabei sowohl unterschiedliche gesellschaftliche Kommunikationsräume, in denen er diese Gedichte lieferte, verschiedene mediale Formen, die er damit bediente, und das Zusammenspiel von lateinischer und deutscher Dichtung zu spezifischen Anlässen zu beobachten; poetologische Zusammenhänge erkennen zu geben, die sich in einem bemerkenswert variablen Verfügen des poeta doctus Dach über Gattungen, Stile, Traditionen und Vorbilder realisierten, innerhalb derer er dem jeweiligen Anlaß und Adressaten angemessene Argumente ausführte, sie glaubwürdig ordnete und sprachlich adäquat zum Nutzen, zur Belehrung und zur Erregung der Affekte seines Lesers formulierte; daraus dann vielleicht sogar den besonderen poetischen ›Ton‹ unserem Dichter ablauschen zu können, der möglicherweise in _______ 93

Ich greife hier eine Formulierung von Kelletat auf, der ebd. (wie Anm. 92), S. 400, von einem »für jene Zeit erstaunlichen Zudrang von Wirklichkeit« in Dachs Gedichten spricht. Ganz ähnlich kann es jetzt der an Königsberg Interessierte nachlesen bei: Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München [u.a.]: Hanser 2005, S. 50 f.: »Bei Simon Dachs Gedichten kommt der an Königsberger Lebensverhältnissen im 17. Jahrhundert interessierte Leser auf seine Kosten. Und wem an historischer Ortskunde gelegen ist, nicht minder. […] Alles hat einen nachvollziehbaren Anlaß und konkreten Bezug.«

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seiner Dichtung auf den Königsberger Freundeskreis am tiefsten herausklingt, ohne aber Typisches, Konventionelles, zu überhören; und schließlich – natürlich – einige grundsätzliche Unzulänglichkeiten und Unzuverlässigkeiten im Umgang mit Dachs Dichtung konkret nachzuweisen, aber doch auch die Grenzen, die nach 1945 ihrer Korrektur gesetzt sind, aufzuzeigen. 94

2.1. Zwei lateinische Gedichte für Daniel Klein aus den Jahren 1636 und 1653 Daniel Klein, 1609 in Kraupischken als Sohn des dortigen Pfarrers geboren, ist als Verfasser der ersten gedruckten litauischen Grammatik in die Geschichte eingegangen. Die litauische Forschung und die ausländische Lituanistik haben seiner Person und seinem Wirken aber nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet, sofern es nicht um seine exponierte Bedeutung für die litauische Sprachgeschichte und Linguistik ging. 95 Neben seiner 1653 gedruckten Grammatik, der im Jahr darauf ein deutschsprachiges Compendium folgte, das auch dem deutschen Leser das Erlernen der litauischen Sprache möglich machen sollte, verfaßte Klein ein litauisches Wörterbuch, das aber nicht gedruckt wurde, 96 außerdem erschien in seinem Todesjahr 1666 ein neues litauisches Gesangbuch von ihm. 97 Klein steht mit seinen Bemühungen um die litauische Sprache in einer Tradition, die seit Herzog Albrecht seitens der Regierung gefördert wurde: die Vermittlung der lutherischen Lehre an die Gläubigen in den litauischen Landgemeinden. 98 Die Albertina blieb bis zur Gründung der Universität Halle das _______ 94

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Auf Beispiele aus den Arien konnte im Blick auf die Aufsätze von Andreas Waczkat und Stefan Hanheide in diesem Band verzichtet werden. Diese ›Textgruppe‹ wurde dafür in den vorangehenden Ausführungen besonders hervorgehoben. Vgl. zu seiner Grammatik jetzt: Aldona Paulauskienơ: Pirmiosis lietuviǐ kalbos gramatikos. [Die ersten litauischen Grammatiken.] Vilnius: Gimtasis žodis 2006. Zu seiner Person: Schwarz: (sub verbo.) In: APB 2, S. 338; Regina Koženiauskienơ: XVI – XVIII amžiaus prakalbos ir dedikacijos. Vilnius: »Mokslo« 1990, S. 326; Domas Kaunas, Algirdas Žemaitaitis: (sub verbo.) In: Mažosios Lietuvos Enciklopedija. Bd. 2. Vilnius: Mokslo ir enciklopedijǐ leidybos institutas 2003, S. 229. Vgl. Vincentas Drotvinas: Die Anfänge der litauischen Philologie an der Königsberger Universität (16.–18. Jahrhundert). In: Kulturgeschichte Ostpreußens (wie Anm. 1), S. 405– 420, hier S. 409; ders.: Das »Lexicon Lithuanicum« – die Handschrift und Edition. In: Zeitschrift für Slawistik 34 (1989), Heft 2, S. 213–216. Daniel Klein: Neu Littausches/ verbessert= und mit vielen neuen Liedern vermehretes Gesangbuch/ […]. GIESMJU KNYGOS, Kurrose sénos Giesmes su pritárimu wissû BaĨnyczǀs Mokitoju per musu Lietuwa yra pagétintos/ O náujos gráĨos Giesmes pridétos. […] Königsberg: Friedrich Reusner 1666. – Zur Geschichte der litauischen Gesangbücher: Dainora Pocinjte: XVI–XVII a. protestantǐ bažnytinơs giesmơs. Lietuvos Didžioji Kunigaikštystơ ir Prnjsu Lietuva. [Protestantische Kirchengesänge des 16. und 17. Jahrhunderts. Das Großfürstentum Litauen und Preußisch-Litauen.] Vilnius: Pradai 1995 (Senosios literatnjros studijos). Aus der reichen litauischen wie deutschen Forschungsliteratur sei hier stellvertretend genannt: Axel E. Walter: Die Anfänge des litauischen Schrifttums im 16. Jahrhundert im Zei-

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einzige Zentrum litauischer ›Sprachstudien‹ im alten deutschen Sprachraum. Hier waren bald nach der Gründung eigene Alumnatstellen für Studenten der Theologie, die als Pfarrer für die litauischen Ämter ausgebildet werden sollten, eingerichtet worden. 99 Klein hatte an der Albertina studiert, erwarb dort 1636 seinen Magistergrad und wurde im Jahr darauf Pfarrer an der litauischen Kirche in Tilsit. Er absolvierte damit die übliche Ausbildung und Laufbahn litauischsprachiger Pfarrer in Ostpreußen von Mažvydas bis Donelaitis. Kleins Schriften erschienen alle in Königsberg in der Offizin Johann Reusners. Königsberg verfügte zu seinen Lebzeiten nicht nur über die einzigen Druckereien im Herzogtum, sondern es war seit den Anfängen eines litauischen Schrifttums im Zuge der Reformation einer der wichtigsten Druckorte litauischer Schriften. 100 Als Druckort und akademischer Standort, der neben mehreren litauischen Stipendien seit 1723 auch mit einem Litauischen Seminar ausgestattet war, besaß Königsberg über die Frühe Neuzeit hinaus eine herausragende Funktion für die Verbreitung litauischer Sprache und Literatur in das ›Volk‹ und für deren Austauschprozesse mit der deutschen Kultur in der Region und mit dem angrenzenden ehemaligen Großfürstentum. Klein und Dach dürften sich an der Königsberger Universität kennengelernt haben. Klein war an ihr seit 1623 als minorennis eingeschrieben und wurde 1628 vereidigt. Kontakte zwischen ihnen lassen sich aber nur als literarische fassen. Neben den beiden hier vorzustellenden Gedichten Dachs auf Kleins Magisterdisputation und zu dessen Grammatica Litvanica finden sich allerdings keine weiteren Zeugnisse literarischer Kommunikation zwischen beiden. Nur als vermittelnde Rezeption ohne personale Beziehung sind die Übersetzungen einiger Dachscher Kirchenlieder zu sehen, die Klein für sein litauisches Kirchengesangbuch nach Dachs Tod anfertigte. 101 Die beiden Gedichte Dachs sind von der litauischen Forschung ediert worden. Das Widmungsgedicht zur Grammatik liegt in mehreren Faksimile-Ausgaben des Buches vor, in diesem Falle auch in einem 1977 in Hamburg erschienenen unveränderten Nachdruck der Originalausgabe. 102 Von Dachs _______

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chen von Reformation und Humanismus – Ein Beitrag zur Geschichte des Protestantismus im Herzogtum Preußen. In: Ständische und religiöse Identitäten in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Stefan Kwiatkowski und Janusz Maááek. ToruĔ: Uniwersytetǐ Mikoáaja Kopernika 1998, S. 209–229. Für die des Litauischen unkundigen Leser dieses Aufsatzes sei zum litauischen Forschungsstand verweisen auf die Bände: Martynas Mažvydas and old Lithuania. Hg. von Domas Kaunas, Darius Kuolys, Regina Koženiauskienơ [u.a.]. Vilnius: Pradai 1998; Das Baltikum im sprachgeschichtlichen Kontext der europäischen Reformation. Internationales Arbeitsgespräch. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 21.–23. Mai 2003. Hg. von Jolanta Gelumbeckaitơ und Jost Gippert. Vilnius: Lietuviǐ Kalbos inst. 2005. Seit 1550 existierten eigene litauische Alumnatstellen; vgl. Arnoldt: Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 471–474. Dazu grundlegend (mit umfangreicher deutscher Zusammenfassung): Domas Kaunas: Mažosios Lietuvos knyga. Lietuviškos knygos raida 1547–1940. [Das Buch in Kleinlitauen. Die Entwicklung des litauischen Buchs 1547–1940.] Vilnius: Baltos lankos 1996 (Mažosios Lietuvos fondo leidiniai, 6). Vgl. den Anhang von Žavinta Sidabraitơ in diesem Band, S. 409. S. die Nachweise bei den Gedichtaufnahmen.

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Widmungsgedicht verfaßte Regina Koženiauskienơ in ihrer reich kommentierten Chrestomathie der Vorworte und Widmungen zu litauischen Werken des 16. bis 18. Jahrhunderts eine litauische Versnachdichtung, die als solche eigene literarische Ansprüche zu erfüllen sucht, den Text aber nicht verläßlich wiedergeben kann. 103 Dachs Gratulationsgedicht zur Magisterpromotion Kleins ist zusammen mit anderen Beiträgen zu dieser kasualen Sammelschrift ins Litauische übersetzt. Wie aber die Edition dieses Druckes ist auch die Übersetzung des Dach-Gedichts durch Henrikas Zabulis lückenhaft. 104 Text 1 Erfassungsebene 1 (Aufnahme des Gesamttitels): Titel:

Druckort: Drucker: Druckjahr: Format: Kollation: Standorte: Adressat: Beiträger:

In | Lauream Magistralem | Quâ | Rectore Magnifico | Dn: M. SIGISMVNDO WEIER, | Seniore, Historiarum Prof. Publ. & Seren: | Elect: Brand: Bibliothecaro. | Spectabilis Decanus | Dn. M. CHRISTOPHORUS EILARDUS, | Pöeseos Professor P. | Ornavit | Virum-Juvenem Præstantißimum | Dn. DANIELEM Klein Tilsa Prussum | Jn Inclytâ Bregelanâ, 6. Non: Octobr: | [Zierleiste] | M. D. XXXVI. o.O. [Königsberg] o.D. 1636 4° A4 *Universitätsbibliothek Wrocáaw, Sign.: 354314 Klein, Daniel 01 Weier, Sigismund d. Ä. (lat.) 02 Behm, Johann (lat.) 03 Tinctorius, Christoph (lat.) 04 Reimer, Matthäus (grch.) 05 Klugmihel, Crispin (lat.) 06 Eifler, Michael (lat.) 07 Linemann, Albert (lat.) 08 Thilo, Valentin (lat.) 09 Reinhardi, Zacharias (lat.) 10 Lösel, Georg (lat.) 11 Kepler, Ludwig (lat.) 12 Reimann, Michael (lat.) 13 Dach, Simon (lat.) 14 Faber, Johann Baptist (lat.) 15 Fabricius, Jacob (lat.) 16 Haubold, Johannes (lat.)

Erfassungsebene 2 (Dach-Beitrag): Datum: Incipit: Publikationsform:

1636.10.02 Per fruteta, per salebras, Kasuale Sammelschrift (Magisterdisputation)

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Koženiauskienơ: XVI – XVIII amžiaus prakalbos (wie Anm. 95), S. 383 f. So sind einige Gedichte aus der Sammelschrift ausgelassen, die Reihenfolge der Beiträge ist durcheinander geraten, einzelne Verse sind bei der Übersetzung sehr verkürzt. Der Aufsatz ist ebenfalls in der Datenaufnahme zu Titel 1 nachgewiesen.

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Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Weitere Editionen: Literaturangaben:

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r

Bl. [A3 – A4 ] 68 Verse trochäischer Tetrameter Gratulationsgedicht lat. Ziesemer II, S. 347, Nr. 19; Dünnhaupt, Nr. 141; Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums I, Nr. 0531 Henrikas Zabulis: Liaupsơs Danieliui Kleinui. In: Knygotyra 37 (2001), S. 254 – 269, S. 263 f. [mit kurzer Einleitung und litauischer Übersetzung von Dachs Gedicht, S. 268 f.].

Erfassungsebene 3 (Digitalisate) 106 Abgedruckt sind die Bl. [A1]r, [A3]v, [A4]r

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Für dieses und die weiteren hier vorgestellten Gedichte wäre in der Datenbank dieser Aufsatz anzugeben; darauf kann natürlich an dieser Stelle verzichtet werden. – Über die Benutzeroberfläche würden nur die ausgefüllten Felder für jeden Druck angezeigt. Unter den Vorgaben des Umfangs für diesen Band können hier nur das Titelblatt und die Seiten mit dem Dach-Beitrag zum Abdruck gebracht werden; in einem Dach-Portal wäre selbstverständlich der gesamte Druck als Digitalisat vorhanden. – Ich danke Stefan Anders M.A. (Osnabrück) für die Anfertigung der Digitalisate von den Mikrofilmen des Forschungsprojekts zum personalen Gelegenheitsschrifttum.

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Übersetzung: Durch Gebüsche, über holprige Wege, auf brüchigen Bergpfaden, durch Brombeerstauden, durch Gestrüpp und durch rauhe Riedgräser hindurch, über gefährliche Stellen allenthalben im hohen Gebirge und durch die entlegenen Krümmungen vielgestaltiger Täler, durch Weidenpflanzungen, die jedoch von fürchterlichen Dornensträuchern unwegsam gemacht sind, kam, unter unerträglichen Mühen und heftigsten Schmerzen einen gewaltigen Schwall von tausend Beschwerlichkeiten schluckend, unser Klein da an den Hort der Ruhe: hierher, wo die glückliche Tugend auf dem Throne sitzend, nicht im Glanz des flüchtigen Goldes oder von Edelsteinen blitzend noch in prangendem Prachtgewand als ganz äußerlicher Mitgift, sondern durch eigenes Licht und so noch heller leuchtend dem, der sie verehrt, die zugedachten Belohungen darreicht und immer darreichen wird. Klein, ein Schwelger der Beschwerlichkeit und Mühe, sitzt jetzt beim allerbesten Festschmaus am

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reich gedeckten Tisch und, nachdem er sich an den reichen Früchten der Wissenschaft gesättigt hat und hier und da und dort in schwierigen Dingen ausgebildet worden ist, trinkt er die vollen Becher des himmlischen Nektars und dürstet doch immer noch nach ihnen. Er verzehrt jetzt unzählige Ergötzlichkeiten mit glühendem Munde und netzt die liebliche Kehle mit Glück. Oder sind seine Ehrungen etwa nicht die Kennzeichen dieser Glückseligkeit, wenn er beschenkt wird durch den Lorbeerkranz und öffentlich ausgerufen wird als gelehrter Magister aller Künste? Gratuliere Muse, gratuliere unserem Klein! Er ist Mitglied der Gemeinschaft von Männern, die dem Ruhme opfern, er ist das Herz und das Mark Apolls genannt worden. Ihn küßt vertraulich das scherzende Geschlecht der Amoretten, ihn küßt die vornehme Venus, ihn küßt die ruhige Schar der Grazien mit dem nachfolgenden Geschlecht ihrer lieblichen Schwestern. Gratuliere Muse, gratuliere unserem Klein! Er wird fürderhin Licht der Kunst und Zierde der Wissenschaft und Stern des Preußenlandes heißen, mit Zustimmung des Schöpfers aller Gestirne, indem der immerwährende Ruf seines Lobes erschallt: Gratuliere Muse, gratuliere unserem Klein!

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Der Titel ist weder von Ziesemer noch Dünnhaupt vollständig zitiert, das Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums bildet wie stets ein Titelincipit aus den ersten sechs Worten. Ziesemer verfaßt einen verstümmelten Kurztitel: »In lauream magistralem, qua .. Decanus Ch. Eilardus ornavit virum D a n i e l e m K l e i n Tilsa Prussum. 6 Non. Nov.« 107 Dünnhaupt kann für seine Titelansetzung den Druck nicht konsultiert haben, er verkürzt lediglich Ziesemers Kurztitel und schafft ein unbrauchbares Titelfragment: »Anon., In lauream magistralem … virum Danielem Klein …«, das er ohne Hinweis auf die im Einzeldruck fehlende Angabe des Druckorts auf Königsberg lokalisiert. Wenngleich diese Zuordnung anzunehmen ist, bedarf es in einer soliden Bibliographie doch zweifellos eines klaren Hinweises darauf, daß der Druckort erschlossen ist. Von den insgesamt 16 Beiträgern nennt Ziesemer nur Weier, Behm, Tinctorius, Klugmihel, Eifler, Linemann, Thilo, Lösel, Kepler und Reimann; die übrigen fehlen ebenso wie der Hinweis, daß dieser Druck nicht nur lateinische, sondern auch ein griechisches Gedicht enthält. Dünnhaupt nennt keinen anderen Beiträger. Einzig das Handbuch ist vollständig; ihm geht es ja gerade um die biographische Erschließung der personalen Gelegenheitsschriften. Der Kreis, in dem Simon Dach als Beiträger auftritt, läßt sich nur hier fassen. Kasuale Sammelschriften bilden in der Anordnung der Beiträge die Hierarchie ab, die innerhalb des Gelehrtenstandes als verbindliche, auch sozial definierte Rangordnung eingehalten wurde. 108 Dach, soeben erst zum Konrektor der Königsberger Domschule ernannt, bekleidete einen den Schullehrern allgemein zugewiesenen niederen Rang, der sich auch in seiner Positionierung in dieser Schrift ausdrückt. Der zu würdigende Anlaß fand im akademischen Rechtsbezirk statt, dem der Konrektor nicht zugehörte. An der Spitze der Beiträger steht Sigismund Weier d. Ä. (1579 – 1661), dem als Professor der Geschichte dieser Vorrang vor seinen nachfolgenden Kollegen einzig durch sein aktuelles Amt als Rektor zugestanden war. 109 Mit Johann Behm (1578 – 1648) folgt der Professor primarius der Theologie, der Inhaber des ›vornehmsten‹ Lehrstuhls in der Universität, 110 mit dem soeben berufenen Christoph Tinctorius (1604 – 1662) ein Professor der medizinischen Fakultät. 111 Universitäre Juristen fehlen in dieser Sammelschrift, mit Matthäus Reimer (1581 – 1646) beginnt die Reihe der artistischen Fakultät. Mit dem Professor der Griechischen Sprache (Reimer), 112 der seines griechischen Beitrags wegen den auf Latein dichtenden Kollegen _______ 107 108

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Sperrungen bei Ziesemer. Dazu nach wie vor grundlegend: Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur. In: Ders.: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München: Beck 1995, S. 7–82. Ebenso: Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen: Niemeyer 1983 (Studien zur deutschen Literatur, 75). Fritz Gause: (sub verbo.) In: APB 2, S. 783. Weier war seit 1621 Professor der Geschichte, seit 1612 außerdem Bibliothekar der Schloßbibliothek. [Bruno] Schumacher: (sub verbo.) In: APB 1, S. 40. Professor seit 1612. Götz von Selle: (sub verbo.) In: APB 2, S. 736. Georg von Rauch: (sub verbo.) In: APB 2, S. 548. Professor seit 1616.

