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German Pages [408] Year 2016
Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 91 Jörn Leonhard, Willibald Steinmetz (Hg.) Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven
Jörn Leonhard, Willibald Steinmetz (Hg.)
Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar.
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Inhalt
Einführung
Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ‚Arbeit‘ . . . . . . . . .
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Arbeitsbegriffe und Arbeitswelten: Annäherungen aus historischsemantischer, sozialgeschichtlicher und ethnographischer Sicht
Ludolf Kuchenbuch Dienen als Werken. Eine arbeitssemantische Untersuchung der Regel Benedikts . . . . . . . . . . . . . . .
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Josef Ehmer Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts . . . .
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Sven Korzilius Arbeit und Status in den iberischen Königreichen und ihren amerikanischen Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Gerd Spittler Arbeit zur Sprache bringen – ethnographische Annäherungen . . . . . . . . . . . . 147 Laura Levine Frader Gender, Ethno-racial Difference, and the ‘Languages of Labor’ in 20th Century France . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Reinhard Schulze Arbeit als Problem der arabischen Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Julia Seibert Kazi. Konzepte, Praktiken und Semantiken von Lohnarbeit im kolonialen Kongo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sigrid Wadauer Immer nur Arbeit? Überlegungen zur Historisierung von Arbeit und Lebensunterhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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Inhalt
Definitionskämpfe um Arbeit und Nicht-Arbeit in der industriellen und postindustriellen Welt
Thomas Welskopp Von „Geldsäcken“ und „Couponabschneidern“. Sozialdemokratische Semantiken der Nicht-Arbeit zwischen der Revolution von 1848 und den 1890er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Bénédicte Zimmermann Semantiken der Nicht-Arbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. ‚Arbeitslosigkeit‘ und ‚chômage‘ im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Kiran Klaus Patel Arbeit als Dienst am Ganzen. Nationalsozialismus und New Deal im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Shingo Shimada Arbeitsbegriffe in der japanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . 309 Jörg Neuheiser Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Dietmar Süß Autonomie und Ausbeutung. Semantiken von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Alternativbewegung der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Ulrich Bröckling Vermarktlichung, Entgrenzung, Subjektivierung. Die Arbeit des unternehmerischen Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Kommentar
Thomas Sokoll Alteuropäisches Erbe, moderne Ausprägung und postmoderne Verwerfungen im Arbeitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz
Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ‚Arbeit‘
Fragt man, wer wir seien oder wie wir gesehen werden möchten, antworten wir häufig mit einer Berufs- oder Tätigkeitsangabe; „[…] wir definieren uns und andere durch Arbeit. Durch die Art und Menge unserer Arbeit“. ‚Arbeit‘ ist daher ein „Schlüsselwort“ unserer Gesellschaft, so der Linguist Fritz Hermanns.1 Jedenfalls in der modernen Welt ist es so, und das gilt nicht nur für die fortgeschrittenen westlichen und asiatischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, sondern auch für die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer. Aber welche Wörter bilden in den gesprochenen und alten Sprachen der Welt überhaupt das Sinnfeld, das im heutigen Deutsch durch den Kollektivsingular ‚Arbeit‘, im Französischen durch travail, im Italienischen durch lavoro, im Englischen durch zwei konkurrierende Wörter – work und labour – beherrscht wird?2 Schon das englische Beispiel weist auf die Schwierigkeit hin, Äquivalenz des Gebrauchs und Synonymität der Bedeutungen zwischen den Sprachen – in ihren gegenwärtigen und historischen Stadien – für unser Schlüsselwort ‚Arbeit‘ ohne weiteres vorauszusetzen. Sieht man näher hin, differenziert sich das Vokabular, mit dem man es zu tun hat, in allen Sprachen breit aus. Nehmen wir nur das heutige Deutsch und beschränken uns auf die Substantive, dann stoßen wir auf eine Fülle von Wörtern: Man hat eine ‚Beschäftigung‘, einen ‚Beruf ‘, einen ‚Job‘, eine ‚Anstellung‘, eine ‚Aufgabe‘; man tut ‚Dienst‘, legt ‚Engagement‘ an den Tag, versieht ein ‚Amt‘, übt eine ‚Tätigkeit‘ aus, man geht ‚auf Maloche‘, ins ‚Geschäft‘ oder in die ‚Praxis‘; man empfindet dies als ‚Mühe‘, ‚Plackerei‘, ‚Einsatz‘, ‚Anstrengung‘; und all diese Aktivitäten ebenso wie ihre Resultate werden gewürdigt als ‚Werk‘, ‚Schaffen‘, ‚Erwerb‘, ‚Leistung‘, ‚Selbst1
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Fritz Hermanns: Arbeit. Zur historischen Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes (1993). In: ders.: Der Sitz der Sprache im Leben. Beiträge zu einer kulturanalytischen Linguistik, hg. von Heidrun Kämper, Angelika Linke, Martin Wengeler. Berlin/Boston 2012. S. 277–293, hier: S. 278. Mit sensiblem Gespür für die Bedeutungsdifferenz: Raymond Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. 3. Aufl. London 1983. S. 176–179, 334–337. Vgl. auch: Bénédicte Zimmermann: Art. Travail, Labor/Work, Arbeit. In: Dictionnaire des concepts nomades en sciences sociales, hg. von Olivier Christin. Paris 2010. S. 397– 406.
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verwirklichung‘ oder gesellschaftliche ‚Produktion‘. Keines dieser Substantive deckt den gesamten Bedeutungsumfang des Worts ‚Arbeit‘ ab, doch sie alle gehören in seinen Sinnbezirk. Andere Sprachen weisen ein eher noch reicheres, weniger scharf um ein zentrales Wort kreisendes Arbeitsvokabular als das Deutsche auf.3 Aber was genau bedeuten all diese Wörter? Wie grenzen sich ihre Bedeutungen voneinander ab? Und wie verhalten sie sich zueinander, wenn Bedeutung – wie im vorliegenden Band – im doppelten Sinne verstanden werden soll: als Referenz auf Sachverhalte und Vorstellungen einerseits (semantische Dimension), als folgenreiche Verwendung im Kommunikationsfluss andererseits (pragmatische Dimension)? Wenn es um den Arbeitsbegriff geht, ist auch nach dem Gegenteil von Arbeit zu fragen. Wo und wie, mit welchen sozialen Folgen werden im Sprachgebrauch jeweils die Grenzen zwischen Arbeit und verschiedenen Formen von Nicht-Arbeit wie ‚Muße‘, ‚Freizeit‘, ‚Ruhe‘, ‚Faulenzerei‘, ‚Urlaub‘, ‚Feierabend‘, ‚Pause‘, ‚Spiel‘, ‚Genuss‘, ‚Flanerie‘, ‚Rentnertum‘ oder ‚Arbeitslosigkeit‘ gezogen? Auch diese Kehrseite der Arbeit fächert sich in allen Sprachen bei näherem Hinsehen in ein breites semantisches Feld aus, dessen äußere und innere Grenzen alles andere als scharf bestimmt sind. Davon, von den Bedeutungen und dem Bedeutungswandel der Vokabularien, die zusammen das Sinnfeld dessen konstituieren, was wir heute Arbeit nennen, handelt dieser Band. Die umständliche Formulierung deutet bereits auf ein Problem hin, dem sich eine historische Semantik von Arbeit in diachroner und vergleichender Perspektive stellen muss: Mit welchem Recht kann man davon ausgehen, dass ein abstrakter, unzählige Tätigkeitsformen und -felder einschließender Arbeitsbegriff, wie er uns geläufig ist, als eine Universalie behandelt werden kann? Mehrere Beiträge dieses Bandes weisen explizit darauf hin, dass diese Annahme weder für die älteren Epochen der europäischen Geschichte noch für nicht-europäische Länder und Regionen ohne weiteres zulässig ist.4 Es stellt sich damit ein Dilemma, mit dem sich jede Begriffsgeschichte auseinandersetzen muss: Wir kommen nicht umhin, bei einem eigenen Vorverständnis, in unserem Fall von ‚Arbeit‘, zu beginnen. Ohne einen vorgängigen Begriff als Aus3
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Vgl. die Wortfeldanalysen für das Deutsche, Französische und Englische bei: Meta Krupp: Wortfeld „Arbeit“. In: Johann Knobloch u. a. (Hg.): Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Bd. II/I: Kurzmonographien. Wörter im geistigen und sozialen Raum. München 1964. S. 258–286; Hartmut Graach: Labour und Work. In: ebd. S. 287–316. Weitere Belege in: Pascal David/John McCumber: Art. Travail/Labor, Work/Arbeit. In: Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, hg. von Barbara Cassin. Paris 2004. S. 1320– 1321. Vgl. insbesondere die Beiträge von Sigrid Wadauer (S. 225–245), Josef Ehmer (S. 93–113), Reinhard Schulze (S. 191–208) sowie den Kommentar von Thomas Sokoll (S. 393–409) in diesem Band.
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gangs- und Angelpunkt für vergleichende Beobachtungen zum vergangenen oder fremdsprachlichen Wortgebrauch lässt sich keine Begriffsgeschichte schreiben. Dieser Ausgangspunkt kann ein nicht näher problematisiertes Alltagsverständnis sein. Besser aber wäre ein davon abstrahierender Definitionsversuch. ‚Arbeit‘ als Oberbegriff für alles Handeln, das in irgendeiner Weise dem Unterhalt dient (dem eigenen wie dem der anderen), so Ludolf Kuchenbuchs Basisdefinition für seinen Aufsatz im vorliegenden Band;5 ‚Arbeit‘ als Sammelbezeichnung für jede absichtsvolle Hervorbringung von Gütern oder Diensten, so Marcel van der Lindens Vorschlag für das umfassende Projekt zur Globalgeschichte von Arbeit am International Institute of Social History in Amsterdam:6 Das sind gute Beispiele für hinreichend abstrakte Vorab-Definitionen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie gerade nicht allzu voraussetzungsreich sind. So entgehen sie der Gefahr, zu viele epochen- oder kulturspezifische Merkmale in sich aufzunehmen. Ganz frei davon, so könnte man argumentieren, sind auch sie nicht. Wie immer eine Vorab-Definition ausfällt, keinesfalls darf sie dazu (ver)führen, die Existenz eines unserem jeweiligen Vorverständnis entsprechenden Begriffs, hier des abstrakten Arbeitsbegriffs, für alle Zeiten und Räume zu unterstellen. Vielmehr dient ein derart vorgefasster Begriff vor allem heuristischen Zwecken. Er steckt ein Suchfeld ab, dessen historisch variable Aus- und Umgestaltungen im Sprachgebrauch dann auszuleuchten und, soweit möglich, zu erklären sind. Bei einem Sammelband wie dem vorliegenden, dessen Beiträge sich auf die Zeit vom europäischen Frühmittelalter bis zur Gegenwart erstrecken und neben Westeuropa mehrere andere Weltregionen punktuell erfassen, erschien es den Herausgebern gleichwohl nicht ratsam, allen Autorinnen und Autoren eine verbindliche Rahmendefinition vorzugeben. Die Aufgabe, zwischen dem eigenen, westlich-modernen Vorverständnis und den häufig ganz anders strukturierten semantischen Feldern der jeweils betrachten Sprach- und Zeiträume zu vermitteln, ist vielmehr ein Bestandteil der in den Einzelbeiträgen präsentierten empirischen Arbeit. Die historisch-semantischen Studien dieses Bandes leisten damit gewissermaßen Übersetzungsarbeit. Sie praktizieren, und verlangen von den Leserinnen und Lesern, ein ständiges Hin- und Hergehen in der Zeit und im Raum: aus vergangenen Zuständen uns vertrauter Sprachen in die gegenwärtige Begriffswelt und zurück; ebenso aus fremden Sprachen in die eigene und zurück. Übersetzungsversuche von Lexikographen, Missionaren, Ethnologen und anderen Vermittlerfiguren können dabei eine wichtige, jedoch keineswegs immer 5 6
Vgl. Ludolf Kuchenbuch in diesem Band. S. 64. Marcel van der Linden: Studying Attitudes to Work Worldwide, 1500–1650: Concepts, Sources, and Problems of Interpretation. In: Karin Hofmeester/Christine MollMurata (Hg.): The Joy and Pain of Work. Global Attitudes and Valuations, 1500–1650 (International Review of Social History, Special Issue 19). Cambridge 2011. S. 25–43, hier: S. 27: “Work is the purposive production of useful objects or services.”
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verlässliche Orientierungshilfe sein. Übersetzungs- und Transfergeschichten ergänzen, ersetzen aber nicht eine von zeitgenössischen Wissenshorizonten sich lösende, vergleichende historische Semantik, wie sie hier angeregt wird.
1 Ausgangspunkte: Meistererzählungen zum Arbeitsbegriff Über Arbeitsbegriffe in der westlich-europäischen Geschichte ist viel geschrieben worden. Oft handelt es sich allerdings vor allem um Geschichten sich verschiebender Bewertungen von Arbeit, die den Aspekt der sich wandelnden Bezeichnungen außer Acht lassen – als ob die Wörter gleichgültig für den jeweiligen Begriff von Arbeitsverhältnissen, Arbeitsformen und Arbeiterexistenzen gewesen wären.7 Es gibt jedoch durchaus eine Reihe von Groß- oder Teilerzählungen zu den Begriffen von ‚Arbeit‘, die sich zumindest um eine historisch-semantische Komponente bemühen, also den diachron, zwischensprachlich und situativ variierenden Wortgebrauch als relevant für die Begriffsbildung in den jeweiligen Zeit- und Kulturräumen einstufen. Von diesen bisher vorliegenden begriffsgeschichtlichen Groß- und Teilerzählungen zur ‚Arbeit‘ wollen wir, ohne Einzelheiten berücksichtigen zu können, ausgehen. 1.1 Aufwertung und Überhöhung von ‚Arbeit‘
Im deutschen Sprachraum pflegt man als Begriffshistoriker/in zuerst in das Sammelwerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ zu schauen. Werner Conzes dort erschienener Artikel „Arbeit“ reicht von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert, legt aber – der Konzeption des Lexikons entsprechend – den Schwerpunkt auf die ‚Sattelzeit‘, also die Jahrzehnte zwischen 1750 und 1850. Wie die meisten anderen Überblicksdarstellungen steht Conzes begriffsgeschichtliche Erzählung unter dem Leitmotiv der allmählichen, seit der Reformation immer deutlicher hervortretenden Aufwertung angestrengter (körperlicher) Arbeit.8 Die für die Antike kennzeichnende Assoziation mühevoller Arbeit (gr. ponos, lat. labor) mit niedrigem sozialem Status sei, so Conze, 7 8
Dieser Mangel ist sehr deutlich bei Herbert Applebaum: The Concept of Work: Ancient, Medieval, and Modern. Albany NY 1992. Werner Conze: Art. Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck: Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 154–215. Vgl. daneben auch die das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert mehr als Conze berücksichtigende ältere Arbeit von Adriano Tilgher: Storia del concetto di lavoro nella civiltà occidentale (homo faber) (1929). Mit einem Vorw. von Angelo Varni. Bologna 1983 (engl. Ausgabe: Work. What it has Meant to Men through the Ages. New York 1931); sowie als neueres Bei-
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auch im christlichen Mittelalter präsent geblieben, jedoch seien namentlich in den Klöstern und spätmittelalterlichen Städten bereits Tendenzen der Aufwertung zu finden. Die aktuelle Mittelalterforschung widerspricht dieser Deutung im Grundsatz nicht, zeichnet aber ein differenzierteres Bild. So wird in einem neueren Band zum Thema davor gewarnt, aus einzelnen Quellenfunden generelle Aussagen zu dem Arbeitsbegriff in größeren sozialen Formationen des Mittelalters abzuleiten,9 und Einzelstudien belegen, dass es beispielsweise in den verschiedenen Ordensgemeinschaften des Hoch- und Spätmittelalters von den Reformbenediktinern über die Zisterzienser bis zu den Bettelorden sehr differenzierte Vorstellungen von Arbeitsteilung verbunden mit Ausweitungen des ursprünglich nur auf körperliche Arbeit anwendbaren Begriffs labor auf Seelsorge- und Geistestätigkeiten, daneben aber auch partielle Aushöhlungen des im Mönchtum geltenden Arbeitsgebots gab.10 Je näher man also die Linse an einzelne „Situationen des Wortgebrauchs“11 heranführt, desto mehr scheint sich die Großerzählung der Aufwertung von (körperlicher) Arbeit schon für die älteren Epochen der europäischen Geschichte aufzulösen in sich wiederholende Teilepisoden von Auf- und Abwertung, allgemeinem Arbeitspostulat und Widerspruch dagegen. In den Jahrhunderten zwischen Reformation und Revolution verschärfte sich die Spannung zwischen Auf- und Abwertung. Einerseits trifft es zweifellos zu, dass – wie Conze mit vielen anderen festhält – die harte Arbeit durch Luther höher gewertet wurde, sofern sie nur gläubig dienend und nicht im katholischen Sinne der ‚guten Werke‘ verrichtet wurde, weiterhin: dass sich bei Calvin und mehr noch im englischen Puritanismus der weltliche Erfolg der Arbeit mit dem Erwählungsglauben verknüpfte, schließlich dass alle Reformatoren sich einig waren, wenn es galt, die angeblich nichtsnutzigen Mönche, die Faulen und Bettler zu verurteilen, also den „Faulteuffel“ auszurotten, wie es in einer nachreformatorischen Schrift hieß.12 Andespiel die bis in die jüngste Gegenwart reichende Studie von Sharon Beder: Selling the Work Ethic. From Puritan Pulpit to Corporate PR. London/New York 2000. 9 Hans-Werner Goetz: „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft. In: Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten. Berlin 2006. S. 21–33, hier: S. 28 f. u. 32. 10 Klaus Schreiner: „Brot der Mühsal“ – Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis. In: Postel (Hg.): Arbeit (wie Anm. 9). S. 133–170. 11 Wir übernehmen diese Formulierung (und die damit gemeinte Konzeption historischer Semantik) von Ludolf Kuchenbuch. Vgl. Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hg.), „Textus“ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Göttingen 2006. 12 Joachim Westphal: Faulteuffel. Wider das Laster des Müssigganges (1569). Zit. nach: Eckart Pankoke: Die Arbeitsfrage. Arbeitsmoral, Beschäftigungskrisen und Wohlfahrtspolitik im Industriezeitalter. Frankfurt a. M. 1990. S. 26 u. 284 f. Vgl. zu dieser
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rerseits sollte man nicht übersehen, dass sich – wie Lucien Febvre in seiner Skizze zum Arbeitsbegriff (1948) schreibt – neben aller „glorification du travail“ durch die Reformatoren auch ein desto kräftiger ausgesprochener „mépris des artisans, des ouvriers, des mécaniques“ bei etlichen Aristokraten und Gebildeten zeigte, der bei manchen von ihnen noch bis ins 19. Jahrhundert anzutreffen war.13 So verstummten selbst im 19. Jahrhundert nicht die Gegenstimmen gegen die nunmehr eindeutig dominierende Hochschätzung der Arbeit. Zwar war das 19. Jahrhundert laut Adriano Tilgher das ‚goldene Zeitalter‘ des Arbeitsbegriffs, in dem dieser an die Spitze der Moralbegriffe und damit zum Schlüsselbegriff einer Gesamtsicht der Welt und des Lebens aufrückte.14 Doch war insbesondere das späte 19. Jahrhundert nicht arm an Stimmen, die – wie Friedrich Nietzsche – im Namen der „Kunst“, der „Achtung vor den Wissenden“ und der für die „empfindsamen Geister“ nötigen „Langeweile“ gegen das unermüdliche „Reden vom ‚Segen der Arbeit‘“ protestierten.15 Andere kritisierten den viktorianischen „gospel of work“ vor allem als Ideologie derer, die in ihrer „comfortable idleness“ ungestört bleiben und weiter von der „labour of others“ leben wollten – so Bertrand Russell und William Morris.16 Indirekt bestätigten die beiden englischen Autoren damit die Hochschätzung mühevoller Arbeit (engl. toil), wandten sich aber gegen den Missbrauch des Arbeitsvokabulars als Ideologie. Kehren wir zu Werner Conzes Artikel im Lexikon „Geschichtliche Grundbegriffe“ zurück. Das langfristige Aufwertungsnarrativ bildet den Rahmen, innerhalb dessen Conze das Kernstück seiner Begriffsgeschichte unterbringt. Es handelt von der Durchsetzung „des modernen Begriffs der Arbeit“.17 Der moderne Arbeitsbegriff beginnt für Conze in England mit John Lockes Theorie des Eigentums an der eigenen Arbeitskraft und ihren Resultaten. Er erreicht dann seine klassische Ausformung mit der Erhebung von ‚Arbeit‘ (labour) zur menschlichen Potenz, ja zu einem quasi selbsttätigen Subjekt im Wirtschafts- und Zivilisationsprozess durch die Nationalökonomen seit Adam Smith. In Deutschland sei der „Sprung zum modernen Arbeitsbegriff “ erst um
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Schrift auch Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit, 1500–1800. Frankfurt a. M. 1998. S. 308. Lucien Febvre: Travail: évolution d’un mot et d’une idée. In: Journal de psychologie normale et pathologique, 41, 1948. S. 19–28, hier: S. 26 f. Tilgher: Storia (wie Anm. 8). S. 85. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II (1879). In: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Bd. 2. München 1999. S. 623 und S. 675 f.; ders.: Die fröhliche Wissenschaft (1882). In: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Bd. 3. München 1999. S. 409; ders.: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile (1881). In: ebd. S. 154. Die Zitate von Russell und Morris bei Graach: Labour (wie Anm. 3). S. 302 f.; für weitere ähnliche Belege auch ebd. S. 313 f. Vgl. zum Folgenden Conze: Art. Arbeit (wie Anm. 8). S. 168–207.
