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German Pages [381]
Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark A. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
50
ARTIBUS
Sigurd Hjelde
Sigmund Mowinckel und seine Zeit Leben und Werk eines norwegischen Alttestamentlers
Mohr Siebeck
SIGURD HJELDE, geboren 1944; Studium der Philologie und der Theologie fürs Lehramt in Oslo; 1985 dr.phil, 1994 dr.theol; Professor für Religionsgeschichte in Oslo.
ISBN 3 - 1 6 - 1 4 8 7 3 4 - 6 ISBN-13 9 7 8 - 3 - 1 6 - 1 4 8 7 3 4 - 7 ISSN 0 9 4 0 - 4 1 5 5 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. bd-nb.de abrufbar.
978-3-16-157787-1 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 © 2 0 0 6 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Bembo Antiqua gesetzt, von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort „Über Mowinckel hat leider niemand ein Buch geschrieben." Mit diesem Satz meines Vaters, Weihnachten 1992 gesprochen, fing diese Arbeit an. Er kannte den großen Alttestamentier aus seiner Studienzeit in den frühen 1930er Jahren; als Ubersetzer im Dienst der Norwegischen Bibelgesellschaft lernte er ihn ein Vierteljahrhundert später etwas näher kennen. Ich hatte 1992 angefangen, die Biblia Hebraica in der Originalsprache zu lesen, angeregt durch meinen Zürcher Kollegen Fritz Stolz, der mir kurz vorher sein „Hebräisch in 53 Tagen" geschenkt hatte. So dachte ich, könnte ich vielleicht, obwohl selber kein Alttestamentler, Sigmund Mowinckel davor retten, in Vergessenheit zu geraten. Seit dem Aufkommen dieser Idee sind viele, allzu viele Jahre vergangen, und bisweilen habe ich wohl das ganze Unternehmen bereut. Nicht, weil es mir nicht Spaß gemacht hätte, sondern weil mir dessen Größe allmählich bewusst wurde, und weil es — aus verschiedenen Gründen — immer durch andere Pflichten und Projekte in den Hintergrund verdrängt wurde. Im D e zember 2001, mit nur 59 Jahren, verstarb Stolz an seiner schweren Krankheit; im Juni 2 0 0 3 schied auch mein Vater, der den schleppenden Fortgang meiner Mowinckel-Studien immer mit Interesse verfolgt hatte, aus dem L e ben. Es tut mir leid, dass diese beiden, die mich zu dieser Arbeit bewegt hatten, ihren Abschluss nicht erleben durften. Ihnen gilt, nachdem ich jetzt endlich so weit bin, mein erster, aufrichtiger Dank. So vielen anderen bin ich aber auch großen Dank schuldig. Alle Informanten, die mir schriftlich oder mündlich ihr Wissen über Mowinckel mitgeteilt haben, kann ich leider hier nicht nennen; in der Einleitung oder an anderer Stelle werden sie zu ihrem Recht kommen, und ich hoffe, dass ich niemanden vergessen habe. Allen Angestellten in Archiven und Bibliotheken, die mir die Suche nach schriftlichen Quellen erleichterten, möchte ich ebenfalls danken, insbesondere Inger Marie Ruud, Fachreferentin für Religionsgeschichte, und Svein Helge Birkeflet, Fakultätsbibliothekar für Theologie, beide an der Universitätsbibliothek Oslo. Mein Dank gilt weiter dem Seniorkonsulenten Per Arne Krumsvik in der Theologischen Fakultät sowie dem Photographen der Humanistischen Fakultät, Arthur Sand, die mir notwendige phototechnische Dienste leisteten; sowie dem Institut für Kulturstudien und (seit 2005:) orientalische Sprachen, das mir im Laufe die-
VI
Vorwort
ser Jahre drei Forschungssemester eingeräumt hat. Ein besonderer Dank geht auch an Anne Brita Mowinckel Normann, Enkeltochter von Sigmund, die mir sowohl den Nachlass ihres Großvaters als auch mehrere Familienfotos überlassen hat. Als sich die Arbeit der Endphase näherte, wurden meine Zweifel größer, ob sich überhaupt jemand bereit erklären würde, sie als Buch in die Welt zu bringen. Prof. Dr. R u d o l f Smend möchte ich dafür danken, dass er mir die FAT als mögliche Lösung vorschlug; Prof. Dr. Hermann Spieckermann und seinen Mitherausgebern dafür, dass sie die Arbeit zur Veröffentlichung in dieser R e i h e annahmen; und den zuständigen Fachleuten im Verlag Mohr Siebeck für ihre Bereitschaft, ein mangelhaftes Manuskript zu übernehmen und es zumindest in typographischer Hinsicht zur Vollkommenheit zu bringen. Und schließlich danke ich ganz herzlich meinem guten Freund W i l helm Möhler, Tübingen, der sich gewissenhaft bemüht hat, mein Ausländerdeutsch zu korrigieren und — so weit möglich — zu verbessern.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Abkürzungen
XI
Einleitung
1
1. 2. 3. 4.
1 4 7 8
Die Arbeit und ihre B e g r ü n d u n g Die Quellen A u f b a u und Gliederung Einige Vorbemerkungen
Biographischer Teil K a p i t e l l : Familie - Kindheit - Schulzeit (1884-1902)
12
1. Kindheit in Nordland (1884-1898) 2. Schuljahre in Bergen (1898-1902)
12 16
Kapitel 2: Studium der Theologie in Kristiania (1902-1908)
24
1. Die Universität zu Kristiania und ihre theologische Fakultät: ein historischer Uberblick 2. Die theologische Fakultät in den Studienjahren Mowinckels 3. Sigmund Mowinckel als Student der Theologie
24 27 32
Kapitel 3: Zwischen Studium und Stipendium (1909-1911)
38
1. Die erste theologische Abhandlung 2. Auf der Suche nach einer Z u k u n f t
38 43
Kapitel 4: Lehrjahre i m Ausland (1911-1913)
49
1. Das Studium der Assyriologie u n d des Alten Testaments 2. Zukunftsperspektiven und Alltagserfahrungen 3. Mowinckel über Deutschland u n d die Deutschen
50 57 63
Vili
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 5: Auf U m w e g e n zur Promotion (1913—1916)
68
1. Krankheit und Genesung 2. Die erste deutsche Abhandlung 3. Der religiöse „ D u r c h b r u c h " und die praktisch-theologische Ausbildung 4. Doktorarbeit u n d Promotion
68 71
Exkurs: Mowinckel und der erste Weltkrieg
86
Kapitel 6: Elemente der weiteren Biographie (1916—1965)
92
1. 2. 3. 4.
Ehe und Familie Lebensstil und Lebensgewohnheiten Kriegsjahre u n d Nachkriegszeit Zwei längere Auslandsreisen
74 78
92 95 100 103
Thematischer Teil Kapitel 7: Mowinckel über Kirche u n d Christentum
110
1. Kirche und Christentum in N o r w e g e n in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 2. Mowinckel i m norwegischen Kirchenstreit (bis etwa 1930) 3. Mowinckel und die O x f o r d - B e w e g u n g
110 117 125
Kapitel 8: Mowinckel als akademischer Lehrer
136
1. Akademische Amter, Aufgaben und E h r u n g e n 2. Mowinckel und seine Schüler 3. Mowinckel und seine Kollegen
137 147 156
Kapitel 9: M o w i n c k e l als Alttestamentler — A. Das S t u d i u m der Psalmen
162
1. D e r internationale Durchbruch: Psalmenstudien I—VI 162 2. Die Psalmenstudien im Urteil der alttestamentlichen Wissenschaft . 174 3. Die reife Frucht der Psalmenstudien 193
Inhaltsverzeichnis
IX
Kapitel 10: Mowinckel als Alttestamentler — B. Streitfragen im internationalen Fachgespräch
201
1. Die Arbeit Mowinckels im Lichte alttestamentlicher Methodendiskussion 2. Zur Diskussion um das sakrale Königtum und die jüdische Messiaserwartung
202 220
Kapitel 11: Mowinckel als Alttestamentler — C. Zwischen Theologie und Religionswissenschaft 1. Von der biblischen Religionsgeschichte zur alttestamentlichen Theologie? 2. Mowinckel im Gespräch mit den alttestamentlichen Propheten 3. Der Theologe und die Religionswissenschaft
235
236 . . . 242 254
Exkurs: Die Religionswissenschaft an der Universität Oslo zur Zeit Mowinckels
265
Kapitel 12: Mowinckel als Bibelübersetzer
267
1. Mowinckel und die norwegische Sprache 2. Wissenschaftliche und kirchliche Bibelübersetzung
268 272
Kapitel 13: Mowinckel als Verkündiger
281
1. Die Predigttätigkeit Mowinckels — ein Uberblick 2. Mowinckel über die Predigt und den Gottesdienst 3. Mowinckel als Verkündiger — einige Beispiele
282 286 292
Kapitel 14: Mowinckel und die alttestamentliche Wissenschaft — Einige abschließende Bemerkungen 301 1. Der Ort Mowinckels in der alttestamentlichen Wissenschaft 2. Mowinckel und die alttestamentliche Wissenschaft von heute
302 . . . . 305
Bilder aus dem Leben Mowinckels
311
Literaturverzeichnis Namensregister
323 359
Abkürzungen AcOr
AThR
Acta Orientalia Archiv für Orientforschung Archiv für Religionswissenschaft Annual o f the Swedish Theological Institute in Jerusalem Anglican Theological R e v i e w
BASOR BBB BO BZAW
Bulletin o f the American Schools o f Oriental Research Bonner Biblische Beiträge Bibliotheca Orientalis Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft
DLZ DnKB DNVA DTT (D)TT
Deutsche Literaturzeitung Den (seit 1948: nordiske) Kristne Buddhistmisjon Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo. Arbok Dansk Teologisk Tidsskrift Teologisk Tidsskrift for den danske folkekirke
ER EThL ExT
T h e Encyclopedia o f Religion Ephemerides Theologicae Lovanienses T h e Expository Times
HN HThR HUCA
Humaniora Norvegica Harvard Theological R e v i e w T h e Hebrew Union College Annual
IDB IOSOT
T h e Interpreter's Dictionary o f the Bible International Organization for the Study o f the Old Testament
JBL JLH JSOT
Journal o f Biblical Literature and Exegesis Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie
AfO ARW ASTI
JThS
Journal for the Study o f the Old Testament Journal o f Theological Studies
KAT KIFO KoK KuD KZ
Die Keilinschriften und das Alte Testament Stiftelsen Kirkeforskning For Kirke og Kultur; seit 1919: Kirke og Kultur Kerygma und Dogma Kirchliche Zeitgeschichte
LK
Luthersk Kirketidende Luther Theological Seminary R e v i e w (St. Paul, Minnesota)
LThSR
XII
Abkürzungen
NBL NK NLF NTT NTU
N o r s k Biografisk Leksikon N o r s k Kirkeblad N o r g e s Land o g Folk topografisk-statistisk beskrevet N o r s k Theologisk Tidsskrift; seit 1910: N o r s k Teologisk Tidsskrift Nordisk Teologisk Uppslagsbok för Kyrka och Skola
OLZ
Orientalistische Literaturzeitung
RGG RHPhR RHR RT
Die R e l i g i o n in Geschichte u n d G e g e n w a r t R e v u e d'histoire et de philosophie religieuses R e v u e de l'histoire des religions R a a m a t u n Tietokirja (Helsinki)
SBL SBU SEÁ SHR SJOT SJTh SNL ST STK StOr SVT
Society of Biblical Literature Svenskt Bibliskt Uppslagsverk Svensk Exegetisk Arsbok Studies in the H i s t o r y of Religions Scandinavian J o u r n a l of the O l d Testament Scottish J o u r n a l of T h e o l o g y Store N o r s k e Leksikon Studia Theologica Svensk Teologisk Kvartalskrift Studia O r i e n t a b a Supplements to Vetus T e s t a m e n t u m
ThBl ThGeg ThLB ThLZ ThR ThToday ThZ TRE TT
Theologische Blätter T h e o l o g i e der G e g e n w a r t Theologisches Literaturblatt Theologische Literaturzeitung Theologische R u n d s c h a u T h e o l o g y Today Theologische Zeitschrift Theologische R e a l e n z y k l o p ä d i e Tidens Tegn
UUÄ
Uppsala Universitets Ärsskrift
VF VT
V e r k ü n d i g u n g u n d Forschung Vetus T e s t a m e n t u m
ZA ZAW ZNW
Zeitschrift f ü r Zeitschrift f ü r Zeitschrift f ü r älteren Kirche Zeitschrift f ü r Zeitschrift f ü r
ZThK ZWTh
Assyriologie u n d v e r w a n d t e Gebiete die alttestamentliche Wissenschaft die neutestamentliche Wissenschaft u n d die K u n d e der T h e o l o g i e u n d Kirche wissenschaftliche T h e o l o g i e
Einleitung 1. Die Arbeit und ihre Begründung Zu den N a m e n , die nicht fehlen dürfen, w e n n die Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert geschrieben werden soll, gehört zweifellos Sigmund Mowinckel. Sein internationaler R u h m beruht in erster Linie auf seinen bahnbrechenden „Psalmenstudien" aus den f r ü h e n 1920er Jahren, 1 in denen er — im Anschluss an H e r m a n n Gunkel, aber zugleich über ihn hinausgehend — das P r o g r a m m einer „kultgeschichtlichen" Methode konsequent d u r c h f ü h r e n wollte. In diesem Z u s a m m e n h a n g präsentierte und begründete er mehrere Thesen, die in der damaligen Forschung Aufsehen erregten, allenorts kommentiert und diskutiert w u r d e n und f ü r Jahrzehnte die R i c h t u n g der internationalen Psalmenforschung mit bestimmten. Vor allem w u r d e der N a m e Mowinckels mit der These einer alljährlichen „Thronbesteigung" Jahwes verknüpft, die — nach babylonischem Muster — als ein zentrales Element des altisraelitischen Herbst- u n d Neujahrsfestes gefeiert worden sein soll. Gewiss stießen die k ü h n e n Thesen Mowinckels bei manchen Fachkollegen auf Skepsis, ja nicht selten auf entschiedenen Widerspruch, und sie können sich auch in der heutigen Forschung keiner allgemeinen Z u s t i m m u n g erfreuen. Unabhängig von der Frage aber, ob Mowinckel in dieser oder jener Frage R e c h t behalten hat oder nicht, zeugt schon der mächtige und nachhaltige Widerhall, den seine T h e sen hervorriefen, von ihrer seltenen wissenschaftlichen Kraft, von einer A n ziehungs- und Ausstrahlungskraft, wie sie nur wenige theoretische Beiträge der alttestamentlichen Wissenschaft des vergangenen Jahrhunderts auszuüben vermochten. Vor allem durch seinen Einsatz im Bereich der Psalmenforschung hat sich also Mowinckel einen N a m e n von internationalem R a n g erworben. Er war aber ebenfalls auf den meisten anderen Feldern seines Faches zu Hause u n d hat sowohl zu den historischen als auch zu den prophetischen Büchern des Alten Testaments gewichtige Beiträge geliefert. Vor diesem H i n t e r g r u n d w u n d e r t man sich denn auch nicht, dass er unter die Ehrendoktoren m e h r e 1 Psalmenstudien I—VI, Kristiania 1921-24, insbesondere Band II: Das T h r o n b e steigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie (Mow. 1922a), vgl. dazu Kap. 9.1-2.
2
Einleitung
rer europäischer Universitäten aufgenommen wurde, 2 und dass ihn altehrwürdige theologische Fakultäten gerne auf ihrem alttestamentlichen Lehrstuhl gesehen hätten. Trotz ehrenvoller R u f e aus d e m Ausland 3 blieb aber Mowinckel zeitlebens seiner Heimatuniversität, der Universität Kristiania bzw. Oslo, 4 treu. Von daher ist es nur recht und billig, dass die dortige t h e o logische Fakultät sein Gedächtnis alle zwei Jahre durch eine besondere Gastvorlesung ehrt. I m j a h r e 1984, zur Jahrhundertfeier seiner Geburt, veranstaltete sie außerdem ein Mowinckel-Symposium, bei dem der M a n n und sein Werk unter verschiedenen Blickwinkeln gewürdigt wurde. 5 Einiges ist also schon getan worden, u m Mowinckel den i h m gebührenden Platz in der G e schichte der Theologie des 20. Jahrhunderts zu sichern. Jene monographische Darstellung aber, die M a g n e Sasbo, ein norwegischer Alttestamentier der nächsten Generation, im Z u s a m m e n h a n g mit dem genannten Symposium als ein „dringendes Desideratum" vermisste, 6 fehlt immer noch. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, diese Lücke zu füllen. Wer sich z u m Ziel setzt, Mowinckel monographisch zu bearbeiten, steht — wie Saebo richtig bemerkt hat - vor einer arbeitsintensiven und zeitaufwendigen Aufgabe. Sein Urteil, dass ein Buch über Mowinckel „zu einem gewissen Grad ein Buch über die alttestamentliche Forschung i m ganzen f ü r die Periode von 1910 bis 1965" sein müsste, 7 möchte ich auch nicht in Frage stellen. D e n n o c h ist mir von vornherein klar gewesen, dass ich — der ich selber kein geschulter Alttestamentler bin — eine derartige Forderung nicht in befriedigender Weise werde einlösen können. Eine spezialisierte U n t e r suchung auf d e m Feld des Alten Testaments habe ich d a r u m nicht angestrebt; der Weg, den ich gehen konnte, war der Versuch einer Kombination von Biographie und Fachgeschichte, die auch einige Aspekte norwegischer Kirchen- und Universitätsgeschichte mit einschließen sollte. Natürlich fordern die wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten Mowinckels sowie die Frage nach deren historischen Voraussetzungen u n d W i r k u n g e n besondere Aufmerksamkeit; darüber hinaus geht es mir aber d a r u m , den O r t Mowinckels innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen kirchlichem Bekenntnis und 2
Vgl. Kap. 8.I.e. Vgl. Kap. 8.1.a. 4 Nach einem großen Brand i m j a h r e 1624 wurde die neu angelegte Stadt nach dem dänisch-norwegischen König Christian IV genannt; 1925 erhielt sie ihren ursprünglichen Namen wieder. 5 Vgl. S J O T 2/1988. - Zu seinem 100. Geburtstag im August 1984 wurde außerdem in Straßburg auf dem Kongress der amerikanischen Society of Biblical Literature, deren Ehrenmitglied Mowinckel war, ein „Mowinckel-Panel" veranstaltet. Das Symposium in Oslo fand Ende September statt (vgl. S^B0 1985: 22). 6 S^BO 1986: 81 = 1988: 23. Diesen Wunsch hatte Ssebo übrigens schon früher in einem Aufsatz über die letzten Arbeiten Mowinckels geäußert (S^Bö 1974: 171). 3
7
E b d . 2 3 ; m i t Z u s t i m m u n g z i t i e r t i n SMEND 2 0 0 0 : 4 4 9 .
1. Die Arbeit
und ihre
Begründung
3
kritischer Forschung, zwischen konservativer u n d liberaler Theologie, zwischen Theologie und Religionsgeschichte auszumachen. U n d schließlich hat die vorliegende Studie auch einen biographischen Schwerpunkt, auf den kein geringeres Gewicht fallen sollte. W ä h r e n d nämlich der internationale Fachmann, der Alttestamentler Mowinckel, in der theologischen Welt wohl bekannt sein dürfte und durch sein umfangreiches Schrifttum jederzeit w i e der erreichbar ist, könnte der besondere Beitrag dieser Studie eher darin liegen, in einer breiteren Perspektive ein vielseitigeres Bild von i h m zu zeichnen und dabei gerade solche M o m e n t e ans Licht zu bringen, die bisher w e niger bekannt waren. Besonders viel Spannendes oder Außergewöhnliches sollte m a n sich n u n allerdings von der Biographie Mowinckels nicht erwarten. Er konzentrierte sich fleißig und gewissenhaft auf seine Forschung und Lehre sowie auf die administrativen Pflichten, die im R a h m e n seines Amtes i h m zufielen, u n d n a h m nur in bescheidenem M a ß e am öffentlichen Leben außerhalb der akademischen Welt teil. Insofern könnte man also schon von vornherein die kritische Frage anmelden, ob denn hier eigentlich Stoff genug sei f ü r eine biographische Darstellung von allgemeinem Interesse? Trotz seines internationalen Rufes spielte Mowinckel in der norwegischen Öffentlichkeit bei weitem nicht dieselbe Rolle wie beispielsweise Ole Hallesby (1879—1961), Eivind Berggrav (1884-1959) oder Kristian Schjelderup (1894-1980), seine theologischen Zeitgenossen, die längst ihre soliden, wohlverdienten Biographien in norwegischer Sprache b e k o m m e n haben. 8 Im Falle Mowinckels, w o m a n vermutlich mehr interessierte Leser im Ausland als in seiner Heimat erwarten kann, scheint es angemessener, in eine internationale, außerskandinavische Sprache auszuweichen. Als zweckvollste Alternative böte sich dabei vermutlich eine Weltsprache wie das Englische an, während Deutsch in dieser Hinsicht allenfalls als zweitbeste Lösung gelten kann. Indessen blieb mir, da ich nur diese eine Fremdsprache mit einiger Sicherheit beherrsche, keine andere Wahl übrig. U n d schließlich hat diese notgedrungene Entscheidung i m m e r h i n den guten, sachlichen Sinn, dass sich auch Mowinckel selbst mit eben derselben sprachlichen Begrenzung abfinden musste: W ä h r e n d er des Deutschen wenigstens so weit mächtig war, dass er es, w e n n nicht immer ganz fehlerfrei, so doch zwanglos, kreativ u n d weithin als seine eigene Sprache benutzen konnte, bereitete i h m Englisch als aktive Kommunikationssprache eine ganz andere Mühe.
8
Vgl. KULLERUD 1987 (über Hallesby), HEIENE 1992 (über Berggrav; deutsche
U b e r s e t z u n g 1 9 9 7 ) , REPSTAD 1 9 8 9 ( ü b e r S c h j e l d e r u p ) .
4
Einleitung
2. Die Quellen Für ein derart breit angelegtes Mowinckel-Studium k o m m t als Quellenmaterial zunächst all das in Betracht, was Mowinckel selbst geschrieben hat: teils einige wenige autobiographische Notizen, 9 vor allem aber eine große M e n g e verschiedener Texte fachlich-wissenschaftlicher u n d erbaulich-verkündigender Art: Bücher, Aufsätze, Zeitungsartikel, Rezensionen, Predigten. Dass es mir nicht möglich gewesen ist, das alles gleich intensiv auszuwerten, gebe ich ohne Umschweife zu; eine eingehende Analyse sämtlicher alttestamentlicher Studien Mowinckels hätte sowieso das vernünftige M a ß einer jeden Monographie überschritten. Als Hilfsmittel bei dem Versuch, über diese umfangreiche Produktion einen Uberblick zu gewinnen, war mir eine solide, schon vorliegende Bibliographie von unschätzbarem Wert. 1 0 Von großem N u t z e n waren auch die darin enthaltenen Hinweise auf Rezensionen von Arbeiten Mowinckels, die mir den W e g in eine schier unüberschaubare Sekundärliteratur erleichterten. Dasselbe Eingeständnis aber, das schon im Hinblick auf Mowinckels eigenes Schrifttum gemacht werden musste, drängt sich auf diesem Feld mit noch schwererem Gewicht auf: N u r in begrenztem Ausmaß ist es möglich gewesen, diese ganze Fülle von fachlichen Stellungnahmen und Urteilen heranzuziehen; ein kritisches Auswahlverfahren, bei dem i m m e r h i n eine gewisse Repräsentativität der verschiedenen Stimmen angestrebt wurde, war hier ein zwingendes Gebot. An sich w ü r d e all das, was von und über Mowinckel im D r u c k veröffentlicht worden ist, schon als Grundlage f ü r eine monographische Darstellung ausreichen. Gleichwohl lag es von vornherein in meinem Interesse, auch unpubliziertes Quellenmaterial aufzuspüren und mit zu berücksichtigen. N u r muss m a n im Falle Mowinckels leider bedauern, dass er selbst kaum etwas getan hat, u m einem diese Aufgabe zu erleichtern. Es war i h m offenbar nicht daran gelegen, eingehende Briefe und andere D o k u m e n t e f ü r die Nachwelt, geschweige denn f ü r künftige Biographen u n d Fachhistoriker aufzubewahren. So etwas wie ein einigermaßen geordnetes Privatarchiv hat er nicht hinterlassen; sein Nachlass besteht aus einer ebenso unvollständigen 9
Vgl. R I A N 1994. - Es handelt sich u m folgende Texte: Mow. 1927h (= M o winckels Selbstdarstellung zum 25-jährigen Jubiläum der Abiturienten des Jahres 1902); 1957e (= einige autobiographische „Fragmente" in der Festschrift zum 70. G e burtstag des Literaturwissenschaftlers Francis Bull); 1967b (= die Antwort Mowinckels auf die Anfrage eines Kollegen in St. Paul, Minnesota, die er kurz vor seinem Tod geschrieben hat). 10 K V A L E / R I A N 1984. — Diese Bibliographie, die zuerst in einer norwegischen Ausgabe erschien (Trondheim 1980), baut auf zwei älteren Vorlagen auf: H A R B O E / K O L S R U D 1944 und K V A L E 1964 (vgl. K V A L E / R I A N 1984: 2). Von den vielen Zeitungsartikeln M o winckels sind allerdings nur ganz wenige hier verzeichnet.
2. Die
Quellen
5
wie ungeordneten Sammlung von Papieren höchst unterschiedlicher Art. 1 1 Darunter befinden sich indessen auch solche, die durchaus von historischem Interesse sind, wie etwa einige Briefe an Mowinckel (aus der letzten Hälfte der 50er Jahre) von Hans Kosmala, dem Direktor des Schwedischen Instituts in Jerusalem, 1 2 sowie einige von Mowinckel (aus den Jahren 1909—1913) an den jüngeren Bruder Herbert. 1 3 Besondere Aufmerksamkeit verdient aber auch eine handschriftliche Kladde von etwa 2 0 Seiten, in der Mowinckel einige Einzelheiten aus seinen jüngeren Jahren etwa bis hin zur theologischen Promotion 1 4 niedergeschrieben hat, und die 1927 in gekürzter Fassung in j e n e Festschrift aufgenommen wurde, die die Studenten aus dem Jahre 1902 anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums herausgeben ließen. 1 5 So weit, wie es mir möglich war und angemessen schien, habe ich auch versucht, aus privaten und öffentlichen Archiven in Norwegen und im Ausland unveröffentlichtes Material einzusammeln. A u f diesem Wege sind weitere Briefe aus Mowinckels Hand ans Licht gekommen, die wichtige Informationen über ihn selbst wie über sein Verhältnis zu anderen Alttestamentlern bringen. In diesem Zusammenhang ist zunächst sein Lehrer, Simon Michelet, zu erwähnen, an den Mowinckel in den Jahren zwischen seinem Staatsexamen (1908) und seiner Promotion (1916) eine R e i h e zum Teil sehr ausführlicher und inhaltreicher Briefe schrieb, die in der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek in Oslo aufbewahrt sind. 16 Zu den ausländischen Kollegen, mit denen Mowinckel zeitweise in mehr oder weniger regelmäßigem Briefwechsel stand, gehört vor allem sein etwas jüngerer dänischer Kollege Aage Bentzen (Kopenhagen); aber auch an den Schweden Johannes Lindblom (Lund) und an den Schweizer Walter Baumgartner (Basel), mit dem Mowinckel seit seinem Studienaufenthalt in Deutschland (1911—1913) befreundet war, sind mehrere Briefe und Postkarten gegangen. 17 11 Hinterlassene Fachbücher sowie einige Papiere Mowinckels wurden der theologischen Fakultät der Universität Oslo übergeben; andere Papiere, die noch im Besitz der Familie geblieben waren, lieh mir Mowinckels Schwiegersohn J e t m u n d Engesseth im Frühjahr 1994 freundlicherweise zur Durchsicht aus. Später (im Januar 1997) hat mir Engesaeths Tochter, Anne Brita Mowinckel N o r m a n n , einige Kartons überlassen, die viel Material verschiedener Art enthielten (hand- und maschinengeschriebene M a n u skripte, Geschäftsbriefe, Zeitungsausschnitte, Predigtentwürfe etc.). 12 Vgl. dazu Kap. 6.4.b. 1 3 Vgl. dazu Kap. 3—4. Diese Briefsammlung gehört zu j e n e m Material, das mir im Frühjahr 1994 von J e t m u n d Engesaeth ausgeliehen wurde (vgl. A n m . 11 oben). 14 Die deutsche Unterscheidung zwischen Promotion und Habilitation kennt die norwegische Universitätstradition nicht; dafür wog aber die norwegische Doktorarbeit, zumindest in der theologischen und humanistischen Fakultät, in der R e g e l schwerer als die deutsche. 1 5 Mow. 1927h. 1 6 Vgl. dazu Kap. 3 - 5 . 17 Die Korrespondenz Mowinckels mit Aage Bentzen befindet sich im Reichsarchiv in Kopenhagen, diejenige mit Lindblom in der Handschriftenabteilung der Universi-
6
Einleitung
Von besonderem Interesse sind sonst eine Reihe Briefe an Hermann Gunkel,18 mit dem Mowinckel im Sommer 1912 in persönliche Verbindung trat. Leider ist aber von jener Korrespondenz, die Mowinckel mit seinem deutschen Freund Gustav Hölscher führte, nichts erhalten geblieben, 19 wie man überhaupt wohl realistisch damit rechnen muss, dass viel wertvolles Quellenmaterial einfach für immer verlorengegangen ist. 20 Seit Mowinckels Tod ist allmählich ein gutes Menschenalter verstrichen, so dass diejenigen, die ihm nahe standen oder ihn persönlich kannten, immer weniger werden. Sehr zu bedauern ist, dass Mowinckels beide Töchter in der Anfangsphase dieser Arbeit (1993—1994) starben, ohne dass ein Gespräch mit ihnen zustande gekommen war. Leider war zu der Zeit auch M o winckels Nachfolger, Arvid S. Kapelrud (1912—1994), schon so geschwächt, dass er für ein Gespräch nicht mehr zugänglich war. U m so wertvoller sind alle Hinweise, die mir jene Informanten vermittelten, mit denen ich im Spätwinter 1994 sprechen konnte. Dazu zählen Jetmund Engesaeth, der Schwiegersohn von Mowinckel; 21 Grete Lalim 22 und Vibeke Engelstad, zwei langjährige Freundinnen von seiner ältesten Tochter; Asle Enger, M o winckels Gemeindepfarrer in den letzten Jahren; sowie einige seiner jüngeren Professorenkollegen an der Universität Oslo, die ihn seinerzeit auch als Lehrer gehabt hatten. 23 Eine wertvolle mündliche Quelle ist auch mein eigener Vater, Oddmund Hjelde, gewesen, der ebenfalls unter Mowinckel studierte und ihn später als Mitarbeiter an der neuen norwegischen Bibelübersetzung etwas näher kennen lernte. 24
tätsbibliothek Lund. Kopien von Mowinckels Korrespondenz mit Baumgartner verdanke ich Herrn Prof. Dr. E. Jenni, Basel. 18 Diese Korrespondenz befindet sich in der Universitätsbibliothek Halle; getippte Nachschriften dieser Briefe verdanke ich Herrn Prof. Dr. Rudolf Smend (Göttingen). 19 Herr Prof. Dr. Uvo Hölscher, München, hat mir (im Brief vom 15.4.1994) mitgeteilt, dass sein Vater wegen vieler Umzüge kein Korrespondenzarchiv aufbewahrt hatte. 2H So hat mir auch Herr Prof. Dr. Hans-Joachim Kraus, Wuppertal, die Auskunft erteilt, dass sein Archiv wegen vieler Umzüge „in Unordnung geraten" sei (Brief vom 2.5.1994). 21 Verheiratet mit Mowinckels ältester Tochter; gestorben 1995; vgl. auch Anm. 11 und 13 oben. 22 Grete Lalim war die Tochter von Ingeborg Wilhelmine Wiborg, mit der M o winckel im Jahre 1964 als Witwer seine zweite, kaum ein Jahr dauernde Ehe einging (vgl. dazu Kap. 6.1.a und 6.3.b). 23 Es handelt sich dabei u m die Professoren Nils A. Dahl, Johan B. Hygen und R a g nar Leivestad. In diesen Zusammenhang gehören auch Dr. Kjell Aartun und Ove Hestvold, die mir ebenfalls wertvolle Informationen über Mowinckel und die damalige Theologische Fakultät vermittelt haben. Nützliche Hinweise und Ratschläge verdanke ich auch den beiden Alttestamentlern Hans Magnus Barstad (früher Oslo, jetzt Edinburgh) und Magne Sseb0 (Prof. em. an der Theologischen Gemeindefakultät, Oslo). 24 Vgl. dazu Kap. 12.2.b.
3. Auflau
und
Gliederung
7
Persönliche E r i n n e r u n g e n an oder E r f a h r u n g e n mit Mowinckel haben m i r auch einige ausländische Kollegen vermittelt. U b e r das nicht i m m e r ganz p r o blemlose Verhältnis zwischen Mowinckel u n d der sogenannten „UppsalaSchule" habe ich durch Gespräche mit den dort tätig gewesenen Professoren G e o W i d e n g r e n 2 5 , H e l m e r R i n g g r e n 2 6 u n d C a r l - M a r t i n E d s m a n 2 7 aus erster H a n d Näheres erfahren. Aus D ä n e m a r k haben die Professoren Benedikt O t zen 2 8 u n d Svend H o l m - N i e l s e n 2 9 in schriftlicher F o r m etliche Eindrücke g e schildert, die ebenfalls zu einem Gesamtbild beigetragen haben. Etliche Male habe ich schließlich das besondere Vergnügen gehabt, mich mit dem G ö t tinger Alttestamentler, Prof. Dr. R u d o l f Smend, über Mowinckel u n d sein Werk zu unterhalten. Smends enthusiastisches Interesse f ü r dieses T h e m a hat mich dazu ermuntert, daran festzuhalten, o b w o h l m a n c h m a l andere Aufgaben drohten, es völlig in den H i n t e r g r u n d zu drängen. Eine letzte Informationsquelle soll nicht u n e r w ä h n t bleiben. I m Nachlass M o w i n c k e l s b e f i n d e n sich aus fast seiner ganzen Lehrzeit Listen, in die sich die H ö r e r seiner Vorlesungen u n d Seminare eigenhändig eingetragen haben. Auf dieser G r u n d l a g e k o n n t e ich etwa 50 f r ü h e r e , n o c h lebende M o w i n ckelstudenten, deren Anschrift o h n e allzu viel M ü h e aufzuspüren war, a n schreiben u n d nach ihren E r i n n e r u n g e n u n d E i n d r ü c k e n fragen. Dieser Versuch w a r insofern erfolgreich, als etwa die H ä l f t e der A n f r a g e n A n t w o r t briefe hervorrief, die z u m Teil interessante B e t r a c h t u n g e n aus der Sicht der Studenten b o t e n . 3. Auflau
und
Gliederung
Für eine Biographie empfiehlt sich in den meisten Fällen w o h l eine c h r o n o logisch angelegte Darstellung, bei einer wissenschaftshistorischen U n t e r s u c h u n g spricht manches f ü r einen thematisch strukturierten A u f b a u . In dieser Arbeit habe ich einen K o m p r o m i s s versucht, i n d e m der erste Teil (Kap. 1—6) in seiner G r u n d s t r u k t u r chronologisch, der zweite (Kap. 7—13) thematisch geordnet ist. A m einfachsten w a r der A u f b a u des ersten Teils, in d e m w i r die B i o graphie M o w i n c k e l s — insbesondere seine akademische E n t w i c k l u n g s g e schichte — bis h i n z u r P r o m o t i o n u n d zur festen A n s t e l l u n g an der U n i v e r sität Kristiania (Kap. 1—5) verfolgen w e r d e n . E i n e weitere c h r o n o l o g i s c h biographische D a r s t e l l u n g schien m i r w e n i g z w e c k m ä ß i g ; an deren statt schließen d a r u m einige f r a g m e n t a r i s c h e H i n w e i s e (Kap. 6) auf M o w i n c k e l s 25 26 27 28 29
Gespräch in Stockholm im Mai 1995. Telefongespräch im Oktober 2000. Gespräch in Uppsala im November 2000. Brief vom 11.3.1996. Brief vom 4.7.1996.
8
Einleitung
weitere Lebensgeschichte, vor allem i m Kreis der Familie, diesen ersten Teil ab. W ä h r e n d die verfügbaren Quellen so weit einigermaßen vollständig ausgeschöpft werden konnten, war für den zweiten Teil ein viel strengeres Auswahlverfahren notwendig. W i e im ersten Teil einige fachhistorische Perspektiven nicht fehlen, ist dieser zweite auch nicht ohne biographische E l e mente; das gilt vor allem für die beiden ersten Themenbereiche, von denen der eine (Kap. 7) Mowinckels Verhältnis zu Kirche und Christentum, der andere (Kap. 8) das A m t des Universitätslehrers betrifft. A m allerengsten mussten die Grenzen in den nächsten drei Kapiteln (9—11) gezogen werden, die Mowinckels wissenschaftlichem W e r k und seiner Stellung in der internationalen alttestamentlichen Forschungsgemeinschaft gewidmet sind. Hier musste das Schwergewicht natürlich auf die Psalmenforschung gelegt w e r den, die ein eigenes Kapitel (9) b e k o m m e n hat. E i n zweites Kapitel (10) n i m m t einige wichtige Streitfragen in den Blick, zu denen M o w i n c k e l ein W o r t zu sagen hatte; hier geht es teils u m alttestamentliche Methodendiskussionen, teils u m die insbesondere von der englischen M y t h - and R i t u a l Schule aufgeworfene Frage nach der Bedeutung des sakralen Königtums im alten Nahen Osten. U n d drittens (Kap. 11) fragen wir, wie sich der Alttestamentler und Religionsforscher M o w i n c k e l im Spannungsfeld von Theologie und Religionswissenschaft zurechtgefunden hat: Was hat er als Wesen, Aufgabe und Ziel dieser beiden Wissenschaften verstanden, und wie hat er sie selber praktizieren wollen? In diesem Zusammenhang k o m m e n auch einige seiner wichtigen Prophetenstudien aus den 1930er und 4 0 e r Jahren zu ihrem Recht. N e b e n der alttestamentlichen Forschung verdienen zwei weitere T ä t i g keitsfelder Mowinckels besondere Aufmerksamkeit: die Bibelübersetzung (Kap. 12) und die christliche Verkündigung (Kap. 13). U n d zum Schluss (Kap. 14) stehen w i r vor der Herausforderung, den O r t Mowinckels innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft zu bestimmen und etwas über seine Wirkungsgeschichte zu sagen. Hier werden wir zwar summarisch versuchen, seine wichtigsten theologiegeschichtlichen Voraussetzungen zu nennen und sein Forscherprofil zu skizzieren, während wir die Frage nach seiner bleibenden Bedeutung für die gegenwärtige Forschung nur stellen können, ihre B e a n t w o r t u n g aber anderen überlassen müssen. 4. Einige
Vorbemerkungen
W i e oben (1.) schon angedeutet wurde, war Mowinckels Deutsch nicht i m mer absolut fehlerfrei. Zitate aus seinen deutsch verfassten Texten habe ich dennoch in der Originalfassung beibehalten, ohne eventuelle grammatische oder andere sprachliche Fehler zu korrigieren oder zu verbessern. Englische
4. Einige
Vorbemerkungen
9
und französische Zitate sind ebenfalls im Original wiedergegeben, während die skandinavischen (dänischer, norwegischer oder schwedischer Herkunft) immer übersetzt worden sind. Der Leser begegnet Mowinckel also teils in dessen eigenem Deutsch, teils in meiner deutschen Ubersetzung. Aus dem Zusammenhang sollte jedoch, hoffe ich, in den meisten Fällen einigermaßen klar hervorgehen, wo Mowinckel selbst spricht und wo der Ubersetzer am Werke gewesen ist. Mit den fehlenden Voraussetzungen des Autors auf dem Feld der alttestamentlichen Wissenschaft hängt es zusammen, dass die Darstellung im Wesentlichen einen rein deskriptiven Charakter hat. Einige biographische Entwicklungslinien und fachhistorische Zusammenhänge konnte ich wohl aufdecken und skizzieren, aber in der Hauptsache ist das, was hier geboten wird, Präsentation und Dokumentation, weniger Diskussion und Argumentation. Dennoch hoffe ich, dass auch eine Arbeit dieser Art, mit ihren klaren Begrenzungen, einen Beitrag zur Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wird leisten können. Mit Blick auf den biographischen Zuschnitt dieser Studie äußerten Herausgeber und Verlag den Wunsch, einige Bilder den Text begleiten zu lassen. Durch die getroffene Auswahl habe ich versucht, einige geographische Stationen (Orte, Landschaften, Gebäude) auf dem Lebensweg Mowinckels zu zeigen und einige Menschen, die ihm persönlich nahe standen oder für seine wissenschaftliche Arbeit wichtig waren, vorzustellen. Auf diese Weise, hoffe ich, wird der Leser Mowinckel und seiner Zeit noch etwas näher kommen.
Biographischer Teil
Kapitel
1
Familie - Kindheit - Schulzeit (1884-1902) 1. Kindheit in Nordland
(1884-1898)
a) D r a u ß e n an der nordnorwegischen Küste, im Regierungsbezirk 1 N o r d land, etwa 1 2 0 K i l o m e t e r nördlich des Polarkreises, liegt die kleine O r t schaft Kjerringoy. Heute ist sie ein Teil der Regionalhauptstadt B o d o , bis 1 9 6 4 war sie eine selbständige G e m e i n d e , die damals 573 E i n w o h n e r zählte. 2 Landesweit ist K j e r r i n g o y als altes Handelszentrum bekannt, dessen voll erhaltene Gebäude — W o h n s i t z i m Empirestil, Geschäftshäuser und großes Bootshaus — j e t z t unter Denkmalschutz stehen und als eine b e d e u tende kulturhistorische Sehenswürdigkeit gelten. W e r K n u t Hamsuns R o mane „ P a n " oder „ B e n o n i und R o s a " gelesen hat, kennt schon ein Stück weit die Atmosphäre von Kjerringoy, da der O r t als M o d e l l für das literarische Sirilund gedient haben soll. 3 Zu dieser Küstengemeinde kam im Jahre 1884 als Diözesankaplan der j u n ge Theologe Jorgen Blydt Mowinckel (1858—1942) zusammen mit seiner Frau Petra Johanne (geb. Meitzner, 1861-1918). 4 Kjerringoy war damals nur noch ein Teil (norw: anneks) des Pfarrbezirks Folden, 5 hatte aber wenige Monate zuvor eine neue Kirche erhalten, zu deren Bau der mächtige Dorfeigentümer K . Zahl erhebliche Mittel beigesteuert hatte. Schließlich erreichte er auch, dass Kjerringoy wenige Jahre später eine selbständige Gemeinde wurde. 6 Z u seinem Dienst in der Diözese Tromso, die damals auch Nordland u m fasste, 7 war M o w i n c k e l i m Vorjahr in seiner Heimatstadt Bergen ordiniert worden. E i n besonders attraktives A m t war das sicher nicht, und es wurde denn auch vornehmlich eben durch frische, j ü n g e r e Kräfte besetzt. Als D i ö zesankaplan stand man nämlich dem B i s c h o f zur Verfügung und wurde eben dort eingesetzt, w o ein Pfarramt vorübergehend vakant war, oder w o aus irgend welchem Grunde der Gemeindepfarrer eine kurzfristige Vertretung 1 2 3
Norw.\fylke, früher: Amt. Vgl. SNL 8/1991: 271. V g l . dazu JOHNSEN 1 9 7 0 .
Geboren in Kristiansund am 6.1.1861, Tochter von Schiffskapitän Carl Odin Meitzner und Johanne Marie Erland, Heirat in Fana am 19.7.1883. 5 Heutige Namensform: Folda (= Sorfold und Nordfold). 6 Vgl. dazu Kjerringoy kirke 100 är, Bodo 1983: 13ff. 7 Heute ist der Regierungsbezirk Nordland eine eigene Diözese mit der Regionalhauptstadt Bod0 als Bischofssitz. 4
i. Kindheit in Nordland
13
brauchte. Es war mithin ein Amt, das in der Regel mit vielen Reisen und häufigen Umzügen verbunden war, und man kann sich leicht vorstellen, dass es zu jener Zeit gerade in der nördlichsten Diözese Norwegens mühsam und beschwerlich sein konnte. Die ständigen, nicht selten auch strapaziösen Dienstreisen — zu Lande wie zur See, im Winter wie im Sommer — waren sicherlich nicht das reinste Urlaubsvergnügen. Als Jorgen Blydt Mowinckel den Pfarrbezirk Folden zur vorübergehenden Betreuung übernahm und dabei seinen Wohnsitz in Kjerringoy erhielt, hatte er in den letzten Monaten schon mehrere andere Pfarrbezirke betreut. Jetzt hatte er aber seinen Bischof gebeten, etwas länger an einem Ort bleiben zu dürfen, da seine Frau ein Kind erwartete. 8 Und am 4. August 1884 war es so weit: es kam das erste Kind des jungen Paares auf die Welt, ein Sohn, der am 7. September auf den Namen Siegmund O l a f getauft wurde. 9 Etwa ein Jahr durfte Diözesankaplan Mowinckel in Kjerringoy bleiben, bis ihn der Bischof anderswo brauchte und also wieder versetzen musste. Und in den nächsten paar Jahren warteten noch mehr Umzüge auf die junge Familie, 1 0 die sich übrigens schon 1885 um ein zweites Kind, die Tochter Emerentia, vergrößerte. 11 Man wundert sich also nicht, dass der Vater bald anfing, sich nach einer eigenen Pfarrei umzusehen, wo die Familie Fuß fassen konnte. Die ersten Bewerbungen blieben zwar — trotz bischöflicher Empfehlungen 1 2 — ohne Erfolg, aber im Sommer 1887 war die Zeit des Ler8
233).
Vgl. Archiv des Bischofs im Staatsarchiv zu Tromso (1884, J.Nr. 292; K B . N r .
9 Dem Tauf- und Konfirmationsschein (Alesund 25.4.1917) zufolge ist er in der Tat zur Namensform Siegmund getauft worden. In anderen frühen Dokumenten (z.B. von Bergens Kathedralskole) wechseln die beiden Namensformen, während der Vater offensichtlich an der ursprünglichen festgehalten hat, vgl. J . B . MOWINCKEL 1901: 171; DERS. 1926: 106. Noch in einem Privatbrief an seine Schwiegertochter (Stange 4.9.1928) gebraucht er diese Schreibweise. - Eine Frage für sich ist die Änderung des Zwischennamens Blydt in Plytt, eine Form, die in der Blytt/Blydt-Familie sonst — bis auf ein paar vereinzelte Ausnahmen - nicht vorkommt und also keine Tradition hat; vgl. BLYTT 1984. Als einzig mögliche Erklärung scheint sich somit die Vermutung anzubieten, dass der junge Sigmund Mowinckel ganz bewusst die Schreibweise an die Bergener Aussprache angepasst hat, in der das b leicht in ein p übergeht; vgl. ebd. 13. Vgl. zu dieser Problematik auch Kap 12.1.b über Mowinckel und die norwegische Rechtschreibung. l ü In seiner autobiographischen Skizze (1927), in der Sigmund Mowinckel mit gut 40 Jahren auf seinen bisherigen Lebensgang zurückblickte (vgl. Einl., Anm. 15), spricht er von insgesamt 17 Umzügen, die sein Vater - und zwar überwiegend mit der ganzen Familie — während dieser ersten Jahre in der Diözese Tromso habe machen müssen. ' 1 Emerentia (auch Emmerentze genannt) bildete sich in Paris zur Krankenschwester aus und heiratete 1913 einen russisch-französischen Arzt, Dr.med. Henri Lew, der eine Zeitlang zusammen mit einem Kollegen eine Privatklinik in Kairo leitete. 1927 siedelte die Familie (mit 3 Kindern) nach Cannes über; vgl. BLYTT 1984: 284. 1 2 Während jener Zeit, in der er als Diözesankaplan diente, hatte es Mowinckel mit zwei Bischöfen zu tun: Jacob Sverdrup Smitt (1876-1885) und Johannes Nilssen Skaar (1885-1892), vgl. N L F X V I I I , 2. Teil, 1907: 969.
14
Kapitel 1: Familie — Kindheit — Schulzeit
nens und des ständigen Umziehens vorüber: Mowinckel wurde zum G e meindepfarrer in Beiarn 1 3 ernannt. b) Ahnlich wie Kjerringoy gehört auch Beiarn, etwas südlich von Bodo, der R e g i o n Saiten an. Indessen liegt es nicht direkt am Meer, sondern am innersten Ende eines Fjordes, dem noch eine größere Insel vorgelagert ist. Den eigentlichen Kern der Gemeinde macht jenes enge, waldbewachsene Tal aus, das in südlicher Richtung zum Svartisen, dem drittgrößten Gletscher Norwegens, hinaufführt und von Bergen bis zu rund 1500 Meter Höhe umgeben ist. W i e in so vielen nordnorwegischen Gemeinden hat man sich auch in Beiarn immer durch eine Kombination von Ackerbau und Fischfang ernährt, obwohl das Schwergewicht in dieser landeinwärts gewandten G e meinde traditionell auf Land- und Forstwirtschaft lag. 14 Bis in die letzten 1960er Jahre hinein war diese abgelegene, aber fruchtbare Gegend nur auf dem Seeweg zu erreichen. Als die Familie Mowinckel hier ankam, lief ein Dampfschiff von Bodo zweimal in der Woche den Kai Tvervik an, etwa vier Stunden dauerte diese Reise. 1 5 In dieser Gemeinde, die damals rund 1700 Einwohner zählte, 16 wuchs also Sigmund Mowinckel auf. Und hier kamen auch zwei weitere G e schwister hinzu, die beiden Brüder Herbert (1888) und R o l f (1894). 1 7 U b e r das Privatleben der Familie Mowinckel in diesen Jahren wissen wir nicht viel; ein Bild davon könnte man sich wohl am ehesten auf Grund von verschiedenen autobiographischen oder literarischen Schilderungen damaliger Pfarrhäuser machen. 1 8 W i e in allen Landgemeinden gehörte die Pfarrfamilie zur sozialen Oberschicht. Ein einigermaßen anständiges E i n kommen sicherte ihr der große Hof, auf dem sie wohnte, und kraft seines Amtes konnte Vater Mowinckel einen starken Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens ausüben. Er wurde in die Gemeindevertretung gewählt und war die letzten Jahre seiner Amtszeit in Beiarn (1897—1900) sogar dessen Bürgermeister. Es fielen ihm aber auch andere kommunale A m ter zu, wie etwa die Leitung des örtlichen Schulaufsichtsrates. 19 Gerade in diesen Jahren (1889) trat in Norwegen ein neues Schulgesetz in Kraft, das Land- und Stadtgemeinden ein möglichst gleichwertiges Unterrichtsange Die damalige Namensform: Beieren. Vgl. S N L 2/1990: 158fund N L F X V I I I , 4. Teil, 1908: 45ff. 15 Vgl. Norges Communicationer 19/1887, No. 27 (9. Juli). 16 I m j a h r e 1891: 1680 Einwohner (vgl. NLF X V I I I , 4. Teil, 1908: 45). 17 Herbert wurde Magistratssekretär in Bergen, R o l f Konservator an der Altertumssammlung der Universität Oslo. 18 Eine Sammlung autobiographischer Schilderungen bietet CHRISTIE 1966ff. 19 Wie so viele andere Pfarrer leitete Mowinckel die Armenfürsorgeverwaltung (norw: fattigstyret), zeitweise auch die Vergleichsbehörde ( = norw.forliksrädet). Vgl. dazu 13 14
ERIKSEN 1 9 9 2 : 7 4 . 1 3 4 . 1 4 0 ; v g l . a u c h BLYTT 1 9 8 4 : 2 8 4 .
1. Kindheit in Nordland
15
bot sichern sollte. 2 0 Aber besonders gut ausgebaut war das öffentliche Schulwesen in Beiarn damals wohl nicht, denn die Mowinckels zogen es vor, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Der Vater stand für den Latein- und den Mathematikunterricht, 2 1 während die Mutter die meisten anderen Fächer übernahm. E i n J a h r hatte die Familie auch eine Gouvernante im Haus. Das Examensprotokoll für „Bergens kathedralskole" aus den Jahren 1869—1876 bezeugt, dass Vater Mowinckel als Gymnasiast keineswegs zu den fachlich erfolgreichen Schülern gehört hatte. Die 2. Klasse musste er wiederholen, und dennoch war er schließlich, am Ende des 7. Schuljahres, tatsächlich der letzte von den zwölf Abgängern seiner Klasse. Nach abgeschlossenem Theologiestudium erteilte er eine Zeitlang in Bergen Privatunterricht, 2 2 bis er also im Sommer 1883 in den kirchlichen Dienst eintrat. Die Pflichten eines Diözesankaplans hat er offensichtlich zur vollen Befriedigung der beiden Bischöfe erfüllt, mit denen er es zu tun bekam; 2 3 zumindest konnten ihn diese als einen tüchtigen Prediger empfehlen, der sich durch eine „klar christliche Anschauung" und einen „festen kirchlichen Standpunkt" ausgewiesen und sein Amt mit Eifer und Sorgfalt gewartet habe. Er wird außerdem als ein liebenswürdiger Mann charakterisiert, der es verstanden habe, Vertrauen zu gewinnen. Jorgen Blydt Mowinckel sei eben ein Pfarrer, den man als Bischof sehr ungerne verlieren möchte. 2 4 Auch mit der Bevölkerung in Beiarn scheint Vater Mowinckel gut ausgekommen zu sein. 2 5 Er galt als eifriger, gewissenhafter Pfarrer und Verkündiger, der sowohl streng als auch mild sein konnte. Zu seinen besonderen A n 2 0 Der Schulhistoriker Hans-J0rgen Dokka spricht in diesem Zusammenhang von einem „bahnbrechenden" Gesetz (vgl. DOKKA 1988: 7 8 - 9 0 ) . Durch diese Reform wurde die Leitung der Volksschule, die bisher eine Aufgabe der Diözesanverwaltung gewesen war, grundsätzlich eine Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung; der Pfarrer sollte zwar Mitglied des Schulaufsichtsrates, nicht aber dessen selbstverständlicher Vorsitzender sein (ebd. 79). 2 1 Dem Sohn Sigmund zufolge: „mit ausgeprägtem Sinn für absolute Dimensionen; es war entweder 1 oder 6", vgl. Skizze 1927. 22
Vgl. J . B . MOWINCKEL 1901:
170.
Vgl. Anm. 12 oben. 2 4 Vgl. Tromso Bischof: Protokoll über Vermerke zu Amtsgesuchen, 1884—1893. — Einige Daten über die weitere kirchliche Laufbahn Mowinckels hat er selbst gegeben (J.B. Mowinckel 1901: 170fund 1926: 106f): zweiter Pfarrer (norw.: residerende kapellan) in Älesund (1900), Gemeindepfarrer in Stange (1913); in dieser letzteren Stellung wurde er nach einigen Jahren Hauptpastor (= norw.: prost) im Pfarrbezirk Hedmark. 2 5 Eriksen spricht (ERIKSEN 1992: 74) von „Trauer" in der ganzen Gemeinde, als Mowinckel sie verließ. Von der Verbundenheit Mowinckels mit dieser seiner ersten eigenen Gemeinde spricht auch die Tatsache, dass er gut 30 Jahre später (1931) im Namen seiner damals verstorbenen Frau eine Stiftung von N.Kr. 5.000 zugunsten der Bedürftigen in Beiarn errichtete (später zu N.Kr. 12.000 erhöht); vgl. ERIKSEN 1992: 58 und 23
BLYTT 1 9 8 4 :
284.
16
Kapitel
1: Familie - Kindheit -
Schulzeit
liegen gehörte übrigens auch die äußere Mission, und er leitete selbst einen Männerkreis, der sich speziell für deren Sache einsetzte. 26 O b er neben seinen vielen amtlichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten überhaupt Zeit gefunden hat, weiteren theologischen Studien nachzugehen, ist wohl zweifelhaft. Zu irgendwelchen „Werken" in Buchform hat er, wie er es mit 68 Jahren rückblickend bekennt, nie den Mut gehabt. Aber immerhin nennt er in diesem Zusammenhang ein besonderes Interesse für die Altertumskunde, namentlich für die vorderasiatische Geschichte, 27 und sein Sohn, Sigmund, hat selber im hohen Alter bestätigt, dass der Vater „so etwas wie ein Amateur-Orientalist" gewesen sei. Unter anderen Zeitschriften habe er auch „Den Alten Orient" abonniert, 28 den offensichtlich auch der Sohn fleißig gelesen hat. 29 Es spricht darum alles dafür, dass die wissenschaftliche Neugier des jungen Sigmund schon in der Bibliothek seines Vaters geweckt worden ist. 2. Schuljahre in Bergen
(1898-1902)
a) Sigmund Mowinckel verbrachte also seine ganze Kindheit in Nordland, dem südlichsten der drei nordnorwegischen Regierungsbezirke, und gewann zweifellos tiefe Eindrücke, die ihn fürs Leben prägten, 30 von dessen Bevölkerung aus Bauern und Fischern und dessen gewaltiger, beeindruckender Natur. 31 Auch die unheimliche Seite der Natur lernte er hier kennen. So konnte er viele Jahre später in einer Predigt 32 eine erschreckende Jugenderinnerung heranziehen, um den Unterschied zwischen dem guten Hirten und dem Tagelöhner zu verdeutlichen: Nach einer Nacht, in der Wölfe die Herde eines Bauern überfallen und über alle Berge gejagt hatten, fanden sie am nächsten Morgen nicht weniger als 17 zerrissene Schafe dort oben in der freien Weide.
26 27
Vgl. ERIKSEN 1 9 9 2 : 7 4 . 9 6 . J . B . MOWINCKEL 1 9 2 6 :
106f.
M o w . 1967b: 43. 2 9 Vgl. dazu Kap. 4, A n m . 15. 3 0 Vgl. Skizze 1927: „Nordland liegt i m m e r noch unten in m e i n e m Unterbewusstsein und bricht bisweilen über die Schwelle auf." - Ein Zeugnis von dieser bleibenden Verbundenheit mit Nordland ist seine freizeitliche Beschäftigung mit dem Pfarrer Petter Dass (1647—1707) und dessen D i c h t u n g in späteren Jahren, die in einem unveröffentlichen Vortrag in der norwegischen Wissenschaftsakademie am 2 2 . 4 . 1 9 6 0 zum Ausdruck k o m m t : „ O m m e t r i k k og tekstkritikk i Petter Dass's .Nordlands T r o m p e t ' " ) . 31 E i n Student von M o w i n c k e l (Terje Ellingsen, B r i e f v o m 2 4 . 4 . 1 9 9 7 ) gibt eine Aussage von M o w i n c k e l wieder, in der dieser behauptet haben soll, dass ihm seine Kindheit unter einfachen, ländlichen Lebensverhältnissen im Studium des A T hilfreich gewesen sei; so habe er gelernt, nach den konkreten, lebensnahen D i n g e n zu sehen. 3 2 M o w . 1 9 2 9 e : 3 8 9 ; vgl. Kap 13.1.a, A n m . 7. 28
2. Schuljahre in Bergen
17
Als Sigmund mit 14 Jahren f ü r die höhere Schule reif war und das Elternhaus in Beiarn verlassen musste, bot sich die westnorwegische Stadt Bergen als die günstigste Lösung an. D o r t war die ganze Verwandtschaft väterlicherseits zu Hause, und der j u n g e Schüler durfte ins Haus eines unverheirateten Onkels, des Schiffsmaklers Ernst Mowinckel, einziehen. D o r t w o h n t e er mitten in der Stadt, nahe am Hafen, in einem Gebäude, in dem auch Büro und Geschäftsräume eingerichtet waren, 3 3 u n d in dem außer einem j u n g e n Dienstmädchen noch zwei unverheiratete Geschwister seines Vaters wohnten: Henrikke, die älteste Schwester, die den Haushalt für ihren Bruder führte, und Hans, ein jüngerer Bruder, der seine eigene Agenturfirma hatte. Als zweitgrößte Stadt Norwegens hatte Bergen u m 1900 etwa 72000 Einwohner. 3 4 Lange, ja faktisch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, war Bergen die größte Stadt des Landes gewesen. Nach ihrer G r ü n d u n g u m 1070 diente sie in den nächsten paar Jahrhunderten zeitweise als Reichshauptstadt und entwickelte sich allmählich zum bedeutendsten Handelszentrum an der West- und Nordküste. Im späten Mittelalter stand sie wirtschaftlich allerdings weithin unter der Kontrolle der Hanse; zahlreiche deutsche Handelsleute und Handwerker ließen sich hier nieder, hielten in eigenen Z ü n f t e n und Gilden zusammen und übernahmen allmählich die ganze wirtschaftliche Macht in der Stadt. Eine führende Rolle spielte in diesem Zusammenhang das sogenannte „Deutsche Kontor" aus dem Jahre 1360, das erst vier Jahrhunderte später (1754) aufgelöst wurde, als sich immer mehr ausländische Einwanderer in norwegische Familien hineingeheiratet hatten und mit der Zeit also in die einheimische Bevölkerung integriert worden waren. 3 5 An den starken deutschen Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung Bergens erinnern manche historische Uberreste; nicht umsonst werden die zentralen Hafenanlagen heute noch „Tyskebryggen" genannt. Es fallen aber im Telefonbuch der Stadt auch die vielen fremdländischen Familiennamen auf, die all diejenigen Einwanderer mitbrachten, die sich im Laufe der J a h r hunderte in der „Stadt unter den sieben Bergen" niederließen. Beispiele solcher N a m e n braucht m a n nicht lange zu suchen; sowohl Mowinckel als auch Blydt fallen in diese Kategorie. Von diesen beiden N a m e n ist Blydt bzw. Blytt zuerst nach Bergen gekommen. Ins „Bürgerbuch" der Stadt ist 1638 ein Hans Blitt, zu Rostock geboren, eingetragen worden. 3 6 Unter seinen Nachfahren bildete sich im 18. J a h r 33 M i t der A n s c h r i f t : S t r a n d g a d e n 70, vgl. das K l a s s e n b u c h ( D a g b o g for 3Lg, B e r gens k a t h e d r a l s k o l e 1 9 0 1 - 0 2 ) . D i e A u s k u n f t ü b e r die H a u s b e w o h n e r w u r d e d u r c h T e leslekt, S a n d n e s s j o e n , v e r m i t t e l t . In d i e s e m V e r z e i c h n i s e r s c h e i n t S i g m u n d M o w i n c k e l s Z w i s c h e n n a m e n o c h in d e r t r a d i t i o n e l l e n F o r m Blydt. 34 A m 3 . 1 2 . 1 9 0 0 : 72251; vgl. N L F XIII, 1. Teil, 1916: 23. 35
BLYTT 1 9 8 4 : 1 3 - 1 5 .
36
E b d . 11.
18
Kapitel 1: Familie - Kindheit — Schulzeit
hundert zwar ein Zweig, dessen Glieder zum großen Teil Akademiker und Beamte waren. 3 7 Indessen hielten sich wie der Stammvater und seine nächsten Nachkommen auch die folgenden Generationen überwiegend an Handel und Handwerk. Das tat auch Sigmund Mowinckels Großvater, Jorgen Blydt (1795—1884), der mit mehr oder weniger Glück verschiedene Geschäfte unternommen hatte, bis er schließlich eine gesicherte Anstellung als „Stadtmakler" fand. 3 8 Die Stammtafel der Familie Mowinckel führt bis ins erste Viertel des 18. Jahrhunderts zurück, als ein Johann Ernst Mowinckel (1681—1729) im kleinen niedersächsischen D o r f Collenrade (Kolnrade) — damals unter der Grafschaft Diepholz — als „Wachtmeister" diente. W o dieser Mowinckel geboren war oder herkam, ist ebenso unbekannt wie die Herkunft seines Familiennamens, da in ganz Deutschland kein Ort so heißt. Nur so viel lässt sich ermitteln, dass „der moe W i n c k e l " im Plattdeutschen einen windgeschützten, gemütlichen O r t bezeichnet. 3 9 Im selben Jahr, in dem Johann Ernst Mowinckel starb, wurde der älteste Sohn, Johann Ludwig (1717—1772), in seinem Heimatdorf konfirmiert. Vermutlich hat er nach dem Tod des Vaters bald ausreisen müssen, um sich auf eigene Faust eine Existenz zu gründen. Unwahrscheinlich ist es also nicht, dass er schon in den 1730er Jahren — etwa über Bremen — nach Bergen gekommen ist und als „Junge" im „Deutschen Kontor" angefangen hat. Im Jahre 1747 ist er in amtlichen Aufzeichnungen als Geschäftsführer einer Kaufmannswitwe anzutreffen, und als er einige Jahre später (1757) Mittel genug erworben hatte, um sein eigenes Unternehmen zu gründen, beantragte er auch das Bürgerrecht der Stadt. Als er mit 55 Jahren starb, war sein Vermögen zwar nicht besonders groß, aber immerhin hatte er es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. 4 0 In vieler Hinsicht kann dieser erste Johann Ludwig Mowinckel als B e i spiel für all j e n e Einwanderer ausländischer, zumal deutscher Herkunft dienen, die durch Fleiß und Anspruchslosigkeit in ihrer neuen Heimat hinaufgekommen sind. Diese beiden Tugenden hat er denn auch an seine Nachfahren vererbt, denn unter den vielen Firmen, die unter diesem Familiennamen gegründet und geführt worden sind, zählten manche zu den solidesten und blühendsten der ganzen Stadt. Aus der Familie Mowinckel sind auch etliche Männer hervorgegangen, die leitende politische Amter in der Stadt innehatten. Am weitesten im öffentlichen Leben hat es zweifellos jener Johann Ludwig Mowinckel (1870—1943) gebracht, der 1898 seine eigene Reederei 3 7 Hier finden sich auch zwei international bekannte Botaniker: Matthias Nansen Blytt ( 1 7 8 9 - 1 8 6 2 ) und dessen Sohn Axel Gudbrand Blytt ( 1 8 4 3 - 1 8 9 8 ) . 38
BLYTT 1 9 8 4 :
39
W I E S E N E R 1 9 1 4 : 1.