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voransteht, mit dem Professor der Praktischen Philosophie (Klugmihel), 113 dem Professor für Logik und Metaphysik (Eifler), 114 dem Professor für Mathematik (Linemann) 115 und dem Professor für Beredsamkeit (Thilo) 116 folgen Lehrstuhlinhaber der unteren Fakultät. Zusammen mit Weier sind somit sechs der acht artistischen Professoren vertreten, es fehlen der Hebräist Andreas Mylius (1606 –1649) und – doch ein wenig überraschend – der Professor für Poesie Christoph Eilard (1585 – 1639), der als Dekan der Fakultät nur im Titel genannt ist. Sämtliche Personen, das wäre über eine Datenbank leicht festzustellen, begegnen uns in verschiedenen Zusammenhängen entweder als Adressaten Dachscher Gedichte oder als Beiträger neben ihm in anderen Sammelschriften noch einmal, teilweise sogar mehrfach; 117 in mehreren Fällen bedichtete Dach außerdem Familienmitglieder, wie beispielsweise die Hochzeit zwischen Reimers Tochter Anna und Ludwig Kepler. 118 Die zweite Hälfte der Beiträger eröffnet mit dem Diakon von PreußischEylau Zacharias Reinhardi wiederum ein Theologe. 119 Mit Georg Lösel, Subinspektor der Alumnen an der Universität, ist dann ein untergeordneter Angehöriger der Akademie vertreten. 120 Mit ihm und Eifler, im Nebenamt als Inspektor der Alumen tätig, befinden sich somit die beiden Verantwortlichen für die Stipendiaten der Albertina unter den Beiträgern, was wohl als Hinweis genommen werden kann, daß Klein selbst Stipendiat gewesen war. Die personelle Präsenz der Universitätsprofessoren unter den Beiträgern bringt eine beachtliche Wertschätzung des frisch gekürten Magisters zum Ausdruck. Sich in diesem Kreise als gelehrter Dichter zu präsentieren, dürfte für einige der übrigen, durch ihre Ämter in der res publica litteraria der Professorenschaft standesmäßig untergeordneten Beiträger eine Motivation gewesen sein, zu diesem Anlaß beizusteu_______ 113 114 115 116 117

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Arnoldt: Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 44; Bd. 2, S. 388; Bd. 3, S. 68. Professor seit 1620. [Christian] Krollmann: (sub verbo.) In: APB 1, S. 161. Seit 1630 Professor der Logik und Inspektor alumnorum. Lehnerdt: (sub verbo.) In: APB 1, S. 401. Professor seit 1634. S.o. Anm. 49. An erster Stelle wäre hier Christoph Tinctorius zu nennen, auf den Dach verschiedene Gedichte verfaßte; er trat mit ihm zusammen aber beispielsweise auch in dem oben in Anm. 56 genannten Druck als Beiträger auf. Simon Dach: »Ludwig Keppler und Anna Reimer. 2. Jan. 1640.« In: ZIESEMER I, S. 75 f.; »Ad manes […] IOHANNIS KEPPLERI Mathematicorum summi.« In: ebd., S. 330. Das zweite Gedicht erschien in einer Sammelschrift, unter deren Beiträgern u.a. Johann Behm, Michael Eifler, Sigismund Weier, Albert Linemann, Andreas Mylius und ebenso Johann Baptist Faber wiederzufinden sind. Vgl. Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums (wie Anm. 14), Bd. 1, Nr. 0351. Er fehlt bei Arnoldt, Pisanski und in der APB. Sein Beitrag ist unterschrieben mit: »Ecclesiae Preusch-Eylaviensis Diaconus.« Arnoldt: Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 343; seit 1632 Subinspector der Alumnen, wurde 1639 Rektor auf dem Löbenicht. – Er taucht von den Beiträgern der zweiten Hälfte außer dem bereits erwähnten Kepler als einziger noch einmal unter den – in diesem Falle angesprochenen – Adressaten Dachs auf, soweit es sich über die Register bei Ziesemer eruieren läßt: Auf den Tod seiner Ehefrau dichtete Dach 1651 ein Epicedium ([Inc.:] »Bey ewrer schweren Arbeit Last«. In: ZIESEMER III, S. 407–410).

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ern. Für andere mögen persönliche Motive, die in der Kommunikation der Gelehrtenrepublik gerne bekundete ›Freundschaft‹ etwa, eine Rolle gespielt haben. Welche Motivation Dach zu seinem Beitrag verleitete, wäre spekulativ. In diesem Sammeldruck aus seiner poetischen Frühzeit kam ihm noch eine Stellung unter den poetae minores zu. Ludwig Kepler (1607 – 1663), Sohn des berühmten Astronomen und damals als Arzt in Königsberg praktizierend, 121 und der biographisch noch nicht ermittelte Michael Reimann besaßen beide den Magistertitel und waren so vor dem Konrektor, der damals noch keinen akademischen Abschluß besaß, plaziert. Immerhin wurde Dach als erster der Schullehrer aufgeführt, die die letzten poetischen Beiträge in diesem Druck lieferten.122 Dachs Beitrag ist der umfangreichste in diesem Druck. Das Latein ist verhältnismäßig einfach zu verstehen, durch die trochäischen Tetrameter, die asyndetische Struktur am Anfang zur Hervorhebung der Klimax, aus der Wildnis zum Ort der Ruhe (der Albertina) und aus der Barbarei zu den Früchten der Wissenschaft gelangt zu sein, dem als Refrainverse am Ende dreifach wiederholten Glückwunschzuruf gewinnt das Gedicht Lebendigkeit. Es wäre nun die Aufgabe eines Kommentatoren, mögliche Belege aus antiken Autoren beizubringen, auf die Dach für seine Beschreibung einer mit Insignien eines locus terribilis und teilweise mit einer lateinischen Lexik, die übertragene Bedeutung auch für den Bereich der Grammatik und Rhetorik besitzt, bewußt doppeldeutig ausgestalteten Wildnis anspielt. Die vollständige digitale Bereitstellung des Textes mit einer Übersetzung wird diese Aufgabe erleichtern. Sie kann hier nicht übernommen werden, sondern nur als Anregung für künftige literaturwissenschaftliche Interpretationen formuliert sein, denen ein Dach-Portal dann die zuverlässige bibliographische und textliche Basis bereitet hätte.

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[Kurt] Forstreuther: (sub verbo.) In: APB 1, S. 331; wurde 1639 in Padua zum Dr. med. und Dr. phil. promoviert, war danach seit 1643 Stadtphysikus der Altstadt und KöniglichSchwedischer Leibarzt. Zu erfahren ist in den hier konsultierten Werken nur etwas über Faber, vgl. Pisanski: Entwurf einer preußischen Literärgeschichte (wie Anm. 13), S. 421: Er wurde 1651 als Nachfolger Kaldenbachs Prorektor der Altstadt. Reimann unterzeichnet schlicht mit einem dem Namen vorgesetzten »M.«, Fabricius mit: »Scholae Elector. quae Tilsae est Conrector.« Haubold ist bislang gar nicht biographisch zu fassen.

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Text 2 Erfassungsebene 1 (Aufnahme des Gesamttitels): Titel:

Druckort: Drucker: Druckjahr: Format: Kollation: Standorte:

Adressat: Beiträger:

GRAMMATICA | Litvanica | Mandato & Autoritate | SERENISSIMI ELECTORIS | BRANDENBURGICI | adornata, | & præviâ Censurâ | primùm | in lucem edita | à | M. DANIELE Klein/ | Pastore Tils. Litv. | Præmissa est ad Lectorem Præfatio | non minùs utilis, quàm necessaria. | Cic. de Clar. Orat. | Nihil simul est & inventum & perfectum. | [Vignette] | REGIOMONTI, | Typis & sumptibus JOHANNIS REUSNERI, | ANNO íúóÏøñø÷ǀëÏ ( I ). I )(. LIII. Königsberg Reusner, Johann 1653 8° A8, b1 – b6, 174 S. [u.a.] *Bibliothek der Universität Vilnius, Sign.: Lr 484; Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Sign.: Ling. Slav. 251, misc. 1; Herzog AugustBibliothek Wolfenbüttel: 74.4 Gram. (2) Klein, Daniel 01 Dach, Simon (lat.) 02 Devitius, Caspar (lat.)

Erfassungsebene 2 (Dach-Beitrag): Datum: Überschrift: Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Weitere Editionen:

Kommentar:

1653.[09.26.] In Multùm Reverendi Dictissimique Viri M. DANIELIS KLEINII, &c. Grammaticen Lithvan. QVolibet in populo sunt signa vocabula rerum, Monographie (Grammatik) Bl. [b5v] 18 Verse elegische Distichen Widmungsgedicht lat. Ziesemer IV, S. 526, Nr. 115; Lietuvos TSR bibliografia. Serija A. Knygos lietuviǐ kalba I, S. 48. Pirmoji lietuviǐ kalbos gramatika. 1653 metai. Hg. von der Lietuvos TSR Mokslǐ Akademija, Lietuviǐ Kalbos ir Literatnjros Institutas. (Vilnius: Valstybinơ politinơs ir mokslinơs literatnjros leidykla 1957 [Faksimile]; Daniel Klein: Grammatica Lituanica (Regiomonti 1653). Compendium Lituanico-Germanicum, Oder kurtze und gantz deutliche Anführung zur Litauischen Sprache (Königsberg 1654). Hg. und mit einem Vorwort versehen von Harald Haarman. Hamburg: Buske 1977 (Linguarum Minorum Documenta Historiographica, 1) [Faksimile]; Regina Koženiauskienơ: XVI – XVIII amžiaus prakalbos ir dedikacijos. Vilnius: »Mokslo« 1990, S. 330–353 [Faksimile der Bl. A8, b1– b6] und S. 376–385 [litauische Übersetzung]. Datumsansetzung nach der Vorrede.

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Erfassungsebene 3 (Digitalisate) Abgedruckt sind das Titelbl. und Bl. [b5]v

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Übersetzung In jedem Volk sind Wörter die Zeichen für Dinge. Das Ding ist dasselbe, doch bei allen Völkern hat es einen anderen Klang. Die Künste lehnen es nicht ab, in allen möglichen Sprachen unterrichtet zu werden, und rechtmäßig verdient es keine Sprache, barbarisch genannt zu werden, wenn nur ein geeigneter Fachmann ihr die angemessene Pflege zuteil werden läßt und die ohne Regeln Herumschweifende unter seine Fahne ruft. Warum sollte die Frömmigkeit sich weigern, in litauischer Sprache unterrichtet zu werden, oder die Tugend, die man mit litauischen Buchstaben lehren müßte? Gleichwohl hieß diese unverdient eine barbarische Sprache, daher lag sie als ungestalter Klumpen ohne einen Beschützer am 123 Boden. KLEIN duldet dies nicht, der Priester am Rande der Zeit, indem er sich an das Werk einer litauischen Grammatik macht. Rührig erforscht er allerorten das Wesen der Sprache, und wo es unklar ist, bringt er es in die gebührende Ordnung. Schließlich versieht er die geordnete Sprache mit knappen Regeln und bewirkt, daß sie, mit sich selbst übereinstimmend, im Glanze erstrahlt. Wenn es denn je einmal so gewesen sein sollte, so ist dieses Volk durch solch einen Beschützer der Sprache nicht mehr barbarisch, und die Pflege, die der Sprache zuteil wurde, wird dereinst auch den Köpfen und Herzen zuteil werden.

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Gemeint ist wohl im übertragenen Sinne »bewohnte Welt«. – Ich danke Prof. Dr. Robert Seidel (Frankfurt/M.) für die Überprüfung meiner Übersetzungen, insbes. für seine freundschaftlichen Texteingriffe beim Widmungsgedicht.

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Dieses Gedicht fehlt bei Dünnhaupt. Ziesemer weist es als letzte Nummer in seinem vierten Band nach, erneut mit einer ungenauen Titelansetzung: »In multum V i r i M . D a n i e l i s K l e i n i i Grammaticen Lithvan. In: Dan. Klein, Pastor Tils. Grammatica Litvanica. Reg. 1653.« 124 Es scheint fast, als ob ihm das Gedicht erst nachträglich bekannt geworden ist, die letzten drei Stücke in seinem Anhang der lateinischen Gedichte Dachs stehen in diesem Band außerhalb der ansonsten chronologischen Reihenfolge. Die Bände 3 und 4 versammeln gemäß der ›Ordnung‹ dieser Ausgabe »Geistliche Lieder [und] Trostgedichte«! Daß ihm Dachs Widmungsgedicht erst kurz vor Abschluß seiner Ausgabe in die Hände gefallen sein könnte, würde angesichts dieser vollkommen unsinnigen Einordnung zumindest als eine Ehrenrettung des Herausgebers dienen. Den zweiten Beiträger nennt Ziesemer nicht. Es handelt sich um Caspar Devitius, einen gebürtigen Pommern, der 1643 in Königsberg zum Magister promoviert und im selben Jahr zum Rektor der Provinzialschule in Tilsit ernannt worden war. Er bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tode 1665. 125 In preußischen ›Hinterstädten‹ wie Tilsit gab es nur eine kleine gelehrte Schicht, innerhalb derer einem Schulrektor wie einem Pfarrer führende Positionen zukamen. Wir wissen nicht genau, wie ausgeprägt die gelehrten Verbindungen zwischen der ›Provinz‹ und dem kulturellen Zentrum Königsberg waren; 126 es wird aber kaum anders als überall in der damaligen Gelehrtenrepublik gewesen sein, daß nämlich die Angehörigen der gelehrten Schicht an diesen Orten mit den kommunikativen Netzwerken der Gelehrtenrepublik nur lose verknüpft waren.127 Simon Dach nimmt nunmehr die erste Position ein. Er hatte inzwischen nicht nur die Stellung des führenden Poeten in Preußen erreicht, dem dieser Rang vor einem poetisch dilettierenden Provinzialschulrektor selbstverständlich zustand, sondern er war diesem auch in der gelehrten wie der sozialen Hierarchie als Professor der Landesuniversität eindeutig übergeordnet. Wieder wäre über die Frage zu spekulieren, welche Gründe sein Schreiben, das zweifellos unbezahlt blieb, in diesem Fall motivierten: Klein konnte vielleicht auf eine Bekanntschaft verweisen, die siebzehn Jahre zuvor poetisch justiert worden war; Dach mag in seiner Position als Poetikprofessor mit der Begutachtung der Grammatik betraut worden sein, mußten doch sämtliche Publikationen vor ihrer Veröffentlichung der Universität als Zensurbehörde vorgelegt werden, so daß er womöglich das in Ausübung seiner Amtspflicht geäußerte positive Urteil nurmehr in Verse umzugießen brauchte – es wird sich kaum herausfinden lassen, doch als ›Pflichtbeitrag‹, den er von Amts wegen zu liefern hatte, wie es Ziesemer pauschal als Schreibmotivation für seine lateinische Dichtung anführte, kann man dieses Ge_______ 124 125 126

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Sperrungen bei Ziesemer. Arnoldt: Historie der Königsbergischen Universität (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 132; 4, S. 60. Zu den Strukturen und der dominierenden Rolle Königsbergs als kulturelles Zentrum des Herzogtums Preußen im 17. Jahrhundert vgl. meinen Musterartikel für das Osnabrücker Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Er soll demnächst über die hompage des Projekts ins Netz gestellt werden. Vgl. dazu exemplarisch den großen Beitrag von Wilhelm Kühlmann: Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus: Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1572–1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen. Amsterdam: Rodopi 1988 (Daphnis, 17).

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dicht zweifellos nicht bezeichnen. Dessen ungeachtet formuliert Dach ein beachtlich dezidiertes Plädoyer für die litauische Sprache und ihre kulturelle Funktion im Herzogtum Preußen. Die aufgrund seines Geburtsorts Memel, der Tätigkeit seines Vaters als Tolke für die litauische, polnische und kurische Sprache auf dem dortigen Schloß und insonderheit seines Gedichts auf die Hochzeit von Johann Christoff Rehefeld und Anna Cörber (1655), in dem er der »Tangen Rand« mit »mein liebes Vaterland« reimt, in der Literatur gerne einmal aufgegriffene Frage nach ›litauischen Wurzeln‹ Simon Dachs ist demungeachtet müßig. 128 Mit Christoph Wilkau (1598 – 1647), Sohn des polnischen Pfarrers auf dem Steindamm und der Tochter Johann Bretkes, des ersten litauischen Bibelübersetzers und litauischen Pfarrers von St. Elisabeth in Königsberg, 129 gehörte dem Königsberger Freundeskreis um Dach, Albert und Roberthin jemand an, der durch sein Elternhaus viel tiefere litauische Prägungen erhalten haben könnte. 130 Höchstwahrscheinlich aus seiner Feder stammt ein scherzhaftes Epithalamium aus dem Jahre 1640, in dem es darum geht, »Ob es wol müglich sey/ daß ein Studente hier | Ein Meltzenbrewer sey? vnd brawe Schwartzes Bier?« 131 Der dritte Einwand wird hier vom lyrischen Ich, das dafür den biographischen Rückbezug auf seine Mutter anführen kann, mit einigen litauischen Sprachbrocken entkräftet: […] Das man nicht Littawsch kan Deßwegen man nicht taug zu einem Brauersmann[.] Antwort: Wer hat jemals von Littawsch Bier gebrawen Kann ich nicht Littawsch Polnsch/ so können es die Frawen. Meine Fraw Mutter sprach kan mir gleich helffen auß Als deine gantze Kunst/ Kassir, Sakik, Allaus. Was dienet mir wol mehr als Labas rits baus gieras Bau sweix: ka turri pardoti, Brol kais brangas

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Mit dieser Fragestellung eröffnet beispielsweise Jovita Saulơnienơ: Simonas Dachas Klaipơdietis prnjsas. Klaipơda: Jokužis 2005 ihr – übrigens wenig ergiebiges – Buch: »Ar S. Dachui Miumelis – tik ›Tơvǐ miestas‹?«, S. 14–20. Auch George C. Schoolfield: Memory’s Lane: Simon Dach’s Memel Epithalamium of January 18, 1655. In: Life’s golden tree. Essays in German literature from the Renaissance to Rilke. Hg. von Thomas Kerth und George C. Schoolfield. Columbia: Camden House 1996 (Studies in German literature, linguistics, and culture), S. 64–100, diskutiert S. 94 f. diese Frage. Vgl. dagegen meinen Aufsatz: Simon Dach – der preußische Archeget der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. von Jens Stüben. München: Oldenbourg 2006 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 30), S. 205–233, hier S. 224. Vgl. dazu Axel E. Walter: Königsberger Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. Eine Einführung. Mit einem unbekannten Druck auf die Hochzeit des polnischen Pfarrers von Königsberg Stephan Wilkau mit der Tochter des litauischen Pfarrers Johann Bretke. In: Knygotyra 35 (1999), S. 66–82. Zu ihm: Ulrich Maché: (sub verbo.) In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 12. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1992, S. 334; Fritz Gause: (sub verbo.) In: APB 2, S. 806. Der Druck findet sich im Konvolut SS 41 (W), das Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) als einzige der von ihm angeführten Königsberger Provenienzen korrekt der Akademiebibliothek Vilnius zuweist; heutige Sign.: V 1–257; dort nach alter Zählung als Nr. 141 eingebunden. Das Gedicht befindet sich somit im direkten ›Sammlungsumfeld‹ Dachs.