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1800 durch die Rezeption dieser Lehren erfolgt. Conze behandelt diese Rezeptionsvorgänge unter der Überschrift „Ökonomisierung“.18 ‚Modern‘ ist also in der Diktion Conzes vor allem der Arbeitsbegriff der (britischen) Nationalökonomie, an dem sich die verschiedenen ideologischen Richtungen des 19. Jahrhunderts vom Liberalismus über den Konservatismus bis hin zu Marx und Engels dann abzuarbeiten hatten. Neben der Ökonomisierung lassen sich aus Conzes Erzählung vier weitere Merkmalsbestimmungen des modernen Arbeitsbegriffs ableiten, die hier (systematischer als im Artikel selbst) schlagwortartig aufgeführt seien. Der Arbeitsbegriff war – erstens – einem Abstraktionsprozess unterworfen. Die Nationalökonomen wie auch ihre Kritiker konzipierten Arbeit als abstrakten Produktionsfaktor (neben Land und Kapital), als zähl- und messbare volkswirtschaftliche Größe. Sprachlich schlug sich der Abstraktionsprozess darin nieder, dass ‚Arbeit‘ (labour) zu einem Kollektivsingular wurde, der sowohl die Gesamtheit der verausgabten Arbeitskraft als auch die Gesamtheit der (unmittelbar oder mittelbar) produktiv Arbeitenden umfasste. Der Arbeitsbegriff erlebte – zweitens – eine Verzeitlichung, indem er in menschheitsgeschichtliche Zivilisations- und Fortschrittsentwürfe eingeschrieben wurde. Die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend standardisierten Erzählungen zur Arbeitsteilung und ihren positiven Effekten für wirtschaftliches Wachstum bildeten hierbei das Zentralstück. Wie zahlreiche andere Grundbegriffe erfuhr der Arbeitsbegriff – drittens – eine anhaltende Politisierung und Ideologisierung. Rufe nach Freisetzung der Arbeit, Öffnung des Marktes für alle Talente, Ermöglichung von Mobilität, Beseitigung von Monopolen usw. stärkten im Liberalismus den semantischen Konnex zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Freiheit‘, während die liberalen Forderungen bei Konservativen und Sozialisten zu Warnungsprognosen und utopischen Gegenentwürfen Anlass gaben. Der dergestalt abstrahierte, verzeitlichte und politisierte Arbeitsbegriff rückte – viertens – seit dem beginnenden 19. Jahrhundert in immer größere Nähe zum Nationalstaat, so dass man von einer Nationalisierung sprechen könnte. Conze sieht einen „stärker voluntaristischen Bezug zur Nation“.19 Dieser Nationsbezug erfolgte, so Conze, „sowohl im Rückblick auf Vorstufen primitiver wie im Hinblick auf die Konkurrenz gegenwärtiger ‚zivilisierter‘ Nationen“.20 Insbesondere die letzte Beobachtung ist bemerkenswert, denn sie erlaubt es, der Großerzählung von der Aufwertung des Arbeitsbegriffs weitere Teilerzählungen hinzuzufügen, die Conze wegen der Begrenzung der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ auf die Zeit bis etwa 1850 nur ansatzweise ausgeführt hat. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts häufen sich vor allem in bürgerlich-liberalen, konservativen, später völkischen 18 Ebd. S. 175 u. 174. 19 Ebd. S. 189 (hier bezogen auf Friedrich List). 20 Ebd. S. 181 (hier bezogen auf Christian Jakob Kraus, der den Begriff ‚Nationalarbeit‘ prägte).
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Kreisen Deutschlands, aber nicht nur dort, semantische Verknüpfungen zwischen den Begriffen ‚Arbeit‘, ‚Ehre‘, ‚Volk‘ und ‚Nation‘. Diskursprägend in Deutschland wurde Wilhelm Heinrich Riehl mit seinem Werk „Die deutsche Arbeit“ (1861). Jedes Volk arbeite „nach seiner Art“, jedes Volk wisse, „daß es mit eigenartigen, ihm allein zugehörenden Formen und Ergebnissen der Arbeit sich als persönlich ausweisen müsse im Kreise der Nationen“, so Riehls Überzeugung.21 Der im Volk verankerte, „ächt deutsche Gebrauch des Wortes ‚Arbeit‘“ fasse „vor allen Dingen die Arbeit als sittliche That“ auf; hingegen sträube sich „der Mutterwitz und der sittliche Ernst des deutschen Volkes“ gegen einen bloßen „Mammonsgeist der Arbeit“.22 Mit ihrer Art zu arbeiten zeichneten sich also die Deutschen, Riehl zufolge, weniger durch ausgeprägte Gewinnorientierung als durch eine ideell getriebene Arbeitsbereitschaft aus. Riehls wiederholte Gegenüberstellung von „Schaffen und Raffen blos um eigennützigen Gewinnes willen und der Arbeit, welche in aufopferungsfreudiger Begeisterung um des idealen Erfolges willen unternommen wird“, nahm eine von den DeutschVölkischen und Nationalsozialisten später zum Extrem getriebene antisemitische Zuspitzung schon vorweg.23 Eine andere, stärker auf die Intensität der deutschen Arbeitsleistung (Fleiß) und die Qualität der deutschen Produkte im internationalen Vergleich zielende Variante des Begriffs ‚deutsche Arbeit‘ entstand im Kontext der Weltausstellungen seit 1851 und im Zuge des seit den 1880er Jahren einsetzenden Kults um die Handelsmarke Made in Germany.24 Sebastian Conrad sieht die Konjunkturen dieser Redeweise von ‚deutscher Arbeit‘ in den Jahrzehnten um 1900 vor allem als ein „Produkt der Globalisierung“ und weist auf parallele Nationalisierungen des Arbeitsbegriffs in anderen europäischen Ländern hin, so den Gebrauch des Begriffs travail national in Frankreich.25 Das Lob der ‚deutschen Arbeit‘ blieb keineswegs auf nationalistische Kreise beschränkt; es tauchte in zahlreichen Zusammenhängen auf, die von der 21 Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit. Stuttgart 1861. S. 3 u. 61. 22 Ebd. S. 7 f. 23 Ebd. S. 8; ähnlich auch S. 197, 222, 225 ff., 239. Riehl sah eine im „Volkscharakter“ begründete tiefe Kluft zwischen „semitischer und arischer Arbeitsehre“, die im Mittelalter zu „einer noch viel klaffenderen der jüdischen und christlichen“ erweitert worden sei. Mit Blick auf seine Gegenwart hielt er es für möglich, dass man den Juden durch die Emanzipation (von Riehl verstanden als Assimiliation) „deutsche Gedanken von Arbeitsehre und Arbeitsmoral“ einpflanzen könne (ebd. S. 63 f.). Vgl. zu Riehl auch Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München 2006. S. 300 f. 24 Vgl. Sidney Pollard: „Made in Germany“ – die Angst vor der deutschen Konkurrenz im spätviktorianischen England. In: Technikgeschichte 54, 1987. S. 183–195. Vgl. auch Conze, Art. Arbeit (wie Anm. 8). S. 210. 25 Conrad: Globalisierung und Nation (wie Anm. 23). S. 282.
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Schutzzolldiskussion über sozialhygienische Debatten um den ‚Volkskörper‘ bis in die Arbeitspädagogik (Kerschensteiner) und die Bewegungen zur Ästhetisierung von Produkten des alltäglichen Gebrauchs (Deutscher Werkbund) reichten.26 Bis heute ist die Vorstellung, dass deutsche Arbeit sich im globalen Vergleich durch besondere Qualitätsmerkmale auszeichne, in der alltagssprachlichen Formel von der sogenannten ‚deutschen Wertarbeit‘ geläufig.27 Neben der Nationalisierung, gelegentlich auch verknüpft mit ihr, sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene Spielarten der Sakralisierung des Arbeitsbegriffs zu beobachten. Sie äußerte sich zunächst darin, dass ‚Arbeit‘ häufiger mit dem Attribut ‚heilig‘ versehen wurde. In manchen Fällen stand dieses Attribut lediglich metaphorisch für die hohe Wertschätzung, die Arbeitende gegenüber den Adligen und Müßigen genießen sollten. Der linksliberale Abgeordnete Wilhelm Löwe verwendete es in diesem Sinne in der Paulskirchendebatte über die Abschaffung des Adels: „[…] ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Thätigkeit […] ist heute die höchste Ehre, sie ist heute auf den Thron gekommen.“28 Einige Sozialdemokraten gingen in der Sakralisierung von Arbeit deutlich weiter, so besonders Josef Dietzgen in seinen zuerst 1870–75 erschienenen „Kanzelreden“. Für ihn war Arbeit tatsächlich der Weg zur Erlösung und damit säkulare Religion: „Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit.“ Dietzgen betonte die Diesseitigkeit des neuen Heilswegs: „Dieses Heil oder Heiligtum ist nicht entdeckt oder geoffenbaret, sondern erwachsen aus der angehäuften Arbeit der Geschichte.“ Was das Volk nunmehr berechtige, an die Erlösung zu glauben und „sie tatkräftig zu erstreben“, sei „die feenhaft produktive Kraft, die wunderbare Ergiebigkeit seiner Arbeit“.29 Derartige Lobreden auf die ‚heilige Arbeit‘ blieben nicht unwidersprochen. Die Kritik kam von konservativ-religiöser wie von marxistischer Seite. Als Verteidiger des Herkommens wandte sich Riehl gegen die „materialistische Lehre, welche die Arbeit schlechtweg zum Gottesdienste machen will“. Dem Volk erscheine „Gebet und Gottesdienst […] mit Recht als ein ergänzender Gegensatz der Arbeit“. Allenfalls „der Denker und Künstler mag Augenblicke haben, von denen er sagen kann, 26 Vgl. ebd. S. 280–297. 27 Vgl. etwa: Heinz Rudolf Kunze: Deutsche Wertarbeit. Lieder und Texte 1980–1982. Frankfurt a. M. 1984. Ohne das Beiwort ‚deutsch‘ ist „Wertarbeit“ auch ein Leitbegriff aktueller Politik zur Veränderung von Arbeitsformen und -bedingungen; vgl. Andrea Nahles: Wertarbeit. Leitbegriff für eine menschliche Arbeitsgesellschaft. Berlin 2013. 28 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1848. S. 3899 (6.12.1848). 29 Josef Dietzgen. Die Religion der Sozialdemokratie. Kanzelreden von Josef Dietzgen. 7. verm. Aufl. m. einem Vorw. von Eugen Dietzgen. Berlin 1906. S. 10 f.
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sie führten ihm Gebet und Arbeit in Eins zusammen“.30 Mit völlig anderer Akzentuierung spottete Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue über die französischen Proletarier von 1848 und ihre in seinen Augen irregeleitete Forderung nach dem „Recht auf Arbeit“ (droit au travail): Diese „Nachkommen der Schreckenshelden haben sich durch die Religion der Arbeit so weit degradieren lassen, daß sie 1848 das Gesetz, welches die Arbeit in den Fabriken auf 12 Stunden täglich beschränkte, als eine revolutionäre Errungenschaft entgegennahmen; sie proklamierten das Recht auf Arbeit als ein revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat!“31 Direkt auf Dietzgen antwortend beklagte schließlich Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen (1940), dass die „alte protestantische Werkmoral […] in säkularisierter Gestalt bei den deutschen Arbeitern ihre Auferstehung“ gefeiert habe. Benjamins Vorwurf gegen Dietzgens „korrumpierten Begriff von Arbeit“ ging noch einen Schritt weiter. Spätere ökologische Argumente vorwegnehmend kritisierte er „die technokratischen Züge“ in Dietzgens Vision: „Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüber stellt.“32 Die Sakralisierung des Arbeitsbegriffs war keine deutsche Besonderheit. Mindestens ebenso ausgeprägt fand sie sich in England und den USA.33 Schon in den von Verelendung der englischen Hand- und Fabrikarbeiter gekennzeichneten 1840er Jahren hatte Thomas Carlyle von der „perennial nobleness, and even sacredness, in Work“ geschrieben. Das Subjekt der Selbsterlösung durch Arbeit und Adressat seiner Aufrufe waren bei ihm allerdings nicht, wie bei Dietzgen, die Arbeiterklasse oder das ‚Volk‘, sondern in erster Linie der einzelne Mensch: The latest gospel of the world is, know thy work and do it. […] for, properly speaking, all true work is Religion: and whatsoever Religion is not work may go and dwell among the Brahmins, Antinomians, Spinning Dervishes, or where it will; with me it shall have no harbour. […] Who art thou that complainest of thy life of toil? Complain not. Look up,
30 Riehl: Die deutsche Arbeit (wie Anm. 21). S. 35. 31 Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit & Persönliche Erinnerungen an Karl Marx, hg. von Iring Fetscher. Wien 1966. S. 23. Lafargues Schrift erschien zuerst 1880 in der Zeitschrift „L’Égalité“ unter dem Titel „Le droit à la paresse. Réfutation du droit au travail de 1848“. Von Eduard Bernstein ins Deutsche übersetzt erschien sie zum ersten Mal im Jahr 1884. 32 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940). In: ders.: Kairos. Schriften zur Philosophie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 2007. S. 313–324, hier: S. 318 f. (These XI). 33 Zahlreiche Belege, vor allem für die USA, bei Beder: Selling the Work Ethic (wie Anm. 8).