276-282.
4H
Ebd. 7 - 1 1 .
2. Schuljahre in Bergen
19
gründete und schon in jenen Jahren, in denen Sigmund Mowinckel in Bergen zur Schule ging, zu den Spitzenpolitikern der Stadt gehörte. Nachdem er 1902 zum Oberbürgermeister gewählt worden war, folgte wenige Jahre später (1906) die Wahl in das Nationalparlament und die Landespolitik, die er — als Staatsmann von Format — die nächsten Jahrzehnte entscheidend mit prägte. Als Parlamentspräsident hatte er eine Zeitlang das allerhöchste Amt des Landes inne, und im Laufe der 1920er und 30er Jahre kam er insgesamt dreimal in der Doppelrolle als Regierungschef und Außenminister an die Macht. 41 Insgesamt waren also auch in der Familie Mowinckel die Interessen in Richtung Handel und Schiffahrt bzw. Handwerk und Industrie gegangen. Akademiker und Beamte findet man in den ersten Generationen nur wenige — und einen Theologen bloß ausnahmsweise. 42 Indessen verdient auch eine jüngere Kusine von Sigmunds Vater, Agnes Mowinckel (1875—1963), als landesweit bekannte Schauspielerin und Regisseurin besondere Erwähnung. 43 b) Wie sein Vater erhielt nun auch Sigmund Mowinckel seine höhere Schulausbildung an „Bergens kathedralskole". Die Tradition der Kathedralschulen in Norwegen geht auf die Jahre 1152—53 zurück, als der päpstliche Gesandte Nikolaus Breakspear zur Gründung des Erzbistums Nidaros das Land besuchte und dabei auch in den anderen Bistümern Domkapitel errichtete. Nach der Reformation blieben die Kathedralschulen als Lateinschulen bestehen und behielten ihren kirchlichen Charakter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Durch ein Gesetz über „die höhere Allgemeinbildung" aus dem Jahre 1869 wurden sie endgültig zu öffentlichen Schulen umgeformt, in denen auf eine 6-jährige Mittelschule ein 3-jähriges Gymnasium aufbaute. 44 Als Sigmund Mowinckel im Herbst 1898 als Schüler dieser altehrwürdigen höheren Schule aufgenommen wurde, umfasste die Mittelschule vier Jahre, von denen er freilich nur das letzte mitmachen musste. Insgesamt dauerte also seine Schulzeit in Bergen vier Jahre lang. Das Mittelschulexamen bestand er mit der Durchschnittsnote 1.75 („sehr gut"), das Abitur („Klassisches Examen artium") im Juni 1902 mit 1.5 („ausgezeichnet"). In sechs von den zwölf Fächern, die im Endergebnis mitzählten (Religion, Norwegische Literatur und Altnorwegisch, Latein I, Französisch, Geschichte, Mathematik mündlich), war eine 1, in den übrigen sechs (Norwegischer Aufsatz, lateinische Ubersetzung, Latein II, Deutsch, Englisch, Mathematik 41
Ebd. 70f; vgl. auch SNL 9, 1991: 679. Albert Henrik Mowinckel (1830—1892), ein Vetter von Sigmund Mowinckels Großvater, vgl. W I E S E N E R 1914: 52f. 43 Ebd. 136; vgl. auch SNL 9, 1991: 679. 44 Vgl. ebd. 554; vgl. auch E R I C H S E N 1906. 42
20
Kapitel
i: Familie — Kindheit
-
Schulzeit
schriftlich) die 2 erreicht w o r d e n . 4 5 U n t e r den Mitschülern M o w i n c k e l s w a r n u r einer, der besser abschnitt
als er: G e o r g H e r m a n
Monrad-Krohn
(1.33).46 T r o t z seines d u r c h a u s l o b e n s w e r t e n Z e u g n i s s e s e r s c h e i n t i n d e n E x a m e n s p r o t o k o l l e n aus d e r 1. b z w . 2. G y m n a s i a l k l a s s e d e r j u n g e M o w i n c k e l g l e i c h w o h l n i c h t i n j e d e r H i n s i c h t als d e r m a k e l l o s e M u s t e r s c h ü l e r . V i e l leicht w i r d m a n es i h m n i c h t a l l z u s c h w e r z u r Last g e l e g t h a b e n , dass s e i n e s p o r t l i c h e n L e i s t u n g e n n i c h t g e r a d e g l ä n z e n d w a r e n (4 b z w . 3); a b e r a u c h d i e V e r m e r k e ü b e r Fleiß, O r d n u n g u n d V e r h a l t e n (2, 3, 2 b z w . 2, 2, 2) e n t sprechen w o h l k a u m den idealen A n s p r ü c h e n . Diese u n d j e n e kritische A n m e r k u n g in d e n K l a s s e n b ü c h e r n zielen d e n n auch direkt auf M o w i n c k e l . S e i n E n g l i s c h l e h r e r i n d e r 2 . Klasse f a n d sein A u f s a t z h e f t „ s e h r u n o r d e n t lich", u n d einmal hat i h n „ein ziemlich u n g l a u b w ü r d i g e r V o r w a n d " f ü r n i c h t g e m a c h t e H a u s a r b e i t g e ä r g e r t . 4 7 U n d g e g e n E n d e d e r 3. Klasse h a t M o w i n c k e l s V e r h a l t e n e i n e n a n d e r e n L e h r e r so p r o v o z i e r t , dass d i e s e r s e i n e r E n t r ü s t u n g d u r c h eine drei Seiten lange A n m e r k u n g s s e r i e A u s d r u c k verleihen musste:48 Ich bin schon lange sehr unzufrieden mit dem Verhalten Mowinckels. Er hat sich bei mehreren Gelegenheiten unverschämt b e n o m m e n , w e n n er geglaubt hat, dies so zu tun, dass man ihn nicht ertappen könnte. Heute war er so frech, den U n t e r richt im N a t u r k u n d e z i m m e r zu stören, indem er sich draußen im H o f albern benahm. Als ich ihn vom Fenster aus ansprechen wollte, verschwand er natürlich in einer Ecke des Hofes. Wie gewöhnlich hat er selbst keine A h n u n g davon, dass er sich ungehörig verhalten hat, was meiner M e i n u n g nach die Sache nicht besser macht. Krohn, der mit i h m zusammen war, und der sich bei dieser und einzelnen anderen Gelegenheiten lümmelhaft b e n o m m e n hat, erhielt an O r t und Stelle von mir eine Zurechtweisung. Für Herrn Mowinckel ist ganz sicher ein schärferes Mittel vonnöten. (12.5.1902) Als ich mich heute (Freitag den 16.5) im Z i m m e r neben dem Lateinzimmer b e fand, hörte ich Gejohle im Nebenzimmer, weshalb ich mich veranlasst fand, zu untersuchen, was los sei. (Es war gegen Ende der Pause.) Ich finde dann Mowinckel, der seine Sachen g e n o m m e n hat, u m zu gehen. Als ich i h m das Unpassende seines Verhaltens vorhalte, behauptet er mit der größten Kühnheit, dass er nichts getan habe. Er räumt ein, dass er gesungen habe (auf Frage danach), aber „nicht so laut, dass es j e m a n d e n stören könnte". Es war nicht möglich, ihn zum Geständnis zu bringen, dass er etwas getan hatte, was nicht richtig war. Im Gegenteil wiederholte 45
Bergens kathedralskole: Klassisk Examen-artium 1902. G.H. Monrad-Krohn (1884-1964) studierte später Medizin und wurde in N o r wegen eine führende Gestalt im Bereich der Psychiatrie und Neurologie, vgl. NBL IX: 335-337 und SNL 9, 1991: 636. Krohn und Mowinckel blieben in lebenslanger Freundschaft miteinander verbunden. 47 Bergens kathedralskole: 2 Lg Hjelpeprotokol for 1900-1902. 48 Bergens kathedralskole: Dagbog for 3 Lg (ab 1. März 1901). 46
2. Schuljahre in Bergen
21
er i m m e r w i e d e r , dass er nicht so laut g e s u n g e n habe, dass es „ j e m a n d e n stören" k ö n n t e . A b g e s e h e n d a v o n , dass er bei dieser G e l e g e n h e i t w i r k l i c h d u r c h lautes S i n gen störte, finde ich, dass sein Verhalten ein sehr deutliches U b e r s c h r e i t e n der S c h u l r e g e l n b e i n h a l t e t , u n d dass m a n i h m d a r u m i r g e n d e i n e Strafe auferlegen muss. In der G e g e n w a r t des Klassenlehrers erklärte ich i h m , dass er aufs n e u e a u f g e s c h r i e b e n w e r d e n w ü r d e , w e n n er nicht e i n r ä u m e n wollte, dass sein Verhalten bei dieser G e l e g e n h e i t nicht so war, w i e es sein sollte. E r hielt d e n n o c h an seiner B e h a u p t u n g fest.
Ein kurzer Nachtrag schließt diese ganze Geschichte ab: „Da Mowinckel später kam und sich entschuldigte, entfällt das Obige." Zu guter Letzt hat der Schüler also doch eingesehen, dass ein Einlenken seinerseits erforderlich war, um schlimmere Folgen zu verhindern. Ein ganz anders positives Verhältnis hat Mowinckel zu zwei anderen Lehrern gehabt: dem Oberlehrer Gerhard Wiesener, der ihn in Norwegisch und Latein unterrichtete, und dem Geschichtslehrer Sigurd Host. Zumindest hat er später eben dieser beiden Namen mit besonderer Dankbarkeit gedacht. 49 Und in einem Selbstporträt aus dem Jahre 1957 führt er sogar seinen Anteil an der theologisch-literaturhistorischen Forschungsarbeit auf seine „persönlichen Interessen" aus der Schulzeit zurück: „Geschichte und Norwegisch mit Literaturgeschichte waren meine liebsten Fächer, meine Lieblingslektüre waren Geschichte und Dichtung." Mit Freude konnte Mowinckel sonst auf seine Mitarbeit in der Schülerverbindung „Hugin" zurückblicken, deren Vorsitzender er ein Semester auch war. Dort hätten „erfrischende Diskussionen über alles Mögliche" stattgefunden, und die „unbarmherzige Kritik" seitens der Kameraden habe Mowinckel als eine gute Ü b u n g „für das Denken wie für den Formsinn" schätzen gelernt. 50 Fleißig habe er auch Beiträge zur Zeitung des Vereins geliefert; er spricht in diesem Zusammenhang von „verschiedenen Dingen" in gebundenem Stil.51 Ein anderes Mal, wo sich Mowinckel zu seinen ersten, jugendlichen dichterischen Versuchen bekennt, deutet er etwas genauer an, worum es sich gehandelt hat: 52
49 Skizze 1927. - Vgl. auch M o w i n c k e l s Selbstporträt in M o w . 1957e: 120. - In e i n e m R ü c k b l i c k auf sein Leben hat auch G . H . M o n r a d - K r o h n diese beiden Lehrer als ganz besonders h e r v o r r a g e n d e P ä d a g o g e n e r w ä h n t (vgl. MONRAD-KROHN 1964: 451). 50 Skizze 1927. — Vgl. auch die Fortsetzung: „die Gesamtschule stak glücklicherweise n u r in ihrer Kindheit, u n d das P r o g r a m m des Clubs w a r e n Geistesübungen, nicht B e i n übungen." 51 Skizze 1927. - Vgl. auch M o w . 1927h: 253: „diverse P r o d u k t e in g e b u n d e n e m u n d u n g e b u n d e n e m Stil." H i e r n e n n t M o w i n c k e l a u ß e r d e m „ein a n o n y m e s G e d i c h t " in der Tageszeitung „Bergens A f t e n b l a d " als sein erstes veröffentlichtes P r o d u k t . - Leider ist die „ H u g i n ' - S a m m l u n g i m Staatsarchiv B e r g e n nicht vollständig, u.a. fehlen ausgerechnet die J a h r g ä n g e aus M o w i n c k e l s Schulzeit. 52 M o w . 1957e: 120.
22
Kapitel
1: Familie - Kindheit -
Schulzeit
W i e so viele damalige Gymnasiasten b e t r i e b ich m a n c h e Versemacherei, sowohl in der lyrischen als auch in der lyrisch-dramatischen G a t t u n g ; das meiste ist sicher nur W i d e r h a l l gewesen. Versuche m a c h t e ich auch mit „ p o e t i s c h e n " U b e r s e t z u n g e n aus dem Literaturpensum: H o r a z , O v i d , Schiller, Voluspa.
c) Bei seinen Verwandten in Bergen war der junge Gymnasiast aus dem h o hen Norden sicher gut aufgehoben. 53 Dennoch wird er in den längeren Schulferien wohl den Wunsch gehabt haben, sein Elternhaus zu besuchen. Damals war aber die Reise von Bergen nach Beiarn und zurück schon ein großes Unternehmen. A u f der Strecke zwischen Bergen und Trondheim verkehrten zwar fast täglich kombinierte Post- und Passagierschiffe, und von Trondheim aus konnte man dreimal die Woche bis ans nördlichste bzw. östlichste Ende des Landes weiterfahren. Insgesamt dauerte aber die Seereise zwischen Bergen und B o d o auf diese Weise mindestens vier Tage und Nächte. Indessen war 1893 eine Schnellschifflinie („Hurtigruten") eröffnet worden, die für den nordnorwegischen Reiseverkehr einen beachtlichen Fortschritt bedeutete. Weil diese Schiffe nur die wichtigsten Häfen anliefen, konnten sie dieselbe Strecke in weniger als drei Tagen zurücklegen. 5 4 Hinzu kam aber nach wie vor die vierstündige Fahrt mit dem Lokalschiff nach Beiarn. Und schließlich sollte man nicht vergessen, dass die norwegische Küste, so landschaftlich faszinierend sie sein mag, streckenweise dem offenen Meer und dessen ganzer Wucht ausgesetzt ist; wenn W i n d und Wellen ihr wildes Spiel treiben, sind also solche Fahrgäste am besten daran, die einigermaßen seefest sind. Als Sigmund Beiarn verlassen musste, war sein Vater schon 11 Jahre dort Gemeindepfarrer. Daher dürfte es für ihn sowieso an der Zeit gewesen sein, an einen Ortswechsel zu denken; und auch aus Rücksicht auf die weitere Ausbildung mehrerer heranwachsender Kinder hatte er wohl den Wunsch, in eine größere, südlicher gelegene Stadt versetzt zu werden. Sicher wird Vater Mowinckel darum zufrieden gewesen sein, als er am 23. Dezember 1899 zum zweiten Pfarrer in Alesund ernannt wurde 5 5 und im nächsten Jahr seine Arbeit in dieser neuen Gemeinde aufnehmen konnte. Unter den drei Städten im westnorwegischen Regierungsbezirk More og Romsdal (damals: Romsdals Amt) ist Alesund — neben Moide und Kristian5 3 In seiner Skizze 1927 weist M o w i n c k e l mit den folgenden W o r t e n a u f den Aufenthalt bei den Verwandten hin: „ich glaube, dass es so gut war, und ich bin ihnen D a n k schuldig". 5 4 Norges C o m m u n i c a t i o n e r 3 0 / 1 8 9 8 , Nr. 52 (23. Dez.). - D e n ersten Anfang der „ H u r t i g r u t e n " machte ein einziges S c h i f f aus, das die Strecke T r o n d h e i m - H a m m e r f e s t (im W i n t e r nur bis T r o m s 0 ) bediente; schon 1894 kam ein zweites S c h i f f hinzu und 1 8 9 8 ein drittes, das B e r g e n als Ausgangspunkt hatte. Vgl. dazu STAVSETH 1943: 75. 5 5 E r wurde zugleich zum „Inspektor" an der städtischen Volksschule ernannt, vgl.
SOLLIED 1 9 4 0 :
73.
2. Schuljahre in Bergen
23
sund — zwar die jüngste, indem sie erst 1848 ihre Stadtrechte erhielt. Indessen wuchs sie in den folgenden Jahrzehnten als Stadt der Fischerei und des Handels so schnell heran, dass sie um die Jahrhundertwende (1900) eine Einwohnerzahl (11770) erreicht hatte, die fast derjenigen von Kristiansund (12050) gleichkam und diejenige von Moide (1689) schon längst übertraf. So gelten denn auch die Bewohner dieser Region, Sunnmore, im norwegischen Volksmund als Leute mit ausgeprägtem Unternehmungsgeist und Geschäftssinn und mit einer besonderen Fähigkeit, sich immer und überall erfolgreich durchsetzen zu können. Durch den Umzug der Pfarrfamilie Mowinckel von Beiarn nach Alesund ist Sigmund seinen Eltern und Geschwistern wieder geographisch näher gekommen. Aber weiterhin hat er sie nur in den Sommerferien sowie zu Weihnachten und Ostern besuchen können. Denn immerhin erforderte auch die Schiffsreise zwischen Bergen und Alesund planmäßig 16—20 Stunden. Und sie konnte bisweilen länger dauern, wie etwa nach den Weihnachtsferien im Januar 1902, als der Schüler Mowinckel mehrere Tage wegen „Unwetter und Schiffbruch" auf sich warten ließ. 56 Was hat dieser Schüler im Laufe seiner Jugend — in Bergen, in Beiarn, in Älesund — sonst erlebt, gefühlt, gedacht? Darüber lassen uns die erhaltenen Quellen so gut wie nichts wissen. Wir können uns aber vorstellen, dass es an seinem 17. Geburtstag, am 4. August 1901, im Hause Mowinckel festlich zugegangen ist. An dem Tag wurde nämlich Sigmund in der Kirche zu Älesund konfirmiert. Die Konfirmation, die in Norwegen wie in Dänemark mit der Reformation abgeschafft worden war, wurde 1736, zur Zeit des Pietismus, wieder eingeführt, und um 1900 galt diese kirchliche Handlung immer noch im pietistischen Sinne als persönliche Bestätigung des Taufgelübdes. 57 Zugleich hatte sie aber auch die Funktion eines Ubergangsritus, der den Abschluss der Kindheit und den Eintritt in die Welt der Erwachsenen markierte. Von nun an war also Sigmund Mowinckel ein junger Mann.
56 57
Dagbog for 3Lg. Ab 1. März 1901. Heutzutage wird sie eher als kirchliche Segnung der Jugendlichen interpretiert.
Kapitel 2
Studium der Theologie in Kristiania (1902—1908) Nach seinen vier Schuljahren in Bergen kam Sigmund Mowinckel im Herbst 1902 nach Kristiania, wie die Hauptstadt Norwegens damals noch hieß, um an der dortigen Universität, der einzigen des ganzen Landes, Theologie zu studieren. Indessen sind die Quellen, die uns über diesen wichtigen Abschnitt seines Lebens informieren können, eher dürftig. Abgesehen von einigen simplen Daten, die aus dem Universitätsarchiv herauszuholen sind, handelt es sich hauptsächlich um jene biographischen Notizen, die M o winckel anlässlich des Studentenjubiläums im Jahre 1927 selbst aufgezeichnet hat.1 Darum wird sich dieses Kapitel notgedrungen nicht nur mit M o winckel selbst und seiner individuellen Geschichte beschäftigen, sondern auch mit jener theologischen Fakultät, in der er seine wissenschaftliche Grundausbildung erhielt: Wer waren damals seine Lehrer, was wissen wir über den theologischen Unterricht, und was für Fragen bewegten Gesellschaft und Kirche Norwegens im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts?
i. Die Universität zu Kristiania und ihre theologische ein historischer
Fakultät:
Uberblick2
Während Schweden und Dänemark schon im späten Mittelalter ihre ersten Universitäten bekamen (Uppsala 1477, Kopenhagen 1479), erfolgte die erste Universitätsgründung Norwegens erst im Jahre 1811. Diese lange Wartezeit hängt mit der politischen Situation des Landes zusammen. Als das alte norwegische Königshaus ausgestorben war (1319), kam Norwegen am Ende des 14. Jahrhunderts (1380) unter dänische Vorherrschaft und blieb bis zu den napoleonischen Kriegen, als das Land im Kieler Frieden 1814 in eine Personalunion mit Schweden überging, der unterlegene, wirtschaftlich wie wissenschaftlich weniger entwickelte Teil der dänisch-norwegischen Doppelmonarchie. Zwar arbeitete die „Königliche Norwegische Gesellschaft der Wissenschaften", die 1760 in Trondheim gegründet wurde, zielbewusst für eine eigene norwegische Universität, aber in Kopenhagen stießen solche Pläne vorerst nicht auf Begeisterung. Immerhin wurden sie zum Teil mit 1 2
Vgl. Einl., A n m . 15, sowie Abschnitt 2 . 3 unten. W i c h t i g e Q u e l l e n zu den ersten zwei Abschnitten dieses Kapitels: MORGENSTIERNE
1 9 1 1 , BRANDRUD 1911, L. AMUNDSEN 1 9 6 1 , MOLLAND 1 9 6 2 , COLLETT
1999.
i. Die Universität
zu Kristiania
und ihre theologische
Fakultät
25
patriotischer Rhetorik vorgetragen, und der König war nicht gesinnt, Initiativen zu unterstützen, die norwegischen Separatismus fördern könnten. Schließlich ging also der norwegische Wunsch doch in Erfüllung. Aber die Universität, die im Sommer 1813 — in der schweren Not der Kriegsjahre — ihre Wirksamkeit aufnehmen konnte, blieb mehrere Jahrzehnte lang eine recht bescheidene, wissenschaftlich wenig anspruchsvolle Institution, deren erste und dringendste Aufgabe darin bestand, die für den Staatsdienst erforderlichen Beamten — Pfarrer, Juristen, Ärzte — auszubilden. Im Laufe der Zeit wurden aber in mehreren Fächern Professoren ernannt, die sich durch bedeutende Arbeiten qualifiziert hatten, und aus der letzten Hälfte des Jahrhunderts wären sowohl aus den natur- als auch aus den humanwissenschaftlichen Disziplinen Namen zu nennen, die sich auch international Geltung verschaffen konnten. 3 Auch die theologische Fakultät nahm an dieser Entwicklung teil; und es waren vor allem zwei Männer, die sie seit Mitte des Jahrhunderts in dieser Weise entscheidend prägten: Gisle Johnson (1822-1894) und Carl Paul Caspari (1814—1892). Beide vertraten einen orthodox-lutherischen Konfessionalismus, der — zumal im Falle Johnsons — mit der pietistischen Frömmigkeit der norwegischen Erweckungsbewegungen verbunden war. Johnson las ursprünglich systematische Theologie, später Kirchengeschichte, und gilt als ein treuer, aber immerhin selbständiger Vermittler der Erfahrungstheologie der deutschen Erlanger Schule. Caspari, deutscher Orientalist jüdischer Herkunft, war unter den norwegischen Theologen des ganzen 19. Jahrhunderts wohl der einzige, der wirklich internationalen R u h m genoss. 1847 war er auf Antrieb Johnsons nach Christiania berufen worden, wo er den Lehrstuhl für das Alte Testament übernahm, sich aber allmählich — nicht zuletzt durch den Streit mit der Grundtvigschen Richtung veranlasst - vor allem dem Studium der altchristlichen Taufsymbole widmete. 4 Bis etwa 1870 war nicht nur das kirchliche, sondern auch das kulturelle Leben Norwegens weithin von der Tradition lutherischer Religiosität beherrscht. In den beiden nächsten Jahrzehnten aber brach der Geist der M o derne mit fast explosiver Kraft auf breiter Front durch. Viele prominente Persönlichkeiten — darunter führende Schriftsteller wie Henrik Ibsen, Bjornstjerne Bjornson, Alexander Kielland und Arne Garborg — traten als Sprecher einer positivistischen, teilweise kirchenkritisch ausgerichteten Weltanschauung hervor. Gegen traditionelle religiöse Werte wie Gehorsam 3
Einige Beispiele: der Historiker P.A. Münch, der Mathematiker Sophus Lie und der Philologe Sophus Bugge. 4 Z.B. „Ungedruckte, unbeachtete und wenig besuchte Quellen zur Geschichte des Taufsymbols und der Glaubensregel", 3. Bände, Christiania 1866-75, und „Alte und neue Quellen zur Geschichte des Taufsymbols und der Glaubensregel", Christiania 1879. - Zu Grundtvig und der Grundtvigschen Richtung, vgl. Kap. 7.1.a.
26
Kapitel 2: Studium
der Theologie
und Unterordnung verkündeten jetzt Dramen und Romane im Geist des Realismus und Naturalismus die Freiheit und moralische Autonomie des Individuums. So entstand bald eine Kluft zwischen Kirche und Kultur, die die Theologie vor eine ganz neue apologetische Herausforderung stellte. U m diese Aufabe konzentrierte sich in erster Linie Fredrik Petersen (1839—1903), der 1875 den systematisch-theologischen Lehrstuhl Johnsons übernahm. Dogmatisch vertrat auch Petersen einen eher konservativen Standpunkt, aber er hat sich immerhin ernstlich darum bemüht, die Spannung zwischen Glaube und Wissenschaft durch einen Kompromiss zu mildern, in dem beide Seiten ihr Recht und ihre Wahrheit sollten behalten können. Hatte damit schon Petersen in vorsichtiger Weise eine theologische Neuorientierung eingeleitet, so erfolgte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine umfassendere und tiefer greifende Erneuerung der ganzen Fakultät. Sowohl in den Bibelwissenschaften als auch in der Kirchengeschichte mussten Lehrstühle neu besetzt werden, und die neuen Professoren — Sigurd Ödland und Lyder Brun (1894 bzw. 1897: Neues Testament), Simon Michelet (1897: Altes Testament) und Andreas Brandrud (1897: Kirchengeschichte) — waren durch Studienaufenthalte im Ausland mit den Methoden der historisch-kritischen Forschung wohl vertraut. Von dem konservativen Ödland abgesehen traten sie auch als Vertreter der modernen, protestantischen liberalen Theologie auf. Die theologische Fakultät, die Mowinckel als Student kennen lernte, war also — trotz ihrer Bindung an die norwegische Staatskirche und deren evangelisch-lutherisches Bekenntnis — eine Ausbildungsstätte, in der die Freiheit eines Christenmenschen so interpretiert wurde, dass sie auch die Freiheit einer strengen, kritischen Wissenschaft mit einbegriff. In den ersten Studienjahren Mowinckels sollte aber das Ideal der akademischen Freiheit innerhalb einer konfessionell gebundenen theologischen Fakultät auf eine ernsthafte Probe gestellt werden. Im Januar 1903 starb Petersen und seine Professur wurde ausgeschrieben. Den wissenschaftlich best qualifizierten Bewerber, den ziemlich radikalen Ritschlianer Johannes Ording, wies aber die Begutachtungskommission mit der Begründung zurück, dass er in zentralen theologischen Punkten — wie beispielsweise in der Frage der Realpräsenz Christi im Abendmahl — dem evangelisch-lutherischen „Grundtypus" nicht entspreche. Dieses Gutachten ließ aber die theologische Fakultät nicht gelten, indem die Mehrzahl der Professoren — alle außer Ödland — auf dem Ideal der akademischen Freiheit bestand und von daher meinte, dass Ording die Grenzen des Luthertums nicht überschritten habe. Ödland wollte aber nicht nachgeben; er konnte sich, wie viele andere konservativ gesinnte Kirchenmänner, einen solchen Theologen als Lehrer für künftige Pfarrer — zumal auf dem Lehrstuhl für Dogmatik — nicht vorstellen. So entwickelte sich dieser Berufungsprozess zu einem regelrechten Kirchenstreit, der freilich mit der Ernennung Ordings (1906)
2. Die theologische
Fakultät
in den Studienjahren
Mowinckels
27
endete, aber zugleich den Abschied Ödlands sowie den Rücktritt des Kirchenministers zur Folge hatte. Diese erste große Auseinandersetzung in Norwegen zwischen liberaler und konservativer Theologie sollte aber noch weiterreichende Folgen haben. In einem Versuch der Vermittlung bildete die theologische Fakultät die frei gewordene Stellung Ödlands in eine zweite Professur für systematische Theologie um und besetzte diese mit dem gemäßigt konservativen Christian Ihlen. Dieser taktische Zug konnte aber Ödland nicht davon abhalten, im norwegischen Kirchenvolk moralische und finanzielle Unterstützung für eine alternative, streng bekenntniskonforme Pfarrerausbildung zu suchen. Seine Initiative war erfolgreich, und schon 1908 konnte die „Theologische Gemeindefakultät" ihren Betrieb aufnehmen. Wenige Jahre später (1913) erhielt sie vom Reichstag das Examensrecht, später (1926) folgte eine eigene praktisch-theologische Ausbildung. Nur das Promotionsrecht der Gemeindefakultät ließ länger auf sich warten; ihre erste Doktordisputation in eigener Regie fand erst im Jahre 1991 statt. Durch die Gründung dieser neuen theologischen Ausbildungsstätte auf erklärt bibel- und bekenntnistreuer Grundlage bekam der Zwiespalt zwischen liberaler und konservativer Theologie einen institutionellen Ausdruck, der das kirchliche Leben Norwegens in den folgenden Jahrzehnten entscheidend geprägt hat (vgl. dazu Kap. 7.1.b). Es dauerte nicht lange, bis die Gemeindefakultät die große Mehrzahl der Theologiestudenten an sich zog und dadurch zumindest quantitativ für ernsthafte Konkurrenz sorgte. In weiten Kreisen des norwegischen Kirchenvolks hatten die Professoren der staatlichen Universitätsfakultät einen zweifelhaften Ruf, während ihre Kollegen in der Gemeindefakultät als glaubwürdige Bürgen für wahres Christentum galten. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist die Spannung zwischen beiden Fakultäten ein Stück weit entschärft worden, zumindest auf den Gebieten der alttestamentlichen Wissenschaft und der Kirchengeschichte. Zu Mowinckels Zeit jedoch machte sich der ursprüngliche Antagonismus immer noch in einer Weise geltend, die eher gegenseitiges Misstrauen als konstruktive Zusammenarbeit hervorrief. 2. Die theologische Fakultät in den Studienjahren
Mowinckels
Als Sigmund Mowinckel sein Studium begann, hatte die Universität zu Kristiania insgesamt rund 850 Studenten, davon etwa 70 in der theologischen Fakultät; als er 1908 sein Examen ablegte, waren die entsprechenden Zahlen auf 1584 bzw. 182 gestiegen. Es gab fünf theologische Professuren, von denen bis 1906 drei den Bibelwissenschaften (AT: Michelet; NT: Ö d land und Brun), eine der Kirchengeschichte (Brandrud) und eine der systematischen Theologie (seit 1903 vakant, ab 1906: Ording) zugeordnet waren.
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Kapitel 2: Studium der
Theologie
Als Ödland 1906 zurückgetreten und Ihlen neu hinzugekommen war, ging die eine neutestamentliche Professur also in die systematische Theologie über; dafür wurde ein Stipendiat, O l a f M o e , zum Dozenten für neutestamentliche Exegese ernannt. 5 In dem „Interregnum" zwischen dem Tod Petersens und dem Antritt Ordings wurde der Unterricht in systematischer Theologie teils von Ording in der Stellung eines Universitätsstipendiaten und teils von Jens Gleditsch, einem Pfarrer am D o m zu Kristiania, besorgt. Was den Lehrkörper betrifft, war es eine ziemlich junge Fakultät, der Mowinckel als angehender Student der Theologie begegnete. Sehen wir von dem ausscheidenden Ödland (geb. 1857) und dem Hilfslehrer Gleditsch (geb. 1860) ab, war unter seinen Lehrern Michelet (geb. 1863) der älteste; im Jahre 1903 wurde er gerade 4 0 Jahre alt. Der jüngste unter den ordentlichen Professoren war Brun (geb. 1870), der schon mit 24 Jahren Stipendiat und mit 27 Professor geworden war. Ausschlaggebend für diese frühe Ernennung waren in erster Linie seine einmaligen Examensergebnisse: laudabilis prae ceteris in allen Disziplinen. In vieler Hinsicht war er es auch, der die führende Persönlichkeit dieser jungen Theologengeneration wurde, 6 einer Generation, deren größtes Verdienst wohl nicht so sehr in ihrer eigenen Forschung besteht als in ihrer Vermittlung der Methoden und der wichtigsten Ergebnisse der zeitgenössischen, inbesondere der deutschen Universitätstheologie an ihre eigenen Studenten sowie an die norwegische Öffentlichkeit. Nicht zuletzt zu diesem Zweck gründeten Michelet, Brun und Ödland 1900 eine neue theologische Zeitschrift, „Norsk Theologisk Tidsskrift", die immer noch norwegische — und internationale — Forschung von hoher Qualität vermittelt. Abgesehen von Ording, dessen theologische Ansichten durch den harten, lang andauernden Streit um seine Ernennung sich weiter radikalisiert hatten, hielten diese ersten norwegischen Vertreter moderner Theologie einen ziemlich moderaten Kurs. Im laufenden Kirchenstreit verteidigten sie zwar hartnäckig das R e c h t der freien Forschung und das Prinzip vorbehaltloser Wahrheitssuche — auch auf dem Feld der theologischen Wissenschaft; gleich5 M o e wurde später (1916), übrigens als Nachfolger Ödlands, Professor für neutestamentliche T h e o l o g i e an der Gemeindefakultät. 6 D i e Tatsache, dass B r u n im Kirchenstreit a u f der liberalen Seite ein „ A n f ü h r e r " wurde, erklärt sich M o w i n c k e l in einem G r u ß zu dessen 50. Geburtstag ( M o w . 1920d) eher aus den „Verhältnissen" der Zeit als aus Bruns Persönlichkeit. B r u n sei nämlich „kein M a n n des Aufbruchs, keine Kämpfernatur" gewesen, sondern vielmehr „ein M a n n der stillen Arbeit und des Friedens", in dessen tiefstem W e s e n ein „konservativer Z u g " , ein „ D r a n g nach H a r m o n i e " wirksam sei. — Diesen W u n s c h nach „Frieden und H a r m o n i e " betont auch Hestvold, der Bruns Lösung als einen „Zwischenstandpunkt" zwischen Gisle J o h n s o n s „pietistischer bekenntnisverpflichtender" Auffassung und der liberalen T h e o l o g i e charakterisiert (HESTVOLD 1987: 65). - U b e r B r u n vgl. auch BRAND-
RUD 1 9 2 5 u n d A . B . A M U N D S E N
1999.
2. Die theologische Fakultät
in den Studienjahren
Mowinckcls
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zeitig verhielten sie sich aber durchaus loyal zur norwegischen Kirche, an deren gottesdienstlichem Leben sie aktiv teilnahmen. So war beispielsweise Michelet der erste Vorsitzende jenes christlichen Studentenbundes, zu dem sich 1899 mehrere ältere Vereine zusammenschlössen, und sowohl er als auch Brun dehnten ihre Unterstützung der christlichen Studentenbewegung auf die skandinavische Arena aus.7 Brun, der als Prediger hoch geschätzt war, ließ sich 1924 zum Pfarrer ordinieren, um alle liturgischen Handlungen durchführen zu können; er hat auch geistliche Lieder geschrieben, die in das amtliche Gesangbuch der Kirche aufgenommen wurden. Der theologische Unterricht in Kristiania wurde teils in der Form von Vorlesungen, teils von Seminaren und Übungen gegeben. Von Michelet und Brun wissen wir auch, dass sie eine Tradition weiterführten, die sie bei Caspari und Johnson, ihren eigenen Lehrern, kennengelernt hatten: sie luden ihre Hörer gelegentlich zu sich nach Hause ein, zu einer Art Sozietät, wo Professor und Studenten in lockerer Form mit einander umgehen konnten. 8 Vermutlich wird es aber nur den wenigsten Studenten gelungen sein, einen näheren Zugang zu ihren Lehrern zu finden. Einen Eindruck davon, wie die meisten von ihnen deren Unterricht erlebten, vermittelt der spätere Bischof Arne Fjellbu, der etwa sechs Jahre nach Mowinckel studierte: 9 Allmählich bekam ich eine gewisse Ubersicht, jedenfalls über meine Lehrer und zu einem gewissen Grad auch über das theologische Studium. In gewissem Sinne hört es sich malabarisch an, dass die theologischen Lehrer ihren Schülern gegenüber dem Prinzip aus dem Märchen folgten: „Willst du mitmachen, so häng dich an." W i r bekamen keine Anleitung, wie wir das Studium anlegen sollten. W i r guckten nach, welche Vorlesungen gehalten wurden und ließen uns mehr oder weniger zufällig ins Auditorium fallen, w o ein Professor stand und las, u m später zu verschwinden. Es war eine Mannschaft von relativ j u n g e n Professoren. Vier von ihnen galten als liberale Theologen und hatten in der ersten Phase des Kirchenstreits harte Zeiten erdulden müssen: der f r o m m e , selbstaufopfernde Simon Michelet, der blendende R e d n e r Lyder Brun, der sehr zurückhaltende Urheber des Streits, Johannes Ording, und der ausgezeichnete Pädagoge Andreas Brandrud. Ziemlich einsam ging Chr. Ihlen, der erst als älterer M a n n die Anerkennung bekam, die er verdiente.
Von den Lehrern, denen Mowinckel als Student begegnet ist, fehlen in dieser Ubersicht zwei: Ödland und Gleditsch. Der erstere von den beiden hielt in den ersten Studienjahren Mowinckels eine Vorlesungsreihe über den R ö merbrief, die ein Kommilitone so trocken und haarspalterisch fand, dass er 7 Beide haben als Redner an gemeinsamen nordischen Sommertreffen teilgenommen; Michelet war eine Zeitlang auch der Redakteur des nordischen Organs „Excelsior" (FJELLBU 1926, 1960). In seiner Gedenkrede bei der Bestattung Michelets hebt Mowinckel auch dessen unermüdliche Arbeit für die Jugend hervor (vgl. Kap. 8.3, Anm. 77f). 8
FJELLBU 1 9 6 0 : 7 8 .
9
Ebd. 75.
30
Kapitel
2: Studium
der
Theologie
sie verließ. Derselbe Student hat aber Gleditsch — neben Michelet und Brun — als einen anregenden Redner genannt, 10 und Mowinckel hat diesen von außen kommenden Hilfslehrer ebenfalls sehr hoch geschätzt.11 Zusätzlich zum normalen Unterricht seitens der Professoren und Dozenten stand den theologischen Studenten in Kristiania noch ein anderer Weg offen, auf dem sie mit dem Denken und den Methoden ihres Faches vertraut werden konnten; das waren die sogenannten „exegetischen Vereine", die seit den 1870er Jahren in der norwegischen Theologenwelt eine feste Institution sind. Der älteste unter ihnen, der den Namen „Syvstjernen" (= „Siebenstern") trug, 12 wurde 1871 gegründet; später folgten andere, darunter „Mogibah" (1873) und „Granskeren" (= „Der Forscher", 1888). Hier kamen die Mitglieder einmal in der Woche im engeren Freundeskreis zusammen, um die Interpretation eines biblischen Textes zu diskutieren. Diese Vereine hatten den Charakter eines Studentenbundes und sollten grundsätzlich nicht nur den rein fachlichen Lernprozess, sondern auch die allgemein menschliche Entwicklung der Mitglieder fördern. Die Mitgliedschaft hörte darum nicht mit dem Examen auf; diejenigen, die ihr Studium abgeschlossen hatten, blieben - sozusagen als „Väter" — mit den Jüngeren, die noch studierten, auf verschiedene Weise verbunden. Nicht selten wurden sie als Gesprächsleiter zu ihren Sitzungen eingeladen. Die exegetischen Vereine boten jedem einzelnen Theologiestudenten eine Art Heimat, in der das Bedürfnis nach Intimität und Geborgenheit gedeckt werden konnte. Eine andere Funktion hatten der gemeinsame theologische Verein sowie der allgemeine Studentenverein; das waren Foren für Auseinandersetzungen im größeren Stil über aktuelle politische oder kulturelle Fragen. Zu diesen Diskussionsabenden wurden Referenten eingeladen, die in der Öffentlichkeit R a n g und Namen hatten, und Themen von theologischer Relevanz standen nicht selten auch im allgemeinen Studentenverein auf der Tagesordnung. Die Frage nach der Rolle der Religion und der christlichen Moral in einer modernen Gesellschaft war seit den 1870er Jahren ein ständiges Streitthema, das in den verschiedensten Zusammenhängen aktualisiert wurde und nicht nur die Theologiestudenten beschäftigte. Fragen dieser Art konnte natürlich auch der christliche Studentenverein nicht unberücksichtigt lassen. Indessen geschah hier alles eben im Rahmen einer erklärt christlichen Zielsetzung, alles diente letztlich einem religiösen 10
Eivind Jensen, der spätere Bischof Eivind Berggrav, vgl. HEIENE 1992: 58f. " Zum 60. Geburtstag Gleditschs hat Mowinckel seinen ehemaligen Lehrer in einem längeren Aufsatz (Mow. 1920b) als einen der bedeutendsten Theologen und Kirchenmänner Norwegens im frühen 20. Jahrhundert porträtiert. 12 „Syvstjernen" war zur Zeit des Pietismus ein Kreis norwegischer Pfarrer, die sich auf verschiedene Weise für die Intensivierung des christlichen Lebens in ihren Gemeinden sowie im ganzen Lande einsetzten.
2. Die theologische Fakultät
in den Studienjahren
Mowinckels
31
Zweck: teils der persönlichen Erbauung der Mitglieder, teils der Aufgabe der äußeren wie der inneren Mission. Dieser Verein war in den ersten Jahren seit seiner Gründung 1899 eine führende Kraft innerhalb der skandinavischen Arbeitsgemeinschaft und stand darüber hinaus in Verbindung mit der internationalen christlichen Studentenbewegung. 1 3 E r kam früh unter Einfluss einer anglo-amerikanischen Erweckungsfrömmigkeit methodistischer Prägung, die sich von der einheimischen Tradition, die ihre Wurzeln hauptsächlich i m deutschen Pietismus hatte, durch einen dynamischeren, kämpferischeren Stil abhob. E i n amerikanischer Missionar und Studentenführer, R o b e r t P. Wilder, hielt sich in diesen Jahren zeitweise in N o r w e g e n auf und machte durch seine suggestive Verkündigung wie durch seine ganze Persönlichkeit einen tiefen Eindruck auf viele Mitglieder. 1 4 Sein W i r k e n rief eine Atmosphäre des Enthusiasmus und des missionarischen Eifers hervor, in der das innerhalb der aufkeimenden ökumenischen B e w e g u n g so optimistisch proklamierte P r o g r a m m der „Evangelisation der Welt in dieser Generation" begeisterten Widerhall fand. In die Studienzeit Mowinckels fiel ein reichspolitisches Geschehen, das sowohl Studenten als auch die ganze Bevölkerung berührte. Seit den 1890er Jahren war die 1814 dem Land aufgezwungene Personalunion mit Schweden sowohl innenpolitisch als auch im Verhältnis beider Staaten zueinander ein schwieriges Streitthema geworden, das hier wie dort manche Gemüter stark erregte. Z u m Glück gelang es den Politikern auf beiden Seiten, durch Verhandlungen einen friedlichen W e g aus der gespannten Situation zu finden; indessen war auf beiden Seiten der Grenze die Möglichkeit eines Krieges nicht auszuschließen. Nachdem der Vertrag i m September 1905 im schwedischen Karlstad unterzeichnet worden war, durfte das norwegische Volk selbst im Laufe der nächsten Monate in zwei Volksabstimmungen über sein weiteres politisches Schicksal ein W o r t mitreden. D i e erste Frage galt der endgültigen Ratifizierung des ausgehandelten Abkommens, das mit großer Mehrheit angenommen wurde; das zweite M a l stand die Verfassung zur Entscheidung: Monarchie oder Republik? D e r dänische Prinz Carl, der am ehesten als Kandidat für den norwegischen T h r o n in Frage kam, wollte nur zusagen, wenn eine klare Mehrheit der Bevölkerung damit einverstanden war. D e r Volksentscheid ließ keinen Zweifel übrig: mit Prinz Carl als K ö n i g Haakon dem 7. war N o r w e g e n — zum ersten M a l seit Jahrhunderten — w i e der eine unabhängige, selbständige Nation geworden.
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14
Vgl. FJELLBU 1 9 2 6 : 6 6 .
Ebd. 70ff, insbesondere 78; vgl. auch HEIENE 1992: 52ff.
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Kapitel 2: Studium
3. Sigmund Mowinckel
der Theologie
als Student der Theologie
a) A m 29. O k t o b e r 1908 hat sich S i g m u n d M o w i n c k e l , w i e es damals n o c h üblich war, in e i n e m selbständig f o r m u l i e r t e n Brief an die theologische Fakultät z u m abschließenden E x a m e n angemeldet. Er teilt der Fakultät hier mit, dass er i m J a h r e 1903 das „ E x a m e n p h i l o s o p h i c u m " (mit vorbereitenden P r ü f u n g e n in Griechisch u n d Hebräisch) abgelegt 1 5 u n d darüber hinaus 8 Semester T h e o l o g i e (davon 7 an der Universität) studiert hat. Ein J a h r lang hat er also — was er auch ausdrücklich bezeugt — sein S t u d i u m u n t e r b r o c h e n ; nähere I n f o r m a t i o n e n über diese U n t e r b r e c h u n g gibt er allerdings nicht. W i r wissen also weder m i t Sicherheit, w a n n sie zeitlich anzusetzen ist, noch, was M o w i n c k e l in diesem Z e i t r a u m getan hat. D e n n auch aus anderen Q u e l len lassen sich, w i e einleitungsweise schon angedeutet, leider n u r w e n i g e biographische D a t e n herauslesen: 1) In den ersten beiden M o n a t e n des Jahres 1906 hat M o w i n c k e l als Vertreter an einer Schule seiner damaligen Heimatstadt Alesund N o r w e g i s c h u n d Deutsch unterrichtet. Aus der B e s c h e i n i g u n g des Schulleiters 16 geht allerdings nicht hervor, w i e viele S t u n d e n er pro W o c h e gegeben hat. D e r Schulleiter bekennt, dass er keine Zeit g e f u n d e n habe, sich den U n t e r r i c h t des j u n g e n M a n n e s selbst a n z u h ö r e n ; er e r i n n e r t sich aber daran, dass „ R u h e u n d O r d n u n g " in seinen Klassen geherrscht hätten. 2) Wahrscheinlich hat er i m selben Jahr, 1906, i m westnorwegischen Strandort N o r d f j o r d e i d seinen Wehrdienst abgeleistet. 17 Die militärische G r u n d ausbildung dauerte damals nicht sehr lange, insgesamt 72 bis 90 Tage, aber M o w i n c k e l hat das offensichtlich gereicht. Z u m i n d e s t hat er einige J a h r e später — in e i n e m Brief an seinen j ü n g e r e n B r u d e r H e r b e r t 1 8 — ein ziemlich negatives Bild von dieser Zeit gezeichnet: Wie ich immer betont habe: ich hatte Grund, mich im Militär unwohl zu fühlen, weit mehr als du. Denn was ich zum Teufel wünsche, das war nicht die Unterkunft, nicht das Essen, nicht die Arbeit, nicht die Anstrengung, nicht die Nässe oder das Wachen, auch nicht das Sich-von-einem-„Vieh"-kommandieren-lassen (übrigens waren sie schließlich Menschen, sie auch, und wenn du ihnen nicht auf die Zehen tratst, traten sie dir in der Regel auch nicht auf die Zehen), sondern was ich zum Teufel wünsche, das war die Einsamkeit, die Unmöglichkeit, mit einem einzigen zivilisierten Menschen sprechen zu können. Das war selbstverständlich in hohem 15 Aus der Matrikel der Universität Oslo aus dem Jahre 1904 geht hervor, dass M o winckel das Examen philosophicum mit folgendem Ergebnis abgeschlossen hat: Philosophie 2 („sehr gut"), Griechisch 1 („ausgezeichnet"), Botanik 3 („gut"). 16 K. Bassoe, 21.5.1909. 17 Zumindest findet sich sein Name in der Auslosungsliste für das Jahr 1906 (Moide krigskommissariat). 18 Gießen 26.4.1912.
3. Sigmund Mowinckel als Student der Theologie
33
Grade meine eigene Schuld; ich war damals nicht geschmeidig genug, hatte vielleicht snobistische Anschauungen; es ist eine Tatsache, dass man vom U m g a n g mit einem sogenannten einfältigen Menschen ebenso viel Unterhaltung und Freude haben kann wie mit einem sogenannten gebildeten; unter ihnen können eigentümliche Persönlichkeiten sein; aber dank der akademischen Ausbildung war ich zu wenig flexibel, u m von j e n e n Leuten den rechten G e w i n n zu haben, den sie vielleicht hätten geben können. N u n — das Ergebnis: ich war komplett solo. W u r d e aus e i n e m verdammt gemütlichen Umgangskreis in Kristiania herausgerissen und saß in einer einsamen Zelle. Das wünschte ich z u m Teufel.
3) Als Mowinckel zum Militärdienst einberufen wurde, war er gesund und durchaus wehrpflichttüchtig. Indessen hat er sich während dieser Zeit eine Krankheit, wahrscheinlich eine Brustfellentzündung, zugezogen, die ihn dazu zwang, 11—12 Wochen das Bett zu hüten; hinterher folgte noch eine längere Zeit der Rekonvaleszenz, die ihn zwar von der Universität fernhielt, aber — wie wir gleich sehen werden — dennoch für seine akademische B i l dung von Bedeutung werden sollte. 19 Auf diese wenigen Einzelheiten beschränkt sich unser Wissen von der äußeren Lebensgeschichte des Theologiestudenten Sigmund Mowinckel. Zweifellos wird ihn aber ein dramatisches Geschehen am 23. Januar 1904 tief betroffen haben. Damals wurde Alesund von einem katastrophalen Brand heimgesucht, der den ganzen zentralen Stadtteil, der im Wesentlichen aus Holzhäusern bestand, in Schutt und Asche legte. In den folgenden Jahren wurde die Stadt im zeitgenössischen Jugendstil wieder aufgebaut und erhielt so einen einheitlichen, modernen Charakter, der das Stadtbild heute noch prägt. Die Kirche, in der Vater Mowinckel seit wenigen Jahren zweiter Pfarrer war, ging auch im Brand verloren; die neue wurde 1909 eingeweiht. Mowinckels eigener Familie ging es im Brand wie so vielen anderen: ihr Haus brannte ab und sie konnte nur das Notwendigste retten; bis auf weiteres fand sie Unterkunft bei einer befreundeten Familie außerhalb der Stadt. Der Vater, der sich an den Räumungsarbeiten und am Wiederaufbau beteiligte, wurde in einem Zimmer in der Stadt einquartiert, bis die Familie % Jahr später eine winzige 2-Zimmerwohnung am äußersten Stadtrand bekam und endlich — etwa 2 Jahre nach dem Brand — in ein ordentliches Haus einziehen konnte. 2 0 b) Trotz des Mangels an biographischen Informationen wissen wir einiges darüber, was im Inneren des jungen Mowinckel vorgegangen ist. In seiner eigenen biographischen Skizze aus dem Jahre 1927 hat er nämlich eine Art 1 9 Diese Daten ergeben sich teils aus der Skizze 1927, teils aus Mowinckels K r a n k e n journal („Anamnese") aus dem Sanatoriumsaufenthalt im Jahre 1913 (vgl. dazu Kap. 5.1.a). 20
SOLLIED 1 9 4 0 : 7 8 .
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Kapitel 2: Studium
der Theologie
Rechenschaft gegeben über seine Beweggründe, Theologie zu studieren, über seinen akademischen Reifungsprozess sowie über jene Anfechtungen persönlicher Art, die gerade mit dem Studium der Theologie verbunden waren. An sich war der junge Mowinckel schon von seinem Elternhaus her wenigstens ein Stück weit für die theologische Ausbildung prädisponiert; nicht wenige Pfarrerssöhne schlugen mehr oder weniger selbstverständlich diese Richtung ein. Im Falle Mowinckels handelte es sich aber um etwas anderes und mehr als eine rein traditionsbestimmte Berufswahl: 21 Was mich von Anfang an zur Theologie trieb, war - glaube ich — in erster Linie ein theoretisches Interesse, das Bedürfnis, zu wissen, wie es mit dem auf sich habe, wovon die Religion erzählte, und was wirklich sei an dem, was über die Religion gesagt wurde; dass sich dieser unklar bewusste wissenschaftliche Drang in R i c h tung der Religion wandte, ist natürlich auf die religiösen Eindrücke z u r ü c k z u f ü h ren, die ich von Haus aus hatte, die bewirkten, dass mir dieser Lebensbereich als einer der wichtigsten galt, innerhalb deren man sich orientieren müsse.
Auf dieser Grundlage hat Mowinckel das Studium der Theologie angefangen. Und schon bald ist er über die eigentliche Richtung seiner Interessen zu etwas größerer Klarheit angelangt: Sehr bald trat auch mein - vermutlich ererbtes - historisches Interesse hinzu, und es wurde mir klar, wozu mir das Studium verhelfen sollte; es handelte sich darum, ausfindig zu machen, was sich innerhalb der biblischen Geschichte wirklich zugetragen hatte, und welche Zusammenhänge es darin gebe. — Die religiösen Lebenserfahrungen und geistigen Werte aus der Vergangenheit, mit denen ich auf diese Weise in B e r ü h r u n g kam, hatten selbstverständlich auch Bedeutung f ü r meine eigene Entwicklung.
In seinen ersten Studienjahren hat sich Mowinckel mehr oder weniger regelmäßig an den Aktivitäten des allgemeinen Studentenvereins beteiligt. Als er nach anderthalb Jahren die vorbereitenden Prüfungen abgeschlossen hatte und sich erst recht dem Studium der Theologie widmen konnte, neigte sich sein Interesse mehr auf den theologischen Verein und den engeren Kameradenkreis in der theologischen Fakultät zu. Unter den exegetischen Vereinen hat er sich „Granskeren" ausgewählt, 22 zu dessen Gründern Simon Michelet gehört hatte. Man kann sich leicht vorstellen, dass der damals tobende Streit um die Ernennung des Nachfolgers Petersens auch unter den Studenten Anlass zu heftigen Diskussionen gab. Mowinckel betont aber, dass sein Umgang — und zwar „sowohl aus Instinkt als auch aus Prinzip/Gefühl" — nie einseitig theologisch war; seine Freunde hat er in fast allen Fakultäten gefunden, und 21
Skizze 1927. Zu der „Jubiläumsschrift" des Vereins im Jahre 1938 (einem diesem Zweck eigens gewidmeten Heft der N T T ) hat Mowinckel zusammen mit anderen „Vätern" einen Beitrag geliefert (Mow. 1938c). 22
3. Sigmund Mowinckel als Student der Theologie
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außer den eigentlichen Fachstudien hat er „nicht wenig" Geschichte, Literaturgeschichte und Belletristik gelesen. Zu dieser seiner außerfachlichen Lektüre haben nicht zuletzt Studien über die altnordische Mythologie von Finnur Jonsson, Sophus Bugge und Henrik Schück gehört; hier konnte der junge Theologiestudent sehen, wie dieselben literaturhistorischen M e t h o den, die er aus dem Studium des Alten Testaments kannte, auch auf ganz anderen Gebieten verwendet wurden. 2 3 Es war vornehmlich ein „theoretisches" Interesse, das Mowinckel zur Theologie trieb; „das rein persönliche Lebensinteresse am Christentum" war dagegen nach seinem eigenen Eindruck damals schwächer ausgeprägt. Und in der enthusiastischen Atmosphäre des christlichen Studentenvereins hat er sich offensichtlich nicht besonders wohl gefühlt. Vor dem „einseitig und zum Teil agitatorisch Aufdringlichen in dessen Geist und Arbeit" habe er eine „instinktmäßige Furcht" empfunden; dort sollte man — schien es ihm — „fertig" sein, ehe man es der Sache der Natur nach sein konnte. Das Heranreifen einer genuin persönlichen Religiosität brauchte in seinen Augen mehr Zeit; zumindest musste er selbst durch einen längeren Reifungsprozess hindurch, in dem sein Glaube durch die Feuerprobe der kritischen Vernuft und des historischen Wissens geläutert werden musste: Was für mich — wie für so viele andere — besondere B e d e u t u n g erlangte, war die unbarmherzige persönliche Wahrheitsforderung, die sich aus der sog. „modernen T h e o l o g i e " und ihrer starken B e t o n u n g des Erlebnisses als der Grundlage der R e ligion und des persönlich empfundenen Werturteils als der F o r m der religiösen Erkenntnis ergab und sich für j e d e n Theologiestudenten unvermeidlich stellen musste .... D e r R u f lautete: bis in den K e r n hinein, zum Ursprünglichen, u m von dort aus unterscheiden zu können zwischen Inhalt und F o r m — und auf dem historischen Gebiet: zurück zu Jesus und den ältesten Quellen - und das Interesse, den Z u s a m m e n h a n g in den G r i f f zu b e k o m m e n , wurde allmählich stärker persönlich gefärbt. Andererseits führte die starke persönliche Forderung der Wahrheit und der Zuverlässigkeit, die notwendigerweise die ganze Einstellung der modernen „ T h e o logie des Erlebnisses" begleitete, nicht nur zur Opposition gegen alle religiösen Autoritäten, sondern auch — bei mehreren unter uns — zu einer bisweilen überspannten Selbstprüfung, die oft negativer auszufallen schien als das, was die W i r k lichkeit nahelegte. Angesichts der herkömmlichen Lehrsätze der Kirche, der F o r men der Liturgie und der Bekenntnisse der Kultlieder stellte sich ständig die Frage: Kannst du dies sagen? kannst du das mitmachen?
Mit solchen Fragen also hat sich Mowinckel während seines Studiums ernsthaft herumgeschlagen; zum einen ging es ihm um seine persönliche Stellung zum Inhalt und zu den Formen der kirchlichen Tradition, zum anderen um den Wert seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse als Basis für eine authentische Religiosität, für einen persönlich verankerten Glauben. Jene 23
Vgl. Mow. 1957e: 120.
36
Kapitel 2: Studium der Theologie
mehrwöchige Krankheits- und Genesungsperiode, während deren er nach dem Wehrdienst seine Studien unterbrechen musste, scheint diesen Prozess der religiösen Selbstfindung intensiviert zu haben, ohne dass derselbe vorerst zu einer definitiven Lösung, zu ausgeglichener Klarheit gekommen ist: 2 4 In meinem Fall führte dies zu einer ständig ernsthafteren Auseinandersetzung, 25 verstärkt, weil ich während einer Krankheit, die ich mir in der Rekrutenzeit zuzog, und der langwierigen Rekonvaleszenz hinterher viel Zeit zum Nachdenken bekam. Mein Weg ging durch Ludwig Feuerbach und G. Brandes26 als notwendige Durchgangsstadien hindurch, und sowohl vor als nach dem Staatsexamen im 2. Semester 1908 (cand.) lag es darum ganz außerhalb meiner Vorstellung, eine Pfarrstelle zu beantragen; ich hatte mehr als genug damit, darüber ins Reine zu kommen, wie die Dinge zusammenhingen und wie ich zu ihnen stand. A m Ende seines Studiums war Mowinckel also nicht in dem Sinne ein voll ausgereifter Theologe geworden, dass er an den Pfarrdienst denken konnte. Den theoretischen Stoff seines Faches hatte er sich aber, wie sein Examensergebnis — laudabilis — bezeugt, in durchaus befriedigender Weise angeeignet. Die schriftlichen Prüfungen im November 1908 umfassten folgende Aufgaben: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Ubersetzung und Interpretation von Ps. 110. Ubersetzung und Interpretation von Gal. 3,21—27. Die Gesetzmäßigkeit der Welt und der christliche Glaube an Gott. Die christliche Charakterentwicklung und die Versuchung. Der ethische Grundgedanke Jesu nach der Bergpredigt. Die Entwicklung des Episkopats bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts.
Zusammen mit Mowinckel haben 16 andere Kandidaten diese Aufgaben mehr oder weniger befriedigend gelöst und auch die nachfolgende mündliche Prüfung bestanden. Bemerkenswert an diesem Jahrgang ist aber vor allem die hohe Zahl von Kandidaten, die später in der Theologie und der Kirche Norwegens von sich hören ließen. Zwei unter ihnen übernahmen — wie Mowinckel — früher oder später einen Lehrstuhl in der theologischen Fakultät: O l u f Kolsrud für Kirchengeschichte (Stipendiat 1909, Dozent 2 4 In einem längeren Brief an Gunkel (Kristiania 23.3.1921) blickt Mowinckel ebenfalls auf diese „Epoche" seiner „geistigen Entwickelung" zurück, in der er „keine persönlich begründete Religion hatte" und deswegen der Meinung war, „zum ReligiösSein kein R e c h t " zu haben, weil er „nichts ,erlebt' hatte" und sich darum „bewußt für einen modernen Griechen und Heiden" erklärte (vgl. auch SMEND 2004: 163 und Kap. 4 , Anm. 2 1 ) . 2 5 Norwegisch: opgjor; im Text überstrichen: „Krise". 2 6 Georg Brandes (1842—1927), dänischer Literatur- und Religionskritiker, der zum Durchbruch der Moderne in Norwegen in den 1870er Jahren wesentlich beigetragen hat.
3. Sigmund Mowinckel als Student der Theologie
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1916, Professor 1921) und Hans Ording für systematische Theologie (1939). Kolsrud zeigte schon früh ein außergewöhnliches Interesse und Talent für Sprachstudien und Geschichtsforschung und ging direkt vom Studium in eine akademische Laufbahn über; 2 7 Ording trat zunächst in den Pfarrdienst ein, war zwischen verschiedenen Pfarrämtern einige Jahre (ab 1916) Stipendiat, fand aber auch als Pfarrer Zeit zu weiteren Studien. 2 8 Peter Marstrander kam ebenfalls nach einigen Jahren als Pfarrer zu einem theologischen Stipendium (1917—1925) und wurde danach Leiter des praktisch-theologischen Seminars an der Universität (1926—1953). Sten Bugge, ein bedeutender China-Missionar, verbrachte mehrere Jahre im Fernen Osten und wurde nach seiner Rückkehr 1934 eine führende Gestalt in der norwegischen O x ford-Gruppenbewegung. Keiner von ihnen hat wohl aber einen solchen R u f erlangt wie jener Kommilitone, der in der Matrikel unter dem eher prosaischen Namen Eivind JosefJensen erscheint, der aber später — als Bischof von Oslo während des zweiten Weltkriegs sowie als Mitglied des Präsidiums (1950—1954) des 1948 gegründeten Weltkirchenrates — unter dem Namen Eivind Berggrav weltweit bekannt werden sollte. U b e r Mowinckels Verhältnis zu diesen gleichzeitigen Studenten der Theologie wissen wir so gut wie nichts. Mit allen bekam er aber - in der einen oder anderen Weise — im weiteren Verlaufseines Lebens zu tun. In den folgenden Kapiteln werden sie darum alle hier oder dort wieder auftauchen; einigen davon werden wir sogar als seinen nächsten Freunden noch einmal begegnen.
27 28
Ü b e r Kolsrud: A . S E I E R S T A D 1 9 3 6 ; B R A N D R U D Ü b e r Ording: I H L E N 1 9 4 9 ; B E R G G R A V 1 9 5 2 .
1946.