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Kettwirts messu, Ecksie, wosiock y Spykere Tu gausi mannip piw, ir giera pusritzie Kitta karta pareck, wesiock Diewa wardan Diewas usmock hör ob ich auch nicht Littawsch kan Was darff ich nun wol mehr. Ich kan diß Littawsch machen. 132 […].

Diese litauischen Passagen sind als eine ins Lächerliche gezogene Inszenierung zu lesen, in der der angebliche Student (Wilkau war polnischer Notar, der Bräutigam Prorektor der Schule auf dem Löbenicht) eine Sprache verballhornt, die für den Markt und das Bierbrauen benutzt wurde, die aber noch unerreichbar weit vom Rang einer Literatursprache entfernt war. Die ›Einstreuung‹ volkssprachiger Worte, Verse oder gar Strophen in Epithalamien war im 17. Jahrhundert keineswegs ungewöhnlich; 133 dadurch wurde im Moment des fröhlichunbeschwerten Festes eine ›volkstümliche‹ Authentizität inszeniert, ohne diese Dialekte ihres gesellschaftlich zugewiesenen Kommunikationsraumes entheben zu wollen. Zwar finden sich um diese Zeit in Königsberger Gelegenheitsdrucken mindestens zwei Einzelbeispiele kurzer litauischsprachiger Gedichte, 134 und im benachbarten Großfürstentum entstand bereits 1589 ein erstes – und lange singulär bleibendes – litauisches Hexametergedicht auf den polnischen König und litauischen Großherzog Zygmunt III. Wasa, 135 doch auch einhundert Jahre nach dem Einsetzen eines gedruckten litauischen Schrifttums mit dem Katechismus von Martynas Mažvydas hatte sich der soziale Kontaktraum, der dem Litauischen zugewiesen war, nicht verändert. Es war die Sprache der niederen Schichten, zumal der Bauern in den ländlichen Ämtern, deren Pflege und Förderung nur für den Gottesdienst erfolgte, um den einfachen Gläubigen das rechte lutherische Gotteswort auch in ihrer Sprache verständlich zu machen. Daraus resultiert, daß die eigentliche ›literarische‹ Produktion in litauischer Sprache während des gesamten 17. Jahrhunderts fast ausnahmslos in einer Übersetzungstätigkeit von Kirchenliedern aus der deutschen Sprache bestand. Dach spielt in seinem Widmungsgedicht zu Kleins Grammatik auf die der litauischen Sprache seit Mažvydas anstammende Rolle an, indem auch er sie für _______ 132

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C[hristoph] W[ilkau]: »Hochzeit=Frage«, ebd., V. 31–43. Die litauischen Verse sind in Antiqua gesetzt, über ihnen stehen im Druck deutsche Übersetzungen. Die Stellen ab »Labas rits« lauten dort wie folgt: »Gutten Morgen wie geht’s | Bist du noch gesund/ was hastu zu verkauffen/ Bruder wie thewr | Die Scheffel Gerst, Kom fahr nach dem Speicher | Ich wil dir gut Schwartzbier vnd Frühstück geben | Ein andermahl kom wieder Fahr in Gottes Nahm | Hab danck.« Der erste Halbvers, dort nicht übersetzt, heißt: »Was ist, sag’ mal, das Bier«. Vgl. die niederdeutschen Beispiele bei: Juliane Fuchs: HimmelFelß und Glückes Schutz. Studien zu Bremer Hochzeitsgedichten des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1994 (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur, 16). Sie sind – zusammen mit dem hier zitierten Gedicht – vorgestellt von: F. W. Neumann: Litauische Gelegenheitsgedichte aus dem 17. Jahrhundert. In: Archivum Philologicum. Humanitariniǐ Mokslǐ fakulteto raštai (Kaunas) 5 (1935), S. 126–133. Hier S. 132 auch der Identifizierungsvorschlag des Kürzels »CW«, der durch den Bezug auf die Mutter, den Neumann übersieht, meines Erachtens sein schlagendes Argument hinzugewinnt. Vgl. Georg Gerullis: Litauische Hexameter von 1589. In: Filologu biedrƯbas raksti 10 (1929), S. 1–4.

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geeignet genug erklärt, Frömmigkeit und Tugend unter den Menschen zu verbreiten. Er lobt an Kleins Buch, das Litauische zu Recht vom Vorwurf des Barbarischen zu reinigen. Die landschaftliche Wildnis, aus der Klein sich in Dachs Gratulationsgedicht nach Königsberg durchgeschlagen hatte, wird in diesem Widmungsgedicht als Ort erkennbar, den man zu Unrecht sprachlicher – und damit sittlicher – Barbarei bezichtige. So wie Klein durch seine Magisterwürde quasi alles Barbarische abgestreift hat, so wirke er nun als »Priester am Rand der Welt« – in Tilsit, dem Verwaltungsort eines der größten litauischen Ämter im Herzogtum – dafür, dem litauischen Volk die Sprache zu geben, durch die es von jeglicher Barbarei befreit werde. Dachs elegische Distichen sind formvollendet, sie verleihen mit einer gezielt gesuchten Stilhöhe (durch die sie nicht mehr so leicht zugänglich sind wie das Gedicht von 1636) dem Lehrbuch Kleins somit selbst im Medium der Sprache, und zwar der autoritären Sprache der res publica litteraria, eine gelehrte ›Weihe‹, für die sich der Dichter und Professor Dach durch sein Widmungsgedicht verbürgt. In den Rang einer Literatursprache erhebt er das Litauische dafür nicht, diesen erkannte er neben dem Lateinischen nur der deutschen Sprache zu – es war einzig die »Kunst der Deutschen Reime«, 136 die er Preußen gelehrt zu haben beanspruchte, wie auch das »Vaterland« in dem erwähnten Gedicht auf Memel von ihm in einem regionalen Kulturpatriotismus als Sitz der deutschen Musen deklariert wurde. Aus seiner didaktischen Funktion der Vermittlung von rechtem Glauben und Tugend wird das Litauische nicht abgelöst. Doch es bliebe zweifellos noch genauer zu analysieren, inwieweit Dach mit seinem Gedicht auf zeitgenössische Sprachdiskussionen rekurriert und humanistische Positionen übernimmt, die spätestens seit Vives in einem Bewußtsein von der möglichen Pluralität von Sprachen und der Besonderheit der je eigenen Sprache entwickelt worden waren. 137 Das freilich kann an dieser Stelle erneut nur angeregt werden; statt dessen möchte ich zu meinem zweiten Beispielkomplex übergehen. Nur soviel sei noch als Zwischenbemerkung vorgeschaltet: Biographische, lokal- oder zeitgeschichtliche Mitteilungen, die Kelletat in Dachs lateinischen Gedichten vor allem erwartete, sind in diesen beiden Gedichten so gut wie gar nicht zu finden.

2.2. Poetischer Grabschmuck: Gedichte Dachs im Mausoleum Roberthins (1648) Der zweite Beispielkomplex ist ausgewählt worden, um die Grenzen aufzuzeigen, die einer Erfassung und Erschließung der Gedichte Dachs gesetzt bleiben, sofern man nicht auf Einzeldrucke zugreifen kann. Bereits bei zeitgenössischen Schriften, in die Gedichte und Lieder Dachs eingingen, ist mit Texteingriffen _______ 136 137

So der bekannte Vers Dachs in: »Unterthänigste letzte Fleh=Schrifft« (wie Anm. 35) Str. 5. Einführend dazu (mit der wichtigsten Literatur): Axel E. Walter: Literatursprache. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 1 ff. Tübingen: Niemeyer 1992 ff. (bislang 7 Bde.), hier Bd. 5 (2000), Sp. 326–349.

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des Herausgebers in das ›Original‹ des Dichters zu rechnen. 138 350 Jahre nach Dachs Tod läßt sich keineswegs mehr sein poetisches Gesamtwerk in jedem Einzeltitel als geistiges ›Eigentum‹ und damit originäres sprachliches ›Kunstwerk‹ des Autors zurückgewinnen. Das gilt natürlich noch mehr für die einst nur in Manuskripten verschiedener Schreiber überlieferten Texte, die jeweils einen Textbestand ›zweiter Hand‹ fixierten, auf den sich ein späterer Herausgeber wie Ziesemer – oder vor ihm Priebsch – verlassen mußte. Daß bei der Abschrift dieser Abschriften ebenfalls Fehler geschehen sind und somit auch der Textbestand der Handschriften nach ihrem Verlust nicht mehr buchstabengetreu zu rekonstruieren ist, hat Schöne anhand der verschiedenen Abdrucke Ziesemers von Dachs Klage über den endlichen Vntergang vnd ruinierung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens aufgezeigt. 139 Gleichwohl ergeben sich mitunter ungeahnte Möglichkeiten, über den bisherigen Stand der bibliographischen Erfassung und der Edition hinauszugelangen, wenngleich sie erhebliche philologische Mühen verlangen und nur in ganz glücklichen Ausnahmen eine so gute textliche Basis finden werden wie im folgenden. Dafür ist ein Textzeugnis einführen, das bisher in der Dach-Forschung unbeachtet blieb. Es handelt sich um Caspar Steins Peregrinator, im vollständigen Titel Irdischer Wanderer zur glücklichen Wallfahrt in diesem Leben und zur glückseligen Ausreise und Heimkehr ins himmlische Vaterland. Stein (1592 – 1652), der in Greifswald, Frankfurt/Oder und Jena studiert hatte, verfaßte nach der Rückkehr in seine Vaterstadt, wo er sich als Arzt niederließ, 140 dieses Werk von mehr als 1.300 Seiten, in dem er die Erlebnisse seiner mehrjährigen Bildungsreise durch Europa mit reisepraktischen Anweisungen, aus anderen Quellen gezogenen historischen Nachrichten (seit Anbeginn der Welt) und christlichen Moralvorstellungen zur Lebensführung mischte. Der lateinische Peregrinator blieb zu seinen Lebzeiten ungedruckt; das zweibändige Manuskript, das sich in der Königsberger Stadtbibliothek befand, ist heute verschollen. Allerdings edierte Arnold Charisius 1911 das umfangreiche KönigsbergKapitel daraus in einer deutschen Übersetzung. 141 Dachs Zeitgenosse Stein, der in seiner Beschreibungs- und Wahrnehmungstechnik den Vorgaben zeitgenössischer Apodemiken verpflichtet ist, liefert damit die einzige ›einheimische‹ Stadtbeschreibung, die wir aus dem 17. Jahrhundert besitzen. Sie ist ganz auf die Stiftung urbaner Memoria bedacht. _______ 138

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Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, daß auch bei den kasualen Einzeldrucken Satzfehler durch die – in der Regel ›ungelehrten‹ – Drucker vorkommen; vgl. nur in dem Gedicht auf Kleins Magisterdisputation die (von mir korrigierten) Worte »pass[i]m« (V. 5), »renun[t]iatur« (V. 45), »s[i]dus« (V. 63), »s[i]derum« (V. 64), »Cond[i]tore« (V. 65). Schöne: Kürbishütte und Königsberg (wie Anm. 70) zählt für die Erstdrucke nicht weniger als 88 (Ziesemer: Neues zu Simon Dach [wie Anm. 53]) bzw. 105 (Walther Ziesemer: Simon Dach. In: Altpreußische Forschungen 1 [1924], S. 23–56) Abweichungen gegenüber der Edition in ZIESEMER I, S. 91–96. Zum ihm Fritz Gause: (sub verbo.) In: APB 2, S. 694. Auch erschienen im Nachdruck: Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V. 1998 (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen, 91).

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Stein bietet in seiner Stadtbeschreibung unter anderem eine genaue Darstellung der Grabstätte Robert Roberthins auf dem Löbenichter Kirchhof. Dort befanden sich »eine aus Holz erbaute Leichenhalle und der an der Mauer befestigte Grabstein R o b e r t R o b e r t i n s .« 142 Ganz offensichtlich maß Stein dem Verstorbenen eine so wichtige Stellung im gelehrten und literarischen Leben Königsbergs bei, daß er diese Grabstätte eingehend beschrieb. Stein notierte dabei sämtliche Inschriften, die an den Wänden des Mausoleums standen. In der Edition von Charisius bietet sein Text die Grundlage der folgenden Ausführungen. Es handelte sich auch in den Maßstäben des 17. Jahrhunderts um eine auffällige Grabstätte, die dem bürgerlichen Verstorbenen hier von der Familie und den Freunden für die Nachwelt errichtet worden war. Der Rolle Roberthins im Leben gemäß, der gleichsam »zum wahrhaftigen Besten seines Vaterlands und der Litteratur« 143 gewirkt hatte, wurde sein Mausoleum mit einem umfangreichen Textprogramm ausgestaltet, das in wechselnden Versformen unter verschiedenen Aspekten Grundfragen von Leben und Tod verhandelte. Dieses Textprogramm war, wie zu zeigen, zweisprachig gestaltet; sein Verfasser war Simon Dach. Über den Adressaten Robert Roberthin (1600 – 1648) muß an dieser Stelle nichts weiter gesagt werden, seine Rolle als ›spiritus rector‹ des sog. Königsberger Dichterkreises ist hinlänglich bekannt. 144 Wie Klein entstammte er einem protestantischen Pfarrhaus und somit jenem nicht nur, aber doch mehr noch als in anderen Regionen des alten deutschen Sprachraums für die Kulturgeschichte in der Frühen Neuzeit so ungemein prägendem lutherisch-humanistischen Milieu, das hier nach der Säkularisierung des Ordensstaats die Verbreitung des Luthertums und der mit diesem verbundenen Bildungsideale unter der vornehmlich ländlichen Bevölkerung entscheidend sicherte. Roberthin ist der entscheidende Vermittler der deutschen und niederländischen nationalsprachigen Dichtungsprogramme nach ›Ostpreußen‹, wobei noch im einzelnen zu untersuchen bleibt, welchen Einfluß der oberrheinisch-westeuropäische, irenische Späthumanismus auf das kulturelle Leben Königsbergs in dieser Zeit ausübte. Dach verband mit Roberthin ein sehr enges und außerordentlich freundschaftliches Verhältnis, das keineswegs mit dem Freundschaftskult der Gelehrtenrepublik zu verwechseln ist. Er eignete keiner anderen Person so häufig Gedichte zu. Hier wurde ein Leben bis über den Tod des Freundes hinaus poetisch _______ 142 143 144

Stein: Das Alte Königsberg (vollständige Zitation in der Erfassungsmaske), S. 73. – Sperrungen im Original. Ebd. Roberthin fehlt in keinem einschlägigen deutschsprachigen biographischen Lexikon, wird aber darüber hinaus fast nur im Zusammenhang mit Dach und dem sog. Dichterkreis behandelt. Ewald Schepper: (sub verbo.) In: APB 2, S. 562; Ulrich Maché: (sub verbo). In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 9. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1991, S. 491 f.; ausführlicher: Axel E. Walter: (sub verbo.) In: Ostdeutsche Gedenktage 1998. Persönlichkeiten und Historische Ereignisse. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1997, S. 95–101. Größere Beiträge stammen von Hermann Oesterley: Robert Roberthin. In: Altpreußische Monatsschrift 12 (1875), S. 27–50; L[eopold] H[ermann] Fischer: Nachträge zu Robertins Gedichten. In: Altpreußische Monatsschrift 22 (1885), S. 606–617. Nicht nur als Dichter wartet Roberthin noch auf seine wissenschaftliche Entdeckung.

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begleitet und für die Erinnerung der Nachwelt bewahrt. Über eineinhalb Jahrzehnte fand in diesen Gedichten in verschiedenen Gattungen und Stilen eine literarische Kommunikation Gestaltung, die der Dichter in einem je nach Anlaß und dafür gewählter Form wie Sprache genau austarierten Spannungsverhältnis persönlichen und gelehrten, vertraulichen und rollenbewußten, alltagsbezogenen und traditionsverhafteten, selbstreflexiven und selbstgewissen, privaten und öffentlichen Sprechens inszenierte. Die biographischen und situativen Schreibmotivationen sind gänzlich andere als im Falle Kleins. Ein erstes Propemptikon stammte vom August 1634, als Roberthin Königsberg in Richtung Sonnenberg verließ. 145 Das letzte Gedicht war die lateinische Memoria ROBERTI ROBERTINI, die Dach im Gedenken an seinen am 7. April 1648 verstorbenen Freund ein Jahr später im Druck veröffentlichte. 146 Insgesamt sind es, wenn man das dem Verstorbenen noch einmal gedenkende Epithalamium auf die Wiederverheiratung der Witwe vom 10. Oktober 1650 hinzurechnet, 147 ein Dutzend Gedichte, die Oesterley und Ziesemer dieser personalen ›Gruppe‹ von Kasualgedichten eindeutig zuordnen. Roberthins Rückkehr nach Königsberg 1636, 148 seine Hochzeit mit Ursula Vogt 1639, zu der ein lateinisches Gedicht 149 und ein deutschsprachiges in der von Dach gerne geübten, ganz auf die Aufführung vor der Hochzeitsgesellschaft angelegten Mischform erzählender Alexandriner und eingewobener Lieder 150 entstanden, dann der Bezug einer neuen Wohnung des Ehepaares 1641 151 und schließlich der Tod Roberthins 152 boten die Anlässe für diese Gedichte, von denen fünf in lateinischer Sprache verfaßt sind. Die prinzipielle Zweisprachigkeit von Dachs Dichtung und die Anlaß- oder Adressatenorientiertheit der Entscheidung für das Latein, Dachs ausgeprägte Fähigkeit der stilistischen und formalen Variation in Angemessenheit zu Anlässen und Adressaten, schließlich – und vor allem – die wechselseitigen Bezüge seiner Dichtung aufeinander, die für jede Interpretation eines Einzelgedichts in diesem in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts in einer derartigen regionalen Konzentration, personalen Verwobenheit und zeitlichen Produktionsfrequenz vielleicht singulären Gesamtwerk zu berücksichtigen sind – das alles wird bereits an dieser kleinen Gedichtgruppe deutlich. _______ 145 146 147 148 149 150

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»Abschieds=Lied.« In: ZIESEMER I, S. 24 ff.; OESTERLEY, S. 719–722. »Memoria ROBERTI ROBERTINI.« In: ZIESEMER IV, S. 516 ff.; OESTERLEY, S. 741–745. »Jacob Bohle und Ursula Vogt.« In: ZIESEMER I, S. 256 f.; OESTERLEY, S. 745 f. »Roberto Robertino […] in patriam redeunti gratulatur […].« In: ZIESEMER IV, S. 526; OESTERLEY, S. 722 f. [Inc.:] »Nostras nunc gravidus mero per urbes«. In: ZIESEMER I, S. 326 f.; OESTERLEY, S. 723 f. »Robert Roberthin und Ursula Vogt.« In: ZIESEMER I, S. 55–61; OESTERLEY, S. 724–732. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) weist beide Gedichte – der Anlage seiner Bibliographie entsprechend – unter dem Einzeldruck Nr. 178 nach. »Wander=Lied.« In: ZIESEMER II, S. 66; OESTERLEY, S. 732 f. »Bittere Klage vber des […] H. Robert Roberthins, […] Hintritt aus dieser Welt […].« In: ZIESEMER III, S. 207–210; OESTERLEY, S. 734–740. – »Epitaphium […] ROBERTO ROBERTINO.« In: ZIESEMER IV, S. 514 f.; OESTERLEY, S. 740 f. – S. auch die folgende Anm.