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my wearied brother; see thy fellow Workmen there, in God’s Eternity; surviving there, they alone surviving: sacred Band of the Immortals […].34
Die von Carlyle gepredigte Religion der Arbeit sollte das Christentum nicht ersetzen. Vielmehr dachte er sich Arbeit zunächst einmal als gelebtes, puritanisch inspiriertes Christentum, als den Königsweg zur Unsterblichkeit für jeden Einzelnen. In zweiter Linie spielten dann bei Carlyle und anderen viktorianischen Propheten der Arbeitsmoral auch Appelle an den Nationalstolz eine Rolle. Angestrengte Arbeit sollte die ökonomische und zivilisatorische Spitzenstellung Englands in der Welt sichern und ausbauen helfen.35 Religiöses Vokabular, religiöse Symboliken und Liturgien durchzogen auch die Arbeitsdiskurse im ‚Zeitalter der Extreme‘, besonders in den totalitären Systemen. Wirksam wurden sie vor allem in visuellen Bildern – Plakaten, Denkmälern, Fotografien – und mehr noch in massenwirksamen Inszenierungen. Die Verehrung der ‚Helden der Arbeit‘ in der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten nach 1945 nahm Züge eines religiösen Kults an, waren es doch vor allem die individuelle Selbstüberwindung und ihr freiwilliges Martyrium für die große gemeinsame Sache, die man an den sozialistischen Arbeitshelden, ähnlich wie bei Heiligen, feierte.36 Die von Leni Riefenstahl 1934–35 verfilmten und in die Kinos gebrachten Gelöbnisrituale des Reichsarbeitsdienstes auf dem NS-Parteitagsgelände von Nürnberg waren mit ihren gebetsartigen Wechselreden dem katholischen Gottesdienst nachgebildet.37 34 Thomas Carlyle: Past and Present (1843), hg. von A. M. D. Hughes. Oxford 1921. S. 176–182. 35 Vgl. mit Belegen Walter E. Houghton: The Victorian Frame of Mind, 1830–1870. New Haven/London 1957. S. 242–262. 36 Vgl. Rainer Gries/Silke Satjukow: Helden der Arbeit. In: Pim Den Boer u. a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. Das Haus Europa: Bd. 2. München 2011. S. 65–72; Robert Maier: Die Stachanov-Bewegung 1935–1938. Der Stachanovismus als tragendes und verschärfendes Moment der Stalinisierung der sowjetischen Gesellschaft. Stuttgart 1990; vgl. zu China Yihong Jin/Kimberley Ens Manning/Lianyun Chu: Rethinking the “Iron Girls”. Gender and Labour during the Chinese Cultural Revolution. In: Gender & History, 18, 2006. S. 613–634; Rachel Funari/Bernard Mees: Socialist Emulation in China. Worker Heroes Yesterday and Today. In: Labor History, 54, 2013. S. 240–255. 37 Leni Riefenstahl: Triumph des Willens (Uraufführung 1935). Zur Erläuterung der Szenen vgl. Martin Loiperdinger: Der Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ von Leni Riefenstahl. Rituale der Mobilmachung. Opladen 1987. S. 80 f. u. 140–142. Zu Arbeitsdiskursen und -inszenierungen im Nationalsozialismus vgl. Peter Schirmbeck: Adel der Arbeit: Der Arbeiter in der Kunst der NS-Zeit. Marburg 1984; Eberhard Heuel: Der umworbene Stand: die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933–1935. Frankfurt a. M. 1989 und jetzt grundlegend die Beiträge in Marc Bug-
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Verschieden waren allerdings die kollektiven Handlungseinheiten, auf die sich die sakralisierten Arbeitsdiskurse der totalitären Systeme bezogen. Während im nationalsozialistischen Deutschland das deutsche Volk, seine ‚Rassereinheit‘ und Dominanz in der Welt das Ziel und die Letztbegründung aller Arbeitsanstrengungen sein sollten, geschah die religiöse Überhöhung der Arbeit in der bolschewistischen Sowjetunion programmatisch mit Blick auf die zukünftige Einheit der arbeitenden Klassen aller Länder, also im Namen der Weltrevolution. Im amerikanischen Kapitalismus hingegen stand die Machtentfaltung des großen Kollektivs der Nation in der Regel hinter dem Fortkommen des Einzelnen und des kleineren Kollektivs der eigenen Firma zurück. Die semantische Überblendung von Arbeit und Religion blieb aber hier nicht weniger ausgeprägt, so, wenn der Gouverneur von Massachusetts und spätere amerikanische Präsident Calvin Coolidge im Jahr 1919 die Fabrikunternehmer als Tempelbauer und die dort Arbeitenden als Betende bezeichnete: “[T]he man who builds a factory builds a temple, […] the man who works there worships there, and to each is due, not scorn and blame, but reverence and praise.”38 Zehn Jahre später, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, beschwor indes der Ideenhistoriker Adriano Tilgher schon die Gefahr herauf, dass gerade im „Heiligen Land“ der „Religion der Arbeit“, in den Vereinigten Staaten von Amerika, eine „neue Religion des Konsums und der Unterhaltung, eine Religion des Comforts, des Wohlbefindens und des Körpers“ Platz greife. Und dies geschah laut Tilgher nicht, wie etliche spätere Propheten bis hin zu den Wertewandels-Forschern der 1970er Jahre meinten, durch ein Nachlassen der Arbeitsmoral, sondern – paradoxerweise – gerade durch ihre Erfolge in Gestalt gesteigerter Güterproduktion und entsprechender Annehmlichkeiten für die breite Masse.39 geln/Michael Wildt (Hg.): Arbeit im Nationalsozialismus. München 2014; vgl. auch: Carl Wege: Der Kult der Arbeit. Zu Reden und Schriften von Martin Heidegger und Ernst Jünger aus den Jahren 1932/33. In: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen 2002. S. 231–240. 38 Calvin Coolidge: Have Faith in Massachusetts. A Collection of Speeches and Messages. Boston 1919. S. 14. 39 Tilgher: Storia (wie Anm. 8). S. 123 f.: “Ed è già eccezionalmente grave che, precisamente nel paese che fu fino a ieri la Terra Santa di questa religione, in America, ad opera di coloro che ne erano gli apostoli e I confessori, gli uomini d’affari e gli industriali americani, la religione del lavoro generi a poco a poco da sé, per paradossale, ma inevitabile conseguenza, una religione del tutto opposta del riposo e del divertimento. […] Così, nella patria stessa della religione del lavoro si va creando una novissima religione del consumo e del divertimento, una religione del comfort, del benessere, del comodo, della pulizia, una religione del Corpo (e nel mio pensiero queste tre parole: religione del Corpo, vanno prese alla lettera), che tende a distendere la dura tensione della volontà di lavoro generata dalla religione del lavoro e a spezzare la molla psichica costruita e
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1.2 Aufstieg der ‚freien‘ Lohnarbeit
Während in den dezidiert begriffshistorischen Überblicken zum Arbeitsbegriff das bis hierher skizzierte, den langen Zeitraum von der Antike bis ins mittlere 20. Jahrhundert überbrückende Aufwertungsnarrativ (mitsamt den spärlich vertretenen Gegenstimmen) den breitesten Raum einnimmt, sind nun einige andere Erzählungen zum Arbeitsbegriff vorzustellen, die unter historisch-semantischer Sicht bisher erst ansatzweise untersucht worden sind und sich in die Aufwertungserzählung nicht, oder nur teilweise, eingliedern lassen. An erster Stelle ist die Erzählung vom Aufstieg ‚freier Lohnarbeit‘ (free labour) zu nennen. Sie trat vor allem in der anglophonen Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prominent hervor und war stark rechtsgeschichtlich geprägt. In Kurzfassung könnte man sie, angelehnt an Sir Henry Maine, auf die Formel „from Status to Contract“ bringen.40 Exemplarisch mag für sie der 1882 erschienene Artikel „Labour and Labour Laws“ in der neunten Auflage der „Encyclopaedia Britannica“ stehen.41 Unter „labour“ wollte der Autor, ohne sich mit alternativen Definitionsversuchen oder gar wortgeschichtlichen Überlegungen aufzuhalten, allein die Arbeit von „freemen“ verstanden wissen, das heißt von Personen, die den Bedingungen, unter denen sie arbeiteten, zugestimmt hatten, ob vertraglich oder nicht blieb für ihn dabei zweitrangig. Der Autor schränkte seine Definition weiter ein, indem er ausschließlich Lohnarbeit und Handarbeit „in any branch of productive industry“ in den Blick nahm. Dienstleistungen schloss er ausdrücklich aus seiner Betrachtung aus.42 Ausgehend von dieser enggeführten, am damals vorherrschenden Verständnis der liberalen Ökonomen orientierten Definition begab sich der Autor auf einen Streifzug durch die lange Geschichte der Arbeit und Arbeitsgesetzgebung seit der Antike. Bei seinem Durchgang stieß er – nach Jahrhunderten der Sklaverei (slave labour) und Knechtschaft (serfdom) – endlich im englischen Spätmittelalter auf erste Spuren ‚freier‘ Lohnarbeit im Sinne seiner Definition. Im verbleibenden Teil des Artikels unterzog er dann die gesamte englische Arbeitsgesetzgebung von den ersten Statutes of Labourers des 14. Jahrhunderts bis hin zum jüngsten Stück, dem montata da questa.” Zum Arbeitsdiskurs in der sogenannten Wertewandels-Diskussion siehe in diesem Band den Beitrag von Jörg Neuheiser, S. 319–346. 40 Henry Sumner Maine: Ancient Law: Its Connection with the Early History of Society, and its Relation to Modern Ideas. London 1861. S. 170. 41 Anon.: Art. Labour and Labour Laws. In: The Encyclopaedia Britannica. A Dictionary of Arts, Sciences, and General Literature. 9. Aufl. (1875–89). Bd. 14. Edinburgh 1882. S. 165–175. Es handelt sich dort übrigens um den einzigen Eintrag unter dem Lemma labour; ein eigener Eintrag zu work fehlt in der neunten wie auch in früheren und späteren Britannica-Auflagen. 42 Ebd. S. 165.
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Employers’ Liability Act (1880), einer kritischen Revision. Diese erfolgte unter dem einzigen Gesichtspunkt, ob es sich um „legislation interfering with freedom of labour“ handelte oder aber lediglich um Gesetze, die juristische Verfahren für den Austrag von Streitigkeiten zwischen „employers and employed“ als den (vermeintlich) freien Vertragspartnern normierten.43 Nur den letztgenannten Gesetzen galt die Sympathie des Autors. Seit dem 18. Jahrhundert sah er in der englischen Gesetzgebung die aus seiner Sicht angemessene Vermutung einer völligen Willens- und Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien auf dem Vormarsch. Ohne es ausdrücklich zu betonen, datierte er damit die Durchsetzung der Rechtsform des freien Vertrags im Arbeitsleben auf das 18. Jahrhundert. Und aufgrund dieser, von ihm wie eine unbestreitbare Tatsache behandelten Annahme prinzipiell geltender Vertragsfreiheit begrüßte er auch den 1875 in der englischen Gesetzgebung erfolgten Terminologiewechsel von dem alten Wortpaar Master and Servant, das an die Knechtschaft des Mittelalters erinnerte, hin zu den neutralen Termini Employers and Workmen.44 Der Aufstieg von ‚freier Arbeit‘ sowie ihre Anerkennung durch den englischen Gesetzgeber waren allerdings für den Autor kein unaufhaltsamer Prozess. Vielmehr sah er in einigen Gesetzen des 19. Jahrhunderts, namentlich in den Truck Acts (Verbote der Auszahlung von Löhnen in Naturalien) und im gerade verabschiedeten Employers’ Liability Act (Gesetz über Arbeitgeberhaftung bei Arbeitsunfällen), Anzeichen für rückwärtsgewandte Tendenzen unangebrachter gesetzgeberischer ‚Einmischung‘ in die (unterstellte) Vertragsfreiheit. Die ‚freie Arbeit‘ blieb in seinen Augen eine gefährdete, zu verteidigende Errungenschaft. Der Britannica-Artikel von 1882 liest sich insgesamt wie eine geraffte Lehrbuchversion der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschenden Meinung unter den englischen Common law-Juristen, die sich dafür ihrerseits auf die popularisierten Lehren der Political economists stützten.45 Beide Facheliten betrachteten die staatliche Arbeitsgesetzgebung primär unter dem Aspekt des (erwünschten) Rückzugs aus den (angeblich) auf beiden Seiten frei disponiblen Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern. Die Urteilstätigkeit der Richter an den Common law-Gerichten orientierte sich an diesem Leitnarrativ, und sogar auf Teile der englischen Arbeiterbewegung übte die Erzählung vom Aufstieg ‚freier Arbeit‘ unter freien englischen Männern zeitweise starke Anziehungskraft aus.46 Die Erzählung hatte freilich eine Schattenseite: die fortdauernde Strafgesetzgebung gegen indigene kontraktbrüchige 43 Ebd. S. 167 u. 170. 44 Ebd. S. 171. 45 Dazu ausführlich: Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht. Eine Sozialund Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925). München 2002. S. 90–129. 46 Speziell zum letztgenannten Aspekt: ebd. S. 66 f.
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Arbeiter in den britischen Kolonien. Der Britannica-Autor selbst kam an einer Stelle des Artikels – den tatsächlichen Charakter der kolonialen Gesetze euphemistisch verschleiernd – darauf zu sprechen, wenn er die „colonial legislation“ als Modell für die „home legislation“ insoweit empfahl, als es um geeignete Mittel gehe, mittels derer man die Erfüllung von Arbeitsverträgen durchsetzen könne, ohne die „domain of the criminal law“ zu berühren.47 Dass diese Erzählung vom Aufstieg ‚freier Arbeit‘ und ihrer rechtlichen Umsetzung in England keineswegs unangefochten blieb, zeigte sich knapp dreißig Jahre später im Artikel „Labour Legislation“ (1911) der elften Edition der „Encyclopedia Britannica“. Die Autorin, Adelaide Mary Anderson, eine der beiden ersten Lady Inspectors of Factories, setzte in ihren einführenden Passagen deutlich andere Akzente. Zum einen zeigte sie eine erhöhte Sensibilität für die Mehrdeutigkeit und Historizität von Begriffen. So unterschied sie in ihrer Definition von „labour“ zwischen einer weiten, abstrakten Bedeutung: „any energetic effort“, und der im modernen Sprachgebrauch („modern parlance“) üblichen eingeschränkten Bedeutung: „industrial work of the kind done by the ‚working-classes‘“.48 Und ausdrücklich warnte sie vor einem Risiko der Konfusion „if modern technical terms such as ‚labour‘, ‚employer‘, ‚labour legislation‘ are freely applied to conditions in bygone civilizations with wholly different industrial organization and social relationships.“49 Zum anderen, und in unserem Zusammenhang wichtiger, brachte Anderson bereits in ihren Eingangssätzen die Schlüsselbegriffe labour, freedom, regulation/legislation und contract in eine völlig andere logische und semantische Ordnung als der Britannica-Autor von 1882: Regulation of labour, in some form or another, whether by custom, royal authority, ecclesiastical rules or by formal legislation in the interests of a community, is no doubt as old as the most ancient forms of civilization. And older than all civilization is the necessity for
47 Anon.: Art. Labour (wie Anm. 41). S. 173. Zur Arbeitsgesetzgebung, insbesondere betreffend den Kontraktbruch, und ihrer Durchsetzung im Britischen Empire siehe die Beiträge in: Douglas Hay/Paul Craven (Hg.): Masters, Servants, and Magistrates in Britain and the Empire, 1562–1955. Chapel Hill 2004. Vgl. für das 20. Jahrhundert auch Andreas Eckert: Recht und „das Evangelium der Arbeit“. Die Etablierung und Praxis arbeitsrechtlicher Regelungen im kolonialen Britisch-Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg. In: Joachim Rückert (Hg.): Arbeit und Recht seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global. Köln/Weimar/Wien 2014. S. 95–112. 48 Adelaide Mary Anderson: Art. Labour Legislation. In: Encyclopaedia Britannica. 11. Aufl. (1910–11): Bd. 16. Cambridge 1911. S. 7–28, hier: S. 7. Zu Adelaide Anderson siehe: Mary Drake McFeely: Lady Inspectors. The Campaign for a Better Workplace, 1893–1921. Athens GA/London 1991. S. 25, 114 f., 118 ff. 49 Anderson: Art. Labour Legislation (wie Anm. 48). S. 7.