Kapitel 3
Zwischen Studium und Stipendium Als frischgebackener Kandidat der Theologie hat sich Sigmund Mowinckel, wie wir gesehen haben, für den Pfarrdienst noch nicht reif gefühlt. Stattdessen ist er allmählich zu der Einsicht gekommen, dass er vielleicht wissenschaftlich veranlagt sei und in diese Richtung seinen Lebensweg gehen könnte. Den praktisch-theologischen Studiengang, der damals ein Semester lang dauerte, hat er darum nicht mitgemacht. Er hat sich von seinem Vater die Erlaubnis eingeholt, ein weiteres Semester an der Universität Theologie zu studieren, um eine erste theologische Abhandlung zu schreiben. Zu diesem Entschluss hätten ihn, wie Mowinckel später dankbar bezeugt, vor allem zwei seiner Lehrer ermuntert: Jens Gleditsch und Johannes Ording. Sie hätten, vermutet Mowinckel, etwas von dem, was damals in ihm vor sich ging, geahnt und verstanden. Als zusätzlichen Grund dafür, diesen Versuch zu machen, nennt Mowinckel übrigens auch „ein nicht besonders nobles, und sicherlich auch nicht ganz berechtigtes Gefühl", dass er eine „zu schlechte Examenszensur" bekommen habe.1 Weil diese Erstlingsarbeit Mowinckels in norwegischer Sprache geschrieben wurde und darum wenig bekannt geworden ist, 2 soll sie hier wenigstens in ihren Hauptzügen in einem eigenen Abschnitt relativ ausführlich präsentiert werden. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels rückt wiederum die B i o graphie Mowinckels, so weit sie sich innerhalb dieses Zeitraums rekonstruieren lässt, in den Vordergrund des Interesses: Wie ist es diesem begabten Kandidaten der Theologie in seinen ersten Jahren nach dem Examen sonst ergangen, und was hat er getan, um sich auf ein zukünftiges Leben, das seinen Interessen und Fähigkeiten entsprechen würde, vorzubereiten? i. Die erste theologische
Abhandlung
Schon in seiner ersten theologischen Veröffentlichung hat sich Mowinckel für jene Disziplin entschieden, die zeit seines Lebens sein Arbeitsfeld bleiben sollte: das Alte Testament. Was hat seine Interessen in gerade diese Richtung Skizze 1927. In seiner ausführlichen Besprechung der wichtigsten Arbeiten M o w i n c k e l s bis 1 9 2 3 geht auch Gustav Hölscher (HÖLSCHER 1 9 2 3 ) nicht auf diesen ersten Aufsatz ein. 1
2
1. Die erste theologische
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Abhandlung
geleitet? Als seine wichtigste Inspirationsquelle hat M o w i n c k e l selbst die bahnbrechenden Studien H e r m a n n Gunkels hervorgehoben, die i h m damals so viele neue Perspektiven öffneten. 3 Sein Verhältnis zu den eigenen Lehrern in Kristiania scheint die Wahl seines weiteren Studienweges kaum beeinflusst zu haben. Es war j e d o c h nicht die Psalmen-, sondern die Prophetenforschung, die den j u n g e n Kandidaten im Frühjahr 1909 zu seinem ersten wissenschaftlichen Versuch herausforderte. D i e Abhandlung wurde in der F o r m von zwei Aufsätzen in die Jahrgänge 1909 und 1910 der „Norsk Theologisk Tidsskrift" aufgenommen: „ O m nebiisme og profeti" (1909, „ U b e r Nebiismus und Prophetie") und „Profeternes forhold til nebiismen" (1910, „Das Verhältnis der Propheten zum Nebiismus"). W e n n man bedenkt, dass der Autor sozusagen direkt vom E x a m e n kam, wird man schon von dem fachlichen Selbstbewusstsein beeindruckt, das in dieser Arbeit zum Ausdruck kommt. M o w i n c k e l spricht hier wie ein voll befahrener Fachmann und scheut sich nicht, für oder gegen die unbestrittenen Autoritäten der Z u n f t — und hießen sie auch D u h m , Smend, Stade oder Wellhausen — Stellung zu nehmen. Auch in schwierigen literarkritischen Fragen tritt er selbständig und selbstbewusst hervor, wie etwa in einer längeren Prüfung der Abschnitte 6,1—9,6 des Jesajabuches. 4 a) I m Z e n t r u m des ersten Teils der Abhandlung steht der nabi, den M o winckel als religiösen Typus genauer zu bestimmen versucht, indem er ihn von den beiden anderen verwandten Typen, dem Seher und dem Priester, unterscheidet. O b w o h l er der Glosse in 1. Sam 9,9 nicht glaubt, dass es sich bei dem Nabi u m den direkten Nachfolger des Sehers handelt, hält er diese Notiz insofern für zutreffend, als der Seher „als eigene Stellung" allmählich verschwunden sei und seine Funktionen auf den Nabi übergegangen seien. 5 D e n grundlegenden Unterschied zwischen beiden Typen erläurtert M o winckel durch den psychologischen B e g r i f f der Besessenheit, den er dem Nabi vorbehalten w i l l : 6 D e r S e h e r und der T r ä u m e r sind nicht Besessene, evfreoi; sie sind i m G e g e n t e i l 8(XUTÜ)V, außer sich; ihre Seele handelt a u f eigene Faust, sie sind in Ekstase.
Der
N a b i , dagegen, ist Evfreog; er spricht nicht selber, sondern ein anderer in i h m .
3 Skizze 1927: „Dass sich mein wissenschaftliches Interesse insbesondere auf das Alte Testament und den O r i e n t konzentrieren sollte, ist w o h l besonders auf die Lektüre von H . Gunkels Arbeiten, mit deren neuen Gesichtspunkten und nach den derzeitigen V e r hältnissen weitem Horizont, zurückzuführen." 4 M o w . 1910: 3 3 9 - 3 4 9 . 5 M o w . 1 9 0 9 : 192. 6 E b d . 196.
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Kapitel 3: Zwischen
Studium
und
Stipendium
Der Nabi ist nach dieser Auffassung also kein Ekstatiker, sondern ein Enthusiast; er wirkt dadurch, dass ein anderer — ein Gott oder der Geist eines Gottes — ihn in seine Macht zieht und durch ihn wirkt. Aus der Besessenheit als dem Wesen des Nebiismus erklären sich für Mowinckel all seine Eigentümlichkeiten, darunter auch die orgiastischen Kultformen und jene „nervös-krankhaften" Leib- und Gemütszustände, die für „die primitive Betrachtung" ein Symptom dafür sind, dass ein fremder Geist den Menschen in seinen Besitz genommen hat. 7 Mit Hinweis auf mehrere religionshistorische Parallelen, insbesondere auf die islamischen Derwisch-Orden und den sibirischen Schamanismus, definiert Mowinckel den Nebiismus schließlich als „primitive Mystik", 8 ein Phänomen, das er auch in einigen vorderorientalischen Nachbarkulturen des alten Israel vorfindet; er kann in diesem Zusammenhang auf die Kulte solcher Gottheiten wie der syrischen Atargatis und der phrygischen Kybele hinweisen, erwähnt aber auch den kanaanäischphönizischen Adonis, obwohl er das mangelhafte Wissen, das man damals von dieser Religion hatte, beklagen muss.9 Aus dem Wesen des Nebiismus als „primitiver Mystik" erklärt nun aber Mowinckel auch das Wirken des Nabi, das ausschließlich praktisch und utilitaristisch ausgerichtet gewesen sei. Ein spezifisch religiöses Interesse sei hier nicht zu entdecken, es gehe — wie in der Schamanenpraxis weltweit — grundsätzlich um Mantik und Magie. Beseelt durch göttliche Kraft tritt der Nabi einerseits als Wahrsager hervor, der die Zukunft vorhersagen kann, andererseits als Magiker, der kraftvolle Handlungen bewirkt, die für das Leben des Einzelnen wie das Bestehen und Gedeihen der Gemeinschaft von größter Bedeutung sind. Zu den zentralen Aufgaben des Nabi gehören darum sowohl Heilungen als auch politische Agitation. Der Nabi sagt die Zukunft nicht nur voraus, durch seine magische Kraft bewirkt er sie auch. Kein W u n der also, dass der Nabi seine gesellschaftliche Stellung befestigen und weiter ausbauen konnte: „Wie sich der Priester allmählich durch Kultus und Jurisdiktion unentbehrlich machte, ist der Nabi für das tägliche Leben des Einzelnen — und des Staates — unentbehrlich geworden." 10 b) Nachdem sich Mowinckel in seinem ersten Aufsatz um „ein historisches Bild des vorkanonischen Nebiismus" bemüht hatte, geht es ihm im zweiten Teil seiner Abhandlung darum, das Verhältnis der alttestamentlichen Schriftpropheten zu diesem Nebiismus etwas genauer zu untersuchen. Zwei Fragen bestimmen den Gang dieser Untersuchung: 1) wie war die Stellung dieser Propheten zum Nebiismus, was ihr Urteil darüber? und 2) wie haben sie sich 7 8 9 10
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
216. 217. 222. 360.
1. Die erste theologische
Abhandlung
41
persönlich dazu verhalten? was ist ihre Verbindung damit gewesen? Aus der Beantwortung dieser Fragen erhofft sich Mowinckel ein klareres Licht über die Haltung, die diese Männer zu den „religiösen und autoritativen Institutionen" ihrer Zeit einnahmen, und von daher wiederum über die Art und Form ihrer persönlichen Berufung. Sein Ausgangspunkt ist dabei ein grundlegender Zweifel an der Existenz eines „Propheteninstituts" nach dem Idealbildjüdischer und christlicher Theologie, ein Zweifel, der in der Hypothese zusammengefasst wird, „dass eine derart mystische, unklare und f ü r dogmatische Streitigkeiten willkommene religiöse Institution wie ,der Prophetismus' keine Wurzel in der Wirklichkeit hat, sondern eine Theorie späterer Wissenschaft ist." Im Gegenteil müsse es jetzt darum gehen, diese Gestalten eben als Persönlichkeiten zu klären: „Es handelt sich nicht u m einen Prophetismus, sondern u m die Propheten. Nicht der vernebelte Allgemeinbegriff, sondern die Männer haben das Interesse." 11 Aus seiner Untersuchung schließt nun aber Mowinckel schon von vornherein die meisten Männer aus, die traditionell als „Nebiim" bzw. „Propheten" gelten. Von Ezechiel, Haggai und Sacharja kann er schon deswegen ganz einfach absehen, weil er sie als wirkliche Nebiim versteht, die restlos in diesem R a h m e n zu erklären seien. Nachdem er danach eine Reihe Prophetenbücher als poetische Werke ganz anderer Art — als Tendenzdichtung oder Lyrik ohne jeglichen Einschlag von Nebiismus oder Prophetie — ausgegrenzt hat, bleiben als Gegenstand der Untersuchung die vorexilischen Propheten Arnos, Hosea, Micha, Jesaja, Zephanja u n d j e r e m i a zurück. U n d über deren Urteil über den Nebiismus bzw. ihre Verbindung mit ihm kann Mowinckel abschließend feststellen: 1) dass diese Männer den Nebiismus „bedingungslos" verworfen hätten, weil der sittliche Standard der Nebiim ihrem sozialen Einfluss keineswegs entsprochen habe, und 2) dass die untersuchten Propheten niemals als Nebiim eines echteren oder besseren Schlages hätten gelten wollen; sie hätten ihr Recht und ihre Autorität niemals mit Hinweis auf nebiistische Kräfte begründet: „Das Bewusstsein von Besessenheit durch den Geist, von Enthusiasmus, schimmert in ihren R e d e n oder Gedichten an keiner Stelle durch." 1 2 U m seine „Propheten" ins rechte Licht zu stellen, greift Mowinckel in seinen abschließenden Erwägungen nun doch auf Ezechiel zurück, der zwar ein Nabi gewesen sei, aber — wie es jetzt etwas genauer heißt: nicht ganz der üblichen Art: 1 3 Er war ein M a n n , der seiner Zeit etwas Bestimmtes zu sagen hatte; er fühlte eine Berufung, er war unter einem Zwang. U m sich selbst und anderen dies zu erklären, " Mow. 1910: 129. 12 Ebd. 355. 13 Ebd. 355f.
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Kapitel 3: Zwischen Studium und Stipendium ist er Nabi geworden. Sein Berufungsbewusstsein in Verbindung mit seinen leiblichen und seelischen Dispositionen b e w i r k t e , dass er auf die Frage, w o dies h e r k o m m e , a n t w o r t e n musste: von der Besessenheit durch den Geist J a h w e s . Diese E r k l ä r u n g kleidete von selbst sein W i r k e n in die nebiistischen F o r m e n , j e d o c h i m m e r mit d e m t i e f b e g r ü n d e t e n Unterschied, dass er des Geistes und der O f f e n b a r u n g e n harrte und sie empfing, die N e b i i m sie dagegen b e w i r k t e n und e r zwangen.
Indem Ezechiel als Mittler zwischen Gott und Mensch auftreten wollte, hat er, so Mowinckel, eine der damals möglichen Formen der Vermittlung annehmen müssen: die des Nabi oder die des Priesters. So ist Ezechiel zum Nabi geworden. In dieser Form seien also j e n e anderen „Propheten" nicht aufgetreten. Sie hätten keinen Anspruch darauf erhoben, Mittler zwischen Gott und Mensch, Offenbarer Jahwes zu sein; und dennoch hätten sie sich das R e c h t genommen, die legitimen Autoritäten zu richten. Sie seien Laien gewesen, die behauptet hätten, den Willen und die Pläne Jahwes besser zu kennen als sowohl Priester als auch Prophet. Eben darin sieht also Mowinckel das Neue und Wesentliche bei diesen Persönlichkeiten: „eine neue Begründung ihres religiösen Bewusstseins, sei es ihnen nun klar oder nicht". 1 4 c) Die Abhandlung Mowinckels über Nebiismus und Prophetie zeigt deutlich, wie eng die norwegische Universitätstheologie damals mit der deutschen verbunden war. Alle Gesprächspartner Mowinckels sind führende deutsche Alttestamentler, und so gut wie sämtliche bibliographischen H i n weise betreffen deutschsprachige Literatur; die einzigen Ausnahmen kommen aus der Religionswissenschaft: ein klassisches Werk eines Amerikaners über die islamischen Derwische, 1 5 ein französischer Aufsatz eines Polen über den jakutischen Schamanismus 1 6 und schließlich das — deutsch verfasste — Lehrbuch des Niederländers Chantepie de la Saussaye.17 Als theologischer Debütant folgt Mowinckel eindeutig der Linie der „modernen, sogenannt historischen" Auffassung der Propheten, die er der „traditionellen" gegenüberstellt und als deren typischen und schulbildenden Repräsentanten er Wellhausen anerkennt. Nur in dem Vorwurf, dass die allgemein herrschende Schultheologie darin mit der jüdisch-christlichen Tradition übereinstimme, dass sie das Prophetentum als ein Israel eigentümliches „Institut" betrachte, weicht er grundlegend von ihr ab. 18 Indessen ist dieser Begriff, wie ihn Mowinckel hier verwendet, nicht hinreichend präziEbd. 3 5 6 . J . P. BROWN: T h e Dervishes, or Oriental Spiritualism, London 1868. 16 W. SIEROSZEWSKI: D u Chamanisme d'après les croyances des Yacoutes, in: R H R 46/1902: 204-233.299-338. 17 P.D. CHANTEPIE DE LA SAUSSAYE: Lehrbuch der Religionsgeschichte, Freiburg i.B. 1 8 8 7 / 1 8 8 9 , 3. Ausg. Tübingen 1905. 18 Mow. 1910: 126f. 14
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2. Auf der Suche nach einer Zukunft
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siert, so dass man sich wohl fragen kann, ob er durch diesen groß angelegten Aufsatz der alttestamentlichen Forschung wirklich so viel Neues bringt, wie er es selber gemeint haben mag. Mit dem Bild, das er von den behandelten Propheten — von Arnos bis Jeremia — zeichnet, scheint er sich zumindest in der Hauptsache nicht allzu weit von der gängigen Schultheologie entfernt zu haben. Und selbstkritisch hat er später eingeräumt, dass er den Unterschied zwischen den Propheten und den Nebiim hier „etwas übertrieben" dargestellt habe. 1 9 Aufjeden Fall aber hat der junge Mowinckel mit dieser seiner ersten Arbeit überzeugend dokumentiert, dass er schon im Stande war, auf dem Feld der alttestamentlichen Wissenschaft sachkundig und methodisch kompetent zu arbeiten. Er beherrscht nicht nur die Kunst der literarischen Kritik, er hat auch das Prinzip der Komparation verstanden und zieht mehrmals religionshistorisches Material zum Vergleich heran — und zwar nicht nur aus den nächsten vorderorientalischen Nachbarkulturen Israels. So versteht er sich eben als alttestamentlicher Theologe zugleich als Religionswissenschaftler; wie es in der damaligen protestantischen Universitätstheologie üblich war, zieht er überhaupt keine scharfe Trennungslinie zwischen Theologie und allgemeiner R e ligionsgeschichte. Dass er wie fast alle zeitgenössischen Vertreter dieser beiden Disziplinen ganz unbefangen und ohne Problembewusstsein von einem evolutionistischen Interpretationsmodell ausgeht, nach dem Religionen — wie die sie hervorbringenden Kulturen — auf „niedrigere" oder „höhere" Entwicklungsstufen eingeordnet werden, kann einen eigentlich nicht überraschen. Nach diesem Schema werden denn auch von Mowinckel die unterschiedlichen Erscheinungsformen der einzelnen historischen Traditionen im H i n blick auf ihren religiösen Wert gemessen, und so, wie er beispielsweise einige islamische Derwisch-Orden 2 0 oder den jüdischen Pharisäismus 21 charakterisiert, gibt er sich auch unter diesem Blickwinkel als ein echter Schüler des protestantischen Liberalismus zu erkennen. 2. Auf der Suche nach einer Zukunft a) Auch für die ersten Jahre nach Mowinckels theologischem Examen sind die Quellen zu seiner Lebensbeschreibung relativ bescheiden. Indessen kommen zu seiner biographischen Skizze jetzt einige wenige Briefe hinzu. Der 19 Vgl. z.B. Mow. 1923a: 15, Anm. 1 (vgl. auch Kap. 9.1.c, Anm. 41) und Mow. 1934d: 206, Anm. 26 ( = norw. 1935b: 8, Anm. 3). 2 0 Das Derwisch-Wesen sei teilweise zu „reinen Vorführungen entartet" (Mow. 1909: 217) und gilt Mowinckel überhaupt als eine „Verrohung" des Islams (ebd. 218). 2 1 Eine lehrreiche Parallele zum wirkungsvollen Urteil der Propheten über die nebiim sieht Mowinckel in der Polemik Jesu gegen die Pharisäer; von deren „unbrauchbarer" Religionsform habe Jesus nicht „das Berechtigte daran" verworfen: „den religiösen Ernst, den er selber geteilt hat" (Mow. 1910: 354f).
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Kapitel 3: Zwischen
Studium
und
Stipendium
erste ist im Frühjahr 1909 (5. Mai) in Kristiania an seinen Bruder Herbert geschrieben und bestätigt, dass der theologische Kandidat in den letzten Monaten recht fleißig gewesen ist. Er habe „wie ein Pferd" gearbeitet, weder rechts noch links geschaut und in diesem einen Semester mehr Hebräisch gelesen als während der ganzen Studienzeit. Er spricht auch von Lateinunterricht, den er nebenher gibt, und den er jetzt, wo das Wetter frühlingshaft schön, ja fast sommerlich warm sei, am liebsten in weite Ferne verbannen möchte. Ein Arbeitsbericht ist dieser Brief des älteren Bruders an den jüngeren allerdings nicht. Gleich eingangs präsentiert der Absender sein Anliegen: er braucht Geld. Mit seinem „fast abgenutzten blauen Anzug" komme er nicht mehr aus, wenn er nicht „wie ein Lümmel" aussehen möchte. Ausnahmsweise will er sich darum in Kristiania einen Anzug schneidern lassen — und zwar „mit dem Schnitt und der Farbe der letzten Mode". Da steht er nun allerdings vor der Tatsache, dass er die „eigentliche" Farbe — grau — im Grunde nicht mag. Darum neigt er zu einer alternativen, ebenfalls gängigen Lösung: braun mit violetten Streifen. Auf jeden Fall müsse ihm sein Bruder — es handelt sich eher um eine Forderung als eine Bitte — 70 Kronen leihen und ihm das Geld schleunigst senden. Allerdings verspricht der Leiher gleichzeitig, sein Darlehen im Laufe des Sommers zurückzubezahlen. Auch das, was dieser erste Brief Mowinckels, der erhalten geblieben ist, sonst über seinen verlängerten Aufenthalt in Kristiania mitteilt, fällt zum größten Teil in den Bereich alltäglicher Trivialitäten. Hier ist, wie schon angedeutet, vom frühsommerlichen Wetter die Rede. Zu dieser Jahreszeit mag Sigmund seine Bude nicht mehr; da sie im Erdgeschoss liegt, scheint die Sonne nur zwei kurze Stunden herein. Sehnsüchtig wünscht er sich ein Segelboot, um sich auf den unwiderstehlich verlockenden Fjord hinausbegeben zu können. Zumindest werde er aber am kommenden Samstag wahrscheinlich an einer „Feier" (Mowinckels Anführungszeichen!) der Theologen teilnehmen, obwohl er den betreffenden Ort („Wilhelmshoi") langweilig finde. Ausschlaggebender Grund für das Mitkommen: die frische Luft in der Höhe sei für die Gesundheit gut. Ganz abwesend ist das Thema des Weiblichen natürlich auch nicht; Sigmund nennt einen Bekannten, der sich verlobt hat, und möchte für seinen Teil ganz gerne wissen, „wo ihr in Alesund Damen herkriegt: ist es Schluss mit dem Standesunterschied — oder wie?" Endlich blickt er in die nächste Zukunft: Er hofft, bis Pfingsten seine Arbeit abschließen zu können, und würde dann gerne nach Hause reisen, zumal wenn „die dänischen Studentensänger" dann nach Alesund kommen sollten. Außerdem meint er, man müsste versuchen, einen Tennisverein zu organisieren, der während der Sommersaison als „Bindeglied" dienen könnte.
2. Auf der Suche nach einer
Zukunft
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b) Nach dem erfolgreichen Abschluss seines wissenschaftlichen Aufsatzes konnte Mowinckel mit begründeter Hoffnung anfangen, Reisestipendien zu beantragen. Zunächst war aber eine Wartezeit in Kauf zu nehmen, und der junge Kandidat blieb den ganzen Herbst 1909 bei seinen Eltern in Alesund. Auf die bescheidene Handbibliothek des Vaters angewiesen, hatte er hier kaum Gelegenheit zu wissenschaftlicher Arbeit 22 und musste sich damit abfinden, an verschiedenen Schulen Ersatzunterricht zu geben und etliche Zeitungsartikel zu schreiben. 23 Vor allem musste er aber nach einem sichereren Arbeitsplatz Ausschau halten, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denn mit einem Stipendium konnte natürlich niemand sicher rechnen. Auf der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle hat sich Mowinckel wohl in erster Linie dort nach Möglichkeiten umgesehen, wo er schon eine gewisse Erfahrung hatte: im Journalismus sowie im Unterricht. 24 Eine Assistentenstelle in der Universitätsbibliothek hat aber auch sein Interesse geweckt, vermutlich nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Möglichkeit zu weiterem Studium. Zu diesem Antrag hat ihm einer seiner theologischen Lehrer, der Neutestamentier Lyder Brun, ein Empfehlungsschreiben mitgegeben, in dem der Bewerber als „ein sehr tüchtiger Theologe" charakterisiert wird, der sich durch „starke wissenschaftliche Interessen, eine allseitige Belesenheit und ein rasches Orientierungsvermögen" auszeichne. 25 Trotz ausgezeichneter Qualifikationen und lobender Empfehlungsworte scheint Mowinckel auf dem Arbeitsmarkt nicht sofort erfolgreich gewesen zu sein. Schließlich hat er aber eine befristete Anstellung als „Katechet" am Gymnasium in Egersund, einem Städtchen an der südlichen Westküste, bekommen. Hier hat er drei Semester lang (Januar 1910 —Juni 1911) Religion, Norwegisch und Geschichte unterrichtet, offenbar zur vollen Zufriedenheit des Schulleiters, der dem jungen Kandidaten eine ausgesprochene Eignung und ein hohes Interesse für den Lehrerberuf bezeugt hat: „Ebenso, wie er eine ausgezeichnete, gute Disziplin wahrt, weiß er, in einer solchen Weise mit den Kindern umzugehen, dass sie ihn sehr mögen. Da hinzu kommt, dass Herr Mowinckel ein sehr angenehmer Kollege ist, muss die Schule bedauern, dass sie diesen kenntnisreichen, tüchtigen Lehrer nicht länger behalten kann." 26 Nein, länger als anderthalb Jahre konnte und wollte Mowinckel auf keinen Fall in Egersund bleiben. Abgesehen davon, dass er sich von hier aus um 22
Vgl. Brief an Michelet, Älesund 8.10.1909. Skizze 1927; Mow. 1927h: 253. 24 Er spricht in der Skizze 1927 allerdings von „allerlei Posten" und nennt als Beispiele Anstellung als Journalist und eine Lehrerstelle in Lillestrom (in der Nähe von Oslo). 25 Lyder Brun in einem Brief vom 10.9.1909. 26 P.R.M. Krohn, 22.7.1911. 23
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Kapitel 3: Zwischen
Studium
und
Stipendium
eine attraktivere Stellung an der Lehrerschule in Tromso, der größten Stadt Nordnorwegens, beworben hatte, 27 ist ihm nämlich in der Tat schon im Frühjahr 1910 ein Reisestipendium zugefallen, 28 und noch Ende Juni war Mowinckel fest entschlossen, Egersund zu verlassen und im selben Herbst nach Deutschland zu ziehen. 29 Er ist also immerhin — aus welchen Gründen auch immer — ein Jahr länger auf seinem Posten geblieben, als er es eigentlich vorhatte. c) Einen zeitlich wie thematisch begrenzten, aber immerhin ganz unterhaltsamen Einblick in dieses Interim in Egersund vermitteln zwei Briefe (28.5. bzw. 25.6.1910) an Herbert, der sich zu dieser Zeit als wehrpflichtiger Soldat in Nordfjordeid aufhielt und in dieser Situation sicher für jede Erheiterung von der Außenwelt besonders dankbar war. Sigmund langweilt den Bruder denn auch nicht mit Stoff über Schule und Schüler; abgesehen von einer längeren, leicht sarkastischen Betrachtung über die Deutschen und deren spießbürgerliches Wesen 30 findet er sein größtes Vergnügen darin, über die Freuden der Freizeit zu berichten. Und dazu haben ihm gerade die frühsommerlichen Monate Mai und Juni besonders reiches Material geliefert. Beispielsweise war er ein Wochenende zusammen mit ein paar Bekannten auf Fuchsjagd gewesen und hatte — wie er selbstironisch mitteilt: „wesentlich zum Schein" — auch selbst ein Gewehr mitgebracht, vor dem sich die Füchse kaum zu fürchten brauchten. N u n — einen besonders reichen Fang machten auch seine beiden Jagdkameraden nicht. Die Gesellschaft musste ohne einen einzigen Fuchs heimkehren. Die Beute habe sich auf ein Hermelin begrenzt sowie auf ein Tier, das - wie Mowinckel scherzhaft weiter erzählt — „einem Hasen ähnlich sei", es aber dennoch nicht sein könne, da der Hase zu jener Jahreszeit „bekanntlich unter Tierschutz" stehe.31 Wie aus Kristiania i m j a h r zuvor bringt Mowinckel auch aus Egersund die Frage der Kleidung zur Sprache. Es handelt sich diesmal um jene weißen Hosen, die er bei schönem Frühlingswetter gerne beim Promenieren trug:
27
Auch dieser Antrag wurde von einem Empfehlungsschreiben (26.2.1910) von Professor Lyder Brun begleitet. Es heißt hier, dass Mowinckel „ein außergewöhnlich tüchtiger Theologe" sei, der „wissenschaftliche Fähigkeiten und Interessen" habe. 28 Vgl. Register tiljournal ogforhandlingsprotokoller (1898-1912) des akademischen Kollegiums, S. 286, Punkt 826. Es handelt sich um G. Bruuns Legat. Man hat M o winckel ein Jahr Aufschub eingewilligt. 29 Briefe an Herbert, Egersund 28.5 und 25.6.1910. 30 Vgl. Kap. 4.3, Anm. 48. 31 Brief an Herbert, 28.5.1910. 32 Ebd.
2. Auf der Suche nach einer Zukunft
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A p r o p o s die w e i ß e n , so h a b e ich j e t z t E g e r s u n d an m e i n e E x t r a v a g a n z e n , was die K l e i d u n g b e t r i f f t , g e w ö h n t ; i m A n f a n g d r e h t e n sie sich nach „ p u t t i e s " 3 3 u m ; zu i h r e m L o b soll gesagt w e r d e n , dass das alles bloß s t u m m e s S t a u n e n e r w e c k t u n d niemals G a s s e n j u n g e n g e b r ü l l w i e in A l e s u n d .
Den breitesten R a u m belegt aber in den beiden Berichten aus Egersund der Themenkreis Wein, Weib und Gesang. Als junger, stattlicher Lehrer von außen hat Mowinckel sicherlich seine einheimischen Bewunderinnen gehabt, zumal er sich auch noch durch Geist und Witz ausgezeichnet hat. So bekommt Herbert dies und jenes über die jungen Egersunderinnen zu wissen, wie etwa, dass sie „vor Handauflegen eigentlich nicht bange" seien. 34 Und er muss durchaus den Eindruck gewinnen, dass der ältere Bruder weiß, wovon er spricht. Beispielsweise scheint es am 17. Mai — am norwegischen Nationalfeiertag, der übers ganze Land nicht nur im feierlichen Stil, sondern auch in freieren Formen gefeiert wird — in Sigmunds Bude besonders lustig vor sich gegangen zu sein: 35 E i n e W e i l e hielt ich m i c h zu d e n J ü n g s t e n , d e n M ä d c h e n v o n 17-18 J a h r e n ; saß nach d e m U m z u g z u s a m m e n m i t 4 v o n i h n e n o b e n in m e i n e r B u d e , (wir) t r a n k e n R h e i n w e i n , lachten, schäkerten, sangen, a m ü s i e r t e n u n s riesig — alles vor o f f e n e n F e n s t e r n ; in der Straße r e c k t e n die F r a u e n d e n H a l s u n d starben vor N e u g i e r , w e r w o h l da o b e n bei m i r sein k ö n n t e ; m a n spekuliert n ä m l i c h ü b e r m i c h —ja, n u n hat das übrigens, z u m Glück, ein E n d e .
Nach kurzer Zeit in der Kleinstadt war Mowinckel offensichtlich eine Gestalt geworden, die auch die Aufmerksamkeit kritischer Augen auf sich zog. Das bedauert er indessen keineswegs, vielmehr scheint er diese gutbürgerliche Skepsis mit einer gewissen Genugtuung vernommen zu haben. Insbesondere jetzt, wo er doch sein Stipendium hat und sich also um keine Verlängerung seiner Anstellung kümmern muss, kann er „ziemlich überlegen" sein und braucht „keine nichtigen Rücksichten" zu nehmen. So heißt es denn auch weiter im Bericht vom 17. Mai: 36 I m g r o ß e n U m z u g g i n g ich i m J u g e n d v e r e i n m i t einer D a m e u n t e r j e d e m A r m . Vor der G e n o s s e n s c h a f t 3 7 angelangt, b r i n g e ich, die S t u d e n t e n m ü t z e h o c h in der 33 Z u putties (Sg. puttee) vgl. „ T h e O x f o r d English Dictionary", 2 n d ed. 1989: „A long strip of cloth w o u n d r o u n d the leg f r o m the ankle to the knee, w o r n as a protection and support to the leg by sportsmen, soldiers, etc." 34 Brief an H e r b e r t , 25.6.1910. 35 Brief an H e r b e r t , 28.5.1910. 36 Ebd. 37 N o r w . : samlaget = der W e i n - u n d S p i r i t u o s e n v e r k a u f in E g e r s u n d . In N o r w e g e n h a b e n verschiedene A b s t i n e n z v e r e i n e eine starke V o l k s b e w e g u n g gegen V e r k a u f u n d Genuss v o n A l k o h o l gebildet; d u r c h Volksentscheide hat diese B e w e g u n g das vollständige T r o c k e n l e g e n vieler Städte u n d L a n d g e m e i n d e n e r z w i n g e n k ö n n e n . Als einzige Stadt in w e i t e m U m k r e i s h a t t e E g e r s u n d u m 1910 e i n e n W e i n - u n d S p i r i t u o s e n v e r kauf, der allerdings sehr u m s t r i t t e n war. 1907 hat eine Volksinitiative g e g e n d e n V e r -
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Kapitel 3: Zwischen Studium und Stipendium Luft schwingend, natürlich ein Lebehoch darauf aus. Direkt gegenüber sitzt das gesamte „Weiße B a n d " 3 8 und mordet mich mit den Augen.
An diesem seinem ersten 17. Mai in Egersund, der ihn übrigens die beachtliche Summe von 30 Kronen gekostet habe, scheint Mowinckel also ausgelassen mitgefeiert zu haben. Im Freundeskreis hielt er, wie er selbst behauptet, während des festlichen Banketts im Restaurant Grand nicht weniger als vier Tischreden und hat damit sicher begeisterten Beifall geerntet. U m so mehr muss er es schließlich bedauern, dass er sich später am Abend vor einer Dame blamiert habe, und zwar ausgerechnet vor derjenigen, vor der er es am wenigstens hätte tun wollen. Die Briefe an den wehrpflichtigen Bruder vermitteln sicher kein repräsentatives Bild von dem Leben und Treiben des jungen Lehrers in Egersund. Zweifellos hat er seine Lehrpflichten gewissenhaft erfüllt 3 9 und sich — so weit möglich — auf seine weiteren alttestamentlichen bzw. assyriologischen Studien vorbereitet. 4 0 Und wenn er nach dem ersten Halbjahr nicht leugnen kann, dass er viel Spaß gehabt und mehr Alkohol getrunken hat als sonst, so erkennt er zugleich, dass der leichtfertige Umgang mit dem anderen G e schlecht seinen Geschmack „vergröbert" und ihn eigentlich nicht befriedigen kann: „es wird auf die Dauer ein Scheißdreck und artet in einen hohen Grad von mangelnder Ritterlichkeit aus; wird ermüdend und hinterlässt einen üblen Geschmack im Gehirn." Dennoch ist er — zumindest nach diesem einen Semester — mit seinem Aufenthalt in der südwestlichen Provinzstadt leidlich zufrieden. Der nahe Abschluss, den er damals erwartete, hat ihn, wie er dem Bruder gegenüber bezeugt, weder mit einer besonderen Freude noch mit einer besonderen Trauer erfüllt. Denn - so fasst er zusammen: „Im großen Ganzen ist dies für einen jungen Mann ein guter O r t gewesen, so für eine kürzere Zeit." 4 1
kauf von Alkohol ihr Ziel knapp verfehlt, aber der K a m p f tobte weiter, und 1914 musste der Alkoholverkauf schließen. Vgl. GRUDE/HAMRE 1 9 9 6 : 2 2 2 - 2 3 6 : „Kampen mot alkoholen". - Gegen das Prinzip des Verbots in der norwegischen Alkoholpolitik hat sich M o w i n c k e l später in einem längeren Zeitungsartikel gewandt (Mow. 1918q), vgl. Kap. 7.2.a, A n m . 2 6 . 3 8 Es handelt sich hier u m den Verein christlicher Frauen für Abstinenz. 3 9 Als Begründung dafür, dass er eine Zeitlang nicht geschrieben hat, weist M o winckel im zweiten B r i e f an Herbert, 25.6.1910, auch auf seine „Arbeit im Weingarten" hin. 4 0 In einem B r i e f an Michelet (Marburg 11.11.1911) spricht Mowinckel von Arbeitsplänen, die er in Egersund nicht weiterführen konnte, vgl. Kap. 4, A n m . 24. Aus dieser Zeit stammt auch ein populärwissenschaftlicher Aufsatz über den altbabylonischen G e setzgeber Hammurabi (Mow. 1911). 4 1 B r i e f an Herbert, 25.6.1910.
4. Kapitel
Lehrjahre im Ausland (1911-1913) Im Herbst 1911 war es endlich so weit: Mowinckel konnte das Stipendium, das ihm ein Studium der Assyriologie in Deutschland ermöglichen sollte, in Anspruch nehmen und seine Reise antreten. Ursprünglich hatte er offenbar vor, nach Berlin zu gehen, 1 das damals als ein bedeutendes Zentrum dieser Wissenschaft galt. Unterwegs machte er aber einige Wochen in Kopenhagen Station, und dort hat man ihm Peter Jensen an der Universität Marburg als einen vortrefflichen Lehrer für Assyriologie empfohlen. 2 Diesem R a t ist Mowinckel gefolgt, traf im November 1911 in Marburg ein und wurde dort als Student der philosophischen Fakultät aufgenommen. Sein Aufenthalt in Marburg dauerte bis März 1913, als er wegen Schwindsucht in die medizinische Klinik der Universität eingeliefert wurde und danach den Aufenthalt abbrechen mußte. Im Sommersemester 1912 wohnte er übrigens in der Nachbarstadt Gießen, wo er Hermann Gunkel hören und mit ihm persönlich bekannt werden konnte. Als einer der schöpferischsten und einflussreichsten Alttestamentier dieser Zeit war es ja vor allem Gunkel, der Mowinckel
1 Vgl. Briefe an den B r u d e r Herbert (Egersund 2 8 . 5 . 1 9 1 0 ) und an Prof. Simon Michelet (Marburg 11.11.1911). 2 R a t g e b e r waren die Professoren Frants B u h l ( 1 8 5 0 - 1 9 3 2 ) u n d j o h a n n e s Christian Jacobsen ( 1 8 6 2 - 1 9 4 8 ) , die M o w i n c k e l außerdem a u f den unsicheren Gesundheitszustand W i n c k l e r s , des großen B e r l i n e r Assyriologen, aufmerksam gemacht hatten (an M i c h e l e t , M a r b u r g 11.11.1911). — In seiner Gedächtnisrede a u f Nils Messel aus dem J a h r e 1959 erwähnt M o w i n c k e l selber, dass er bei B u h l S e m i n a r e besucht habe ( M o w . 1959c: 7 2 ) , für wenig wahrscheinlich aber halte ich es, dass er schon während dieses Aufenthalts V i l h e l m G r o n b e c h kennen gelernt oder bei i h m Vorlesungen gehört hat
( g e g e n KAPELRUD
1965a:
6 7 , DERS. 1 9 6 7 : 4
1976: 102, 1998: 5 0 6 ; Sj®B0 1986: 8 3 =
; KLATT 1 9 6 9 :
182, A n m .
19;
CLEMENTS
1 9 8 8 : 2 6 , DERS. 2 0 0 0 : 8 ; HANSON 2 0 0 2 :
xii).
D e m Vorlesungsverzeichnis der K o p e n h a g e n e r Universität zufolge hat G r a n b e c h im Herbstsemester 1911 über m o d e r n e R e l i g i o n gelesen, und in den Briefen M o w i n c k e l s aus der Stipendiatenzeit k o m m t der N a m e G r a n b e c h s nie vor. In seiner homiletischen Examensarbeit aus dem F r ü h j a h r 1915 (vgl. Kap. 13.2.a), in der i m m e r h i n der B e g r i f f „ K u l t u s " thematisiert worden ist, sucht man ebenfalls vergeblich nach Spuren v o m D e n k e n G r o n b e c h s . — Irreführend ist es darum auch, w e n n Kraus (KRAUS 1 9 5 6 : 3 6 4 ) G r o n b e c h und Pedersen als „ L e h r e r " M o w i n c k e l s nennt; daraus schließt Gerstenberger (GERSTENBERGER 1974: 182), dass M o w i n c k e l schon vor seiner Zeit bei G u n k e l bei diesen beiden D ä n e n studiert habe. Vgl. zu dieser Frage auch Kap. 5.4, A n m . 6 2 , und Kap. 9.1, A n m . 14.
50
Kapitel 4: Lehrjahre im
Ausland
zum Studium eben dieser Disziplin angeregt und ihm eine fruchtbare Forschungsrichtung gewiesen hatte. 3 Abgesehen von einigen ganz knappen und zusammengedrängten Daten ist aus der autobiographischen Skizze Mowinckels nicht viel über den Studienaufenthalt in Deutschland herauszulesen. Wesentlich mehr ist aus dem zu gewinnen, was von seiner Korrespondenz aus dieser Zeit erhalten blieb: zum einen jene Briefe, die der junge Stipendiat an Simon Michelet, 4 seinen Lehrer in alttestamentlicher Theologie an der Universität Kristiania, schrieb; zum anderen diejenigen, die an den jüngeren Bruder Herbert gingen. 5 Die beiden Briefsammlungen — so verschieden sie natürlicherweise sind im Stil wie im Inhalt — sind wertvolle Dokumente aus Mowinckels eigener Hand. Ein Stück weit ergänzen sie die autobiographische Skizze, was die Einzelheiten betrifft, vor allem aber gewähren sie einen Einblick in die Person Sigmund Mowinckel. Hier begegnet uns nicht nur der junge und vielversprechende Wissenschaftler, der analysierende und argumentierende Fachmann, hier erfahren wir auch etwas darüber, was sich sonst in ihm regte: hier kommen neben jugendlicher Lebenslust und Lebensfreude auch wirtschaftliche und andere Sorgen zum Ausdruck; hier spricht ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, aber zugleich ein gewisser Zweifel an den eigenen Fähigkeiten wie an den möglichen Zukunftsaussichten. Schließlich kommen noch zwei Briefe an Gunkel, den großen Gießener Meister, in Betracht, 6 die zwar stilistisch formeller und inhaltlich knapper sind, aber dennoch mit ein paar zusätzlichen Details über diesen wichtigen Lebensabschnitt informieren. i. Das Studium
der Assyriologie
und des Alten
Testaments
U m Assyriologie als „Nebenfach" zur alttestamentlichen Theologie zu studieren, ist Mowinckel mit 27 Jahren nach Deutschland gekommen; und die Entscheidung, das — statt in Berlin — in Marburg zu tun, hat er offensichtlich nicht bereut. Zwar spricht er in den Briefen an Michelet wiederholt von dem Vorhaben, ein Semester in Berlin — eventuell auch in Leipzig7 — zu verbrin3
Vgl. Kap. 3.1, Anm. 3. In der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek in Oslo finden sich aus dem Zeitraum 1909-1913 insgesamt 16 Briefe von Mowinckel an Michelet; vgl. auch Einl., Anm. 16. 5 Vgl. Einl., Anm. 13. 6 Vgl. Einl., Anm. 18. 7 An Michelet, Marburg 17.3.1912. Außer Zimmern (seine Vorlesungen über die Elephantine-Papyri im Sommersemester 1912) und Jeremias (dessen „System" M o winckel recht kritisch beurteilt) wäre ihm hier der Schwede Nathan Söderblom, der seit 1912 den neu errichteten Lehrstuhl für Religionsgeschichte innehatte, von Interesse. Aber auch in anderer Hinsicht böte Leipzig „interessante Dinge" an: „insbesondere merke ich mir, dass die Orientalisten dort nicht ausschließlich Philologen sind, sondern 4
/. Das Studium der Assyriologie und des Alten
Testaments
51
gen. Nicht zuletzt hat er die Notwendigkeit empfunden, die bedeutenden altorientalischen Sammlungen Berlins kennen zu lernen. 8 Aus dem geplanten Semester in der Hauptstadt ist freilich nichts geworden, aber immerhin fand Mowinckel in den Weihnachtsferien 1912-13 eine Möglichkeit, von Marburg aus eine vierwöchige „Razzia" dorthin vorzunehmen. 9 Sonst bewogen ihn hauptsächlich zwei Gründe dazu, Marburg nicht zu verlassen: zum einen der Sprachunterricht bei Jensen und zum anderen der Wunsch, in größtmöglicher Arbeitsruhe eine Abhandlung für den theologischen D o k torgrad zu schreiben. 10 a) Für den deutschen „Panbabylonismus" seiner Studienzeit hat Mowinckel nicht viel übrig gehabt. Und schon im ersten Bericht, den er nach seiner Ankunft in Marburg Professor Michelet erstattet, 11 setzt er sich über gut drei Seiten energisch mit seinem neuen Lehrer auseinander: Jensen treibt natürlich seinen Gilgames, übrigens bei vollem Haus und viel T r a m peln. M a n kann dort lernen, wie man nicht forschen soll. Es ist doch seltsam mit den Assyriologen auf dem biblischen Gebiet. Ihre Voraussetzung ist i m m e r eine m e h r oder weniger orthodox-antiquierte Auffassung der Texte. Es ist, als ob sie die t h e ologische Arbeit gar nicht kannten, sondern davon ausgingen, daß die a.t. Schriften aus einem Guss seien, j e d e Schrift uno tenore von e i n e m Autor verfasst.
Im weiteren Verlauf seiner Argumentation geht Mowinckel insbesondere aufJensens Parallelisierung von Gilgamesch und Moses ein und stellt dabei fest, dass die Mosessage „doch erst durch Quellenkritik rekonstruiert" werden müsse: „Jensen nimmt sich vor, zwei Größen zu vergleichen, von denen er die eine nicht untersucht hat und sie faktisch nicht einmal kennt, nicht anders als in entstellter Form." Nun will Mowinckel natürlich nicht behaupten, dass er als Erster oder Einziger diese Beobachtung gemacht hätte, aber weniger problematisch wird ihm so ein Verfahren deswegen nicht:
auch über die alte Kultur, Religion und Geschichte lesen, wie auch a.t.liehe T h e m e n von nicht theologischer Seite in Behandlung genommen werden". 8 An Michelet, Marburg 17.3.1912. Außerdem hat Mowinckel damit gerechnet, von dem Dänen E. Lehmann, dem Inhaber des Lehrstuhls für Religionsgeschichte, profitieren zu können. Außer Namen wie Greßmann, Ed. Meyer, W i n c k l e r und Sachau nennt er auch den Privatdozenten Ehrenreich, der sich in einer „Spezialität" wie der Methode und der Systematik der Mythenforschung bemerkt gemacht habe. 9 In einem B r i e f an Gunkel (Alesund 19.9.1912) erwähnt Mowinckel diesen Plan; hinterher (Marburg 9.2.1913) bestätigt er ihm, dass er Mitte Dezember bis Mitte Januar in Berlin war. 1 0 Vgl. B r i e f an Gunkel, Alesund 19.9.1912: „ich glaube, dass ich in einer Kleinstadt viel bessere Arbeitsruhe finden kann als in Berlin". 11 An Michelet, Marburg 11.11.1911.
52
Kapitel 4: Lehrjahre im Ausland Es ist aber etwas Gefahrliches, j a Unehrliches in einem solchen K a m p f gegen einen i m voraus z u m T o d e verurteilten Gegner, der als das Fundament der biblischen R e l i g i o n ausgegeben wird. Es ist moderne Artillerie gegen Tripolitaner. Das große P u b l i k u m sieht natürlich nicht, dass das, was Jensen mit so viel Bravour zerbricht, eine Schale ist, welche die T h e o l o g e n schon längst aus anderen Gründen aufgegeben haben, weil ihr Inhalt in andere Forts überführt worden ist.
Unter ähnlichen Gesichtspunkten beurteilt Mowinckel Jensens Umgang mit Jesus. 1 2 Nichtsdestoweniger hat er ihn also als Sprachlehrer geschätzt und dazu die Vorteile klar gesehen, die das Studium in einer kleinen Universitätsstadt wie Marburg mit sich führte: 1 3 Das intime Verhältnis zum Lehrer kann man in Berlin und Leipzig nicht haben, nicht wie hier in Marburg, w o ich bloß zu Jensen gehen muss, u m alle Fachfragen ganz einfach zu besprechen und darüber Auskunft zu b e k o m m e n ; er ist die L i e benswürdigkeit selbst, und wenn ich von einem reinen Brand von Sprach- und philologischem Talent absehe, das sich ausschließlich der Assyriologie widmet, so darf ich sagen, dass ich unter seinen jetzigen Schülern am höchsten in seiner Gunst stehe; die Vorteile für die Arbeit, die daraus folgen, sind klar.
Mit Jensen ist Mowinckel also offenbar gut zurechtgekommen. Dennoch scheint der Spaß, den ihm das reine Sprachstudium gemacht hat, eher begrenzt gewesen zu sein. Obwohl ihm bald klar wurde, „dass die Anfangsgründe der Keilschrift einen Menschen so sehr beschlagnahmen, dass daneben für wirkliche Arbeit kaum Zeit wird", musste er Professor Michelet gestehen, dass er es nicht aushalten konnte, den ganzen Tag mit Keilen beschäftigt zu sein: 14
12 Günstiger fällt sein Urteil über andere Panbabylonisten auch nicht aus. So wäre es ihm eine Freude gewesen, sich in Leipzig „durch ebenso gute Argumente" von der Unhaltbarkeit des dortigen „Augurs" Jeremias überzeugen zu lassen (vgl. A n m . 7 oben): „der Panbabylonismus würde mein Gehirn dann nicht länger beunruhigen, was er u n willkürlich muss, wenn man sein Elementarwissen über die D i n g e von j e n e n ,fertigen' Resultaten geholt hat, die ,der Alte Orient' unter dem Publikum feilbietet. Es ist in Wirklichkeit schon eine Niederträchtigkeit, Fakten und Hypothesen unterschiedslos und ohne nähere Auskunft so zu vermengen, wie es die Wincklersche Schule tut, und zwar mit der Absicht, den Leser in hypnotischem Zwang festzuhalten." Vgl auch an Michelet, Gießen 12.6.1912, wo die Winckler-Jeremiassche „Weltanschauung" schlicht als „Schwindel" bezeichnet wird. 1 3 An Michelet, Marburg 17.3.1912. Vgl. auch 18.11.1912: „Und das um so mehr, als ich nicht glaube — nach den Informationen, die ich b e k o m m e n habe —, dass es Delitzsch als Lehrer mit Jensen und seinen privatissima aufnehmen kann, wo wir zwei-drei M a n n da sitzen und die Fragen diskutieren und all das zur Sprache bringen können, worüber wir Auskunft wünschen." 14 An Michelet, Marburg 11.11.1911. Vgl. auch 17.3.1912: „Es ist mir in dem einen Semester noch nicht gelungen, alle Keilzeichen zu lernen, möglicherweise, weil ich daneben andere Arbeit betrieben habe, am meisten, weil mir die unproduktive, reine Gedächtnisarbeit schwer fällt."
i. Das Studium der Assyriologie und des Alten
Testaments
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Es ist eine g r o ß e S e l b s t ü b e r w i n d u n g , j e d e n T a g an sie heranzugehen, solange es so viel Arbeit gibt, die unleugbar interessanter ist, als Gesichtsbilder zu pauken, w o einen der M a n g e l an System b e i n a h e j e d e s einzigen Anhaltspunktes und S t ü t z punktes in der Gedächtnisarbeit beraubt. Ursprünglich ist da natürlich ein System; aber das in den G r i f f zu b e k o m m e n , das setzt voraus, dass man die Keilschrift schon gelernt hat, und dazu Sumerisch. Das fordert aber eine so g r o ß e G e h i r n a n s t r e n g u n g , dass ich, zumindest im A n f a n g , keinen anderen S t o f f i h m den Sitzplatz in den G e h i r n z e l l e n k a n n streitig m a c h e n lassen, w e n n ich m e i n e n ganzen T a g auch nicht a u f Keile anwenden k a n n . Ich will hoffen, dass ich m i c h bald ein bisschen m e h r zerstreuen k a n n .
Diese Erfahrung Mowinckels, dass ihm das Studium der Keilschrift wenigstens ein Stück weit wie eine trockene Wüstenwanderung vorkam, bestätigt auf ihre Weise die Tatsache, dass seine wissenschaftliche Stärke nicht in erster Linie auf dem Gebiet der reinen Philologie lag. Interessanterweise geht sie denn auch mit der wachsenden Einsicht einher, dass die Kenntnis der alten mesopotamischen Sprachwelt für das Studium des Alten Testaments vielleicht doch nicht so unerlässlich sei, wie es sich Mowinckel ursprünglich vorgestellt hatte: 15 und dann ist m i r n o c h etwas klar geworden: als Hilfsfach für das A . T . ist die Assyriologie — oder vielleicht besser: sind die Assyriologen und das Assyrische — gar nicht von einer so e m i n e n t e n B e d e u t u n g ; w e n n m a n nur nicht, w i e ich es getan habe, damit anfangt, „ D e n Alten O r i e n t " , den Spielplatz im W i n c k l e r s c h e n K i n dergarten, und K A T , lsten Teil, zu lesen, so k o m m t m a n vollständig mit U b e r s e t zungen aus. Siehe, das ist j a auch ein R e s u l t a t daraus, ausgereist zu sein, u m Assyriologie als a.t. N e b e n f a c h zu studieren! Sofern ich sehen k a n n , besteht ihre B e deutung für a.t. R e l i g i o n s g e s c h i c h t e wesentlich darin, dass sie Parallelen zu den Psalmen und i h r e m literarischen S t u d i u m gewähren, sowie darin, dass sie einen gewissen erforderlichen ernüchternden Einfluss a u f die E x e g e s e und die Auffassung der a.t. R e l i g i o n ausüben kann.
b) Zentrum seines Interesses war und blieb Mowinckel auch in Marburg das Studium des Alten Testaments, wo ihm so viele ungelöste Fragen — oder auch etliche allgemein anerkannte Standardantworten — zur Herausforderung wurden, die ihn nie in R u h e ließ bzw. zu deren Bearbeitung er eine gewisse Arbeitsruhe brauchte, so dass er schon aus diesem Grunde zögerte, das übersichtliche Marburg gegen Berlin und dessen breite Palette von den vielfältigsten Möglichkeiten einzutauschen. Von dem Vorlesungsangebot seiner Universität her war nun allerdings Marburg in den Augen Mowinckels „kein O r t für alttestamentliche Studien". 16 D e m alten Ordinarius, Karl Budde, gibt er das wenig schmeichelnde A n Michelet, G i e ß e n 1 2 . 6 . 1 9 1 2 . A n Michelet, M a r b u r g 11.11.1911. — D i e weit verbreitete Ansicht, dass M o w i n c k e l in M a r b u r g bei Hölscher studiert oder ihn dort kennen gelernt habe (z.B. KAPELRUD 15
16
54
Kapitel 4: Lehrjahre im Ausland
Attest, dass er „eigentlich nicht anregend" sei.17 Ganz andere Töne klingen — nicht unerwartet — aus Gießen in jenem Sommersemester, als Mowinckel dort wohnte und zwischen den beiden Städten, zwischen seinen beiden Lehrern, Jensen und Gunkel, hin- und herpendelte: 18 etwas w i r k l i c h W e r t v o l l e s u n d wesentlich N e u e s i m H i n b l i c k auf A r b e i t s m e t h o d e u n d Ziel glaube ich k a u m , dass m i c h i r g e n d e i n e r von d e n a.t. T h e o l o g e n hier u n t e n l e h r e n k a n n , n a c h d e m ich G u n k e l g e h ö r t habe; er ist ,glänzend', abgesehen v o n ein i g e m , ü b r i g e n s w o h l erklärlichem Selbstbewusstsein; er h ö r t i m Ü b r i g e n g e r n e seine eigene S t i m m e ; j e d e s Gespräch m i t i h m gestaltet sich auf die D a u e r als Z u h ö ren seitens der a n d e r e n Partei; er k a n n selbst s t u n d e n w e i s e erzählen u n d privat d o zieren; eine Diskussion m i t i h m ist d a g e g e n schwieriger zu erreichen. A b e r ich h a b e in e i n e m M o n a t hier m e h r A.T. gelernt als in e i n e m Semester in M a r b u r g . N u n , ich w i d m e t e m i c h j a auch nicht sonderlich d e m A.T. in M a r b u r g .
Diese letztere Äußerung Mowinckels bedarf doch wohl einer gewissen Korrektur; So wenig, wie er sich in Marburg um die alttestamentlichen Vorlesungen gekümmert haben mag, so wenig hat er doch seine eigene Arbeit auf diesem Gebiet einfach liegen lassen. Schon bei seiner Ankunft in Marburg lagen in seinem Gepäck etliche Skizzen und Aufzeichnungen, die er teils in Kristiania im vorangehenden Sommer, teils unterwegs in Kopenhagen gemacht hatte. Daraus war zunächst, etwa Mitte Januar 1912, ein Aufsatz von etwa 25 Seiten über den geschichtlichen Hintergrund Ezechiels entstanden, den Mowinckel — wie er selbst bekennt: nicht ohne Seitenblick auf künftige Stipendienausschreibungen — in der Hoffnung an Michelet abschickte, dass ihn die theologische Zeitschrift seiner Heimatuniversität würde aufnehmen können. 19 Aus den folgenden Briefen Mowinckels geht indessen hervor, dass man den Aufsatz für das eher begrenzte norwegische Publikum nicht für geeignet gehalten hat, und dass Michelet seinem Schüler folglich geraten hat, sich um eine Veröffentlichung im Ausland zu bemühen. Auf diesen Vor1 9 6 5 a : 6 7 . 6 8 , DERS. 1 9 6 6 : 2 , DERS. 1 9 6 7 : 4 ; G N U S E / K N I G H T 1 9 9 2 : x x i i ; S ^ B 0 1 9 8 6 : 8 3 =
1988: 26), bestätigen w e d e r die Briefe M o w i n c k e l s n o c h die Biographie Hölschers; Hölscher w a r in diesen J a h r e n Privatdozent in Halle u n d ist erst später (1921) nach M a r b u r g g e k o m m e n (vgl. MACHOLZ 1972). 17 Die K u r s i v i e r u n g m a r k i e r t , dass M o w i n c k e l hier selbst den deutschen Ausdruck benutzt. 18 A n Michelet, G i e ß e n 12.6.1912; z u r K u r s i v i e r u n g vgl. A n m . 17 oben. G a n z a n ders kritisch lautet der Bericht an den B r u d e r H e r b e r t k u r z nach d e m Eintreffen in Gießen, v e r m u t l i c h also auf die bisherigen M a r b u r g e r E r f a h r u n g e n bezogen (Gießen 26.4.1912): „Es ist übrigens ganz komisch, w i e d e r so als ein S t u d e n t e n k n a b e da zu sitzen u n d Vorlesungen zu referieren. H u m b u g ist es; äußerst selten k o m m t ein W o r t , das ich nicht w e i ß oder jedenfalls f r ü h e r gehört habe; i m Wesentlichen h ö r e ich bloß dieselben M e i n u n g e n als Tatsachen u n d Resultaten (sie!) vorgetragen, die ich n u n schon 10 J a h r e lese u n d an die ich absolut nicht länger glaube; ich w e r d e i m m e r m e h r davon überzeugt, dass sich die ganze alttestamentliche Wissenschaft in den meisten Fragen auf der falschen F ä h r t e befindet." 19 A n Michelet, M a r b u r g 17.1.1912.
Í. Das Studium der Assyriologie und des Alten
Testaments
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schlag ist Mowinckel eingegangen, nachdem sich ein Kommilitone bereit erklärt hatte, ihm bei der Ubersetzung ins Deutsche behilflich zu sein. Diese Arbeit hat freilich mehrere Monate gedauert, so dass sich Mowinckel erst gegen Jahresende mit der Bitte an Michelet wenden konnte, derselbe möge ihm ein Empfehlungsschreiben an Karl Marti, den damaligen Redakteur der ZAW, schreiben. Gleichzeitig konnte Mowinckel auch das Urteil Gunkels über den Text mitteilen: er sei „mit der Gesamtauffassung ganz und gar nicht einverstanden" gewesen, wenn er sich auch „zu diversen Einzelheiten mit Beifall geäußert" habe. 2 0 Den erwünschten Empfehlungsbrief hat Mowinckel bekommen — und dennoch keinen Gebrauch davon gemacht. Als es nämlich endlich so weit war, hat ihn diese Arbeit nicht länger befriedigt. Er charakterisiert sie selber als „eine konsequenzmacherische Übertreibung einer richtigen Beobachtung", die „in j e n e m Alter und jener Periode der Entwicklung" entstanden sei, „da man sich verpflichtet fühlt, einen Gedanken konsequent durchzuführen; man vergisst dabei, dass weder das Leben noch die Menschen und noch weniger ein Buch im A.T. konsequent sind." So bleibe ihm nichts anderes übrig, als den Aufsatz „bei Gelegenheit" umzuarbeiten; dazu habe er aber im Moment keine Zeit. 2 1 Zu der Zeit, in den letzten Monaten vor dem Ausbruch seiner schweren Krankheit, war Mowinckel nämlich recht intensiv mit einer ganz anderen Arbeit beschäftigt; jetzt ging es ihm darum, diejenigen Studien effektiv voranzutreiben, die er als geeigneten Stoff für den theologischen Doktorgrad ausgewählt hatte. Im Sommer 1912 ist er offensichtlich mit der Idee umgegangen, sich an die Legenden im Buche Daniel heranzumachen, und er b e dauert, dass er dieses Projekt habe fallen lassen müssen. Das Problem war, dass ein anderer Gunkel-Schüler, Emil Balla, durch den Verleger des „Göttinger Kommentars" beauftragt worden war, den Danielband neu zu schreiben, 2 2 und dass der Meister dagegen „Veto" eingelegt habe, dass zwei so 2 0 A n Michelet, M a r b u r g 7.12.1912. - In einem B r i e f an Gunkel (Älesund 19.9.1912) antwortet M o w i n c k e l auf dessen K r i t i k . 2 1 A n Michelet, M a r b u r g 16.2.1913. D i e erhoffte „Gelegenheit" ist allerdings nie g e k o m m e n ; in einem B r i e f an Gunkel (Kristiania 2 3 . 3 . 1 9 2 1 ) , der nach dem Schicksal dieser Arbeit gefragt hatte, berichtet i h m M o w i n c k e l , dass sie „längst den Göttern des Orcus geopfert" worden sei; er selber habe j e t z t j e n e „Entwicklungsperiode" hinter sich gelegt, in der es i h m eine „seelische N o t w e n d i g k e i t " gewesen sei, sich „von T h e o l o g i e , theologischen Ansichten, theologischen Werturteilen, C h r i s t e n t u m , kurz von der seelischen Last des Beeinflußtwerdens von Seiten allerlei berufener und offizieller Lehrer freizumachen" (vgl. auch SMEND 2 0 0 4 : 163 und Kap. 2, A n m . 2 4 ) . 2 2 In einem B r i e f an den G ö t t i n g e r Verleger R u p r e c h t (3.12.1911) hat G u n k e l Balla als seinen „Lieblingsschüler" bezeichnet (vgl. KLATT 1969: 168, A n m . 12). Aus dem g e planten D a n i e l k o m m e n t a r ist allerdings nichts geworden; im Z u s a m m e n h a n g mit einer theologischen Neubesinnung nach dem ersten Weltkrieg hat sich Balla von dieser vertraglichen Verpflichtung lösen lassen (vgl. KLATT 1969: 2 2 1 ) .
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Kapitel 4: Lehrjahre im
Ausland
dicht aneinanderliegende Arbeiten aus derselben Schule zur selben Zeit erschienen. 23 Allerdings soll Gunkel — gibt Mowinckel zu — angeboten haben, ihm ein neues Thema zu stellen: 24 - es scheint in Deutschland eine geschäftliche Frage zu sein: man bestellt ein T h e ma nach Maß, und es wird prompt abgeliefert - ; da ich aber nicht eigentlich dafür schwärme, von T h e m a zu T h e m a herumzuspringen, und mich eigentlich auch nicht dazu bequemen kann, mich so besonders f ü r ein T h e m a zu interessieren, das nicht als Problem eine natürliche psychologische Empfängnis gehabt hat, sondern eher auf eine Art Vergewaltigung zurückzuführen ist, habe ich mich wieder auf Esra-Nehemia geworfen, mit denen ich schon im letzten Jahr angefangen hatte.
Die letzten Marburger Briefe an Michelet bestehen zum größten Teil aus relativ ausführlichen Berichten über den Gang der Arbeit: über die Ausgangshypothesen und etliche Revisionen unterwegs, über die Diskussion mit führenden Autoritäten wie Meyer und Wellhausen 25 sowie über die schon gewonnenen Resultate und deren Begründung. Ein näheres Eingehen auf die Einzelheiten dieser ganzen Entwicklungsgeschichte würde den R a h men dieses Kapitels sprengen. Es muss hier genügen, jene Charakteristik wiederzugeben, die Mowinckel kurz vor der unfreiwilligen Unterbrechung seiner Arbeit formuliert hat: „Meine Ergebnisse sind also teils sehr konservativ, teils sehr radikal, teils fallen sie mit denjenigen früherer Forscher (...) zusammen, teils gehen sie völlig neue Wege." 26
23
In einem Brief an Gunkel (Älesund 19.9.1912) spricht Mowinckel enthusiastisch von den Daniel-Plänen: „Ich treibe das Aramäische weiter, lese allerlei Märchen und Legenden, versuche nach Möglichkeit hier in der Provinzstadt ... Stoff zu den Daniellegenden zu sammeln. Jetzt muss ich vielleicht eilen, wenn mir nicht Herr Balla zu viel zuvorkommen soll, und das alles sagen, was ich darüber hätte sagen können." Der nächste Brief (Alesund 7.10.1912) lässt deutlich werden, dass er in der Zwischenzeit die abweisende Antwort des Lehrers bekommen hat: „Wenn Sie den ausdrücklichen Wunsch hegen, dass ich die Daniellegenden nicht bearbeite, werde ich natürlich, obwohl mit schwerem Herzen, zu Gunsten des Herrn Balla verzichten, als der Entdecker dieses Südpols haben Sie ja das Recht, jedem anderen das Betreten zu untersagen." — Im weiteren Verlauf dieses Briefes versucht Mowinckel noch, überzeugende Gründe für sein Festhalten am Daniel-Thema hervorzubringen und schließt mit den Worten: „Ich überlasse es Ihnen, Herr Professor, sie auf ihr Gewicht hin zu prüfen." 24 An Michelet, Marburg 18.11.1912. — Schon ein Jahr zuvor, kurz nach seiner A n kunft in Marburg, hatte Mowinckel seine Esra/Nehemia-Studien, die er also jetzt wieder aufnimmt, kurz erwähnt (an Michelet, Marburg 11.11.1911): „In Kopenhagen leitete ich einige Untersuchungen über die Esra-Nehemia-Listen an, die ich übrigens eigentlich schon vor mehreren Jahren aufnahm, aber in Egersund habe an den Nagel hängen müssen. Ich machte einen guten Anfang, und der Stoff ist interessant. Aber fürchterlich schwierig und unsicher. Es hat fast den Anschein, dass ich eine gewisse Fähigkeit habe, ausgerechnet in die schwierigsten Punkte des A.T.s hineinzugeraten." 25 Vgl. schon an Michelet 17.3.1912: „meine Skepsis gegen die Wellhausenschen ,Resultate' ist allmählich immer größer geworden." 26 An Michelet, Marburg 16.2.1913.