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An ihr werden ebenso die Unzulänglichkeiten und Mängel der bisherigen Dach-Ausgaben noch einmal in nuce offenkundig. Oesterley hat immerhin die ihm zugänglichen Texte (mit Ausnahme der ihm noch unbekannten Danckbarliche[n] Auffrichtigkeit) in chronologischer Folge – also auch die lateinischen Gedichte – zusammenhängend ediert; mit Ausnahme des bald in die protestantischen Kirchengesangbücher eingegangenen Lieds »Ich bin ja, Herr, in deiner Macht«, 153 das Dach laut Titel des Einzeldrucks bereits Jahre vor Roberthins Tod auf dessen Wunsch verfaßt hatte. Es findet sich bei Oesterley unter den »geistlichen Liedern« eingeordnet, also unter dem Aspekt seiner Rezeption und nicht seiner adressaten- und anlaßgebundenen Produktion. Die Unzuverlässigkeit der textlichen Widergabe, die in einer konsequenten Kleinschreibung gipfelt, ist für Oesterleys Ausgabe hinlänglich bekannt. Ziesemer ist da zwar mehr zu trauen, wenngleich auch er wieder einmal nirgends fehlerlos bleibt. Er hat aber die textlichen wie kommunikativen Kontexte gänzlich verwischt, indem nunmehr das Textcorpus über die vier Bände auf die ›weltlichen‹ und ›geistlichen‹ Gedichte verstreut wird. Wie eng die intratextuellen Bezüge etwa zwischen der Danckbarliche[n] Auffrichtigkeit, 154 die Ziesemer aus der Staatsarchiv-Handschrift druckte, und der Memoria ROBERTI ROBERTINI sogar über die Sprachgrenzen hinaus waren, hat Robert Seidel soeben aufgezeigt; 155 für Dachs große Versepistel, die bis heute auf ihre Interpretation wartet, 156 sind diese Bezüge jedoch bis zum ersten Gedicht auf Roberthin zurückzuverfolgen, sie sind desgleichen in seinem Epithalamium von 1639 zu entdecken, wenn hier wie dort der Dichter seinem Leben die Rolle des Freundes fest einschreibt. Ziesemer ediert immerhin im Anhang seines vierten Bands neben der Memoria auch Dachs Epitaphium. Daß die Gedichte Dachs an bzw. auf Roberthin aber von Oesterley und Ziesemer damit noch keineswegs vollständig zusammengetragen sind, zeigt nun Caspar Steins Peregrinator. Der erste Text, der in der Edition von Charisius zu finden ist, gibt sich sofort als deutsche Nachdichtung zu erkennen: »Wenn dich, o Wanderer, die nicht oft geschaute Tugend, […]« lautet der erste der reimlosen Verse. Diese Zeile nun läßt sich leicht in »Si te, viator, rara conspici virtus« zurück übersetzen. Dieses Gedicht hat Oesterley mit der Überschrift Auf Roberthins leichensteine. D. O. M. S. ediert. 157 Ziesemer kennt es nicht. Dünnhaupt nimmt es mit einem aus Oesterleys Überschrift abgeleiteten Kurztitel auf, den er mit vermeintlichen _______ 153 154

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»Christliche Todes Errinerung […].« In: ZIESEMER III, S. 206 f.; OESTERLEY, S. 200 ff. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) führt diese Versepistel als Nr. 508 und imaginiert wiederum einen Druck. Dieser ist nicht bekannt – und es gab ihn auch nicht, wie in der in Anm. 156 erwähnten Abhandlung zu belegen sein wird. In diesem Band S. 128 ff. Der Vf. hatte ursprünglich für diesen Band eine Interpretation geplant; sie hat sich inzwischen jedoch zu einem mehr als 100-seitigen Manuskript ausgewachsen, das den Umfang und auch die ›Architektur‹ dieses Sammelbands zu sehr verändert hätte, so daß sich der Herausgeber als Autor Zurückhaltung auferlegt hat und die Abhandlung nunmehr im Rahmen seiner Habilitation an anderem Ort publizieren wird. [Inc.:] »Si te, viator, rara conspici«. In: OESTERLEY, S. 741.

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Zeilenumbrüchen als diplomatische Aufnahme ausgibt. 158 Oesterley will das Gedicht in Valentin Thilos Orationes academicae varia occasione habitae und im vierten Band der von Michael Lilienthal herausgegebenen Zeitschrift Erleutertes Preußen gefunden haben; daß Dünnhaupt diese Nachweise ungeprüft übernimmt und als konsultiertes Exemplar von Thilos Buch sogar eine in der British Library vorhandene Ausgabe angibt, verwundert uns längst nicht mehr. In Thilos Teilsammlung akademischer Orationen, die er 1653 in Königsberg herausbrachte, findet sich zwar eine lange Gedenkrede auf Roberthin, 159 die als biographische Quelle bislang nicht ausgewertet wurde, auf den Seiten 390–391 ist jedoch ein lateinisches Epitaph abgedruckt. Dieser Text stand, wie wir jetzt an der Übersetzung von Charisius erkennen, auf dem Grabstein. Er stammt nicht von Dach, sondern, so legt die ebenso als römisches Epitaph gestaltete Widmungszuschrift Thilos zu seinen Orationes academicae nahe, von seinem rhetorischen Kollegen. Im 37. Stück des Erleuterten Preußen ist diese Inschrift ebenfalls im Rahmen des ersten Aufsatzes, einer Beschreibung des Löbenicht, abgedruckt. 160 Hier, allerdings nicht auf der von Oesterley angegebenen und von Dünnhaupt ungesehen nachgeschriebenen Seite, findet sich nun auch das lateinische »Si te, Viator, rarà conspici virtus«, das vom Verfasser Simon Dach zugewiesen ist. 161 Es handelt sich also keineswegs um die Inschrift auf einem Grabstein, sondern um eine poetische Grabschrift. Wulf Segebrecht hat uns die zeitgenössische Poetik dieser lyrischen Form vor rund dreißig Jahren eingehend dargelegt. 162 Dach greift mit seiner direkten Ansprache an den »Wanderer«, der an diesem ›Grabstein‹ zum gedenkenden Einhalten bewegt werden soll, sogleich im ersten Vers auf eingeführte Gattungsmuster zurück. Über eine Ahnenreihe antiker und mythologischer Gestalten wird Roberthin dann mit einem üblichen argumentativen Verfahren in eine lebendige Tradition eingestellt, in der seine herausragende Stellung durch anerkannte Autoritäten eindeutig signalisiert und zugleich für das Gedächtnis der Nachwelt codiert ist. In seinem als Foliodruck erschienenen Epitaphium, erhalten in der Akademiebibliothek St. Petersburg in dem bereits erwähnten 163 _______ 158

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Auff Roberthins Leichensteine. | D. O. M. S. | … .- In: Valentin Thilo d.J., Orationes Academicae … .- Königsberg 1653, S. 390. (Dünnhaupt: Personalbibliographien [wie Anm. 8], Nr. 555). Valentin Thilo: Orationes Academicae Varia Occasione Habitae Cvm Alloqviis Natalitiis Et Ejvs Generis Aliis. [Königsberg:] Johann Reusner 1653, S. 349–389. – Eine Benutzung ist leicht möglich über die digitale Bibliothek der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek im Netz. Man sieht daran wieder, welche Vorteile derartige Projekte dem Forscher bringen. Erleutertes Preußen 4 (1726–1728), S. 16 f. Ebd., S. 17. Das Gedicht ist wie folgt eingeleitet: »Um das Gewölbe sind mancherley Deutsche und Lateinische Inscriptiones zu lesen, darunter sein Hertzens=Freund Simon Dach, folgendes gesetzet:« – Dieser Hinweis auf weitere lateinische Inschriften stützt die Vermutung, für den zweiten Text ein lateinisches Gedicht vorauszusetzen. Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 430–468. Vgl. oben Anm. 30.

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Wallenrodt-Band »SS 40«, wählt Dach die gleiche Gattung, die er somit zum selben Ereignis in zwei medialen Formen ausführte, wobei die Texte als miteinander korrespondierende Varianten zu erkennen sind: Das gedruckte Epitaph erinnert den Wanderer in den letzten Versen an die virtus des Verstorbenen. 164 In diesem, zugestandenermaßen von der Quellensituation nachgerade idealen, Fall können wir also für eine Dach-Bibliographie nicht nur erstmals zuverlässige Angaben gewinnen, sondern werden auch für eine Edition entlastet, indem die Übersetzung von Charisius – natürlich unter genauer Angabe der Quelle – importiert werden kann und den Text auch dem im Lateinischen weniger geübten Leser mühelos zugänglich macht. 165 Die nachfolgenden Texte in der Ausgabe von Stein-Charisius aber bieten für den Dach-Forscher noch einige weitere Überraschungen und erlauben ihm wertvolle Ergänzungen und wichtige Korrekturen in dem bekannten Textkorpus. Das zweite Gedicht ist ohne Zweifel erneut eine Übersetzung bzw. Nachdichtung aus dem Lateinischen. Es gibt keinen Grund, eine Verfasserschaft Dachs in Frage zu stellen und dieses Gedicht damit aus dem Textprogramm der Grabstätte Roberthins zu isolieren. Hier stoßen wir dann auf einen in der Überlieferung Dachs bis dato einzigartigen Fall: Das lateinische ›Original‹ ist (noch) nicht ermittelt, unter den bekannten Gedichten auf Roberthin fehlt es. Solange es nicht gefunden ist, verfügen wir also nur über eine deutsche Nachdichtung von anderer Hand, die gleichwohl mit einer entsprechenden Kommentierung für eine digitale Dach-Bibliographie und -Edition aufzunehmen ist, wobei der Text im Feld »Übersetzung« zu stehen hat. Die übrigen Verse sind alle in Ziesemers Ausgabe zu finden. Versmaß und Reimschema weisen sie als deutschsprachige Vorlagen aus. Ziesemer entnahm sie der Handschrift des Königsberger Staatsarchivs, in der sie unmittelbar aufeinander folgten. 166 Er druckt sie im vierten Band unter den Nummern 97 bis 99 und verlegt sie damit in seiner chronologischen Folge ohne erkennbaren Grund in das Jahr 1653. Obgleich er das von ihm der Nummer 99 als Überschrift vorgesetzte Anagramm INTER RVBOS in seinen Anmerkungen korrekt als »Robertinus« entschlüsselt, ordnet er diese Gedichte nicht ihrem Anlaß zu. Charisius übersetzt das Anagramm mit »Unter Brombeersträuchern«. »INTER RVBOS« nun findet sich als Einschreibung in einem Zierband, das im siebten Band der Arien an das Ende des Lieds »Ich bin ja, Herr, in deiner Macht« gesetzt ist. 167 In der Staatsarchiv-Handschrift war es offenkundig als Überschrift eingetragen. Daß auch Dünnhaupt für alle Texte das Jahr 1653 ansetzt und sie in wundersamer bibliographischer Mutation zu Einzeldrucken erklärt, die in Königsberg gedruckt worden seien (wobei Ziesemers Nr. 99 als Sammlung von fünf Epigrammen ausgewiesen wird), bedarf wohl keines Kommentars mehr. 168 _______ 164 165

166 167 168

»Hic igitur situs est, tumulum ne crede Viator | Esse hominis, Virtus hoc cubat ipse soli.« Für dieses Beispiel werden die bibliographischen Erfassungen und die Texte am Ende der Ausführungen geschlossen präsentiert; das imaginiert auch die Präsentationsmöglichkeiten des vorgeschlagenen Dach-Portals. Nach ZIESEMER IV, S. 550, Kommentar zu den Nr. 97–99; abgedruckt ebd., S. 73 f. Vgl. die Angabe in ZIESEMER III, S. 484, zu Nr. 160. Immerhin stellt Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8) für ZIESEMER Nr. 99 das Druckjahr in Frage, geht aber gleichwohl von einem Einzeldruck aus (Nr. 917).

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Man wird Ziesemer doch eine ordnungsgemäße Beibehaltung der Reihenfolge zugestehen können, als er die Handschrift transkribierte. Dann aber ergibt sich für die Dach-Forschung ein bedenklicher Befund, der die Probleme, die jedem Bemühen um eine zuverlässige Rekonstruktion des einstigen Gesamtwerks in seinen Einzeltexten heute bereitet sind, deutlich werden läßt. Die Handschrift im einstigen Königsberger Staatsarchiv dürfte selbst nicht ohne Fehler gewesen sein. Ziesemer markiert seine mit dieser Überschrift versehene Nummer 99 als Fragment, eine Folgerung, die angesichts wechselnder Versmaße und inhaltlicher Brüche begründet scheint. Steins ausführliche Wiedergabe des Textprogramms in Roberthins Mausoleum ermöglicht jedoch eine andere Lesart, die sehr viel wahrscheinlicher ist und bei den drei von Ziesemer edierten Nummern für bibliographische und editorische Korrekturen plädieren läßt, für die meines Erachtens einige gewichtige Gründe anzuführen sind. Man wird sich die Ausgestaltung der Leichenhalle am ehesten so vorstellen können, daß die Texte, wahrscheinlich doch zusammen mit einem Bildschmuck, über die Wände verteilt um den Raum herumliefen. Derartige Text-Bild-Programme sind aus Sakralbauten bekannt, sie fanden sich aber etwa auch in dem mit Skulpturen und emblematischen Inschriften (vom Rhetorik-Professor Samuel Fuchs) reich verzierten Neubau der Königsberger Börse verwirklicht. 169 Wir müssen die von Stein abgeschriebenen deutschsprachigen Verse also als einen ›Kranz‹ verschiedener epigrammatischer Gedichte in wechselnden Versmaßen lesen. Wenn man sich darauf verständigt, bleibt dennoch fraglich, welche Zahl von Einzeltexten zu identifizieren ist. Ziesemers Präsentationen der Staatsarchiv-Handschrift geben nirgends zu erkennen, daß die dortigen Texte mit einer Zählung versehen gewesen wären. Es läßt sich kein nachvollziehbarer Grund erahnen, warum er seine Nummern 97 (»Der Eingang bringt vnß her in dieses arme Leben«) und 98 (»Laß dir die Anfechtung, O Mensch, nicht seltzam sein«) als zwei verschiedene Alexandrinergedichte behandelt. Man könnte sie, wenn man an die Vorgaben der zeitgenössischen Regelpoetik denkt, aus formalen Gründen, d.h. aufgrund der in den jeweils umschließenden Reimschemata wechselnden männlichen und weiblichen Kadenzen, auch als vier Alexandrinerepigramme lesen; der inhaltliche Konnex schließt aber ebensowenig aus, daß wir hier ein Alexandrinergedicht vor uns haben, das dann, soweit ich es übersehe, eine für die Zeit ungewöhnliche Varianz des strophischen Reimbaus aufweist. 170 Bei der ersten Lesart würden die vorangehenden Verse »Der from_______ 169 170

Stein: Das Alte Königsberg (wie Anm. 141), S. 52–60. Der Neubau der Börse entstand um 1624. Zu Fuchs (1588 – 1630): [Otto] Vanselow: (sub verbo.) In: APB 1, S. 201. So findet sich etwa in der damals bekannten Poetik des Danziger Professors der Eloquenz Johann Peter Titz (1619 – 1689) für die Strophen eine entsprechende formale Vorschrift: »Ein Satz oder Gesetze/ (áüúøƫƿ,) ist ein gewisses theil des Liedes/ welches theil aus einer gewissen anzahl Verse/ die/ nach dem ihm der Tichter vorgenommen hat/ in richtiger Länge/ Art vnd Reimung zusammengesetzt sind/ bestehet/ mit welchem die andern Sätze alle/ was die Abmessung oder das Metrum anbelanget/ genau übereinstimmen mussen.« (Zwey Bücher Von der Kunst, Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen […]. Danzig: Andreas Hünefeld 1642, Bl. N[1]r). Diese Regel galt aber v.a. für die »Lieder«; auch Opitz schrieb in seinem Buch von der Deutschen Poeterey vor: »Die reimen der ersten strophe

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men Christen Tod bereitet | Den Eingang, der zum Leben leitet« wiederum als eigenständiges Epigramm auftreten, bei der zweiten Lesart ließen sie sich als epigrammatisches Motto mit der Funktion einer Überschrift auf das Alexandrinergedicht beziehen. Der durch das Substantiv »Eingang« direkt herzustellende Bezug muß zwar nicht eindeutig für die zweite Überlegung sprechen. Doch mit den – einzigen – Trochäen »Alles Leben liegt daran, | Daß man selig sterben kann« verhält es sich genauso: Die abschließend zitierten zwölf Jamben bilden durch ihren regelmäßigen Vers- und Reimbau auch formal eine geschlossene Einheit, in diesem Falle korrespondiert der letzte Vers »Auch ewig selig lebe« mit dem zweiten Trochäus. Man möchte bei dieser Interpretation fast vermuten, daß das Mausoleum im Zusammenwirken von Überschrift und Text mit seinem Bildschmuck eine ›emblematische‹ Ausgestaltung besessen haben könnte. Eine unstrittige Einheit von Überschrift und Gedicht ist aber nur für den dazwischen gesetzten Text festzustellen. Auch Thilo legt in seiner oratio auf Roberthin das Anagramm »inter rubos« über mehrere Seiten ausführlich aus und stellt dabei ebenso wie der Dach-Text im Mausoleum den bildlichen und sinnhaften Kontext zur Rose her. Das Verfahren eines gereimten, in einem anderen Versmaß gehaltenen Mottos als Überschrift ist außerdem bei der Anke van Tharaw schon frühzeitig festzustellen. In diesem Fall ist die Motto-Überschrift einem anderen Dach-Gedicht entnommen; 171 das muß, wie oben ausgeführt, keineswegs durch Dach selbst geschehen sein. Doch spricht einiges dafür, für die in Steins Peregrinator überlieferten, in der von Ziesemer ausgewerteten Handschrift in einer offensichtlich anderen Reihenfolge abgeschriebenen deutschsprachigen Gedichte Dachs auf Roberthin eine Lesung vorzuschlagen, nach der drei Gedichte für eine Bibliographie und Edition zu unterscheiden sind. Die bibliographische Erfassung der von Charisius edierten Gedichte aus Steins Peregrinator erbringt demnach fünf Einzeltitel, für die eine Autorschaft Simon Dachs als weitestgehend gesichert gelten darf. Die bislang bekannte Gruppe seiner Gedichte auf Roberthin vergrößert sich damit um vier weitere, die auf den konkreten Anlaß im Frühjahr 1648, nicht aber auf das Jahr 1653 zu datieren sind. Die textlichen Originale ›erschienen‹ in einer ganz anderen medialen Form (und mit einem ganz anderen Anspruch auf ihre Wirkung und Rezeption), die frühste Druckveröffentlichung in Lilienthals Erleutertem Preußen achtzig Jahre später bietet bereits einen sekundären Textzugang. _______

171

sind auch zue schrencken auff vielerley art/ die folgenden strophen aber mussen wegen der Music/ die sich zue diesen generibus carminum am besten schicken/ auff die erste sehen.« Er nahm von dieser Vorschrift allerdings, unter Bezug auf Ronsard, Alexandriner und vers communs explizit aus. Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. Stuttgart: Hiersemann 1978–1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, 300–301), Teil 1, S. 402. – Dach steuerte zu Titz’ Poetik ein lateinisches Widmungsgedicht bei ([Inc.:] »Dum sese nitidos ut Opitii forte libellos«); es ist das einzige bislang bekannt gewordene von ihm auf ein Werk außerhalb Königsbergs. OESTERLEY weist es in seinem Anhang als Nr. 1051 nach, Ziesemer übersieht es. – Zu Titz einführend: Ferdinand van Ingen: (sub verbo.) In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 11. Gütersloh [u.a.]: Bertelsmann 1991, S. 378 f. Vgl. oben Anm. 79.