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the greater part of mankind to labour for maintenance, whether freely or in bonds, whether for themselves and their families or for the requirements or superfluities of others.50
Arbeitsgesetzgebung diente also, Anderson zufolge, den ‚Interessen der Gemeinschaft‘; sie konnte zudem als Indiz für ‚Zivilisation‘ gelten; und vor allem: sie reagierte auf die Tatsache, dass Arbeit für die große Mehrheit immer unter ‚Notwendigkeit‘ geschah, und zwar unbeschadet der rechtlichen Form, in der sie erfolgte („freely or in bonds“). Anderson wies damit die Vorstellung zurück, dass Arbeit unter dem Regime des Kontrakts eo ipso als ‚frei‘ zu gelten hatte. Gesetzliche Regulierung von Arbeit erfolgte laut Anderson – im Gegenteil – genau in der Absicht, „safety and freedom for the worker from fraud in making or carrying out wage contracts“ sicherzustellen.51 In der Diktion Andersons war es somit erst die intervenierende Gesetzgebung, die für den Arbeiter die Freiheit, Verträge zu schließen, ermöglichte. ‚Freie Arbeit‘ war auch in Andersons Erzählung das anzustrebende Ziel; sie wuchs aber nicht, wie in der Erzählung des Britannica-Autors von 1882, gleichsam naturwüchsig auf, sondern musste für die Arbeiterseite, die schwächere Partei, durch gesetzgeberisches Handeln erst hergestellt werden. Anderson ging schließlich auch darin über den Artikel von 1882 hinaus, dass sie in ihrer kritischen Sichtung der historischen und aktuellen Gesetzgebung nicht nur England und das britische Empire, sondern auch andere Länder berücksichtigte und so – durch den vergleichenden Blick – die Tendenz zu einer die ‚Freiheit‘ der Arbeiterseite schützenden oder ermöglichenden Gesetzgebung als eine international wirksame Tendenz darstellte. Die Britannica-Artikel von 1882 und 1911 boten in kondensierter Form die beiden miteinander konkurrierenden Hauptvarianten der großen Erzählung vom Aufstieg und der stets wiederkehrenden Gefährdung ‚freier Arbeit‘. In der britischen Diskussion traten die Akzentunterschiede besonders scharf in Erscheinung, ähnlich auch in den USA. In weniger scharfer Gegenüberstellung lassen sich die beiden Varianten aber auch in den Arbeits(rechts)diskussionen kontinentaleuropäischer Länder nachverfolgen.52 Prozesse der Verrechtlichung im Sinne zunehmender Regelungsdichte und faktischer Normdurchsetzung konnten dabei fast immer in gegenläufiger Weise gedeutet werden: freiheitsbeschränkende Gesetze für die einen (Arbeitgeber) waren sehr oft freiheitsermöglichend für die anderen (Arbeitnehmer) – und umgekehrt. Der Deutungskampf um das, was ‚freie Arbeit‘ konkret und für wen jeweils heißen sollte, 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. Gerhard Dilcher: Arbeit zwischen Status und Kontrakt. Zur Wahrnehmung der Arbeit in Rechtsordnungen des Mittelalters. In: Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter (wie Anm. 9). S. 107–131; Joachim Rückert: Das Reden über Arbeit – allgemein und juristisch. In: Rückert (Hg.): Arbeit und Recht (wie Anm. 47). S. 23–57.
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war damit hochideologisch. Abgeschlossen ist er bis heute nicht. Verfolgt man die Debatten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts um Arbeitszwangsgesetze für arbeitslose Arme (work for welfare) oder die Deregulierung von Arbeitsmärkten, kann man sich trotz mancher meist euphemistischer Neologismen des Eindrucks kaum erwehren, dass sich die zur Legitimation der konträren Positionen herangezogenen Erzählmuster wiederholen. 1.3 ‚Arbeitsmaschinen‘: Entfremdung und Humanisierung in der Arbeitswelt
Ein zusammenhängender Komplex von Erzählungen zur ‚Arbeit‘, der mit dem Aufkommen fabrikmäßiger Produktion seit dem Ende des 18. Jahrhunderts seine ersten Ausprägungen fand, mit der Durchsetzung tayloristischer und fordistischer Betriebsorganisation in den 1920er und 1930er Jahren seinen Höhepunkt erlebte, seit den Deindustrialisierungsprozessen der 1970er und 1980er Jahre dann an Bedeutung etwas verloren hat, lässt sich um die Metapher der menschlichen ‚Arbeitsmaschine‘ gruppieren. Wiederkehrende Schlüsselwörter in diesem Erzählkomplex sind, abgesehen von der auf den Körper des (männlichen) Arbeiters angewandten Maschinen- oder Motorenmetapher selbst,53 als eher beschreibende Termini vor allem ‚Rationalisierung‘, ‚Mechanisierung‘, ‚Automatisierung‘, ‚Routine‘, ‚Ermüdung‘ usw., dazu als stark wertende Begriffe ‚Entfremdung‘ auf der einen Seite, (wiederherzustellende) ‚Arbeitsfreude‘, ‚Leistungswille‘, ‚Schönheit der Arbeit‘, ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ auf der anderen Seite. Die Maschinen- und Motorenmetapher überschritt, wie die meisten Metaphern, mühelos Sprach- und Kulturgrenzen, aber auch für die Mehrzahl der anderen genannten deutschen Begriffe lassen sich, da es sich überwiegend um wissenschaftliche Fachtermini handelt, die Äquivalente in anderen europäischen Sprachen leicht auffinden. Das Vordringen des Leitbilds der Maschinenarbeit zeigte sich darin, dass die mechanisch-physikalische Arbeitsdefinition (Kraft mal Weg) in den Konversationslexika seit den 1880er Jahren an die erste Stelle rückte – vor die bis dahin in der Regel erstplazierte alltagssprachliche und volkswirtschaftliche Definition.54 53 Grundlegend: Anson Rabinbach: The Human Motor: Energy, Fatigue and the Origins of Modernity. New York 1990. Vgl. auch François Vatin: Arbeit und Ermüdung. Entstehung und Scheitern der Psychophysiologie der Arbeit. In: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998. S. 347–368; sowie den Beitrag von Laura Frader in diesem Band, S. 167–190. 54 Vgl. die ersten Sätze in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon (Brockhaus). 11. Aufl.: Bd. 2. Leipzig 1864. S. 15: „Arbeit ist diejenige Thätigkeit des Menschen, welche irgendeinen außer ihr liegenden Zweck verfolgt.“ Brockhaus‘ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Ency-
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Die frühen Beschreibungen der Effizienzgewinne und Abstumpfungsrisiken arbeitsteiliger maschineller Produktion durch Adam Smith und die ihm folgenden Ökonomen sind gut bekannt, ebenso die Kritik des frühen Marx an der auch technisch, in erster Linie aber durch die kapitalistische Produktion bedingten Entfremdung der Arbeiter von ihrem Arbeitsprodukt, von sich selbst, voneinander und schließlich vom Gattungszweck der Menschheit. Auch über die Grundsätze und praktischen Folgen von Frederick W. Taylors Werk „Principles of Scientific Management“ (1911), das binnen weniger Jahre in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, ist – der Sache nach – so viel geschrieben worden, dass es genügt, hier daran zu erinnern.55 Unter semantischen Aspekten verdiente Taylors Werk, gerade mit Blick auf die annähernd zeitgleichen Übersetzungen der Schlüsselvokabeln, durchaus eine eigene Untersuchung. Das Gleiche gilt für die in den 1920er Jahren mindestens ebenso einflussreichen Schriften Henry Fords.56 Recht gut untersucht ist des weiteren auch die deutsche Diskussion über die ‚Arbeitsfreude‘ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.57 Sie hatte zunächst eine technische und betriebsorganisatorische Dimension. Dabei galt es vor allem die abstumpfenden Begleiterscheinungen von extremer Arbeitsteilung, Maschinisierung und Gleichförmigkeit durch Eingriffe in die Betriebsabläufe selbst oder Verbesserungen des Arbeitsumfelds (Werkskantinen usw.) aufzufangen.58 Für diesen Aspekt lassen sich vergleichbare Diskussionen und entsprechendes Vokabular in anderen Industrieländern
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klopädie. 13. Aufl.: Bd. 1. Leipzig 1882. S. 830: „Arbeit heißt in der modernen Mechanik und Physik das Produkt aus einer Kraft in die Weglänge, welche der Angriffspunkt dieser Kraft beschreibt.“ Vgl. Philipp Sarasin: Die Rationalisierung des Körpers. Über „Scientific Management“ und „biologische Rationalisierung“. In: Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter. Frankfurt a. M. 1995. S. 78–115. Taylors Schrift wurde innerhalb von zwei Jahren ins Deutsche, Französische, Niederländische, Schwedische, Russische, Italienische, Spanische und Japanische übersetzt (ebd. S. 80). Zu ihrer Wirkung auf die Arbeitsorganisation, aber auch andere soziale Felder sowie zu den Unterschieden zwischen Taylorismus und Fordismus: Adelheid von Saldern: „Alles ist möglich.“ Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts. In: Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2012. S. 155–192. Hierzu vor allem: Joan Campbell: Joy in Work, German Work. The National Debate, 1800–1945. Princeton 1989. Vgl. Karl Miedbrodt: So denkt der Arbeiter. Eine Sammlung von Fragebogen und Arbeiterbriefen, Berlin Selbstverlag o. J. [ca. 1920]; die Arbeiter waren hier aufgefordert auszusprechen, „was Euch hindert zur Arbeitsfreude zu kommen“ (S. 8).
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unschwer finden.59 Auch die moralische Dimension des ‚Arbeitsfreude‘-Problems, also der Wunsch nach mehr Anerkennung auf Arbeitnehmerseite, dagegen die bei Unternehmern, Managern und ihren Beratern gern gepflegte Unterstellung, die große Mehrheit der Arbeitenden neige von Natur aus zu dem, was Frederick Taylor als go slow beschrieb, scheint keine ausgeprägten national-deutschen Spezifika besessen zu haben. Mangels vergleichender Untersuchungen muss die Frage offenbleiben, ob dies auch für die dritte, jedenfalls in Deutschland sehr wichtige Dimension der ‚Arbeitsfreude‘-Diskussion gilt: die nationale. Der von Kiran Klaus Patel in diesem Band vorgenommene Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienst und den Arbeitsprogrammen im amerikanischen New Deal deutet darauf hin, dass die Leitvorstellung des Dienstes an der Nation in den USA jedenfalls nicht die alles überragende Bedeutung besaß, die ihr in Deutschland schon vor 1933 und extremer dann im ‚Dritten Reich‘ zugemessen wurde.60 Auch im faschistischen Italien war es möglich, andere, nicht-nationalistische Akzente zu setzen. So bezog der Ideenhistoriker Adriano Tilgher in seinem 1929 erschienenen Werk den hohen Wert der ‚Arbeitsfreude‘ nicht auf die Nation, sondern auf die Selbstverwirklichung des Individuums in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt: „La gioia del lavoro è la gioia di sentire la nostra attività vittoriosa della resistenza del mondo esterno.“61 Seine erste Sorge war, dass in der von Maschinen beherrschten Welt der Arbeit (Civiltà del Lavoro) die geistige Kraft des WerkeSchaffens (Spiritualità dell’Operaio) nicht verloren gehen dürfe.62 Tilgher baute also den alten semantischen Gegensatz von lateinisch labor (Mühe) und opus (Werk) in einen modernen Diskurs ein, der von italienischen Syndikalisten im Italien der 1960er und frühen 1970er Jahre unter dem Stichwort Operaismo und in Deutschland etwas zeitverschoben und weniger systemkritisch unter der Leitformel ‚Humanisierung 59 Zum Beispiel entlang der Übersetzungen von: Hendrik de Man: Der Kampf um die Arbeitsfreude. Eine Untersuchung auf Grund der Aussagen von 78 Industriearbeitern und Angestellten. Jena 1927. Niederländische Ausgabe: Hendrik de Man: Arbeids vreugde, übers. von W. H. Haverkorn van Rijswijk. Arnhem 1928; englische Ausgabe: Hendrik de Man: Joy in Work, übers. von Paul Eden u. Paul Cedar. London 1929; französische Ausgabe: Henri de Man: La joie au travail: Enquête basée sur des témoignages d’ouvriers et d’employés. Paris 1930. 60 Vgl. den Beitrag von Kiran Klaus Patel in diesem Band, S. 289–307; vgl. auch Olaf Stieglitz: 100 percent American boys: Disziplinierungsdiskurse und Ideologie im Civilian Conservation Corps, 1933–1942. Stuttgart 1999; Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945. Göttingen 2003; Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hg.): Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Bielefeld 2007. 61 Tilgher: Storia (wie Anm. 8). S. 126. 62 Ebd. S. 129 ff.
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des Arbeitslebens‘ fortgeführt wurde.63 Mit seiner Favorisierung des Werk-Begriffs wandte sich Tilgher explizit gegen den faschistischen Vordenker Giovanni Gentile, der zwischen ‚Arbeit‘ und (geistesaristokratisch verstandener) ‚Kultur‘ einen fundamentalen Unterschied konstruiert hatte. Für Tilgher lief Gentiles Entgegensetzung auf eine Rückkehr zur Teilung der Gesellschaft in eine Art Kastensystem hinaus, eine Teilung in diejenigen, die arbeiteten, damit die anderen freie Zeit zur Kontemplation besäßen.64 Die Diskussionen um die ‚Arbeitsfreude‘ in den Industrieländern konnten mithin eine eher nationale oder eine auf individuelle Selbstverwirklichung zielende Wendung nehmen. Ähnlich mehrdeutig war auch der Rationalisierungsdiskurs. Sofern ‚Rationalisierung‘ nicht ohnehin negativ im Sinne des Wegrationalisierens von Arbeitsplätzen oder der Entfremdung von den eigenen Arbeitsprodukten (Fließbandarbeit usw.) verstanden wurde, standen auch hier nationalistische und individualistische positive Deutungen nebeneinander. Exemplarisch mag hierfür ein im Jahr 1929 in fünfter Auflage unter dem Titel „Sich selbst rationalisieren“ erschienener Ratgeber zum beruflichen Erfolg stehen.65 Der Aufgabe, sich selbst zu rationalisieren, hatten sich dem Autor zufolge Angehörige aller Berufsgruppen, vom Ungelernten bis zum Unternehmer und Geistesarbeiter zu stellen; die Letzteren, nach Ansicht des Autors mehr Leistenden sogar in erhöhtem Maße: „Wer zehnmal so viel leistet als der ungelernte Arbeiter, muß seinen Organismus, seine Arbeitsmaschine weit pfleglicher behandeln als derjenige, der von seinem Organismus nur ganz geringe Leistungen verlangt.“66 Das gedachte Subjekt der Selbstrationalisierung war in diesem Ratgeber übrigens ausschließlich der ganz seinem Beruf lebende Mann („er“). Ein dort vorgeschlagener Tagesplan enthält keine einzige Minute für Hausarbeit, Essen, Kochen, Putzen, Waschen usw., also die Reproduktion der Arbeitskraft.67 Auf der anderen Seite wird auch die Stellensuche 63 Zum Operaismo: Sergio Bologna: Der Operaismus: Eine Innenansicht. Von der Massenarbeit zur selbständigen Arbeit. In: Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Berlin/Hamburg 2009. S. 155–182; außerdem als Quellensammlung: Giuseppe Trotta/Fabio Milana (Hg.): L’operaismo degli anni Sessanta. Da „Quaderni rossi“ a „classe operaia“. Rom 2008. Zur deutschen Diskussion um die ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ den Beitrag von Jörg Neuheiser in diesem Band, S. 319–346; für die damalige gewerkschaftliche Sicht vgl.: Heinz-Oskar Vetter: Humanisierung der Arbeitswelt als gewerkschaftliche Aufgabe. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 24, 1973. S. 1–11. 64 Tilgher: Storia (wie Anm. 8). S. 140. 65 Gustav Grossmann: Sich selbst rationalisieren. Wesen und Praxis der Vorbereitung beruflicher Erfolge. 5. Aufl. Stuttgart/Wien 1929. 66 Ebd. S. 9 (Vorwort zur 3. und 4. Aufl.). 67 Ebd. S. 142 f.
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explizit als eine „Arbeit“ bezeichnet, die man wie alle anderen beruflichen Tätigkeiten rationalisieren solle.68 Bei alldem ging es jedoch nicht nur um den individuellen beruflichen Erfolg, sondern, so der Autor, „um Sein oder Nichtsein unseres leistungsfähigsten Menschenmaterials“. Dessen Vernichtung bedeute den „Untergang von Kultur und Volk“ und eine Gefährdung der „Aufbauarbeit, die wir seit der Inflation geleistet haben“.69 Der Autor gebrauchte das Bild einer „wirtschaftlichen Olympiade“ zwischen Amerika und Deutschland.70 Die Selbstrationalisierung hatte also auch im Dienst der Nation stattzufinden. Der Gedanke, dass Anstrengungen zur (Selbst-)Rationalisierung und parallelen Humanisierung des Arbeitslebens Faktoren im Wettbewerb der Nationen oder politischen Systeme seien, ist nach 1945 keineswegs verschwunden. Auch wenn das Vokabular ‚entnazifiziert‘ wurde (man spricht nicht mehr von ‚Menschenmaterial‘), ist die Vorstellung, dass die Arbeitspraxis zugleich rationalisiert und humanisiert werden müsse, damit größere kollektive Handlungseinheiten, also Unternehmen, Nationalstaaten oder Zusammenschlüsse wie die Europäische Union, im Wettbewerb bestehen könnten, weiterhin präsent. Die Rede von notwendigen Investitionen ins ‚Humankapital‘, um den ‚Standort Deutschland‘ zu sichern, ist nur eine von vielen Varianten dieses Gedankens, der auch außerhalb des deutschen Sprachraums zu finden sein dürfte.71 Ebenso wenig verschwunden ist die an Hegel und den frühen Marx anschließende Hoffnung, der Mensch könne und solle durch (nichtentfremdete) Arbeit nicht bloß sich selbst, sondern geradezu den Gattungszweck und den Zweck der gesamten Menschheitsentwicklung verwirklichen. Die (Wieder-)Entdeckung und Publikation der Frühschriften von Marx gab derartigen Zielformulierungen seit Anfang der 1930er Jahre bedeutenden Auftrieb. Herbert Marcuses im Jahr 1933 publizierte Auseinandersetzung mit den aus seiner Sicht verengten, weil nur auf rein zweckhafte Tätigkeiten eingeschränkten Arbeitsbegriffen der damaligen Wirtschaftsund Arbeitswissenschaften war dafür paradigmatisch.72 Marcuse begriff Arbeit als 68 Ebd. S. 171 f. 69 Ebd. S. 10 u. 11. 70 Ebd. S. 11. Schon 1875, noch vor Beginn der modernen olympischen Spiele, hatte Karl Thomas Richter mit Blick auf die in den Weltausstellungen präsentierten Ergebnisse nationaler Arbeit den Vergleich mit den (antiken) „Olympiaden“ benutzt; vgl. den Beleg bei Conze: Art. Arbeit (wie Anm. 8). S. 210. 71 Zur Kontinuität des Diskurses und der Sorge um das ‚Humankapital‘ von der Zwischenkriegszeit bis in die 1970er Jahre: Ruth Rosenberger: Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland. München 2008. 72 Herbert Marcuse: Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 69, 1933.