2. Zukunftsperspektiven
und
Alltagserfahrungen
57
Mit der Krankheit und der darauffolgenden Rekreation wurden M o winckels Esra/Nehemia-Studien vorerst unterbrochen. Erst etwa zwei Jahre später konnte er sie wieder aufnehmen und schließlich auch vollenden. Schon früh hatte er Michelet angekündigt, dass die geplante Arbeit „keine zusammenhängende Darstellung, sondern eine Sammlung Studien über die wichtigsten historischen und literarischen Probleme" in diesen beiden Büchern werden würde. 2 7 So ist es auch gekommen. In norwegischer Sprache sind — außer einem umfangreichen Aufsatz 28 — sogar zwei Sammlungen „Studien zur Geschichte und Literatur der jüdischen Gemeinde" erschienen, deren erster Band, die Nehemia-Studie, 2 9 ihm im Dezember 1916 endlich den theologischen Doktorgrad einbrachte. Mit einem relativ klar definierten „Arbeitsprogramm" war Mowinckel ausgereist, um sich wissenschaftlich weiterzuqualifizieren. Sein Ziel sei es — wie er es Michelet bezeugt — immer gewesen, „das A.T. in einen weiteren Zusammenhang stellen zu können". 30 Zwar ist er — wie wir gesehen haben — im Laufe seiner Auslandsstudien zu der Einsicht gekommen, dass die eigene Beherrschung der assyrischen Sprache dazu nicht unbedingt erforderlich sei. Und insgesamt muss der Beitrag Mowinckels zur Assyriologie wohl als ziemlich bescheiden bezeichnet werden. 31 Das heißt jedoch nicht, dass seine Interessen auf diesem Gebiet keine nennenswerten Früchte getragen hätten — das bestätigen in erster Linie natürlich seine Psalmenstudien. Indessen ist auch schon seine Dissertation in diesem Zusammenhang zu nennen; immerhin waren es die babylonisch-assyrischen Königsinschriften, die Mowinckel den Schlüssel zur Interpretation der Ich-Stücke des Nehemia-Buches in die Hand gaben. 32 2. Zukunftsperspektiven
und
Alltagserfahrungen
Mowinckels Briefe aus der Stipendiatenzeit informieren nicht nur über den Gang seiner Studien, sie enthalten auch interessante Zeugnisse mehr persönlicher Art; teils handelt es sich um Erfahrungen in und mit dem fremden Land, teils um Erwartungen beziehungsweise Sorgen im Blick auf die Zu27
An Michelet, Marburg 18.11.1912. Mow. 1915a; vgl. Kap. 5.4, Anm. 39. 29 Mow. 1916a, vgl. auch Kap. 5.4. - Im hohen Alter hat Mowinckel übrigens beide Studien bearbeitet und in drei Bänden in deutscher Sprache veröffentlicht (Mow. 1964a + 1965b). 30 An Michelet, Marburg 17.3.1912. 31 In einem undatierten Brieffragment aus seinem Sanatoriumsaufenthalt im Jahre 1913 hat Mowinckel Gunkel gestanden, dass seine assyriologischen Kenntnisse „samt und sonders ad undas gegangen" seien. Später hat er seine Beiträge auf diesem Gebiet immerhin als eine „Gastrolle" charakterisiert (vgl. Kap. 11, Anm. 137). 32 Vgl. Kap. 5.4. 28
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Kapitel 4: Lehrjahre im Ausland
kunft. U m seinen Auslandsaufenthalt finanzieren zu können, war M o winckel von einem Stipendium abhängig, und immer wieder musste er sich an Michelet mit der Bitte wenden, dass ihn dieser über aktuelle Ausschreibungen informiere und ihm rate, wie er auf diesem schwierigen Markt am geschicktesten vorgehe. Eine Zeitlang hat ihn auch die Idee beschäftigt, einige Monate im Dalman-Institut in Jerusalem zu verbringen; 3 3 indessen wurde dieser Plan bald wieder aufgegeben. Zum Teil mag das natürlich mit der Frage der Finanzierung zu tun gehabt haben, aber entscheidend war offenbar das Gefühl Mowinckels, er habe vorläufig mehr als genug in Deutschland zu tun und zu lernen. 3 4 a) Neben der Frage der Finanzierung des Studiums und des Auslandsaufenthalts stand aber für Mowinckel auch die nach dem Sinn des ganzen Projekts. Was ihm dabei die größte Sorge bereitete, war allerdings weniger die U n g e wissheit im Hinblick auf eine künftige Stelle als eine gewisse Unzufriedenheit darüber, dass er nicht schon eine hatte. Michelet gegenüber beklagt er sich darüber, dass alles, was er bisjetzt getan hatte, Gelegenheitsjobs gewesen waren; jetzt sehnt er sich nach einer richtigen Arbeit: 3 5 D e n n ich kann es nicht leugnen, dass ich wirklich daraufbrenne, anzufassen; darauf, einmal zu arbeiten zu beginnen, nicht nur herumzulaufen, um zu lernen; darauf, eine feste Wohnstätte zu bekommen, egal wo, hätte ich beinahe gesagt; darauf, ein vollberechtigtes Mitglied von Staat und K o m m u n e zu werden mit Gelegenheit dazu, an j e n e n Arbeiten teilzunehmen, die beide bieten. Insofern habe ich das Gefühl, dass es mich mit j e d e r Post ruft. Wander- und Lehrjahre mögen schön und gut sein, doch sähe ich gerne, dass ich jetzt ihr Ende erblicken könnte. . . . D e n n dieses ewige Studieren ist keine Arbeit, und zeitweiliger Kleinkram, von dem man nicht weiß, ob er das Endliche und Eigentliche werden soll, ist es noch weniger.
In dieser Situation, in der ihm so sehr daran gelegen war, möglichst bald zu einer festen Stelle zu kommen, hatte Mowinckel immerhin jene Sicherheit, die ihm seine bisherigen pädagogischen Erfahrungen gaben: „Ich weiß, dass ich ein brauchbarer Mann der Schule werden kann; aber eine zeitweilige An Michelet, Marburg 11.11.1911 und 4.3.1912. An Michelet, Marburg 17.3.1912. 3 5 An Michelet, Marburg 13.2.1912. Vgl. auch 11.11.1911: „Ich hatte mir allmählich gedacht, dass ich mir, wenn ich nun kein Adjunktstipendium bekommen könnte, das ganze Studium aus dem Kopf schlagen wollte, um Lehrer zu werden, eventuell Philologe. Es wird zu lästig, weiterhin ohne einen Schilling festes Einkommen zu gehen, von Semester zu Semester von möglichen Stipendien zu leben und dann in der Zwischenzeit, in allen Ferien, so blank zu sein, dass ich mich weder kleiden noch ernähren kann. Das geht in meinem Alter nicht länger an. Ich habe es wirklich langsam satt, Vagabund zu sein; seit dem Examen habe ich keinen Augenblick gewusst, wo ich im nächsten Halbjahr sein oder wovon ich dann leben würde. Alles zufällige Jobs." 33
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2. Zukunftsperspektiven
und
Alltagserfahrungen
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Beschäftigung von der Art, ohne volle Entscheidung für die Stelle, ob sie nun auf freier Wahl beruht oder auf Resignation, ist auf die Dauer sowohl der Arbeit als auch der Persönlichkeit schädlich." Die erste Wahl Mowinckels war der Beruf eines Gymnasiallehrers also nicht. Immerhin war er ausgereist, um sich für ein akademisches Lehramt und eine wissenschaftliche Laufbahn zu qualifizieren. Und in einem Brief im März 1912 hat ihm Michelet offenbar auf „eine neue Eventualität" aufmerksam gemacht, die M o winckel wiederum „unschlüssig" machte. 36 In diesem Jahr wurde nämlich vom norwegischen Parlament beschlossen, in Kristiania einen Lehrstuhl für Religionsgeschichte zu errichten, und Mowinckel wurde somit vor die Herausforderung gestellt, ob er seine Studien in diese Richtung orientieren sollte oder nicht. In seiner Antwort gesteht Mowinckel, dass ihm diese neue Möglichkeit „höchst überraschend" komme, da er sich allmählich des Gedankens entwöhnt habe, dass ihm die Religionsgeschichte — wie er selbst bekennt: „die Schwärmerei meiner Studientage" — die geringste Chance sollte bieten können; und hinzu kommt, dass er sich im Grunde weder „recht würdig" noch „gut geeignet" fühle: 3 7 Meine Arbeit hat sich ja in der letzten Zeit immer mehr auf das A.T. konzentriert, und ich muss gestehen, im Augenblick zu einem nicht unwesentlichen Grad unter profanhistorischem Maßstab. ... U n d ich wage wirklich zu sagen, dass das A.T. mein Interesse immer mehr gefangen g e n o m m e n hat; wie ich mir einbilde, dass es noch Hunderte von ungelösten oder falsch gelösten Problemen gibt, wo ich j e d e n falls eine Idee zu einem Versuch habe, mag er n u n so oder so ausfallen. Nicht mit einem Zehntel von der Sicherheit eines Wellhausen, eines Marti bin ich im Stande, die Entwicklung der Dinge bloß anzudeuten und jede Einzelheit auf einen b e stimmten Platz hinzustellen; als Student hätte ich mit weit größerer Sicherheit eine Religionsgeschichte Israel-Judas schreiben können, als wir es jetzt vermögen. Eben d a r u m möchte ich so ungerne von dem A.T. Abschied nehmen; es hält mich mit der Anziehungskraft des ungelösten Problems fest. U n d nun ist die Frage: wird mich das Stipendium in Religionsgeschichte nicht mehr von dem A.T. und der theologischen Fakultät wegziehen, als ich es wünschen könnte? Wird es mich nicht zu einem oberflächlichen Verzetteln zwingen? U n d wird es mir erlauben, als D o k torarbeit einen a.t.lichen Gegenstand zu nehmen und einen theologischen D o k t o r grad zu erlangen?
Das sind also die Bedenken, die Mowinckel davon zurückhielten, sich gleich auf einen Kurs in Richtung Religionsgeschichte umzustellen. Auf der anderen Seite hat er natürlich die Vorteile gesehen und ohne weiteres erkannt, dass sich die Voraussetzungen, unter denen er sein Stipendium anfangs beantragt hatte und jetzt erneut beantragen wollte, sehr wohl mit religionshistorischen Arbeiten vertragen würden. Nur musste er eben befürchten, dass er 36 37
An Michelet, Marburg 17.3.1912. An Michelet, Marburg 17.3.1912.
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Kapitel 4: Lehrjahre im
Ausland
sich „noch viel weniger" zu einem solchen Stipendium qualifiziert habe als zu einem theologischen. Auf diese Aussicht, sich fortan entschiedener in religionshistorische Richtung zu bewegen, ist Mowinckel in seinem weiteren Briefwechsel mit Michelet nicht mehr zu sprechen gekommen. 3 8 Es hatte ihn das Studium des Alten Testaments offensichtlich so fest in den Griff bekommen, dass ihm letztlich keine andere Wahl übrig blieb, als diesem Feld treu zu bleiben. b) Als Stipendiat in einem fremden Land hat sich aber Mowinckel nicht nur im Hinblick auf die nähere und die fernere Zukunft mehr oder weniger besorgte Fragen stellen müssen. Seine Briefe hinterlassen den Eindruck, dass ihm auch schon in der Gegenwart etliche Schwierigkeiten begegneten. Anfangs hat ihm offenbar der Umgang mit der deutschen Sprache eine gewisse Mühe bereitet: „Ich spreche leider sehr viel besser Deutsch mit mir selbst als mit den Deutschen." 39 Und gelegentlich kommt sein Missfallen am Wetter, vor allem am deutschen Winter, offen zum Ausdruck. So freut er sich im ersten Winter eines Morgens darüber, dass der Nebel nicht dichter sei, sodass er mehr als 20 Meter vor sich hinblicken könne. Denn sonst herrsche in Deutschland ein „abscheuliches, gemütsdeprimierendes" Winterklima, das einen „zur komplettesten Faulenzerei und zur totalen Unwirksamkeit in körperlicher Hinsicht" verurteile. 40 Und ähnliche Töne sind im nächsten Winter zu hören, als Mowinckel seine wiederkehrenden Krankheitsfälle eben auf dieses „abscheuliche, ausgesucht abscheuliche" Klima zurückführt und es vor Kälte nicht mehr aushält: 41 Hier ist z.Z. hundekalt, eben ein Grippe- und Hustenwetter. W e n n das Semester zu Ende ist, gehe ich — w e n n mich der Gesundheitszustand nicht nach Hause verjagt — wahrscheinlich nach Kopenhagen; ich halte Deutschland und die Deutschen nicht länger aus.
Ein frostiges Erlebnis wurden Mowinckel übrigens auch die Osterferien 1912, als er zusammen mit einem norwegischen Kommilitonen, seinem früheren Studienfreund Peter Marstrander, 42 für etwa 14 Tage über Würzburg, Rothenburg und Nürnberg auf einer Urlaubsreise nach München fuhr. Bei frühlingshaftem Wetter waren die beiden abgereist, ohne anderes als leichte Kleidung im Gepäck, und wurden dann unten im Süden von einem neu 38
Seit 1901 war Wilhelm Schencke (1869-1946) Universitätsstipendiat für Religionsgeschichte gewesen; 1914 konnte er den neu errichteten Lehrstuhl besetzen; vgl. auch Exkurs zu Kap. 11. 39 An Michelet, Marburg 11.11.1911. 40 An Michelet, Marburg 13.2.1912. 41 An Michelet, Marburg 16.3.1913. 42 Marstrander (vgl. Kap. 2.3.b) hatte ebenfalls das Wintersemester 1911-12 in Marburg verbracht.
2. Zukunftsperspektiven
und
AUtagserfahrungen
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einsetzenden Winter mit Schneestürmen und eiskaltem W i n d überrascht. Nie habe er, berichtet der Gast aus dem hohen Norden, in seinem ganzen Leben „so andauernd und so infam" gefroren wie in jenen zwei Wochen. Von besonderem Interesse in Mowinckels Reisebericht an Michelet ist indessen vor allem das, was er über seine wohl erste wirkliche Begegnung mit der katholischen Kirche schreibt, wie er sie während des Osterfestes in Würzburg erlebt hatte. Hier waren natürlich etliche Pluspunkte zu verzeichnen, die den nordischen Beobachter positiv beeindrucken mussten: die Schönheit vieler (jedoch nicht aller) Kirchenbauten, die Ausstattung der Kirchen, der reiche Blumen- und Kerzenschmuck der Altäre sowie die durchgehende Öffnung der Kirchen. Aber — wie Mowinckel schließt: „Weiternichts ." Die Messe sei nämlich „fürchterlich langweilig" gewesen, und der Weihrauch habe „schrecklich" gestunken. Insgesamt ist Mowinckel darum in seinem echt protestantischen Verdacht bestätigt worden, dass „die m o derne ästhetische Schwärmerei für katholische Gebräuche und katholische Frömmigkeit und Kirchenordnung im tiefsten Grunde künstliches Getue" sei, und dass „für einen gesund denkenden Menschen" hier wenig sei, wofür er sich begeistern, und noch weniger, wofür er schwärmen könnte. 4 3 Auch seinem Bruder Herbert erzählt Mowinckel kurz über die Reise nach München, allerdings nicht als selbständiges Thema, sondern bloß im R a h men einer längeren Wehklage über sein ständiges Heimweh. 4 4 Er vermisst die nord- und westnorwegische Fjordlandschaft, er vermisst — vor allem jetzt im Frühjahr — die hellen Abende und Nächte, und er vermisst die See. Als er darum in München — hoch oben „im K o p f des hehren Standbildes der Bavaria" - durch ein Fernrohr die Alpen zu sehen bekam, war es ihm, als taumelte er vor freudiger Überraschung; so sehr erinnerte ihn j e n e blaue, schneeweiße, gezackte Gebirgskette am Südhorizont an die Heimat. Gegenstand von M o winckels Sehnsucht sind aber offenbar auch seine Landsleute und Verwandten gewesen; zumindest ist in diesem Brief an den Bruder auch noch von Einsamkeit und Langeweile die R e d e : Als „eine Art Surrogat für den U m gang, den man sonst vermisst" seien ihm, so gesteht Mowinckel, unter diesen „Urgermanen" Briefe aus Norwegen seine wesentlichste Gesellschaft gewesen. 4 5 4 3 An Michelet, Gießen 2 0 . 4 . 1 9 1 2 . — Kritische W o r t e über „die ästhetisch-romantisch-weltmüde Schwärmerei für die Papstkirche" lässt M o w i n c k e l auch dort fallen, w o er einige J a h r e später ein B u c h des schwedischen Kirchenhistorikers H j a l m a r Holmquist über die aktuelle Leitung der katholischen K i r c h e bespricht: „eine Schwärmerei, die in der R e g e l nur in überwiegend protestantischen Gegenden möglich ist, w o man keine Gelegenheit hat, durch den geringsten Ausdruck geistiger Selbsttätigkeit und geistigen Selbstbestimmungsrechts mit dem K o p f gegen die eiserne Mauer der Autorität zu rennen", vgl. M o w . 1918j: 6 4 . 44 45
An Herbert, G i e ß e n 2 6 . 4 . 1 9 1 2 . Es m a g natürlich sein, dass M o w i n c k e l zu dieser Zeit in der Tat noch wenig deut-
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Kapitel 4: Lehrjahre im
Ausland
In den Bereich der alltäglichen Trivialitäten gehören schließlich die Erfahrungen mit der einheimischen Küche, die im Falle Mowinckels ebenfalls nicht eindeutig positiv waren. Als er sich — schon kurz nach seiner Ankunft in Marburg — über die Planung der nächsten Zukunft Gedanken machte, kam ihm die Aussicht auf zwei Jahre hintereinander auf deutsche Kost „nicht verlockend" vor: „Die deutsche Kost bringt mir ein permanentes Gefühl bei, auf Fußwanderung zu sein; ich kann das Gefühl von etwas Interimistischem nicht los werden." 46 Etwas ernsthaftere Sorgen, was die Verpflegung betrifft, drängten sich aber im nächsten Jahr auf, als sich nach der Rückkehr von Süddeutschland die ersten Krankheitssymptome meldeten und einen Arztbesuch erzwangen. Zwar sei es dem fieberkranken und abgemagerten Stipendiaten eine Erleichterung gewesen, dass ihn der „wohlernährte und etwas bierbauchige" Arzt nicht gleich ins Bett schickte, aber die empfohlene Kur bereitete ihm dennoch gewisse Schwierigkeiten: 47 Der R a t war dann, wenig zu arbeiten — ich hatte leider die Absicht, viel zu arbeiten — und gut zu leben; das Letztere will in diesem Land, wo das, was wirklich gut und nahrhaft ist, furchtbar teuer ist, alles mit Ausnahme vom Bier, heißen, doppelt so viel Geld pro Tag auszugeben, als ich mir leisten kann; ein Liter Milch täglich hat der M a n n geboten, - das ist eine Kleinigkeit von 98 Pf.
Die besorgniserregende Nachricht vom Gesundheitszustand Mowinckels hat den guten Professor Michelet dazu bewogen, ihm einen Sanatoriumsaufenthalt in den Sommerferien anzubieten. Erfreut über dieses großzügige Angebot hat sich Mowinckel noch mehr darüber gefreut, es abschlagen zu dürfen. Er musste zwar zugeben, dass sich eine gewisse Zugempfindlichkeit und eine Neigung zur Erkältung immer noch bemerkbar machten, und dass aus der vom Doktor verlangten Mastkur „nichts Nennenswertes" werde; dazu sei die deutsche „Restaurationsküche — überhaupt Bezahlküche —" eben zu schlecht. Indessen habe sich sein Zustand im Übrigen mittlerweile weitgehend normalisiert, und der Verdacht, es könnte sich eventuell um Schwindsucht handeln, sei durch eine Tuberkulinprobe definitiv entkräftet worden. Vorerst war das Schlimmste also doch nicht eingetreten; dem hart arbeitenden Stipendiaten blieben noch einige Monate Frist, bis es wirklich ernst wurde.
sehe Freunde hatte; ganz ohne gute Freunde ist er jedoch offenbar nicht geblieben, vgl. dazu Anm. 54 unten. 46 An Michelet, Marburg 11.11.1911. 47 An Michelet, Marburg 20.4.1912.
3. Mowinckel über Deutschland und die Deutschen
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3. Mowinckel über Deutschland und die Deutschen Als Auslandsstipendiat hat Mowinckel ein Dasein gefristet, das ihm sowohl physisch als auch psychisch einiges abverlangt hat. Vor diesem Hintergrund ist es an sich leicht verständlich und mag es vermutlich auch ganz normal sein, dass so manches von dem, was einem im fremden Lande begegnet, bald eine skeptische, wenn nicht gar regelrecht kritische Reaktion hervorruft. A u f jeden Fall scheint Mowinckel nicht selten so reagiert zu haben. Zumindest enthalten seine Hinweise auf verschiedene Alltagserfahrungen in und mit dem Gastgeberland viel mehr negative als positive Stellungnahmen. Von daher stellt sich nun die Frage, inwieweit diese überwiegend negative Sicht der Dinge wirklich ein adäquates Bild von den tatsächlich gemachten Erfahrungen vermittelt? Oder — anders gefragt: könnte es sein, dass hinter dieser oder jener Missfallensäußerung auch vorgefasste Vorurteile wirksam waren? Nun lässt sich eine Frage dieser Art wohl nie eindeutig beantworten. Nur so viel steht fest, dass Mowinckel — darf man seinen eigenen Aussagen glauben — keineswegs ohne Vorurteile über Deutschland und die Deutschen ausgereist ist. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht ist jener Brief, in dem er seinen Bruder über das Auslandsstipendium und seine Reisepläne — die damals also noch in Richtung Berlin gingen — informiert und sich dabei über mehrere Seiten hinweg über diese Großstadt, über die Deutschen sowie über Leben und Arbeit im allgemeinen auslässt:48 I m Grunde ist j a Berlin eine Pöbelstadt, das geschwind hervorgebrachte Symbol für einer Rasse erste Entfaltung der brutalen Kraft, der gepanzerten Faust. O h n e die lange Verfeinerung, die in der Luft zittert über einem alten Schloss und einem alten Volk. E i n e Löwenhöhle, voll von B e u t e von den 4 Ecken der Welt. Automobile und Zeppelins, Straßenreinigung und Kaiser, G o t t helfe! Aber auch mit einer K o pie von M o u l i n rouge in Paris. M e i n G o t t , wie es einer Pöbelstadt ähnlich sieht, eine alte Kulturstadt so zu kopieren. U n d wie es ihr ähnlich sieht, dass das, was sie zuerst kopiert, ein Freudenhaus ist!
Ausgehend von der Vermutung, dass sich das Berliner Leben in „amerikanisierter Eisenbahngeschwindigkeit" abspiele, lässt sich Mowinckel im weiteren Verlauf seiner Betrachtungen auf einen Vergleich zwischen deutscher und amerikanischer Mentalität ein, bei dem er die kalifornischen Goldgräber, wie er sie durch Mark Twain kennengelernt hatte, als Prototyp des Amerikanischen heranzieht; an ihnen gefällt ihm das, was er „die kalifornische Rekreationsmethode" nennen möchte, ein ausgesprochen großzügiger, fast leichtsinnig verschwenderischer Umgang mit dem gewonnenen Reichtum. Er bemerkt nebenbei, dass „auch etwas Norwegisches, d.h. 48
An Herbert, Egersund 28.5.1910.
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Kapitel 4: Lehrjahre im Ausland
Nordnorwegisches" daran sei. Aber Deutsch sei es nicht: „Der verdammt arbeitende Deutsche, der geht abends — vorausgesetzt, er sitzt nicht auch d a n n in seiner Bank oder seinem Manufakturwarengeschäft — entweder in die O p e r oder ins Freudenhaus." In einem jener Briefe an Michelet, in denen sich Mowinckel über sein unstetes Vagabundendasein u n d das Fehlen einer festen Arbeitsstelle b e klagt, 4 9 fallen ebenfalls harte Worte über Deutschland und die Deutschen. Es geht i h m hier u m das bürgerliche R e c h t der Mitbestimmung, das m a n als Ausländer vermissen muss, und zwar: 5 0 . . . i n s b e s o n d e r e in e i n e m L a n d w i e D e u t s c h l a n d , w o alles ö f f e n t l i c h e L e b e n in d e m w i d e r l i c h s t e n G e g e n s a t z steht zu d e m , was w i r f ü r — ich m ö c h t e n i c h t sagen: Ideale —, s o n d e r n simple, e i n f a c h e L o g i k u n d g e s u n d e n M e n s c h e n v e r s t a n d , S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t e n h a l t e n ; dass ich j e d e m b e l i e b i g e n O r t in D e u t s c h l a n d K a u t o k e i n o als Bleibe v o r z i e h e n w ü r d e , ist m i r , s e i t d e m ich d e n F u ß a u f d e n Kai in W a r n e m ü n d e setzte, k e i n e S e k u n d e z w e i f e l h a f t g e w e s e n .
Seiner Abneigung gegen alle jene „Urgermanen", unter denen er bis auf weiteres leben musste, ließ aber Mowinckel erst recht dem Bruder gegenüber freien Lauf: 51 M e i n e v o r h e r tief v e r w u r z e l t e A n t i p a t h i e gegen die D e u t s c h e n ist d u r c h m e i n e n A u f e n t h a l t hier u n t e r i h n e n nicht i m G e r i n g s t e n erschüttert w o r d e n ; i m G e g e n t e i l . M a n muss i h n e n lassen, dass es viele persönlich sehr n e t t e D e u t s c h e gibt; aber was h i l f t das, d u k a n n s t auf die D a u e r g l e i c h w o h l keine F r e u d e an ihrer Gesellschaft h a b e n ; ich z u m i n d e s t nicht, u n d z w a r aus d e m f o l g e n d e n G r u n d : W i r h a b e n u n t e r schiedliche M e i n u n g e n ü b e r alles, was w e r t v o l l ist. Was der D e u t s c h e h e b t , das hasse ich, was i h m Ideale sind, v o n d e m H e e r u n d der Flotte a n g e f a n g e n bis h i n z u r Wurst, ist m i r ein Greuel; was er g e m ü t l i c h findet, finde ich in der R e g e l langweilig. D e r deutsche i n k o r p o r i e r t e S t u d e n t ist eigentlich kein I n d i v i d u u m ; die Verbindung d e n k t , handelt, w i l l u n d f ü h l t f ü r i h n ; er tritt als ein Kollektiv auf. Sein ganzes L e b e n verläuft schön diszipliniert; er ficht auf K o m m a n d o , k ä m p f t auf K o m m a n d o , f ü h l t sich beleidigt auf K o m m a n d o u n d seine E h r e b e f r i e d i g t auf K o m m a n d o ; die K a m e r a d e n treffen sich auf K o m m a n d o , sie singen auf K o m m a n d o , t r i n k e n auf K o m m a n d o , g i e ß e n das Seidel auf K o m m a n d o ein, w e r d e n b e t r u n k e n auf K o m m a n d o , speien auf K o m m a n d o , w e r d e n auf K o m m a n d o ins B e t t gebracht, schweifen aus auf K o m m a n d o , g e h e n zu W e i b e r n , w e n n nicht d i r e k t auf K o m m a n d o , so d o c h k o r p o r a t i o n s w e i s e . Dies alles steht f ü r i h n als das h ö c h s t e Glück, i m G l ä n z e später w i e d e r u n e r r e i c h b a r e n J u g e n d j u b e l s ; dies n e n n t er ein freies J u g e n d - u n d S t u d e n t e n l e b e n , an diesem G a l i m a t h i a s t e i l z u n e h m e n , habe, so b e h a u p t e t er, eine ideale c h a r a k t e r b i l d e n d e W i r k u n g z u m Z w e c k . . . . W a s ich o b e n eigentlich gesagt h a b e n wollte: so verschieden, w i e m e i n e M e i n u n g , m e i n D e n k e n u n d m e i n G e f ü h l v o n der M e i n u n g , d e m D e n k e n u n d d e m G e f ü h l eines D e u t s c h e n sind, so w e r d e n 49
Vgl. A n m . 35 oben. A n Michelet, M a r b u r g 13.2.1912. K a u t o k e i n o ist eine der g r ö ß e r e n samischen O r t s c h a f t e n in F i n n m a r k , der nördlichsten P r o v i n z N o r w e g e n s . 51 A n H e r b e r t , Gießen 26.4.1912. 5I)
3. Mowinckel
über Deutschland
und die
Deutschen
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wir einander sehr wenig zu sagen haben; allerdings bin ich bereit, alle meine M e i nungen zu revidieren, hoffe auch, dass ich das öfters tun muss; ich bin aber über jenes Alter hinaus, da die Grundlage meiner Anschauungen, die persönliche Grundlage meiner Lebens- und Weltauffassung eine Totalveränderung durchlaufen kann. Ich verabschiede mich und zähle die Monate, bis ich nach Hause fahren soll.
Von der überströmenden Wucht dieser ganzen Tirade mögen wohl etliche Einfälle auf das Konto jugendlichen Ubermutes und brüderlich scherzhafter Kommunikation geführt werden. Aber dennoch bleibt der Eindruck, dass hier in der Tat einer spricht, der jedenfalls hat Abstand markieren, wenn nicht gar eine Portion Verachtung zum Ausdruck bringen wollen. Indessen bekundet Mowinckel unterwegs auch eine gewisse Bereitschaft zum U m denken, und es fragt sich nun, ob es jemals dazu gekommen ist? Ja, schon in einem früheren Brief an Michelet hatte Mowinckel Deutschland wenigstens das folgende Zugeständnis machen müssen: 52 es hat mich gezwungen, zu erkennen, dass meine philosophische Vorbildung gleich 0 ist - nun, das wusste ich übrigens zuvor - und mehr noch: einzuräumen, dass sich ein vernünftiger Mensch doch mit Philosophie beschäftigen sollte, weil er wirklich davon Nutzen haben kann. (Dies Letztere ist es, was ich bisher hartnäckig verneint habe.)
In diesem Punkt habe also Deutschland das erreicht, was Mowinckel hätte „verschwören" wollen. Zu so etwas wie einer „Aussöhnung" mit Deutschland und den Deutschen scheint es aber erst am Ende, am vorzeitigen Abbruch seines Aufenthaltes gekommen zu sein. In seinem letzten Deutschlandsbrief an Michelet, nach fast vier Wochen in der Marburger medizinischen Klinik geschrieben, 53 klingen leicht spürbar neue Töne an. Gewiss, gerade in dieser Situation hat es Mowinckel natürlich nahe gelegen, sich über sein Schicksal, zumal über seine dauernde Berufslosigkeit zu beklagen. Jetzt, wo ihm die Arzte schon garantieren konnten, dass er mit der Zeit wieder ganz gesund werden würde, kümmerte ihn vor allem der Gedanke an ein paar weitere Jahre, in denen er als „ein Nichts" würde herumlaufen müssen, namentlich als „derjenige, der es mit 30 Jahren noch nicht zu etwas gebracht hat in der Welt". Das unbefriedigende Gefühl des sozialen Zukurzgekommenseins war er also keineswegs los geworden: „Wie elend wenig es ist, einer zu sein, der ,etwas werden soll', das lernt man erst recht in Deutschland, wenn man es denn nicht zuvor gewusst hat." Indessen sind derartige Zeugnisse von Bitterkeit und Frustration in diesem Brief nicht Mowinckels einziges Anliegen. Sei ihm nämlich auch „der Gedanke an einen längeren Krankenhausaufenthalt in fremdem (ich hätte beinahe gesagt: feindlichem) 52 53
An Michelet, Marburg 17.3.1912. An Michelet, Marburg 27.3.1913.
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Kapitel 4: Lehrjahre im
Ausland
L a n d " a n f a n g s „ s e h r w e n i g v e r l o c k e n d " g e w e s e n , so m u s s er j e t z t f a k t i s c h e i n r ä u m e n , dass es i h m — z u m i n d e s t „ n a c h d e n U m s t ä n d e n " — g u t g e h t : Ich habe kein Gefühl, allein oder fremd zu sein. Alles, von Prof. Jensen bis zu meiner Wirtin, ist sehr liebenswürdig gewesen; der Professor, der Arzt und die Pflegerinnen der Klinik ebenso. Es kommt vermutlich nur darauf an, dass einem die Augen ordentlich aufgerissen werden, um zu sehen, dass einem andere Menschen oft, sehr oft, viel freundlicher sind, als man es selbst den anderen ist. Und um jenes Aufreißen vorzunehmen, ist eine Situation wie die meine ganz nützlich und gut geeignet. Gerade dann, wenn man selbst nichts mehr kann und nichts mehr erwartet, wird man um so aufmerksamer auf das geringste Entgegenkommen, das einem erwiesen wird, und man entdeckt, dass man von Tag zu Tag desgleichen viel mehr empfangt, als man in der Regel ahnt. A u f G r u n d solcher n a h e z u b e k e n n t n i s h a f t e n B e t r a c h t u n g e n d a r f m a n sicher d a m i t r e c h n e n , dass M o w i n c k e l s K r a n k h e i t u n d K l i n i k a u f e n t h a l t p r ä g e n d e M o m e n t e eines p e r s ö n l i c h e n R e i f e p r o z e s s e s g e w e s e n sind, dass er d u r c h diese b e d r o h l i c h e Krise h i n d u r c h als M e n s c h einiges h i n z u g e l e r n t hat. U n d vielleicht hat er a u s g e r e c h n e t auf d i e s e m d r a m a t i s c h e n T i e f - u n d E n d p u n k t seines Auslandsaufenthalts e r k e n n e n k ö n n e n o d e r müssen, dass es n u n e n d g ü l t i g an der Z e i t sei, seine e i n g e w u r z e l t e V o r s t e l l u n g v o n D e u t s c h l a n d als e i n e r „ f e i n d l i c h e n " W e l t a u f z u g e b e n — o d e r z u m i n d e s t zu revidieren? U n w a h r s c h e i n l i c h ist das j e d e n f a l l s nicht. N u r w u n d e r t m a n sich d a n n d o c h schließlich, w i e die bis d a h i n so lautstark v e r k ü n d e t e A b n e i g u n g M o w i n c k e l s g e g e n alles D e u t sche eigentlich zu e r k l ä r e n sei: W o r i n lag sie u r s p r ü n g l i c h b e g r ü n d e t , u n d w a r u m w a r es i h m so l a n g e d a r a n gelegen, sie bestätigt zu f i n d e n ? Es bleibt i r g e n d w i e rätselhaft, w i e s o a u s g e r e c h n e t ein M e n s c h w i e M o w i n c k e l , dessen S t i p e n d i a t e n l e b e n so sehr d u r c h strenge, g e w i s s e n h a f t e Arbeitsdisziplin b e s t i m m t w a r , g e r a d e diese d e u t s c h e T u g e n d so ironisch b e u r t e i l t . W a r das in W i r k l i c h k e i t vielleicht ein Stück Selbstironie, eine A r t g e h e i m e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t Z w ä n g e n der e i g e n e n Persönlichkeit? O d e r w a r es e i n Versuch der S e l b s t b e h a u p t u n g , w i e i h n d e r j e n i g e w o h l m a n c h m a l n ö t i g hat, der, als L e h r l i n g aus e i n e m k l e i n e n L a n d k o m m e n d , sich in e i n e r politischen w i e k u l t u r e l l e n G r o ß m a c h t seines e i g e n e n W e r t e s v e r g e w i s s e r n m ö c h t e ? E i n V e r s u c h , diese l e t z t e r e n F r a g e n zu b e a n t w o r t e n , w ü r d e k a u m ü b e r das Feld m e h r o d e r w e n i g e r g l a u b w ü r d i g e r H y p o t h e s e n h i n a u s k o m m e n . So viel steht a b e r a u ß e r Z w e i f e l , dass M o w i n c k e l s V e r h ä l t n i s zu D e u t s c h l a n d u n d d e n D e u t s c h e n nach j e n e n a n d e r t h a l b J a h r e n , die er als S t i p e n d i a t in M a r b u r g u n d G i e ß e n v e r b r a c h t e , e i n a n d e r e s g e w o r d e n , als es s o w o h l vor d i e s e m A u f e n t h a l t als a u c h während desselben g e w e s e n w a r . N i c h t n u r w a r Mowinckel n u n fürs Leben durch Freundschaften und Bekanntschaften mit V o l k u n d L a n d p e r s ö n l i c h v e r b u n d e n ; 5 4 er h a t t e sich a u c h , w i e w i r aus A u s 54
Zu Mowinckels Freunden aus seiner Marburger und Gießener Zeit gehörten vor
3. Mowinckel über Deutschland und die Deutschen
67
sagen von ihm während des ersten Weltkriegs noch ersehen werden, 5 5 aus dem kritisch eingestellten „Feind" zu einem erklärten Freund Deutschlands entwickelt. Ja, er konnte zu der Zeit sogar von einem Liebesverhältnis zum deutschen Volk und zum deutschen Geist sprechen, wobei er sowohl dessen „Innerlichkeit" als auch dessen „Disziplin (Selbstzucht und Aufopferung für ein höheres Ideal)" im Blick hatte. 5 6 Zweifellos hat er also von all dem, was zumindest außerhalb Deutschlands gemeinhin als „typisch Deutsch" aufgefasst wird, ein vielseitigeres — und sicherlich auch wirklichkeitstreueres — Bild gewonnen. Er hat mit anderen Worten gelernt, zwischen positiven und negativen Seiten deutscher Tradition zu unterscheiden. Ganz bestimmt ist er also um einige Vorurteile ärmer zurückgekehrt, als er ausgereist war. Indessen dürfte wohl eben so ein Verlust — neben dem fachlichen Gewinn — eines der wichtigsten Elemente eines erfolgreichen Auslandsaufenthalts ausmachen?
allem Walter Baumgartner und Hans Schmidt (vgl. Kap. 6.4.a, A n m . 33, und Kap. 8.3, A n m . 91; zu Baumgartner vgl. auch Einl., A n m . 17). 5 5 Vgl. dazu Exkurs zu Kap. 5. 5 6 So in der ebd. erwähnten Besprechung zweier deutscher „Kriegs- und Christentumsbroschüren" (Mow. 1916h: 667).
Kapitel
5
Auf Umwegen zur Promotion (1913—1916) Knapp anderthalb Jahre, vom Herbst 1911 bis zum Spätwinter 1913, hat also Mowinckel in Deutschland Assyriologie und alttestamentliche Theologie studiert. Wie wir gesehen haben, ist nicht alles so verlaufen, wie er es sich im voraus wohl vorgestellt haben mag. Schon die Wahl des Studienortes fiel anders aus als geplant: Statt in der Großstadt Berlin, die er ursprünglich im Blick hatte, ist Mowinckel im kleinen Marburg gelandet, und dort ist er — abgesehen von dem Wohnungswechsel nach Gießen im Sommersemester 1912 — auch bis ans Ende des Aufenthalts geblieben. Sowohl Peter Jensen in Marburg als auch Hermann Gunkel in Gießen hat er als Lehrer geschätzt, und für die Arbeit an der eigenen Doktorarbeit fand er in kleinen Universitätsstädten wie diesen beiden die nötige Ruhe. 1. Krankheit
und
Genesung
a) In den letzten Monaten seines Auslandsaufenthalts war diese Arbeit so weit fortgeschritten, dass Mowinckel offensichtlich damit rechnen konnte, sie bis Ende des Wintersemesters 1912/13 im Wesentlichen abgeschlossen zu haben. 1 Mitten in dieser produktiven Periode hat ihn der Ausbruch der Schwindsucht mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt. Als er Ende Februar eines Tages Blut spuckte, wurde ihm endlich klar, wie es eigentlich um seine Gesundheit stand. Die warnenden Signale, die er schon im Vorjahr empfangen hatte, konnte er jetzt nicht länger übersehen. Er musste sie ernst nehmen, ging zum Arzt und wurde gleich in die Klinik eingeliefert, wo eine Entzündung der rechten Lungenspitze festgestellt wurde. Von nun an musste darum ein einziges Interesse — die Gesundheit — vor allen anderen Vorrang haben; an Arbeit und wissenschaftliches Weiterkommen war vorerst nicht zu denken. Sicher war das eine bittere Enttäuschung. 2 Mowinckel, der sich so sehr nach einer festen Stelle und gesellschaftlicher Mitverantwortung gesehnt 1 An Michelet, Marburg 27.3.1913: „Als ich Ihnen das letzte Mal schrieb, hatte ich die sichere Hoffnung, dass ich um diese Zeit mit meinem Buch fertig sein und nur noch das Feilen und die Nachkontrolle übrig haben würde. Jetzt weiß ich, dass es lange, vielleicht sehr lange dauern wird, bis ich so weit komme." 2 An Michelet, Marburg 27.3.1913: „... ich gestehe, dass ich an meine Geschicke der
1. Krankheit
und
Genesung
69
hatte, musste sich n u n mit der wenig erfreulichen Aussicht auf eine neue Wartezeit, auf weitere Lehrjahre abfinden. Aber immerhin: schon bald hat man i h m in der Klinik versichern können, dass er mit der Zeit wieder ganz gesund werden w ü r d e , 3 und nach sechs Wochen ist er entlassen worden, u m seinen Genesungsprozess in Form eines längeren Kuraufenthalts in der Heimat fortzusetzen. Auf Wunsch des Vaters ist sein Bruder Herbert eigens nach Marburg gekommen, u m i h m den H e i m w e g zu erleichtern. 4 Nach N o r w e g e n zurückgekehrt, k a m Mowinckel zunächst in das Sanatorium Harastolen in Luster, einer westnorwegischen Gemeinde ganz innen im Sognefjord. In dieser mächtigen Fjordlandschaft, von gewaltigen Bergen umgeben, blieb er gut sechs Monate, von Mitte April bis Ende Oktober 1913. 5 Seinem Kranken-Journal zufolge hat m a n dort eine langsame, aber i m m e r h i n stete Besserung seines Gesundheitszustandes beobachten können. Mit dem Aufenthalt scheint Mowinckel auch zufrieden gewesen zu sein, obwohl die Verhältnisse in einer staatlichen Anstalt wie dieser doch relativ einfach waren. 6 So hat er sich allmählich wohl nach etwas mehr Komfort gesehnt, den er in einem anschließenden Aufenthalt i m Privatsanatorium Kornhaug in Follebu, nicht weit von der ostnorwegischen Stadt Lillehammer, gefunden hat. 7 Hier, in einem Seitental z u m großen Gudbrandstal, sind Klima u n d N a t u r anders als im Westen; hier ist der Winter kälter und der Sommer wärmer u n d trockener, die Berge haben sänftere Formen und sind von größeren Wäldern umgeben. b) In beiden Sanatorien, Harastolen und Kornhaug, hat Mowinckel das streng geregelte Leben eines Kurgastes gelebt. Seine Tage waren so genau in ganz bestimmte Sequenzen eingeteilt, dass — wie er aus Luster seinem B r u der Herbert mitteilt — f ü r „so überflüssige Dinge wie D e n k e n oder Schreiletzten 7—8 Jahre nicht ohne eine gewisse Bitterkeit denken kann, eine Bitterkeit, die wahrscheinlich unberechtigt ist, aber jedenfalls da ist und gelegentlich hervorbricht."
3 Vgl. Briefe an Herbert (6.3.1913) und Michelet (27.3.1913). Aus dem Brief an Herbert geht hervor, dass Mowinckel seine Eltern noch nicht informiert hatte; immerhin hatte der Begriff Schwindsucht damals einen recht unheimlichen Klang. 4 Vgl. Brief an Herbert, Marburg 29.3.1913. 5 Vom 22.4.1913 bis zum 30.10.1913. 6 In einem undatierten Brieffragment (an Gunkel) charakterisiert Mowinckel die Behandlung als in jeder Beziehung befriedigend, zumindest im Hinblick auf den „fabelhaft billigen Preis" von 36 Kronen monatlich; das Übrige wurde vom Staat bezahlt. Das Essen sei zwar „sehr einfach und wenig abwechselnd", aber immerhin „reichlich und nahrhaft" gewesen. Offensichtlich hat auch die Gesellschaft etwas zu wünschen übrig gelassen: „sehr gemischt und höchst sozialdemokratisch". 7 Nach dem Sanatorium Kornhaug ist leider kein Archivmaterial aufbewahrt worden. Darum lässt sich auch nicht mit Sicherheit sagen, wie lange Mowinckel dort blieb. Geplant war zunächst ein Aufenthalt von etwa drei Monaten (vgl. Briefe an Michelet, Luster 21.10.1913 und Follebu 17.11.1913), in einem undatierten Brieffragment an G u n kel spricht aber Mowinckel von der Absicht, sechs Monate dort zu bleiben.
70
Kapitel 5: Auf Umwegen zur
Promotion
ben oder desgleichen" nicht viel Zeit übrig bleibe. 8 Dieser Aussage widerspricht allerdings die Tatsache, dass Mowinckel oben auf Harastolen seine erste wissenschaftliche Abhandlung in einer fremden Sprache schrieb; für den Aufsatz „Zur Komposition des Buches Jeremia" haben jene 5Vi Stunden, die täglich für das Liegen im Kurstuhl vorgesehen waren, offensichtlich ausgereicht. 9 Als eine Art Volkskrankheit war die Schwindsucht in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht nur gefürchtet, sondern auch mit Tabus und Schamgefühlen verbunden. Als Kurgast hat Mowinckel in der Situation des Kranken etwas von der Scheu und Missbilligung der Umwelt erfahren. Nicht ohne eine gute Portion Ironie teilt er Herbert etwas von dieser Erfahrung mit: Hier in Lyster erfährt man täglich und reichlich, dass ein Patient der Schwindsucht und ein Aussätziger ungefähr gleich betrachtet werden. K o m m t einmal ein Patient in den O r t hinunter, dann flüchtet die Bevölkerung, in wilden Schrecken versetzt, in die Berge, .... W e n n die Einheimischen durch ausgesandte Späher festgestellt haben, dass einer der unglücklichen, längst symptomfreien Patienten z.B. vom Kai her in die See gespuckt hat, dann wird die unglückliche und z u m Äußersten getriebene Bevölkerung von dem M u t der Verzweiflung beseelt, steigt von ihren Verstecken herab, bewaffnet sich mit Sensen, H e u - und Mistgabeln; sie kämpfen wie Löwen f ü r Herd, Hof und Weib und bringen den Sünder erbärmlich ums Leben, sich selbst zum Wohle, j e n e m zur Strafe und R e u e und Gleichgesinnten zur W a r n u n g und zum Schreck. Vorgestern und gestern war ein Jugendtreffen hier in der Gegend. Aus dem Anlass wallfahrteten große Scharen herauf, u m unser Etablissement in Augenschein zu nehmen. Mit Gesichtern, die eine Mischung von Neugier und Entsetzen und Abscheu ausdruckten, wanderten sie an den Liegehallen vorbei und guckten auf uns merkwürdige Tiere hinein. Es fehlten nur Eisenlatten vor der Halle, dann wäre die Menagerie in O r d n u n g gewesen; wir Sünder fühlten uns ungefähr wie die monkeys auf der Johannis-Höhe 1 0 , die wir mit schuldbeladenen Gewissen da lagen.
Auch in diesem einzigen Sanatoriumsbrief an den Bruder finden sich ein paar scherzhafte Anspielungen auf Sexualität und Liebe. Nichts deutet aber darauf hin, dass Gefühle solcher Art den Patienten selbst ergriffen hätten. Dennoch steht es außer Zweifel, dass seine Gedanken um mehr als um altisraelitische Prophetie gekreist haben müssen. Unter den Pflegerinnen war nämlich eine, die sicherlich auf anderen Wegen als durch medizinische Heilkünste seine Lebenskraft gestärkt und somit zu seiner Genesung beigetragen hat. Was sich während jener sechs Monate dort drüben in der westnorwegischen Fjordlandschaft zwischen den beiden ereignet hat, wie nahe sie sich 8 9 10
Brief an Herbert, Luster 14.6.1913. Zurjeremia-Abhandlung, vgl. Abschnitt 5.2 unten. Norw.: St. Hanshaugen, eine Parkanlage auf einem kleinen Hügel in Oslo.
2. Die erste deutsche Abhandlung
71
schon dann gekommen sein mögen — darüber erzählen die vorhandenen Quellen nichts. Fest steht aber, dass Mowinckel in der damals 26-jährigen Karoline Torine Simonsen aus Fredrikstad die Frau seines Lebens fand, mit der er einige Jahre später (9.5.1917) eine glückliche, lebenslange Ehe schließen sollte. Nach den beiden Sanatoriumsaufenthalten scheint Mowinckel die nächsten Monate seiner Rekonvaleszenz — bis Ende des Jahres 1914 — bei seinen Eltern verbracht zu haben. In der Zwischenzeit (1913) hatte der Vater wiederum ein neues Amt bekommen; er war jetzt Hauptpfarrer in der ostnorwegischen Gemeinde Stange, die in der fruchtbaren, von Landwirtschaft geprägten Region Hedmark am Mjösa, dem größten See Norwegens, gelegen ist. Hier konnte Mowinckel weiter „sanatoriumsgemäß" 11 leben, fast den ganzen Tag draußen im Freien verbringen und die Landluft genießen. In einem Brief an Gunkel aus diesem Spätherbst 12 spricht Mowinckel von einem Rückfall im Frühjahr, der aber zum Glück keine schwerwiegenden Konsequenzen für den weiteren Genesungsprozess hatte. Im November war er beim Arzt in Kristiania gewesen, der keine T B C mehr finden und somit dem jetzt schon 30-jährigen Kandidaten die Möglichkeit in Aussicht stellen konnte, dass er von dem nächsten Sommer an wieder würde normal arbeiten können. 2. Die erste deutsche
Abhandlung
Ganz ergebnislos in wissenschaftlicher Hinsicht war, wie wir schon gesehen haben, diese Zeit der Erholung und Genesung dennoch nicht. Schon Ende August 1913 hat Mowinckel Michelet über seinen Jeremia-Aufsatz informiert und gefragt, ob auch eine deutsch verfasste Arbeit in der N T T würde Aufnahme finden können. 13 Offenbar hat der Professor, der zugleich Mitherausgeber der Zeitschrift war, diese Möglichkeit abgewiesen; stattdessen hat er eine alternative Lösung vorgeschlagen: die Schriftenreihe der Wissenschafts-Gesellschaft zu Kristiania. Daraufist Mowinckel dankbar eingegangen, 14 und schon im Jahr danach ist der Aufsatz hier erschienen. In seinen Sanatoriumsbriefen an Michelet legt Mowinckel ziemlich ausführlich dar, wie der Nehemia-Aufsatz zu Stande gekommen ist, und was er damit im Sinn hatte. Seine in Marburg verfasste Ezechiel-Studie habe er mittlerweile in „die innerste Ecke der Schublade" geschoben; sie leide, wie Mowinckel schon aus Marburg kommentiert hatte, „unter allen Fehlern der Konsequenzmacherei", ja mehr noch: sie leide darunter, „eine These bewei" 12 13 14
So die letzte A n m e r k u n g in seinem K r a n k e n j o u r n a l (8.1.1915). Stange, 14.12.1914. A n Michelet, Luster 23.8.1913. A n Michelet, Luster 13.9.1913.
72
Kapitel 5: Auf Umwegen zur Promotion
sen zu wollen, die um jeden Preis bewiesen werden sollte". Ganz anders positiv beurteilt Mowinckel seine letzte Arbeit: 15 Das Ergebnis, zu d e m ich g e k o m m e n b i n , hat sich ganz v o n selbst v o r g e d r ä n g t . Es w a r nicht e i n m a l m e i n e Absicht, ü b e r das P r o b l e m K o m p o s i t i o n n a c h z u d e n k e n . U r s p r ü n g l i c h wollte ich n u r m e i n e Z e i t in einer e i n i g e r m a ß e n n ü t z l i c h e n Weise v e r t r e i b e n , i n d e m ich die A b s c h n i t t e in J e r richtig setzte — was Kautzsch absolut nicht, auch B u h l nicht a n n ä h e r n d b e f r i e d i g e n d getan hat. D a b e i w u r d e ich d a r a u f a u f m e r k s a m , dass es gewisse K r i t e r i e n gibt, u m der L ö s u n g des P r o b l e m s etwas n ä h e r zu k o m m e n als bisher, da m a n i m W e s e n t l i c h e n dabei stehen geblieben ist, die U n g e l ö s t h e i t des P r o b l e m s zu konstatieren. Das einzige R e s u l t a t , das bisher n o t i e r t w e r d e n k a n n , ist die A u s s o n d e r u n g der E r z ä h l u n g s s t ü c k e , f ü r die m a n m e r k w ü r d i g e r w e i s e B a r u c h v e r a n t w o r t l i c h g e m a c h t hat ( D u h m ) , o b w o h l es e v i d e n t sein sollte, dass hier A u f z e i c h n u n g e n m ü n d l i c h e r T r a d i t i o n vorliegen.
Im weiteren Verlauf dieses Briefes legt Mowinckel Punkt für Punkt den Ausgangspunkt für seine Quellenkritik sowie sein Resultat dar. Diese Einzelheiten können wir hier übergehen; von größerem Interesse sind die folgenden Überlegungen des jungen Wissenschaftlers über Sitte und Gebrauch in der akademischen Welt: 16 Ich h a b e g a n z schnell u n d u n b e f a n g e n arbeiten k ö n n e n , w e i l ich glücklicherweise keine a n d e r e n B ü c h e r als B u h l , Kittel u n d C o r n i l l s E i n l e i t u n g habe. Von j e n e r Plage u n d Z e i t v e r s c h w e n d u n g , die d a m i t v e r b u n d e n ist, die f r ü h e r e Literatur d u r c h z u l e s e n u n d d a r a u f h i n z u w e i s e n , bin ich glücklicherweise befreit. Das ist aber auch der G r u n d d a f ü r , dass ich m i c h an die N T T w e n d e u n d nicht e t w a an die Z A W o d e r die Z W T h . D e n n w e n n m a n m i t einer wissenschaftlichen A r b e i t vor e i n e m f r e m d e n P u b l i k u m d e b ü t i e r e n soll, f o r d e r t j a eine b l ö d e E t i k e t t e , dass m a n in eleganter Gala erscheinen soll, m i n d e s t e n s z w e i F u ß n o t e n p r o Seite, m i n d e s t e n s drei v e r e h r t e V o r g ä n g e r auf j e d e r Seite g e n a n n t , A u s e i n a n d e r s e t z u n g n a c h rechts u n d nach links m i t G e g n e r n u n d i m m e r g e w i s s e n h a f t e A n f ü h r u n g des K i n d e s v a ters, w e n n m a n eine f r ü h e r v o r g e t r a g e n e M e i n u n g e r w ä h n t u n d b e n u t z t , D i n g e , die d a n n besonders ärgerlich sind, w e n n m a n w e i ß , dass m a n bei d e n s o g e n a n n t e n V o r g ä n g e r n f ü r sein spezielles T h e m a nichts f i n d e n k a n n . W e n n m a n in seiner Arbeit i n d i r e k t verrät, dass m a n die v o r l i e g e n d e Literatur in der H a u p t s a c h e k e n n t , sollte m a n davon befreit sein, sie zu zitieren u n d sie a u s d r ü c k l i c h zu b e s p r e c h e n u n d t o t z u s c h l a g e n . Insbesondere hier, w o ich faktisch n u r einen e r w ä h n e n s w e r t e n V o r g ä n g e r habe, u n d z w a r D u h m , u n d w o ich abschließend in ein paar W o r t e n sagen 15
A n Michelet, Luster 23.8.1913. A n Michelet, Luster 23.8.1913. Vgl auch M o w 1914a: 66, w o die A b h a n d l u n g als „die Frucht eines u n f r e i w i l l i g e n O t i u m s im S a n a t o r i u m " charakterisiert w i r d . A b schließend hebt M o w i n c k e l hier in der Tat die B e d e u t u n g G u n k e l s hervor: „die E r kenntnis des Wesens der prophetischen O r a k e l u n d der stilistischen U n t e r s c h i e d e in den P r o p h e t e n b ü c h e r n ... v e r d a n k e ich in erster Linie i h m , ursprünglich indirekt durch A n r e g u n g e n seines Genesiskommentars, später direkter u n d tiefgehender, teils durch seine ... glänzende Skizze der israelitischen Literatur, teils d u r c h seinen nicht w e n i g e r geistvollen u n d a n r e g e n d e n m ü n d l i c h e n U n t e r r i c h t . O h n e diesen letzteren w ä r e dieser Aufsatz sicher nie geschrieben w o r d e n . " 16
2. Die erste deutsche
Abhandlung
73
kann, dass ich die neuen Prinzipien und Anregungen, die mich zu dieser Arbeit gebracht haben, von Gunkel, i m Wesentlichen von seiner mündlichen U n t e r w e i sung, habe.
Noch vor seiner Abreise von Luster konnte Mowinckel das Manuskript — allerdings nur in der Form einer Kladde — an Michelet senden mit der Bitte, dass er es kritisch durchlesen möge. 1 7 Vorher war der Text von einer Deutschlehrerin in Kristiania sprachlich überprüft worden, und Mowinckel konnte mit ihrem Votum durchaus zufrieden sein: „Abgesehen von einigen grammatischen Schluderfehlern ist die Sprache im Übrigen ersten Ranges."™ Nachdem er den Text von Michelet zurückbekommen hatte, verspricht er auch, ihn vor der Drucklegung in Reinschrift abzugeben. Nur brauchte er dafür etwas Zeit, da er meistens darauf angewiesen sei, im Kurstuhl zu schreiben, wo es „auf die Dauer ein bisschen kalt an den Fingern" werde. 19 Trotz seiner spöttischen Worte über die akademische „Etikette" ist sich Mowinckel zweifellos dessen bewusst gewesen, dass ihm der mangelhafte Literaturzugang auch Schranken gesetzt hatte und zu Einwänden gegen seine Arbeit würde Anlass geben können. Der wichtigste — so seine eigene Einschätzung - sei, dass er hier und dort zweifellos Beobachtungen wiederhole, die schon vorher gemacht worden seien, ohne dabei anzugeben, wer sie zuerst gemacht habe. 2 0 Insgesamt scheint er aber wirklich mit dem erreichten Resultat zufrieden gewesen zu sein: „Ich glaube, sagen zu können, dass es meine ruhigste, objektivste und am wenigsten leidenschaftslose (sie) Arbeit ist, überwiegend eine Arbeit des Verstandes, wo die Phantasie wenig oder nichts zu sagen hat. Zudem hatte ich im voraus keine Pläne, keine T h e sen, die verteidigt werden sollten." 2 1 War Mowinckel mit dieser seiner ersten internationalen Veröffentlichung zufrieden, so brauchte er sich auch nicht über die Kritik zu schämen, die ihm in den führenden deutschen Literaturblättern zuteil wurde. Wilhelm Caspari (Breslau) hat seine Arbeit als eine „gründliche, klar angelegte und im allgemeinen sympathische literarkritische Studie" charakterisiert und sich insbesondere den „erfrischenden Drang" des Verfassers nach Selbständigkeit gemerkt. Mit der Sprachführung des jungen Ausländers ist er auch zufrieden gewesen: sein Deutsch sei — „einige Kleinigkeiten ausgenommen" — vorAn Michelet, Luster 21.10.1913. An Michelet, Follebu 17.11.1913. D e r kursivierte deutsche Ausdruck steht schon im norwegischen Text. 1 9 An Michelet, Follebu 17.11.1913. 2 0 An Michelet, Luster 13.9.1913. 21 An Michelet, Luster 21.10.1913. Vgl. auch Follebu 17.11.1913: „Ich bin jetzt dabei, Jer. auf Hebräisch nochmals durchzulesen, aber ich finde keinen Punkt, an dem ich die darin niedergelegten Anschauungen ändern oder revidieren muss; ebenfalls glaube ich, dass es mir gelungen ist, die Untersuchung mit der erwünschten Nüchternheit und ohne Aufgebot von phantastischen Hypothesen vorzunehmen." ,7
18
74
Kapitel 5: Auf Umwegen zur
Promotion
trefflich. 22 Positiv eingestellt waren auch Max Lohr (Königsberg) 23 und Carl Heinrich Cornill (Halle); der letztere hatte zwar „vielfach schwere Bedenken" gegen Einzeluntersuchungen, aber konnte diese „vielversprechende Erstlingsarbeit" nichtsdestoweniger als einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Jeremia-Buches loben. 24 3. Der religiöse „Durchbruch"
und die praktisch-theologische
Ausbildung
a) Im Dezember 1914, als er bei seinen Eltern in Stange wohnte, schrieb M o winckel an Gunkel, dass er kaum zu wissenschaftlicher Arbeit komme. 2 5 Seine liegengebliebene Doktorarbeit hat er sich dennoch sicher nicht ganz aus dem Kopf schlagen können. 2 6 Als aber seine Genesung so weit fortgeschritten war, dass er wieder daran denken konnte, zu seinen Studien zurückzukehren, hat er sich nicht sofort mit aller Kraft auf diese Abhandlungsarbeit geworfen. Statt dessen hat er im ersten Semester des Jahres 1915 die praktisch-theologische Ausbildung nachgeholt. Die sechs Jahre, die seit seinem theologischen Examen verlaufen waren, hatten ihn nicht nur wissenschaftlich weitergebracht, sondern ihn auch als Mensch und Christ reifen lassen. Jetzt war also jene Zeit gekommen, deren Bedeutung Mowinckel in seiner Lebensskizze selbst so eingeschätzt hat: „Erst mehrere Jahre später wurde mir das Christentum — oder anders ausgedrückt: Gott — die persönliche Wirklichkeit, wie ich es so lange gewünscht hatte." 27 Die Frage, wie diese religiöse Entwicklung Mowinckels zu erklären sei, lässt sich nur durch Vermutungen beantworten. Rückblickend bekennt er selbst an dieser Stelle zwar, dass ihm sowohl „äußere Umstände" 2 8 als auch andere, reifere Christen auf seinem Weg geholfen hätten. Näher geht er aber auf diese Beziehungen nicht ein, und es werden keine Namen genannt. M o winckels eigenes Interesse geht hier in eine andere Richtung; es liegt ihm daran, zu betonen, dass sein „Durchbruch" 2 9 keinerlei Bruch mit jener wis-
22
ThLB 36/1915: 273f. ThLZ 20-21/1915: 429f: „dankenswerte Anregungen". 24 T h R 20/1917: 4-8. 25 An Gunkel, Stange 14.12.1914. 26 Vgl. Skizze 1927: „vom Herbst 1914 an arbeitete ich ein bisschen an einer geplanten Doktorabhandlung". Vermutlich ist in dieser Zeit - sozusagen als ein „Nebenprodukt" der Abhandlungsarbeit - sein Aufsatz über die Organisation der jüdischen Gemeinde und der Provinz Judäas ca. 400 v.Chr. entstanden (Mow. 1915a). 27 Vgl. Skizze 1927. - Seine religiöse Entwicklung kommentiert Mowinckel auch in einem Brief an Gunkel (Kristiania 23.3.1921): „ich habe jetzt den festen Punkt gefunden und glaube jetzt, geistig frei geworden zu sein, wenn auch immer noch ringend und suchend und ,nach dem Ziele jagend'." 28 Der Ausdruck steht schon bei Mowinckel in Anführungszeichen. 29 Dieser Ausdruck steht auch schon bei Mowinckel in Anführungszeichen. 23
3. Der religiöse „ Durchbruch " und die praktisch-theologische
Ausbildung
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senschaftlichen Auffassung von Religion und Bibel herbeigezwungen habe, die „der große Vorzug unserer Zeit" sei: 3 0 im Gegenteil leuchtete es mir seitdem noch klarer ein als zuvor, dass „ U m k e h r " U m k e h r zu G o t t ist, nicht zu einer T h e o l o g i e , und dass Christus ganz unabhängig davon ist, wie wir ihn uns versuchsweise erklären. U n d für mich ist es etwas außerordentlich Wertvolles, dass die heutige Religionswissenschaft und T h e o l o g i e mit i m m e r größerer Klarheit und Stärke auf das Ziel hin gearbeitet hat, in das eigentlich Religiöse in der R e l i g i o n und der Religionsgeschichte h i n e i n z u k o m m e n , in die Frömmigkeit und den Wirklichkeits- und Erlebnisgrund, w o r a u f sie baut, und D o g m e n , Vorstellungen, R i t e n usw. als das zu verstehen, was sie sind: notwendige, aber zeitbedingte, mehr oder weniger wertvolle Form.