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Für diese Texte wären nach dem Prinzip der bibliographischen Erfassung der Erstausgabe auf der Ebene 1 der Erfassungsmaske zwei Datensätze anzulegen; die nur in dem Werk von Stein-Charisius erhaltenen Texte wären in der Datenbank als Einzelaufnahmen alle mit der Titelaufnahme verlinkt und sind dementsprechend hier unter der Gesamtaufnahme beschrieben. Während die lateinische Grabschrift aus dem Erleuterten Preußen digitalisiert worden ist, wird für die übrigen Gedichte der gesamte Textausschnitt aus Steins Peregrinator nach der Übersetzung von Charisius zitiert. Die Entscheidung für die vollständige Transkription, abweichend von der in einem Dach-Portal zu realisierenden Einzelpräsentation der Texte, fiel in dem Bestreben, im Medium des Buchs das gesamte Textprogramm für die Lektüre bereitzustellen. Die Übersetzung der lateinischen Grabschrift ist somit in der folgenden Edition enthalten. Text 3 Erfassungsebene 1 (Aufnahme des Gesamttitels): Titel:

Druckort: Drucker: Druckjahr: Format: Kollation: Standorte:

Adressat:

Erleutertes Preußen oder auserlesene Anmerckungen, ueber verschiedene zur preußischen Kirchen-, Civil- und GelehrtenHistorie gehörige Dinge, woraus die bißherigen HistorienSchreiber theils ergäntzet, theils verbessert, auch viele unbekannte historische Warheiten ans Licht gebracht werden. Königsberg: Hallervord 1724 – 1742. Königsberg Hallervord, Martin (Erben) 1726 (= Sieben und dreyßigstes Stück) 8° [5] Bl., 858 S., [4] Bl. [u.a.] *Bibliothek des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Osnabrück, Sign.: Z 8816; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign.: 8 H PRUSS 352; Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: Gm 3782 Roberthin, Robert

Erfassungsebene 2 (Dach-Beitrag): Datum: Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Weitere Editionen:

Kommentar:

1648.[nach: 04.07.] Si te, Viator, rarà conspici virtus Zeitschrift S. 17 11 Verse Hexameter spondiacus Grabschrift lat. Oesterley, Nr. 1222; Dünnhaupt, Nr. 555 Oesterley, S. 741; Caspar Stein: Das Alte Königsberg. Eine ausführliche Beschreibung der drei Städte Königsbergs samt ihren Vorstädten und Freiheiten wie sie anno 1644 beschaffen waren. [...] Nach dessen lateinischen Peregrinator zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Arnold Charisius. Königsberg: Schubert & Seidel 1911, S. 74 [nur deutsche Nachdichtung] Datumsansetzung nach dem Todestag Roberthins.

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Erfassungsebene 3 (Digitalisat) 172 Abgedruckt ist ein Auszug von S. 17

Texte 4 – 7 Erfassungsebene 1 (Aufnahme des Gesamttitels): Titel:

Druckort: Drucker: Druckjahr: Format: Kollation: Standorte:

Adressat:

Caspar Stein: Das Alte Königsberg. Eine ausführliche Beschreibung der drei Städte Königsbergs samt ihren Vorstädten und Freiheiten wie sie anno 1644 beschaffen waren. [...] Nach dessen lateinischen Peregrinator zum ersten Male ins Deutsche übertragen von Arnold Charisius. Königsberg Schubert & Seidel 1911 8° VII, 142 S. [u.a.] *Bibliothek des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Osnabrück, Sign.: R-PRU-OPR-KÖNI-105 4502-220 5; Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Sign.: 8 H PRUSS 1657; Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sign.: Sz 8096 Roberthin, Robert

_______ 172

Hier seien nur die Abweichungen Oesterleys in der Schreibung und Zeichensetzung gegenüber der Erstpublikation vermerkt: V. 1: Oesterley »viator« und »rara« – V. 7 und 8: Erleutertes Preußen jeweils Komma am Versende – V. 9: Oesterley »est,« – V. 10: Oesterley »hanc sanctus« und », precor,« – V. 11: Oesterley »Robertus […] Robertinus«.

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Erfassungsebene 2 (Dach-Beiträge): Datum: Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Kommentar:

1648.[nach: 04.07.] [Wenn wir sterben leidet der Leib, doch der Geist wird fröhlich,] Edition (Stadtbeschreibung) S. 74 [8 Verse] [Distichon] Grabschrift [lat.] Datumsansetzung nach dem Todestag Roberthins.

Datum: Überschrift:

1648.[nach: 04.07.] Der frommen Christen Tod bereitet | Den Eingang, der zum Leben leitet. Ein Eingang bringt uns her in dieses arme Leben, Edition (Stadtbeschreibung) S. 74 16 Verse Alexandriner Grabschrift dt. Ziesemer IV, S. 550, Nr. 97 und 98; Dünnhaupt, Nr. 915 und 916

Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Weitere Editionen: Kommentar:

Ziesemer IV, S. 166 Datumsansetzung nach dem Todestag Roberthins.

Datum: Überschrift: Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Weitere Editionen: Kommentar:

1648.[nach: 04.07.] Unter Brombeersträuchern. [INTER RVBOS.] Die Rose muß mang Hecken, Edition (Stadtbeschreibung) S. 74 4 Verse dreihebige Jamben Grabschrift dt. Ziesemer IV, S. 550, Nr. 99; Dünnhaupt, Nr. 917

Datum: Überschrift: Incipit: Publikationsform: Seiten/Blatt: Umfang: Versmaß: Gattung: Sprachstand: Bibliographische Nachweise: Editionen: Kommentar:

1648.[nach: 04.07.] Alles Leben liegt daran, | Daß man selig sterben kann Der Tod und seine Zeit Edition (Stadtbeschreibung) S. 74 f. 12 Verse dreihebige Jamben Grabschrift dt. Ziesemer IV, S. 550, Nr. 99; Dünnhaupt, Nr. 917

Ziesemer IV, S. 167 Datumsansetzung nach dem Todestag Roberthins.

Ziesemer IV, S. 167 Datumsansetzung nach dem Todestag Roberthins.

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Textabdruck: Zur Einrichtung: Fettdruck und Sperrungen der Vorlage sind übernommen. Die Gedichte sind nicht, wie bei Charisius, in kleinerer Type gesetzt; aufgelöst ist auch der zweispaltige, die Verspaare jeweils nebeneinander setzende Abdruck des letzten Gedichts. Zwischen den einzelnen Gedichten sind, nach der vorgeschlagenen Identifizierung, Leerzeilen eingefügt. Auf dem Kirchhofe die Gräber löbenichtscher Bürger, eine aus Holz erbaute Leichenhalle und der an der Mauer befestigte Grabstein R o b e r t R o b e r t i n s . Darauf steht: Dem Verdienste und ehrenvollen Andenken R o b e r t R o b e r t i n s , G e r h a r d R o b e r t i n s , hiesiger Kirche Pfarrherrn und der seligen P r e u ß i n Sohne, der Deutschland, England, Frankreich und Italien in unersättlicher Wißbegierde durchforscht, und wie er denn wegen seiner unvergleichlichen Kenntnis in allen Wissenschaften, in der Fremde bei den ersten Meistern der Litteratur bewundert ward, so auch im Vaterlande als Geheimer Provin173 zial=Verwaltungsrats=Verwandter*) allzeit in unerschütterlicher Rechtschaffenheit, seinem Fürsten die Treue, seinen Vorgesetzten Gehorsam, seinen Freunden Liebe, den Notleidenden seine Hilfe, selbst wenn die Klugheit und Moral im Streite lagen, bezeiget hat, nicht zum Gedächtnis, das er sich unvergänglich erworben, sondern um seines sterblichen Leibes willen, der darin solle geborgen sein, so hat mit vielen Tränen, bis daß mit ihres guten wohlverdienten Gatten Gebeinen auch die ihrigen vereinigt würden in derselben Gruft, dies Denkmal ihm U r s u l a V o g t i n errichtet. Er aber bittet, da er dich, Leser, in der Finsternis nicht zu erkennen vermag, mit fremder Stimme darum, was er immer selbst erstrebt, daß du dich selber erkennest, und wünscht dir somit Lebewohl. Geboren zum wahrhaftigen Besten seines Vaterlandes und der Litteratur 1605, den 7. März, gestorben zum unwiederbringlichen Verlust für beide 1648, den 7. April. Ringsherum an dem Mausoleum steht: Dem allerhöchsten und allgültigen Gott geweiht. Wenn dich, o Wandrer, die nicht oft geschaute Tugend, die Fest überdauert eines Menschenlebens Ziel, In Staunen setzt: des unbeugsamen Catos Geist, Des Aristides, der allzeit gerecht, und des Ulyß, Des weisen Plato’s und des redekund’gen Nestors auch, Vereint in e i n e m großen Manne, dich bewegen mag, Alsdann verehre i h n , bei dessen Tod die Wissenschaft Und Klarheit und was immer je von lieblichen Und schönen Dingen alles lebt und grünt und blüht, Das alles uns die ewge Nacht zu decken schien, Verehre fromm auch d i e s e heilge Grabesgruft, 174 Worinnen Robert Robertin geborgen liegt. Wenn wir sterben leidet der Leib, doch der Geist wird fröhlich, Denn es verlanget ihn sehr in die Heimat zurück. Ort der Verbannung war ihm der Leib, von da will er gerne, Selber ewig, nun auch gehn zum ewigen Heim. Wenn du das Leben liebst, so fliehe des Lasters Pfade, Lasterhaft Leben ist gleichwie geistlicher Tod. Atmen die Lebensluft, das heißt noch lange nicht leben, Wahres Leben ist nur, welches Gott wohlgefällt.

_______ 173

174

Zu dieser meines Wissens für das 17. Jahrhundert nicht gebräuchlichen (und aus dem lateinischen »SECRETISSIMIS. PROVINCIÆ. CONSILIIS.« bei Thilo: Orationes Academicae [wie Anm. 159] auch nicht abzuleitenden) ›Berufsbezeichnung‹ setzte Charisius die Anmerkung: »Verwandter heißt immer Beamter«. Übersetzung von Text 3.

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Dach digital? Der frommen Christen Tod bereitet 175 Den Eingang, der zum Leben leitet. Ein Eingang bringt uns her in dieses arme Leben, E i n Erde nähret uns, e i n Erde deckt uns zu, Durch e i n e n Abschied gehn wir alle zu der Ruh’, Noch sucht sich mancher Mensch für andern zu erheben, So sind wir auch gemacht durch e i n e s Schöpfers Hand, Zu dem hat e i n Haupt uns zu Gliedern angenommen, E i n Glaub’ und e i n e Tauf’ heißt uns zu Christo kommen, 176 Wer dem am nächsten kommt, der führt den höchsten Stand. Laß dir die Anfechtung, o Mensch, nicht seltsam sein, Wiss, daß du in der Welt mußt Kreuz und Unlust haben, Bis daß du in den Schoß der Erden wirst begraben, Nach schwerer Arbeit schläft man desto sanfter ein, Schau unsern Heiland an in allen deinen Plagen, Wilst du nach dieser Welt so herrlich sein wie er, So gleich dich ihm auch hier in Unmut und Beschwer, 177 Und legt er dir was auf, er wird das meiste tragen. Unter Brombeersträuchern.

178

Die Rose muß man hecken, Ein Christ in Trübsal stecken, Soll sein Geruch für allen 179 Dem Himmel wohlgefallen. Alles Leben liegt daran, 180 Daß man selig sterben kann. Der Tod und seine Zeit Ermahnt uns stets bereit Auf allen Fall zu machen. Du mußt gewiß daran Und weißt nicht wie und wann, Drum hasse deine Sachen.

_______ 175 176

177 178 179 180

ZIESEMER IV, S. 167, als V. 7 f. der Nr. 99. ZIESEMER IV, S. 166, als Nr. 97. – Es dürfte davon auszugehen sein, daß Charisius eine modernisierte Schreibweise wählte; um die Unsicherheiten in der Sicherung des Textbestands anzudeuten, seien hier nur die grundsätzlichen Abweichungen aufgeführt, auf Einzelnachweise wird dagegen verzichtet, sie wären allerdings zahlreich zu belegen. Ziesemer schreibt stets »vnß« statt »uns« und »vnd« statt »und«, apostrophierte Formen sind bei ihm ohne Apostroph geschrieben. In der Summe geben sich unterschiedliche Schreibkonventionen zu erkennen, bei denen nicht in allen Fällen zu entscheiden ist, welche dem Original am nächsten kommt (wie eben überhaupt unsicher bleiben muß, ob bereits die Handschrift von Ziesemer überall korrekt transliteriert worden ist). ZIESEMER IV, S. 166, als Nr. 98. ZIESEMER IV, S. 167, Nr. 99: »INTER RVBOS«. Dazwischen bei ZIESEMER Trennlinie gezogen, um Fragmentarität aufzuzeigen. Hier folgen bei ZIESEMER die oben als Überschrift erkannten Zeilen, die nachfolgenden Verse sind dann als je sechszeilige Strophen, wiederum mit Trennlinie, von ihm ediert. In diesem Fall sind sinnverändernde Wortabweichungen festzustellen, wobei sich Ziesemers Transkription eindeutig als sinnvoller erweist: er schreibt V. 3: »wachen;« statt »machen.«; V. 6: »beßre« statt »hasse«; V. 10: »lebend« statt »lebe und«.

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Axel E. Walter Des Lebens Lauf ist schier Wie nichts und unnütz hier, Es sei denn einer strebe Hier lebe und immerfort, Damit er nachmals[nachmahls] dort Auch ewig selig lebe.

Wir würden in die ästhetischen Werturteile früherer Interpreten zurückfallen, wenn wir diese deutschen Gedichte nicht zu dem ›Besten‹ zählen, was Dach poetisch hinterlassen hat. Sogar einem Freund wie Roberthin gegenüber, dem er mit der Danckbarliche[n] Auffrichtigkeit eines seiner bedeutendsten Gedichte, das in der Dichtung des 17. Jahrhunderts zweifellos ein außergewöhnliches ist, gewidmet hat, sogar dem persönlich zu Lebzeiten so nahe Stehenden also war in der Stunde des ›öffentlichen‹ Gedenkens das Konventionelle angemessener, das die Erwartungen der irdischen Wanderer erfüllte. Die letzten vier Gedichte sind von der Person des Verstorbenen abgelöst, indem sie Allgemeingültiges formulieren, das in christlicher Heilsgewißheit und irdischer vanitas-Vorstellung gründet. Der Tod bedeutet die Erlösung von Plagen, Unmut und Beschwerlichkeiten des vergänglichen Lebens; nur wer sich in seiner irdischen Existenz ›richtig‹ verhält, d.h. gottgefällig und seine Erlösung vorbereitend, der findet im Tod in der Vereinigung mit Gott das ewige – und ›wahre‹ – Leben. Gleichsam belehrend wie erbauend schreibt der Poet der Nachwelt nicht nur das Gedächtnis des Verstorbenen ein, sondern gestaltet dessen Mausoleum als einen Ort des kontemplativen Eingedenkens für den Menschen aus, der nur als Pilger und Gast auf Erden wandelt. Diese Texte stehen in Dachs poetischem Gesamtwerk, soweit wir es bislang rekonstruiert haben, singulär da. Durch sie rückt erstmals ein Produktionskontext Dachscher Dichtung in den Blick, den er jenseits des gedruckten Worts, aber mit dem gleichen Anspruch poetischer Gedächtnisstiftung, die dem Poeten seit je überantwortet war, zu seinen Lebzeiten erfüllte. Weitere Texte sind nicht auszuschließen, sie werden sich aber kaum noch ermitteln (bzw. nur schwer als derartige Grabschriften identifizieren) lassen. 181 Roberthins Mausoleum, das zu Lilienthals Lebzeiten offensichtlich noch stand, ist ein weiterer Verlust, schon lange vor dem Untergang Königsbergs, den wir über die Jahrhunderte in der Überlieferung Simon Dachs zu bilanzieren haben, wenngleich wir in diesem Falle wieder etwas zurückgewinnen konnten. Es steht zu hoffen, daß dieser Teilerfolg das Seinige dazu beitragen wird, die von mir ›vorgreiflich‹ formulierten Überlegungen zu einem digitalen Dach-Portal einer fruchtbaren Diskussion zuzuführen, die seine Realisation ermöglichen kann.

_______ 181

Man darf allerdings im Anschluß an die vorangehenden Überlegungen darüber spekulieren, ob die von ZIESEMER in Bd. IV unter den Nummern 103–106 wiederum aus der Handschrift des Königsberger Staatsarchivs aufgenommenen Gedichte nicht ebenfalls dieser ›Textsorte‹ angehören könnten – belegen läßt es sich in diesen Fällen nicht mehr.

Verzeichnis der benutzten Dach-Ausgaben und Abkürzungen

Dach-Gedichte werden nach den folgenden (Auswahl-)Ausgaben zitiert: KELLETAT OESTERLEY

ZIESEMER

Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Hg. von Alfred Kelletat. Stuttgart: Reclam 1986 (RUB, 8281) Simon Dach. Hg. von Hermann Oesterley. Stuttgart: Litterarischer Verein 1876 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, 130) (ND Hildesheim [u.a.]: Olms 1977). Simon Dach: Gedichte. Hg. von Walther Ziesemer. 4 Bde. Halle/Saale: Niemeyer 1936–1938 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Sonderreihe, 4–7).

Antike Autornamen und Werktitel: Aristoph. Ran. Aristot. eth. Nic. Aristot. poet. Cic. de or. Cic. or. Cic. Tusc. Dion Chrys. Enn. ann. Hor. ars Hor. c. Hor. epist. Iuv. Lucr. Ov. ars Ov. Trist. Pers. Plat. Ion Plat. leg. Plat. Phaid. Plat. rep. Plut. mor. Quint. inst. Sen. epist.

Aristophanes, Ranae Aristoteles, ethica Nicomachea Aristoteles, poetica Cicero, de oratore Cicero, orator Cicero, Tusculanae disputationes Dion Chrysostomos Ennius, annalium fragmenta Horaz, ars poetica Horaz, carmina Horaz, epistulae Iuvenalis Lucretius Ovid, ars amatoria Ovid, tristia Persius Platon, Ion Platon, Nomoi Platon, Phaidon Platon, Politeia Plutarchos, moralia Quintilian, institutio oratoria Seneca minor, epistulae ad Lucilium

524 Stat. Theb. Verg. Aen. Xen. symp.

Verzeichnis der benutzten Dach-Ausgaben und Abkürzungen

Statius, Thebais Vergil, Aeneis Xenophon, symposion

Altes und Neues Testament: Ez Gen Hebr Jes Joh 1 Joh 1 Kön 1 Kor 2 Kor Lk Mt Offb 1 Petr 2 Petr Phil Ps Sir Spr

Buch Hesekiel (Ezechiel) 1. Buch Mose (Genesis) Brief an die Hebräer Jesaja Evangelium nach Johannes 1. Brief des Johannes 1. Buch der Könige 1. Brief des Paulus an die Korinther 2. Brief des Paulus an die Korinther Evangelium nach Lukas Evangelium nach Matthäus Offenbarung des Johannes (Apokalypse) 1. Brief des Petrus 2. Brief des Petrus Brief des Paulus an die Philipper Buch der Psalmen Jesus Sirach Sprüche Salomons

Sonstige: APB

DWb

Altpreußische Biographie. Hg. von der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Bd. 1. Königsberg: Gräfe & Unzer 1941 (ND Marburg: Elwert 1974), Bd. 2–5/2. Marburg: Elwert 1967–2007. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1854– 1971. 33 Bde. München: dtv 1984.