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„die spezifische Praxis des menschlichen Daseins in der Welt“, als eine Last zwar, aber zugleich auch als eine Chance der Praxis im „Reiche der Freiheit“, eine Chance auf „freie Entfaltung des Daseins in seinen wahren Möglichkeiten“.73 Aufgrund seiner Zentralität und absoluten Unersetzbarkeit im Wortfeld war der deutsche Arbeitsbegriff vielleicht mehr als die Äquivalenzbegriffe in anderen Sprachen umstritten und durch extremen inneren Spannungsreichtum gekennzeichnet. Als ‚Arbeit‘ konnte eben jede Tätigkeit bezeichnet werden, die mühevolle und seelenlose Schufterei am Fließband ebenso wie die „freie Entfaltung des Daseins“ im Sinne Marcuses. Im Englischen, wie früher schon im Lateinischen, bot die Aufspaltung des zentralen Arbeitsbegriffs in (mindestens) zwei Vokabeln, labour und work, zumindest die Möglichkeit, mit Bedeutungsunterscheidungen zu ‚spielen‘. Hannah Arendt machte davon Gebrauch, wenn sie in ihrem Hauptwerk „The Human Condition“ (1958) zwischen labour als Lohnarbeit um des bloßen Unterhalts willen, work als immerhin selbstbestimmter, um des ‚Werks‘ willen erfolgender Güterproduktion und schließlich action als freiwilliger Aktivität im Rahmen und Dienst der Bürgergesellschaft unterschied.74 An diese Arendt’sche Unterscheidung anknüpfend hat Bénédicte Zimmermann in einem Artikel für die „Encyclopedia of the Social and Behavioural Sciences“ (2001) eine historische Großerzählung konstruiert, die eine beinahe epische Niedergangs- und Wiederaufstiegs-Qualität besitzt: Mit dem Einsetzen der Moderne, so Zimmermann, erfuhr Arbeit (im Sinne von work) zunehmend eine Reduktion auf bloße Lohnarbeit (labour), verschärft durch die Lehren der politischen Ökonomie und entsprechende Arbeits- und Wohlfahrtsgesetzgebung. In der Sozialtheorie seit den 1980er Jahren sieht Zimmermann dagegen wieder Anzeichen für eine Gegenbewegung zur Rückführung des Arbeitsbegriffs auf den (selbstbestimmten) work-Aspekt, gekoppelt mit einer Annäherung an den Arendt’schen Begriff von bürgerschaftlicher action.75 In gewisser Weise handelt es sich hier, mit Blick auf das Industriezeitalter, um eine kritische Gegenerzählung zum vorhin skizzierten optimistischen Narrativ vom Aufstieg von ‚freier Lohnarbeit‘ (free labour). Wie weit sich derartige geschichtsphilosophisch inspirierte Großerzählungen in einer an konkrete Situationen des Wortgebrauchs gebundenen historisch-semantischen Forschung bestätigen lassen, S. 257–292, hier: bes. S. 258 f., 261 f. u. 283 f. 73 Ebd. S. 263, 276 f., 284. 74 Hannah Arendt: The Human Condition. 3. Aufl. Chicago 1959. S. 79–135 (Labor), S. 136–174 (Work), S. 175–247 (Action). In der deutschen Ausgabe (Hannah Arendt: Vita Activa, oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960. S. 14) werden diese drei menschlichen Grundtätigkeiten als „Arbeiten, Herstellen und Handeln“ gefasst. 75 Bénédicte Zimmermann: Art. Work and Labor: History of the Concept. In: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, hg. von Neil J. Smelser/ Paul B. Baltes: Bd. 24. Amsterdam 2001. S. 16561–16565.
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bedarf weiterer Untersuchung. Als heuristische Hypothesen besitzen sie in jedem Fall ihren Wert. 1.4 Ist alles ‚Arbeit‘? Die Ausweitung des Arbeitsbegriffs
Anzeichen dafür, dass sich die Semantiken von ‚Arbeit‘ und work (nicht labour!) in den Jahrzehnten seit etwa 1980 tatsächlich in die von Bénédicte Zimmermann angedeutete Richtung zu bewegen scheinen, lassen sich im alltäglichen und akademischen Sprachgebrauch durchaus finden. Eine bemerkenswerte Tendenz ist insbesondere die Ausweitung der Begriffe ‚Arbeit‘ und work auf eine Vielzahl von gemeinwohl orientierten und sonstigen frei gewählten Tätigkeiten, die nicht immer ins klassische Bild lohnabhängiger Beschäftigung passen. So spricht man im Englischen neben dem traditionellen domestic work zum Beispiel von service work, community work, voluntary work, care work, educative work, work of fathering, sex work, creative work, personal maintenance work usw.76 Ähnlich redet man im Deutschen außer von der schon immer bekannten ‚Hausarbeit‘ und der auch nicht so neuen ‚Jugendarbeit‘ nun auch vermehrt von ‚Familienarbeit‘, ‚Erziehungsarbeit‘ und ‚Pflegearbeit‘,77 des weiteren von ‚Therapiearbeit‘, ‚Bürgerarbeit‘, ‚Beziehungsarbeit‘, ‚Trauerarbeit‘ oder sogar ‚Freizeitarbeit‘ und ‚Konsumarbeit‘.78 Schon seit Sigmund Freud gibt es die ‚Traumarbeit‘ und, daran angelehnt, mit starken Bezügen zu den Diskussionen um ‚Ermüdung‘ und Rationalisierung, sogar die ‚Schlafarbeit‘.79 Ein Roman Martin Walsers popularisierte den 76 Alle Begriffe in: Jane Parry/Rebecca Taylor/Lynne Pettinger/Miriam Glucksmann: Confronting the Challenges of Work Today: New Horizons and Perspectives. In: Lynne Pettinger u. a. (Hg.): A New Sociology of Work? Oxford 2005. S. 3–18. 77 Belege für die politische Diskussion um Familien-, Pflege- und Erziehungsarbeit: Thorsten Eitz: Art. Arbeit/Familienarbeit/Pflegearbeit. In: Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Schlüsselwörter und Orientierungsvokabeln, hg. von Georg Stötzel/Thorsten Eitz. 2. Aufl. Hildesheim 2003. S. 28–32. 78 Recherchen im google ngram viewer ergeben für alle diese Wörter ansteigende Trefferquoten etwa seit den 1980er/1990er Jahren, im Falle von ‚Freizeitarbeit‘ erstaunlicherweise einen ersten kleinen Höhepunkt bereits um 1938–39. Mehr als erste Anhaltspunkte können google ngram-Ergebnisse aufgrund der Undurchsichtigkeit des zugrunde liegenden Textkorpus und seiner Auswahl nicht sein; aber als Indiz und Aufforderung zur genauen Recherche sind sie allemal brauchbar. 79 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900). Gesammelte Werke: Bd. 2/3. Frankfurt a. M. 1999. S. 283 ff.; ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917). Gesammelte Werke: Bd. 11. Frankfurt a. M. 1999. S. 173 ff. Ein Beleg für ‚Schlafarbeit‘: Hans Winterstein: Schlaf und Traum (Verständliche Wissenschaft, Bd. 18). Berlin 1932. S. 23: „Die durch den Schlaf zu bewirkende Erholung ist eine Art Arbeit,
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Begriff ‚Seelenarbeit‘, der inzwischen in bestimmten Sparten der Heilpraktikerbranche verwendet wird.80 Was die Anwendung der Wörter ‚Arbeit‘ und work auf all diese Tätigkeitsfelder und Lebenswirklichkeiten bedeutet, ob es sich womöglich lediglich um einen metaphorischen Wortgebrauch handelt (so etwa bei Freuds ‚Traumarbeit‘), wäre im Einzelfall zu eruieren. Die Hypothese ist naheliegend, dass einige der genannten neueren Wortverknüpfungen einen Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung, ob immaterieller oder materieller Art (zum Beispiel Rentenanwartschaften), formulieren, der durch die verbale Gleichsetzung der betreffenden Tätigkeiten mit entlohnter Arbeit im herkömmlichen Sinne untermauert werden soll. Für diese Hypothese spricht, dass zumindest im deutschen Sprachraum der Kampf um den Ehrentitel ‚Arbeit‘ eine lange, bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition besitzt. Ein Blick in Artikel zum Lemma ‚Arbeit‘ in deutschen Lexika und Enzyklopädien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts offenbart in diesem Punkt eine erstaunliche Kontinuität. In vielen dieser Artikel legten die Autoren großen Wert darauf, dass ihre meist bürgerlichen Berufen nachgehenden Leser (seltener die Leserinnen) tatsächlich ‚Arbeit‘ leisteten, auch wenn sie keine ‚Arbeiter‘ waren. Angriffspunkt der Autoren war zunächst die von Saint-Simon und seinen Anhängern in Umlauf gesetzte, später von Marx und den Sozialdemokraten polemisch gesteigerte Unterscheidung zwischen den ‚produktiv‘ Arbeitenden und den ‚unproduktiv‘ Tätigen oder Müßigen.81 Um zu beweisen, dass Lehrer, Polizisten, Soldaten, Richter, Ärzte, Ingenieure, Händler, Professoren, Künstler oder Schauspieler tatsächlich ‚Arbeit‘ leisteten, musste diese Unterscheidung zurückgewiesen oder umdefiniert werden. So argumentierte Friedrich List, Autor des Artikels ‚Arbeit‘ im Staatslexikon von Rotteck und Welcker (1845), dass Arbeit in zweierlei Weise ‚produktiv‘ sein könne, entweder indem sie „Tauschwerthe“ produziere oder aber indem sie „productive Kräfte“ hervorbringe.82 Lehrer, Ärzte, Richter, Verwaltungsbeamte waren in Lists Augen ‚produktiv‘ im letztgenannten Sinne. Ein Pferdezüchter, so List, produziere lediglich Tauschwerte, ein Lehrer hingegen produziere (in Gestalt der unterrichteten die zu leisten ist. Man kann aber das gleiche Arbeitspensum in sehr verschiedener Zeit erledigen, je nachdem wie intensiv man arbeitet, wie sehr man sich in die Arbeit ‚vertieft‘. Vermutlich wird auch die ‚Schlafarbeit‘ um so rascher erledigt, je tiefer sie ist, und dauert um so länger, je oberflächlicher sie durchgeführt wird.“ Für diesen Beleg danken wir Hannah Ahlheim (Göttingen). 80 Martin Walser: Seelenarbeit. Frankfurt a. M. 1979; Sabrina Roithner: Die aktive Seelenarbeit. Das Praxisbuch für Energetiker. München 2014. 81 Zu den entsprechenden Vorwürfen der deutschen Sozialdemokraten siehe den Beitrag von Thomas Welskopp in diesem Band, S. 249–267. 82 Friedrich List: Art. Arbeit. In: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hg. von Carl von Rotteck u. Carl Welcker, 2. Aufl.: Bd. 1. Altona 1845. S. 604–609, hier: S. 607.
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Kinder) die produktiven Kräfte der Zukunft. Auch das Hauspersonal zählte List zu den ‚produktiv‘ Arbeitenden, weil es dem Hausherrn den Rücken für wichtigere Geschäfte freihalte und der „Hausfrau“ die Kindererziehung ermögliche und somit wiederum die produktiven Kräfte der Gesellschaft vermehren helfe.83 Lists Definition ‚produktiver Arbeit‘ war damit kompatibel mit traditionellen Geschlechterrollen, die für (verheiratete, bürgerliche) Frauen bezahlte Lohnarbeit nicht vorsahen. Größte Mühe bereitete es List, darüber hinaus sogar Kapitalisten und Rentiers unter die ‚produktiv‘ Arbeitenden zu rechnen. Solange die Kapitalisten ihr Vermögen „durch Industrie“ erworben hätten, dienten sie, so meinte er, den industriellen Klassen als Ansporn, auf gleichem Wege ans Ziel zu gelangen. Und solange die Rentiers „sich durch Dienstleistungen, die sie dem Publicum erweisen, durch thätige Theilnahme an gemeinnützigen Anstalten, durch Beförderung der Wissenschaften und Künste, durch Unterstützungen neuer Unternehmungen auszuzeichnen streben“, galten auch sie ihm als ‚produktiv‘.84 Die semantischen Kämpfe um die Grenzziehung zwischen denen, die den Ehrentitel eines ‚Arbeitenden‘ verdienten, und denen, die davon (und damit von sozialer Anerkennung) ausgeschlossen wurden, endeten keineswegs im 19. Jahrhundert. Allerdings änderten sich, erneut ablesbar in deutschen Lexikon- und Enzyklopädieartikeln, die Leitunterscheidungen, entlang derer die Grenzen gezogen wurden. Die Unterscheidung produktiv/unproduktiv verlor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich an Bedeutung. Andere Unterscheidungen traten in den Vordergrund: gesellschaftlich nützlich/nicht nützlich, zweckgerichtet/spielerisch; im 20. Jahrhundert dann zunehmend: gemeinnützig/egoistisch sowie arbeitswillig/‚arbeitsscheu‘, wobei die letztgenannte Bezeichnung bis 1945, oft mit rassenbiologischen Annahmen unterlegt, zum absoluten Ausschluss-, ja Vernichtungskriterium wurde.85 Das Bemühen bürgerlicher Autoren, die Hochwertvokabel ‚Arbeit‘ auf alle möglichen Tätigkeiten anzuwenden und so insbesondere bürgerliche Gruppen gegen den Marx-Engels’schen Vorwurf, zwar nicht zu arbeiten, wohl aber zu erwerben, 86 83 Ebd. 84 Ebd. S. 608. 85 Vgl. Julia Hörath: „Arbeitsscheue Volksgenossen“. Leistungsbereitschaft als Kriterium der Inklusion und Exklusion. In: Buggeln/Wildt (Hg.): Arbeit im Nationalsozialismus (wie Anm. 37). S. 309–328. Vgl. in dem gleichen Band auch mehrere Beiträge zur Arbeitsideologie des NS, zur Realität der Zwangsarbeit und der ‚Vernichtung durch Arbeit‘ sowie ihrer Wahrnehmung durch Opfer, Täter und Überlebende in den NSKonzentrationslagern; als neuere Fallstudie (Neuengamme) dazu außerdem: Marc Buggeln: Arbeit und Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme. Göttingen 2009. 86 Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest (1848/90), hg. von Gareth Stedman Jones. München 2012. S. 271: „Hiernach müßte die bürgerliche Gesellschaft
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in Schutz zu nehmen, ließ sich mit den Großerzählungen von der Aufwertung sowie der nationalen oder religiösen Überhöhung von ‚Arbeit‘ leicht in Verbindung bringen. Auch mit der Erzählung vom Aufstieg der ‚freien‘ Arbeit waren im Einzelfall Verknüpfungen möglich, so, wenn im Brockhaus des Jahres 1851 „Arbeit, aber freie Arbeit und für eigene Rechnung“ als das „Höchste“ bezeichnet wurde, „wonach der civilisirte Mensch ringt und ringen muß“.87 Nicht freie Lohnarbeit (wie in den Britannica-Artikeln zu labour), sondern die freie Arbeit als Selbständiger, das Idealbild der selbständig Gewerbetreibenden und der ‚freien Berufe‘ also, wurde hier zum Gipfelpunkt der Zivilisationsentwicklung erklärt. Wie weit sich schon im 19. Jahrhundert ähnliche Ausdehnungen des Arbeitsbegriffs auf verschiedene Tätigkeitsfelder und -formen außerhalb des deutschen Sprachraums finden lassen, ist eine offene Frage. Die erwähnte Zentralität des deutschen Begriffs ‚Arbeit‘ im Wortfeld mag die frühe Ausweitung besonders begünstigt haben. Etwas zeitverschoben scheint aber auch in Frankreich der Begriff travail genutzt worden zu sein, um den Rechtfertigungsdruck auf Rentiers und andere im herkömmlichen Sinne Nichtarbeitende zu erhöhen. So bemerkte François Simiand im Artikel „Travail“ der Grande Encyclopédie (1902), dass der ‚Adel der Arbeit‘, gleich welcher Art, noch eine recht junge Idee sei: „La noblesse du travail, de tout travail, la considération du travail comme l’idéal humain, comme l’élément fécond et estimable entre tout de la vie sociale, est une idée relativement récente, qui semble se développer.“88 Und Lucien Febvre schrieb in seinem Aufsatz zum Arbeitsbegriff von 1948, dass ein Mann seiner Altersgruppe in den Jahren zwischen 1880 und 1940 den allmählichen Niedergang in der Wertschätzung des Nichtstuenden, des Nichtarbeitenden, des faulen Rentiers und – mit angemessener Verzögerung – der Frau ohne Beruf erlebt habe: „Un homme de mon âge a vu, entre 1880 et 1940, s’accomplir la grande déchéance de l’homme qui ne fait rien, de l’homme qui ne travaille pas, de l’oisif rentier et s’amorcer – (avec le retard convenable) – le discrédit de la femme ‚sans profession.‘“89 Eine Begriffsausweitung ganz anderer Art war es, wenn in den totalen Kriegen des 20. Jahrhunderts, jedenfalls im deutschen Sprachraum, auch das soldatische längst an der Trägheit zugrunde gegangen sein; denn die in ihr arbeiten, erwerben nicht, und die in ihr erwerben, arbeiten nicht.“ Vgl. zu diesem Vorwurf und der bürgerlichen Antwort darauf auch Hermanns: Arbeit (wie Anm. 1). S. 288 ff. 87 Anon.: Art. Arbeit. In: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon (Brockhaus). 10. Aufl.: Bd. 1. Leipzig 1851. S. 598– 599, hier: S. 599. 88 François Simiand: Art. Travail (II. Sociologie et économie politique). In: La grande encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts par une société de savants et de gens de lettres, sous la direction de [Marcellin] Berthelot: Bd. 31. Paris o. J. [1902]. S. 320–326, hier: S. 322. 89 Febvre: Travail (wie Anm. 13). S. 23.