Obwohl Mowinckel selbst wenig zur Erklärung seines religiösen Reifeprozesses beiträgt, kann kaum Zweifel daran sein, dass die bedrohlichen Krankheitserfahrungen darin ein ganz entscheidender Faktor gewesen sind. Die Entscheidung, das praktisch-theologische Seminar nachzuholen, hatte er j e denfalls schon 1913 in Harastolen getroffen, wie er einem Studienfreund, Henrik Hille, mitteilt, der vor kurzem zum Hilfspfarrer in einer Kristianiagemeinde ernannt worden war: 3 1 Indessen ist es meine Absicht, wenn ich gesund genug werde, das Praktikum zu machen. Ich weiß noch nicht, ob ich es gebrauchen werde, das wird sich noch zeigen müssen — oder besser: das muss Gottes Sache sein; ich will vorläufig gar keine endgültigen Entscheidungen treffen. Für alle Fälle will ich aber das E x a m e n machen.
Im Anschluss an diese Mitteilung verrät Mowinckel Hille, dass er sich oben auf Harastolen dazu habe „verleiten" lassen, zwei-drei Male die Sonntagsandacht zu halten. Wer ihn dazu motiviert haben mag — die Sanatoriumsleitung? andere Kurgäste? oder jemand sonst? —, darüber sagt er nichts, nur, dass er seine Einwilligung nicht bereue. b) Die Ernennung Hilles, über die Mowinckel durch die Zeitung informiert worden war, scheint übrigens für ihn ein willkommener Anlass gewesen zu sein, sich mit den Themen Pfarrdienst und praktischer Theologie gedanklich auseinanderzusetzen. Es freut ihn, so versichert er eingangs dem ehemaligen Freund, dass dieser gemeint hat, „einen Schritt wie diesen nehmen zu können und zu sollen". Und er fährt fort:
Vgl. Skizze 1927. An cand.theol. Henrik Hille, Luster 29.9.1913. Hille (1881-1946) war nach seinem theologischen Examen zunächst einige Jahre als Lehrer tätig gewesen; er wurde später Bischof von Hamar. D e r B r i e f ist mir freundlicherweise von Hilles Sohn Georg (ebenfalls ehemaliger B i s c h o f von Hamar) ausgeliehen worden. 30 31
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur Promotion Ich f ü r m e i n e n Teil b i n d a r ü b e r nicht i m Zweifel, dass das Erste das S c h w i e r i g e r e ist: das K ö n n e n . E n t d e c k e n w i r aber in u n s selbst, dass w i r h e u t e i m Stand sind, dass w i r die E i g n u n g h a b e n , w e n n auch in aller M a n g e l h a f t i g k e i t u n d m i t vielen B e f ü r c h t u n g e n , d a n n w i r d v o n selbst das B e w u s s t s e i n k o m m e n , dass w i r es auch sollten. D e n n m e h r d e n n j e h a b e n w i r j e t z t M ä n n e r nötig, die etwas g e b e n k ö n n e n , u n d die etwas g e b e n w o l l e n .
Der Beruf des Pfarrers ist also, wie Mowinckel ihn würdigt, ein überaus wichtiger. Allerdings — wie er weiterführend betont: „Nicht so sehr u m der Kirche willen." Mit ihr u n d ihrer Rolle scheint er sich nicht ganz so reibungslos verständigen zu können: D i e K i r c h e ist m i r i m m e r n o c h eine problematische G r ö ß e , d e r e n größtes R e c h t ist, dass sie die T r a d i t i o n der G e s c h i c h t e hat u n d somit v o n K i n d e s b e i n e n an das H e r z all derer ergreift, die n o c h religiös d e n k e n u n d f ü h l e n ; aber zuallererst u m der R e l i g i o n selbst w i l l e n , die auf die D a u e r der L e b e n s n e r v in u n s e r e m Volk ist u n d bleibt. U n d in j e n e m g r o ß e n U m b i l d u n g s p r o z e s s , der h e u t z u t a g e die L e b e n s b e d i n g u n g e n , die Lebensweise, die Arbeit, die Interessen u n d d a m i t auch d e n C h a r a k t e r u n d die D e n k w e i s e unseres Volks b e t r i f f t , die U m b i l d u n g v o n e i n e m B a u e r n l a n d in ein Industrieland, da ist es m e h r als j e m a l s v o n e n t s c h e i d e n d e r B e d e u t u n g , dass der E i n z e l n e e i n e n festen G r u n d hat, auf d e m er steht, u n d dass die Massen in der L e b e n s a u f f a s s u n g gewisse g e m e i n s a m e G r u n d z ü g e h a b e n , d u r c h die sie der V e r g a n g e n h e i t v e r b u n d e n bleiben, w o m i t v e r h i n d e r t w e r d e n k a n n , dass i h r e sämtlichen W u r z e l n i m W i r b e l der V e r ä n d e r u n g abgerissen w e r d e n . D a m i t eine K o n t i nuität in u n s e r e m Volkscharakter bleiben k a n n . E i n e d e r a r t i g e K o n t i n u i t ä t aber k a n n , glaube ich, n u r „die R e l i g i o n der V ä t e r " g e b e n .
Es ist keine geringe Herausforderung, vor die Mowinckel hier den zeitgenössischen Pfarrer stellt. Zusammenfassend spricht er denn auch von einer „doppelten" Aufgabe: „den Einzelnen zu einem persönlichen Gottesverhältnis zu verhelfen, und zugleich dazu beizutragen, dass die Religion als Massenerscheinung ... sich hält und ihre Kraft bewahrt". Damit werden allerdings „große Forderungen" an das „Vermögen" des Pfarrers gestellt — oder genauer: N i c h t gerade B e g a b u n g . S o n d e r n an seinen religiösen G e h a l t . Das M o t t o f ü r alles priesterliche T u n muss i m m e r sein: „ G e h e h i n u n d erzähle, w i e g r o ß e D i n g e G o t t an dir getan hat."
Mowinckel bezweifelt, dass die praktisch-theologische Ausbildung den künftigen Pfarrern wirklich das vermitteln kann, was sie in der Praxis eigentlich brauchen. Lohnender, so meint er, w ü r d e es sein, an den Erfahrungen alter Freunde, die jetzt übers ganze Land ihre Pfarreien bedienen, teilzuhaben: In der Weise k ö n n t e m a n sicher viel nützliches Wissen b e k o m m e n ; das sind E r f a h r u n g e n , die nicht in B ü c h e r niedergelegt w e r d e n k ö n n e n , u n d j e n e Köpfe, die die L e h r b ü c h e r der praktischen T h e o l o g i e m a c h e n , sind in d e n meisten Fällen n i e in
3. Der religiöse „Durchbruch" und die praktisch-theologische Ausbildung
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der Praxis gewesen. Oder ihre Praxis besteht darin, dass sie, wie in Marburg, in der Universitätskirche vor einem „distinguierten" Publikum predigen. Was wirkliche Erfahrung keinerlei ersetzen kann.
In der Fortsetzung lässt Mowinckel seiner Enttäuschung über die Marburger Geistlichen freien Lauf. Während seiner sechs Wochen in der K l i n i k habe sich nämlich keiner dort sehen lassen - und das in der Osterzeit! Ja, von dem Gros der deutschen protestantischen Geistlichkeit insgesamt scheint er überhaupt keine besonders hohe Meinung zu haben; von etlichen lobenswerten Ausnahmen abgesehen sei die Menge, so vermutet er, zu nicht viel nütze. c) Auch in den Briefen Mowinckels an Michelet aus den Sanatorien finden sich deutliche Spuren, die einen menschlichen und religiösen Reifeprozess ahnen lassen. Im Hinblick auf die Grenzen, die das Leben einem jeden M e n schen setzt, beklagt sich der Kurgast nochmals über seine beschränkte Arbeitsund Leistungsfähigkeit: „Ich habe noch nichts getan. Jedenfalls nichts Gutes getan." In der Fortsetzung klingen aber dennoch optimistischere T ö n e an: 3 2 Es schwebt mir aber vor, dass es nun einmal zu etwas werden kann. Nicht etwas Gutes oder Verdienstvolles; SoüXoi dxgELoi eafiev; aber Pflicht. Und ich fange jetzt auch selbst an, zu glauben, dass mich Gott zu etwas gebrauchen kann und will; wenn auch nicht als ein erwähltes Werkzeug — das ist viel zu viel —, so doch als ein Diener, der seine geringe Schuldigkeit tun kann. Ich weiß jedenfalls, dass ich nicht umsonst hierher gekommen bin; wozu weiß ich noch nicht. Ich versuche aber, mir darüber keine Sorgen zu machen; ich nehme mir vor, überhaupt keine Pläne zu haben. Und vieles, was ich früher als wertvoll ansah, ist mir jetzt bedeutungslos. Ich kann nicht sagen, dass ich am Ziel bin. M i r scheint aber, dass ich den Weg erahne.
Dieser W e g führte für Mowinckel also durch das praktisch-theologische S e minar hindurch. U n d auch diesen Schritt hat er — seiner Skepsis gegenüber den dort gebrauchten Lehrbüchern zum Trotz — nicht bereut. Z u dieser p o sitiven Erfahrung mag nicht zuletzt der damalige Hauptlehrer, Johannes J o h n s o n (1864—1916), beigetragen haben. Nach einem außergewöhnlichen theologischen Ausbildungsweg, der unter anderem durch drei Jahre als M a trose unterbrochen worden war, diente J o h n s o n der Norwegischen M i s sionsgesellschaft zwanzig Jahre lang als Missionar auf Madagaskar, bis er aus Gesundheitsgründen nicht mehr ausreisen konnte. E r war als Verkündiger außerordentlich hoch geschätzt und hat sowohl durch seine Predigten als auch durch seine charismatische Persönlichkeit auf seine Zuhörer — und seine Studenten — einen überwältigenden Eindruck gemacht. 3 3 Das bestätigt
32
An Michelet, Luster 13.9.1913.
Ü b e r J o h n s o n , vgl. BUGGE 1 9 3 6 ; v g l . a u c h BERGGRAV 1 9 4 6 : 1 6 7 - 2 3 5 u n d HESTVOLD 1 9 8 7 : 3 1 - 4 8 . 33
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur
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auch Mowinckel, der das eine Semester unter der Leitung johnsons als „sehr wertvoll" charakterisiert. 34 Unter den 17 Kandidaten, die im Frühjahr 1915 das praktisch-theologische Examen absolvierten, hat Mowinckel als Einziger die Note „Laudabilis prae ceteris" bekommen. 3 5 Für den Pfarrdienst hat er sich dennoch nicht entschieden; darum hat er sich auch nicht gleich ordinieren lassen. Dieser Schritt folgte erst 25 Jahre später. Vorerst ließen ihn seine wissenschaftlichen Interessen nicht in Ruhe. Und gerade im Frühjahr 1915 wurde ein Universitätsstipendium frei. Wie Mowinckel selbst erzählt, wurde er dazu aufgefordert, sich zu bewerben, und nachdem er sich die Sache etwas genauer überlegt hatte, ist er zu dem Schluss gekommen, dass dies der richtige Weg für ihn sei. 36 Mowinckels Entscheidung für die theologische Wissenschaft bedeutete aber nicht, dass er in den folgenden Jahren von seiner praktisch-theologischen Ausbildung gar keinen Gebrauch gemacht hätte. Es ist keineswegs bei jenen zwei-drei Sonntagsandachten oben auf Harastolen geblieben. Sowohl vor als auch — erst recht — nach seiner Ordination im Jahre 1940 ist M o winckel als Prediger tätig gewesen, teils auf der Kanzel im R a h m e n des kirchlichen Gottesdienstes, teils durch Sonntagsbetrachtungen, größtenteils in der Form von Textauslegungen in verschiedenen Zeitungen. Ein späteres Kapitel wird diese seine Predigttätigkeit eigens thematisieren. 37 Dort werden wir auch Gelegenheit haben, zwei interessante Texte Mowinckels aus dem Praktikumssemester etwas näher kennen zu lernen: seine Examenspredigt über Matth. 25,14-30 und die Klausurarbeit in Homiletik zum Thema: „Was will ich als Prediger? " 3 8 4. Doktorarbeit
und
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a) Nach dem praktisch-theologischen Examen im Frühjahr 1915 war es endlich so weit: Mowinckel konnte sich nun vollends auf seine Esra/NehemiaStudien konzentrieren. Bald erschien eine erste Frucht dieser Arbeit: in einem zweiteiligen Aufsatz in der „Norsk Teologisk Tidsskrift" hat Mowinckel 34
Skizze 1927. N K 12/1915: 415. - Laudabilis prae ceteris in Homiletik, Liturgik, Katechetik, Pädagogik und Examenspredigt; laudabilis in Pastorallehre, Missiologie, Kirchenrecht und Katechisation. 36 Skizze 1927. 37 Vgl. Kap. 13. 38 Während in den Universitätsarchiven keine Examensarbeit von Mowinckel aufbewahrt worden ist, finden sich diese beiden Texte in seinem privaten Nachlass. — Die übrigen Examensaufgaben lauteten: „Seelsorge im Zusammenhang mit dem Familienleben" (Pastorallehre) und „Ein Vergleich zwischen griechischer und römischer Erziehung" (Pädagogik), vgl. N K 12/1915: 415. 35
4. Doktorarbeit
und Promotion
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die Organisation der jüdischen Gemeinde und der Provinz Judäa um 4 0 0 vor Christus behandelt. 3 9 Ehe das Jahr zu Ende war, hatte er auch eine erste „Sammlung" von „Studien zur Geschichte und zur Literatur der jüdischen Gemeinde" fertig: „Statholderen Nehemia", 4 0 und im Februar/März 1916 hat sie Mowinckel als Doktorabhandlung eingereicht. Danach hat er eine zweite Sammlung, „Ezra den skriftlasrde", fertig geschrieben; sie erschien ebenfalls im Laufe desselben Jahres im Druck. Neben seinen Doktorstudien hat aber Mowinckel im Herbst 1915 Zeit gefunden, einen kleinen Text zu schreiben, der deswegen von besonderem Interesse ist, weil er vermutlich seine erste Rezension ist 41 und er hier ausgerechnet ein Werk seines Lehrers bespricht. Professor Michelet hatte vor kurzem den ersten Band einer israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte veröffentlicht, in dem er diese unter das Leitmotiv „Vorbereitung für Christus" gestellt hatte. Es handelt sich hier also nicht um ein streng wissenschaftliches Werk, sondern eher um einen apologetischen Versuch auf dem Feld der christlichen Volkserziehung. Gewiss hatte Michelet seinen Lesern die neue, historische Auffassung der Bibel als die einzig mögliche vorgestellt, zugleich war ihm aber daran gelegen, die alttestamentliche Geschichte vom christlichen Standpunkt aus zu verstehen, sie durch eine teleologische Interpretation als eine Entwicklung auf Christus hin zu betrachten. Für das Werk des Lehrers hat Mowinckel durchaus anerkennende Worte: es sei ohne Zweifel „ein wertvoller Zuwachs" zur „armseligen" theologischen Literatur der Gegenwart, den er „bestens" empfehlen könne. Da „die Stellung der christlichen Allgemeinheit" auf diesem Feld „so unklar und prinzipienlos" sei und in allen Schulen so viel „Unsinn" serviert werde, habe das Buch Michelets eine wichtige kirchliche Aufgabe: es könne zu einer „gesünderen und wahreren" Auffassung vom Alten Testament beitragen. Trotz dieser Anerkennung und trotz des freundlichen Tons der ganzen R e zension überwiegt der große Abstand zwischen Schüler und Lehrer: In einer teleologischen Darstellung sieht Mowinckel prinzipiell die Gefahr, dass der Wert des Alten Testaments von fremden Gesichtspunkten aus gemessen und so eine allzu geradlinige Entwicklung konstruiert werde, und Michelet habe denn auch den dogmatischen und den religionshistorischen Gesichtspunkt nicht immer ausreichend klar auseinandergehalten. Zusammenfassend stellt Mowinckel fest, dass er selbst sich „gegenüber der sogenannten ,Tradition' viel skeptischer" verhalte als Professor Michelet und folglich „in einer Menge M o w . 1915a (abgeschlossen i m Februar 1915). Vgl. Postkarte an Walter Baumgartner, Kristiania 16.1.1916. 4 1 M o w . 1915b. Anders als alle anderen Zeitungsausschnitte im Nachlass M o winckels ist dieser eine a u f sorgsam zusammengefaltetes Papier aufgeklebt, auf dessen erste Seite mit sauberer Handschrift „ R e z e n s i o n e n und K r i t i k e n " geschrieben worden ist. 39
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur
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von Punkten einer ganz anderen Meinung" sei als er. Hier könne er aber nicht in Einzelheiten gehen: „Sollte ich das näher ausführen, hätte ich mich ebenso gut hinsetzen müssen, um eine ganze Geschichte Israels und eine Religionsgeschichte Israels und Judas zu schreiben." Mit einer soliden Portion Selbstvertrauen scheint ein Stipendiat, der auf diese Weise mit seinem Lehrer diskutiert, wohl ausgerüstet zu sein. Und die Hoffnung Michelets, dass sein Buch auch zum Studium geeignet sein könne, teilt Mowinckel schon deswegen nicht, weil es nur gelegentlich durchschimmern lasse, dass die Diskussion über wichtige Fragen noch im Fluss sei. In diesen Zusammenhang flicht Mowinckel übrigens eine Kritik ein, die nicht nur Michelet, sondern die damalige alttestamentliche Wissenschaft insgesamt trifft: Der Sinn f ü r die großen Fragen ist merklich zurückgegangen; die Forscher beschäftigen sich zum großen Teil mit Kleinkram. Das Epigonenzeichen! D e n n die großen Fragen sind sehr weit davon entfernt, gelöst worden zu sein!
O b Mowinckel mit diesem Pauschalurteil über die damalige Lage der alttestamentlichen Forschung Recht hatte oder nicht, ist eine Frage, die wir hier beiseite lassen. Interessanter wäre es zu wissen, ob er die Arbeit, mit der er damals selbst beschäftigt war, ebenfalls als „Kleinkram" angesehen hat? Oder ist er im Gegenteil von der Zuversicht erfüllt gewesen, auf dem Weg zur Lösung einer der wirklich „großen" Fragen zu sein? Auf jeden Fall war sein Anliegen, ein Forschungsfeld neu zu beleben, auf dem seit der erbitterten Kontroverse in den 1890er Jahren zwischen zwei großen Vorgängern, dem Althistoriker Eduard Meyer und dem alttestamentlichen Großmeister Julius Wellhausen, so gut wie nichts Weiterführendes geleistet worden sei. Nicht nur hat Mowinckel „eine weit radikalere Kritik des Buches Esra-Nehemia" gefordert als die, von der Meyer ausgegangen war; eine Revision habe, so meint Mowinckel, auch die Graf-Wellhausensche Auffassung selbst nötig, die Meyer immerhin als sicheres Resultat angesehen habe. 42 b) Nach der Abgabe der Nehemia-Studien war bis zu Probevorlesungen und Disputation noch eine Wartezeit von etlichen Monaten, in denen Mowinckel nicht gerade tatenlos war. Im Frühjahr 1916 hatte sich Professor Michelet beurlauben lassen, und an seiner Stelle hat sein vielversprechender Schüler und Stipendiat zum ersten Mal als Prüfer und Zensor beim theologischen Examen mitgeholfen. 43 In diesem Frühjahr hat aber auch eine andere, nicht ganz so alltägliche akademische Angelegenheit seine Aufmerksamkeit und Arbeitszeit gefordert. Anfang April hatte nämlich die Universität zu Kristia42
M o w 1916a: XIV (im Vorwort). — Zur Kontroverse zwischen Meyer und Wellhausen, vgl. K R A T Z 2004: 6-27. 43 Vgl. Brief an Gunkel, Kristiania 16.6.1916.
4. Doktorarbeit
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nia einen vornehmen deutschen Gast zu Besuch; Hermann Gunkel, M o winckels berühmter Lehrer, war vom theologischen Studentenverein eingeladen worden, 44 um eine Reihe öffentliche Vorlesungen zu halten. In einer Tageszeitung hat Mowinckel die Leser mit Gunkel und seinem Werk bekannt gemacht und ihnen seine Vorlesungen empfohlen; aus eigener Erfahrung wisse er ja, wie Gunkels „geistreiche Darstellung" die Zuhörer sowohl eine als auch zwei Stunden „in Bann halten" könne. 45 Selbst wird er natürlich unter seinen eifrigsten Zuhörern gewesen sein. Außerdem hat er die Vorlesungen — eine über den biblischen Schöpfungsbericht, vier über die Propheten und eine über die Bedeutung des Alten Testaments in der Gegenwart — ins Norwegische übersetzt. 46 In einer kurzen Besprechung des Gunkel-Besuchs in „Norsk Kirkeblad" ist insbesondere die letzte Vorlesung über die Propheten — diejenige über die Formen ihrer Dichtung — als ein großes Erlebnis hervorgehoben worden. Hier, wo der Redner „ganz in seinem Element" gewesen sei, habe er seine eigenen Forschungsresultate „quicklebendig und mit glühender Begeisterung" weitervermitteln und die Zuhörer mitreißen können. Gewisse Vorbehalte legen dennoch die Vermutung nahe, dass der berühmte Gast nicht die große Begeisterung hervorgerufen hat, die Mowinckel in Aussicht gestellt hatte. Teilweise werden seine Vorträge dem Publikum vermutlich ziemlich harte Kost gewesen sein; als problematische Punkte nennt der Kommentator sowohl eine übergroße Stoffmenge als auch eine Diktion, die norwegischen Ohren nicht deutlich genug gewesen sei.47 Für den Gunkel-Schüler Mowinckel und für die führenden Kräfte des theologischen Studentenvereins wird der Besuch aus Gießen zweifellos ein bedeutsames Ereignis gewesen sein. Es wurden aber auch kritische Stimmen laut. Es gab Kritiker, die am Zeitpunkt des Besuchs Anstoß nahmen: Wieso gerade jetzt, mitten im Krieg? Wie ließe sich so eine Einladung mit der nationalen Neutralität vereinbaren? Andere brachten theologische Vorbehalte vor: Was hätten denn eigentlich solche bibelkritischen Gesichtspunkte, wie Gunkel sie vertrete, in einer Reihe öffentlicher Vorträge zu tun? Würden sie nicht den Glauben mancher einfacher Christen an die Bibel als das zuverlässige Wort Gottes erschüttern können?
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Auf einer Studienreise in Deutschland im Jahre 1915 hatte ihn Kristian Schjelderup eingeladen; vgl. REPSTAD 1994: 127. 45 Mow. 1916n. 46 Die vier Propheten-Vorlesungen (Mow. 1916k) wurden in der N T T und in Buchform veröffentlicht; die beiden anderen (Mow. 1916j+m) nur in Buchform. Dazu hatte Gunkel „in einem privaten Kreis" über das Buch Esther gesprochen, vgl. NK 13/1916: 235. 47 NK 13/1916: 235.
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur Promotion
A u f kritische Argumente dieser Art ist Mowinckel in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Kirke og Kultur" eingegangen, in dem ihm daran gelegen ist, den theologischen Ansatz Gunkels näher zu erläutern und seine Bedeutung für die Bibelwissenschaft ebenso wie für den christlichen Glauben darzulegen. 4 8 Indessen fanden sich auch innerhalb der theologischen Fakultät Leute, in denen die Begegnung mit dem deutschen Gast nicht bloß Begeisterung erweckte. In einem B r i e f an den dänischen Pfarrer F.C. Krarup, in dem er den „interessanten Besuch" Gunkels erwähnt, geht der Neutestamentier Lyder Brun gar nicht auf die Vorträge und den fachlichen Gewinn ein, sondern begrenzt sich darauf, die Art und Weise zu bedauern, wie sich Gunkel privat zum Krieg geäußert habe. Er habe zwar zugegeben, dass derselbe mit den Worten und dem Geist Jesu nicht übereinstimme, sondern habe sich auf das Alte Testament gestützt. Sein einziger, ganz junger Sohn habe sich als Freiwilliger gemeldet und halte den Bajonettkampf mit den Russen für den großen Höhepunkt seines Lebens. 4 9 c) In Bruns Briefwechsel mit Krarup taucht auch der Name Mowinckel gelegentlich auf. In seiner Funktion als Herausgeber des „Norsk Kirkeblad" hat sich Brun im Herbst 1916 über dessen Mitarbeiterschaft freuen können; er charakterisiert ihn als „eine vielversprechende Kraft" und seine Doktordisputation als „eine Ermunterung" 5 0 und äußert den Wunsch, dass man eine Möglichkeit finden möge, ihn fester an die Universität anzuschließen. 51 Von der Begutachtungskommission war die von Mowinckel eingereichte Nehemia-Arbeit am 23. September als Doktordissertation angenommen worden. Die Gutachter waren — neben Mowinckels Lehrer Michelet — zwei Professoren aus der historisch-philosophischen Fakultät: der Orientalist Alexander Seippel und der Religionshistoriker Wilhelm Schencke; 5 2 bei der Disputation am Samstag 2. Dezember traten Michelet und Seippel als O p p o nenten auf. Seine beiden Probevorlesungen hatte Mowinckel da schon hinter sich. Als T h e m a für die erste, selbstgewählte Vorlesung (am 14.11) hatte er sich „Die Thronbesteigungspsalmen und das Thronbesteigungsfest J a h wes" ausgewählt, ein Thema, das er im Anschluss an die Promotion zu ei-
KoK 23/1916: 239-251. Brun an Krarup, Kristiania 10.5.1916, vgl. VALKNER 1968: 153. 5 0 Brun an Krarup, Kristiania 11.12.1916, vgl. ebd. 162. 31 Brun an Krarup, Kristiania 25.12.1916, vgl. ebd. 162. 3 2 Alexander Seippel (1851-1938) war seit 1886 Professor für semitische Sprachen; als Bibelübersetzer hat er eine bedeutende Arbeit geleistet, indem er mehrere alt- und neutestamentliche Bücher ins „Neunorwegische" (vgl. dazu Kap. 12.1.a und 12.2) übertrug. - Wilhelm Schencke (1869-1946), seit 1901 Stipendiat, seit 1914 Professor für Religionsgeschichte, war durch verschiedene Zeitungsartikel als ein scharfer Kritiker der theologischen Fakultät bekannt (vgl. Exkurs zu Kap. 11). 48
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4. Doktorarbeit
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Promotion
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nem längeren Aufsatz ausgearbeitet hat; 53 für die zweite Vorlesung (am 28.11) war ihm als Pflichtthema der Text 1. Kor. 15,44—49 aufgegeben worden. 54 Die Dissertation Mowinckels über Nehemia und das Nehemia-Buch u m fasst drei Kapitel. Das erste: „Josephus und das chronistische Nehemia-Buch" ist eine eingehende literarkritische Untersuchung, in der Mowinckel mit Hilfe des Josephus und des 3. Esra das Verhältnis der Bücher Nehemia und Esra zueinander sowie zum chronistischen Geschichtswerk als Ganzem zu bestimmen versucht, und die ihn in den Stand setzt, eine begründete R e konstruktion der in diesen Büchern erzählten Geschichte vorzuschlagen. Das 2. Kapitel: „Die Denkschrift Nehemias", bringt eine Ubersetzung und eine Interpretation jener Stücke dieses Buches, in denen in der Ich-Perspektive über die Taten Nehemias berichtet wird. Mowinckel hält sonst übliche Bezeichnungen wie „Memoiren" oder „Autobiographie" für unangebracht, da eine derartige literarische Gattung im alten Orient noch nicht entwickelt worden sei. Statt dessen zieht er die vorderorientalischen Königsinschriften, in denen die großen Taten des Herrschers aufgezeichnet wurden, als Interpretationsrahmen heran. Ja, er wagt sogar die kühne Hypothese, dass auch die Nehemia-Denkschrift auf eine steinerne oder kupferne Tafel geschrieben und im Tempel aufgestellt worden sei. Das dritte Kapitel: „Die geschichtliche Bedeutung Nehemias", stellt schließlich das Werk und Wirken Nehemias in den größeren Zusammenhang der nachexilischen Geschichte der jüdischen Gemeinde. Ähnlich wie Mowinckels Jeremia-Abhandlung wurde auch sein Doppelwerk über Nehemia und Esra in den wichtigsten deutschen Literaturzeitungen besprochen. In der Hauptsache sind sich, zumindest was das NehemiaBuch betrifft, die zwei Rezensenten — Frants Buhl (Kopenhagen) 55 und Otto Procksch (Greifswald) 56 — ganz einig. Das bleibende Verdienst von Mowinckels Studien erblicken sie in dem ersten Kapitel, das sie — abgesehen von Kritik in diesen oder jenen Einzelheiten — als ein beachtliches Stück literarkritischer Arbeit beurteilen. Seine Behandlung der Ich-Stücke überzeugt sie aber keineswegs; der Vergleich mit den altorientalischen Königsinschriften scheint ihnen „sehr weit hergeholt" 57 zu sein. In einem Vergleich mit diesem ausländischen Vorbild fallen ihnen die Unterschiede viel mehr in die Augen als die Ähnlichkeiten.
53 54 55 56 57
Mow. 1917a. An Gunkel, Kristiania 16.11.1916. T h L Z 41/1916: 484f. T h L B 38/1917: 345-347. So Procksch, ebd. 347.
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur
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d) Natürlich wurde Mowinckels Nehemia-Buch auch in der Heimat ausführlich besprochen; für die Rezension in der „Norsk Teologisk Tidsskrift" ist wieder einmal Buhl zuständig gewesen. 58 Und sogar eine auf die breitere Öffentlichkeit ausgerichtete Zeitschrift wie „Kirke og kultur" hat sowohl dieser ersten 59 als auch der zweiten 60 „Sammlung" seiner Studien Aufmerksamkeit gewidmet und sie nicht nur den Pfarrern, sondern auch der gebildeten Öffentlichkeit empfohlen. An solche Leser hat sich aber Mowinckel in dem ertragreichen Jahr 1916 sonst mit einem populärwissenschaftlichen Buch über die alttestamentlichen Königspsalmen 61 gewendet. Hier tritt er wieder als profilierter Gunkel-Schüler auf; von den beiden Männern, denen er dieses Buch gewidmet hat, hebt er im Vorwort zuerst Gunkel als Lehrer und Vorbild hervor. Von ihm habe er gelernt, die Königspsalmen so zu interpretieren, wie er es in diesem Buch getan habe: als liturgische Texte, deren Form und Inhalt eben durch ihre spezifische kultische Funktion an den jeweiligen nationalen Festtagen bestimmt seien, Texte also, die nicht als frei geformte Dichtung religiöser Einzelindividuen zu Stande gekommen seien, sondern traditionell festgelegten Mustern altorientalischer Poesie folgten und in näher zu bestimmende Gattungen einzuordnen seien. Allerdings glaubt Mowinckel auch, die Untersuchungen Gunkels selbst ein Stück weit vorangetrieben zu haben. Und eben im Hinblick auf diese Weiterführung der Gunkelschen Ansätze scheint der zweite Name, der hier genannt wird, eine nicht unwesentliche Rolle gespielt zu haben: der dänische Religionshistoriker Vilhelm Gronbech, seit 1914 Professor an der Universität zu Kopenhagen. Im Sommer 1916 hatte er an einem Fortbildungskurs für Pfarrer im westnorwegischen Ort Voss eine Reihe Vorlesungen über „Sakrament und Mystik in den primitiven Religionen" gehalten, die Mowinckel „größere Klarheit über die wichtigsten Probleme der Königspsalmen" gegeben hätten: 62 Ich hatte schon herausgefunden, dass die national-religiösen Feste die Quelle und Krone des Lebens im alten Israel waren; und im Gegensatz zu Gunkel, der die K ö nigsvergottung in Israel als eine rein dichterisch-stilistische Anleihe von den anderen Völkern des Orients erklären wollte, fing ich an zu erahnen, dass die Göttlichkeit des Königs auch in Israel ein echter Ausdruck f ü r einen wichtigen G r u n d z u g der eigenen, ursprünglichen Religion des Volkes sei. Die volle Klarheit darüber bekam ich aber erst, als ich die Vorlesungen Gronbechs hörte.
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N T T 18/1917: 113-126. KoK 23/1916: 502-505. KoK 25/1918: 123f. Mow. 1916c. Ebd. V (im Vorwort).
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Sowohl Michelet 6 3 als auch Johannes Pedersen, 6 4 damals Dozent f ü r das Alte Testament in Kopenhagen, haben Mowinckels „Königspsalmen" mit Z u s t i m m u n g und A n e r k e n n u n g rezensiert. Michelet, der seinem Schüler jetzt als einem „völlig gleichwertigen" Gegner gegenübertreten konnte, musste ihn allerdings davor warnen, die Reichweite seiner Ergebnisse zu übertreiben, u n d zwar sowohl i m Hinblick auf die B e d e u t u n g der ausländischen Analogien als auch auf die dominierende Rolle des Kultus im alten Israel. Das waren dennoch alles nur freundschaftlich vorgebrachte Einwände. Ganz anders kritisch eingestellt war Karl Vold, der 1916 z u m Professor f ü r das Alte Testament an der Gemeindefakultät berufen worden war. D e m norwegischen Gunkel-Schüler, dessen Auffassung der Psalmen Vold „in religiöser u n d theologischer Hinsicht" als „ziemlich trostlos" charakterisiert, gibt er einleitungsweise ein nicht gerade schmeichelndes Attest: 6 5 Er zeigt sich nicht einmal als ein origineller oder selbständiger Schüler, sondern pflanzt, wie mir scheint, ziemlich unselbständig Gunkels Hauptgesichtspunkte auf norwegischem Boden u m . U n d ist der Lehrer doch geistreich und geistvoll, kann vom Schüler kaum dasselbe gesagt werden.
Auf diesen Vergleich des Schülers mit dem Meister k o m m t Vold i m weiteren Verlauf seiner Rezension noch ein paar Mal zurück. Aber auch dort, w o er faktisch zugeben muss, dass der Schüler eigene Wege gegangen ist, wie etwa in der Frage der „Königsvergottung" in Israel, hat er f ü r diese Selbständigkeit keine Anerkennung übrig. Statt dessen spielt er hier teils einen anderen Gunkel-„Schüler", und zwar Greßmann, teils Gunkel selbst gegen M o winckel aus. Was ihn aber sonst an dessen Interpretation stört, ist vor allem der fehlende Blick f ü r die eschatologisch-messianische Dimension der K ö nigspsalmen. Dadurch, dass ihre Form und ihre Ausdrucksweise restlos auf das Konto eines von außen k o m m e n d e n Hofstils geschrieben würden, verlören sie ihren religiösen Wert als Ausdruck der Offenbarung. 6 6 In seinem Urteil über die fehlende Originalität Mowinckels hat sich Vold, wie später vollends klar werden sollte, gründlich geirrt. Der scharfe Ton seiner Rezension k a n n im übrigen als ein Ausdruck für das gespannte Verhältnis zwischen der konservativeren Gemeindefakultät und der liberaleren Universitätstheologie verstanden werden. Vold, ein etwas älterer MicheletSchüler, der — ähnlich wie Mowinckel — in Deutschland Assyriologie u n d Altes Testament studiert hatte, konnte aber auch seine eigenen G r ü n d e haben, u m ein bisschen Aggression los zu werden; i m m e r h i n waren zwei von 63
N K 13/1916: 797f. und 14/1917: 258-266. N K 15/1918: 369-371. — In derselben Rezension bespricht Pedersen auch den Aufsatz über die Thronbesteigungspsalmen und das Thronbesteigungsfest Jahwes (= Mow. 1917a). 65 LK 54/1917: 319. 66 LK 54/1917: 320. 64
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur
Promotion
ihm eingereichte Doktorabhandlungen abgewiesen worden. 67 Und schließlich hat Vold wahrscheinlich mit Mowinckel selbst ein Hühnchen zu rupfen gehabt, denn in seinem Aufsatz anlässlich des Gunkel-Besuchs hatte M o winckel kurz zuvor Vold ziemlich ironisch erwähnt 6 8 und auf diese Weise sicher nicht zur gegenseitigen Verständigung beigetragen. Exkurs:
Mowinckel
und der erste
Weltkrieg
a) Während des ganzen ersten Weltkriegs ist es Norwegen, wie auch den übrigen skandinavischen Ländern, gelungen, neutral zu bleiben. Seit dem langsamen Aufstieg der norwegischen Wirtschaft im 18. Jahrhundert war das Land durch Handelsbeziehungen mit England eng verbunden, und eine Mehrheit der Bevölkerung hat zweifelsohne mit der Entente sympathisiert. Indessen gab es auch viele deutschfreundliche Norweger, nicht zuletzt unter Künstlern und Intellektuellen. Viele Wissenschaftler und Ingenieure hatten ihre Ausbildung in Deutschland bekommen und pflegten Kontakt mit deutschen Kollegen. Eine glaubwürdige Beschreibung dieser gegensätzlichen Haltungen gibt Mowinckel in seinem Brief an Gunkel im Dezember 1914:69 Nicht wegen des Aufsatzes 70 schreibe ich Ihnen heute aber; sondern weil ich Ihnen notwendig sagen muß, daß ich, und viele von meinen Landsleuten mit mir, wenn es auch nach den Zeitungen anders erscheinen dürfte, mit Deutschland ein Herz und ein Gedanke bin.
Allerdings, muss Mowinckel zugeben: „Die Mehrzahl hier ist ... aus alter Gewohnheit, englischfreundlich, besonders natürlich die Radikalen und die Sozialdemokraten, für dessen unaufgeklärtes Bewußtsein England als die Freiheit und der Fortschritt x a t ' 'ei;axT]V steht, Deutschland aber den Hort der Reaktion darstellt." Und er legt im Folgenden dar, worin jene Unaufgeklärtheit bestehe: Solche Leute wüssten eben von dem bewunderten England „herzlich wenig" und verwechselten „in ihrer Naivität" politischen Parlamentarismus — „übrigens ein schon abgetragenes Ideal" — mit sozialer Gerechtigkeit, wobei sie vergessen hätten, „daß es außer Rusland in Europa kein Land gibt, wo die sozialen Unterschiede so groß und die Vorrechte des Hochadels und der Elend der wirklichen Ackerbauenden so schreiend sind 67
Über Vold, vgl. N O M E 1977. Mow. 1916g: 240: „Und dann haben die einfältigen Studenten wohl so gedacht, dass jenes Licht, das der liebe Gott Herrn Prof. Gunkel zugetraut, mehr als 20 Jahre dem gelehrten Karl Vold geleuchtet hat, ohne dass es dieser vermocht hat, einen einzigen Strahl davon weitergehen und anderen zu Gute kommen zu lassen." 69 An Gunkel, Stange 14.12.1914. 70 Gemeint ist die Jeremia-Abhandlung (Mow. 1914a), die Mowinckel wenige Tage zuvor an Gunkel abgesandt hatte. 68
Exkurs: Mowinckel und der erste Weltkrieg
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wie in England". Trotz dieser Sympathien mit England „aus Dummheit, Halbbildung und Unwißenheit" kann aber Mowinckel seinem großen Lehrer versichern, dass es genug Norweger gebe, die sich „sowohl aus Herzen als auch aus politischer Überzeugung" auf die Seite Deutschlands stellten: Besonders u n t e r d e n A k a d e m i k e r n ; fast die g a n z e Universität, u n d ich glaube, ein recht g r o ß e r Teil der H a u p t s t a d t , ist d e u t s c h f r e u n d l i c h . U n t e r d e n P f a r r e r n h a b e ich auch viele V e r n ü n f t i g e g e f u n d e n , Leute, die es verstehen, d a ß w e l c h e r auch der u r s p r ü n g l i c h e G r u n d des Krieges g e w e s e n , so ist d o c h tatsächlich ein Sieg D e u t s c h lands ein Sieg der g e r m a n i s c h e n R a ß e u n d der g e r m a n i s c h - p r o t e s t a n t i s c h e n K u l t u r ü b e r O s t e n , der d e n e i n z i g e n G e w i n n einer e v e n t u e l l e n deutschen N i e d e r l a g e d a v o n t r a g e n w ü r d e . U n d d a ß es auch i m w o h l v e r s t a n d e n e n Interesse der N o r d i s c h e n V ö l k e r selbst sein m u ß , w e n n R u s s l a n d möglichst z u r ü c k g e d r ä n g t w i r d .
Uber den großen Nachbarn im Osten hat sich Mowinckel mehrmals herabsetzend geäußert; 71 eine politische oder kulturelle Vorherrschaft Russlands ist ihm offenbar eine wenig erfreuliche Zukunftsaussicht gewesen. In den „fast täglichen Kriegsdiskussionen" habe er darum immer wieder hervorheben müssen, wie unbequem es für kleine Nationen wie die nordischen sein würde, wenn Russisch die Sprache eines „führenden Staates" sein sollte. Für ihn selbst sei aber ein anderes Argument ausschlaggebend: E n g l a n d hat j e t z t m e h r w e d e r ein moralisches, n o c h ein kulturelles A n r e c h t auf die W e l t h e g e m o n i e . D e n n es ist nicht m e h r die h ö c h s t k u l t i v i e r t e N a t i o n ; . . . D e u t s c h land hat auf vielen G e b i e t e n E n g l a n d ü b e r h o l t , steht i h m auf d e n meisten a n d e r e n w e n i g s t e n s gleich; es ist somit nicht n u r zu h o f f e n , s o n d e r n auch sicher zu e r w a r t e n , d a ß v o n D e u t s c h l a n d n o c h viele u n d w e r t v o l l e Beiträge z u m m e n s c h l i c h e n F o r t schritt k o m m e n w e r d e n ; D e u t s c h l a n d hat d a h e r ein einfaches R e c h t , ein fast i m m a n e n t e s R e c h t darauf, d e n n ö t i g e n Platz in der W e l t zu erhalten, o h n e überall v o n d e m bisherigen A l l e i n h e r r s c h e r g e h e m m t , e i n g e e n g t , z u r ü c k g e t r i e b e n zu w e r d e n , und cujus bono? Eines Barbarenstaates, Russlands. D u r c h die ehrliche friedliche A r b e i t k a n E n g l a n d es nicht m e h r m i t d e m a r b e i t e n d e n D e u t s c h e n a u f n e h m e n ; dazu ist der englische K a p i t a l i s t . . . zu faul; i h m ist die A r b e i t eine Schande, o d e r w e n i g s t e n s ein n o t w e n d i g e s Ü b e l ; d e m D e u t s c h e n , so w i e ich i h n k e n n e , ist die Arbeit eine H e r z e n s s a c h e u n d Glück u n d Segen des Lebens. E i n e m Volke, w o dies der Fall ist, muß d e r ehrlich u n d m e n s c h l i c h D e n k e n d e und F ü h l e n d e , der n o c h in diesen T a g e n des F e m i n i s m u s ein A u g e u n d ein H e r z f ü r das w a h r h a f t M ä n n l i c h e , o d e r g e n a u e r M a n n h a f t e (hat), sein H e r z g e b e n .
Und eben das tut Mowinckel. In einem letzten Abschnitt kommt er auf die jüngsten Kriegshandlungen zu sprechen, und seine Rhetorik steigert sich hier geradezu in pathetisch-beschwörende Töne: W o in diesen T a g e n die d e u t s c h e n Farben fliegen, da fliegt auch m e i n H e r z u n d alle m e i n e g u t e n W ü n s c h e . — U n d was h a b t Ihr w ä h r e n d dieser f u r c h t b a r e n Zeit nicht 71 So z.B. in M o w . 1918e: 474: „das barbarische Volk mit den Instinkten des w i l d e n Tieres."
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur Promotion geleistet! M i t E n g l a n d s letzten Seesieg d a r f ich aus v o l l e m H e r z e n euch b e g l ü c k w ü n s c h e n ! E n g l a n d schämt sich. M i t v o l l e m R e c h t ! E n g l a n d w a g t es nicht der W e l t zu e r z ä h l e n , wie g r o ß die U b e r m a c h t gewesen, die sie u n d i h r gelbfratziger B u s e n f r e u n d h a b e n a u f b i e t e n müssen u m die 4 deutschen K r e u z e r z u m S i n k e n zu b r i n g e n . E n g l a n d hat e i n e n Sieg d a v o n g e t r a g e n , bei w e l c h e m die E h r e i h r e n K r a n z auf das H a u p t des G e s c h l a g e n e n gesetzt hat; d e r Sieger selbst hat nichts als - die U b e r m a c h t . O h n e Basis, o h n e Z u f u h r , o h n e i r g e n d w e l c h e S t ü t z p u n k t e , v o n der v e r e i n i g t e n englisch-japanischen Flotte gejagt, m i t der e i n z i g e n G e w i ß h e i t , d a ß das E n d e n u r der U n t e r g a n g w e r d e n k o n n t e , z u m T o d e v e r w u n d e t , h a b e n die deutschen Schiffe geschlagen, bis aus i h n e n n u r eine siedende, b r e n n e n d e , in d e n A b g r u n d schon v e r s i n k e n d e Feuerhölle g e w o r d e n ; z u m H i m m e l aber flogen e m p o r die letzten Strahlen der b r e n n e n d e n , z u m M e e r e s g r u n d v e r s i n k e n d e n d e u t schen Flagge, u n d w a r f e n d e n R u h m dieser H e l d e n bis zu d e n S t e r n e n h i n a u f , w o er e w i g strahlen w i r d , so lange M a n n e s t a t n o c h einen W e r t in den A u g e n der M e n schen hat. H e i l d e m D e u t s c h l a n d , w o solche Tat n o c h m ö g l i c h ist!
So eindeutig u n d vorbehaltlos, wie M o w i n c k e l hier f ü r Deutschland u n d die deutschen Streitkräfte Partei n i m m t , 7 2 k ö n n t e m a n fast Verdacht schöpfen: H a t er damit zugleich die Sympathie des g r o ß e n Lehrers g e w i n n e n wollen? Indessen klingen in einer Postkarte, die er ein halbes J a h r später an den — i m m e r n o c h in Deutschland lebenden — Schweizer S t u d i e n f r e u n d Walter B a u m g a r t n e r schrieb, ähnliche T ö n e an: 7 3 Ich m ö c h t e f u r c h t b a r g e r n e i n e n B e s u c h in D e u t s c h l a n d m a c h e n , e b e n j e t z t . Alles was dort geschieht, sowie der g a n z e Geist der in diesen T a g e n d u r c h das Volk w e h t , erfüllt m i c h m i t der h ö c h s t e n B e w u n d e r u n g . U n d w e n n Sie auch Schweizer u n d als solcher rechtlich „ n e u t r a l " (ein widerliches W o r t , auch eine ebenso w i d e r l i c h e Sache!) sind, so halte ich es d o c h f ü r selbstverständlich, dass Sie in dieser H i n s i c h t m i r b e i s t i m m e n . J e m e h r die Z a h l der F e i n d e sich m e h r t , desto m e h r steigt auch m e i n e S y m p a t h i e u n d m e i n e B e w u n d e r u n g f ü r das d e u t s c h e Volk.
b) I m ersten Weltkrieg hat sich M o w i n c k e l also keineswegs neutral verhalten — u n d auch nicht verhalten wollen. Seine tief e m p f u n d e n e Sympathie f ü r Deutschland hat er nicht verschwiegen, zumindest nicht i m privaten M e i nungsaustausch. In ein paar Aufsätzen, die er in diesen J a h r e n veröffentlicht hat, s c h i m m e r t dieselbe H a l t u n g zwar indirekt durch, aber sein Interesse gilt hier in erster Linie d e m P r o b l e m des Krieges als solchem. Schon i m Herbst 1914 74 äußert er sich kritisch zu j e d e m V o r k o m m e n von „Kriegsreligion" auf beiden Seiten, in der G o t t f ü r die eigene Sache v e r e i n n a h m t w i r d . H i e r i n 72 Vgl. auch den letzten Abschnitt: „Ich w e i ß keinen besseren Abschluss dieses Briefes als d e n W u n s c h daß es i m balde d e m braven deutschen H e e r e gelingen w e r d e d e m Feinde eine entscheidende Niederlage b e i z u b r i n g e n , z u m Heil des Vaterlandes u n d ganz Europas." 73 A n B a u m g a r t n e r , Kristiania 27.5.1915. 74 In e i n e m dreiteiligen Aufsatz ( M o w . 1914b), der E n d e August bzw. A n f a n g Sept e m b e r erschien.
Exkurs: Mowinckel und der erste Weltkrieg
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erblickt er ein Stück „Nationalreligion", die mit der Forderung des C h r i stentums, eine Universalreligion zu sein, eigentlich überwunden sei. 75 Denn mit ihrem universalen Anspruch sei das Christentum zugleich eine „absolut geistige" Angelegenheit, ein Verhältnis zwischen Gott und der Seele. Der Staat, die Nation, die weltliche Gesellschaft als solche hätten — da das R e i c h Gottes nicht von dieser Welt sei — mit Gott nichts zu tun und Gott nichts mit ihnen. 7 6 In das Leben der Staaten und der Nationen greife Gott darum nicht ein: „Ihr Leben und Dasein ist von den Bedingungen abhängig, die sie selbst zu schaffen und zu behaupten vermocht haben." 7 7 In diesem Aufsatz, wo Mowinckel eine Nation als einen „lebendigen O r ganismus" betrachtet, der „ein immanentes R e c h t " habe, seine Möglichkeiten zu entwickeln, erscheinen ihm Konflikte zwischen Staaten und Völkern geradezu als eine „Naturnotwendigkeit". 7 8 Unter einem ganz anderen Blickwinkel greift er kurz nach dem Kriegsende dieses Thema wieder auf, indem er in einem Aufruf „die vollständige Abwicklung des Militärwesens" fordert. 79 Ohne auf die komplexen Verhältnisse einzugehen, die zum Krieg geführt hätten, meint er festhalten zu können, dass der Krieg ohne „einen allgemeinen Glauben an seine Naturnotwendigkeit" nicht gekommen wäre. D i e ser Glaube beinhalte nämlich — zumindest unter den leitenden Politikern — eine Sanktionierung des Krieges als eines legitimen letzten Mittels eingeschlossen in Sachen, die mit Ehre und Lebensinteressen zu tun hätten. 8 0 Jetzt, nach dem Krieg, meint Mowinckel, ist dieser Glaube nicht mehr möglich. Der Krieg habe die Welt eines Besseren belehrt: „Er hat es mit elementarer Wucht in die Gewissen hineingedonnert, dass es kein teureres, kein unwirtschaftlicheres Mittel gibt, um die ,Lebensinteressen' zu fördern, als der Krieg; unter den Verhältnissen der modernen Technik gibt es kein Mittel, das den Lebensinteressen dermaßen schadet, wie eben der Krieg selbst." 81 Nie sei „das Dogma vom ,guten Krieg', vom Krieg als Kulturschöpfer, als Volks- und Gesellschaftserneuerer" — das Mowinckel übrigens als einen „vornehmlich deutschen Irrtum" charakterisiert 82 — so tief erschüttert worden wie jetzt. Obwohl Mowinckel noch immer bestreiten will, dass Christen auf eine bestimmte politische, soziale oder moralische Handlung verpflichtet werden könnten, kommt er dennoch um die Erkenntnis nicht umhin, dass jetzt „eine derart gebietende und zugleich eine derart ver-
75 76 77 78 79 8H 81 82
Ebd. 534. Ebd. 556. Ebd. 569. Ebd. 533. Mow. 1918e. Ebd. 472. Ebd. 473. Ebd. 476.
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Kapitel 5: Auf Umwegen zur Promotion
heißungsvolle Gelegenheit" vorliege, etwas von dem christlichen Ideal zu realisieren, dass es „eine christliche Pflicht" sei, sich aktiv gegen alles Militärwesen zu erheben. 83 In seinem Aufruf gegen das Militärwesen argumentiert Mowinckel grundsätzlich mit Vernunftgründen. Abschließend zieht er aber das christliche Ideal zumindest als Handlungsmotivation heran. Die systematische Trennungslinie zwischen Gott und Staat, Gott und Gesellschaft scheint darum hier nicht ganz so konsequent gezogen zu sein wie am Anfang des Krieges. Hat Mowinckel im Laufe dieser vier Jahre also auch theologisch einiges hinzugelernt? Er ist jedenfalls auf die Gefahr einer einseitigen Interpretation der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre aufmerksam geworden. In einer kurzen Besprechung zweier deutscher „Kriegs- und ChristentumsBrochüren" (1916)84 lässt er den beiden Autoren, Ludwig Ihmels und Paul Feine, wenig Ehre. Ihmels gegenüber bestreitet er, dass der Krieg „im Sinne Jesu" geführt werden könne, 85 und bei Feine findet er jenen „falschen" Staatsbegriff, den er als den derzeitigen „inneren Schaden Deutschlands" diagnostisiert: dass der Staat „im Wesentlichen Macht und Rechtsordnung" sei. So nehme man aber dem Christentum jede Gelegenheit, auf das Leben des Staates einzuwirken, man verbiete einfach die Christianisierung der Gesellschaft. So sei es für ihn selbst, so gesteht Mowinckel, eine „ständige Enttäuschung" gewesen, zu lesen, was die deutschen Theologen über den Krieg schrieben: „Will man deutschfeindlich werden, soll man die Kriegsbrochüren der deutschen Theologen lesen. Irgendwo fehlt ihnen was: es sind die alten, schädlichen Klüfte des Luthertums zwischen Religion und Moral, und erst recht Gesellschaftsmoral." 86 Positiver hat Mowinckel im selben Jahr, 1916, ein Buch des dänischen Kirchenhistorikers Valdemar Ammundsen besprochen, 87 der unter dem Titel „Krieg und kriegführende Christen" erschienen war. Durch „Streiflichter aus Deutschland, Frankreich und England" habe Ammundsen — so versteht ihn Mowinckel — versucht, „die seelische und moralische Bilanz des kriegführenden Europas zu ziehen", und Mowinckel bekennt, dass ihm dieses Buch „die Probleme lebendiger gemacht", ja, ihn „teilweise dazu gezwungen" habe, seine Auffassung zu revidieren. Worin diese Revision genauer besteht, führt er allerdings nicht weiter aus; zumindest scheint sich seine Grundeinstellung zu den kriegführenden Nationen nicht geändert zu haben, denn die kritischen Bedenken, die Mowinckel gegen Ammundsen an83
Ebd. 476f. Mow. 1916h. - Es handelt sich u m L. IHMELS: „ D e r Krieg im Lichte der christlichen E t h i k " sowie u m P. FEINE: „Evangelium, Krieg u n d Weltfrieden". 85 Ebd. 666f. 86 Ebd. 667. 87 Mow. 1916p. 84
Exkurs: Mowinckel und der erste Weltkrieg
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z u f ü h r e n hat, gelten in erster Linie eben dessen Sympathie f ü r E n g l a n d auf Kosten Deutschlands. In diesem Z u s a m m e n h a n g , w o es u m das Verhältnis der C h r i s t e n z u m Kriege überhaupt geht, ist das aber eine nebensächliche Frage, u n d die A u f m e r k s a m k e i t M o w i n c k e l s gilt in erster Linie denen, die — „teils mit T r i u m p h , teils mit bitterer Trauer" — den Krieg als einen Beweis f ü r den B a n k e r o t t — oder wenigstens ein kapitales Versagen — des C h r i s t e n t u m s gedeutet hätten. G e g e n alle enttäuschten „ K u l t u r o p t i m i s t e n " m e i n t M o w i n c k e l festhalten zu k ö n n e n , dass das C h r i s t e n t u m keineswegs seine O h n m a c h t bewiesen habe; i m Gegenteil habe der Krieg bewiesen, dass die M a c h t des C h r i s t e n t u m s über die christlichen Persönlichkeiten jetzt g r ö ß e r sei d e n n j e zuvor. Anders als früher, da die C h r i s t e n den Krieg als „ein gutes, herrliches, gottgefälliges D i n g " betrachteten, sei der gegenwärtige Krieg f ü r „die wirklichen C h r i s t e n " in ganz anderer Weise z u m Problem g e w o r d e n : Es ist nicht dieser Krieg, der grauenvoller ist als a n d e r e K r i e g e - das ist n u r eine E i n b i l d u n g eines u n h i s t o r i s c h e n Geschlechts, das seit 50 o d e r 100 J a h r e n k e i n e n K r i e g gesehen hat - es sind nicht die M e n s c h e n , die s c h l i m m e r g e w o r d e n sind — n e i n , es sind die G e w i s s e n der C h r i s t e n , die faktisch christlicher g e w o r d e n sind als zuvor; d a r u m reagieren sie stärker. ... D i e Stellung der C h r i s t e n zu diesem K r i e g ist i m G r o ß e n u n d G a n z e n keine N i e d e r l a g e des C h r i s t e n t u m s ; er deckt v i e l m e h r ein e n w i c h t i g e n Sieg des E v a n g e l i u m s ü b e r die Seelen auf.
Als „ K u l t u r o p t i m i s t " versteht sich M o w i n c k e l also nicht; er gehöre nicht zu denen, die „unsere ,Kultur' u n d unsere unvergleichlichen .Fortschritte' überschätzt" hätten. Schon als Historiker wisse er nämlich, dass K u l t u r u n d Zivilisation das innere Wesen oder den moralischen Gehalt des M e n s c h e n nicht änderten; in der Hinsicht habe ihn der Krieg nicht sonderlich ü b e r rascht. In d e m einen P u n k t j e d o c h , dass das C h r i s t e n t u m jetzt eine größere M a c h t über die besten christlichen Persönlichkeiten b e k o m m e n habe, scheint M o w i n c k e l selbst mit e i n e m Fortschritt zu rechnen, u n d auf dieser G r u n d l a ge w a g t er d e n n auch die B e h a u p t u n g , dass das C h r i s t e n t u m „die einzige Geistesmacht" sei, von der das Menschengeschlecht eine E r r e t t u n g e r w a r t e n k ö n n e von der R a g n a r ö k , die jetzt über die Welt hereingebrochen sei.
Kapitel 6
Elemente der weiteren Biographie (1916-1965) Im Laufe der vorausgehenden Kapitel sind wir dem jungen Sigmund M o winckel durch gut drei Jahrzehnte bis zu seiner Promotion ziemlich eng gefolgt. An diesem Punkt, am Ende seiner akademischen Lehrzeit, brechen wir diese chronologisch angelegte Darstellung ab. Abgesehen von M o winckels Teilnahme an der sogenannten Oxford-Bewegung Mitte der 1930er Jahre, auf die wir in einem eigenen Abschnitt (Kap. 7.3) zurückkommen werden, enthält sein weiterer äußerer Lebensgang kaum etwas, was für die Öffentlichkeit oder die Theologiegeschichte von besonderem Interesse wäre. Darum wird sich dieses letzte biographisch orientierte Kapitel auf einige wenige Notizen über seine Familie sowie über sein Leben innerhalb dieser Familie und außerhalb der akademischen Welt beschränken. Im Anschluss daran wollen wir ganz kurz zwei längere Auslandsreisen in den Blick nehmen, die Mowinckel — beide Male in der Begleitung seiner Frau — tat. Ein besonderes Ereignis aus seinen späteren Lebensjahren war natürlich die Reise nach Israel, die er 1956, im Alter von 71 Jahren, unternahm.
1. Ehe und Familie a) Mit 32 Jahren hatte Mowinckel als promovierter Theologe schon längst jenes Alter erreicht, in dem es angemessen wäre, an Ehe und Kinder zu denken. Und, wie wir schon gesehen haben, beschäftigten ihn sicher schon ein paar Jahre ziemlich konkrete Gedanken in dieser Richtung, seitdem er im Sanatorium Harastolen die Krankenschwester Karoline T. Simonsen kennen lernte. Jetzt, wo der lange Weg des Lernens und des Wartens zurückgelegt war, ließen sich ihre gemeinsamen Zukunftspläne endlich realisieren, zumal es der theologischen Fakultät im Frühjahr 1917 gelang, ihrem frischgebackenen, talentierten Doktor eine neue, eigens für ihn errichtete Dozentur zu sichern. Am 9. Mai 1917 konnte darum die Heirat zwischen Caro und Sigmund stattfinden, und die Brautleute zogen in eine kleine Wohnung in Stabekk, einem Villengebiet in Basrum, einer westlichen Nachbargemeinde von Kristiania, ein. Es waren allerdings nur zwei Zimmer, die sie sich dort
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mieten konnten, und die Wohnverhältnisse fand Mowinckel hier so furchtbar, dass sie „zeitweilige seelische Depressionen" verursachten. 1 Nach einem Jahr (1918) kam das erste Kind, die Tochter Wencke, auf die Welt; nach weiteren fünf Jahren (1923) folgte eine zweite Tochter, Vibeke. Da war die junge Familie - im Oktober 1920 — schon das erste Mal umgezogen und konnte jetzt den ersten Stock einer staatseigenen Villa in Grefsen (Glads vei 4) mieten, einem Wohngebiet auf einer Anhöhe im nördlichen Außenbezirk der Hauptstadt. In der Nachbarschaft lag damals ein Sanatorium, und die Nähe zu dieser medizinischen Anstalt mag für die Wahl des neuen Wohnortes mit entscheidend gewesen sein. Vor allem muss aber die Wohnung selbst, wie Mowinckel sie beschreibt, wie ein Geschenk vom Himmel erlebt worden sein: „vier Zimmer + Mädchenzimmer, Bad, Küche, mit einer wundervollen Aussicht über das ganze Kristianiatal". 2 Auch die nächsten Nachbarn — der Rechtsanwalt Finn Wiborg und seine Frau Ingeborg mit ihren Kindern — sollten sich bald als ein Vorzug der neuen Wohnung erweisen. Zwischen ihnen und den Mowinckels entstand eine enge, lebenslange Freundschaft. Durch Wiborg wurde Mowinckel in seinen späteren Lebensjahren in den norwegischen Freimaurerorden aufgenommen, wo er ziemlich schnell bis in den zehnten Grad hinaufstieg. 3 Noch später, als Mowinckel und Frau Wiborg beide verwitwet waren, fanden sie, im Herbst 1964, in einer gemeinsamen zweiten Ehe zusammen, die allerdings nicht einmal ein volles Jahr dauern sollte (vgl. Abschnitt 3.b unten). Nach sieben Jahren oben auf Grefsen folgte 1927 ein Umzug hinunter in die Stadt, in ein vornehmes, vierstöckiges Mietshaus, ebenfalls im Staatsbesitz, im Viertel Boltelokka (Ullevälsveien 58), wo die Mowinckels doch wohl nur eine der kleineren Wohnungen bekommen konnten; von dort ging es nämlich schon 1932 wieder über die damalige Stadtgrenze in eine 1 B r i e f an Gunkel, Grefsen 19.3.1921. In einem anderen B r i e f (Grefsen 11.4.1921) ist von einer „Teuflin" als W i r t i n die R e d e . 2 B r i e f an Gunkel, Grefsen 11.4.1921. 3 Diese Information verdanke ich dem Gemeindepfarrer Asle Enger (Gespräch am 8.3.1994), der selbst Freimaurer war, und Kristian Vilhelm Mollestad (Brief vom 5.5.1997), der unter Mowinckel studiert hatte. Aufgenommen wurde Mowinckel am 27.10.1952 in den ersten Grad der St. Johannesloge St. Olaus zum weißen Leopard; den 10. Grad erreichte er am 1.3.1955. - Zu den „Mitteilungen des Norwegischen Freimaurerordens" hat Mowinckel in den Jahren 1957-1965 ziemlich regelmäßig Beiträge geliefert, teils über historische Gegenstände (z.B. die Q u m r a n - F u n d e , Freimaurer vor 100 Jahren, Hiram, St. Andreas), teils über T h e m e n allgemeinmenschlicher Art (z.B. Schweigen, Stille, Vorsicht, Mäßigkeit). - Auch Frau Mowinckel war übrigens Mitglied eines geschlossenen Ordens, des sogenannten Marien-Ordens, der 1917 von Dagny Kristensen gegründet wurde. Dagny Kristensen war eine Nichte des bekannten n o r w e gischen Schriftstellers Bjornstjerne Bjornson und Schwester von W i l l i a m Brede Kristensen, dem ersten norwegischen Religionswissenschaftler, der seit 1901 in Leiden lehrte und mit dem Mowinckel befreundet war.
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Biographie
etwas ländlichere Umgebung hinaus, als Mowinckel die Funktion des sogenannten „Hausvaters" in einem Studentenwohnheim, „Blindem Studenterhjem", übernahm. Der Bau dieses Wohnheims ging auf eine private Initiative während des ersten Weltkriegs zurück, als sowohl Krisenzeiten als auch wachsende Studentenzahlen eine spürbare Wohnungsnot mit sich führten. Die schwierige wirtschaftliche Situation verspätete und verteuerte aber das Unternehmen, und als das Heim 1925 endlich fertig stand, konnte es bei weitem die Nachfrage nicht decken. Außerdem wurden die Zimmerpreise höher als ursprünglich vorgesehen, so dass sich in der Praxis nur Studenten aus besser gestellten Familien es leisten konnten, dort zu wohnen. 4 Auf jeden Fall hatte die Familie des Hausvaters neun Jahre lang in Blindem Studenterhjem gute Wohnverhältnisse und relativ viel Platz: eine Wohnung über zwei Stockwerke, mit Wohn- und Esszimmer, die aber naturgemäß auch keine bleibende Stelle werden konnte. Erst 1941 fanden die M o winckels ihren letzten Wohnort, eine etwas kleinere Wohnung im westlichen Stadtteil Frogner (Gyldenkives gate 22), der allgemein als das klassische Westend von Oslo gilt.5 Hier war das Wohnzimmer etwas kleiner, und die Töchter, die das Elternhaus sowieso bald verlassen sollten, teilten ein kleines Zimmer; dafür hatte Mowinckel selbst ein geräumiges Professorenzimmer, in dem er ungestört arbeiten konnte. b) Menschen zu beschreiben, ist meistens ein schwieriges und riskantes Unterfangen, insbesondere dann, wenn man die betreffende Person nicht selber kennt oder gekannt hat. Alle, die Mowinckel etwas näher kannten, haben aber die Ehe zwischen ihm und seiner Frau als ein harmonisches, glückliches Zusammenleben beschrieben, das durch Liebe und gegenseitigen Respekt geprägt war. Es war eine solide Ehe im traditionellen Stil, in der die Frau in der Regel ihren Beruf aufgab, um die Hauptverantwortung für den ganzen Haushalt zu übernehmen. So hat Caro sorgsam und selbstaufopfernd — angeblich aber auch mit Bestimmtheit — die alltäglichen Geschäfte der Familie geführt und auf diese Weise dafür gesorgt, dass ihr Mann genügend Zeit für seine Studien finden konnte; und damit scheint er zufrieden gewesen zu sein. Sicher waren die Eheleute, Caro und Sigmund, ziemlich unterschiedliche Naturen: Ihr fehlte seine intellektuelle Veranlagung, sie war aber ein vitaler, aktiver Mensch, eine charmante, kontaktfreudige und lebensfrohe Frau, die 4 Vgl. C O L L E T T 1999: 148. - In einem Zeitungsartikel hat Mowinckel als Hausvater versucht, das Studentenwohnheim gegen Kritik dieser Art zu verteidigen (Mow. 1938k). 5 Zu der Wahl eben dieses Stadtteiles mag mit beigetragen haben, dass die M o winckels schon länger hier gute Freunde hatten, nicht zuletzt durch ihre Teilnahme an einer Oxford-Gruppe in den 30er Jahren (vgl. dazu Kap. 7.3.a).