Personenregister

Abs, Hugo 318 Acontius, Melchior 227 Adamiak, Maria 447 Adersbach, Andreas 31, 248 Adersbach, Barbara s. Heß, Barbara Adersbach, Michael 30–32, 42, 459 Adersbach, Ursula 31 Adorno, Theodor W. 1 Aelred von Rievaulx 219 Aesop 91, 96 Agathon 100, 108f. Aischylos 78, 113 Albert, Heinrich 5f., 8f., 14, 18, 33, 36, 39f., 53, 117, 120, 192, 215, 249, 315, 322, 324–326, 330, 332, 334–336, 338, 411, 414, 434, 438–446, 448, 456–460, 469, 480, 483–487, 489, 493, 506, 514 Albinus, Michael 296 Albrecht (Markgraf v. Brandenburg, Herzog v. Preußen) 12, 26, 52, 255f., 325, 459f., 493 Albrecht Friedrich (Herzog v. Preußen) 25 Albrecht, Christoph 46 Alewyn, Richard 1 Alexis, Willibald 415–418, 420 Althaus, Christoff 30, 34, 43f. Altus, C. 301 Anders, Stefan 298, 496 Anderson, W. B. 227 Andressen, Georg 45f., 388, 457 Angelus Silesius 430 Anton Ulrich (Herzog v. BraunschweigWolfenbüttel) 211 Apitzsch, Samuel Lobegott 398, 400 Archelaos I. (König v. Makedonien) 102, 110 Archilochos 268, 270, 272 Ariosto, Ludovico 440 Aristeides 521 Aristophanes 104, 113 Aristoteles 61, 63f., 77f., 80–87, 89–91, 94f., 97, 100–104, 108–112, 124, 126, 211f., 219, 222, 229 Arius 280, 284, 287 Arlet, Michael 301 Arletius, Johann Caspar 4f., 10, 14, 21f., 237, 475f., 479 Arndt, Johann 211f., 353f.

Arnold, Werner 476 Arnoldt, Daniel Heinrich 30, 44, 50, 53– 55, 57f., 60–62, 65, 71, 74, 84, 473–475, 482, 494, 500, 505 Arnolt, Augustin 30, 44 Artamonov, Sergei Dmitrijeviþ 455f. Augustinus, Aurelius 426 Augustus (röm. Kaiser) 279, 283, 286 Aurnhammer, Achim 217, 324 Axmacher, Elke 211f. Babatius, Joachim 246, 303 Babatius, Johannes 243 Babatius, Levin 246 Bach, Johann Sebastian 437, 446 Bachmann, Johann 45 Bachmann, Johann Friedrich 398 Baer, Karl Ernst von 463 Bahr, Hermann 426 Bahrdt, Johann Friedrich 404 Balde, Jacob 219, 221 Bär, Katja 76 Barner, Wilfried 36, 71, 115, 217, 251, 254 Barth, Hans-Martin 359 Barth, Kaspar von 304 Bartsch, George 46 Bartsch, Heinrich 22, 479 Bartsch, Lotte 71 Battafarano, Italo Michele 423 Bauman, Thomas 327 Baumgartner, H. M. 219 Baumgartner, Johannes 43 Baursang, Albert 62 Bautz, Friedrich Wilhelm 363 Bayer, Gottlieb Siegfried 48, 50f., 240f., 479 Becker, Anna 300 Becker, Jacob 300 Becker-Cantarino, Barbara 217 Beckher, Daniel 49, 68, 259, 261, 263 Beckmann, Sabine 298, 469 Beckschlager, Dorothea 146 Bednarczyk, Halina 447 Beethoven, Ludwig van 437 Beetz, Manfred 71 Behm, Christoff 230 Behm, Johann(es) 49, 238, 495, 499f.

526 Behm, Michael 9, 68, 344 Behrendt, Johann 398, 402, 406, 409 Benjamin, Walter 1 Benzenhöfer, Udo 118, 157, 182 Berg, Alban 443 Bergdolt, Klaus 158 Berge, Abraham vom 45f. Bergen, Margarete zum 243, 257–264 Bergen, Rotger zum 22, 242f., 257–260, 262–264, 302, 459 Bergin, Osborn 193, 477 Berlepsch, Erich Volkmar von 228 Bernhard von Clairvaux 340, 342 Bernoulli, Eduard 117, 322, 438, 441 Berns, Jörg Jochen 213 Bersmann, Gregor 219 Bessel, Friedrich Wilhelm 463 Bidermann, Jakob 125 Bierwolff, Catharina s. Klein, Catharina Bink, Hermann 412, 414f. Bircher, Martin 179, 217, 296, 363 Birken, Sigmund von 1f., 115, 217, 368, 430, 433 Blanckenfeldt, Gottfried 37, 43–45 Blarr, Oskar Gottlieb 451 Bleicher, Thomas 70 Blickle, Peter 191 Blom, Hans W. 125 Blum, Georg 36, 38–40, 44f. Blum, Sybilla 39 Blume, Friedrich 322, 346, 444 Bocer, Johannes 251 Bock, Johann George 58 Böckmann, Paul 403 Bodin, Louis 425 Bogner, Ralf Georg 221 Bohle, Jacob 511 Böhm, Hans 120 Böhm, Martin 60 Böhme, Franz M. 170 Bolius, Jacob 57 Bolte, Johannes 198, 203 Boltz, Christoph 64 Borchling, Conrad 196, 200 Borchmeyer, Dieter 324 Borgards, Roland 157 Böttcher, Irmgard 212, 323 Boy, Anna s. Reimann, Anna Boy, Balthasar 60 Boy, Magdalene 174 Brahe, Tycho 34 Brahms, Johannes 437 Brakoniecki, Kazimierz 449f. Brand, Friedrich 71 Brandt, Achatius von 134 Brandt, Ahasver von 122, 473 Brandt, Catharina von 144–146 Brandt, Helene Dorothea von 133f.

Personenregister Brasnecke, Christian (Pseud.) s. Rotger zum Bergen Braun, Manuel 211 Braun, Regina 302f., 305 Braun, Werner 39, 192, 323f., 335, 437, 441f., 485 Braungart, Georg 125, 241 Brechtel, Michael 30, 44, 46 Brentano, Clemens 139 Brenz, Johannes 241 Bretke, Barbara 506 Bretke, Johann 506 Breuer, Dieter 56, 85f., 191f., 196, 344 Breuser, Wilhelm 470 Bringéus, Nils-Arvid 192 Brinker-Gabler, Gisela 414 BrodziĔski, Kazimierz 447f. Brückner, Wolfgang 191 Buch, Levin 71 Buchner, August 326, 456 Buck, August 75, 85 Burckstorff, Conrad von 146, 251 Burger, Harald 199 Burger, Heinz Otto 368 Busch, Gudrun 484 Bussenius, Heinrich 475 Buthner (Bütner), Wilhelm 244–246, 264–266 Butzer, Günter 426 Byrd, William 440 Caccini, Francesco 325 Calov, Abraham 34, 51, 58, 68, 72, 241, 251–254, 278–288, 300 Calvin, Jean 281, 288 Camerarius, Joachim 228 Campanella, Tommaso 76–78, 82–84, 100, 107, 231 Cancik, Hubert 313 Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 349 Catull 218f., 225, 228, 234, 240, 248, 258, 262, 313, 318 Caussin, Nicolas 63 Cecilia Renata (Königin v. Polen) 450 Cervantes Saavedra, Miguel de 7 Chang, Ku-ming (Kevin) 71 Charisius, Arnold 509f., 512f., 514, 516– 518, 520f. Christina (Königin v. Schweden) 14 Chrysippos von Soloi 90, 94 Chrysostomus, Johannes 103, 112 Chytraeus, Nathan 118, 157, 182 Cháosta, Jan 450 Cicero 63, 88f., 93, 105, 136, 211f., 220– 222, 229, 264, 266 Cimdarsus, Joachim 47, 60, 74 Citaviþinjtơ, Liucija 398, 400

Personenregister Clagius, Thomas 345 Claudianus, Claudius 227, 248 Claudius (röm. Kaiser) 229 Claussen, Bruno 196, 200 Colb, Heinrich 65 Colbe, Anna 249, 273–278 Colbe, Georg 40, 273, 275f., 303 Colbe, Georg (d.J.) 438 Colmitz (Colbitz), Sebastian 34, 44 Comenius, Johann Amos 296 Conradi, Johann 43 Conrady, Karl Otto 484 Contiades-Tsitsoni, Eleni 247 Contzen, Adam 86 Conz, Andreas 131f. Cörber, Anna 506 Corell, Achatius 318 Corell, Anna 318 Corner, Christian 68 Cosack, Carl Johann 363 Cramer, Daniel 197–199 Cramer, Johannes 297, 302–305, 309, 311 Cramer, Regina s. Braun, Regina Crebs, Andreas 64 Cröchel, Johann 72 Crüger, Johannes 471 Curtius Rufus, Quintus 63 Curtius, Ernst Robert 75, 151 Czapla, Ralf Georg 214 Czarnecka, Mirosáawa 4, 49, 238, 247, 351, 472 Czepko, Daniel von 115, 232, 433 Da la Gardie, Magnus Gabriel Graf 14 Dach, Christoph 239, 369f., 457, 462 Dach, Johannes 239 Dach, Regina 22, 258, 261, 263, 312, 314f., 345, 369, 428, 478 Dach, Regina (d.J.) 259, 261, 263 Damerow, Christoff 44 Dantiscus, Johannes 34 Dantzer, Friedrich 30, 44 Danuser, Hermann 324, 442 Dedekind, Constantin Christian 468 Deitz, Luc 73, 86, 102, 247f., 253 Demosthenes 229 Derlukiewicza, Piotra 299 Derschau, Elisabeth von 250 Derschau, Friedrich von 472 Derschau, Marie von 234 des Prez, Josquin 346f. Devitius, Caspar 502, 505 Diefenbach, Lorenz 270 Dieterich, Conrad 368, 379 Dilger, Simon 234 Dilherr, Johann Michael 385 Dinkel, Thilo 69 Diogenes Laertios 359

527 Diomedes 90, 94, 102 Dion Chrysostomos 89 Dion Cocceianus 89, 93f. Dirlmeier, Franz 211 Diterich, Johann Samuel 397, 399 Dittrich, Franz 345 Dittrich, Wolfgang 476 Ditzel, Ernst 409 Domsdorff, Achatius von 297, 319 Donelaitis, Kristijonas 402, 406f., 494 Dönhoff, Gerhard Graf zu 116, 238 Dopler, Steffen 46 Dörffer, Dorothea 38 Dowland, John 440, 444f. Drees, Jan 247 Dreier, Christian 51, 58, 344 Drotvinas, Vincentas 493 Düchting, Reinhard 217 Düffel, Peter von 214 Dühren, Gertrud von 175–181, 183–187 Dühren, Nikolaus von 176 Dünnhaupt, Gerhard 3–5, 10, 15, 17f., 21, 49–52, 57, 65, 72f., 123, 127f., 132–134, 237f., 363, 467–472, 474f., 480, 487, 489, 496, 499, 505f., 511–514, 517, 519 Dürer, Albrecht 447 Durzak, Manfred 423f., 433 Dyck, Joachim 55f., 77, 124, 139, 473 Eccard, Johannes 30, 483 Edel, Harald 174 Eggebrecht, Hans Heinrich 445 Eggert, Gertrud von s. Dühren, Gertrud Eibl, Karl 351, 363 Eichler, Georg 45f. Eifler, Michael 48f., 68, 72, 229, 495, 499f. Eigler, Gunther 425 Eilard, Christoph 48, 60, 495f., 499f. Eitner, Robert 483f. Elders, Willem 346 Elias, Norbert 201 Ellinger, Georg 226f. Emmelius, Caroline 296 Empedokles von Agrigent 76, 100, 108, 229 Engelbrecht, Gottfried 66 Engelhardt, Dietrich von 158 Engelhardt, Markus 323 Ennius 90 Entmann, Simon 45f. Entner, Heinz 217, 228 Epikuros 108, 357, 359 Erasmus von Rotterdam 229, 232, 240 Erechtheus 135f. Erler, Georg 28, 37f., 48, 72, 244, 255 Ermann, Wilhelm 13, 51 Esmar, Johann 49

528 Estreicher, Karol 448 Etmüller, Johann Erhard 472 Euklid 90, 95 Eulenburg, Both-Friedrich zu 357f. Eulenburg, Gottfried Freiherr zu 357–359 Eulenburg, Jonas Kasimir Freiherr zu 133f., 239 Euripides 78, 80, 102, 104, 110, 113 Eybl, Franz M. 192 Eyffinger, Arthur 78, 102, 125 Faber, Johann Baptist 495, 500f. Fabricius, Jacob 495, 501 Fabricius, Johann s. Schmidt, Johann Fahrenhorst, Christoph 44 Fantazzi, Charles 229 Fauljoch, Johann 36f., 39–41, 43–45 Fechner, Manfred 325 Fecker, Carsten 40 Feger, Hans 241 Fehrmann, Sophie 117 Feldhausen, Statius 300 Fels, Roderich (d.i. Siegfried Henschel) 411f., 418, 422 Feyerabend, Christoph 300 Feyerabend, Michael 300 Fichtner, Gerhard 178 Ficino, Marsilio 85, 93 Finscher, Ludwig 28, 322, 336, 441 Firpo, Luigi 76 Fischer, Albert 169 Fischer, Erich 484 Fischer, Leopold Hermann 216, 249, 483f., 510 Fischer, Maria 36 Fleming, Paul 2, 130, 161f., 164, 172, 179, 216f., 227, 232, 319, 328, 453–455 Flood, John L. 54 Föllner, Ursula 196 Folz, Hans 197 Fontane, Theodor 415 Förstemann, Karl Eduard 31 Forstreuter, Kurt 31, 501 Franck, Melchior 440 Frank, Horst Joachim 162, 165 Freise, Fridrun 295f. Frenking, Philipp 34f., 42f. Frey, Hermann Heinrich 385 Freyling, Catharina 300 Freyling, Helmut 300 Freyling, Paul 300 Fricke, Harald 115, 120 Friedrich II. (König v. Preußen) 397–399 Friedrich III. (Kurfürst v. Brandenburg) 18, 20, 478, 480 Friedrich III. (Kurfürst v. Sachsen) 243 Friedrich Wilhelm I. (König v. Preußen) 397

Personenregister Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst v. Brandenburg) 8, 14, 18–21, 25, 34–37, 52, 62, 232, 234f., 238, 344f., 393, 412, 414, 420f., 459, 475, 477f., 480, 502f. Friese, Marie 143 Friese, Michael 285 Friese, Regina 281, 285, 288 Frischlin, Nicodemus 198 Fritsch, Georg 418 Fuchs, Juliane 200, 204, 241, 247, 507 Fuchs, Samuel 48, 54f., 59, 61, 515 Fuhrmann, Manfred 73, 75, 247 Funck, Georg 65 Fürstenau, Moritz 326 Fürstenwald, Maria 242 Gabriel, Paul 401 Gabrieli, Giovanni 443 Gagliano, Marco da 75, 325f. Gaier, Ulrich 413 Galen 119 Galinis, Vytautas 405 Gallandi, Johannes 26, 28f., 31f., 35, 37f., 299f. Garber, Klaus 1, 3–6, 9, 13f., 21f., 39, 52f., 57f., 69, 73, 127, 138, 191, 230, 298, 344, 352, 364, 465, 469, 471 Gause, Fritz 22, 32f., 37, 40, 57, 235, 297, 487, 499, 506, 509 Gebauer, Christian August 448 Geck, Karl Wilhelm 324 Geelhar, Caspar († 1625) 28f., 32, 42 Geelhar, Caspar († 1678) 28 Geelhar, Caspar († 1728) 28 Geelhar, Caspar († 1755) 28f. Gelbhar, Caspar 28 Gelumbeckaitơ, Jolanta Genin, L. 454 Georg Friedrich I. (Markgraf v. Brandenburg-Ansbach) 27, 31 Georg Wilhelm (Kurfürst v. Brandenburg) 8, 41, 49, 68, 73f., 92, 97–99, 105–107, 231, 393, 412, 420, 459, 472 George, Stefan 418 Georges, Heinrich 313 Georges, Karl Ernst 313f. Georgi, Hieronymus 60 Gerhard, Johann 212, 360, 365–368, 370, 375f., 378f., 384, 388 Gerhardt, Paul 165, 211f., 382 Gericke, Anna 8, 10–13, 152–155 Gericke, Daniel 45f. Gerigk, Horst-Jürgen 158 Gerullis, Georg 507 Gibbons, Orlando 440 Gier, Albert 335 Gillespie, Gerald 401 Gineitis, Leonas 405

529

Personenregister Ginsburg, Lev 455, 461 Gippert, Jost 494 Girdzijauskas, Juozas 400, 408 Gisinn, Catharina 300 Glaser, Fabian Ulrich 398, 401, 405f., 409 Gloger, Georg 217 Goedeke, Karl 412 Goethe, Johann Wolfgang von 439 Goldbach, Joachim 45 Goltz, Heinrich 61 Gompf, Ludwig 75 Gonschior, Hannelore 73 Görgensen, Johannes 132, 250 Gorlovius, Michael 128, 239 Gorlovius, Stephan 22f., 66 Gotthardt, Axel 25 Gotthold, Friedrich August 326, 480 Gottsched, Christoph 66 Gottsched, Johann Christoph 2, 58, 479, 490 Götz, Barbara Dorothea von 146 Grabalov, Pavel 460 Graf, Andreas 423, 434 Grashoff, Anna s. Corell, Anna Grass, Günter 4, 115, 321, 423–435 Greczycho, Krystyna 299 Green, Lawrence D. 56 Greflinger, Georg 430, 433f. Greiff, Christoff 45f. Greiffenberg, Catharina Regina von 157, 360, 368 Greschnych, Wladimir Ivanoviþ 461–463 Gretzsch, Maria 226 Grillparzer, Franz 414 Grimm, Gunter E. 499 Grimm, Jacob 191 Grimm, Reinhold 368 Grimm, Wilhelm Karl 191 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoph von 2, 424, 427f., 431–433, 435, 453 Gröben, Georg von der 163, 167, 169 Gronemeyer, Horst 476 Grotius, Hugo 33f., 78, 84, 102, 110, 125, 229, 231 Grulich, Johann 65 Grünendemwalde, Balthasar von 68 Gruppe, Otto Friederich 411 Gruter, Janus 214, 227 Gryphius, Andreas 2, 118, 122, 157–159, 162, 164, 167, 171–173, 182, 217, 221, 242, 371, 377, 379, 426, 428–433, 435, 453, 455, 489 Gualtherus, Bernardus s. Wolter, Bernhard Guarini, Giovanni Battista 82 Gubaidulina, Sofia 439 Gubin, Aleksej 457f. Günther, Johann Christian 2 Gustav II. Adolf (König v. Schweden) 459

Gutsch, Adam 36, 45 Guttzeit, Emil Joh. 474 Gáomb, Eugeniusz 447 Gáomb, Krystyna 447 Haak, Katharina 5–8 Haarmann, Harald 502 Haberkamm, Klaus 424 Haberkamp, Gertraut 323f., 327 Hagen, August 296 Hägglund, Bengt 376 Hahn, Gerhard 362 Hain, Paul 418 Hak, Catharina 4–8 Halbach von der Pforte, Daniel 45 Hall, John Barrie 227 Hallervord, Martin 63, 517 Händel, Georg Friedrich 437 Hanisch, Georg 30, 43f. Hänisch, Peter 35, 43 Hankamer, Paul 324 Hannibal 267, 269, 271, 292 Harder, Richard 304 Harlowsky, Hans 46 Harper, Anthony J. 484 Harsdörffer, Georg Philipp 125, 212, 214, 222, 322f., 326f., 335, 423, 435, 485 Hartknoch, Christoph 61 Hartmann, Volker 139 Hartung, Johann Zacharias 45f. Haubold, Johannes 495, 501 Haug, Walter 361 Haydn, Joseph 336, 437 Hecht, Andreas 218 Hecker, Johann 301 Hecker, Regina 300 Heermann, Christophorus 301 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1 Heidegger, Gotthard 76 Heiduk, Franz 227 Heilsberg, Friedrich 55 Heilsberger, Friedrich 300 Heincke, Hanswerner 296f. Heinius, Petrus 66 Heinrich Julius (Herzog v. BraunschweigWolfenbüttel) 197–199 Heins, Otto 199 Heinsius, Daniel 54 Heldt, Kerstin 478 Heling, Reinhold 32, 40 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 463 Helwich, Christian 66 Hempel, Christian 143 Henkel, Arthur 134, 485 Henrichs, Albert 313 Hentzschel, Job Heinrich 46 Henze, Hans Werner 439