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Töten, die mechanische Kriegführung, ja sogar der industrielle Massenmord an Juden und anderen Bevölkerungsgruppen mit dem Vokabular der alltäglichen Arbeitswelt beschrieben wurden. Belege für derartige Wortverwendungen sind in Deutschland zahlreich, teils kritisch-distanziert, teils affirmativ. Durchaus mit einem gewissen Schaudern notierte Harry Graf Kessler seine Eindrücke von der Bedienung neuer Kruppmörser an der Front in Belgien: Die Feuerleitung geschah durchs Telefon, „genau wie ein Bankier Orders für Kaufen und Verkauf an die Börse telephoniert, eine ganz methodische Bureautätigkeit, eine methodische Geschäftstätigkeit“, aber mit hundertfach todbringender Wirkung pro Order.90 Sehr viel mehr identifizierte sich jemand wie Ernst Jünger mit dem von ihm in den „Stahlgewittern“ stilisierten Bild des Krieges als „Handwerk“ und des Soldaten als Arbeiter, dessen „Arbeitstracht“ die Uniform war.91 In Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg finden sich immer wieder Formulierungen, in denen die Bewachung von ZwangsarbeiterInnen, Ausplünderungen, Partisanenverfolgungen, sogenannte Säuberungsaktionen oder Erschießungskommandos als ‚Arbeit‘ bezeichnet wurden und damit die Abstumpfung der Täter gegenüber den Routinen der verbrecherischen Kriegführung ausdrückten.92 In einzelnen Fällen mochte sich die Gleichsetzung mörderischen Tuns mit ‚Arbeit‘ in ein Glaubensbekenntnis zum Dienst am nationalen Ganzen einfügen, bei den meisten Schreibern handelte es sich eher um einen verbalen Schutz-, Selbsttäuschungs- oder Fluchtmechanismus, eine Strategie, das Unaussprechliche sprachlich zu routinisieren, zu normalisieren oder rückblickend zu verharmlosen.93 Die mentale Flucht in einen die Folgen und Fragen nach dem Sinn des eigenen Tuns ausblendenden „Arbeitsexistentialismus“ gab es in Deutschland auch in einer 90 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch: Bd. 5: 1914–1916, hg. von Günter Riederer u. Ulrich Ott. Stuttgart 2008. 22. August 1914. S. 93; vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. 5. Aufl. München 2014. S. 152. 91 Ernst Jünger: In Stahlgewittern (zuerst: 1920). In: ders.: Sämtliche Werke, Erste Abteilung, Tagebücher: Bd. 1. Stuttgart 1978. S. 195; vgl. Leonhard: Büchse der Pandora (wie Anm. 90). S. 550. 92 Für Belege: Michaela Kipp: „Großreinemachen im Osten“. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a. M./New York 2014. S. 68, 94, 110, 113, 164, 167, 201 f., 291, 306, 412; Ernst Klee/Willi Dreßen/Volker Rieß (Hg.): „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Frankfurt a. M. 1988. S. 75, 99 ff., 149, 158, 160 f., 100. Vgl. auch Alf Lüdtke: War as Work. Aspects of Soldiering in 20th Century Wars. In: ders./Bernd Weisbrod (Hg.): The No Man’s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century. Göttingen 2006. S. 127–151. 93 So extrem bei Adolf Eichmann, der seinen Einsatz bei der Deportation der ungarischen Juden in den letzten Kriegsmonaten damit rechtfertigte, dass in Berlin wegen des Bombenkriegs keine „sachliche Arbeit“ mehr möglich gewesen sei: Jochen von Lang (Hg.): Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Berlin 1982. S. 183.
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nichtmilitärischen, zivilen Variante, sowohl in den Nachkriegsjahren der Weimarer Republik als auch an der Heimatfront während des Zweiten Weltkriegs.94 Wenn Fritz Haber 1926 in einer Rede vor amerikanischen Ärzten bemerkte, dass Arbeit in Deutschland nach der Niederlage und der Demütigung von Versailles „die Zuflucht der Menschen, die seelisch und materiell leiden“, geworden sei, so hatte er eine solche arbeitsexistenzialistische Haltung vor Augen.95 Wiederum wäre die Frage zu klären, ob diese Gebrauchsweisen des Arbeitsbegriffs für Deutschland spezifisch waren oder in anderen Ländern oder vergleichbaren Situationen ebenfalls auftauchten. Ausweitungen des Arbeitsbegriffs auf Tätigkeiten aller Art konnten mithin Verschiedenes bedeuten, verschiedenen Zwecken dienen. Sie konnten ein Streben nach sozialer Teilhabe und Anerkennung ausdrücken, bestimmte Formen des Erwerbshandelns im Vergleich zu anderen aufwerten, der Zurückweisung des Vorwurfs der Unproduktivität und Faulheit dienen, als psychologischer Selbstschutz fungieren oder weithin geächteten Taten bis hin zum Mord den Anschein des Normalen geben. Die Auffassung, der Arbeitsbegriff sei durch seine inflationäre Verwendung allmählich „ein semantisch leerer, ein bedeutungsloser Begriff “ geworden, scheint indes zu weitgehend.96 Bedeutungen im pragmatischen Sinne lassen sich sehr wohl jeweils bestimmen. Eine kohärente Großerzählung lässt sich aus den verstreuten Befunden vorerst nicht gewinnen. Werner Conze spricht an einer Stelle seines Artikels von der „Totalitätstendenz“, die der deutsche Arbeitsbegriff insbesondere in den 1930er Jahren angenommen habe, und er erfasst damit gewiss eine, aber auch nur eine Facette der hier skizzierten semantischen Horizontausdehnung von ‚Arbeit‘.97 Conze mag Autoren wie Ernst Jünger im Sinn gehabt haben, der in seiner Schrift „Der Arbeiter“ (1932) feststellte, dass zur Arbeit kein Gegensatz mehr denkbar sei: „Der Arbeitsraum ist unbegrenzt, ebenso wie der Arbeitstag vierundzwanzig Stunden umfaßt. Das Gegenteil 94 Den Terminus „Arbeitsexistentialismus“ übernehmen wir von: Frank Trommler: „Deutschlands Sieg oder Untergang“. Perspektiven aus dem Dritten Reich auf die Nachkriegsentwicklung. In: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hg.): Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949. Opladen 1987. S. 214–228, hier: S. 220–223. 95 Fritz Haber: [Rede vor in Deutschland weilenden amerikanischen Ärzten, Sonderdruck, Juni 1926]. Zit. nach: Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007. S. 89. 96 Christian Bermes: Arbeit, Beruf und Person. Anthropologie des Handelns und Arbeitens. In: Wieland Jäger/Kurt Röttgers (Hg.): Sinn der Arbeit. Soziologische und wirtschaftsphilosophische Betrachtungen. Wiesbaden 2008. S. 45–67, S. 51; Bermes qualifiziert diese Aussage allerdings in dem Sinne, dass es heute kein Vorbild oder keinen Maßstab mehr gebe, der die Bedeutung des Arbeitsbegriffs festlegen könne. Die Konsequenz daraus müsste lauten, dass ‚Bedeutung‘ sich eben nur situativ bestimmen lässt. 97 Conze: Art. Arbeit (wie Anm. 8). S. 212.
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der Arbeit ist nicht etwa Ruhe und Muße, sondern es gibt unter diesem Gesichtswinkel keinen Zustand, der nicht als Arbeit begriffen wird.“98 Würde man allerdings diese Sätze Jüngers aus ihrem damaligen, heroisch-deutschnationalen Kontext herauslösen und sie versuchshalber, ohne an der Formulierung etwas zu ändern, in einen zeitkritischen Feuilletonartikel zu den Arbeitsverhältnissen in unseren modernen Dienstleistungsbranchen einfügen, erhielten sie plötzlich einen ganz anderen Klang. Jede deutsche Spezifität wäre verschwunden; man befände sich in einem weltweit geläufigen Diskurs, der das Verschwimmen der Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben, zwischen Erwerbsarbeit und Freizeitbeschäftigung, zwischen den verschiedenen, oft kurzfristigen Jobs beklagt.99 Unsere experimentelle Kontextverschiebung sollte uns als Warnung dienen, mit vorschnellen Behauptungen nationaler Sonderwege der Begriffsentwicklung vorsichtig zu sein. 1.5 Niedergang und Beharrungskraft bezahlter Erwerbsarbeit (salariat)
Bei aller Wertschätzung, die gemeinnützige und sonstige freiwillige Tätigkeiten jenseits klassischer Lohnarbeit heute dadurch erfahren, dass sie als ‚Arbeit‘, work oder travail bezeichnet werden, ist unübersehbar, dass das Modell abhängiger bezahlter Lohnarbeit in einem stabilen Beschäftigungsverhältnis überall auf der Welt ungebrochen attraktiv ist. Die Sehnsucht nach einem festen, dauerhaften ‚Arbeitsplatz‘ und das Streben nach der damit in den Augen der Arbeitsplatzbesitzer wie der Arbeitslosen verbundenen sozialen Zugehörigkeit und Sinnerfüllung scheinen sogar in dem Maße gestiegen zu sein, wie in den letzten Jahrzehnten das sogenannte ‚Normalarbeitsverhältnis‘ zu erodieren begann.100 Robert Castel hat die Paradoxien der Verlustrechnungen, die die Lohnabhängigen mit der Erosion des salariat überall in der westlichen Welt, besonders aber in Frankreich, aufmachen, scharfsichtig offengelegt.101 Nachdem die französische Arbei98 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hamburg 1932. S. 87. 99 Richard Sennett fasst die letztgenannte Erfahrung im neuen Sozialtyp des drifter: Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die neue Kultur des Kapitalismus. Berlin 2006. S. 31: „Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befördern vielmehr eine Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tätigkeit zu Tätigkeit driftet.“ Vgl. auch: Arlie Russell Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen 2002. 100 Vgl. als eine Stimme von vielen: Ralph Obermauer: Die Hölle, das ist ohne die Anderen. Tätigkeit und sozialer Sinn in politischen Diskursen. In: Tun und Lassen. Über Arbeiten (polar 4, Frühjahr 2008). S. 7–11. 101 Robert Castel: Les métamorphoses de la question sociale. Une chronique du salariat. Paris 1995.
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terbewegung, so Castel, das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts das salariat als Inbegriff der Sklaverei und Unterdrückung bekämpft hatte, entdeckte sie ihre Liebe zu dieser Daseinsform als vermeintlicher Normalform der Arbeitsorganisation gerade in dem historischen Moment, als die Anzeichen für seine Auflösung sich mehrten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass eine Reihe von Wortbildungen, die die (negativen) sozialen Folgen der neuen Arbeitsverhältnisse, denen insbesondere die jüngeren Generationen ausgeliefert sind, aus Frankreich stammen. Das betrifft den von Castel abgelehnten, oder jedenfalls kritisch gesehenen, weil zu undifferenzierten Begriff der ‚Exklusion‘ durch Nicht-mehrTeilhabe am Arbeitsmarkt,102 das betrifft aber auch die Begriffe der ‚Verwundbarkeit‘ (vulnerabilité), der ‚prekären‘ Beschäftigungsverhältnisse (emplois précaires) und der ‚Prekarisierung‘ (précarisation), aus denen in Deutschland – wohl in Anlehnung an den französischen Wortgebrauch – die substantivierte Form des ‚Prekariats‘ als Sammelbezeichnung für sogenannte ‚atypische‘ Lebens- und Beschäftigungsformen, wenn nicht gar für eine neue Klasse, geworden ist.103 Der Unterton der Verwunderung, mit dem Robert Castel das Festhalten der französischen Arbeiter- und Angestelltenklassen am obsolet werdenden, aus marxistischer oder humanistischer Sicht eigentlich verachtenswerten Modell des salariat kommentiert, taucht mit anderen Akzentuierungen auch in der angloamerikanischen Diskussion auf. So fragt sich die amerikanische Soziologin und Umweltaktivistin Sharon Beder, wie es komme, dass Millionen von Menschen in kapitalistischen Systemen bezahlte Arbeit als einzigen Lebenssinn begriffen: „How did paid work come to be so central to our lives? Why is it that so many people wouldn’t know what to do with themselves or who they were if they did not have their jobs?“104 Anders als Castel, der dafür eher strukturelle Faktoren wie den mit dem Arbeitssystem eng 102 Ebd. S. 715 f.: „L’exclusion n’est pas une absence de rapport social mais un ensemble de rapports sociaux particuliers à la société prise comme un tout. Il n’y a personne en dehors de la société, mais un ensemble de positions dont les relations avec son centre sont plus ou moins distendues […]. il n’existe aucune ligne de partage claire entre ces situations et celles un peu moins loties des vulnérables, qui, par exemple, travaillent encore mais pourront être licenciés le mois prochain […]. Les ,exclus‘ sont le plus souvent des vulnérables qui étaient ,sur le fil‘ et qui ont basculé.“ 103 Zum Begriff ‚Verwundbarkeit‘ vgl. Robert Castel: „Die neue Verwundbarkeit“ (Interview). In: Tun und Lassen (wie Anm. 101). S. 59–61. Zur Diskussion über das ‚Prekariat‘ vgl. Claudio Altenhain u. a. (Hg.): Von „Neuer Unterschicht“ und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten. Bielefeld 2008; Michael Stelzel: Generation Praktikum. Atypische Beschäftigung und modernes Prekariat im Fokus. Wien 2009; Gabriela Stockmann (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt? 20 Interviews aus dem Prekariat. Gösing 2011. 104 Beder: Selling the Work Ethic (wie Anm. 8). S. 1.
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verkoppelten Sozialstaat verantwortlich macht, sucht Beder die Ursachen vor allem in einer im 16.–17. Jahrhundert beginnenden, zunächst religiös, später ideologisch motivierten Tradition des Predigens einer bestimmten work ethic. Darin durchaus Max Weber ähnlich, geht sie über ihn hinaus (oder fällt hinter ihn zurück), indem sie – ideologiekritisch – gegen die alten und neuen Prediger den schon von William Morris und Bertrand Russell geäußerten Verdacht vorbringt, sie würden anderen die lohnende Härte der Handarbeit vor allem deshalb predigen, um davon abzulenken, dass sie selbst nicht in gleicher Weise arbeiteten. Beder ergänzt diesen klassischen Vorwurf allerdings um eine wachstumskritische, antikapitalistisch und ökologisch motivierte Perspektive, wenn sie den (amerikanischen) Arbeits- und den Konsumfetischismus als eine ‚Tretmühle‘, die „work/consume treadmill“ bezeichnet, aus der man im Interesse der natürlichen Umwelt aussteigen müsse.105 Appelle, die neuen Formen freiwilliger, formal selbständiger, teils gemeinnütziger, teils kreativer, teils gewinnorientierter Tätigkeit als Chance zu begreifen, die neue Existenzform des „Arbeitskraftunternehmers“ (Bröckling) als Zugewinn an Freiheit zu sehen, gibt es viele.106 Und sie scheinen bei Teilen der kreativ tätigen, metropolitanen, meist akademisch gebildeten Eliten in Selbstbeschreibungen auch aufgegriffen zu werden.107 Melissa Logan, Gründerin des Münchener Kunstkollektivs „Chicks on Speed“, drückt es so aus: „Festanstellung kam nie in Frage. Das ist der Tod! Es gibt immer neue Projekte, Lebensmodelle, Arbeitsmodelle, Ideen durch Experimentieren zu entwickeln. Wir sind nicht theoretisch, wir sind nie satt. Es treibt uns an, verschiedene Sachen auszuprobieren.“ Holm Friebe, Gründer des Berliner virtuellen Denk- und Design-Netzwerks „Zentrale Intelligenz Agentur“, möchte für die „neue Qualität“ des Tätig-Seins in derartigen Netzwerken den alten Begriff der „Bohème“ wiederbeleben, weil dieser eine Lebensform jenseits von „Einzelkämpfertum“ und „großen korporatistischen Strukturen“ bezeichne. Friebe merkt allerdings (selbst) kritisch an, dass diese neuen digitalen Bohemiens „vorwiegend männlich“ und „vorwiegend Singles“ seien. Und die Sozialwissenschaftlerin Christiane Schnell ergänzt, dass es auf Dauer für kaum jemanden befriedigend sei „nur von der Hand in den Mund zu leben“, „immer wieder vor der Null zu stehen, weil der nächste Auftrag in zwei Monaten endet“. Es bedürfe „individueller Ressourcen“, man brauche vor allem
105 Ebd. S. 4. 106 Vgl. zur Figur des „Arbeitskraftunternehmers“ den Beitrag von Ulrich Bröckling in diesem Band, S. 371–390. 107 Vgl. zu den Anfängen ‚alternativer‘ Arbeits- und Lebenskonzepte in den 1980er Jahren den Beitrag von Dietmar Süß in diesem Band, S. 347–369.