1. Ehe und Familie
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zwar selbstbewusst auftreten konnte, aber zugleich Wärme und mütterliche Sorge ausstrahlte. 6 Ihr Tätigkeitsfeld blieb jedoch nicht auf die eigene Wohnung beschränkt; sowohl in einem christlichen Missionsverein (vgl. Abschnitt 2.a unten) als auch in der Oxfordgruppenbewegung (vgl. Kap. 7.3.a) übernahm sie ehrenamtlich wichtige Leitungsaufgaben. Sie hat sich auch nicht gescheut, vor einem größeren Publikum aufzutreten; das bezeugen Andachten, die sie im Norwegischen R u n d f u n k gehalten hat. 7 So offen und kontaktfreudig wie seine Frau scheint Mowinckel nicht gewesen zu sein; er hielt sich eher zurück und konnte durch seine ganze Haltung und leicht spöttische Worte nicht selten ein bisschen arrogant wirken. Leute, die ihn besser kannten, meinten aber, dass in dieser Umgangsform eigentlich eine innere Bescheidenheit und Verlegenheit zum Ausdruck kam. Gleichzeitig war er aber zweifellos auch eine gesellige Natur, mit einem lebendigen Sinn für Humor; durch eine witzige, schlagfertige Äußerung konnte er andere zum Lachen bringen und Freude und Fröhlichkeit um sich herum verbreiten; allerdings sollen seine Scherze bisweilen von einer Art gewesen sein, wie man sie eher von einem Bergener Lausbub („tjuagutt") als von einem distinguierten Professor erwartet hätte. 8 Trotz dieser menschlichen Unterschiede scheint also die Ehe zwischen Sigmund und Caro vor allem durch eine tiefe, konstruktive Gemeinschaft geprägt gewesen zu sein; zumindest war das der Aspekt, den die Tochter Wencke zum Ausgangspunkt nahm, als sie ihren Eltern zur silbernen Hochzeit für ein Zuhause dankte, das den beiden Mädchen „zum festen Punkt, zur Richtschnur" ihres Lebens geworden sei. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Zank zwischen den Eltern gehört zu haben; auch deren Erziehungspraxis sei immer einheitlich und konsequent gewesen. Der Mutter dankte sie insbesondere eben für ihre mütterliche Fürsorge sowie für ihre Gastfreundschaft gegenüber den Freunden der Kinder, dem Vater — dem Kameraden! — für seine elementare Freude an der Natur, durch die auch die Töchter gelernt hätten, das alles zu verstehen und zu lieben. Darüber hinaus gilt ihr Dank der Hilfsbereitschaft des Vaters: nie seien die Töchter, wenn sie 6
Mündliche Information, vgl. auch „Caro Mowinckel in memoriam", in: D n K B 38/1963: 90. 7 Im Nachlass Mowinckels finden sich zwei Auszüge aus „Bymisjonaeren" (dem O r gan der Osloer Inneren Mission), die Texte von Caro Mowinckel enthalten (der eine davon als „Rundfunkandacht" gekennzeichnet), sowie ein handgeschriebenes Manuskript zu einer Rundfunkandacht am 31.10.1945. 8 So sein Kollege Nils A. Dahl (mündliche Information). Diese Eigenschaft bestätigt der Brief des Studenten Finn Bader (Kristiania 5.11.1921) an den dänischen Alttestamentler Aage Bentzen, der damals in Deutschland studierte: „Das einzige, was wir AT-Leuten zu bieten haben, ist Mowinckel. Was leichtsinnige Redewendungen und zweifelhafte Witze in Vorlesungen angeht, soll er von sämtlichen derzeitigen Forschern unübertroffen sein."
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mit einem Problem zu i h m kamen, mit der A n t w o r t empfangen worden: „ich habe jetzt keine Zeit". Die beiden Töchter Mowinckel, Wencke und Vibeke, spiegelten ein Stück weit die unterschiedlichen Naturen der Eltern wider. Wencke, die schulisch begabtere, war d e m Vater ähnlicher: korrekt, vorsichtig, etwas verschlossen; Vibeke, dagegen, hatte mit ihrem C h a r m e und ihrer Offenheit m e h r von der Mutter. Als Kind war Wencke mehrmals krank; sie w u r d e — wie so viele andere zu der Zeit — von der Spanischen Krankheit befallen. Schon f r ü h entschied sie sich f ü r das Studium der Medizin (Staatsexamen 1947) u n d spezialisierte sich später auf dem Feld der Psychiatrie. Vibekes Interessen gingen in eine ganz andere R i c h t u n g ; als attraktive, umschwärmte j u n g e Frau hatte sie — so die Mutter — in ihrer Beziehung zu M ä n n e r n einen ganz anderen „Jagdinstinkt" entwickelt als ihre ältere Schwester. Folglich wollte sie nach d e m Abitur nicht studieren, sondern möglichst schnell heiraten. 9 2. Lebensstil und
Lebensgewohnheiten
a) Der Lebensstil im Hause Mowinckel lässt sich vermutlich am ehesten als „gutbürgerlich" charakterisieren. Von einem gewissen Wohlstand konnte m a n mit der Zeit wohl reden; dafür zeugt beispielsweise die Tatsache, dass sich die Familie schon in den 20er Jahren eine Haushaltshilfe leisten konnte. Es war aber ein Wohlstand, der auf der anderen Seite mit einer entsprechenden bürgerlichen Nüchternheit gepaart war; von Luxus oder U b e r schwänglichkeit konnte auf keinen Fall die R e d e sein, weder i m Essen und Trinken noch in anderen Lebensgewohnheiten, obwohl sich besonders die Hausfrau — weniger ihr M a n n — mit den Jahren etwas freigebiger u n d g r o ß zügiger im U m g a n g mit den Haushaltsmitteln zeigte. 10 Alkohol u n d Tabak waren keineswegs verpönt, w u r d e n aber nur in bescheidenem M a ß e genossen und zwar i m m e r nur bei festlichen oder geselligen Anlässen. Zigaretten waren sowieso nicht Mowinckels Sache; lieber zündete er sich eine Zigarre oder einen Zigarillo an. Die üblichen Familienfeste - Geburtstage, Tauf- und Konfirmationsfeiern und Hochzeiten — haben die Mowinckels natürlich gefeiert; das scheint in den Kriegsjahren, als die erwünschten Lebensmittel nicht immer so leicht zu haben waren, nicht anders gewesen zu sein. Z u m Glück lässt sich aber Feststim9 Beide Töchter Mowinckels wurden 1945 verheiratet: Wencke mit Jetmund Sverre Engeseth, der im Militär seine berufliche Laufbahn fand, Vibeke mit dem Advokaten Einar Myklebust. 10 Einem Studenten von Mowinckel (Carl Magnus Sjögren), der den Auftrag bekommen hatte, das handgeschriebene Manuskript zu „Han som kommer" (= Mow. 1951a) zu tippen, war es aufgefallen, dass die Papiere auf beiden Seiten beschrieben worden waren; daraus hatte er — sicher nicht zu Unrecht - auf eine tief verwurzelte Genügsamkeit des Lehrers geschlossen (Brief vom 29.5.1997).
2. Lebensstil und
Lebensgewohnheiten
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mung auf anderem Wege hervorzaubern, beispielsweise durch selbstgedichtete Lieder. So wurde zur silbernen Hochzeitsfeier von Sigmund und Caro im Mai 1942 offensichtlich viel gesungen.11 Und Mowinckel selbst, der gerne Lyrik las — und vorlas — und auch selber einige dichterische Versuche machte, hat seiner Frau bei dieser Gelegenheit in einem längeren Gedicht für ihre Treue und selbstaufopfernde Liebe gedankt. In einer der fast dreißig vierzeiligen Strophen erinnerte er sie dann an den Wagemut, den sie in jenem „allzu kurzen Sommer nach dem harten, langen Frühjahr" erwiesen hatte, als sie ihm „die Richtige" wurde. Seinen letzten Geburtstag konnte Mowinckel - 80 Jahre alt — auch noch anständig feiern, allerdings ohne seine Frau, die im Vorjahr gestorben war. Uber eine ganze Menge Festtelegramme von Freunden, Kollegen und Studenten konnte er sich dann freuen. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit gingen die Mowinckels wohl ins Theater, sonst machten sie nur in bescheidenem Maße vom kulturellen Angebot der Hauptstadt Gebrauch. Abgesehen von den Familienfeiern und von gelegentlichen Visiten und Gegenvisiten im Kreise der nächsten Freunde und Kollegen pflegten sie auch keinen besonders ausgedehnten geselligen Verkehr. Sie hatten zwar einige gute Freunde, aber Mowinckel selbst zählte nicht zu denen, die jedermann gleich duzen oder sich schnell auf vertrauliche Verhältnisse einlassen. Aus der Studienzeit blieben ihm dauerhafte Freundschaften mit Peter Marstrander, Oluf Kolsrud, Sten Bugge, Eivind Berggrav und Hans Ording, und durch ihre Anteilnahme an der OxfordBewegung fanden er und seine Frau neue Freunde, die sie sehr schätzten, wie etwa den Schriftsteller Ronald Fangen und den Journalisten Fredrik R a m m (Kap 7.3.a) sowie das Ehepaar Peter und Anna Elisabeth Krosby (Kap. 13.1.a). Mowinckels Verhältnis zu Kirche und Christentum haben wir ein paarmal schon berührt (Kap. 2.3 und 5.3), und wir werden das Thema im nächsten Kapitel noch eingehender behandeln. Obwohl er in einem Pfarrhaus aufgewachsen war und seine Frau aus einer methodistisch verankerten Familie kam, 12 scheinen — zumindest in den ersten Jahren ihrer Ehe — abgesehen vom Kirchgang an den Sonntagen feste Andachtstraditionen keine größere Rolle gespielt zu haben. Das wurde Mitte der 30er Jahre anders, als beide Eheleute von der Oxford-Erweckung ergriffen wurden und aktiv da11
In einem Lied war das Thema eben das Festessen: man denkt mit Galgenhumor an frühere Zeiten zurück, als Körper, Geist und Seele unter großen Mengen Fleisch und allerlei schweren Soßen leiden mussten, und bejubelt jetzt ein aus verschiedenen Gräsern und Blumen zusammengesetztes Menü, wodurch der Körper „sicherlich elfenleicht" werde. 12 Acht bis zehn Jahre nach der Heirat ist Frau Caro Mowinckel aus der methodistischen Kirche ausgetreten, u m sich der evangelisch-lutherischen Staatskirche Norwegens anzuschließen (Mow. 1967b: 43).
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Biographie
ran teilnahmen. Mit dieser neuen Glaubens- und Lebenserfahrung kam eine andere, diszipliniertere Frömmigkeit ins Haus; von nun an gehörten Bibel und Gebet j e d e n Morgen ins P r o g r a m m . In der „Stillen Stunde" sollte man sich selbst u n d sein eigenes Benehmen kritisch prüfen u n d sich fragen, was m a n hätte anders und besser tun können. 1 3 Anders als die alten, pietistischen Erweckungen aus dem 19. Jahrhundert forderte aber die O x f o r d - B e w e g u n g keinen puritanischen Lebensstil, und in der Hinsicht änderte sich auch in der Familie Mowinckel nichts. Schon seit den 20er Jahren, also noch vor der Begegnung mit der O x f o r d gruppenbewegung, waren aber die Mowinckels — offensichtlich besonders Frau Caro — an der Arbeit eines Missionsvereins beteiligt, der 1922 von dem Chinamissionar Karl Ludvig Reichelt (1877—1952) gegründet worden war. Ausgehend von einem großen Respekt vor den religiösen Ideen u n d Praxisformen des Buddhismus zielte Reichelt auf eine Art dialogischer Mission unter buddhistischen M ö n c h e n ab, die die alte, traditionsreiche Norwegische Missionsgesellschaft, in deren Dienst er ursprünglich stand, nicht akzeptieren wollte. Die Initiative Reichelts w u r d e auf skandinavischer Basis verwirklicht, 1 4 u n d Caro Mowinckel war seit 1936 Mitglied, seit Ende der 50er Jahre Vorsitzende des norwegischen Zentralkomitees; 1946 w u r d e sie in das skandinavische Hauptkomitee eingewählt und n a h m — als eine „sprudelnde Quelle der Unbefangenheit" 1 5 — alljährlich an dessen Sitzungen teil, die abwechselnd in N o r w e g e n , Dänemark und Schweden stattfanden. Ihr M a n n schrieb gelegentlich kürzere Stücke, hauptsächlich verkündigenden Inhalts, f ü r das Vereinsblatt, 16 und auf den jährlichen Sommerversammlungen des Vereins waren beide Eheleute gerne dabei. b) Ihre Ferien hat die Familie in den ersten Jahren wohl entweder in Stange verbracht, w o Mowinckels Vater — seit 1918 W i t w e r — bis zur Pensionierung (1928) in seinem Pfarramt tätig blieb, oder in verschiedenen Pensionen an 13 Im Nachlass Mowinckels sind - insbesondere aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs - einige Notizbücher aufbewahrt worden, in die Mowinckel in diesem Sinne selbstkritische Beobachtungen niedergeschrieben hat. Hier tadelt er diese oder jene Charakterschwäche (z.B.Jähzorn, Hochmut, Arroganz), aber auch seine fehlende Geduld und Nachsicht im Umgang mit der jüngeren Tochter ist ihm offensichtlich ein Problem gewesen. 14 Ursprünglich unter dem N a m e n „Die nordische Christliche Buddhistenmission". Heute kommt die dialogische Missionsstrategie in dem Namen „Areopagos" zum Ausdruck. 15 „Caro Mowinckel in memoriam", in: D n K B 38/1963: 90. 16 Bis 1948 unter dem Titel „Den kristne Buddhistmisjon", 1948-1963: „Den nordiske Kristne Buddhistmisjon"; seit 1964: „ 0 s t e n og vi". Die meisten Mowinckel-Texte dieser Zeitschrift sind in K V A L E / R I A N 1984 aufgenommen. Von der engen Beziehung Mowinckels zur Nordischen Buddhistenmission zeugt ebenfalls sein Nachruf auf Karl Ludvig Reichelt (Mow. 1952g).
2. Lebensstil
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Lebensgewohnheiten
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der Südküste. In den 30er Jahren kaufte sie ihr eigenes, kleines Ferienhaus am Strand von Nesoya, einer Insel im inneren Oslofjord. Ein alternatives Urlaubsziel, insbesondere in den Weihnachts- und Osterferien, war der Hof Tomte, in einem schönen Waldgebiet in Hurdalen, etwa 50 Kilometer nördlich von Oslo, gelegen, der im Besitz der Wissenschaftsakademie war und den Akademiemitgliedern und ihren Familien zur Verfügung stand. Ein Erinnerungsbuch über Tomte bezeugt, dass Mowinckel relativ fleißig von dieser Möglichkeit Gebrauch machte; hier ist übrigens auch ein Gedicht von 11 Strophen zu lesen, das Mowinckel nach den Osterferien 1937 in der Form einer altnordischen dräpa — mit zahlreichen Alliterationen und Kenningarn — im Gästebuch hinterlassen hatte. 17 Ein andersartiges Urlaubsprojekt wurde im Sommer 1937 verwirklicht. Mit seiner Familie besuchte Mowinckel damals Beiarn, die nordnorwegische Gemeinde, in der er aufgewachsen war. Nach den Ferien hat er in einem Zeitungsinterview einige Eindrücke von diesem Urlaubsaufenthalt vermittelt, insbesondere mit Blick auf die starken Änderungen innerhalb der Landwirtschaft und des Verkehrswesens. Mowinckel erzählt von Verkehrshindernissen, mit denen man in den Jahren seiner Kindheit rechnen musste; beispielsweise konnte der Gezeitenstrom Saltstraumen die Schiffe um mehrere Stunden verspäten und das Eis im Fjord den ganzen Verkehr zum Stillstand bringen und Beiarn einige Winterwochen von der Umgebung isolieren. Das Schwergewicht des Interviews liegt aber auf den Änderungen innerhalb der Landwirtschaft und der Fischereien; anders als damals, als Weizen — so erinnert sich Mowinckel — noch in die „Klasse der Südfrüchten" kam, seien gegenwärtig ganz neue Voraussetzungen da, um den Ackerbau weiter auszubauen und effektiver zu betreiben. Insgesamt hatten also die Beobachtungen, die Mowinckel in diesen Ferientagen machen konnte, seinen Glauben an die Zukunft des hohen Nordens durchaus gestärkt. 18 1939 wurde das Ferienhaus auf Nesoya verkauft, und für die dadurch erworbenen Mittel bauten sich die Mowinckels eine Hütte in Sjusjoen, einem beliebten Urlaubsort in der Nähe der kleinen Stadt Lillehammer am nördlichen Ende des Mjosa-Sees. Hier, in einer anmutigen Gebirgslandschaft an der Baumgrenze, in etwa 800-1000 Meter Höhe, hat es der Familie offensichtlich sehr gut gefallen; im Sommer und im frühen Herbst ist sie nicht selten mehrere Wochen da oben geblieben. Hier scheint Mowinckel die ideale Kombination von Arbeit und Entspannung gefunden zu haben. Insbesondere in den letzten Kriegsjahren, als die Universität nach der Auseinandersetzung mit den Nazi-Behörden im Herbst 1943 geschlossen war, 19 17
GRAN 1 9 4 5 : 6 6 - 6 9 .
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Mow. 1937m. Vgl. dazu auch Kap. 8.I.e.
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Biographie
fand seine Familie hier oben f ü r längere Zeit einen friedlichen Zufluchtsort, wo man ruhig und friedlich ein relativ normales Leben führen konnte. 3. Kriegsjahre und Nachkriegszeit a) Auch sonst scheint es den Mowinckels die Okkupationsjahre hindurch verhältnismäsig gut ergangen zu sein - ja, eigentlich „unglaublich gut", wie M o winckel selbst nach dem Krieg seinem alten Studienfreund Baumgartner gegenüber bezeugt hat. Sie hätten „nichts Schwereres gelitten, als was allen notwendig war". Mowinckel sei zwar ein paarmal von der Gestapo verhört worden, aber nur 24 Stunden gefangen gewesen. Er habe bei der Aktion der Behörden gegen die Universität am 30. November 1943 „als Nr. 1 auf der Liste der Wegzuführenden" gestanden, sei aber wegen seiner alten Lungenkrankheit doch freigelassen worden. 2 0 Nicht zuletzt, erkennt Mowinckel, seien er selbst und seine Familie dank „der großzügigen Sendung von Paketen mit Nahrungsmitteln von Seiten der dänischen Kollegen und des dänischen Roten Kreuzes" in materieller Hinsicht so gut durch die Kriegsjahre gekommen. 21 Dass aber das Leben im besetzten Norwegen in anderer Hinsicht eine harte Probe war, gesteht Mowinckel in einem Brief an Johannes Lindblom, seinen alttestamentlichen Kollegen in Lund, im neutralen Schweden: 22 Persönlich - was das Außere betrifft - geht es mir und den Meinen gut, wir haben keine N o t gelitten. Indessen setzen einem der Druck und die E r w a r t u n g doch zu. Die H o f f n u n g haben wir aber nicht aufgegeben, im Gegenteil, die H o f f n u n g und den Lebenswillen. Die Situation ist aber auch eine harte Probe des Christentums; es ist nicht leicht, daran festzuhalten, dass wir so gesinnt seien, wie es Jesus Christus auch war - es überhaupt wahr werden zu lassen, was in unserem Kirchengebet steht: „du erziehst uns mit Kreuz und Bedrängnis f ü r dein Reich". Möge es wahr werden, dass es uns eine wirkliche Erziehung wird, zu neuem Leben und neuer Zukunft.
Nach seiner ernsthaften Schwindsucht scheint Mowinckel später — von gelegentlichen Krankheitsfällen abgesehen — insgesamt bei guter Gesundheit gewesen zu sein. In den ersten Ehejahren hat er allerdings unter einer „langen" Augenkrankheit gelitten, und im Herbst 1922 machte eine Blinddarmentzündung mit ernsthaften Komplikationen drei Operationen und eine längere Zeit der Genesung notwendig. 2 3 Erst als er älter wurde, bekam er es 20
Postkarte an Baumgartner, p.t. Sjusjoen 13.8.1945. Brief an Baumgartner, Oslo 30.10.1945. - In seinem Briefwechsel mit dem dänischen Kollegen Aage Bentzen, in dem Mowinckel mehrmals f ü r diese „Dänenpakete" danken muss, bestätigt er ebenfalls, dass es seiner Familie nach den Umständen gut gehe (vgl. Kap. 8.3, Anm. 86). 22 Brief an Lindblom, Oslo 22.5.1943. 23 Brief an Gunkel, Grefsen 11.10.1922; vgl. auch Postkarte an Baumgartner, Grefsen 20.11.1922: eine „ernste" Krankheit. 21
3. Kriegsjahre und
Nachkriegszeit
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erneut mit körperlichen Beschwerden und Leiden zu tun; so musste er im Herbst 1950 wegen Ischias drei Wochen krankgeschrieben werden, 2 4 und mit den Jahren n a h m e n seine Schmerzen noch zu, so dass i h m das Gehen schwer w u r d e und er zu humpeln anfing. Seine „Untertanen" wollten i h m eben, wie er es scherzhaft ausdrückte, nicht länger gehorchen. Auf den späteren Vortragsreisen hat ihn d a r u m in der Regel seine Frau Caro begleitet, u n d als er als 80-Jähriger seine allerletzte Vorlesungsreihe an seiner eigenen Universität hielt, hat ihn in ähnlicher Weise seine zweite Frau, Ingeborg, sorgsam gestützt, als er das R e d n e r p u l t bestieg u n d wieder verließ. 25 Ganz frei von gesundheitlichen Problemen war auch Frau Caro M o winckel nicht. Nachdem sie u m 1930 wegen erhöhten Stoffwechsels (Basedow-Krankheit) operiert worden war, meldeten sich „nach den äußeren und inneren Belastungen des Krieges" die Beschwerden wieder, jetzt in der Form von Herzstörungen. Sie ging dann regelmäßig zwei Mal im Jahr zur K o n trolle zu einem Arzt in Stockholm. In der Regel war sie dann wohl allein, zumal sie in Stockholm bei einer guten Freundin w o h n e n konnte. Bisweilen f u h r e n sie und ihr M a n n auch gemeinsam hin, wie beispielsweise i m J u n i 1947, als Caro gerade einen Herzanfall hinter sich hatte. 2 6 b) Bis ins hohe Alter hinein war Mowinckel wissenschaftlich tätig. Zwei Wochen vor seinem Tod war er i m m e r noch mit Vorlesungen u n d Manu— skriptrevisionen so intensiv beschäftigt, dass er einem amerikanischen Kollegen gegenüber bedauern musste, dass dessen Anfrage zu lange auf ihre A n t w o r t hatte warten müssen: 2 7 From this you can readily see that my health and energy are as good as I have a right to expect, seeing that in a couple of months I will reach the age of eighty-one. I am exceedingly thankful that I am still able to work. M y experience is that it is work which keeps us alive when the years begin to tell. I am not very mobile due to a bad hip. But I have every reason to thank God.
Zweifellos konnte sich der alternde Mowinckel auch über andere positive Lebensinhalte freuen, nicht zuletzt über seine heranwachsenden Enkelkinder, denen er gerne aus den Märchen des dänischen Dichters H . C . A n dersen vorlas. Mit der Zeit scheint aber doch manches schwieriger geworden zu sein, vor allem in der dunklen, kalten Jahreszeit. In den W i n t e r m o n a t e n 1961/62 und 1962/63 w u r d e n sowohl Mowinckel als auch seine Frau häu24
Brief vom Akademischen Kollegium (7.10.1950). Mündliche Information von damaligen Theologiestudenten. 26 Brief an Lindblom, 5.6.1947. 27 Mow. 1967b: 41. — Den Brief hat Mowinckel allerdings auf Norwegisch geschrieben — und zwar mit der Feder: „I have never come so far as to be able to think with the aid of a machine. I find the pen, on the other hand, to be an excellent stimulant of the thought process" (ebd. 41). 25
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Kapitel 6: Elemente der weiteren
Biographie
figer von Krankheit heimgesucht. 28 Im März 1963 berichtet er Johannes Lindblom, dass der Winter mühsam gewesen sei: „Caro ist sehr krank gewesen und ist immer noch schwach. Jetzt hoffen wir auf das Frühjahr und den Sommer." 29 Ein Stück weit mag der Vorsommer wohl diesen Erwartungen entsprochen haben. Auf jeden Fall hatte der Arzt Frau Mowinckel Ende Juni die Teilnahme an der Sommerversammlung der Nordischen Buddhistenmission erlaubt; zusammen mit ihrem Mann und einer guten Freundin sollte sie von deren jungem Sohn im Auto dorthin gefahren werden. Unterwegs legte die kleine Reisegruppe in einer Konditorei eine Kaffeepause ein, während deren aber Caro anfing, sich unwohl zu fühlen und nach einer Weile das Lokal verließ, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Bald folgte ihr M o winckel nach. Als die beiden anderen aufbrachen, fanden sie ihn, auf der Treppe sitzend, mit Caro in seinen Armen. „Hält es, Caro, hält es?" waren die letzten Worte, die er ihr wiederholt sagen konnte. 30 Nach 46 Ehejahren war Caros Tod für Mowinckel natürlich ein harter Schlag und ein schwerer Verlust; in dieser Zeit der Trauer und der Einsamkeit fand er aber ein Stück weit Trost und Erheiterung im Zusammensein mit Ingeborg Wiborg, der früheren Nachbarin aus den 1920er Jahren, die zusammen mit ihrem Mann im engeren Freundeskreis der Familie M o winckel geblieben war. 31 Sie war nun ebenfalls allein und im Herbst 1964 gingen die beiden Verwitweten gemeinsam ihre zweite Ehe ein. Lange sollte aber das späte Glück dieser neuen Lebensgemeinschaft nicht dauern. Nachdem Mowinckel — nach einer Unterbrechung von etwa fünf Jahren — im Frühjahr 1965 wieder eine Vorlesungsreihe an der Universität gehalten hatte und für den kommenden Herbst eine weitere Reihe schon geplant worden war, ist er — zwar unerwartet, aber doch völlig undramatisch — während eines Mittagsschlafs am 4.6.1965 an Herzversagen gestorben — seinen 28 Davon zeugen etliche Briefe aus den frühen 60er Jahren: z.B. von Mowinckel an Eiliv Skard, Oslo 23.1.1962 und 20.11.1962, und von Randolf Haslund an Mowinckel, N e w York 5.5.1962. 29 Brief an Lindblom, Oslo 4.3.1963. 3(1 Mit diesen Worten hat er wohl fragen wollen, ob sie ihr Glaube auch in dieser letzten Stunde trage. - Mündliche Mitteilung von Kare Natvig, Projektleiter im N o r wegischen Kirchenrat, der — damals ein Abiturient von 18 Jahren — das Auto gefahren hat. An dieser kritischen Situation sind Natvig vor allem die R u h e , die Mowinckel bewahrt habe, und die einfachen Worte, mit denen der weltberühmte Professor seine zuversichtliche Glaubenshoffnung zum Ausdruck brachte, aufgefallen. 31 Ingeborg Wilhelmine Wiborg, geb. Schibbye, 1888 geboren, Abitur 1907, Lehrerausbildung 1909. Als sie 1913 den Rechtsanwalt Finn Seeberg Wiborg heiratete, gab sie ihren Lehrerberuf auf, u m „die Stelle als einziges Dienstmädchen" in ihrem eigenen Hause anzutreten. Das Ehepaar Wiborg wohnte zwei Jahre (1917—1919) in N e w York und unternahm auch sonst mehrere Reisen im Ausland; sie hatten zwei Kinder ( W I B O R G 1932).
4. Zwei längere
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81. Geburtstag hat er also doch nicht erreicht. Begraben liegt er — wieder mit seiner Caro vereint — auf dem Osloer Westfriedhof. 4. Zwei
längere
Auslandsreisen
Im Zusammenhang mit seiner Forschung und seiner akademischen Lehrtätigkeit war Mowinckel natürlich mehrmals im Ausland, teils als Teilnehmer auf internationalen Fachkonferenzen, teils als Gastredner, von dieser oder jener Universität eingeladen. Einen breiteren Uberblick über diese akademischen Reisen werden wir später geben (Kap. 8.1.e). Hier wollen wir zunächst zwei längere Auslandsreisen in den Blick nehmen, die Mowinckel im Laufe seines Lebens tat, beide in der Begleitung seiner Frau — die eine nach Italien, die andere nach Israel. a) Die Studienreise nach Italien fand im Frühjahr 1922 (Anfang März - Ende April) statt; die Reiseroute lässt sich in den Hauptzügen mit Hilfe des großen, an den Grenzstationen abgestempelten Passes rekonstruieren, der für beide Eheleute eigens für diese Auslandsreise ausgestellt worden war: über Hälsingborg/Helsingor — Kopenhagen — Gedser/Warnemünde — Berlin — München — Kufstein/Brenner nach R o m - und den gleichen Weg zurück. Während ihres fast vierwöchigen Aufenthalts in Italien blieben die Mowinckels zwei Wochen in Rom. Diese Zeit verbrachten sie zusammen mit dem Kirchenhistoriker Oluf Kolsrud - Studienfreund und Kollege von Mowinckel - , dessen Frau und Mowinckels jüngerem Bruder Rolf, Konservator an der Altertumssammlung der Universität Oslo. In dieser Gesellschaft hatten sie überaus kundige Führer, und in seinem Nachruf auf Kolsrud fast 25 Jahre später erinnert sich Mowinckel noch mit Freude an dieses Reiseerlebnis: 32 Rolf kannte die klassische Geschichtsliteratur; Oluf kannte ganz R o m und die ganze Kirchengeschichte. Mit zwei solchen Ciceronen so con amore in der ewigen Stadt herumzuwandern, waren Erlebnisse den ganzen Tag. W i r sahen und lernten mehr, als es uns monatelang mit Baedeker möglich gewesen wäre.
Der Besuch in Italien war nach diesem Bericht eine klassische Bildungsreise, auf der sich das Ehepaar Mowinckel auf kunst- und kirchenhistorisch bedeutsame Denkmäler konzentriert hat. Welche anderen italienischen Städte sie kennen gelernt haben — vielleicht Florenz, Neapel oder Venedig? —, darüber geben aber keine Quellen Auskunft. Auf der Hin- wie auf der Rückfahrt hielten sie einige Tage in Berlin, auf der Rückfahrt zuerst kurz in München und dann vier Tage in Gießen und Marburg. Dort hatte M o 32
Mow. 1945e. Hier stellt Mowinckel — zweifellos mit Recht - Kolsrud als einen der wenigen wirklich „Gelehrten" in dem gegenwärtigen „Zeitalter der Spezialisten" dar. Sein umfangreiches, gründliches Wissen haben auch andere Informanten bestätigt.
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der weiteren
Biographie
winckel noch gute Freunde aus seinen Studienjahren, die er wiedersehen wollte. Nachdem Gunkel 1920 von Gießen nach Halle übersiedelt war und sein Nachfolger Hölscher nur ein Jahr in Gießen blieb, konnte 1921 der Gunkel-Schüler Hans Schmidt dort den alttestamentlichen Lehrstuhl übernehmen. Und der Schweizer Walter Baumgartner, mit dem Mowinckel ebenfalls seit seiner Lehrzeit bei Gunkel befreundet war und der so weit keine feste Stelle hatte, hielt sich noch in Marburg auf. 33 Auf der Rückfahrt war schließlich auch ein Wiedersehen mit Gunkel vorgesehen, mit dem Mowinckel gerade in den Jahren 1921-23 ziemlich regelmäßig korrespondierte. 34 Wegen einer Krankheit des alten Lehrers, der jetzt kurz vor seinem 60. Geburtstag (23.5.1922) stand, hing dieser Besuch lange an einem seidenen Faden, 35 ließ sich aber letzten Endes von Berlin aus doch durchführen. 3 6 Und wenn man bedenkt, wie sich Mowinckel in seiner ersten Psalmenstudie, die wenige Monate vorher erschienen war, Gunkel gegenüber positioniert hatte, 37 kann man sich leicht vorstellen, dass die beiden, Lehrer und Schüler, auch mündlich einiges zu besprechen hatten. 38 33 In einer Postkarte an Baumgartner nach der Heimkehr (Kristiania 11.5.1922) bestätigt Mowinckel, dass er ihn „in seiner W o h n u n g " aufgesucht hatte, aber enttäuscht feststellen musste, dass Baumgartner zu dem Zeitpunkt verreist war. 34 In den Jahren zwischen 1916 und 1921 war zwischen den beiden offensichtlich kein Briefwechsel. Die Initiative zu dessen Wiederaufnahme scheint Gunkel mit einer Weihnachtskarte 1920 gemacht zu haben. Sein „langes Schweigen" führt Mowinckel (Kristiania 19.3.1921) auf „sowohl bewußte als rein zufällige" Gründe zurück; zu den letzteren rechnet er u.a. „viele Arbeiten, knappe Zeit, gelegentliche Krankheitsanfälle" und zu den ersteren verschiedene mit dem Krieg und der ersten Nachkriegszeit verbundene Umstände: „vor dem Waffenstillstand und nach dem unbeeinschränkten U - b o o t kriege eine sich mehr und mehr ausarbeitende UnÜbereinstimmung über Krieg und alles damit zusammenhängenden mit den damals in Deutschland herrschenden, und die Schwierigkeit einer Darlegung der damals nicht tolerierten Anschauungen; ... Darüber war es aber während der Kriegszensur unmöglich zu schreiben, und eine Briefwechselung ohne diese Dinge zu berühren schien mir persönlich recht schwierig. Nach dem Waffenstillstand und dem Schandfrieden zu Versailles und dem damals über das von mir sehr hoch geschätzte deutsche Volk hineinbrechende furchtbaren Unglück habe ich etwas wie eine Lähmung empfunden; ich konnte ja nur mein Beileid aussprechen, was war aber unter solchen Umständen noch möglich Tröstendes und Erhebendes zu sagen? Das war — das sehe ich jetzt — falsch räsoniert; meine Enttäuschung war aber so groß, daß ich damals nur Worte des Zorns und der Rache und der unchristlichsten Gefühlen hätte finden können; da habe ich doch besser geschwiegen." 35
Vgl. Postkarten Mowinckels an Gunkel, Gießen 10.4.1922 und Berlin 12.4.1922.
(vgl. KLATT 1 9 6 9 ; 2 4 1 , A n m . 7 2 u n d n a c h i h m SMEND 2 0 0 4 : 1 7 0 ) . 36
37
V g l . KLATT 1 9 6 9 : 2 4 1 , A n m . 7 2 , u n d n a c h i h m SMEND 2 0 0 4 : 170.
Vgl. dazu Kap. 9, Anm. 11 f. 38 Schon im Frühjahr 1921 hatten sie verschiedene Themen im Zusammenhang mit den Psalmenstudien Mowinckels diskutiert (Briefe Mowinckels vom 23.3 und 11.4), und im Laufe des Herbstes hatte Mowinckel Gunkel nach und nach Druckbogen seiner ersten Psalmenstudie zur Durchsicht zugeschickt (vgl. Briefe vom 23.8 und 18.10); in einem Brief vom 27.10 ist Mowinckel ausführlich auf Einwände Gunkels eingegangen (vgl. dazu auch Smend 2004: 168f). - Aus dem Briefwechsel dieser Jahre geht sonst
4. Zwei längere
Auslandsreisen
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b) Ein zweites großes Erlebnis war für das Ehepaar Mowinckel zweifellos die Israelsreise im Frühjahr 1956. Vom Schwedischen Theologischen Institut in Jerusalem, in dessen Vorstand Mowinckels guter Freund, der Alttestamentler Johannes Lindblom, saß, war Mowinckel eingeladen worden, eine Vortragsreihe — in englischer Sprache — über die Thronbesteigungspsalmen zu halten, 39 und im Anschluss daran konnten seine Frau und er weitere Teile des Heiligen Landes besichtigen. So durfte Mowinckel endlich jenes Land selbst sehen und erleben, mit dem er sich ein Leben lang als Forscher und Lehrer so intensiv beschäftigt hatte. Ganz ohne Probleme ging aber diese Reise nicht vonstatten. In den letzten Monaten vor der Abreise stand Mowinckel in regem Briefwechsel mit Lindblom, dem gegenüber er immer wieder verschiedene Bedenken äußern musste. 40 Wegen der Bewegungsschwierigkeiten, die die Gicht ihm in einem Bein verursachte, sah sich Mowinckel nicht im Stande, die lange Reise ohne seine Frau durchzuführen, und es war ihm sehr daran gelegen, dass auch sie während des Aufenthalts in Israel als Gast des Instituts behandelt werden sollte. Eine zweite Frage waren die Reisekosten, die für Mowinckel selbst das Institut ja tragen würde. Anders als die meisten Gäste des Instituts wollten nämlich Mowinckel und seine Frau nicht fliegen; lieber nahmen sie die zeitaufwendige Reise mit Bahn und Schiff in Kauf, die freilich auch erheblich teurer wurde; denn der alte Professor wollte die 3. Klasse der Bahn und die Seefahrt als Deckpassagier jüngeren Reisenden überlassen. Dafür zeigte das Institut durchaus Verständnis — alles ließ sich zum Besten regeln. Nach der Heimkehr — auf der Rückreise hatten sie auch nochmals f ü n f Tage lang R o m besucht — dankte Mowinckel Lindblom und dem Vorstand des Instituts ganz herzlich: für die Einladung, den großzügigen Reisezuschuss und die gastfreundliche Aufnahme. Übrigens hatte er, lässt er Lindblom wissen, schon in Jerusalem dem Institut und den israelischen Behörden in einer improvisierten Rede seinen Dank ausgesprochen, und zwar, wie er — vielleicht mit ein wenig Stolz — in Klammern hinzufügt: „auf Englisch!" Zufrieden konnte er auch erzählen, dass ihm das wärmere hervor, dass Mowinckel einige allgemeinverständliche Texte Gunkels an norwegische Medien ( T T und KoK) weitervermittelt hat. So sind z.B. zwei Stücke von Gunkel in KoK 28/1921 veröffentlicht worden (Arnos, S. 41-48; Jerusalems fall, S. 161-168), und gewisse orthographische Eigentümlichkeiten (vgl. Kap. 12.1.b) deuten d a r a u f h i n , dass sie Mowinckel selbst übersetzt hat. Dazu hat er sich - allerdings ergebnislos — um eine norwegische Ubersetzung der „Ausgewählten Psalmen" Gunkels bemüht (vgl. dazu auch Smend 2004: 170). 39 Unter dem Titel „The Enthronement Psalms" fanden die insgesamt neun Vorträge vormittags (9-11) vom 9. (Montag) bis zum 13. (Freitag) April in der Bibliothek des Schwedischen Theologischen Instituts statt. Außerdem ist Mowinckel zu einer zusätzlichen Vorlesung an der Hebrew University von Jerusalem eingeladen worden (Brief an Lindblom, 1.5.1956). 40 Sieben Briefe im Zeitraum 4.7.1955 - 5.3.1956.
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Biographie
Klima wohl getan habe, so dass er in seiner Bewegungsfreiheit nur wenig gehindert worden sei.41 Uber die Reise selbst sind wir sonst durch einen handgeschriebenen Bericht 42 von Frau Caro gut informiert: Von Oslo aus zogen die Eheleute also mit der Bahn über R o m nach Brindisi an der süditalienischen Adriaküste und von dort weiter auf dem Seeweg nach Haifa. In Piräus blieb das Schiff so lange liegen, dass sie zu einer Stadtbesichtigung in Athen sowie einem Besuch auf Akropolis Zeit fanden. In Zypern aber, wo das Schiff ebenfalls einige Stunden vor Anker lag, durften die Fahrgäste wegen der unruhigen politischen Situation nicht an Land gehen. Auf israelischem Boden wurden sie als Gäste des Ministeriums empfangen und dementsprechend gut behandelt und großzügig betreut. In einem Wagen des Ministeriums und mit eigenem Chauffeur durften sie einige Tage herumfahren und jene Städte und Landschaften besuchen, mit deren Namen sie aus der biblischen Geschichte wohl vertraut waren. In ihrem Reisebericht spricht Frau Mowinckel als eine christliche Pilgerin, die sich immer und überall der besonderen Tatsache bewusst ist, dass sie jetzt auf demselben heiligen Boden steht und geht, auf dem seinerzeit auch der Meister, Jesus selbst, gewandelt ist. Durch ihre Kontakte im Ministerium wie im Schwedischen Theologischen Institut wurden Mowinckel und seiner Frau viele Türen zu interessanten Stätten und Begebenheiten geöffnet. So hatten sie in Jerusalem die Gelegenheit, im Hause eines holländischen Professors das jüdische Passahfest mitzuerleben, und sie wurden ebenfalls dazu eingeladen, der Beschneidung eines acht Tage alten Knaben beizuwohnen. Auch die christliche Osterfeier fiel in die Zeit ihres Jerusalem-Besuches, und sie nahmen am Ostertag am Gottesdienst in der schottischen Kirche teil, während dessen ein junger Jude getauft wurde. Den ersten israelischen Ministerpräsidenten, David Ben Gurion, durften sie begrüßen, und in das Programm ihrer Rundreise gehörte der Besuch eines großen, modernen Kibbuz, der ihnen einen Eindruck davon vermitteln sollte, wie energisch und effektiv jüdische Immigranten aus aller Welt ihr Land wieder aufbauten. Natürlich sind die Gäste — in Jerusalem wie anderswo — ständig an die schwierige politische Lage des jungen Staates erinnert worden, und man braucht sich wohl eigentlich nicht darüber zu wundern, dass sie in ihrer Auffassung von dem Konflikt zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten mehr oder weniger selbstverständlich den Standpunkt der Gastgeber einnahmen. 41
Brief an Lindblom, 1.5.1956. Vermutlich hat dieser Bericht nach der Heimkehr als Grundlage f ü r einen Vortrag innerhalb eines engeren kirchlichen Kreises gedient. - Mowinckel selbst hat in den Monaten nach der Israelsreise eine R e i h e Zeitungsartikel über das Land Israel sowie über dessen Geschichte und heilige Stätten veröffentlicht (vgl Mow. 1956f und 1957 n - p ) . 42
4. Zwei längere
Auslandsreisen
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Von ihrer Israelsreise kehrten Mowinckel und seine Frau mit interessanten Erfahrungen und wertvollen Erinnerungen zurück. Der Besuch in Jerusalem hatte aber auch in anderer Hinsicht eine bleibende Bedeutung: Offensichtlich fanden sowohl die beiden Mowinckels als auch Herr Kosmala, der Direktor des Instituts, und seine Mitarbeiterin, Greta Andren, eine solche Freude an diesen gemeinsam erlebten Tagen, dass sich schnell eine echte Freundschaft entwickelte. 4 3 Davon zeugt eine ziemlich regelmäßige Korrespondenz zwischen Mowinckel und Kosmala, 44 in der sie nicht nur Separata austauschten und wissenschaftliche Fragen erörterten, sondern auch auf der rein menschlichen Ebene eng miteinander verbunden blieben.
4 3 Kurz nach dem Besuch schreibt Kosmala (Jerusalem 20.5.1956) an H.S. Nyberg: „Die beiden Mowinckels waren reizend und ein wirkliches Erlebnis." Im Vergleich zu einem früheren Gast aus Oslo, einem „ganz orthodoxen" Professor an der Theologischen Gemeindefakultät (Sverre Aalen), hat Kosmala Mowinckel als einen „nicht gerade sehr orthodoxen, aber lebendigen und innerlich demütigen" Menschen empfunden. 4 4 In Mowinckels Nachlass finden sich (aus dem Zeitraum 1 9 5 6 - 1 9 6 4 ) zwölf Briefe von Kosmala an Mowinckel.
Thematischer Teil
Kapitel 1
Mowinckel über Kirche und Christentum Von Mowinckels Verhältnis zu Kirche und Christentum war schon in früheren Kapiteln die Rede. Wir haben gesehen, wie er als Student und junger Stipendiat seine religiösen Zweifel hatte, die ihn von einer kirchlichen Laufbahn abhielten; dann führten ihn aber persönliche Erfahrungen im Zusammenhang mit seiner schweren Krankheit wieder in größere Nähe zum christlichen Bekenntnis, so dass er es richtig fand, die praktisch-theologische Ausbildung nachzuholen. Es legt sich nahe, seine weitere religiöse Entwicklung in zwei Abschnitte einzuteilen: vor (7.2) und nach (7.3) der Begegnung mit der „Oxford Group" in den 1930er Jahren. Zuerst (7.1) versuchen wir, in gebotener Kürze einige charakteristische Grundzüge der norwegischen Kirchengeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren, soweit sie für die Thematik dieses Kapitels von Relevanz sind.1 1. Kirche und Christentum des 20.
in Norwegen
in der ersten Hälfte
Jahrhunderts
a) Einen ersten Einblick in das Thema dieses Abschnnitts haben wir schon in den beiden ersten Abschnitten des zweiten Kapitels gewonnen. Da war vom Einbruch des modernen Denkens in das intellektuelle Leben N o r w e gens in den 1870er und -80er Jahren, von der daraus sich ergebenden Spannung zwischen religiöser Tradition und freidenkerischer Modernität und von der ersten großen Kraftprobe zwischen konservativer und liberaler Theologie im sogenannten „Professorstreit" (1903-1906) die Rede. Zur weiteren Klärung der religiösen Lage u m 1900 müssen wir aber noch einen Blick in die Vergangenheit werfen. Bestimmend für die religiöse Entwicklung im 19. Jahrhundert war nämlich nicht nur die eigentlich erst im letzten Drittel sich ernsthaft meldende Herausforderung der modernen Säkularisierung; noch stärker wirkte sich schon seit Beginn des Jahrhunderts eine Reihe von Erweckungsbewegungen auf das norwegische Christent u m aus. Die bedeutendste dieser Bewegungen war zweifellos jene landes1
D i e ausführlichste Darstellung norwegischer Kirchengeschichte in diesem Z e i t -
r a u m g i b t W I S L 0 F F 1 9 7 1 ; v g l . s o n s t MOLLAND 1 9 5 1 / 1 9 6 8 , OFTESTAD 1 9 9 1 u n d M O N T G O MERY 1 9 9 4 .
1. Kirche
und Christentum
in Norwegen
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
111
weite Erweckung, die seit 1796 durch den Bauernsohn Hans Nielsen Hauge (1771—1824) geleitet wurde. In der Tradition des deutschen Pietismus kamen diese Erweckten in Freundeskreisen zusammen und suchten hier Stärkung für ein christliches Leben, das zwar ein gewisses M a ß an religiösen Emotionen nicht ausschloss, aber insgesamt doch vor allem durch ein puritanisches Arbeitsethos geprägt war. Für den Kurs der weiteren norwegischen Kirchengeschichte war es überaus wichtig, dass Hauge kurz vor seinem Tod seine vielen „Freunde" dazu aufforderte, ihr Glaubensleben innerhalb der staatskirchlichen Religionsgemeinschaft zu führen und diese nicht zu verlassen. So blieb die Anzahl w i e die Bedeutung der protestantischen Freikirchen, die sich nach der Einführung der Religionsfreiheit im Jahre 1845 etablierten, verhältnismäßig gering. U m so bedeutsamer wurden die vielen innerkirchlichen Organisationen für äußere wie innere Mission, die allmählich gegründet wurden, zunächst auf lokaler, später auch auf nationaler Basis. Dem ordinierten Klerus standen die Erweckten nicht selten kritisch gegenüber; nicht immer und nicht überall meinten sie, dem örtlichen Pfarrer ihr Vertrauen schenken zu können. Insbesondere seit Mitte des Jahrhunderts, als die Erweckungsbewegung durch Gisle Johnson (vgl. Kap. 2.1) in die theologische Fakultät der Universität Eingang fand, rückten aber volksnahe Laienprediger und ordinierte Pfarrer vielerorts enger zusammen und schufen so eine starke, breite Front gegen den Geist der Modernisierung und Säkularisierung und damit auch gegen allerlei Schattierungen theologischer Liberalisierung. Neben — in gewisser Hinsicht: zwischen — der pietistischen Erweckung und der modernen Säkularisierung stand eine dritte Richtung, in der Ideen des dänischen Pfarrers und Kirchenlieddichters N.F.S. Grundtvig (1783— 1872) wirksam waren. Ihr theologisches Fundament hatte diese Richtung in der „kirchlichen Anschauung" Grundtvigs, der gemäß der feste Grund einer kirchlichen Ökumene im altkirchlichen Taufbekenntnis zu suchen sei und der Gottesdienst mit seiner Liturgie und Sakramentsfeier das Zentrum des christlichen Lebens ausmache. Ein starkes Interesse für die altnordische M y thologie, das durch romantische Einflüsse in seiner Jugend geweckt worden war, trug bei Grundtvig zu einer nationalkirchlichen, kulturoffenen Ausrichtung bei, die nicht zuletzt in einer neuen Form der Erwachsenenbildung, der sogenannten Volkshochschule, eine konkrete, gesellschaftsprägende Form annahm. Sowohl in Dänemark als auch in Norwegen wuchs eine starke Volkshochschulbewegung heran, und ein markanter norwegischer Vertreter dieser Bewegung, Christopher Bruun, 2 gründete 1893 — zusammen mit Thorvald Klaveness 3 — die Zeitschrift „For kirke og kultur" (seit 1919: 2 3
Über Bruun: Berggrav 1946: 7-39. Thorvald Klaveness (1844-1915) gehörte als junger Pfarrer der orthodox-pietisti-
112
Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und Christentum
„Kirke og kultur"), deren Titel programmatisch die Hoffnung auf eine erneuerungsversprechende Wiedervereinigung von Kirche und Kultur aussprechen wollte. 4 b) Mit dem „Professorstreit" und der Gründung der Theologischen G e meindefakultät war der norwegische „Kirchenstreit" in vollem Gang. Dieser Konflikt zwischen einem traditionsbewussten, durch die Erweckungsfrömmigkeit erstarkten „Christenvolk" einerseits und einem sich der Moderne öffnenden Kulturprotestantismus andererseits hielt die nächsten paar J a h r zehnte mit ungeschwächter Kraft an. Was die streitenden Parteien im tiefsten Grunde trennte, waren theologische Prinzipienfragen wie die nach der Autorität der Bibel und der Bekenntnisse und nach dem Wesen der Offenbarung und des Glaubens. Der Streit spitzte sich aber nicht selten in der gegensätzlichen Haltung zu bestimmten traditionellen Lehrstücken zu, insbesondere zu Themen wie der Jungfrauengeburt und der leiblichen Auferstehung der Toten. An diesen Punkten entzündete sich in den 1920er Jahren ein norwegischer Apostolikumstreit von heftiger Intensität: Zur Unterscheidung der Geister und als Prüfstein für theologische Glaubwürdigkeit wurde auf konservativer Seite nicht selten die Frage gestellt, ob sich die Liberalen denn zu einer wörtlichen Annahme des apostolischen Glaubensbekenntnisses bereit erklären könnten. Als zentrale Foren für die öffentliche Auseinandersetzung standen den streitenden Parteien hauptsächlich drei kirchliche Zeitschriften zur Verfügung. Die schon 1863 von Gisle Johnson gegründete „Luthersk kirketidende" war und blieb der Hort der konservativen Richtung, während ihr Gegenstück, „Norsk kirkeblad", das 1904 von Thorvald Klaveness und Sigurd Bretteville Jensen gegründet worden war, 3 vornehmlich als Sprachrohr der liberalen Theologen diente. Einen dritten Kurs strebte „Kirke og kultur" an, das „kein eigentliches Parteiblatt" sein wollte, 6 aber mit seinem kulturoffenen Programm am ehesten den „fortschrittlicheren" Autoren eine naheliegende Alternative war. Natürlich wurde der Streit auch in der Tagesschen Richtung an und redigierte einige Jahre (1874-1884) die konservativ-kirchliche Zeitschrift „Luthersk kirketidende". Seit den 1880er Jahren öffnete er sich immer mehr der modernen Welt und den neuen theologischen Strömungen und wurde nach der Jahrhundertwende ein Anführer der liberalen Theologie. Uber Klaveness, vgl. BERGGRAV 1946: 4 1 - 8 3 . - Unter den ihm nachfolgenden Herausgebern des „Norsk kirkeblad" finden wir sowohl Lyder Brun als auch Mowinckels Studienfreund Hans Ording. 4 BRUUN/KLAVENESS 1894. - Am nächsten kommt „Kirke og kultur" vermutlich der deutschen, von Martin Rade herausgegebenen Zeitschrift „Die Christliche Welt". Seit 1909 war Mowinckels Studienfreund Eivind Berggrav Mitherausgeber, seit 1915 alleiniger Herausgeber der Zeitschrift. 5 Zu Klaveness, vgl. Anm. 3 oben. 6 So drückt sich Eivind Berggrav (vgl. Anm. 4 oben) zum 25-jährigen Jubiläum der Z e i t s c h r i f t aus (BERGGRAV 1 9 1 9 : 5 8 ) .
1. Kirche und Christentum
in Norwegen
in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts
113
presse geführt; die großen Zeitungen berichteten regelmäßig darüber und n a h m e n gerne verschiedene Meinungsäußerungen in ihre Spalten auf. Von besonderem Interesse in diesem Z u s a m m e n h a n g ist „Tidens Tegn" (1910— 1941), eine vielgelesene Kulturzeitung mit mehreren bekannten und w o h l angesehenen Mitarbeitern. Im Jahre 1913 fand auf der konservativen Seite eine Konsolidierung und Sammlung der Kräfte statt, indem f ü h r e n d e Vertreter der christlichen Laienorganisationen von n u n an jährlich zusammentraten, u m die kirchliche Lage, aktuelle Strategien im Kirchenstreit sowie die Möglichkeit gemeinsamer Initiativen auf dem Feld der Verkündigung oder der Erziehung zu besprechen. Bald spaltete sich der Pfarrerverein der norwegischen Kirche, der u m die Jahrhundertwende gegründet war, in einen liberalen, einen konservativen u n d einen moderaten Zweig. Im liberalen Lager herrschte die Auffassung, dass es sich bei dieser theologischen Pluralität u m gleichwertige theologische R i c h t u n g e n handle, deren dialogisches „Zusammenspiel" in den christlichen Organisationen wie in den lokalen Kirchengemeinden zu wünschen sei. Ganz anders sah die Problematik von der anderen Seite aus: nach der M e i n u n g der Konservativen ging es hier u m den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Rechtgläubigkeit und Irrlehre, zwischen Bibel- u n d Bekenntnistreue auf der einen, Abfall vom wahren Glauben auf der anderen Seite. Auch unter den Konservativen gab es wohl Leute, die der Auffassung waren, dass die zeitgenössische religiöse und kulturelle Lage, in der neben Atheismus und Kommunismus die verschiedensten Formen des Kulturradikalismus i m m e r m e h r u m sich griffen, eher christlichen Zusammenhalt als inneren Streit forderte. Gegen jeden Versuch, sich auf irgendwelche Verhandlungen mit liberalen Theologen einzulassen, wehrte sich aber Ole Hallesby (1879—1961) vehement. Hallesby war seit 1909 Professor für systematische Theologie an der Gemeindefakultät und w u r d e bald die f ü h r e n d e Kraft im konservativen Lager. Auf einer großen Tagung im Jahre 1920, zu der 950 Vertreter verschiedener christlicher Organisationen in der Hauptstadt zusammenkamen, w u r d e denn auch seine abweisende Linie P r o g r a m m : Auf dem von den Organisationen selbst betriebenen Tätigkeitsfeld wollte man nicht mit Leuten zu tun haben, die die Autorität der Bibel nicht voll anerkannten oder sich z u m Wortlaut des apostolischen Glaubensbekenntnisses nicht restlos bekennen konnten. Auf dieser Grundlage w u r d e der norwegische Kirchenstreit nach 1920 noch weiter intensiviert. In diesen Jahren stand der christliche Studentenverein unter dem starken Einfluss Kristian Schjelderups, eines theologischen Stipendiaten, der sich in der Öffentlichkeit durch radikale Ansichten b e merkbar gemacht hatte. In dieser humanistisch-christlichen Atmosphäre konnten sich viele aus Erweckungskreisen herkommende Studenten nicht
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Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und
Christentum
heimisch fühlen, und als 1924 ein neuer Vorsitzender gewählt werden sollte, trat Hallesby als Herausforderer gegen Schjelderup an. Er verlor die Wahl, gründete aber daraufhin einen alternativen, konservativen Verein, dessen erster Vorsitzender er selbst wurde. Eine weitere organisatorische Initiative fand auf der gegnerischen Seite statt, als Schjelderup einen „Landesverein für freisinniges Christentum" („Norges landslag for frilynd kristendom") ins Leben rief. Die Bedeutung dieser Neuschöpfung blieb allerdings recht begrenzt; 7 auf seiner Suche nach einer modernen Religion, die neben den E r kenntnissen der modernen Wissenschaft würde bestehen können, war Schjelderup auch den meisten Universitätstheologen zu weit gegangen. Zwar traten ein paar Professoren — darunter Mowinckel - in den Verein ein, M o winckel soll aber seinen Eintritt mit der Hoffnung begründet haben, einen mäßigenden Einfluss ausüben zu können. 8 c) Im Ubergang zu den 1930er Jahren trat der Kirchenstreit in eine neue, etwas ruhigere Phase. Auf beiden Seiten hat die Zahl jener jungen T h e o l o gen zugenommen, die der jahrzehntelangen Polemik überdrüßig waren und sich nach Einheit und Frieden innerhalb der Kirche sehnten. Das Jubiläum, das die norwegische Kirche 1930 zum Andenken an ihr 900-jähriges Bestehen feiern konnte, 9 war ein Anlass, sich auf die gemeinsame Geschichte zu besinnen und die Streitaxt für eine Weile zu begraben. Eine ähnliche W i r kung hatte auf längere Sicht eine Neuorientierung innerhalb der Universitätstheologie; teilweise im Zusammenhang mit internationalen Richtungen wie der dialektischen Theologie und der Luther-Renaissance entstand hier eine Art Neuorthodoxie, die nicht zuletzt unter den Studenten und Stipendiaten einen größeren Sinn für die institutionalisierte Kirche mit ihrer G e schichte, ihren Dogmen und ihren Sakramenten weckte. Diese R i c h t u n g beschränkte sich nicht auf das akademische Feld, sondern fand in einer B r u derschaft, dem „Ordo Crucis", ihren praktischen Niederschlag. Die Idee zu diesem lutherischen Orden hatte ein tatkräftiger Student, Alex Johnson, D e r Verein wurde schon 1933 aufgelöst. So Lyder B r u n in VALKNER 1968: 251. — A n der Gründungsversammlung dieses Vereins hielt M o w i n c k e l einen Vortrag über die Aufgaben der zeitgenössischen T h e o l o gie; ein Auszug daraus wurde in M o w . 1 9 2 8 f abgedruckt. Zu einer Publikation des Vereins im J a h r e 1928 trug er mit einem Aufsatz über die Bibel bei (Mow. 1 9 2 8 e ) . An der Mitgliederversammlung i m J a h r e 1929 trat er aus dem Vorsitz des Vereins aus. - Als ein Antrag Schjelderups a u f eine Pfarrstelle 1928 vom M i n i s t e r i u m abgewiesen worden war, ohne den kirchlichen Prüfungsinstanzen vorgelegt worden zu sein, stellte sich M o winckel in einem Zeitungsartikel hinter Schjelderup und kritisierte scharf die V o r g e hensweise des Ministers ( M o w . 1928i). 7
8
9 In seinem Versuch, das Land zurückzuerobern, ist der norwegische K ö n i g Olav Haraldsson ( = „Olav der H e i l i g e " ) in einer Schlacht i m J a h r e 1 0 3 0 gefallen. Gerade diese seine militärische Niederlage gilt aber herkömmlicherweise als der erfolgreiche Abschluss der Christianisierung Norwegens.
1. Kirche und Christentum
in Norwegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
115
Sohn des Madagaskarmissionars und Praktikumslehrers Johannes Johnson; 10 andere treibende Kräfte dieser kirchlich orientierten Frömmigkeit waren Hans Ording, ein Studienfreund Mowinckels, der damals Gemeindepfarrer in Oslo war und später (1939) Professor für systematische Theologie wurde, sowie der junge Kirchenhistoriker Einar Molland, der 1932 im christlichen Studentenverein durch einen Vortrag mit dem provokativen Titel „Wir glauben an die Dogmen" Aufsehen erregt hatte. 11 Einen weiteren Beitrag zur Entschärfung der theologischen Fronten leistete auf ihre Weise die 1921 vom amerikanisch-lutherischen Pfarrer Frank Buchman gegründete Evangelisationsbewegung (seit 1929: „Oxford Group Movement"), die Mitte der 30er Jahre nach Skandinavien kam und auch in Norwegen wirksam wurde. 12 Wie alle Erweckungstraditionen legte auch diese Bewegung entscheidendes Gewicht auf das gehorsame Hören des Wortes Gottes, auf das persönliche Gebet und das Bekenntnis der Sünden, auf die innere Verwandlung jedes Einzelnen sowie auf die Gemeinschaft der Gläubigen, aber sonst unterschieden sich Inhalt und Stil ihrer Verkündigung sowie ihre ganze Missionsstrategie deutlich von dem, was man sich herkömmlich unter dem Begriff der „Erweckung" vorstellte. Im Zentrum des Interesses standen hier nicht so sehr die christuszentrierte Versöhnungslehre und die persönliche Heilserwartung, sondern eher die Frage nach dem Z u sammenhang von innerer Verwandlung und aktivem Einsatz für eine bessere Gemeinschaft und eine bessere Welt. 13 Als leitende Prinzipien eines christlichen Lebens galten Buchmans vier absolute Werte: Ehrlichkeit, Reinheit, Selbstlosigkeit und Liebe. Durch große Kundgebungen und Schlagzeilen in den Zeitungen gelang es der Gruppenbewegung, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken; ein charakteristisches Merkmal ihrer Missionsstrategie waren sonst sogenannte „house parties", teilweise in besseren Hotels, zu denen einflussreiche Männer aus Politik und Kultur eingeladen wurden. Hier ging es darum, verschiedene Netzwerke zu etablieren, deren Mitglieder sich in ihren jeweiligen Lebens- und Arbeitsbeziehungen für die Ideen der Bewegung einsetzen konnten. Auf diese Weise setzte sich das Profil der Gruppenbewegung auch im Hinblick auf ihre Anhängerschaft von den bisherigen Erweckungen markant ab; hatten diese ihre Anhänger in erster Linie aus den 10
Ü b e r Alex Johnson, vgl.
SOLUM 1 9 8 3
und
HESTVOLD 1987.