530 Herberger, Valerius 211 Herder, Johann Gottfried 191, 215, 411– 413, 456 Hermann, Catharina 142 Hermes, Daniela 423 Hermogenes 64 Herrmann, Christofer 73 Hertlein, Ludwig Moritz 30, 43 Herz, Andreas 296 Hesiod 76, 90, 94, 100, 108 Hespius, Johannes 301 Heß, Barbara 31 Heß, Joachim 31f., 42 Heße, Oswald 45 Heuser, August 196 Hilbert, David 463 Hildebrand, Olaf 85 Hilsenrath, Edgar 434 Hinnius, Andreas 302 Hintz, Abraham 44, 46 Hipler, Franz 345 Hirsch, Rudolf 426 Hoffheinz, Woldemar 399 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 422 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 227, 430, 455 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 139, 463 Hoffmann, Friedrich 65 Hoffmann, Heinrich 411, 418 Hoffmann, Johann Friedrich 45f. Hoffmeister, Gerhart 401 Hofmann, Heinz 425 Hofmannsthal, Hugo von 426 Holland, Wilhelm Ludwig 198 Holländer, Andreas 258, 261f. Holsten, David 301, 306 Holsten, Sabina s. Martini, Sabina Holtz, Sabine 182 Holtzwart, Matthias 214 Homer 70, 80f., 89, 94, 113, 229, 456 Honsza, Norbert 424 Höpel, Ingrid 485 Horaz 49, 69, 80, 89f., 93, 101, 104, 109, 112f., 116, 125, 130, 134, 161, 229, 236, 240, 254, 258, 262, 271, 283, 447 Horn, Ewald 13, 51 Horstmann, Sabine 227 Hoste, Anselm 219 Howlett, David R. 270 Hoynovius, Daniel 60 Hoyt, Giles R. 401 Hub, Ignaz 411 Hubatsch, Walther 34, 297 Hubrath, Margarete 241 Huck, Georg 438 Hülsen, Otto von 30f., 42

Personenregister Hünecke, Hieronymus 45 Hunold, Christian Friedrich 349 Hutten, Ulrich von 447 Hütter, Leonhart 365f., 379 Ingen, Ferdinand van 516

170, 173, 217, 356,

Jacob, Christoff 30, 46 Jacobi, Carl Gustav 463 Jacobs, Eduard 297, 304, 311 Jacobs, René 443 Jacoby, Karl Johannes Hermann 363 Jäger, Felix 251 Jahn, Bernhard 198, 324 Jähnig, Bernhart 25–28, 31, 35–39 Jakubowski-Tiessen, Manfred 354 Jan II. Kazimierz (König v. Polen) 18 JasiĔski, Janusz 450 Jaster, Stephan 25 Jaumann, Herbert 80, 85, 125, 228, 341 Jennicke (Jenke), Maria 143 Jens, Walter 117 Jeschke, Christoph 65 Jeschke, Martin 65 Jester, Christoph Ludwig 490 Johann der Beständige (Kurfürst v. Sachsen) 243 Johann Georg II. (Kurprinz v. Sachsen) 326 Johann Sigismund (Kurfürst v. Brandenburg) 25, 27 Johns, Susanne 322 Jonas, Friedrich 43 Jöns, Dietrich 424 Jordan, Johann 473 Jørgensen, Ninna 197 Juntke, Fritz 26 Juranek, Christian 217 Justus, Valentin 44f. Juvenal 51, 91 Kafka, Franz 139 Kaiser, Johann Andreas 409 Kaiser, Max 419f. Kalau vom Hofe, Fabian 34, 42 Kalau, Daniel 46 Kalchas 281, 284, 287 Kalckstein, Catharina von 134 Kaldenbach, Christoph 21f., 36, 57, 65, 115, 248, 317f., 345, 438, 459, 471, 501 Kalnein, Albrecht von 26, 42 KamiĔska, Krystyna 449 Kant, Immanuel 1, 463 Karl Emil (Kurprinz v. Brandenburg) 18– 21, 478 Kasper, Walter 346 Kaufmann, Thomas 58, 344

Personenregister Kaunas, Domas 493f. Keber, Karl Gotthard 400, 408 Keckermann, Bartholomaeus 63 Keller, Peter 485 Kelletat, Alfred 4, 10, 33, 36, 39, 41, 68f., 72, 87, 116f., 119, 121–123, 128, 130, 138, 216, 231, 249, 315, 342, 363, 480, 489–492, 508 Kempe, Martin 296 Kemper, Hans-Georg 85, 352 Kenkel, Horst 32 Kepler, Johannes 131, 239, 500 Kepler, Ludwig 131, 495, 499–501 Kern, Thomas 192, 195 Kerner, Hanns 83 Kerstein, Christoph 144, 225f. Kerth, Thomas 308, 506 Keuter, Jakob 71 Keydell, R. 247 Kieper, Albertus 304 Killy, Walther 52, 325, 363, 474, 489, 506, 510, 516 Kirchhoff, Gustav Robert 463 Klaj, Johann 123, 368 Klauser, Theodor 247 Klein, Catharina 180f., 183f., 187–190 Klein, Daniel 409, 493–508, 510f. Klein, Jakob 60 Klein, Reinhold 181, 183, 187 Kleinschmidt, Erich 75 Kleist, Heinrich von 139, 414 Klin, Eugeniusz 447–449 Klöker, Martin 297f., 469 Kloosterhuis, Jürgen 26 Klopsch, Paul 75 Klug, David 49 Kluge, David 319f. Klugmihel, Crispin 495, 499f. Knapp, Fritz Peter 75 Knobloch, Hans 46 Knobloch, Heinrich 174 Knuz, Johann 438 Kobelt-Groch, Marion 350, 355 Koch, Hannsjoachim W. 73 Koese, Anna 387 Kofler, Wolfgang 118 Kolmer, P. 219 Komorowski, Manfred 4, 22, 30, 39, 50– 52, 57f., 63, 70, 138, 191, 230, 344, 352, 364, 465, 474, 476 Königes, Margaretha 243 Königseck, Bernhard von 116 Kopacki, Andrzej 449 Köpf, Ulrich 342 Koppitz, Hans-Joachim 69 Kopsch, Günther 56 Körkel, Boris 217 Kospoth, Johann von 26, 42

531 Koy, Johannes 258, 261f. Koženiauskienơ, Regina 493–495, 502 Krantor von Soloi 90, 94 Krauß, Georg 30, 44f. Kremtz, Konstanze 325 Kretschmer, Georg 66 Kretzenbacher, Leopold 485 Kretzschmar, Hermann 322, 445 Kreytzen, Abraham Josaphat von 143 Krintz, Anna 146 Kröhlen, Zacharias 361 Krohn, Rüdiger 241 Krokisius, Renate 439 Kroll, Frank-Lothar 25 Krollmann, Christian 26, 34, 261, 500 Krüger, Johann-Bartholomäus 142 Krüger, Zacharias 45 Kruk, Erwin 451 Krummacher, Hans-Henrik 121, 177, 179, 241–244, 247, 306, 351, 360, 364 Kruwell, Johann Christoph 65 Kubilius, Vytautas 408 Kuhlmann, Quirinus 368 Kühlmann, Wilhelm 1, 63, 83, 118, 122, 127, 157, 164, 182, 217–220, 222f., 352, 364, 505 Kühn, Johannes 345 Kundert, Ursula 75 Kuolys, Darius 494 Kurschat, Friedrich 408 Kyros II. (persischer König) 109 Labouvie, Eva 198 Laelius, Gaius 220 Lalein, Petrus de 44 Land, Samuel 318–320 Landino, Cristoforo 85 Landwehr, Jürgen 424 Lange, Maria 126, 233–235 Langer, Horst 352 Langerfeld, Reinhold 232, 239, 338, 345f. Langerfeld, Tobias 43 Langer-Ostrawsky, Gertrude 418 Langius, Josephus 214 Langosch, Karl 75 Lappenberg, Johann Martin 161, 193, 227 Lasso, Orlando di 346 Latermann, Johann 58 Latham, Ronald Edward 270 Laufhütte, Hartmut 423f., 432f. Lauremberg, Johann 193, 195, 427, 430 Lausberg, Heinrich 163 Lauson, Johann Friedrich 48, 50, 56, 476, 490 Lauxmin, Sigismund 345 Lavrinoviþ, Kasimir Kleofasoviþ 57, 458–460, 463 Le Breton, David 157

532 Lebzelter, Friedrich 336 Lechner, Leonhard 346 Ledebuhr, Caspar 66 Ledermann-Weibel, Ruth 247 Lehmann, Hartmut 182 Lehnerdt, Johann Max 26, 260, 293, 500 Lehwald, Anna 301 Lehwald, Johann 301 Leighton, Joseph 179 Lemberg, Hans 25 Lemnius, Simon 230 Lenz, Rudolf 242, 244 Leon, Johannes 170 Leopold, Silke 321–323, 326–328, 440 Lepner, Anna 276 Lepner, Catharina 260 Lepner, Elisabeth 143 Lepner, Hiob 34 Lesky, Albin 126 Lew, Friedrich 43 Lichatschev, Dmitrii 408 Licht, Tino 217 Lietz, Michael 46 Lilienthal, Michael 513, 516f., 522 Lindemann, Klaus 424 Lindner, Michael 45f., 117 Linemann, Albert 152–155, 291, 293f., 303, 495, 499f. Linton, Anna 356 Lipatov, A.W. 405 Lipscher, Winfried 449f. Litwiniuk, Jerzy 449 Ljungerud, Ivar 192, 195, 202 Lobwasser, Ambrosius 162, 477 Logau, Friedrich von 430, 433, 453, 455 Lohen, Christoph a 68 Lohenstein, Daniel Casper von 227f. Lohmeier, Dieter 472 Lohse, Bernhard 256 Lohse, Vanessa 360 Löper, Hiob 44 Lorentz, Andreas 30 Lösel, Georg 495, 499f. Lösel, Johannes 68, 118f., 174, 258, 260–262 Loth, Georg 238 Loth, Katharina 142 Lotichius Secundus, Petrus 118, 130, 157, 182, 222, 227 Louise Henriette von Oranien (Kurfürstin v. Brandenburg) 20 Lovin, Christian 398 Löwenstern, Matthäus Apelles von 326 Lucilius Iunior 426 Ludwig, Walther 252 Lueken, Wilhelm 363 Lühr, Georg 345 Lukan 75, 229, 240

Personenregister Lukrez 76, 80, 100, 104, 108, 112, 135 Lully, Jean-Baptiste 440 Luther, Martin 137, 142, 178, 222, 230, 243, 343, 359, 367, 369f., 375, 380, 383– 386, 401 Luther, Saskia 196 Lykambes 268, 270, 272 Lykurgos 90, 95 Maché, Ulrich 52, 57, 325, 363, 411, 474, 489, 506, 510 Magdalena Sibylla von BrandenburgKulmbach (Kurfürstin v. Sachsen) 326 Mahler, Gustav 438 Mahrdt, Helgard 425, 433 Major, Johann 376 Malapertius, Carolus (Malapert, Charles) 13, 232, 337–343, 346f., 360 Malina, Johannes 470 Mallinckrodt, Rebekka von 296 Mannack, Eberhard 179, 199 Manthey, Jürgen 57f., 492 Mantzel, Ernst Friedrich Johann 469 Marg, Walter 304 Maria Eleonora (Königin v. Schweden) 459, 477 Marie Eleonore (Herzogin v. Preußen) 32 Marschall, Veronika 241, 306 Marstrander, Carl 193, 477 Marti, Hanspeter 4, 30, 50–52, 58f., 63, 70f., 474, 476 Martin, Daniel 143 Martin, Dieter 217, 324 Martini, Cyriacus 297, 301 Martini, Fritz 197 Martini, Georg 349, 355f. Martini, Johann Friedrich 71 Martini, Maria 349, 355f. Martini, Regina 349–351, 354–356 Martini, Sabina 301 Marti-Weissenbach, Karin 58, 63, 70, 476 Masecovius, Samuel 66 Masen, Jacob 219 Matheeussen, Constantinus 229 Matthaei, Johann 44, 507 Matthaei, Konrad 18, 438 Maurer, Michael 352 Mauritius, Petrus 269 Mauser, Wolfram 118, 158, 173, 182, 217 Mayer-Iswandy, Claudia 423 Maááek, Janusz 494 Mažvydas, Martynas 494, 507 Medem, Balthasar von 43f. Mehlich, Christoph 4–8 Meid, Volker 118, 158, 182, 323, 411 Meienreis, Andreas 305 Meienreis, Catharina 131f. Meienreis, Michael 305–307

Personenregister Meienreis, Sigismund 305–307 Meier, Catharina 470 Meier, Christel 198 Meier, Conrad 49 Mellhorn, Johann 387 Memel, Johann Peter de 194f. Menander 254 Menius, Eusebius 227 Menius, Heinrich 43 Menke, Bettine 139 Mense, Pascha 62f. Merten, Hedwig 234 Messiaen, Olivier 443 Meusebach, Karl Hartwig Gregor Freiherr von 4, 17 Meyer, Joachim 35, 42f. Meyer, Kuno 192, 477 Meyer-Krentler, Eckhardt 217 Meyfart, Johann Matthäus 139, 370, 377, 379f. Meywaldt (Mehewald), Merten 46 Michailov, Aleksandr Viktoroviþ 453 Michaud, Joseph-François 74 Micyllus, Jacob 130 Miegel, Agnes 447 Mielcke, Christian Gottlieb 398–408 Migne, Jacques-Paul 103, 426 Milska, Anna 449 Mitzka, Walter 195 Miáosz, Czesáaw 406 Mochinger, Johannes 317 Mokrzecki, Lech 296 Möllen, Barbara von (geb. Elert) 473 Möller, Friedewald 32 Moller, Gertrud 193 Möller, Heinrich 197 Möller, Martin 46 Monteverdi, Claudio 323, 440, 442–444 Moos, Peter von 75 Morhof, Daniel Georg 2, 57 Mörike, Eduard 15 Morley, Thomas 440 Morris, David B. 157 Moscherosch, Johann Michael 427f., 453 Moser, Hans-Joachim 336, 438 Möser, Johann Friedrich 64 Moser-Rath, Elfriede 195 Mozart, Wolfgang Amadeus 419, 437 Muchembled, Robert 201 Mudre, Johann Friedrich 404 Mühlpfort, Heinrich 227f. Mülheim, Maria von 142 Müller, Erich Hermann 325 Müller, Hans 69 Müller, Jan-Dirk 80, 115 Müller, Joseph 33, 38, 53, 326 Müller, Stephan 234, 250 Müller, Wilhelm 448

533 Müller-Blattau, Joseph 53, 192, 483 Mulsow, Martin 357f. Mundt, Lothar 70, 228, 230, 251 Muret, Marc-Antoine 79 Murphy, James J. 56 Mylius, Andreas 303, 500 Mylius, Georg 55, 62, 71, 249, 273–278, 300, 315 Mylius, Michael 297, 312, 314–317, 320 Myslenta, Coelestin 49, 58, 344 Najmajer, Marie von 412, 414, 420 Naps, Christoff 32, 42 Nauwerck, Reinhold 150, 387 Nebes, Liane 85 Neebe, Matthias 43 Neicke, Georg 30, 43 Nerée, Donata von 255, 363 Neubaur, Leonhard 297 Neuber, Johann 211 Neuhaus, Volker 423, 425 Neukirch, Benjamin 2 Neumann, F. W. 507 Neumann, Ferdinand 296, 304, 314, 317 Neumann, Florian 69 Neumann, Franz 463 Neumann, Martin 37, 43, 46 Neuschilling, Georg 141 Nick, Bruno 120, 383 Nieden, Hans-Jörg 122, 342, 360, 381 Nieden, Marcel 122, 342, 360, 381 Nikandros von Kolophon 100, 108 Nikeratos 104, 113 Nilsson, Sten Åke 192 Nöpffel, Christoff 46 Numa Pompilius 229 Oeder, Johann 117 Oeder, Regina 142, 227 Oesterley, Hermann 5, 10, 13, 15, 17f., 117f., 127, 135, 175, 177, 216, 237, 322, 351, 411f., 448, 466–468, 478f., 489, 510–513, 516–518 Önnerfors, Alf 75 Opgenoorth, Ernst 25f., 37 Opitz, Martin 1f., 6, 8, 48, 68, 75, 85f., 115f., 118–121, 124–127, 130, 132f., 136, 138, 140f., 145, 161, 202, 214, 226, 228, 232, 236, 240, 251, 267, 270f., 274, 276f., 304, 318f., 326–328, 330, 335, 341, 403, 453–458, 489, 515f. Oppen, Heinrich von 142 Oracki, Tadeusz 450 Orgelbrand, Stanisáaw 448 Orth, Christian 228 Oráowski, Hubert 449 Osiander, Andreas 12, 256, 292 Ossuna, Petrus 75

534 Ostau, Fabian von 26, 42 Ostau, Johann Sigismund von 146 Osterberger, Georg 61 Ostermeyer, Gottfried 398–404, 408 Osthoff, Helmuth 322, 444 Otto, August 95, 269f. Overbeck, Paul 66 Ovid 50, 73, 135, 225, 240, 252, 258, 262, 276, 279, 283, 286, 304 Oxenstierna, Axel 317, 319 Oxenstierna, Erich 319f. Paganini, Gianni 358 Paisey, David 22 Pantzer, Caspar 239 Pärß, Ursula s. Adersbach, Ursula Paschke, Anna 235 Paschke, Hieronymus 37 Pastorius von Hirtenberg, Joachim 296, 302 Paulauskienơ, Aldona 493 Paulinus von Nola 251 Paulus (Apostel) 169–172, 366, 376 Pawlak, Marian 296f., 301 Pedanus, Johann 52, 475 Peil, Dietmar 117f., 177 Pelagios 280, 284, 287 Peltz, Simon 45 Penderecki, Krzysztof 439 Perband, Cyriacus 244 Perkuhn, Jakob 401, 409 Persius Flaccus, Aules 92, 270 Petersohn, Jürgen 27 Petrarca, Francesco 7, 240, 440 Philipp IV. (König v. Spanien) 338 Philippi, Rudolf 40, 47, 126, 469, 476 Philon von Alexandreia 83 Phokylides 76, 100, 108 Pias, Claus 426 Pico della Mirandola, Giovanni 93 Pietsch, Johann Valentin 58 Pisanski, Georg Christoph 40, 47f., 53– 57, 59, 61–65, 126, 132, 469, 473–476, 490, 500 Pittrof, Thomas 85 Plato, Daniel 307–309, 311 Platon 70f., 79–87, 89–91, 94–96, 104, 113, 229, 425, 521 Plautus 79 Plavskin, Zacharij Isaakovic 456 Plinius (d.Ä.) 229 Plinius (d.J.) 229 Plutarch 90, 96, 229 Pocinjte, Dainora 493 Pohl, Regina s. Dach, Regina Polani, Johann 49 Polkein, Dorothea 248f. Polkein, Friedrich 249