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einen „hochprivilegierten Bildungshintergrund“, vielleicht auch „das erwartete Erbe von den Eltern“, um sich in der „Bohème“ einrichten zu können.108 Das Pendant zur neuen Elite der Bohemiens ist am unteren Ende der Gesellschaft die ICH-AG. Martin Diewald betrachtet die ICH-AG allerdings als eine Metapher und ein Leitbild, das weit über die konkret damit gemeinte Arbeitsförderungsmaßnahme hinausreiche. Es gehe um die „psychische Mobilisierung der Erwerbsbevölkerung“, um „Selbststeuerungsfähigkeit“, „Flexibilität“, permanente „Weiterbildung“ und ständige Arbeit an der eigenen „employability“.109 Damit sind einige der Euphemismen, häufig englischer Herkunft, benannt, die in den Managermagazinen, Stellenanzeigen und Berufsratgebern die angeblich so positiven neuen Arbeitserfahrungen umschreiben. Es ist eine neue, transnationale Sprache der Arbeitswelt entstanden, durch die der Eindruck weltweiter Konvergenz von Arbeitsverhältnissen suggeriert wird. Man wird aufgefordert, sich über „total quality management“, „lean production“ oder „coaching“-Angebote zur verbesserten „employability“ zu freuen; man soll durch „life-long-learning“ und „portfolio working“ zu mehr „flexibility“ gelangen und zum „multitasking“ fähig werden, zugleich seine „job satisfaction“ und die „work-life balance“ im Auge haben, dadurch sein eigenes „empowerment“ bewirken usw.110 Die Verflüssigung des auf Erwerbsarbeit zentrierten Arbeitsbegriffs des industriellen Zeitalters ist durch diesen transnationalen Diskurs tatsächlich weit vorangeschritten. Trotzdem bleibt es dabei, dass für große Bevölkerungsmehrheiten weltweit die feste Beschäftigung mit erwartbarem Lohn und geregelter Abwechslung von ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘, kurz das salariat, die bevorzugte Arbeits- und Lebensform bleibt. Sie gilt als Bestätigung für den Eintritt ins Erwachsenenalter, als entscheidende Voraussetzung zur Familiengründung mit gefestigten Geschlechterrollen, schließlich als Garant für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. So gesehen ist das von Soziologen seit den 1980er Jahren mehr oder weniger besorgt diskutierte „Entschwinden der Arbeitsgesellschaft“ (Dahrendorf ) noch lange nicht in Sicht.111 Als Anspruch bleibt die Arbeitsgesellschaft 108 Alle Zitate in: „Festanstellung ist der Tod“. Holm Friebe, Adrienne Goehler, Christiane Schnell und Melissa Logan im Gespräch. In: Tun und Lassen (wie Anm. 100). S. 114–120, hier: S. 116 u. 118 f. 109 Martin Diewald: Die neue Arbeitsgesellschaft als ICH-AG? In: Gerd Nollmann/Hermann Strasser (Hg.): Das individualisierte Ich in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M./New York 2004. S. 110–129, hier: S. 110 u. 114 f. 110 Für Gebrauchszusammenhänge einiger der genannten Vokabeln im Deutschen siehe: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2004; für das Englische vgl. Norman Fairclough: New Labour, New Language? London/New York 2000. S. 57–61. 111 Ralf Dahrendorf: Im Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens. In: Merkur, 34, 1980. S. 749–760. Für den
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mit ihrer vorherrschenden Form, dem salariat, bestehen, auch wenn die ökonomischen Bedingungen für ihre Aufrechterhaltung ungünstiger werden.
2 Erweiterungen: Über Arbeit sprechen und Arbeit zur Sprache bringen Wie oben bereits angedeutet, lässt sich der Kern unseres Ansatzes als eine ‚breite‘ und ‚reiche‘ historische Semantik beschreiben, die keine bloß punktuelle Begriffsgeschichte meint, sondern nach einer Vielzahl von Situationen des Wortgebrauchs fragt und damit ausdrücklich die Praxis und konkreten Handlungsfelder des Sprechens über Arbeit in den Blick nimmt. Es geht uns dabei nicht darum, a priori universalistische und damit ahistorische Definitionen zu erarbeiten. Hier gilt paradigmatisch Nietzsches Diktum, dass sich alle Begriffe, die eine Geschichte enthalten, der Definition entziehen. Wir plädieren für eine große Vielfalt von Bezeichnungen und Vokabularen, die den Semantiken von Arbeit zugrunde liegt, und für eine ausgesprochene Vieldeutigkeit von Arbeit. All das schließt die Möglichkeit aus, den einen Arbeitsbegriff zu identifizieren und dessen Geschichte nachzuzeichnen. Trotzdem kann die konkrete Analyse nicht völlig auf ein gewisses Vorverständnis, eine basale Vorstellung, einen analytischen Zugriff auf das auskommen, was Arbeiten bedeutet – ohne diese Basis würde schon die Auswahl der Untersuchungsgegenstände schwierig. Und tatsächlich zeigen die meisten Beiträge dieses Bandes, dass man ohne ein solches minimales Vorverständnis, was in einer konkreten Situation und Konstellation unter Arbeit verstanden werden soll, nicht auskommt. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Anliegen des Bandes als zweifache Aufgabe beschreiben: Es geht darum, im Sinne einer vergleichenden, kultur- und epochenübergreifenden Semantik von ‚Arbeit‘ die Balance zwischen einem hinlänglich breiten und einem zureichend trennscharfen Begriff zu finden und zugleich das Bewusstsein für die Spannung zwischen analytischem Sprachgebrauch und historischer Semantik zu schärfen. Der vorliegende Band nimmt gegenüber den Tendenzen der bisherigen Forschung mindestens drei Erweiterungen vor: zeitlich, räumlich und methodisch-disziplinär. Dadurch wird das Sprechen über Arbeit neu perspektiviert und vielgestaltiger, aber Take-off der Diskussion vgl. nur: Joachim Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt 1982. Zur Weiterentwicklung seitdem und aus historischer Perspektive: Thomas Welskopp: Der Wandel der Arbeitsgesellschaft als Thema der Kulturwissenschaften – Klassen, Professionen und Eliten. In: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften: Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2004. S. 225–246, bes. S. 225–228.
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zugleich auch widersprüchlicher. Von hier aus ergibt sich in einem weiteren Schritt auch ein veränderter Blick auf die oben skizzierten Großerzählungen, den man als Pluralisierung, Differenzierung und Historisierung genauer fassen kann. Wie lassen sich die Erweiterungen im Einzelnen genauer fassen? Zeitlich sprechen die Ergebnisse der Beiträge und der Fokus auf die longue durée der historischen Semantik von Arbeit vom Frühmittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gegen die Vorstellung von einer einzigen, eindeutig bestimmbaren ‚Sattelzeit‘ des Wortfeldes im Sinne der von den Herausgebern der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ für das deutsche politisch-soziale Vokabular postulierten ‚Sattelzeit‘ zwischen 1750 und 1850. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Knotenpunkte und Veränderungsschwellen des Bedeutungswandels ausmachen, zu denen gewiss auch unsere eigene Gegenwart gehört. Mit der Einbeziehung unterschiedlicher Sprachen in die historische Semantik ergeben sich auch je unterschiedliche Verläufe von Bedeutungswandel. Schon Ludolf Kuchenbuchs Blick auf die Semantik im Frühmittelalter unterstreicht, dass das Lateinische keinesfalls einen bloßen Vorlauf zur vermeintlich modernen Semantik von Arbeit als Unterhaltshandeln darstellte, sondern bereits ein ganzes vielfältiges Spektrum von Bedeutungsangeboten enthielt. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass es keine einfache, das heißt geradlinige Kontinuität von der ‚Vormoderne‘ zur ‚Moderne‘ gibt, welche die Entwicklungen vor 1800 zur bloßen Vorgeschichte eines im Zeitalter der Industriegesellschaften geprägten ‚modernen‘ Arbeitsbegriffes machen würde. Gegen die Vorstellung von eindeutigen Rhythmen und Konjunkturen spricht auch, dass in historisch späteren Semantiken oftmals frühere Bedeutungselemente enthalten blieben. So zeigen etwa die Beiträge von Thomas Welskopp, Jörg Neuheiser und Dietmar Süß sehr eindrücklich, wie sich traditionelle Bedeutungselemente von Arbeit auch in historisch sehr unterschiedlichen Konstellationen des späteren 19. und des späten 20. Jahrhunderts erhalten konnten und auf sie zurückgegriffen wurde. Vorstellungen einer besonderen Würde der Arbeit und das Beharren auf der mit ihr verbundenen Herstellung von Qualität knüpften auch im 20. Jahrhundert an historisch tradierte Vorstellungen eines besonderen Arbeitsethos an. Aus Leistung, Fleiß und Ausdauer wurde ein Selbstbewusstsein und ein Streben nach sozialem Aufstieg abgeleitet, das eng mit dem Ideal der Selbständigkeit und der Vorstellung verbunden war, dass Arbeitsanstrengung anerkannt werden müsse. Aus dieser Perspektive müsste man eher von Zeitschichten und Sedimenten als von Konjunkturen und Rhythmen sprechen. Jedenfalls blieben im Sprechen über Arbeit viele ältere Bedeutungsaspekte situativ verfügbar: Auch in historisch späteren Konstellationen konnten ältere semantische Kombinationen immer neu reaktualisiert werden. Mit der zweiten – räumlichen – Erweiterung verbindet sich ein Fokus auf verschiedene Sprachen innerhalb und außerhalb Europas. Im vorliegenden Band beziehen sich die exemplarischen Erweiterungen auf den osmanisch-arabischen Raum, auf Teile Afrikas, Japan sowie die iberischen Kolonialgesellschaften Südamerikas. Mit
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den nichteuropäischen Räumen geht es damit auch um ein Spektrum von mehr oder weniger kolonial geprägten Gesellschaften, womit zugleich die Frage nach den Bedeutungsexporten aus Europa bzw. den historisch-semantischen Eigengeschichten jenseits europäischer Bedeutungstraditionen gestellt wird. Die Ausweitung auf verschiedene europäische und außereuropäische Sprachen birgt ein Irrritationspotential und beugt aufgrund der komplexen Vielfalt von Prozessen der Formulierung einseitig europazentrierter Thesen vor.112 Daraus resultieren drei Wirkungen und Probleme. Erstens erlaubt es der Vergleich, die Unterschiedlichkeit historisch-semantischer Prozesse genauer zu erkennen. Zweitens ist damit ein methodisches Problem verbunden, nämlich das der Übersetzung und Übersetzbarkeit. Reinhart Koselleck hat es anlässlich eines semantischen Vergleichs von bürgerlicher Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich 112 Den Forschungsstand zu nichteuropäischen Sprachen zu überblicken, fällt uns mangels eigener Sprachkompetenz schwer. Sicher ist, dass sich daraus noch keine größeren zusammenhängenden Erzählungen ableiten lassen, wie sie oben für den lateinisch-europäischen Raum skizziert wurden. Neben der in den Beiträgen von Sven Korzilius (S. 115–146), Reinhard Schulze (S. 191–208), Julia Seibert (S. 209–223), Gerd Spittler (S. 147–166) und Shingo Shimada (S. 309–317) in unserem Band kommentierten Forschung erscheinen insbesondere die global-vergleichend angelegten historisch-semantischen Studien innerhalb des am Instituut voor Sociale Geschiedenis in Amsterdam angesiedelten Verbundforschungsprojekts vielversprechend; für erste Ergebnisse siehe: Hofmeester/Moll-Murata: Joy and Pain of Work (wie Anm. 6). Zum Arbeitsbegriff im spätkaiserlichen und revolutionären China (mit Hinweisen auf Übersetzungsvorgänge aus dem Japanischen): Rudolf G. Wagner: Notes on the History of the Chinese Term for ‚Labor‘. In: Michael Lackner/Natascha Vittinghoff (Hg.): Mapping Meanings. The Field of New Learning in Late Quing China. Leiden/Boston 2004. S. 129–141; ders.: The Concept of Work/Labor/Arbeit in the Chinese World. In: Manfred Bierwisch (Hg.): Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Berlin 2003. S. 103–136; für das koloniale Britisch-Indien knappe begriffsgeschichtliche Hinweise bei: Ravi Ahuja: Geschichte der Arbeit jenseits des kulturalistischen Paradigmas. Vier Anregungen aus der Südasienforschung. In: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. M./New York 2000. S. 121–134, hier: S. 124 f.; für Malaysia: Norani Othman: Auffassung, Wahrnehmung und Kultur der Arbeit in der malaiischen Gesellschaft. In: ebd. S. 148–162, hier: S. 159. Für Arbeitsbegriffe in afrikanischen Gesellschaften: Georg Elwert: Jede Arbeit hat ihr Alter. Arbeit in einer afrikanischen Gesellschaft. In: ebd. S. 175–193, hier: S. 176 f., 181 u. 186; Gudrun Miehe: Zum Begriff ‚Arbeit‘ in westafrikanischen Sprachen. Die Bedeutungserweiterung der Niger-Kongo-Wurzel *-tum ‚jmd. schicken‘. In: Kurt Beck/Till Förster/Hans Peter Hahn (Hg.): Blick nach vorn. Festgabe für Gerd Spittler zum 65. Geburtstag. Köln 2004. S. 123–135; außerdem entstehen im Rahmen des von Bo Stråth und Axel Fleisch (Helsinki) initiierten Projekts „Concept Africa“ Studien von Axel Fleisch und Anne Mager zu Arbeitsbegriffen in südafrikanischen Sprachen.
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klarsichtig formuliert: „Die Untersuchung aller gesellschaftlichen Zustände und ihrer Veränderungen bleibt auf die sprachlichen Quellen verwiesen, die davon zeugen können. Jeder Vergleich muß also doppelgleisig verfahren: Die Sprachzeugnisse müssen übersetzt werden, um semantisch vergleichbar zu werden. Aber ebenso müssen die daraus erschlossenen sozialen, ökonomischen und politischen Vorgänge ihrerseits vergleichbar gemacht werden – was ohne die sprachlichen Vorgaben und ihre Übersetzungen nicht möglich ist. Insofern hängt jeder Vergleich von der Übersetzbarkeit sprachlich je verschiedenartig gespeicherter Erfahrungen ab, die aber als Erfahrungen an die Einmaligkeit der jeweiligen Sprache zurückgebunden bleiben. Wir stehen also methodisch vor einer aporetischen Situation.“113 Der semantische Nominalismus, also die häufig unreflektierte Übersetzung unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Erwartungen in einem scheinbaren Äquivalenzbegriff einer Sprache – man denke nur an die exemplarische Unschärfe zwischen ‚Arbeit‘ im Deutschen sowie work und labour im Englischen – ist seinerseits Kennzeichen des Vergleichs. Um die Untersuchungsfälle vergleichbar zu machen, müssen die Begriffe übersetzt werden. Aber diese Übersetzung ist immer in der Gefahr, die Einmaligkeit der historischen Erfahrungsverdichtung in der jeweiligen Sprache zugunsten eines scheinbaren Äquivalents zu nivellieren. Aus dieser Differenz zwischen Übersetzungsdesiderat und semantischem Nominalismus entsteht eine aporetische Situation. Sie ließe sich methodisch nur umgehen, wenn bei der Übersetzung „die sprachlich nicht einholbaren Differenzierungen mitreflektiert“ würden,114 was für den länderübergreifenden Vergleich eine Metasprache voraussetzt, die aber nicht existiert. Dieser Grenze der komparativen historischen Semantik muss man sich bewusst bleiben.115 Drittens schließlich verschärft sich dadurch das eingangs bereits angesprochene Grundproblem dieses Bandes, das in der Frage aufscheint, ob es einen abstrakt bestimmbaren Bedeutungskern eines allgemeinen Arbeitsbegriffs gibt, der gleichsam überzeitlich und kulturneutral zu fassen wäre.116 Hier erlauben die Beiträge gegenüber 113 Reinhart Koselleck/Willibald Steinmetz/Ulrike Spree: Drei bürgerliche Welten. Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich. In: Hans-Jürgen Puhle (Hg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Göttingen 1991. S. 14–58, hier: S. 21 f. 114 Ebd. S. 22. 115 Vgl. Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001. S. 83 f.; Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka: Historischer Vergleich, Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1996. S. 9–45, hier: S. 35. 116 Vgl. zur Begriffsbildung ‚Arbeiterklasse‘ bei Marx, die eine bestimme Form der abhängigen Arbeit privilegiert: Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth: Einleitung. In: dies. (Hg.): Über Marx hinaus (wie Anm. 63). S. 7–28, hier: S. 23 f.