Alex Johnson wurde
später (1964) B i s c h o f v o n H a m a r ; z u J o h a n n e s J o h n s o n vgl. K a p . 5.3.C. 11
Vgl. zu diesem Abschnnitt auch H E S T V O L D 1987, insbesondere S. 96ff. U b e r die „Oxford Group" in Skandinavien (und Deutschland) informiert JAKLERT 1995, in Norwegen J . J O H N S O N 1971; vgl. dazu sonst Abschnitt 3 unten. 13 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Titel eines Buches, in dem der Schriftsteller Ronald Fangen (1895—1946) über seine lebensändernde Begegnung mit der Gruppenbewegung Zeugnis ablegt: „En kristen verdensrevolusjon" (= Eine christliche Weltrevolution), Oslo 1935. 12
116
Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und
Christentum
mittleren, zum Teil auch unteren sozialen Schichten gewonnen, rekrutierte die Gruppenbewegung ihre Leute hauptsächlich aus der kulturellen oder auch ökonomischen Oberschicht der Bevölkerung. Nicht wenige Pfarrer und andere Theologen, die bisher der Erweckungsfrömmigkeit fern gestanden hatten, wurden durch die Gruppenbewegung „verwandelt" und beteiligten sich aktiv daran — Sigmund Mowinckel war vielleicht der prominenteste Name. Aus Sicht der christlichen Organisationen fiel aber das Urteil über die Bewegung letztlich negativ aus: Obwohl ihre positiven Wirkungen nicht zu übersehen waren, kamen Hallesby und andere Führer doch zu dem Schluss, dass sie „ohne Kreuz und ohne Lehre" sei. Die Teilnahme eines liberalen Theologen an der Bewegung war ihnen darum keine Garantie für jene Bibel- und Bekenntnistreue, die sie von ihren Kooperationspartnern verlangten. d) Mit der deutschen Okkupation im April 1940 änderte sich die Lage der norwegischen Kirche bald radikal. Die Nazi-kontrollierte Regierung bekundete zwar ihren Willen, die Freiheit der Verkündigung zu respektieren; nur sollten sich die Pfarrer auf „das Erbauliche und Ewige" konzentrieren und sich loyal von der Politik fernhalten; wie die Schule und andere Erziehungsinstanzen sollte auch die Kirche ihren Beitrag zum Aufbau der neuen Gesellschaft leisten. U m gegen alle ideologisch motivierten Ubergriffe der Behörden eine möglichst geschlossene Front bilden zu können, rückten die rivalisierenden kirchlichen Fraktionen jetzt enger zusammen und etablierten schon im Herbst 1940 einen gemeinsamen Gesprächskreis („Kristent samräd") unter der Leitung von Eivind Berggrav, dem Bischof von Oslo. Berggrav galt zwar als Vertreter der liberalen Theologie, aber in dieser Schicksalsstunde der ganzen Nation wichen Hallesby und andere Laienführer doch freiwillig von der Linie des Boykotts ab. Jetzt war die Einheit der norwegischen Christenheit das erste Gebot. Auf die weiteren Einzelheiten des norwegischen „Kirchenkampfs" brauchen wir hier nicht einzugehen. 14 In unserem Zusammenhang genügt es, an das intensive Bemühen um die Einheit der Kirche zu erinnern, die diese Zeit kennzeichnet und auf verschiedene Weise zum Ausdruck kam: A u f der Basis einer obrigkeitskritischen Interpretation der lutherischen Z w e i - R e i c h e Lehre legten sämtliche Bischöfe im Februar 1942 den staatlichen Teil ihres Amtes nieder, 15 und die überwältigende Mehrheit der Pfarrer folgte ihrem Beispiel. Unter einer „zeitweiligen Kirchenleitung" entstand so — neben der 14
V g l . d a z u AUSTAD 1 9 8 8 u n d H E L I N G
1992.
Ihre B e g r ü n d u n g wurde in der Bekenntnisschrift „Kirkens g r u n n " formuliert, einem D o k u m e n t , das in der Hauptsache von Berggrav verfasst, aber v o m „Kristent samräd" a n g e n o m m e n worden war. A m ersten Ostertag 1942 wurde dieses B e k e n n t n i s von den Kanzeln des ganzen Landes verlesen. 15
2. Mowinckel im norwegischen
Kirchenstreit
117
staatlich geleiteten — eine selbständige norwegische Volkskirche, die bis zum Kriegsende wirksam bleiben konnte. Für den Unterhalt der Pfarrer sorgten jetzt freiwillige Spenden aus den Kirchengemeinden, und übers ganze Land zeugten häufigere Gottesdienstbesuche von der Haltung der Bevölkerung. Nur in den wenigen Gemeinden, die unter der Führung eines obrigkeitsloyalen Pfarrers standen, blieben die Kirchen wenig besucht; hier wurden dafür häufig in anderen geeigneten Räumen, zum Teil auch in Privathäusern, Gottesdienste abgehalten. Die Okkupationsjahre waren natürlich eine Ausnahmesituation, und nach der Befreiung stellten sich die alten politischen und kirchenpolitischen Konstellationen bald wieder ein. In der ersten Nachkriegszeit aber, in der der Wiederaufbau der ganzen Gesellschaft auf so vielen Gebieten vereinte Kräfte erforderte, blieb die Kirche vorerst von aufreibenden inneren Konflikten verschont. Anlass zu einer gewissen Besorgnis auf kirchlicher Seite waren eher verschiedene Anzeichen einer zunehmenden Säkularisierung, nicht zuletzt im Bereich der staatlichen Schulpolitik. 16 1953 war aber die Zeit des innerkirchlichen Friedens zu Ende; in diesem Jahr brach ein heftiger Streit um die Frage der ewigen Höllenstrafen aus,17 in dem sich wieder einmal die klassischen theologischen Fronten schroff und unversöhnlich gegenüberstanden: Waren die Universitätstheologen zu einer gewissen Entmythologisierung der Lehre vom doppelten Ausgang bereit, lag ihren Kollegen in der Gemeindefakultät daran, den Kern der traditionellen Interpretation nicht aufzugeben. 18 2. Mowinckel im norwegischen Kirchenstreit (bis etwa
1930)
a) Als der junge Mowinckel durch Aufsätze und Bücher in der Öffentlichkeit von sich hören ließ, konnte es gleich von Anfang an niemandem zweifelhaft sein, wo er in die kirchliche Landschaft hingehörte. Abgesehen von den rein wissenschaftlichen Aufsätzen, die natürlich nur „Norsk Teologisk Tidsskrift" aufnehmen konnte, waren seine Beiträge für einen weiteren Leserkreis zum großen Teil in „Norsk kirkeblad" oder in „Kirke og kultur" zu lesen — eine Tatsache, die schon in sich ein Hinweis auf seine liberale Neigung war. In diesen beiden Zeitschriften hat Mowinckel eine Reihe von populärwissenschaftlichen Aufsätzen, Rezensionen (und zwar nicht nur von Fach-, sondern 1 6 Beispielsweise wurde im Herbst 1946 die letzte christliche Hochschule für L e h rerausbildung (in Oslo) v o m Staat ü b e r n o m m e n . 17 D i e Schlüsselfiguren in diesem Streit waren O l e Hallesby und Kristian S c h j e l derup, die schon in den 1 9 2 0 e r J a h r e n markante A n f ü h r e r einer konservativen bzw. liberalen Position gewesen waren (vgl. P u n k t l . b oben). In der Zwischenzeit hatte Schjelderup den W e g zur norwegischen K i r c h e zurückgefunden und war 1947 zum B i s c h o f ernannt worden, blieb aber auch in diesem hohen A m t in vieler Hinsicht seinen freiheitlich-humanistischen Idealen treu. 18
Vgl. AALEN/AALEN
1955.
118
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auch von belletristischer Literatur) und Diskussionsbeiträgen veröffentlicht, wobei die Grenze zwischen Popularisierung und Polemik nicht immer leicht zu ziehen ist; denn auch in solchen Texten, in denen es Mowinckels Hauptanliegen war, theologische oder religionshistorische Erkenntnisse an seine Leser weiterzuvermitteln, hat er häufig genug die konservative Seite mit kritischen Anmerkungen bedacht - nicht selten mit einer gewissen Portion Ironie. Auf einen Versuch, Mowinckels theologische Position im norwegischen Kirchenstreit etwas näher zu bestimmen, werden w i r unten z u r ü c k k o m men. Zunächst wollen wir aber versuchen, einen Gesamtüberblick über seine Auftritte in der damaligen Medienwelt zu gewinnen. Für die gebildete Öffentlichkeit schrieb Mowinckel nämlich nicht nur in den kirchlichen Zeitschriften. Auch in der Tagespresse, vor allem in „Tidens Tegn", erschienen ziemlich regelmäßig Aufsätze von ihm 1 9 — z u m Teil auch längere. Hier finden sich etliche Beiträge, w o der Fachmann Mowinckel ganz sachlich religionshistorisches Wissen vermittelt, z.B. über Märchendichtung i m alten Israel (März 1918), die W i t w e Tutanchamuns (15.12.1923), altägyptische Liebesgedichte (24.5.1925), Moses u n d die altsinaitischen Inschriften (31.8. 1926), einen altbabylonischen H o f - u n d Staatskalender (15.1.1927) und eine ägyptische Quelle der Sprüche Salomonis (9.6.1928). Die meisten Texte knüpfen aber an verschiedene tagesaktuelle Debatten an — auch hier finden sich polemische Beiträge z u m laufenden Kirchenstreit. 2 0 Durch ihren Inhalt oder ihre Form haben sie sicher die Konservativen oft empört. Der R e d a k t i on der „Luthersk kirketidende" zufolge ist Mowinckel schon lange dafür bekannt, einen „groben" Ton anzuwenden; d a r u m fand sie es mehrmals 2 1 notwendig, i h m wegen seiner „verwegenen" 2 2 und „unfeinen" Ausfälle in der Tagespresse einen strengen Verweis zu erteilen und ihn dazu aufzufordern, seine „ungebührliche" Polemik aufzugeben. In der Tagespresse wie in kirchlichen Medien hat Mowinckel auch zu verschiedenen politischen Fragen Stellung g e n o m m e n , die von kirchlichem 19 A n d e r s als die Z e i t s c h r i f t e n a r t i k e l sind diese B e i t r ä g e in d e r M o w i n c k e l - B i b l i o g r a p h i e v o n Kvale u n d R i a n n i c h t systematisch v e r z e i c h n e t . E i n e A n z a h l v o n Z e i t u n g s a u s s c h n i t t e n b e f i n d e n sich in d e m M a t e r i a l , das ich v o n M o w i n c k e l s E n k e l i n A n n e Brita M o w i n c k e l N o r m a n n ü b e r n o m m e n h a b e . D a r ü b e r h i n a u s h a b e ich allerdings k e i n e systematische U n t e r s u c h u n g b e t r i e b e n , u m w e i t e r e M o w i n c k e l - T e x t e a u f z u s p ü r e n . M o w i n c k e l n e n n t selber ( M o w . 1927h: 253) „ S 0 n d m 0 r e F o l k e t i d e n d e " (Alesund), „ S t a v a n g e r A f t e n b l a d " (Stavanger), „ A f t e n p o s t e n " u n d „ M o r g e n b l a d e t " (beide O s l o ) als Z e i t u n g e n , d e n e n er B e i t r ä g e geliefert hat. 20 E i n i g e Beispiele: M o w . 1917r-t, 1919f, 1923n, 1924h, 1927o. 21 LK 6 1 / 1 9 2 4 : 153f: „ U t i l b o r l i g p o l e m i k o m kristelige sporsmaal i v o r dagspresse"; L K 6 4 / 1 9 2 7 : 4 7 8 - 4 8 1 : „ E n uvserdig o p t r e d e n " . - Ä h n l i c h in ein p a a r K o m m e n t a r e n z u r E r n e n n u n g M o w i n c k e l s z u m a u ß e r o r d e n t l i c h e n Professor: „ e i n e streitbare P e r s ö n l i c h k e i t " (LK 5 7 / 1 9 2 0 : 7 0 0 ) ; „ e i n e A l b e r n h e i t u n d U n k u l t i v i e r t h e i t , die k a u m i h r e s g l e i c h e n f i n d e t " (LK 5 9 / 1 9 2 2 : 267). 22 N o r w e g i s c h : „ f r i s k f y r a k t i g " (LK 6 1 / 1 9 2 4 : 154).
2. Mowinckel
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Kirchenstreit
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Interesse waren. Im Sommer 1917 hat er die neuen Lehrpläne f ü r die G y m nasien als destruktiv f ü r den Religionsunterricht charakterisiert, weil sie eher auf Erbauung als auf historisches Wissen zielten. 23 Ende 1918 war der Religionsunterricht wieder sein T h e m a ; 2 4 der Anlass war diesmal die R e l i gionsfeindlichkeit der Arbeiterpartei, insbesondere ihr P r o g r a m m , den R e ligionsunterricht in den öffentlichen Schulen abschaffen zu wollen. Dies schien Mowinckel wenig durchdacht, da ein staaatlicher Religionsunterricht i m m e r h i n eine wissenschaftliche Qualität des Unterrichts gewährleiste, die von den verschiedenen Glaubensgemeinschaften nicht zu erwarten sei. U n gefähr gleichzeitig trat er f ü r eine obligatorische zivile Eheschließung ein, der eine kirchliche Trauung auf freiwilliger Basis nachfolgen könne. 2 5 Die staatliche Alkoholpolitik hat norwegische Gemüter von Zeit zu Zeit erregt. U m einen weit verbreiteten Missbrauch von Alkohol möglichst effektiv bekämpfen zu können, hat sich eine starke Abstinenzlerbewegung f ü r strenge Kontrollmaßnahmen eingesetzt, und es ist ihr gelungen, den Umsatz von alkoholischen Getränken nicht nur einzuschränken, sondern ihn in vielen Gemeinden sogar lange ganz zu verbieten. Dass der jugendliche M o winckel f ü r ein Verbot auf diesem Gebiet wenig Sinn hatte, haben wir schon gesehen; 2 6 als Dozent der Theologie hat er an dieser kritischen Einstellung festgehalten und sie 1918 in aller Öffentlichkeit begründet: Ein Totalverbot gegen Alkohol habe mit Religion nichts zu tun und verstoße noch gegen die Grundsätze der Moral; f ü r seinen U m g a n g mit Alkohol müsse jeder Mensch selbst verantwortlich sein. 27 Schließlich gibt es aber auch einige wenige Texte, in denen Mowinckel sich zu politischen Fragen geäußert hat, die in keinem direkten Z u s a m m e n hang zur Kirche oder zu religiösen Streitfragen standen. Ein kritischer Artikel über die Finanzierung neuer W o h n u n g e n f ü r Beamte und andere staatlich Angestellte hat sicherlich seinen H i n t e r g r u n d in Mowinckels eigenen Erfahrungen auf dem Immobilienmarkt in den ersten Jahren seiner Ehe. 2 8 Von besonderem Interesse ist sonst eine Stellungnahme zur R e f o r m der norwegischen Rechtschreibung i m j a h r e 1917.29 W i e die Alkoholpolitik ist auch die Sprachpolitik — einschließlich der Frage der Rechtschreibung — ein T h e ma, das bei vielen N o r w e g e r n im 20. Jahrhundert starke Gefühlsregungen hervorgerufen hat. Im 12. Kapitel, w o wir uns Mowinckel als Bibelübersetzer zuwenden, werden w i r einige zentrale Aspekte norwegischer Sprachge23 24 25 26 27 28 29
Mow. 1917c. Mow. 1918s. Mow. 1919g. Vgl. Kap. 3.2, Anm. 37. Mow. 1918q. Mow. 1919h. Mow. 1918p (vgl. dazu Kap. 12.1.b).
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Christentum
schichte b e l e u c h t e n (Kap. 12.1.a) u n d M o w i n c k e l s S t e l l u n g zu d e n s p r a c h p o l i t i s c h e n S t r e i t f r a g e n seiner Z e i t t h e m a t i s i e r e n (Kap. 12.1.b). b) A m n o r w e g i s c h e n K i r c h e n s t r e i t h a t sich M o w i n c k e l z w a r als T h e o l o g e , j e d o c h n i c h t i n erster L i n i e als A l t t e s t a m e n t l e r b e t e i l i g t . In d i e s e m Streit, w o es letzten E n d e s d a r u m g i n g , was d e n n C h r i s t e n t u m e i g e n t l i c h sei, w a r e n v o r n e h m l i c h neutestamentliche u n d systematisch-theologische Fragestell u n g e n u n d Interpretationsmuster gefragt. A u f d e m Arbeitsfeld der systemat i s c h e n T h e o l o g i e hat sich a b e r M o w i n c k e l o f f e n s i c h t l i c h n i c h t so r e c h t h e i m i s c h g e f ü h l t ; viel n ä h e r l a g e n i h m die h i s t o r i s c h e n N a c h b a r d i s z i p l i n e n - die n e u t e s t a m e n t l i c h e T h e o l o g i e u n d die K i r c h e n - b z w . D o g m e n g e s c h i c h t e —, m i t d e r e n M e t h o d e n u n d D e n k w e i s e er w o h l v e r t r a u t w a r . A u f d i e s e n b e i d e n G e b i e t e n h a t M o w i n c k e l d a r u m A n h a l t s p u n k t e f ü r seine R e l i g i o n s a u f f a s s u n g u n d seine I n t e r p r e t a t i o n des c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s g e s u c h t — u n d g e f u n d e n . S o e r ö r t e r t er a n h a n d d e r r h e t o r i s c h e n A l t e r n a t i v e : „ G e s e t z e s c h r i s t e n t u m o d e r evangelisches C h r i s t e n t u m ? " 1916 in e i n e m V o r t r a g d e n S i n n d e r „ G e b o t e " d e r B e r g p r e d i g t , 3 0 u n d stellt h i e r s c h o n e i n g a n g s fest: „ W e n n i r g e n d e t w a s in d e r W e l t k e i n e G e s e t z e s s a m m l u n g ist, d a n n J e s u W o r t e in d e r B e r g p r e d i g t . " H i e r g e h e es n ä m l i c h n i c h t i n erster L i n i e d a r u m , w a s e i n C h r i s t tun, s o n d e r n w a s er sein solle: e i n K i n d in G o t t e s V a t e r h a n d . D i e s e n e u e S i n n e s a r t sei das W e s e n des C h r i s t e n t u m s . 3 1 In e i n e m g r o ß a n g e l e g t e n Aufsatz aus d e m J a h r e 1919, der i m U n t e r t i t e l a u s d r ü c k l i c h als ein „ B e i t r a g z u m k i r c h l i c h e n Streit" b e z e i c h n e t w o r d e n ist, t h e m a t i s i e r t M o w i n c k e l die v e r s c h i e d e n e n E n t w i c k l u n g s s t u f e n der n e u t e s t a m e n t l i c h e n u n d a l t k i r c h l i c h e n C h r i s t o l o g i e . 3 2 D i e theologische B o t s c h a f t d r ü c k t aber der H a u p t t i t e l - „ E r l e b n i s u n d A u s f o r m u n g " - aus. H i e r g e h t es M o w i n c k e l auf der e i n e n Seite u m d e n i n n e r s t e n W e s e n s k e r n aller w a h r e n R e l i g i o n , die p e r s ö n l i c h e E r f a h r u n g der G o t t e s g e m e i n s c h a f t , auf der a n d e r e n u m die religiösen E r s c h e i n u n g e n , w i e w i r sie — in i h r e z e i t b e d i n g t e Gestalt gekleidet - in der G e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t k e n n e n l e r n e n . V o n d i e s e m S t a n d p u n k t aus b e t r a c h t e t M o w i n c k e l die altkirchliche D o g m e n e n t w i c k l u n g e h e r kritisch, da sie sich in i h r e m E n d e r g e b n i s — d e m T r i n i t ä t s d o g m a u n d der Z w e i n a t u r e n l e h r e - d u r c h allerlei Einflüsse hellenistischer P h i l o s o p h i e v o m n e u t e s t a m e n t l i c h e n G r u n d e r l e b n i s z i e m l i c h weit e n t f e r n t habe. I h r e n A u s g a n g s p u n k t h a b e - so M o w i n c k e l - die L e h r e v o n C h r i s t u s in d e n b e s o n d e r e n „ L e b e n s e r f a h r u n g e n " der J ü n g e r in i h r e m täglichen Z u s a m m e n s e i n m i t Jesus; d e m g e g e n ü b e r repräsentiere die altkirchliche A u s f o r m u n g der L e h r e e i n e t h e o l o g i s c h e F e h l e n t w i c k l u n g , die sich daraus erkläre, dass m a n die falschen
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Mow. 1916f. Ebd. 22f. Mow. 1919c.
2. Mowinckel im norwegischen
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Fragen gestellt habe. W o es sich in Wirklichkeit um Religion handle, habe man stattdessen nach Metaphysik gefragt. Darum könne die zeitgenössische Theologie nicht einfach bei dem altkirchlichen Christusdogma stehen bleiben; es müsse ihr darum gehen, zum Ausgangspunkt, zu den christlichen Grunderlebnissen des Heils in Christus zurückzufinden: „Ausgehend vom Erlebnis und in voller Unabhängigkeit von den alten Denkformen muss der christliche Gedankenbau aus modernem Denkmaterial errichtet werden." 33 In einer späteren Phase der Kirchengeschichte hat Mowinckel das evangelische „Grunderlebnis" in reinerer Ausformung wiedergefunden. Z u m R e formationsjubiläum im Jahre 1917 besorgte er für eine Prachtausgabe der Lutherschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" die Ubersetzung ins Norwegische, und dieser Kontakt mit dem jungen Luther motivierte ihn zu drei Aufsätzen, 34 in denen er begeistert dessen reformatorische Leistung preist. Gegen alle religiöse Autorität habe Luther — „jedenfalls damals, als er in seiner vollen Geisteskraft stand und ihm das Evangelium noch eine neue und schwindelerregende Entdeckung war" — die christliche Freiheit gestellt. So habe er denn auch verstanden, dass der Inhalt des Evangeliums keine anselmsche Versöhnungslehre sei, sondern die frohe Botschaft von der gnädigen Gesinnung Gottes. Dementsprechend bestehe der evangelische Glaube nicht in erster Linie in einem Glauben an den stellvertretenden Sühnetod Jesu, sondern in einem Leben und Wirken in demselben Glauben, in dem Christus gelebt und gewirkt habe: „Haben wir Jesu Gottvertrauen, brauchen wir also keinen anderen Glauben, und folglich auch nicht den .Glauben' an das Versöhnungsdogma. Jenes Vertrauen, das Jesus selig machte, macht auch uns selig." 35 Diese Lutherinterpretation Mowinckels blieb aber nicht ohne W i d e r spruch. Im gleichen Jahr hatte nämlich D.A. Frovig, damals noch G e m e i n depfarrer, seit 1918 Professor für das Neue Testament an der Gemeindefakultät, 3 6 dieselbe Lutherschrift übersetzt, allerdings für einen konservativchristlichen Verlag. 37 Schon an der Ubersetzung Mowinckels fand Fravig hier und dort einiges auszusetzen, in der Hauptsache ging es ihm j e d o c h um das Bild des Reformators, das Mowinckel in seinen Aufsätzen gezeichnet hatte. 3 8 Hier zeige er sich als ein schlechter Lutheraner, als einer, der Ebd. 520. M o w . 1917(1, 1917f, 1917v. 3 5 M o w . 1917f: 6 6 6 . 3 6 Seit 1917 war Fravig Mitherausgeber der „Luthersk kirketidende" und stand in dieser Position hinter einigen redaktionellen Angriffen auf M o w i n c k e l (vgl. A n m . 2 1 f oben). 3 7 Für Lutherstifteisens Boghandel, Kristiania, hatte F r e v i g 1917 sowohl „Von der Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n " als auch „ A n den christlichen Adel deutscher N a t i o n " übersetzt. 3 8 Vgl. Fravig 1918a und b. 33
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Luther u n d seine Schrift gründlich missdeutet habe. 3 9 W o sich M o w i n c k e l g e r ü h m t hatte, die Brille der altlutherischen D o g m a t i k abgelegt zu h a ben, 4 0 entgegnet i h m Frevig, dass er d a f ü r die Brille der m o d e r n e n D o g matik auf seine Nase gesetzt habe. 4 1 Frovig meint, Luther o h n e Schwierigkeiten mit Anselm vereinigen zu k ö n n e n , ja er sieht dessen Versöhnungslehre geradezu als Voraussetzung f ü r Luthers Verständnis des Evangeliums an. Gegen M o w i n c k e l muss er d a r u m festhalten, dass es sich bei d e m R e formator nicht in erster Linie d a r u m handle, wie Christus zu glauben, sondern an i h n zu glauben. 4 2 Auf dem Feld der Kirchengeschichte ist aber Mowinckel noch ein Stück weiter vorgerückt, bis in die neuere norwegische Geschichte hinein. Z u m 100. Todestag von Hans Nielsen Hauge, dem großen Erweckungsprediger, schrieb er 1924 einen Zeitungsartikel über dessen B e d e u t u n g f ü r Kirche und Christentum in Norwegen. 4 3 Zwar gibt er u n u m w u n d e n zu, dass Hauge in der Tat eine bleibende Bedeutung gehabt habe: Er habe — allerdings nur „in sehr unvollkommener Weise" — ein genuin protestantisches Ideal angekündigt: „die Erhebung des Einzelnen aus der Masse zur Befreiung der Einzelperson sowie z u m R e c h t und zur Pflicht der Selbstbestimmung". Sicher verkörperte Hauge in vieler Hinsicht eine Mentalität und Religiosität, der Mowinckel ziemlich fremd gegenüberstand, aber an „der Echtheit und U r sprünglichkeit seines religiösen Erlebnisses" oder an „seinem nie versagenden Bewusstsein von einer erhabenen göttlichen B e r u f u n g " zweifelt dieser dennoch nicht. Gerade jene Vorzüge, die Mowinckel Hauge zuerkennen kann, dienen i h m aber in der nächsten R u n d e als M u n i t i o n im Kampf gegen H a u ges Gefolgsleute in den damaligen Erweckungskreisen: Von wirklichem Haugeanismus sei jetzt „nicht mehr viel übrig" im Lande. Anders als die alte Erweckung, die — „trotz der Opposition gegen die Kirche" — doch „kirchenerneuernd" gewirkt habe, zeichne sich die neuere „Laien- und Inneremissionsbewegung" durch eine „kirchenspaltende und sektiererische" Tendenz aus und sei „in einem unheimlichen G r a d " auf die äußeren „Attitüden" statt auf „das Innere und die Bildung eines persönlichen Charakters" ausgerichtet. W ä h r e n d die Pfarrer zur Zeit Hauges wegen ihres „geistlichen D ä m merschlafs" seine Gegner geworden seien, so sei den zeitgenössischen „Kleinpäpsten" der Laie schon deswegen christlicher als der Pfarrer, weil er Laie ist und kein Wissen hat, durch das er sich aufblasen könnte. Für das „Ideal" einer „geistlichen Demokratie, in der niemand anders sein darf als
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Frevig 1918a: 23. Mow. 1917f: 646. Frevig 1918a: 26. Ebd. 26. Mow. 1924i.
2. Mowinckel
im norwegischen
Kirchenstreit
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die Umgebung", hat Mowinckel — als Christ wie als Professor — keinen Sinn gehabt. Ein letztes Beispiel von Mowinckels theologischer Argumentation im Kirchenstreit nehmen wir aus dem Bereich der Ethik. Als Reaktion auf ein „Diktamen" von drei konservativen Herren — darunter Hallesby — erörtert Mowinckel in einem viergliedrigen Zeitungsartikel die Frage der Scheidung und der Wiederheirat. 44 Gegen Hallesby und seine Leute, die im Anschluss an „Gottes Wort" in der Heiligen Schrift das Recht einer neuen Ehe Geschiedener auf die „unschuldige" Partei beschränken wollten, bestreitet M o winckel prinzipiell jede Möglichkeit, ethische Gebote auf bestimmte Bibeltexte zu gründen. Stattdessen müsse man einen „höheren" Gesichtspunkt suchen, von dem aus man „die einzelnen mehr oder minder zufälligen und zeitgebundenen Worte der Schrift" beurteilen könne. Dieser höhere Gesichtspunkt könne aber nur der „christliche Grundgedanke" sein, namentlich die Nächstenliebe, die unter Rücksichtnahme auf die Eigenart der jeweiligen Fragen, die Forderungen der Wirklichkeit und die derzeitigen Verhältnisse das Wohl des Nächsten im Blick habe. Auf dieser Grundlage und nach einem kritischen Durchgang der einschlägigen neutestamentlichen Schriftstellen kommt Mowinckel schließlich zu dem Ergebnis, dass der konservative Standpunkt unhaltbar sei, und dass man eine Wiederheirat Geschiedener keinesfalls grundsätzlich verbieten dürfe. c) Mowinckels theologische Position in den Jahren des Kirchenstreits zu bestimmen, fällt uns nicht schwer: Wir lernen ihn hier als einen typischen Vertreter liberaler protestantischer Theologie kennen. Sowohl in seiner Grundauffassung vom Wesen der Religion und des Christentums als auch in seiner Antwort auf die einzelnen Glaubens- und Lebensfragen tritt er konsequent als Fürsprecher einer modernen, einer „fortschrittlichen" Linie hervor. So radikale Standpunkte wie der etwas jüngere Kristian Schjelderup vertrat er freilich nicht, aber im konservativen Lager galt er dennoch als einer der Hauptgegner, dessen Standpunkte nicht selten „mit erschreckender Klarheit" zeigten, wie „tiefgreifend" die liberale Umformung des christlichen Erfahrungs- und Lebensinhalts werden würde. 45 Und — in der Tat: an der Notwendigkeit eines derartigen Austausches alter christlicher Ausdrucks- und Lebensformen mit neuen, die der modernen Welt besser entsprechen würden, hat Mowinckel nicht gezweifelt. Was er damit erreichen wollte, war aber gerade die Bewahrung und die Weiterent44
Mow. 1921g. LK 57/1920: 34f: „Fremskridt eller tilbakegang" (Red.art.). - Ähnlich in zwei Kommentaren zur Ernennung Mowinckels zum außerordentlichen Professor: „auf dem linken Flügel der Liberalen" (LK 57/1920: 700); „einer der erklärtesten Liberalen u n serer Kirche" (LK 59/1922: 266). 45
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über Kirche und
Christentum
wicklung dessen, was i h m in der christlichen Tradition wirklich von bleibendem Wert schien: die höchste Verwirklichung der Religion in der persönlichen E r f a h r u n g der Gemeinschaft mit Gott, die von dem Menschen als vollkommene Freiheit erlebt werde. In dieser hohen W ü r d i g u n g der christlichen Gotteskindschaft treffen sich bei Mowinckel die beiden Fragen, was denn Religion und was Christentum eigentlich sei. W i e die liberale Theologie überhaupt hat Mowinckel die Religion als ein Grundelement aller Kultur verstanden, das in der menschlichen Psyche b e gründet sei, und zwar in einem eigenen religiösen Bedürfnis, das ebenso ursprünglich sei wie das intellektuelle, und dem deswegen dasselbe u n a b weisbare R e c h t z u k o m m e wie jenem. 4 6 Aus der Spannung zwischen diesen beiden Geisteskräften hat sich f ü r ihn die Notwendigkeit der ständigen A n passung religiöser Formen an das D e n k e n der jeweiligen Zeit „psychologisch" erklärt, und als Ziel schwebte i h m offensichtlich das höchstmögliche Gleichgewicht beider Geisteskräfte vor: „Das Ideal ist nicht der einseitig intellektuelle Mensch, auch nicht der einseitig religiöse Mensch; das Ideal ist der harmonische Mensch, bei dem Religion, Moral und intellektuelle Kultur vereinigt sind." 47 N e b e n dieser religionspsychologischen Betrachtung steht bei Mowinckel die religionshistorische, die in seiner theologischen Argumentation zweifellos die Hauptrolle spielt: Als menschliches Kulturgut nehme die Religion notwendigerweise an der gesamten Kulturentwicklung teil, und d a r u m müssten sich ihre äußeren Erscheinungsformen immer wieder ändern, sich ständig weiterentwickeln. Auch in dieser Perspektive denkt und spricht M o winckel als ein gut geschulter Liberaler, der die analytischen Begriffe und Interpretationsmuster der f r ü h e n Religionswissenschaft einstudiert hat. So sieht er in der Menschheitsgeschichte insgesamt eine hinaufsteigende Linie von „primitiven" zu „höheren" bzw. von „ N a t u r - " zu „ethischen" Religionen und unterscheidet auf dieser höheren Stufe w i e d e r u m zwischen „Gesetzesreligionen" auf der einen und der „Religion der Freiheit" oder „ R e l i gion der Persönlichkeit" auf der anderen Seite; in jener Kategorie findet das nachexilische J u d e n t u m seinen Platz, in dieser bleibt schließlich nur das Christentum zurück. Das heißt nun allerdings nicht, dass auf dieser „höchs46
Mow. 1920a. - Wie es der Untertitel ankündigt, ist dieser Aufsatz zugleich eine Auseinandersetzung mit Eivind Berggrav, dem Herausgeber der Zeitschrift, der ein neulich erschienenes Buch des liberalen schwedischen Theologen Emanuel Linderholm (norw. Ubersetzung: „Fra dogme til evangelium", 1919) recht kritisch besprochen hatte (KoK 26/1919: 432-438). Mowinckel meint, dass Berggrav das religiöse Bedürfnis so einseitig betont habe, dass er das berechtigte Anliegen Linderholms, die Sorge um das intellektuelle Bedürfnis, nicht gesehen habe. Ein Brief Berggravs an Mowinckel (Hurdalen 9.1.1920) hinterlässt den Eindruck, dass ihn dessen Bemerkungen tief getroffen hätten. 47 Ebd. 114.
3. Mowinckel und die
Oxford-Bewegung
125
ten" Stufe die „niederen" Elemente gänzlich fehlten: wie Mowinckel keineswegs eine geradlinige, ununterbrochene Entwicklungslinie voraussetzt, sondern mit immer wiederkehrenden „Rückfällen" auf grundsätzlich verlassene Stufen rechnet, fällt es ihm nicht schwer, in der Kirchengeschichte zahlreiche Beispiele von Gesetzesreligion wiederzufinden — in der römischkatholischen und der reformierten Tradition ebenso wie in der norwegischen Christenheit seiner eigenen Zeit. In gewisser Hinsicht scheint damit die „höchste" Religion — das wahre Christentum, das Mowinckel und andere liberale Theologen anstrebten — wirklich eine ideale Größe zu bleiben, die nur selten in geschichtlicher Gestalt erschien — allenfalls bei Jesus, bei Paulus, bei dem jungen Luther. Zumindest sind das die drei Namen, die bei M o winckel immer wieder dort auftauchen, wo es darum geht, den richtigen Weg anzuweisen.
3. Mowinckel und die
Oxford-Bewegung
a) Durch Norweger, die Frank Buchman und seiner „Oxford Group Movement" im Ausland begegnet waren, wurden die ersten Informationen über diese Bewegung und ihre Arbeit in den frühen 1930er Jahren nach Norwegen gebracht. Bald entstanden hier und dort kleinere Kreise, in denen die Ideen der Gruppenbewegung studiert und und ihre Methoden praktiziert wurden. Einer dieser Kreise ging auf die Initiative der Chma-Missionarin Kathrine Bugge zurück, die 1932 in die Heimat zurückgekehrt war. Sie und ihr Mann, Mowinckels Studienfreund Sten Bugge, hatten Buchman schon 1917 in China getroffen 48 und setzten sich nach ihrer Rückkehr beide für sein Programm aktiv ein. Durch ihre Freundschaft mit dem Ehepaar Bugge kamen Mowinckel und seine Frau Caro in Berührung mit der Oxford-Bewegung und gehörten ebenfalls schon früh zu deren führenden Anhängern in Norwegen. Im Herbst 1934 kamen Buchman selbst und sein internationales Team nach Norwegen; sie waren vom Reichstagspräsidenten Carl Johan Hambro förmlich eingeladen worden, der die Gruppenbewegung im Jahr zuvor im Ausland kennengelernt hatte und sich von ihrer Arbeit einen friedens- und gesellschaftsfördernden Impuls erhoffte. Der Anfang war eine „house party" (27.10—6.11) in Hosbjor, einem schön gelegenen Hotel am ostnorwegischen Mjosa-See; hier kamen 300 bis 400 Besucher zusammen, teils — wie M o winckel — aus persönlichem Interesse für die Sache, teils aus Neugier. Unter den Neugierigen, die mit einer skeptischen Einstellung in Hosbjor ankamen, waren bekannte Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Ronald Fan-
48
JARLERT 1 9 9 5 : 1 5 8 .
126
Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und
Christentum
gen 49 und der Journalist Fredrik Ramm, der Herausgeber der bedeutenden Tageszeitung „Tidens Tegn"; diese beiden gehören auch zu den Bekanntesten, die in H0sbj0r „verwandelt" wurden. Durch das, was sie in diesen wenigen Tagen sahen und hörten — vielleicht insbesondere durch die vielen persönlichen Zeugnisse schon „verwandelter" Teilnehmer - erlebten beide einen plötzlichen Durchbruch zum persönlichen Glauben, zu einer neuen christlichen Identität, die ihren weiteren Lebensweg entscheidend bestimmt hat. Sowohl Fangen als auch R a m m zählen auch zu jenen Freunden, mit denen Mowinckel durch „Oxford" eng verbunden wurde. 50 Nach der einleitenden houseparty in Hosbjor folgten in den nächsten W o chen und Monaten ähnliche Veranstaltungen in verschiedenen Teilen des Landes, aber auch größere Kundgebungen in Oslo und anderen Städten. Die Einzelheiten dieser Geschichte sind hier nicht von Interesse; wichtig in unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass sich Mowinckel als eine der Führungskräfte der norwegischen Gruppenbewegung an diesem Feldzug aktiv beteiligte und so die ganze Entwicklung miterlebt und mitgeprägt hat. Durch schriftliche Beiträge in der Form von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln trat er während dieser Zeit ebenfalls als ein führender Sprecher der Bewegung auf; teils hat er hier versucht, ihre Ideen, ihr Programm und ihre Ziele zu erläutern, teils aber auch — mehr im Stil des persönlichen Zeugnisses — über seine eigene Begegnung mit der „Oxford Group" und die daraus entsprungene Lebensveränderung berichtet. Wie hat denn Mowinckel selbst die Oxford-Erweckung erlebt, und welche nachhaltigen Wirkungen hat sie auf ihn gehabt — aufsein Selbstverständnis, sein Verhältnis zu Kirche und Christentum, seine Lebensführung insgesamt? Um diese Fragen möglichst treffend zu beantworten, möchte ich ihn zunächst selbst in noch höherem Grade zu Wort kommen lassen, als wir dies bisher getan haben. Dazu bieten sich insbesondere einige Texte aus dem Jahr 1935 an, die uns in Stand setzen, ein Bild von dem „erweckten" Mowinckel zu zeichnen. 51
Ü b e r Fangen, vgl. OFTESTAD 1981. ' I m Z u s a m m e n h a n g mit dem Ausnahmezustand im September 1941 (vgl. dazu auch Kap. 8.1.c) geriet Fredrik R a m m in deutsche Gefangenschaft. E i n e Petition u m seine Freilassung wird M o w i n c k e l mit unterzeichnet haben. D i e Aufforderung dazu (im B r i e f v o m 25.1.1943 von den Anwälten G u n n a r Mellbye und J . G . Mellbye) sowie eine Abschrift von dem Bittgesuch Frau Eva R a m m s finden sich i m Nachlass Mowinckels. I m Spätherbst 1943, als R a m m endlich freigelassen wurde, hatte der Aufenthalt im G e fängnis seine Gesundheit zerrüttet, und er starb a u f dem H e i m w e g im dänischen O d e n se. Kurz nach dem Kriegsende hat M o w i n c k e l in einem großen Zeitungsartikel R a m m als einen „christlichen M ä r t y r e r unserer Z e i t " dargestellt ( M o w . 1945d). 49
: (l
M
Zusätzlich zu den unten (vgl. A n m . 6 0 - 6 3 ) angeführten T e x t e n
3. Mowinckel und die Oxford-Bewegung
127
b) Unter der Überschrift „Meine Begegnung mit ,Oxford'" (Januar 1935) möchte Mowinckel einleitend das Missverständnis abwehren, als ob es sich unter dieser Gruppenbezeichnung um neue Einsichten oder eine neue Lehre handle: 52 D i e O x f o r d b e w e g u n g will nichts anderes sein als eine W i e d e r h e r s t e l l u n g des alten C h r i s t e n t u m s . In einer Weise freilich k a n n m a n sagen, dass sie sich von vielen f r ü h e r e n E r w e c k u n g e n unterscheidet: v o n i h r e r V e r a n t w o r t u n g f ü r j e n e K i r c h e , auf d e r e n E r d e sie an j e d e m O r t a u f g e w a c h s e n ist, will sie nicht d a v o n l a u f e n ; sie w i l l nicht h i n a u s g e h e n u n d n e u e G e m e i n s c h a f t e n bilden, will k e i n e n e u e n O r g a n i sationen schaffen ..., k e i n e n Staat i m Staat bilden n o c h K i r c h e in der K i r c h e ; sie sendet j e d e n M a n n in seine eigene K i r c h e n g e m e i n d e z u r ü c k u n d sagt i h m : G e h u n d tu das, zu d e m dich G o t t b e a u f t r a g t , d o r t w o du bist! B e g i n n d o r t , w o du stehst! T u d e i n e Pflicht d o r t , w o du h i n g e h ö r s t ! W i e w e n i g e a n d e r e E r w e c k u n g e n hat es d a r u m diese n e u e E r w e c k u n g v e r m o c h t , Leute aus v e r s c h i e d e n e n K i r c h e n g e m e i n d e n u n d aus v e r s c h i e d e n e n K o n fessionen s o w o h l in christlichen Gesprächskreisen als auch in a k t i v e n A r b e i t s g r u p p e n zu v e r e i n e n . U n d eines j e n e r D i n g e , die sie m i r auch gegeben hat, sind F r e u n d e aus d e n verschiedensten Lagern u n d K i r c h e n . Sie f r a g t n ä m l i c h nicht, genau so w e n i g w i e C h r i s t u s selbst, nach j e n e n D i n g e n , die u n w e s e n t l i c h sind in G o t t e s A u g e n . Sie f r a g t n u r j e d e n E i n z e l n e n : Was fehlt d e n n dir? O d e r richtiger: sie hält das E v a n g e l i u m selbst vor m i r h o c h , u n d z w a r s o w o h l G o t t e s F o r d e r u n g als auch G o t t e s A n g e b o t in einer solchen Weise, dass ich selbst m e r k e , dass m i r e t w a s fehlt, u n d w e n n ich d a n n ehrlich sein will, w e r d e ich auch verstehen, was das ist. — U n d als „ B o t s c h a f t e r i n an C h r i s t i Statt" sagt sie d a n n : Lass dich v e r s ö h n e n m i t G o t t !
Nachdem Mowinckel im Anschluss an die drei Glaubensartikel das wunderbare, tatkräftige Wirken Gottes beschrieben hat, kommt er zum eigentlichen Thema des Zeugnisses: die Erneuerung seines christlichen Glaubens und Lebens durch die Begegnung mit der Gruppenbewegung: F ü r m i c h selbst hat die B e g e g n u n g m i t der O x f o r d - G r u p p e ganz e i n f a c h b e d e u t e t , dass n a c h J a h r e n v o n s t u m p f e m u n d h a l b t o t e m C h r i s t e n t u m , das eigentlich wusste, dass es kein C h r i s t e n t u m war, u n d das b e i n a h e die H o f f n u n g a u f g e g e b e n hatte, es zu w e r d e n , ist m i r G o t t w i e d e r w i r k l i c h g e w o r d e n . Es ist G o t t , d e r m i r d u r c h das E v a n g e l i u m u n d d u r c h C h r i s t u s w i e d e r b e g e g n e t ist u n d m i c h e r g r i f f e n hat, so dass ich es bis ins G e w i s s e n h i n e i n v e r n a h m u n d m i r d a r ü b e r klar w u r d e , dass es in der alten Weise nicht weiter g e h e n k o n n t e . U n d d a n n b e k a m ich d e n W e g zu sehen u n d die G n a d e , i h n zu g e h e n .
52
M o w . 1935f.
128
Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und
Christentum
Die kritische Auseinandersetzung mit seiner eigenen religiösen Vergangenheit hat Mowinckel in einem anderen Artikel (März 1935) weitergeführt, in dem er seine „geistliche und christliche E r n e u e r u n g " als „die heilbringende Krise nach 20—30 Jahren Krankheit" diagnostiziert: 5 3 F ü r m i c h w a r es i m m e r so, dass ich g e r n e ein C h r i s t sein w o l l t e . Es w a r m e i n W u n s c h , G o t t als e i n e W i r k l i c h k e i t zu e r l e b e n u n d i h n als eine l e b e n s b e s t i m m e n d e M a c h t in m e i n L e b e n h e r e i n z u k r i e g e n . U n d ich h a b e e i n m a l a u c h g e m e i n t , dass es m i r g e l u n g e n sei; es hielt n u r nicht, w e i l ich selber n i c h t voll u n d g a n z bei der Sache w a r u n d d e n Schritt n i c h t g a n z g e t a n h a t t e . D a r u m ist das L e b e n w i e d e r v e r w e l k t , weil es n i c h t a u f volle S e l b s t e r k e n n t n i s u n d E n t s c h i e d e n h e i t g e b a u t w a r , u n d weil es n i c h t g e b r a u c h t w u r d e , k e i n e A u f g a b e n b e k a m , aus d e n e n es h ä t t e l e b e n k ö n n e n .
U n d die autobiographische Analyse hält an: W e n n i c h z u k e i n e r voll e r f a h r e n e n G e w i s s h e i t v o n G o t t e s W i r k l i c h k e i t g e l a n g e n k o n n t e , g l a u b t e i c h , w i e so v i e l e a n d e r e , dass es j e d e n f a l l s z u e i n e m g r o ß e n T e i l auf den denkerischen, intellektuellen wissenschaftlichen Schwierigkeiten a m G o t tesglauben b e r u h t e . Das h i n g teilweise mit der wissenschaftlichen u n d geistigen Lage in m e i n e r J u g e n d z u s a m m e n . D a schienen die materialistisch-mechanische W e l t e r k l ä r u n g u n d das k o n s e q u e n t d u r c h g e f ü h r t e m e c h a n i s c h e K a u s a l i t ä t s p r i n zip d i e n ä c h s t l i e g e n d e „ E r k l ä r u n g " d e r W e l t u n d des D a s e i n s z u s e i n .
Von der Beobachtung ausgehend, dass die Wissenschaft inzwischen ihre Grenzen eingesehen habe u n d die wissenschaftliche Lage d a r u m eine ganz andere geworden sei, erörtert Mowinckel die Haltbarkeit jener denkerischen Problematisierung des Gottesglaubens und bekennt auf dieser Grundlage: W a s ich e n t d e c k t h a b e , ist k u r z u n d g u t , dass all diese P r o b l e m e u n d S c h w i e r i g k e i t e n , w e n n sie als S c h w i e r i g k e i t e n des G o t t e s g l a u b e n s a n g e f ü h r t w e r d e n , d i e e i n e w i r k l i c h e B e z i e h u n g zu G o t t e r s c h w e r t e n , s e k u n d ä r s i n d ; sie sind T a r n u n g e n des e i g e n t l i c h e n H i n d e r n i s s e s , das viel t i e f e r l i e g t . D a s liegt n i c h t i m K o p f , s o n d e r n , bildlich gesprochen, im H e r z e n . D a s e i g e n t l i c h e H i n d e r n i s ist d i e T a t s a c h e , dass ich m i c h n i c h t sehe, so w i e ich b i n . M i t a n d e r e n W o r t e n , dass ich m e i n e S ü n d e n i c h t sehe u n d sie n i c h t a u f g e b e n w i l l . D i e ist es, d i e W i d e r s t a n d leistet. D e r W i l l e ist es, n i c h t das D e n k e n , d e r e i n e n d a r a n h i n d e r t , G o t t als e i n e W i r k l i c h k e i t ins L e b e n h e r e i n z u l a s s e n .
Mowinckel gesteht, dass er sich eine „ganz fehlerhafte Vorstellung" von dem gemacht hatte, was das religiöse Erlebnis eigentlich sei. Er hatte „ein Erlebnis gefühlsmäßiger Art" erwartet, das ihn durch seinen „sozusagen ekstatischen Charakter" von Gottes Wirklichkeit überzeugen sollte. Jetzt aber weiß er, dass dies „eine falsche E r w a r t u n g " war. An dem, was er selbst tun kann, ja tun muss, k o m m t er nicht vorbei:
53
M o w . 1935h.
3. Mowinckel
und die
Oxford-Bewegung
129
Der erste Schritt auf dem Wege ist ... die Sündenerkenntnis. Dass die Sünde wirklich wird. Der nächste ist, dass ich in meiner Seelennot die Chance ergreifen und meinen ganzen Willen an Gott übergeben muss. Den Willen und alles, mit allen Konsequenzen, Vergangenheit und Z u k u n f t , Sünden und Pläne, alles. In dem Augenblick, in dem ich das tun kann - oder richtiger, wie ich später entdecke: die Gnade dazu b e k o m m e — wird auch Gott wirklich.
Damit, kann Mowinckel jetzt schließen, sei „das eigentliche Problem des Daseins, dessen einziges wirkliches Problem" gelöst, wie denn i m Lichte dieser Gewissheit alle anderen der R e i h e nach gelöst werden könnten. U n d abschließend wiederholt er sein Bekenntnis: dass seine „sogenannten intellektuellen Schwierigkeiten am Gottesglauben ganz einfach eine Tarnung f ü r etwas anderes" waren — und zwar f ü r seine Abneigung, seine Sünde zu sehen und sowohl sie als auch sich selbst an Gott zu übergeben. Eine Art Bilanz über das Wirken und die Resultate der O x f o r d - B e w e gung in ihrem ersten Jahr in N o r w e g e n hat Mowinckel in einem Zeitungsartikel am Silvesterabend 1935 gezogen. Den Ausgangspunkt bildet hier der Versuch einer Gegenwartsdiagnose, 5 4 in der Mowinckel ernsthafte Krankheitssymptome feststellt. Einer Welt, die selber meint, Gott u n d die Sünde als „unrealistische handlungs- und lebenshemmende, abergläubige Begriffe" entlarvt und so „ihre Freiheit und ihre Möglichkeiten entdeckt" zu haben, hält Mowinckel ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit entgegen. Wissenschaftlicher Relativismus und Psychologismus, rücksichtsloser Egoismus, krasser Materialismus sowie eine hasserfüllte Einstellung gegen Fremde und Andersdenkende — das seien nur einige jener Erkrankungen, die in der Innen- wie Außenpolitik, i m Bereich der Gemeinschaft wie des Einzelnen ihre sichtbaren Folgen gezeitigt hätten: 5 5 „Leben" und „Lebensfülle" in ungehemmter und „komplexfreier" Entfaltung, zu Gunsten des Einzelnen wie der Gesamtheit, hat man versprochen. Das Ergebnis ist Hoffnungslosigkeit, verborgen, teilweise nicht bewusst, aber dennoch wirklich.
54 Mit Mowinckels Auffassung von der kulturellen Lage in Norwegen um 1930 trifft sich in vieler Hinsicht der folgende Rückblick von Ove Hestvold ( H E S T V O L D 1987: 73): „In dem Maße hatten jene, die Marx, Darwin und Freud in Norwegen verfochten, freies Spiel und einen derartigen Durchschlag für ihre Missionierung, dass sie um 1930 herum sowohl das akademische Leben als auch die Geisteselite dominierten. Die Auffassung, dass es Philosophie, Naturwissenschaft, Geschichtsforschung und Psychologie unmöglich machten, ein Christ zu sein, dominierte in einem Grad, der heute schwer zu verstehen ist. Mit Christentum konnte man sich zur Not als einem religionshistorischen, soziologischen oder psychologischen Phänomen befassen, nicht aber als etwas, das den Anspruch erhob, eine geoffenbarte Wahrheit zu sein." 55 Mow. 1935r.
130
Kapitel
1: Mowinckel
über Kirche und
Christentum
Auf die Frage, was denn „in diesem einen Jahr" geschehen sei, kann M o winckel zunächst notieren, dass jene destruktiven Mächte im Leben des m o dernen Menschen — von der Angst bis hin zur Hoffnungslosigkeit, von der Orientierungslosigkeit bis hin zur Genusssucht — „sozusagen mit einem Schlag enthüllt" worden seien. Z u dieser Einsicht seien „Tausende von M e n schen" dadurch gekommen, dass sie die Botschaft des Christentums als eine Realität erfahren hätten, die heute ebenso mächtig sei wie vor 1900 Jahren. Auf einmal sei klar geworden, dass „der vom Aberglauben der Religion freigemachte wissenschaftliche Mensch" doch Religion nötig habe, und zwar „keine selbstgemachte Religion" wie etwa die Vergöttlichung des Besten, des Mystischen, des Fortschrittlichen oder des inneren Menschen, sondern „eine geoffenbarte Religion, eine absolute u n d Autorität beanspruchende Botschaft von einer Wirklichkeit einer ganz anderen Art, einer Wirklichkeit, die in diese Welt hereinbricht und derselben eine andere R i c h tung gibt", und die „dennoch so handgreiflich wirklich" sei, dass der einzelne Mensch so mit ihr in Verbindung treten könne, dass auch sein eigenes Leben eine neue R i c h t u n g bekomme. So, wie Mowinckel hier von Religion und Offenbarung spricht, hat er vor der Begegnung mit der Gruppenbewegung nicht gesprochen. In seiner entschiedenen Distanzierung von gewissen Lieblingsideen liberaler protestantischer Theologie sind hier deutliche Akzente jener theologischen Neuorientierung zu erkennen, die sich in der norwegischen Universitätstheologie der frühen 1930er Jahre bemerkbar machte. U n d wo er das Verhältnis von Gott und Mensch thematisiert, betont Mowinckel mit einem Nachdruck, der f r ü her bei i h m undenkbar gewesen wäre, die Kehrseite dieser Beziehung: die Sünde, die den Menschen von Gott und Mitmensch trennt. Dadurch aber, dass die Oxford-Bewegung einen praktischen und konkreten Weg zu Sündenerkenntnis und Sündenbekenntnis anweise, habe sie zugleich den Grund zu einer ethischen Erneuerung gelegt, zu neuen zwischenmenschlichen Beziehungen — zwischen M a n n und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen verfeindeten Gegnern — und zu neuen Lebensmöglichkeiten für Leute, die im Kampf gegen allerlei Leiden oder Laster der Hoffnungslosigkeit ausgeliefert gewesen seien. Ja, so viel sieht Mowinckel schon nach diesem ersten Jahr erreicht, dass er auch mit Blick auf solche „gemeinsamen" Schwierigkeiten, wie sie „der Nationalismus, der Klassenhass, die wirtschaftlichen Krisen" geschaffen hätten, ganz neue Möglichkeiten einer Lösung sieht. Wie andere „gewöhnliche vernünftige Menschen" auch sei er davon überzeugt worden, dass „die sozialen Fragen sowie die nach dem Verhältnis von Klassen, Ländern und Völkern" gelöst werden könnten, wenn man sie „im Geist Christi und unter der F ü h r u n g Gottes" anpacken würde. N u r müsse man eben mit sich selbst anfangen und durch sein Zeugnis und sein Beispiel bereit sein, andere dazu zu bringen, dass auch sie mit sich selbst beginnen.
3. Mowinckel und die
Oxford-Bewegung
131
c) Nach dem intensiven Durchbruch der O x f o r d - B e w e g u n g 1 9 3 4 - 3 5 hielten ihre Aktivitäten die nächsten Jahre noch regelmäßig an, obwohl die g r o ßen Schlagzeilen nun seltener wurden. 5 6 Mowinckel leitete im August 1936 eine größere Veranstaltung in Farris Bad in der Nähe der Stadt Larvik, scheint aber sonst in dieser Periode eine eher zurückgezogene R o l l e gespielt zu haben; seine Frau Caro aber gehörte weiterhin zur Führungsgruppe, 5 7 und Mowinckel hat sie darin bestimmt unterstützt. Gelegentlich trat er auch selbst wieder in der Öffentlichkeit als O x f o r d - A n h ä n g e r hervor. E i n Beispiel dafür ist jenes Büchlein, das er 1937 zusammen mit einem Kollegen, dem Historiker Eiliv Skard, als einen friedensfördernden Beitrag i m norwegischen Sprachstreit herausgab. D a r a u f werden wir später (Kap. 12.1.b) noch zurückkommen; in diesem Zusammenhang genügt ein Hinweis auf das Hauptanliegen der Autoren. Anders als üblich, w o sich die Vertreter der beiden schriftsprachlichen Traditionen — bokmäl und nynorsk — unversöhnlich gegenüberstanden, wollten Mowinckel und Skard durch ihren A u f r u f zu Versöhnung und Vereinigung ein gemeinsames O x f o r d - Z e u g n i s ablegen. 5 8 Als die Gruppenbewegung 1938 den N a m e n „Moral R e a r m a m e n t " ( M R A ) annahm und B u c h m a n seine Aufmerksamkeit zunehmend den f ü h renden politischen Eliten zuwandte, entfernte sich Mowinckel - wie viele andere norwegische Sympathisanten — allmählich von der Bewegung. 5 9 Das heißt aber nicht, dass ihr Einfluss aufsein D e n k e n oder Handeln nachgelassen hätte — im Gegenteil: in mehreren Zeitungsartikeln aus den folgenden Jahren ist seine neue religiöse Grundeinstellung deutlich zu erkennen. In R e d e n und Aufsätzen 6 0 k o m m t er i m m e r wieder auf das „ E l e n d " der G e genwart, auf die „Krise" der zeitgenössischen Kultur zu sprechen, und die Erklärung der Ursachen wie die Vision eines Auswegs sind i m m e r dieselben: W o der einzelne Mensch, j a die ganze Gesellschaft das Bewusstsein von einer absolut verpflichtenden moralischen Autorität verliere, könne letzten Endes nichts die egoistischen Triebe zurückhalten, die in der menschlichen Natur, in j e d e m Einzelnen von uns tief verwurzelt seien und darum die Bedürfnisse und Interessen der einzelnen Individuen oder Gruppen auf 56
J . JOHNSON 1 9 7 1 : 7 7 .
Ebd. 82. Mow. 1937g; dazu das Interview „To Oxford-vidnesbyrd i sprogkampen", in: T T , 16.6.1937. - Ein anderes Beispiel ist der Artikel „Syndsbekjennelse og brodersamfund" (Mow. 1936i), in dem Mowinckel die Oxford-Praxis „sharing" erläutert und verteidigt. 1962 - nach dem Tod Buchmans - hat sich Mowinckel geweigert, ein Buch über den Verstorbenen zu rezensieren, da er es nicht würde tun können, ohne „diverse Seiten an der späteren Entwicklung der M R A " zu berühren (Brief an Eiliv Skard vom 23.1.1962). 6Ü Einige Beispiele: Mow. 1936f (über den Äthiopien-Konflikt); Mow. 1936h (Rede zur Immatrikulationsfeier); Mow. 1937n. - Ein Beispiel aus der Nachkriegszeit: Mow. 1947e. 57
58
132
Kapitel 7: Mowinckel über Kirche und
Christentum
Kosten des Wohls der Gemeinschaft favorisierten. U m aus dieser aussichtslosen Welt- und Gesellschaftssituation herauszukommen, müsse d a r u m ein jeder mit sich selbst beginnen: 6 1 W a s w i r b r a u c h e n , ist n i c h t m e h r u n d n i c h t w e n i g e r als e i n e n e u e G e s i n n u n g . U n d d i e n e u e G e s i n n u n g m u s s b e i m i r , b e i d i r , in d e m E i n z e l n e n a n f a n g e n , d e n n es s i n d j a d i e b ö s e n T r i e b e des E i n z e l n e n , d i e v e r v i e l f a c h t a m U n g l ü c k s c h u l d sind.
Auf dieser prinzipiellen Grundlage hat sich Mowinckel mehrmals mit dem ideologischen Humanismus, insbesondere mit dem Glauben an die M ö g lichkeit einer humanistisch begründeten Ethik auseinandergesetzt. 62 Indem er die grundlegenden Ideale dieser Ethik als christliches Erbe meint identifizieren zu können, muss er i m m e r wieder fragen, wie lange sie noch — von ihrem N ä h r b o d e n abgeschnitten — lebendig und wirksam bleiben könnten? Seine gründlichste Ausarbeitung dieser Thematik hat er im ersten Kriegsjahr, kurz vor dem deutschen Uberfall auf N o r w e g e n , in einem dreiteiligen Zeitungsaufsatz veröffentlicht. 6 3 Hier greift er — offenbar im Anschluss an das überaus einflussreiche Buch von R u d o l f O t t o aus dem Jahre 1917 — den Begriff des „Heiligen" als die „Grundkategorie aller Religion" auf, u m den verpflichtenden „Lebenszusammenhang" zu bestimmen, ohne den die abendländische Kultur nicht w ü r d e bestehen können. d) Sicher durchlief M o w i n c k e l durch seine B e g e g n u n g mit der O x f o r d B e w e g u n g eine W a n d l u n g — als Christ u n d als Theologe, aber auch auf rein menschlicher Ebene. Viele Leute, die ihn kannten, hatten den Eindruck, dass er ein milderer u n d versöhnlicherer Mensch w u r d e , dass Polemik u n d Ironie nicht länger so stark hervortraten. Dass zentrale Elemente der O x ford-Frömmigkeit in einer regelmäßigeren, lebendigeren Andachtspraxis i m R a h m e n seiner eigenen Familie weitergeführt w u r d e n , haben w i r schon bemerkt. 6 4 Welchen Niederschlag sie in seiner V e r k ü n d i g u n g wie in seinem späteren theologischen S c h r i f t t u m gehabt haben mögen, werden
61
M o w . 1936e. — D i e s e l b e G r u n d h a l t u n g k o m m t in e i n e m A r t i k e l (= M o w . 1938n) z u m A u s d r u c k , in d e m M o w i n c k e l m e i n t , e i n e n B e r i c h t der b e t r e f f e n d e n Z e i t u n g v o n e i n e r D i s k u s s i o n i m N o r w e g i s c h e n S t u d e n t e n v e r e i n k o r r i g i e r e n zu m ü s s e n . Z u e i n e m P r o t e s t g e g e n die V e r f o l g u n g d e r J u d e n in D e u t s c h l a n d h a t t e M o w i n c k e l e i n e n a l t e r n a tiven T e x t v o r g e s c h l a g e n , in d e m n i c h t in erster L i n i e d e u t s c h e A k a d e m i k e r z u m K a m p f g e g e n das U n r e c h t a u f g e r u f e n w e r d e n sollten; sein H a u p t a n l i e g e n sei n i c h t die Streic h u n g d e r a u s d r ü c k l i c h e n N e n n u n g D e u t s c h l a n d s g e w e s e n , s o n d e r n die E r i n n e r u n g d a r a n , dass d e r K a m p f g e g e n d i e b ö s e n M ä c h t e „ i n u n s e r e m e i g e n e n G e m ü t u n d u n s e r e m e i g e n e n K r e i s " b e g i n n e n müsse. 62 Mow. 1937j+k. 63 M o w . 1940e-g. 64 Vgl. d a z u Kap. 6.2.a.
3. Mowinckel
und die
Oxford-Bewegung
133
w i r noch fragen müssen. 6 5 In diesen Z u s a m m e n h a n g gehört aber zunächst der biographische Hinweis auf seine Ordination zum Pfarrdienst in der norwegischen Kirche, die er — sozusagen mit einer „Verspätung" von gut 3 0 J a h r e n — am zweiten Pfingsttag (13.5.) 1940 nachholte; ordiniert wurde er übrigens durch seinen alten Studienfreund Eivind Berggrav, der 1937 B i s c h o f von Oslo geworden war. D i e Ordination berechtigte M o w i n c k e l dazu, alle gottesdienstlichen Handlungen durchzuführen, und von diesem R e c h t hat er später auch Gebrauch gemacht (Kap. 13.1.b). Weitere Z e u g nisse eines aktiveren kirchlichen Engagements sind seine Mitarbeit — teils als Mitglied, teils als Vorsitzender — i m lokalen Kirchengemeinderat 6 6 sowie B e s u c h e im schwedischen Sigtuna, w o sich seit 1917 eine christlichhumanistische Stiftung durch ein vielseitiges P r o g r a m m , das E r w a c h s e nenbildung, E i n k e h r w o c h e n und verschiedene Tagungen umfasst, zum Ziel setzt, a u f eine E r n e u e r u n g der schwedischen K i r c h e und der schwedischen Gesellschaft hin zu arbeiten. A m Ende stellt sich die Frage: Inwiefern hat Mowinckels religiöse E r neuerung eine entsprechende Änderung seiner theologischen Identität b e wirkt? Hat ihn die B e g e g n u n g mit der Gruppenbewegung dazu bewogen, seine liberaltheologische Position zu verlassen oder sie wenigstens kritisch zu überdenken? Einen Schlüssel zur Klärung dieser Frage gibt eine Diskussion Mowinckels in den Jahren 1937—38 mit Ivar P. Seierstad, der später Professor für das Alte Testament an der Gemeindefakultät wurde. Ausgehend von einem klaren Antagonismus zwischen dem rein „religionshistorischen" Gesichtspunkt, den „liberale" Alttestamentler wie Michelet und Mowinckel verträten, und dem „offenbarungshistorischen" Ansatz auf der Seite der „positiven" T h e o logie, möchte Seierstad gerne wissen, wie Mowinckel seine theologische Position jetzt bestimme. 6 7 In seiner Antwort gesteht sich dieser zunächst die Tatsache ein, dass er eine „eigentliche" T h e o l o g i e nie gehabt habe; erst „seit den drei letzten J a h r e n " sei er daran, eine solche zu entwickeln — allerdings nur „für den Hausbedarf". Früher habe er sich selbst nämlich „ i m m e r als Historiker" und seine wissenschaftliche Arbeit dementsprechend als „biblische Religionsgeschichte" aufgefasst; der „eigentlichen ,Theologie'" g e genüber habe er dagegen „ein ziemlich starkes Misstrauen" gehabt. N u r für ein theologisches Problem habe er sich als Historiker interessiert, und zwar für „das Schriftproblem: W i e soll man zur Linken und zur R e c h t e n — gegen Atheisten und Fundamentalisten — eine realistische, historische Auffassung
65 66 67
Vgl. dazu Kap. l l . l . b , 11.2 sowie 13.1.b, 13.3.C. 1 9 3 7 - 1 9 4 1 in Vestre A k e r , 1 9 4 5 - 1 9 5 3 in F r o g n e r . I . P . SEIERSTAD 1 9 3 7 u n d 1 9 3 8 a + b .