Personenregister Polus, Thomas 302 Porcius Cato, Marcus 229, 521 Porsch, Christoph 297 Porst, Johann 398 Portatius, Johannes 411, 458 Poseidippos von Pella 229 Posor, Monika 447 Powell, Hugh 158, 221, 371 Praetorius, Joachim 30, 43f. Praetorius, Matthaeus 409 Preuss, Anna s. Corell, Anna Preuß, Eduard 365 Priebsch, Robert 192, 201, 477, 509 Properz 225, 318 Prudentius Clemens, Aurelius 76, 83, 100, 107f. Purischev, Boris Ivanoviþ 453–455 Puttkamer, Franz Hermann von 52, 474 Pythagoras 83, 85, 90f., 94, 97, 100, 108 Quandt, Johann 45f. Quandt, Johann Jakob 398 Quintilian 63, 426 Raabe, Paul 476 Rabe, Paul 65 Rachel, Joachim 195 Rackschanus, Matthäus 49 Radau, Michael 345 Radau, Regina 141f. Radbruch, Gustav 201 Radbruch, Renate Maria 201 Rädle, Fidel 198 Ramakers, Bart 198 Rameau, Jean-Philippe 440 Rappe, Christoph von 26, 42 Rappe, Friedrich Wilhelm 247 Raschius, Valentin 64 Rasumovskaja, Margarita Vasijevna 456 Rathofer, Johannes 75 Rauch, Georg von 499 Rauschke, Juliana Elisabeth von 143 Rauschning, Dietrich 255, 363, 459 Rautenberg, Ursula 247 Reger, Max 437 Rehefeld, Johann Christoff 506 Reich, Jakob 54, 64f. Reich, Johann 49 Reichardt, Johann Friedrich 322 Reichlin, Friedrich 45 Reich-Ranicki, Marcel 439 Reimann, Anna 307f. Reimann, Christoph 308, 310–312 Reimann, Georg 55, 59, 61, 146 Reimann, Johann 473 Reimann, Michael 495, 497, 499, 501 Reimer, Anna 131, 500 Reimer, Matthäus 49, 495, 499

Personenregister Reinhardi, Zacharias 495, 500 Reinitzer, Heimo 385 Reusner, Johann 60–66, 98, 105, 260, 265, 275, 282, 285, 292, 457, 494, 502f. Reusner, Nicolaus 252 Reuter, Christian 453 Rey, Roselyne 157 Reynolds, Leighton Durham 426 Rhode, Christoph Eduard 297, 300, 308, 312 Rhodius, Theodor 505 Riccius, Adam 52, 474 Richter, Hans Werner 423, 429 Riedel, Johann 46 Rietbroek, Pim 78, 102 Rinuccini, Ottavio 326 Rist, Johann 2, 115, 198f., 203, 319, 367, 381, 431, 454f. Rittangel, Johann Stephan 345 Ritter, Jakob 169 Röbbelen, Ingeborg 401 Robert, Reinhold 126, 233–235 Roberthin, Johannes 32 Roberthin, Robert 21f., 32–34, 36, 39f., 42, 51, 68, 87, 120, 127–130, 193, 238f., 242, 251, 254, 345f., 402, 448, 457–459, 461, 473, 506, 508–523 Roberthin, Ursula 33, 511, 520 Rocca, Heinrich 317 Rode-Breymann, Susanne 336, 442 Röder, Thomas 29, 37, 43 Rohr, Matthäus Wilhelm 65 Röling, Johann 53, 58, 60, 448, 472 Rölleke, Heinz 215 Roloff, Hans-Gert 424 Roman, Christoph 49, 60, 71f., 82, 98, 105, 239 Rompler von Löwenhalt, Jesaias 217 Ronsard, Pierre de 516 Rooley, Anthony 443 Rosenmüller, Johann 440 Roßteuscher, Wolfgang 66 Roth, Hieronymus 37 Rothmund, Elisabeth 326f. Ruckensteiner, Christiane 118, 121, 130, 138 Ruckmann, Steffen 46 Rudbeckius, Johannes 376 Rüegg, Walter 223 Ruge, Arnold 422 Ruhig, Philipp 409 Rusterholz, Sibylle 242 Sabinus, Georg 13, 47, 70, 227, 255f., 290, 292–294 Sachs, Hans 197 Sachs, Klaus-Jürgen 438, 441f., 445 Sahme, Benedikt 37

535 Sahme, Jakob 64, 133, 150, 173f., 300 Salbert, Maria 45, 388, 457 Salvadori, Andrea 75, 326 Sand, Christoff 34, 42 Sander von Sanden, Nicolaus 250 Sander, Maria 132, 250 Sandius, Johannes 470 Sandstede, Jutta 56 Sangerhausen, Balthasar von 30, 43 Sanjosé, Axel 230 Sannazaro, Jacopo 141, 229, 231, 240 Sarbiewski, Maciej Kazimierz 240 Sassen, Stephan 300 Saucken, Hans Georg von 26, 42 Saulơnienơ, Jovita 506 Savall, Jordi 443 Scala, Ambrosius 142 Scaliger, Julius Caesar 73, 86, 102, 247f., 253 Scarlatti, Alessandro 440 Scarry, Elaine 157, 159 Schäfer, Eckart 228 Schäfer, Walter E. 217f. Schanze, Helmut 56 Scharff von Werth, Sigismund 487 Schede Melissus, Paul 130 Schede, Elias 68 Scheffel, Victor von 419 Scheffler, Johannes s. Angelus Silesius Scheible, Heinz 255 Scheid, Balthasar 66, 68 Scheidt, Samuel 440 Schein, Johann Hermann 440 Scheitler, Irmgard 360, 364, 469 Schepper, Ewald 32f., 510 Schilling, Michael 4, 49, 192, 195, 238, 241, 351, 472 Schimmelpfennig, Adam Friedrich 398, 401–409 Schimmelpfennig, Johann 460, 487 Schimmelpfennig, Regina 135–137 Schleiermacher, Friedrich 425 Schlieben, Friedrich 473 Schmidt, Jochen 85, 161 Schmidt, Johann 61f. Schmidt, Klaus 214 Schmidtner, Christoph 45 Schmitner, Andreas 118 Schmitz, Claudia 358 Schneider, Gerhard 357 Schneider, Helmuth 313 Schneider, Johann 45 Schneider, Johann Nikolaus 191 Schnitzer, Claudia 200 Schoeller, Bernd 426 Schöne, Albrecht 1, 4, 25, 33, 52, 68, 121, 134, 150f., 230, 295, 350, 352, 363, 383, 424, 485, 509

536 Schoolfield, George C. 308, 506 Schosserus, Johannes 227, 230 Schottelius, Justus Georg 213, 222, 324, 453 Schreck, Valentin 47 Schreiber, Michael 59, 64f. Schreiber, Ulrich 327f. Schreven, Heinrich Ludwig 64 Schröder, Gerhard 64 Schröder, Paul 398 Schroeder, Christophorus 303 Schrötel, Hans Georg 45f. Schubert, Dietmar 241 Schubert, Franz 437f. Schubert, Gregor 146 Schultz, Anna 28 Schultz, Christoph 60 Schultz, Christophorus 303 Schultz, Hieronymus 44 Schultz, Margarete 30 Schultz, Michael 152–155 Schultz, Reinhold 143 Schultze, Joachim 244 Schulz-Behrend, George 202, 304, 516 Schulz-Nötzold, Carsten 251 Schulz-Warber, Hartmut 26 Schumacher, Bruno 499 Schumann, Georg 29, 34, 42 Schumann, Robert 437f. Schüssler, Hermann 252 Schütz, Caspar 47, 74 Schütz, Heinrich 321, 324–327, 336, 430, 439f., 443 Schwabe, Melchior 404–407, 409 Schwartz, Albrecht 46 Schwartz, Christian 61 Schwartz, Dietrich 372–375, 378, 390– 395 Schwartz, Elisabeth 300 Schwartz, Regina (d.Ä.) 373f., 390–395 Schwartz, Regina (d.J.) 146f. Schwarz, Raphael 300 Schwedler, Sophie 238 Schweichel, Christoff 45 Schweitz, Ambrosius 234 Schweitzer, Albert 446 Schweitzer, Friedrich 18 Schwetschke, Gustav 412f., 420–422 Scipio Africanus (d.Ä.) 90, 95 Scultetus, Tobias 214, 219 Secundus, Johannes 225–227 Sedulius Scotus 76, 100, 108 Seeger, Ludwig 113 Segebade, Lorenz 62f., 66, 88, 269 Segebrecht, Wulf 1, 4, 15, 52, 118, 121, 138, 140, 173, 191, 230, 240f., 244, 295, 352f., 364, 465–467, 475, 513 Sehel (Säel), Georg 30, 46

Personenregister Seidel, Robert 58, 217, 222f., 352, 504, 512 Selig, Susanna 132, 235f., 266–273 Selle, Götz von 57, 255, 499 Seneca 50f., 78, 102, 110, 426 Sennert, Daniel 119 Sent, Eleonore 324 Serczyk, Jerzy 450f. Setchawen, Balthasar-Ludwig von 477 Sethe, Urban 45f. Seyler, Georg Daniel 296f., 300 Shirmunskaja, Nina Aleksandrovna 456f. Sidonius Apollinaris 227, 248 Siebrand, Sylvester 37 Sieger, Christoph 425 Siegler, Johann 142, 227 Siegrist, Christoph 349 Simbeck, Karl 211, 221 Simkin, Sem 457 Simonides 91, 96 Sinknecht, Christian 68, 72 Sinn, Christian 157 Skura, Adam 56 Smijers, A. 347 Sofronova, L. A. 405 Sohren, Peter 469 Sokrates 70, 89–91, 94, 96f., 229 Solbach, Andreas 4, 49, 238, 351, 472 Solon 76, 90f., 95, 97, 100, 108 Sommer, Wolfgang 122, 342, 360, 381 Sommerin, Johann 65 Sommervogel, Carlos 79, 337f. Sophie Elisabeth (Herzogin v. Braunschweig-Lüneburg) 324, 326 Sorel, Charles 7 Sosius 104, 113 Sozzini, Lelio 253, 281, 288 Spangenberg, Peter-Michael 356 Spee von Langenfeld, Friedrich 455 Spellerberg, Gerhard 228, 241 Spieß, Johann Georg 61 Spitholdius, Egbertus 337f. Staden, Sigmund Theophil 323, 326, 485 Stadie, Anna 117 Ständer, Regina 152f., 155 Stangwald, Bartel 46 Starck, Christoph 142 Starke, Anna s. Reimann, Anna Statius 226, 229, 240, 248, 253f., 258, 261, 284 Staub, Hermann 476 Stebenhaber, Christoff 30, 43 Stegmann, Friedrich 30, 43–45 Steiger, Johann Anselm 122, 212, 222, 242, 342, 354, 360f., 365, 368, 376, 381f., 388 Stein, Caspar 509f., 512, 514–518 Stein, Gottfried 65

Personenregister Stein, Hieronymus von 246 Stein, Johann 177 Stein, Maria von 227 Steiner-Weber, Astrid 252 Steinhagen, Harald 52, 121, 150 Stekelenburg, Dick van 296 Stemper, Anneliese 201 Stephan, Georg 248f. Steppich, Christoph J. 75, 85 Steude, Wolfram 438 Stieber, Bernhard 45 Stiehler, Heinrich 411 Stobäus, Johann 10, 18, 30f., 33, 35, 38, 40–42, 53, 193–195, 201, 207, 239, 346, 438, 458–460, 477f. Stobbe (Stuebe), Isaak 46 Stockhausen, Karlheinz 439 Stötzer, Ursula 242 Strada, Famianus 79–85, 102, 111, 231 Sträter, Udo 353 Strauss, Richard 437f. Stroka, Anna 448f. StrutyĔska, Maria 299 Stüben, Jens 238 Sturzenegger, Barbara 130, 216 Suevus, Sigismund 211 Surkov, A. A. 454 Suter, Reinhold 300 Szafarz, Jolanta 4, 49, 238, 247, 351, 472 Szyrocki, Marian 4, 49, 125, 158, 221, 238, 351, 371, 424, 449, 472 Talbot, Charles Hugh 219 Tamm, Christoph 141f. Tasso, Torquato 440 Taube, Paul 35, 43 Tauler, Johannes 388 Tauten, David 174 Telemann, Georg Philipp 437 Telle, Joachim 83 Tertullianus 81 Tettau, Hans Dietrich von 144–146 Teubelius, Johannes 44, 46 Theognis von Megara 76, 90, 94, 100, 108 Theokrit 95, 248 Thilo, Valentin (d.Ä.) 55 Thilo, Valentin (d.J.) 22, 54–59, 62f., 68, 124, 243, 303, 450, 459, 473f., 495, 499f., 513, 516, 520 Thoma, Nicolas 301 Thomas von Aquin 103, 112 Thomas, Lionel 415 Tibull 225, 258, 262, 318 Tilesius, Balthasar 61, 66 Tilesius, Christian Gottfried 61 Tilesius, Heinrich 64 Tilesius, Johann 64 Till, Dietmar 85f., 115

537 Tinctorius, Christoph 14, 135–137, 239, 241, 255, 289–294, 301, 459, 480, 495, 499f. Titz, Johann Peter 248, 317–319, 515f. Toeppen, Max 255, 297, 305 Tolckemit, Alexander Nicolaus 296f., 300 Tondel, Janusz 56 Töpke, Jacob 45 Tortarolo, Edoardo 358 Tortilovius, Georg 43f. Tortoletti, Bartolommeo 74–77, 80, 83– 85, 100, 107, 231 Trepp, Anne-Charlott 182 Treschenberger, Friedrich 28f., 42 Troschke, Christoph von 26, 42 Trost, Christoff 46 Troyens, Christoph 38, 44f. Troyens, Georg 38 Troyens, Hieronymus 38f., 44 Troyens, Peter (d.Ä.) 38, 43f. Troyens, Peter (d.J.) 38, 46 Troyens, Ruprecht 29, 38, 43 Trunz, Erich 1, 120, 138f., 217, 363, 379, 499 Tscherning, Andreas 326, 456, 469 Tufte, Virginia 247 Tümpel, Wilhelm 169 Übelhoff, Johann 44f. Ueding, Gert 69, 115, 139, 247, 508 Uhland, Ludwig 411 Ukena, Peter 57 Umbach, Silke 428, 433 Urban VIII. (röm.-kath. Papst) 231, 240 Valeria Messalina 229 Vanagas, Vytautas 399 Vanselow, Otto 515 Varro, Marcus Terentius 90, 95 Vegius, Mapheus 346 Vergil 21, 76, 88, 90, 95, 100, 108, 116, 140, 145, 219, 225, 229, 240, 251, 258, 262, 269, 285, 303f., 318 Verweyen, Theodor 155, 423f. Vida, Hieronymus 76, 100, 108 Vierhaus, Rudolf 52, 489 Vieth, Anton 195 Viiding, Kristi 251–254 Vipper, Jurij Borisoviþ 453–455 Vives, Jean Luis 229, 508 Vogler, Christian 238, 351 Vogler, Hedwig 160, 162f., 165–168, 182 Vogler, Maria s. Martini, Maria Vogt, Conrad 60 Vogt, Ursula s. Roberthin, Ursula Vogt-Spira, Gregor 73, 86, 247f. Voidius, Balthasar 68, 297, 302, 304, 311f., 317f.

538 Volkmann, Richard 247, 254 Vollandt, Adam 46 Vollhardt, Friedrich 83 Volscius, Adam 296 Vossius, Gerardus Joannes 63, 78, 102, 110, 253 Vretska, Karl 86 Vulpius, Melchior 170 Wachinger, Burghart 361 Wackernagel, Philipp 170 Waczkat, Andreas 325 Wade, Mara 75, 424, 429 Wagner, Friedrich 68 Wagner, Fritz 75 Wagner, Johannes 44 Wallenrodt, Martin von 26, 42 Wallmann, Johannes 252, 353f. Walter, Anna Dorothea 142 Walter, Axel E. 1, 4, 39, 50–52, 56–58, 127, 138, 191, 230, 237f., 298f., 344, 352, 364, 465–467, 470–472, 476, 493f., 505f., 508, 510 Walter, Peter 169 Waltherus, Christianus 66 Weber, Alexander 424, 429 Weber, Georg 323 Weckherlin, Rudolf 430, 454 Weger, Lorenz 48 Wegner, Johann 227 Weichmann, Johann 14, 438 Weier, Leonhard 61 Weier, Sigismund 132, 235f., 250, 266– 273, 301, 495f., 499f. Weinbeer, Maria von 144, 225f. Weise, Christian 199f. Weise, Erich 30 Weiß, Paul 31 Wenzel, Reinhard 40 Werckmann, Lorenz Otto 44 Werner, Georg 459 Werner, Greger 10–13 Werner, Johann Samuel 66 Westhoven, Willich von 311 Westphal, Johannes 401, 405 Weyda, Simon 44f. Weydt, Günther 424 Wichelmann, Hartwich 65 Wiedemann, Conrad 123, 368 Wiegand, Hermann 83, 122, 219, 222f. Wiendlocha, Jolanta 217 Wiese, Benno von 52, 121, 140 Wilkau, Christoph 40f., 45, 304, 457, 459, 506f. Wilkau, Stephan 40, 506 Willamovius, Gottfried 46

Personenregister Willoweit, Dietmar 25f. Wimmer, Ruprecht 424 Winkel, Laurens C. 125 Winnenfengia, Anna 470 Winter von Sternfeld, Christian 32, 34, 37, 42 Winter, Anna Sybilla 37 Winter, Martin 32 Witpohl, Barbara 150, 386 Witting, Günther 155, 423f. Wodianka, Stephanie 354 Wohlmuth, Leonhart 419f. Wolder, Dorothea 133, 150 Wolder, Theodor 22, 235 Wolf, Hugo 437 Wolter, Bernhard 338 Wolters, Gottfried 439 Wuttke, Dieter 223 Wáadysáaw IV. (König v. Polen) 8, 152– 154, 325, 329f., 338, 393, 450 Xenophon

80, 101, 104, 109, 113

Zabulis, Henrikas 495f. Zamehl, Friedrich 296, 303f., 306–314, 317f., 320, 459 Zamehl, Gottfried 296f., 302 Zedler, Johann Heinrich 270 Zeller, Bernhard 476 Žemaitaitis, Algirdas 493 Zepter, Michael 46 Zesen, Philipp von 2, 115, 217, 434f. Zetzke, Christian 64 Ziegler und Kliphausen, Heinrich Anselm von 324 Ziegler, Hans 46 Ziesemer, Walther 4f., 10–15, 17f., 21f., 33, 36, 39, 41, 45, 50, 52, 67–69, 71–73, 88, 98, 102–105, 116–118, 120, 123–128, 131, 133f., 136, 140–147, 149f., 160–164, 166–169, 174–180, 182, 184f., 187, 191, 193, 195, 200, 202–204, 206, 215, 225– 235, 237–241, 244, 246f., 250f., 254f., 260f., 276, 299, 322, 325, 329, 332, 334f., 337, 339–347, 349f., 355, 358f., 361f., 364f., 367, 369–373, 375–380, 382, 386– 390, 401f., 405, 407, 409, 447f., 450, 454–457, 462f., 466–473, 475–480, 482– 491, 496, 499f., 502, 505, 509, 511f., 514, 516, 519, 521f. Zimmermann, Werner 424f., 430 ĩórawska-Wittkowska, Alina 325 Zornicht, Jonas 31 Zoroaster 85 Zygmunt III. Wasa (König v. Polen) 328, 338, 450, 507