134
Kapitel 7: Mowinckel
über Kirche und
Christentum
der Schrift formulieren und begründen und abgrenzen, in der beide Seiten zum Ausdruck kommen könnten: die göttliche und die menschliche." 6 8 Gegen Seierstad hält Mowinckel also daran fest, dass auch die liberale Theologie das Alte Testament als ein Dokument sowohl einer menschlichen als auch einer göttlich geleiteten Geschichte verstehe, wie er denn auch selber immer einen „religionsgeschichtlichen" und einen „offenbarungsgeschichtlichen" Gesichtspunkt habe kombinieren wollen. Aufjenen entscheidenden „ M a n g e l " 6 9 seiner Auffassung, den ihm Seierstad vorwirft, dass der wundervolle, der „übernatürliche" Charakter dieser Offenbarungsgeschichte hier nicht zur Geltung komme, 7 0 geht Mowinckel nicht ein, erkennt aber darin eine Schwäche der liberalen Theologie, dass sie „in der Regel nicht länger denn zum Anfang, zum rein Historischen" gereicht sei, während die „theologische Darstellung" der Geschichte als „einer gottgeleiteten Offenbarungs- und Heilsgeschichte mit ihrem Ziel in Christus" kaum zum Tragen gekommen sei. 71 Auf eine prinzipielle Auseinandersetzung mit seiner liberaltheologischen Vergangenheit ließ sich Mowinckel in der Diskussion mit Seierstad also nicht ein, zumal er jetzt dazu gekommen war, den ganzen liberalen Protestantismus als eine geschichtliche Erscheinung zu betrachten, die gewiss ihre Schwächen, aber ebenso ihr notwendiges, relatives Recht gehabt habe, deren Epoche aber nunmehr endgültig vorüber sei. Denselben Gesichtspunkt hat er im gleichen Jahr in einem Zeitungsinterview über „Die Neuorientierung in der Theologie" vertreten, 72 in dem er übrigens „den Umschlag" vor allem „durch BarthOxford gekommen" sieht. Die apologetische Grundtendenz der liberalen Theologie sowie ihre Intention, durch die historische Forschung die erlebte religiöse Wirklichkeit zu ergreifen, erkennt Mowinckel hier vorbehaltlos als ein „Aktivum" an. Nur habe diese Theologie „in hohem Maße den üblichen christlichen Fehler jener Zeit" geteilt, das Christentum mehr als eine Weltoder Lebensanschauung zu betrachten denn als jene Gotteskraft, die den Einzelnen und die Welt neu schaffen sollte. Mit all ihrer Kulturfreundlichkeit sei M o w . 1 9 3 8 g (die Zitate ebd. 2 f ) . Vgl. den Titel von Seierstads letztem Diskussionsbeitrag: „Theologia defuncta" (1938b). 7 0 Z . B . I.P. SEIERSTAD 1937: „nicht besonders empfanglich für die vielen Zeugnisse des Alten Testaments von dem wundervollen Eingreifen Gottes in die Welt der Natur und der Leiblichkeit" (ebd. 578); „kennt M o w i n c k e l keine revelatio specialis et supernaturalis" (ebd. 5 8 0 ) ; „so wird das U b e r n a t ü r l i c h e und W u n d e r v o l l e in der alttestamentlichen Offenbarungsgeschichte eo ipso als M y t h e n , Sagen und Legenden betrachtet" (ebd. 5 8 2 ) . 7 1 M o w . 1938g: l l f . - I m Hinblick a u f seine eigene Arbeit bekennt M o w i n c k e l in einem anderen Aufsatz, dass er die Aufmerksamkeit „in einer rücksichtslos einseitigen und oft u n f r o m m e n W e i s e " a u f die menschliche Seite der Schrift gelenkt habe, vgl. M o w . 1938f: 146. 72 Mow. 1938m. 6S 69
3. Mowinckel und die Oxford-Bewegung
135
sie darum „ebenso wenig eine Kraft in der Kultur" gewesen wie das weltflüchtige, pietistische Erweckungschristentum: „Ihr starkes Interesse für die ethische Seite des Christentums wurde eher ein allgemeinmenschlicher Humanismus als eine revolutionäre Kraft." Die theologische Neuorientierung führt Mowinckel also nicht zuletzt auf den Einfluss Karl Barths zurück; es sei ihm „vom ersten Anfang an instinktiv klar" gewesen, dass die Oxford-Bewegung „die praktische Durchführung des Wertvollen von Barths Theologie im Leben des Einzelnen" bedeute. Denn auch „das Christentum der Barth-Theologie" sei noch „im Kopf" geblieben. Jetzt habe aber — so Mowinckel — die Gruppenbewegung die ethischen Konsequenzen aus Barths „Entscheidung in jedem Augenblick" gezogen. In diesem Lichte interpretiert Mowinckel nun auch die theologische Situation und schärft — indem er einen charakteristischen Oxford-Terminus aufgreift — der historischen Theologie eine „überaus wichtige" Aufgabe ein: sie müsse „die Propheten, die Psalmdichtung usw. dazu bringen, mit uns gemeinsam zu teilen''. Das, fügt er hinzu, würde „eine Fortsetzung des Wertvollen am historischen Interesse der liberalen Theologie" sein. 73 Diese Aufgabe hat Mowinckel 1938 nicht nur identifiziert und genannt; in seinem norwegisch verfassten Buch „Det gamle testament som Guds ord" (Das Alte Testament als Wort Gottes) hat er sich gleichzeitig um ihre prinzipielle Lösung bemüht. Auf diesen Versuch einer theologischen Hermeneutik des Alten Testaments sowie auf Mowinckels existentiell motiviertes Gespräch mit den Propheten werden wir später (Kap. 11.1 bzw. 11.2) etwas ausführlicher eingehen. So viel können wir aber schon jetzt feststellen, dass jene Theologie, die Mowinckel seit 1935 „für den Hausbedarf" meinte entwickeln zu müssen, keine Generalabrechnung mit seiner früheren Position enthielt, 74 wohl aber als eine „Neuorientierung" zu bestimmen ist, die teils mit der allgemeinen theologischen Erneuerung der 30er Jahre und teils mit seiner eigenen, durch die Oxford-Erweckung bedingten Entwicklung im Zusammenhang steht.
73 Ebd. - N o r w . : samdele, ein konstruiertes K o m p o s i t u m , durch das m a n innerhalb der norwegischen O x f o r d - G r u p p e versucht hat, das englische „sharing" sinngerecht wiederzugeben. 74 Ahnlich urteilt OFTESTAD 1981: „zu keiner radikalen Auseinandersetzung mit der theologischen Vergangenheit" (ebd. 80).
Kapitel 8
Mowinckel als akademischer Lehrer Nachdem Mowinckel im Dezember 1916 mit dem Doktorgrad seine theologische Schulung erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde er schon zum 1. Juli 1917 auf einer eigens für ihn errichteten Stelle zum Dozenten der Theologie an der Universität zu Kristiania ernannt. Es war der theologischen Fakultät offenbar sehr daran gelegen, diesen vielversprechenden Doktoranden in ihr Kollegium aufzunehmen und ihm dort einen festen Platz zu sichern. Und die Hoffnungen, die an ihn geknüpft wurden, hat Mowinckel nicht enttäuscht.1 1922 wurde seine Stelle darum in eine außerplanmäßige Professur umgewandelt, 2 1933 ist er seinem Lehrer Michelet als ordentlicher Professor für das Alte Testament gefolgt, und bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1954 hat er auf dieser Stelle die beruflichen Pflichten eines Akademikers gewissenhaft erfüllt. Auf einige Schwerpunkte seiner Forschung werden wir in den nächsten Kapiteln zurückkommen, in diesem werden wir uns auf andere Aspekte seines akademischen Wirkens konzentrieren: Was zeichnete ihn denn eigentlich als Lehrer aus? Wie war sein Verhältnis zu den Studenten — und zu den Kollegen? In einem ersten Abschnitt werden wir aber versuchen, einen Uberblick über einige administrative Amter und Aufgaben zu gewinnen, die Mowinckel kraft seiner Stellung auf sich nahm bzw. nehmen musste, sowie über die wichtigsten Ehrungen, die ihm während seiner akademischen Laufbahn zuteil wurden. In diesen Kontext scheint mir aber auch die Frage hinzugehören, warum denn Mowinckel zwei ehrenvolle Amter, die ihm von außen her angeboten wurden, nicht angenommen hat.
' In seinem Briefwechsel mit F.C. Krarup (in: VALKNER 1968) hat Lyder Brun schon 1916 seinen Glauben an Mowinckel zum Ausdruck gebracht (vgl. Kap. 5, Anm. 50f), und ähnliche Zeugnisse finden sich in den folgenden Jahren: „Ein Trost sind die jungen tüchtigen Theologen, die wir haben, namentlich Dr. Mowinckel ist außerordentlich reich an Ideen und in voller Fahrt, dieselben auszuarbeiten" (19.12.1921); „auf diese beiden (= neben Mowinckel: Anton Fridrichsen) haben wir ja vor allem die Zukunft gebaut" (15.5.1928). 2 In ihrer Begründung hob die theologische Fakultät die „seltenen Qualifikationen" Mowinckels hervor sowie die „originellen und fruchtbaren neuen Ergebnisse" seiner „ungewöhnlich reichen Produktion" (vgl. L.AMUNDSEN 1961: 41).
1. Akademische
Amter, Aufgaben und
Ehrungen
137
i. Akademische Amter, Aufgaben und Ehrungen a) Als außerplanmäßiger Professor erhielt Mowinckel in einem und demselben Jahr, 1929, zwei ehrende R u f e aus dem Ausland. Sowohl in Basel als auch in Marburg war der Lehrstuhl für das Alte Testament neu zu besetzen — in Basel nach Bernhard D u h m , in Marburg nach Gustav Hölscher und beide U n i versitäten hatten Mowinckel auf den ersten Platz gesetzt. 3 Beide R u f e hat aber Mowinckel abgelehnt, und die Frage meldet sich unwillkürlich - warum? In altehrwürdigen theologischen Fakultäten wie denen von Marburg oder Basel hätte Mowinckel zweifellos ganz andere Arbeitsverhältnisse und weit spannendere Herausforderungen bekommen als in seiner Heimat, wo die theologische Fakultät in mehr oder weniger ständigem Streit mit der konservativeren Gemeindefakultät lag, die den größeren Anteil der Studenten an sich zog. Dennoch ist er also in Oslo geblieben, wo die Zahl seiner Hörer meistens eher bescheiden war und der regelmäßige Kontakt mit der internationalen Forschung durch die geographische Entfernung erschwert wurde. 4 M a n kann sich vorstellen, dass es Mowinckel nicht leicht gefallen ist, zwei so ehrenvolle R u f e abzulehnen. Hielten ihn vielleicht die Erinnerungen an seine schwierigen Lehrjahre in M a r b u r g und Gießen, an seine zwiespältigen Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen von einer Zusage ab? Hat er aus Rücksicht auf seine Familie den U m z u g in ein fremdes Land nicht gewagt? O d e r waren es die vielen akademischen Verpflichtungen, die er in Oslo schon auf sich g e n o m m e n hatte, von denen er sich nicht loszureißen vermochte? A n z u n e h m e n ist natürlich, dass mehrere G r ü n d e hinter der Entscheidung Mowinckels lagen. W e n n wir seinen eigenen W o r t e n glauben dürfen, wie er sie in seinem Antwortbrief an das Preußische Ministerium f ü r Wissenschaft, Kunst u n d Volksbildung formuliert hat, ist er letztlich aus Pflichtbewusstsein und Solidaritätsgründen in Oslo geblieben. Er hat sich f ü r seine Fakultät und Universität verantwortlich gefühlt und wollte sie nicht im Stich lassen; denn zweifellos w ü r d e gerade in einer relativ bescheidenen Theologenschaft wie der norwegischen der Verlust eines tüchtigen, international anerkannten Lehrers besonders schmerzlich e m p f u n d e n werden. Mowinckel versichert dem H e r r n Ministerialrat, „alle Momente, pro et contra, gewissenhaft in Betracht gezogen zu haben", ehe er i h m seinen Entschluss mitteilt:
3 Aus der diesbezüglichen Korrespondenz sind im Privatarchiv Mowinckels die Berufungsbriefe aus Basel (Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt, 12.2.1929) und Marburg (Preußisches Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Berlin, 15.3.1929), ein weiterer Brief aus Berlin (30.4.1929) sowie eine Kopie (ohne Datum) von Mowinckels Antwort an Berlin erhalten geblieben. 4 Vgl. Brief an Baumgartner, Oslo 26.5.1928: „Ich lebe hier in einer sibirischen Isolation."
138
Kapitel 8: Mowinckel als akademischer
Lehrer
O b w o h l ich mir . . . nicht die Vorteile verschiedener Art verhehle, die eine Ü b e r siedlung nach einer deutschen Universität mit einem regen wissenschaftlichen L e ben wie Marburg für mich bedeuten würde, so fällt auch die Verpflichtung, die ich gegen meine eigene Universität empfinde, und die m i r eben in der augenblicklichen Situation eindrucksvoll vor Augen steht, sehr schwer in die Wagschale. U n d da ich, seitdem die B e r u f u n g unter meinen Kollegen und in dem betreffenden R e gierungsdepartement bekannt wurde, von verschiedenen Seiten her sehr dringend aufgefordert worden bin, hier zu bleiben, so habe ich mich j e t z t entschlossen, diesen Aufforderungen n a c h z u k o m m e n , und die für mich sehr ehrenhafte B e r u f u n g nach M a r b u r g mit ehrerbietigstem D a n k höflichst abzulehnen.
Eine ganz freie Wahl scheint Mowinckel also nicht gehabt zu haben; sein Entschluss ist offenbar unter einem gewissen Druck gefasst worden. Mit Blick auf seinen Hinweis auf die „augenblickliche Situation" liegt es nahe, auf den Weggang des ungefähr gleichaltrigen Anton Fridrichsen (1888— 1953) nach Schweden als mögliche Erklärung hinzuweisen: Nach dem Tod Gillis Wetters (1926) war der Lehrstuhl für neutestamentliche Theologie in Uppsala frei geworden. Lyder Brun, dem er zuerst angeboten wurde, lehnte diesen R u f jedoch mit der Begründung ab, dass er sich dazu verpflichtet fühle, im norwegischen Kirchenstreit auf seinem Posten zu bleiben. 5 U m so größer aber war ihm — und seinen Kollegen — die Enttäuschung, als sich Fridrichsen, von dem man sich sehr viel erwartet hatte, um diesen Lehrstuhl bewarb 6 — und ihn schließlich auch übernahm. 7 Danach fragt Brun in einem B r i e f seinen dänischen Freund Krarup: „Was würden Sie sagen, wenn nun auch Mowinckel nach Schweden ginge ..., dann könnte unsere Fakultät ebenso gut gleich einstellen". 8 Wenn der Fall Fridrichsen nicht gewesen wäre, hätte Mowinckel dann eine größere Wahlfreiheit gehabt? Und hätte er dann anders entschieden? So zu fragen, ist natürlich ein müßiges Unternehmen. A u fjeden Fall darf man aber vermuten, dass Mowinckels Absage ihm einiges gekostet hat. Vielleicht hat er eben deswegen noch im hohen Alter so heftig reagiert, als ein international angesehener Forscher der nächsten Generation seiner norwegischen Heimatuniversität verloren ging? Seine Empörung darüber, dass der N e u testamentler Nils A. Dahl einen R u f nach Yale University annahm, soll M o winckel mit den Worten zum Ausdruck gebracht haben, dass der jüngere Kollege seine Fakultät jetzt als „ein sinkendes Schiff" im Stich lasse.9
5 6 7 8 9
B r u n an Krarup, 27.6.1927, in: VALKNER 1968: 2 4 6 . Brun an Krarup, 14.12.1927, ebd. 2 5 0 . Brun an Krarup, 15.5.1928, ebd. 255f; vgl. dazu auch HESTVOLD 1987: 6 6 . B r u n an Krarup, 15.5.1928, in: VALKNER 1968: 2 5 6 . Jacob Jervell (Briefe vom 9 . 1 1 . 2 0 0 0 und 16.10.2004).
i. Akademische Ämter, Aufgaben und Ehrungen
139
b) Der ideale Zweck einer Universität, freie Forschung zu betreiben und wissenschaftliche Erkenntnisse weiterzugeben, lässt sich nicht ohne Erledigung allerlei praktischer und strategischer Leitungsaufgaben verwirklichen. W i e jede andere größere Institution braucht darum auch die Universität eine vielseitig ausgebaute Verwaltung, die auf zentraler sowie auf Fakultäts- und Institutebene für den täglichen Betrieb des ganzen Systems verantwortlich ist. Parallel zu dieser administrativen Leitung arbeitet aber auch an der U n i versität Oslo eine andere, die traditionell durch gewählte Vertreter des Lehrkörpers wahrgenommen wird und auf diese Weise die akademische Identität und Qualität der Forschung und Lehre sichern soll. An dieser fachlich-wissenschaftlichen Leitung seiner Universität hat sich auch Mowinckel beteiligt, teils als Dekan der theologischen Fakultät und Mitglied des akademischen Kollegiums, teils als Vorsitzender oder Mitglied zentraler oder fakultätsinterner Ausschüsse. A u f eine Auflistung von all diesen Aufgaben kommt es hier nicht an — einige wenige Beispiele müssen genügen: Angeregt vom damaligen Rektor, der Jurist Fredrik Stang, setzte sich Mowinckel 1923 zusammen mit einigen Kollegen für „eine würdigere Form der Verleihung des Doktorgrads" ein. 1 0 Sein eigenes Interesse für diese Sache ging zweifellos auf seine Erfahrungen in Lund im selben Herbst zurück, als er im R a h m e n des 800-jährigen Jubiläums des dortigen Doms zum doctor honoris causae ernannt wurde. Die feierliche Doktor- und Ehrendoktorpromotion, die er dort miterleben durfte, hat er in einem Reisebrief an die Tageszeitung „Tidens Tegn" detailliert und enthusiastisch geschildert, und seinen Bericht schloss er mit der Aufforderung ab, dass man in Kristiania von den Schweden lernen und „die Formlosigkeit" verlassen müsse. 11 Die Initiative hat auch Früchte getragen: Durch R ü c k g r i f f auf alte Vorbilder wollte man jetzt feierliche akademische Zeremonien wiederaufnehmen, die im 19. Jahrhundert abgeschafft worden waren; zu diesem Zweck wurden sowohl ein Rektormantel als auch unterschiedliche Dekanmäntel angeschafft, und für die Doktorpromotionen wurde eigens eine groß angelegte Kantate für Chor und Orchester bestellt. War es der jungen norwegischen Universität bisher vor allem daran gelegen, sich ihrer nationalen Identität zu vergewissern, spricht dieses neuerwachte Traditionsbewusstsein für einen Willen dazu, den Zusammenhang mit der internationalen akademischen Gemeinschaft deutlicher zu betonen. 1 2 Als der produktivste Forscher seiner Fakultät war Mowinckel ein Vierteljahrhundert (1940—1964) Mitherausgeber der „Norsk Teologisk Tids10 Vgl. Briefe von Mowinckel an Herrn Prof. Fr. Bull und Herrn Dr. Harry Fett (beide 25.10.1923). U b e r diese Wiederaufnahme alter akademischer Zeremonien und Symbole informiert auch COLLETT 1999: 138f. 11 Mow. 1923j, vgl. auch A n m . 43 unten. 12
Vgl. COLLETT 1 9 9 9 :
138f.
140
Kapitel 8: Mowinckel als akademischer
Lehrer
skrift". Auch für alltäglichere Dinge scheint er aber einen gewissen Sinn entwickelt zu haben. W i r haben schon gesehen, dass er einige Jahre (1932— 1941) die Stelle des „Hausvaters" im Studentenwohnheim auf B l i n d e m innehatte, 1 3 und ganze 2 0 Jahre (1933—1952) war er Mitglied des Vorstandes für ein anderes Studentenwohnheim, das 1919 in einem älteren M i e t haus (Schultz' gate 7) als Notlösung errichtet worden war, aber dann doch eine permanente Institution unter der Aufsicht des akademischen Kollegiums blieb. 14 Lange leitete Mowinckel auch einen Ausschuss für die Baronie Rosendal, ein altes Landgut in der westnorwegischen R e g i o n Hardanger, das 1927 in den Besitz der Universität Oslo gekommen war. 15 Eine Zeitlang führte er die Aufsicht über den theologischen Lesesaal, und als in den 1950er Jahren das neue Universitätsgelände auf B l i n d e m geplant wurde, war er Mitglied eines Ausschusses, der den B e d a r f an theologischen R ä u m lichkeiten klären sollte. c) Innerhalb einer kleinen Fakultät wie der theologischen müssen die meisten Professoren damit rechnen, irgendwann — vielleicht sogar mehrmals — zum Dekan gewählt zu werden. In den gut drei Jahrzehnten, die Mowinckel den Titel des Professors trug, fiel diese Wahl dreimal auf ihn. W i e wohl die meisten seiner Kollegen scheint er sich nur bedingt über diese Ehre gefreut zu haben: 16 U n d das Dekansein und Administrierenmüssen ist zum Tollwerden. Es sollte eigentlich nach dem Strafgesetzbuch verboten sein; denn es bedeutet eine i m m e r wiederholte T ö t u n g noch ungeborener Kinder, was jedenfalls bei uns noch v e r b o ten und sträflich ist.
Zu Zeiten, in denen das akademische Geschäft in seinen gewohnten Bahnen weiterläuft, werden die meisten Aufgaben eines Dekans mehr oder weniger zur Routine. Vor ganz neuen Herausforderungen stand aber Mowinckel, als er in den Kriegsjahren wieder die Verantwortung für die Fakultätsleitung hatte. Die unter der deutschen Okkupationsmacht stehende Regierung versuchte mehrmals, Neuordnungen an der Universität einzuführen, die zum Teil radikal von der herkömmlichen akademischen Praxis abwichen. Damit stieß sie natürlich auf entschiedenen Widerstand, nicht nur in der zentralen Universitätsleitung 17 und bei den Dekanen, sondern auch in verschiedenen 13
Vgl. Kap. 6.1.a.
14
V g l . COLLETT 1 9 9 9 : 1 2 8 .
Vgl. ebd. 148. B r i e f an Baumgartner, 2 6 . 5 . 1 9 2 8 . 17 D e r R e k t o r der Universität, Prof. Dr. D . A . Seip, war schon im Zusammenhang mit einem Ausnahmezustand am 11. September 1941 verhaftet worden. Ihm folgte — zunächst als „Prorektor" (dem zuständigen Minister direkt unterstellt), seit dem Frühjahr 1943 als R e k t o r — Adolf Hoel, Dozent für Geologie, der zwar Mitglied der n o r w e 15 16
1. Akademische Ämter, Aufgaben und Ehrungen
141
Aktionsgruppen, die einen konsequenten Kurs der Ablehnung befürworteten und sich auf keinen Dialog mit den Behörden einlassen wollten. 18 In solchen Konfliktsituationen gerieten die Dekane nicht selten in eine schwierige Lage: In der Hauptsache standen sie wohl auf demselben kritischen Standpunkt wie die Aktivisten, aber gleichzeitig fühlten sie sich dazu verpflichtet, so zu reagieren, dass der Lehrbetrieb innerhalb ihrer jeweiligen Fakultät möglichst aufrechterhalten werden konnte. Durch diese Politik der Vermittlung gelang es dem akademischen K o l legium, die Universität bis in den Herbst 1943 hinein in Gang zu halten. Da kam es jedoch erneut zum Streit zwischen Universität und Regierung, als das Ministerium dem R e k t o r allein die Entscheidung über die Zahl und die Auswahl der aufzunehmenden Studenten überlassen wollte. Diesmal war die R e a k t i o n seitens der Fakultäten so heftig und die Unzufriedenheit der Regierung mit der widerspenstigen Universität so groß, dass alle Verhandlungsversuche fehlschlugen und die R e g i e r u n g meinte, ihre Macht demonstrieren zu müssen. Mitte Oktober wurden 11 Universitätslehrer und etwa 70 Studenten verhaftet, von denen die meisten den aktiven W i derstandsgruppen angehörten. In den folgenden Wochen spitzte sich der Konflikt weiter zu, und als in der Nacht auf den 2 8 . November ein Brand in der Universitätsaula ausbrach, der offenbar angelegt worden war, fasste Reichskommissar Terboven sofort den Entschluss, die Universität zu schließen und sämtliche männlichen Studenten in deutsche Gefangenenlager zu senden. 19 Die Schließung der Universität am 30. November 1943 galt nur solchen Aktivitäten, die mit dem Unterricht und den Prüfungen verbunden waren. Die Angestellten bekamen weiterhin ihr Gehalt, und die wissenschaftliche Arbeit sollte ununterbrochen weitergeführt werden. 2 0 So hatten Mowinckel und alle anderen Professoren, die nicht in Gefangenschaft saßen, die Gelegenheit, sich ihren Forschungsaufgaben zu widmen; der Unterricht wurde erst nach Kriegsende wieder aufgenommen, und Mowinckel und seine Fagischen Nazi-Partei war, sich aber dennoch darum bemühte, möglichst flexibel zwischen dem Ministerium und dem akademischen Kollegium zu vermitteln (vgl. COLLETT 1999: 160). 18 In der Leitungsgruppe einer geheimen „Aktionsauswahl" saß auch einer von M o winckels theologischen Kollegen, der Kirchenhistoriker Einar Molland. Auch unter den Studenten, deren legitime Vertretungen im Herbst 1941 durch Nazi-treue Studentenausschüsse ersetzt worden waren, entstand eine ähnliche Aktionsgruppe (COLLETT 1999:
160f).
19 Von rund 1250 Studenten, die am folgenden Tag verhaftet wurden, wurden etwa 650 im Laufe der nächsten Wochen nach Deutschland abtransporiert (COLLETT 1999: 161ff). — U b e r die Auseinandersetzungen zwischen Universität und Regierung, die Schließung der Universität und die gefangengenommenen Studenten informieren auch mehrere Aufsätze in FURE 2 0 0 3 . 20
COLLETT 1 9 9 9 : 167.
142
Kapitel 8: Mowinckel als akademischer
Lehrer
milie konnten im letzten Kriegsjahr mehr Zeit als sonst in ihrer Hütte im friedlichen Sjusj0en verbringen. 21 d) Als Professor und prominenter Gelehrter war Mowinckel auch in die Aktivitäten mehrerer Ausschüsse, Einrichtungen und Organe außerhalb der Universität involviert. Seit März 1918 war er Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, an deren Arbeit er bis ins hohe Alter durch Vorträge, Diskussionsbeiträge und R e d e n verschiedener Art regelmäßig teilnahm; etliche Jahre (1930—1937) war er auch Vorsitzender oder stellvertretender Vorsitzender der historisch-philosophischen Klasse. 22 In der Schriftenreihe der Akademie erschien — auf die Empfehlung Professor M i chelets — schon Mowinckels erste internationale Abhandlung, seine JeremiaStudie aus dem Jahre 1914 (vgl. Kap. 5.2), und seine sechs Psalmenstudien (1921—24, vgl. Kap. 9.1), die er selbst der Akademie vorlegte, wurden ebenfalls auf diesem Weg veröffentlicht. Diese Studien, die Mowinckel den Fridtjof-Nansen-Preis einbrachten, 2 3 fanden übrigens auf dem Buchmarkt ein anderes Schicksal als die meisten Veröffentlichungen der Akademie: sie wurden sehr bald ausverkauft. 24 Mowinckel war auch Mitglied der Norwegischen Orientalischen Gesellschaft (Norsk Orientalsk Selskap), in der sich Forscher auf dem Felde des Nahen wie Fernen Ostens zu Vorträgen und Diskussionen treffen. Gemeinsam mit Forschern in anderen Ländern setzten sich die norwegischen Orientalisten um 1920 für eine internationale Zusammenarbeit ein, die in der seit 1923 erscheinenden Zeitschrift „Acta Orientalia" eine bleibende Form fand. 25 Schon in deren erstem Jahrgang erschien ein Beitrag von Mowinckel, im übrigen ist er — teils durch eigene Aufsätze, teils durch Rezensionen — vor allem in den 30er Jahren hier zu finden. 2 6 Nach dem ersten Weltkrieg war es notwendig geworden, neue Quellen der Finanzierung von Forschung und Studien zu suchen und zu sichern. So wurde 1919 ein staatlicher wissenschaftlicher Forschungsfonds errichtet, 2 7 in dessen Vorstand Mowinckel lange Jahre Mitglied war; zeitweise leitete er auch dessen humanistische Abteilung. Ein Teil dieses Fonds wurde in das Institut für Vergleichende Kulturforschung (Instituttet for sammenlignende Vgl. Kap. 6 . 2 . b . E i n e Übersicht (bis 1956) in L. AMUNDSEN 1957/60: 645f. 23 Ebd. 293. 2 4 Ebd. 151. 2 5 H i n t e r der Zeitschrift standen die dänische, die niederländische und die n o r w e gische Orientalistengesellschaft. Als Schriftleiter waren F. B u h l (Kopenhagen), Sten K o n o w (Kristiania), C . Snouck H u r g r o n j e und Ph.S. van R o n k e l (beide Leiden) für j e ihr orientalisches Forschungsgebiet verantwortlich (Ad lectores, A c O r 1/1923: l f ) . 21
22
26
Vgl. KVALE/RIAN
27
COLLETT 1 9 9 9 :
1984.
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kulturforskning) weitergeleitet, eine akademische Neuschöpfung, die zwar nicht formell an die Universität angeschlossen war, aber in Wirklichkeit von Universitätsprofessoren betrieben wurde und weithin in deren übrige Tätigkeit integriert worden war. 28 Als stellvertretendes, später festes Mitglied des Vorstands dieses Instituts war Mowinckel ebenfalls von Anfang an an dessen Aktivitäten mitbeteiligt. Einige weitere Leitungsgremien, in die Mowinckel als Mitglied gewählt wurde, können wir nur kurz erwähnen: Seit 1929 saß er mehrere Jahre in der Leitung eines norwegischen Vereins für Denkmalpflege 29 und seit 1941 im Vorstand des praktisch-theologischen Seminars an der Universität Oslo. Diese kirchlich ausgerichtete Ausbildung ist zwar von alters her in den R ä u men der theologischen Fakultät untergebracht, ist aber formell eine eigene, dem Ministerium direkt unterstellte Institution. Mowinckels Eintritt in deren Vorstand ist vermutlich eine natürliche Folge seiner Ordination zum Pfarrer im Jahre 1940. Und schließlich ist auch unter diesem Punkt ein Haus der Studenten zu erwähnen, für das Mowinckel Verantwortung übernahm: eine Zeit lang leitete er den Vorstand für das Haus des christlichen Studentenvereins. Als die Norwegische Bibelgesellschaft in den 1950er Jahren die Arbeit an einer ganz neuen Bibelübersetzung in Angriff nahm, stellte ihr Mowinckel, der damals schon emeritiert worden war, bereitwillig seine Zeit und seine Kräfte zur Verfügung. Nicht nur durch seine seltenen fachlichen Qualifikationen, sondern auch durch seine dreißigjährige Arbeit an der von Simon Michelet, Nils Messel und ihm selbst herausgegebenen wissenschaftlichen Ubersetzung des Alten Testaments war er für diese große und bedeutsame Aufgabe bestens qualifiziert. Das ist aber ein Thema, das eine eigene Behandlung verdient; im 12. Kapitel werden wir darauf zurückkommen. Im R a h m e n einer Rechenschaft über das außeruniversitäre Wirken Mowinckels darf aber als ein letzter Punkt all jene Vermittlungsarbeit nicht vergessen werden, zu der er ebenfalls Zeit fand. Aktuelles Wissen aus seinem eigenen Fachgebiet hat er regelmäßig durch informative Artikel in Zeitungen wie in kirchlichen oder allgemeinkulturellen Zeitschriften an die Öffentlichkeit weitervermittelt, 30 aber auch als Redner an Kursen für Pfarrer und Lehrer oder an allerlei Veranstaltungen verschiedener Vereine hat er — nicht nur in der Hauptstadt und deren nächster Umgebung, sondern auch in vielen anderen Städten — öfters „christliche Aufklärungsvorträge" gehalten. 31 28 29 30 31
Ebd. 137f. Norwegisch: „Foreningen til norske Fortidsminnesmerkers Bevaring". Vgl. dazu insbesondere Kap. 7.2.a. Mow. 1927h: 254.
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e) Einladungen zu Vorlesungen und Vorträgen hat Mowinckel nicht nur aus dem eigenen Lande, sondern auch aus den übrigen skandinavischen Ländern und dem ferneren Ausland erhalten, teils i m Z u s a m m e n h a n g mit Fachkonferenzen oder mit E h r u n g e n seines wissenschaftlichen Werkes. Solche Gastvorlesungen i m Ausland gab er auch noch als Emeritus, beispielsweise las er dann ein paarmal in Kopenhagen über T h e m e n aus der frühisraelitischen Geschichte. So etwas wie ein krönender Abschluss dieser internationalen Lehrtätigkeit war aber sicher die einwöchige Vorlesungsreihe des 71-Jährigen in Jerusalem im Frühjahr 1956 (Kap. 6.4.b). Sonst musste der alternde Mowinckel mit Hinweis auf seine geschwächte Gesundheit mehrere verlockende Reiseangebote abschlagen. 3 2 Während Mowinckels außerskandinavische Auslandskontakte vor dem zweiten Weltkrieg überwiegend in Deutschland und auf dem übrigen nordeuropäischen Kontinent zu finden waren, öffneten sich in den Jahren danach neue Möglichkeiten, Großbritannien zu besuchen und näher kennen zu lernen. Durch „The British Council" wurde im Frühjahr 1946 eine Delegation von sechs norwegischen Akademikern - darunter Mowinckel - zu einem vierwöchigen Aufenthalt nach England und Schottland eingeladen, u m mehrere Universitätsstädte zu besuchen, Fachkollegen zu treffen und neue wissenschaftliche Kontakte zu knüpfen. 3 3 U n d einige Jahre später hat Mowinckel — diesmal in der Begleitung seiner Frau — nochmals die Nordsee überquert, u m in Oxford, Bangor und Birmingham Vorlesungen über das Thronbesteigungsfest und die Thronbesteigungspsalmen zu halten. 3 4 Von einer Arbeitsgruppe im walisischen University College Bangor, die sich zu jener Zeit mit skandinavischer alttestamentlicher Forschungsliteratur beschäftigte, war damals schon eine Initiative ausgegangen, Mowinckels 1951 erschienenes, in norwegischer Sprache veröffentlichtes Buch über die Psalmen („Offersang og sangoffer") ins Englische zu übersetzen. 35 Die skandinavischen Länder sind von alters her eng miteinander verbunden, und auch die theologischen Fakultäten haben von Zeit zu Zeit verschie32 So z.B. von Zürich 1950/51, Utrecht 1957 (Obbink-lecture), Jerusalem 1960 (Third World Congress of Jewish Studies), I O S O T 1962/63, Hamburg 1963/64 (DAAD), Heidelberg 1964. 33 Abreise mit Schiff von Oslo am 23. März, Rückkehr am 22. April. Das Reiseprogramm schloss Newcastle, Edinburgh, London, Oxford, Cambridge und Manchester ein. 34 Der englische Titel der Vorlesungen: „The Enthronement Festival and the Enthronement Psalms in the History of Israel". 35 Brief von D . R . Ap-Thomas, Bangor 9.1.1952. Die Idee der Ubersetzung kam von Prof. C . R . North; auf der Grundlage der Ubersetzung einer Norwegerin besorgte ApThomas über eine Periode von mehreren Jahren die englische Ausgabe, die 1962 unter dem Titel „The Psalms in Israels Worship" erschien (vgl. Kap. 9.3.b). Mit verantwortlich f ü r diesen langwierigen Ubersetzungsprozess scheint Mowinckels Wunsch gewesen
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dene Formen von grenzüberschreitender Zusammenarbeit entwickelt. D a ran n a h m Mowinckel vor allem in den ersten Nachkriegsjahren aktiv teil. 36 Mehrmals hat er auch in verschiedenen Begutachtungskommissionen als Sachkundiger mitgewirkt, w o eine Dissertation geprüft oder eine Stelle neu besetzt werden sollte. Sicher hat er bei solchen Gelegenheiten sein Urteil nicht i m m e r in Watte verpackt. Nachdem er 1924 einen Jonas Walles, der sich u m eine Stelle in Uppsala beworben hatte, recht kritisch beurteilt hatte, soll dieser mit einem „Pamphlet" geantwortet haben. Das berichtet M o winckel in einer Briefkarte an Emanuel Linderholm und fügt hinzu: „Es scheint ja geradezu eine gefährliche Sache zu sein, in Schweden als Sachkundiger aufzutreten." 3 7 Diese E r f a h r u n g hat aber Mowinckel nicht davon abgehalten, weitere Gutachteraufträge im östlichen Nachbarland anzunehmen. 3 8 Eine schwere P r ü f u n g der skandinavischen Solidarität u n d Z u s a m m e n arbeit begann, als die S o w j e t u n i o n i m Spätherbst 1939 mit einer überlegenen A r m e e Finnland angriff. Dieser finnisch-russische W i n t e r k r i e g (1939—40) brachte den Finnen international viel Sympathie ein, u n d in den Nachbarländern w u r d e n große humanitäre Hilfsaktionen organisiert. In diesen Z u s a m m e n h a n g gehört eine „ R o u n d - t a b l e " - K o n f e r e n z in Hosbjor i m Januar 1940, zu der etwa 30 skandinavische Wissenschaftler zusamm e n k a m e n , u m die Rolle der Wissenschaft in j e n e r „Krisenzeit" u n d ihren besonderen Beitrag zur „Finnlandhilfe" zu erörtern. 3 9 Norwegische Teiln e h m e r waren unter anderen der damalige R e k t o r der Universität, D.A. Seip, zwei ehemalige R e k t o r e n , Fredrik Stang u n d Sem Sseland, u n d p r o m i n e n t e Professoren wie der Literaturhistoriker Francis Bull, der Jurist Frede Castberg u n d der Volkswirtschaftler R a g n a r Frisch; der b e r ü h m t e s t e ausländische Gast w a r w o h l der dänische Atomphysiker Niels Bohr. M o winckel war sowohl in die Planung als auch in die D u r c h f ü h r u n g dieser Konferenz involviert, u n d aus den Ü b e r l e g u n g e n , die er sich w ä h r e n d der Gespräche in Hosbjor machte, ist ein Aufsatz z u m T h e m a „Die Wissenschaft u n d die Kulturkrise" hervorgegangen. 4 0 Ein besonders regelmäßiger Besucher von internationalen Fachkongressen scheint Mowinckel nicht gewesen zu sein. An zwei skandinavischen religionshistorischen Kongressen — 1922 in Lund u n d 1931 in Stockholm — hat zu sein, immer wieder neue Korrekturen anzubringen (eine Reihe Briefe von ApThomas in den Jahren 1952—61, der letzte vom 16.5.1961). 36 Z.B. in Ärhus 1948, Göteborg 1949, Oslo 1951. 37 An Linderholm, 19.3.1925. 38 Z.B. in Uppsala 1925 und 1926 und in Lund 1929, 1947 und 1948. 39 Die Konferenz wurde von dem „Chr. Michelsens Institutt for Videnskap og Andsfrihet" organisiert. 40 Mow. 1940d.
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er aber teilgenommen, und sonst hat er gelegentlich die Universität Oslo oder die norwegische Wissenschafts-Akademie auf internationalen R e l i gionshistoriker- oder Orientalistenkongressen vertreten. 41 Natürlich war er auch auf dem ersten Alttestamentlerkongress ( I O S O T ) dabei, der 1953 in Kopenhagen abgehalten wurde. Ein klares Zeugnis von seiner internationalen Durchschlagskraft geben sonst die Ehrendoktorate, die ihm nicht weniger als fünf europäische Universitäten erteilten: Gießen und Lund (beide 1923), 4 2 Straßburg (1927), Amsterdam (1932) und St. Andrews (1956). Die Ehrendoktorernennung in Lund fand im Zusammenhang mit dem 8 0 0 - j ä h rigen Jubiläum des Doms statt, von dem Mowinckel in einem längeren R e i sebrief an die Zeitung „Tidens Tegn" berichtet hat. 4 3 Unter den 10 Geehrten war neben Mowinckel noch ein zweiter Norweger: sein Studienfreund Eivind Berggrav. 4 4 Anlass für die Feierlichkeit in Amsterdam 1932 war das Gedenken an das 300-jährige Bestehen dieser städtischen Universität. Auch eine ganze R e i h e anderer internationaler Ehrungen ist Mowinckel im Laufe seines langen Forscherlebens zuteil geworden. Er war Mitglied oder Ehrenmitglied mehrerer ausländischer Wissenschaftsakademien 45 und hat 1949 „The Burkett Bronze Medal for Biblical Studies" bekommen, die 4 ' Vertreter der Universität 1 9 2 9 auf dem 5. religionshistorischen Kongress in Lund und 1931 a u f dem 18. orientalistischen Kongress in Leiden; Vertreter der WissenschaftsAkademie 1955 a u f dem 9. religionshistorischen Kongress in R o m . 4 2 In seiner autobiographischen Skizze in der Jubiläumsschrift der Abiturienten des Jahres 1902 ( M o w . 1927h: 2 5 4 ) gibt M o w i n c k e l für die Gießener E h r e n d o k t o r w ü r d e das J a h r 1922 an, eine Auskunft, die danach in sämtlichen L e x i k a und der gesamten M o w i n c k e l - L i t e r a t u r wiederkehrt. Indessen bezeugen D o k u m e n t e des Universitätsarchivs in Gießen, dass der Entschluss, M o w i n c k e l zum E h r e n d o k t o r zu ernennen, in einer Sitzung der theologischen Fakultät am 10.3.1923 gefasst wurde ( B r i e f von Hans Schmidt an die Universitätsverwaltung, 19.4.1923); in einem Vermerk v o m 2 1 . 4 . 1 9 2 3 hat der R e k t o r , Dr. Eger, die venia promovendi erteilt. In einem B r i e f v o m 2 1 . 5 . 1 9 2 3 hat M o w i n c k e l der theologischen Fakultät der Universität Gießen seinen D a n k für die Auszeichnung ausgesprochen. Später hat er ihr auch den fünften B a n d seiner Psalmenstudien (Mow. 1924a) gewidmet. - E i n G r u n d für die Fehlerinnerung M o w i n c k e l s könnte vielleicht darin liegen, dass i h m — wie es Hans Schmidt in seiner Besprechung von der zweiten Psalmenstudie M o w i n c k e l s (in: T h L Z 4 9 / 1 9 2 4 : 7 7 - 8 1 ) bestätigt - dieser E h rendoktortitel eben a u f G r u n d dieser im J a h r e 1922 veröffentlichten Arbeit zuerkannt worden war.
M o w . 1923j, vgl. auch A n m . 11 oben. Vgl. HEIENE 1 9 9 2 : 187f; 1997: 62. Berggrav hatte seine Dissertation zu dem Z e i t punkt allerdings noch nicht fertiggeschrieben, wurde aber v o r n e h m l i c h auf G r u n d seiner persönlichen Qualitäten und ökumenischen Verdienste promoviert. 4 5 Korrespondierendes Mitglied der schwedischen Nathan Söderblom-Gesellschaft (15.1.1943), der Academie des inscriptions et belles lettres des Institut de France (14.12. 1945), der K o n i n k l i j k e Vlaamse Academie voor wetenschappen, letteren en schone kunsten van B e l g i e (16.10.1948) und der Societas Orientalis Fennica (24.10.1951); E h renmitglied der amerikanischen Society o f Biblical Literature and Exegesis (2.1.1947) und der britischen Society for O l d Testament Study; 14.11.1956 wurde i h m von Keble College ( O x f o r d ) die „ H o n o r a r y M e m b e r s h i p o f the S o c i e t y " angeboten. 43
44
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ihm The British Academy übrigens schon 1929 angeboten hatte. 46 Er war seit 1932 Ritter des schwedischen Königlichen Nordstjärneordens, und in der Heimat wurde ihm 1951 das Kommandeur-Kreuz des Königlichen Norwegischen St. Olav Ordens verliehen. 2. Mowinckel
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a) Neben der Forschung gilt Unterricht und Betreuung der Studenten bekanntlich als die zweite Hauptaufgabe eines Universitätsprofessors. In der theologischen Fakultät bestand dieser Lehrbetrieb zu Mowinckels Zeiten hauptsächlich in Vorlesungen, nur in geringerem Maße in Seminaren und Ubungsgruppen. Der Abstand zwischen Professoren und Studenten war damals noch ziemlich groß; die Professoren hielten ihre Vorlesungen, was die Studenten davon hatten oder wie sie sonst mit ihren vielen Fragen zu Recht kamen, das blieb ihre Sache. Die Professoren hatten sich in erster Linie durch schriftliche, wissenschaftliche Arbeiten für ihre Stellung qualifiziert, und die wenigsten von ihnen hatten irgend eine förmliche pädagogische Ausbildung absolviert. Das hatte auch Mowinckel nicht, aber immerhin hatte er durch verschiedene Stellvertretungen in Alesund und seine zweijährige Anstellung in Egersund gelernt, als Lehrer mit Schülern umzugehen. Auf Grund jener Listen im Nachlass Mowinckels, in die sich seine Hörer eingetragen haben (vgl. Einl., 2), lässt sich diese Ubersicht über seine Unterrichtsveranstaltungen aufstellen: Alttestamentliches Proseminar: 1917, 1919, 1923, 1927 Einleitung in das AT: 1949, 1950 Alttestamentliche Einleitungsfragen: 1951 Alttestamentliche Literaturgeschichte: 1950 Hauptbegriffe im AT: 1956 Kursorische Pensumtexte: 1937 Das exegetische Pensum: 1945 Übungskurs: 1926, 1937, 1947, 1953 Seminar: 1928 Religion und Kultus: 1949-50 Die Religionen im Alten Vorderen Orient: 1953 Israel: 1921 Palästina: Land und Naturverhältnisse: 1953 Geschichte Israels: 1923, 1939 Israels Ursprung und älteste Geschichte: 1965 Einwanderung und Landnahme Israels: 1954 (Kopenhagen) 46
Brief vom 21.6.1929 (Sir F.G. Kenyon, Secretary).
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Einwanderung Israels: 1956 Religionsgeschichte Israels: 1930 Seminar über „Israels Religion" (Lindblom): 1953 Israelitisch-jüdische Literaturgeschichte: 1934, 1960 Hebräische Metrik: 1930 Einleitung zum Pentateuch: 1935 Genesis: 1935-36, 1941, 1946, 1947-48, 1950, 1957-58 Exodus: 1936, 1951, 1958 Exodus 19-20: 1940, 1944, 1950 Der Dekalog: 1937 Die Ketubim: 1927 H i o b und Sprüche Salomonis: 1958 Die Psalmen: 1918-19, 1921-22, 1925, 1926, 1929, 1934-35, 1938, 1941-42, 1946-47, 1952-53, 1956, 1957, 1959 Die Die Die Der Der
Propheten: 1931 Verkündigung der Propheten: 1943 Prophetie von Jesaja bis Jeremia: 1925 Prophetismus in Israel und im Judentum: 1935 Prophet Jesaja: 1937-38, 1942-43, 1950-51, 1955
Jesaja 6 - 1 2 : 1925, 1951 Jesaja 2 8 - 3 2 : 1933 Deuterojesaja: 1920, 1924, 1928, 1952 Der Prophet Jeremia: 1925 Das Zwölfprophetenbuch: 1927 Der Prophet bzw. das Buch Arnos: 1927, 1931, 1934, 1939 Examinatorien über Arnos: 1940 Der Prophet bzw. das Buch Micha: 1931, 1933, 1936 Die Z u k u n f t s e r w a r t u n g der Propheten: 1933 Die Messiaserwartung: 1952 Die Messiasvorstellungen: 1943 Die Messiasvorstellungen zur Zeit Jesu: 1944 Die Messiasvorstellungen im AT und zur Zeit Jesu: 1947 Vorlesungen über den ,Menschensohn': 1948 Ü b u n g e n zu „ H a n som k o m m e r " (= ,He that C o m e t h ' ) : 1951
Wie diese thematisch geordnete Ubersicht zeigt, liegt das Schwergewicht von Mowinckels Vorlesungen — wie seiner eigenen Forschung — auf den Psalmen und den Prophetenbüchern. Unter den Propheten wiederum treten Jesaja und Arnos am häufigsten auf. Das dürfte mit dem Studienplan der Fakultät zusammenhängen; dagegen spiegeln die mehrmals wiederholten Vorlesungen über die Messiaserwartungen bzw. -Vorstellungen deutlicher M o winckels aktuelle Forschungsinteressen wider.
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M i t seiner Emeritierung hörte Mowinckels Lehrtätigkeit keineswegs auf; die nächsten 5—6 Jahre, bis 1960, half er seiner alten Fakultät regelmäßig durch verschiedene Vorlesungsangebote aus. In seinem letzten L e bensjahr — im Frühjahr 1965 — stand er mit 80 Jahren nochmals vor den Studenten. Unter dem Titel „Israels Ursprung und älteste Geschichte" führte er sie in den Stoff ein, an dem er damals mit Blick auf ein neues Buch arbeitete. Als er im S o m m e r 1965 starb, war eine weitere Vorlesung zum selben T h e m a schon geplant. Z u m Glück war es aber Mowinckel gelungen, das Buch fertig zu schreiben, so dass es zwei Jahre nach seinem Tod (1967) erscheinen konnte. 4 7 b) Anlässlich des Mowinckel-Symposiums an der Universität Oslo im September 1984 hat Professor Johan B . Hygen einige persönliche Erinnerungen an seinen Lehrer und späteren Kollegen vermittelt. Mowinckel hielt — das war Hygens Eindruck — sehr gerne seine Vorlesungen und fühlte sich auf dem Rednerpult zu Hause. Hier kamen seine Gelehrsamkeit, seine Kreativität und seine Beredsamkeit besonders zur Geltung. Die Vorlesungen waren gründlich vorbereitet, klar disponiert und pädagogisch geordnet, was allerdings nicht heißt, dass Mowinckel gemeint hätte, in Stoffauswahl und Darstellungsform auf nur durchschnittlich oder gar weniger begabte Studenten besondere Rücksicht nehmen zu müssen. Man musste schon aufmerksam zuhören und schnell notieren, wollte man nicht den Faden verlieren. Z u m Glück nahm sich aber der Redner gelegentlich auch die Freiheit, sein M a nuskript für eine Weile zu verlassen: 48 At best I believe M o w i n c k e l was w h e n he spoke without a manuscript, or w h e n he t o o k free excursions f r o m the manuscript. W h e n he lectured from a manuscript, there were quite often a long series o f references to scriptural passages at such speed that the p o o r students thought themselves fortunate i f they were able to put d o w n h a l f o f t h e m , no matter h o w quickly they could render an account o f what happened. W h e n , however, he left his manuscript, the words c a m e spontaneously alive. It seemed as i f the ideas were b o r n at that very m o m e n t at the lectern. Probably they also were occasionally. It could even be that they died there, hit by the lecturer's o w n incorruptible criticism. At least I do r e m e m b e r that he o n c e started his lecture with the following words: „Forget everything I said the last time."
Natürlich ist es immer und überall so, dass jeder Student sein eigenes Verhältnis zu den Lehrern hat und sein eigenes Bild von ihnen zeichnet. Unter den rund 30 persönlichen Zeugnissen, die mir Studenten von Mowinckel aus ihrer Erinnerung schriftlich vermittelten, finden sich darum auch Auffassungen und Wertungen, die in gewissen Punkten auseinandergehen oder 47
Mow. 1967a, mit einem Geleitwort seines Nachfolgers, Prof. Arvid Kapelrud.
48
HYGEN 1 9 8 8 : 2 .
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sich gar zu widersprechen scheinen. Etliche Studenten haben ihn als einen glänzenden Redner gelobt, andere fanden ihn in dieser Rolle weniger anregend; mancher Student, dem seine Vorlesungen zu inhaltsschwer vorkamen, zog sich wohl allmählich davon zurück, während andere, wie Hygen, hier zu erkennen vermochten, wie der historische Stoff wirklich „in religiös inspirierende Gegenwart" umgeformt wurde. 49 Ebenfalls konnten jene Studenten, die es mit Mowinckel als Prüfer zu tun bekamen, Unterschiedliches von ihm berichten. Da er unter Leuten, die ihn nicht persönlich kannten, gemeinhin als ein bisschen arrogant galt, war er bestimmt nicht der erste, dem die Studenten in der Prüfung begegnen wollten. Ein paar Beispiele seiner gefürchteten Ironie — allerdings eher anekdotischer Natur — gibt Hygen wieder. 50 Es gibt aber auch Studenten, die dankbar an ihre Examenserfahrungen mit Mowinckel zurückdenken: er habe sie menschlich, verständnisvoll und wohlwollend behandelt, ja durch geschickte Fragen sogar dazu beigetragen, dass sie besser abschnitten, als sie es ihrer eigenen Meinung nach eigentlich verdient hätten. Trotz solcher Nuancen hinterlassen die vielen Berichte dennoch insgesamt ein Bild, das in den Hauptzügen mit dem von Hygen übereinstimmt. Von der Gründlichkeit seiner Vorlesungen ist öfters die Rede, ebenfalls von dem ruhigen, fast monotonen Stil seines Vortrags. Ein Detail, das auch mehrmals auftaucht, ist die besondere Art und Weise, wie er bei seinen gelegentlichen Exkursen vom Manuskript die Brille in der einen Hand gehalten und zum Fenster hinausgeschaut habe. Auf direkten Blickkontakt mit seinen Hörern hat er offensichtlich weder vor noch während der Vorlesung besonderen Wert gelegt. Auch so blieb der Abstand zwischen Student und Professor erhalten. Auch außerhalb des Auditoriums haben wohl nur die wenigsten Studenten den Mut gehabt, diesen Abstand durch irgend welche Kontaktversuche zu überbrücken. Abgesehen von geselligen Zusammenkünften oder gelegentlichen Ausflügen der gesamten Fakultät, wo auch Mowinckel etwas freier und ungezwungener mit den Studenten umgehen konnte, blieb er den meisten von ihnen der ferne, weltberühmte Forscher, vor dem sie den größten Respekt hatten; denn auch solche Studenten, die nicht allzu viel von seinen Vorlesungen hatten, wussten von der Rolle, die er in der internationalen Theologie spielte. Und jenen wenigen Studenten, die im Laufe ihres Studiums ein Semester oder zwei an einer ausländischen Universität verbringen durften, war es natürlich eine ganz besondere Freude, wenn sie stolz erzählen konnten, dass sie unter dem Katheder jenes Alttestamentiers gesessen hatten, der überall von sich hören ließ. 49 5(1
Ebd. 3. Ebd. 4
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In Mowinckels norwegischer Heimat haftete aber lange ein etwas zweifelhafter R u h m an seinem Namen: Als liberaler Theologe war er nicht nur den Studenten an der Gemeindefakultät suspekt; auch einigen seiner eigenen Studenten fiel es mitunter schwer, sich mit seinem historisch-kritischen U m gang mit den biblischen Texten und Personen abzufinden. Wo blieb denn hier der erforderliche R a u m für die Perspektive des christlichen Glaubens, an der sich in ihrem künftigen kirchlichen Dienst ihre Verkündigung doch wohl würde orientieren müssen? Gelegentlich haben vermutlich religiöse Vorbehalte dieser Art Studenten davon abgehalten, Mowinckels Vorlesungen zu besuchen. Es berichten aber zwei Studenten 51 auch, wie sie sich als Sprecher einer besorgten Gruppe in die Höhle des Löwen gewagt hätten, um ihm ihr Problem offen vorzulegen. Er habe ihnen ruhig — jedoch offenbar nicht ungerührt — zugehört und sie dann mit der Antwort zurückgeschickt, dass er keine andere Lösung sehe als die, die er 1938 in seinem Buch „Det gamle testament som Guds ord" dargelegt hatte (vgl. Kap. 7.3.d und ll.l.b). Auf diese beiden Gesandten der skeptischen Studenten wirkte Mowinckels Antwort offenbar beruhigend; sie — und andere mit ihnen — fanden in diesem Buch eine theologische Betrachtung des Alten Testaments, die ihnen die erwünschte Verbindung von Glaube und Wissenschaft ermöglichte und ihnen damit einen Weg aus den Glaubensschwierigkeiten wies, in die sie die Begegnung mit der historischen Kritik geführt hatte. So schließt ein solcher Student seine Erinnerungen an Mowinckel ab, einer, der ehrlich bekennt, dass er, vom Glauben an seine unfehlbare Bibel beseelt, die Vorlesungen Mowinckels mit Angst und Sorge besucht habe: „Die unfehlbare Bibel nahm er mir; dafür gab er mir aber eine Bibel, die lebte, ein spannendes Buch, ein Buch, das die Offenbarung Gottes in einer sehr menschlichen Gestalt enthielt." 52 Und ein anderer Student 53 drückte — stellvertretend für viele Kommilitonen — seine Dankbarkeit für das, was ihnen Mowinckel durch seine Vorlesungen gegeben hatte, in folgenden Worten aus: „Du hast uns das Alte Testament zurückgegeben — es in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang gesetzt, so dass wir uns dazu bekennen und daraufbauen können." c) Ein langes Berufsleben war Mowinckel als Lehrer für das Alte Testament an der Universität Oslo tätig. Von den vielen Studenten, die in diesem Zeitraum unter seinem Katheder saßen, waren natürlich auch welche, die wissenschaftlich interessiert waren oder gar eine akademische Laufbahn anstrebten. So fragt man sich unwillkürlich, wie es zu erklären ist, dass ein so produktiver und profilierter Professor wie Mowinckel, der seiner Universi51 Ove Hestvold, Brief vom 12.5.1997; Georg Hille, Briefe vom 26.4.1997 und 23.5.1997. 52 Kyrre Kristen Bremer, Brief vom 30.6.1997. 53 Olav Tysnes, zum 75. Geburtstag Mowinckels (4.8.1959).
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als akademischer
Lehrer
tat sonst so viel gebracht hat, letzten Endes ohne akademischen Nachwuchs geblieben ist? Warum hat die theologische Fakultät während seiner ganzen Amtszeit nur einen einzigen Doktorgrad auf dem Feld des Alten Testaments hervorgebracht? 54 Und warum musste Mowinckels Nachfolger, Arvid S. Kapelrud, 55 ausgerechnet nach Uppsala ausweichen, um seinen Doktortitel dort zu erwerben, wo in der damaligen skandinavischen Theologie die ärgsten Gegner Mowinckels zu Hause waren? 56 Wie die Frage nach Mowinckels Festhalten an seiner Heimatuniversität kann auch diese Fragen heute niemand mehr mit Sicherheit beantworten. Hat ihn die eigene Forschung in einem solchen Maße beschäftigt, dass eine planmäßige Förderung junger Talente ganz außerhalb seines Gesichtskreises lag? Ist er möglichen Doktoranden so kritisch und abweisend begegnet, dass er ihnen den Appetit auf ein Studium unter seiner Leitung verdorben hat? Oder war es ganz einfach seine überlegene Meisterschaft und fachliche Autorität, die ihnen den Eintritt ins alttestamentliche Forschungsfeld versperrte? Man könnte ja als Student leicht den Eindruck gewinnen, dass alle wichtigen Fragen hier schon beantwortet wären und folglich gar nichts mehr zu erforschen wäre. Sicher schließen sich diese Antworten nicht gegenseitig aus, und alle treffen vermutlich ein Stück weit die Wahrheit. Denn nicht nur Kapelrud scheint als Stipendiat seine Schwierigkeiten mit Mowinckel gehabt zu haben; 57 vor ihm hatten sowohl Herman Ludin Jansen 58 als auch Ragnar Leivestad 59 das 54 Harris Birkeland, 1933 (vgl. unten Anm. 61). Außerdem disputierten zwei Kandidaten aus der Theologischen Gemeindefakultät, Ivar P. Seierstad (1946) und Sverre Aalen (1951), in diesem Zeitraum über alttestamentliche Themen. 55 Arvid S. Kapelrud (1912-1994), Cand.theol. 1938, Dr.theol. 1948 (Joel Studies); 1952 Dozent, 1954 Professor für das Alte Testament; vgl. sonst BARSTAD 2002. 56 Vgl. Kap. 10.1 (c+d) und 10.2 (b+c) über Mowinckels Verhältnis zur sogenannten „Uppsala-Schule". 57 In einer Gedenkrede auf Kapelrud in der Norwegischen Akademie der Wissenschaften (25.9.1995) berührt Hans Magnus Barstad (BARSTAD 1995: 270) auch diese Schwierigkeiten und lässt es hier durchschimmern, dass im Fall Kapelrud sowohl die zweite als auch die dritte Antwortalternative in Betracht zu ziehen wären. 58 H e r m a n Ludin Jansen (1905-1981), Cand.theol. 1933, Dr.theol. 1940 (Die H e nochgestalt); 1946: Dozent f ü r atl. Theologie; 1952: Professor für ntl. Theologie; 1953: Professor f ü r allgemeine Religionsgeschichte; vgl. sonst H J E L D E 2002a. - Immerhin hat Ludin Jansen seine Doktorarbeit (Jansen 1939) Mowinckel gewidmet und im Vorwort diesem „genialen Forscher" f ü r Inspiration und E r m u n t e r u n g gedankt. Seine schon 1937 erschienene Arbeit über die „spätjüdische" Psalmendichtung hat Ludin Jansen dagegen seinem „verehrten Lehrer" Anton Fridrichsen in Uppsala gewidmet, dankt aber im Vorwort ebenfalls Mowinckel, der „Jahre h i n d u r c h " seine Studien geleitet habe. 59 Ragnar Leivestad (1916-2002), Cand.theol. 1940, Dr.theol. 1954 (Christ the Conqueror. Ideas of victory and conflict in the N e w Testament), hatte schon 1946 eine kürzere alttestamentliche Abhandlung publiziert (Guds straffende rettferdighet) und
2. Mowinckel und seine Schüler
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Alte Testament zu Gunsten eines inter- bzw. neutestamentlichen Themas verlassen. So bleibt eigentlich nur ein Kandidat zurück, der so weit den Spuren Mowinckels folgte, dass man ihn mit einigem R e c h t als seinen Schüler bezeichnen könnte: Harris Birkeland (1904—1961). 60 Indessen war auch dies eine Lehrer/Schüler-Beziehung, die von komplizierenden Faktoren gestört wurde. Schon früh hatte sich Birkeland durch eine außergewöhnliche intellektuelle Begabung bemerkbar gemacht; als j u n g e r Gymnasiast war er gleichzeitig als Volksschullehrer in seiner westnorwegischen Heimatgemeinde Vikebygd tätig. Nach Abschluss des theologischen Studiums (1929) hatte er drei Jahre lang ein Universitätsstipendium und reichte 1933 — so weit noch ein echter Mowinckel-Schüler — gleich zwei Abhandlungen über T h e m e n aus der alttestamentlichen Psalmenforschung ein, von denen ihm die eine 6 1 den Doktorgrad einbrachte, allerdings nicht den theologischen, sondern den philosophischen. Im selben J a h r wurde er dennoch Dozent der T h e o logie auf dem Feld des Alten Testaments, eine Stelle, die er 1946 zu Gunsten einer Dozentur (1948 in eine Professur umgewandelt) für semitische Philologie verließ. Zwei Faktoren, ein positiver und ein negativer, mögen Birkelands U b e r gang von der theologischen in die philosophische Fakultät motiviert haben. Als Alttestamentler zeigte er eine weit stärkere linguistische Orientierung und Begabung als sein Lehrer; ein Zeugnis davon ist j e n e hebräische Syn-
wollte sich ursprünglich a u f diesem Felde weiter qualifizieren; 1961 Universitätsdozent, 1966 Professor für ntl. T h e o l o g i e . 6,1 Ü b e r Birkeland: KAPELRUD 1 9 6 2 , MEJDELL 1999. U n t e r den Schülern M o winckels aus den 1 9 2 0 e r J a h r e n wäre auch Albert B r o c k - U t n e zu nennen. Als Lösung einer von der theologischen Fakultät aufgestellten Preisaufgabe (Eine Diskussion des Problems der Feinde in den individuellen Klagepsalmen unter Berücksichtigung der neuesten religionsgeschichtlichen Untersuchungen) reichte er 1 9 2 9 eine Arbeit erfolgreich ein, in der er in der Hauptsache a u f der von M o w i n c k e l gelegten Grundlage (vgl. A n m . 61 unten) weiterbaute (so BIRKELAND 1933b: 16). Indessen hat B r o c k - U t n e bald nach seinem Staatsexamen die T h e o l o g i e verlassen, u m sich als Stipendiat unter W i l helm Schencke, dem Professor für allgemeine Religionsgeschichte, auf dem Feld der „primitiven" R e l i g i o n zu spezialisieren. 6 1 BIRKELAND 1933b (Die Feinde des Individuums in der israelitischen Psalmenliteratur), seinem „verehrten Lehrer Sigmund M o w i n c k e l " gewidmet. W i e in BIRKELAND 1933a (