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der in Europa historisch privilegierten Sicht auf Arbeit als Subsistenzhandeln und der Priorisierung der abhängigen Lohnarbeit vor dem Hintergrund der Entwicklung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durchaus unterschiedliche Antworten. Die Vielfalt von Bedeutungsangeboten stellt sich im Übrigen nicht erst aus globaler oder innereuropäischer Perspektive ein, sondern wird schon bei einer genaueren Untersuchung selbst für den deutschen Sprachraum sehr deutlich. Die Frage, wie die historische Semantik von Arbeit im vorliegenden Sammelband konkret umgesetzt worden ist, führt zur dritten – methodisch-disziplinären – Erweiterung, zum Modus der konkreten Untersuchungen, dem ‚Wie‘ der Analyse. Diese Perspektive ist von den methodisch und disziplinär ganz unterschiedlichen Suchstrategien geprägt: Wie gehen unsere Autorinnen und Autoren in ihren wissenschaftlichen Suchbewegungen vor, und in welchem Verhältnis stehen diese zueinander? So wenig der vorliegende Band einer Idealdefinition von Arbeit anhängt, so wenig lassen sich die Beiträge stringent auf das Programm einer historischen Semantik im engen Sinne reduzieren. Sie oszillieren vielmehr zwischen methodischer Strenge und Systematik und solchen Kontextualisierungen, die eigentlich erst Grundlagen für eine historischsemantische Analyse darstellen. Schon in dieser relativen methodischen und disziplinären Offenheit wird der Weg von der punktuellen Begriffsgeschichte zur weiter gefassten historischen Semantik erkennbar: Es geht nicht um die Aneinanderreihung von diachronen Wortbestimmungen und Begriffsdefinitionen, sondern darum, für die Analyse von bestimmten „Situationen des Wortgebrauchs“ (Kuchenbuch) auszugehen. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass Bedeutung sich erst im Kommunikationsprozess und damit in konkreten Kommunikationsräumen bzw. ‚Situationen‘ konstituieren lässt. Vor diesem Hintergrund haben wir Autorinnen und Autoren, die eine spezifische Expertise und Quellenkenntnis für die Geschichte von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsformen in konkreten Zeit- und Handlungsräumen besitzen, gebeten, genauer als sie es vielleicht bisher in ihren Forschungen getan haben, auf den je besonderen Wort- und Sprachgebrauch im Bedeutungsfeld von Arbeit zu achten. Diesen Gebrauch von Begriffen in spezifischen Situationen sollten sie als „concepts in action“ begreifen und damit die vom Wortgebrauch ausgehende konstitutive Wirkung für die Geschichte von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsbeziehungen in den Blick nehmen. Die historische Semantik von Arbeit und Nicht-Arbeit, wie sie im Sprechen über Arbeit erkennbar wird, soll also nicht mehr als gleichsam abgehobene begriffsgeschichtliche MetaErzählung über die Geschichte von Arbeitsverhältnissen und Arbeitserfahrungen gelegt werden, sondern bewusst in die konkrete Geschichte von Arbeit integriert werden. Insofern sind die Begriffe weit mehr als bloße Abbilder sozialer Wirklichkeit, sie sind selbst Faktoren der Genese und Transformation sozialer Realität. Sie sind keine abstrakten Bedeutungsträger, sondern Ausgangspunkte von Handlungen und Faktoren in Konfliktlagen, sind eben „concepts in action“.
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Dieser Ansatz, den ‚Situationen des Wortgebrauchs‘ nachzugehen, ist nicht gleichbedeutend mit einem grundsätzlichen Verzicht auf den Anspruch, andere Synthesen als die oben skizzierten Großerzählungen zu entwickeln oder diese auf empirischer Grundlage zu verifizieren oder zu korrigieren. Aber bevor man dahin gelangen kann, sind viele zeitlich und räumlich begrenzte, präzise Analysen zu möglichst vielen Situationen des Wortgebrauchs nötig – vor allem auch für diejenigen Länder und Sprachräume, in denen man bisher noch kaum historisch-semantische Studien zu ‚Arbeit‘ oder anderen Schlüsselbegriffen unternommen hat. Das gilt unter anderem auch für Ostmittel- und Osteuropa, die in diesem Band nicht behandelt werden, wie auch für den Nahen und Mittleren Osten, für Afrika, Südamerika und Ostasien, die exemplarisch berührt werden und von daher einer europazentrischen Sicht vorbeugen. Welche Suchbewegungen lassen sich in den Beiträgen des vorliegenden Bandes differenzieren? Welche Situationen des Wortgebrauchs werden in den Blick genommen, und welche Leitmotive und Entwicklungstendenzen der historischen Semantik von Arbeit lassen sich auf dieser Grundlage identifizieren? 2.1 Semasiologie, Onomasiologie und die Grenzen des semantischen Zugriffs
Charakteristisch für die Beiträge ist eine Mischung aus semasiologischen Analysen des Wortfelds im engeren Sinn und onomasiologischen Untersuchungen zum Bedeutungs- bzw. Sinnfeld von Arbeit in einem weiteren Sinne. Neben der exemplarischen historischen Semantik bei Ludolf Kuchenbuch, basierend auf den fünf lateinischen Schlüsselbegriffen servitium, opus, artes, labores, merces, deren frühmittelalterlicher Variantenreichtum nicht in der deutschen Übersetzung von Arbeit aufgeht, stehen Analysen zu konkreten Wortgebrauchssituationen und historische sowie soziologische Kontextualisierungen. Für viele historische Zeiten und Räume geht es darum, das Terrain für künftige semantische Untersuchungen zunächst einmal zu sondieren, etwa wenn in den Beiträgen von Laura Frader und Ulrich Bröckling jene übergeordneten gesellschaftlichen Ordnungsmodelle und Organisationspraktiken beleuchtet werden, ohne die das semantische Feld und seine Strukturen nicht angemessen untersucht werden können. Aus den ethnologischen Suchbewegungen schließlich wird die Distanz zur historischen Semantik deutlich. Vor allem Gerd Spittlers Beitrag zu einer ethnographischen Semantik weist auf die Grenzen der historisch-semantischen Sprachanalyse hin. Denn das Phänomen und Sinnensemble von Arbeit kann auch durch die Worte der Arbeitenden selbst während ihrer Arbeit oder bei entsprechenden Befragungen nur unzureichend erfasst werden. Hier wird sehr deutlich, dass der Begriff der Arbeit häufig aus dem Reden über Arbeit resultiert. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, was die in solchen Äußerungen erzeugten Arbeitsbegriffe für die konkreten
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Arbeitenden in ihrem Alltag bedeuten. Die ethnographische Perspektive verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der ausdauernden Beobachtung: Selbst das die Bedeutung von Arbeit konstituierende Vokabular erschließt sich dem Fragenden erst durch eine Mischung aus ausdauernder Beobachtung, Wiederholung, Begleitung, Mittun und ‚richtiger‘ Frage. Und auch dann kann der Fragende nicht sicher sein, dass die Arbeit im Interview authentisch zur Sprache gebracht wird. Der Beitrag von Gerd Spittler und auch der auf mündlichen Zeugnissen beruhende Beitrag von Sigrid Wadauer legen jedenfalls zweierlei nahe: zum einen, dass Aussagen zur Bedeutung von Arbeit immer wieder sehr situativ geprägt sind, dass sie jedenfalls keine besondere Stabilität und Dauer beanspruchen können; zum anderen, dass die Art und Weise des Sprechens über die Arbeit auch die Arbeit selbst und die Auffassungen derjenigen mit formen, die sie konkret verrichten. Es liegt an den Interviewern und ihren besonderen Fragetechniken, welche bedeutungskonstitutiven Vokabulare bei den Gefragten evoziert werden. Das aber hat große Bedeutung für den Quellenwert der Aussagen und damit für die Reichweite des historisch-semantischen Ansatzes. 2.2 Semantische Kontinuitäten, Wiederholungen und Innovationen in der longue durée von Arbeit
Auf verschiedenen Ebenen lassen sich als Ergebnis der Beiträge längerfristige Traditions- und Kontinuitätslinien bzw. semantische Referenzbedeutungen identifizieren, auf die immer wieder Bezug genommen wurde und bis in die Gegenwart genommen wird. Dazu zählte nicht nur das Leitmotiv der Berufung auf einen besonderen Arbeitsstolz und ein distinktives Arbeitsethos, auf die Prozesse der Auswahl in der Ausbildung und die Qualität des Endprodukts. Auch das Modell der Erwerbsarbeit in den westlichen Industriegesellschaften und die auf dieses Modell hin ausgerichtete Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit bildeten in ganz unterschiedlichen Erfahrungsräumen für lange Zeit einen Faktor der relativen Bedeutungskontinuität. Demgegenüber lassen sich aber auch entscheidende Veränderungen ausmachen. Dazu zählt der spannungsreiche Prozess von Individualisierung, Kollektivierung und Re-Individualisierung von Arbeitskonzepten, etwa in der seit Jahren sichtbaren Auflösung von Tarifeinheiten zugunsten individualisierter Zeitarbeit. Solche Entwicklungen sind aber nicht mehr auf einzelne Gesellschaften beschränkt: Die globalen Vernetzungen und Vertaktungen von Produktionsprozessen bedingen auch eine weltweite Vergleichbarkeit von Arbeitsstrukturen – alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Gültigkeitsdauer, die Halbwertzeit von Arbeitssemantiken tendenziell abnimmt und es immer schwieriger wird, übergeordnete und stabile Bedeutungsreferenzen auszumachen. Auch in Europa ist Erwerbsarbeit heute nicht mehr das allein leitende Paradigma, von anderen historischen Phasen und Regionen gar nicht
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zu sprechen. Symptomatisch für diese Entwicklung dürfte die langfristige Pluralisierung der das Wortfeld konstituierenden Vokabulare sein, aus der man durchaus eine gewisse Unübersichtlichkeit in der Gegenwart ableiten kann. Im Englischen kämen neben work/labour etwa effort, toil, industry, activity, exertion, skill, employment, occupation, office, job, task, calling, pursuit, career, service, enterprise, achievement in Frage. Der Trend zur Pluralisierung der Arbeitssemantiken durch Gegenbegriffe, Verben, Gruppen- und Berufsbezeichnungen ist dabei nicht allein auf Europa beschränkt, sondern auch in Asien unübersehbar. Diese Tendenzen machen es in der Gegenwart immer schwerer, in der Vielzahl von Begriffen für Arbeit noch den einen übergeordneten Arbeitsbegriff zu identifizieren. Vielmehr lässt sich eine Entkonturierung und Inflationierung des Arbeitsbegriffs nachweisen. Die Verwendungsmöglichkeiten des Arbeitsbegriffs werden so sehr erweitert, dass private Lebensbereiche, die früher in den Bereich der Nicht-Arbeit eingeordnet worden wären, nun mit der Semantik von Arbeit verknüpft werden. Die Beispiele reichen, wie bereits erwähnt, von der ‚Beziehungsarbeit‘ über die ‚Freizeitarbeit‘ bis hin zur Arbeitssuche der Arbeitslosen, die zur ‚Arbeit‘ wird. Die Distinktionswirkung des Begriffs und damit seine polemische Qualität nehmen insgesamt ab. Es wird immer schwieriger, Arbeit und Nicht-Arbeit zu unterscheiden. Das aber bedeutet, dass die politischen und sozialen Funktionen der Kollektivbildung durch die Berufung auf Arbeit insgesamt abnehmen, weil diese Funktionen die Unterscheidung von ‚Arbeit‘ und ‚Nicht-Arbeit‘ voraussetzen. Die letzte verbliebene Funktion könnte in der Gegenwart die der Arbeit als individueller Agentur der Sinnstiftung sein – das macht den Verlust des Arbeitsplatzes zu einer umso traumatischeren Erfahrung. Alle diese Entwicklungen entziehen sich in ihren Widersprüchen der Eindeutigkeit linearer Großerzählungen. Mit dem Auslaufen der Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit wird es immer schwieriger, ein übergeordnetes Narrativ zu formulieren. 2.3 Europäische und globale Dimensionen: Importe und Exporte, Konvergenz und Divergenz
Mit den europäischen und globalen Dimensionen der historischen Semantik von Arbeit sind zugleich Fragen nach Übersetzung und Übersetzbarkeit, nach Entlehnungen aus westlichen Sprachen sowie nach Exporten und Importen etwa durch Migrationsbewegungen verbunden. Lässt sich eine globale Konvergenz von Arbeitsbegriffen seit der Epoche der europäischen Kolonialexpansion erkennen, oder konnten sich Divergenzen und autochthone Eigenwege erhalten? Wanderten die Begriffe mit den arbeitenden und die ‚Arbeit‘ organisierenden Menschen und ihren Praktiken? Und wie wirkten sich in diesem Zusammenhang Arbeitsmigration, Sklavenhandel,
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Plantagenwirtschaft und Arbeitsrecht aus? Die Ergebnisse der Beiträge erlauben es zunächst, das für Europa seit dem 19. Jahrhundert immer wieder postulierte Referenzmodell der Arbeit als Erwerbsarbeit zu relativieren. Schon für Europa selbst kann von einer kontinuierlichen Geltung dieser Vorstellung keine Rede sein. Umso mehr gilt das für außereuropäische Gesellschaften, wo sich autochthone Adaptionen und eigene Entwicklungen erhielten, die sowohl auf sprachstrukturelle als auch auf strukturelle Faktoren und konkrete Erfahrungen verwiesen, wie die Beiträge zu Afrika und Japan zeigen. Bei den Tuareg in Afrika hatte das für Europa postulierte Bedeutungsmodell von Arbeit als Erwerbsarbeit jedenfalls keine Bedeutung.117 Demgegenüber konnte man in der belgischen Kolonie des Kongo beobachten, wie sich im indigenen Begriff Kazi und seinen Bedeutungsverschiebungen die sich seit der Mitte der 1920er Jahre verändernden Strukturen der Arbeitswelten niederschlugen.118 Hatte Kazi vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Mitte der 1920er Jahre auf Sklaverei und Zwangsarbeit verwiesen, wurde die Semantik des Begriffs im Sinne von Lohnarbeit seit den 1930er Jahren kontinuierlich aufgewertet. Dahinter standen nicht nur die strukturelle Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter in der Kupferindustrie, sondern auch ihre erweiterten Handlungsspielräume bei der konkreten Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse. Kazi verwies jetzt auf die Aufwertung der individuellen Arbeitskraft und Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Aus dem Synonym für Unterdrückung und Unfreiheit wurde eine Semantik der Freiheit und Modernität. Das war zugleich mit einem Prozess der sozialen Anerkennung verbunden, der die lokalen Erfahrungen widerspiegelte und jedenfalls nicht in der simplen Adaption eines europäischen Arbeitsbegriffs aufging. Auch die japanische Entwicklung relativiert die Vorstellung eines globalen Referenzmodells von Arbeit als Erwerbsarbeit.119 Vor allem verweist der Blick auf Japan auf komplexe Übersetzungs- und Entlehnungsprozesse: Das japanische rôdô stellte eine Übersetzung aus den westlichen Sprachen im späten 19. Jahrhundert dar. Doch erst der Durchbruch der Industrialisierung und der neuen Zeitregime im Schulwesen und im Militär bahnte einer größeren Verbreitung von rôdô den Weg. Erst nach 1945 kam es zu dessen massenhafter Aneignung und der semantischen Festlegung auf den männlichen, festangestellten Arbeitnehmer als Standard. Das aus dem deutschen Wort ‚Arbeit‘ seit der Mitte der 1980er Jahre entlehnte arubaito stand demgegenüber für Teilzeitjobs von Studenten und später von Hausfrauen. Im Verlauf der 1990er Jahre entstand die Bezeichnung frîtâ, aus dem englischen free und dem deutschen ‚Arbeiter‘ zusammengesetzt, für die gegenüber dem Ideal des männlichen Festangestellten 117 Vgl. den Beitrag von Gerd Spittler in diesem Band, S. 147–166. 118 Vgl. den Beitrag von Julia Seibert, ebd., S. 209–223. 119 Vgl. den Beitrag von Shinyo Shimada, ebd., S. 309–317.
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zunehmend entstandardisierten und irregulären Beschäftigungsverhältnisse. Die Entlehnungen sind in den besonderen Situationen des japanischen Wortgebrauchs vor allem ein Zeichen für die seit den 1980er Jahren zunehmende Heterogenität der dortigen Arbeitskonzepte und die Pluralisierung von Arbeitsverhältnissen. Anders stellte sich die Entwicklung in China dar.120 Hier stand laodong für körperliche Arbeit. Nach der Erfahrung maoistischer Kampagnen, in denen zwangsweise laodong für alle, gerade auch Angehörige der Intelligentsia, durchgesetzt wurde, wird laodong heute als Strafe angesehen. Hier setzte sich die abwertende Konnotation aufgrund der maoistischen Praxis bis in die Gegenwart weiter fort. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Arbeitsbegriffe in der rasant wachsenden und sich differenzierenden Wirtschaft Chinas heute ebenso pluralisiert sind wie in Japan und den westlichen Ländern. Die europäische Vorstellung, dass für die Arbeitssemantik ein besonderer Zusammenhang zwischen Arbeit und Religion wichtig sei und dass dieser Zusammenhang allein aus der christlich-jüdischen Tradition stamme, wird durch den Blick auf die Arbeitssemantiken im arabisch-osmanischen Raum relativiert. Vor diesem Hintergrund kritisiert Reinhard Schulze die Vorannahme eines generischen Arbeitsbegriffs; dieser entwickelte sich historisch erst im Laufe der Zeit.121 Für Ägypten in der Phase ab 1800 kann er zeigen, wie allmählich ein generischer Begriff von Arbeit und Arbeiter entstand. Aber auch hier konnte von einer einfachen Übertragung europäischer Semantiken keine Rede sein, denn die Konturen des neuen Arbeitsbegriffs unterschieden sich von den in sich wiederum differenten europäischen Semantiken. Im Unterschied zu anderen arabischen Begriffen, die auf ‚Arbeit‘ verweisen, war der Begriff ‛amal islamisch konnotiert und bezeichnete jene Tat oder jenes Werk, für das der Mensch beim Jüngsten Gericht belohnt oder bestraft werden wird. Das rekurrierte auf eine ältere Tradition der islamischen Hochschätzung von Arbeit und Erwerb. Nicht das Verständnis von Arbeit als Mühe und Qual, sondern der Zusammenhang von Arbeit, Wert und Erwerb bildete mithin die semantische Grundlage für einen modernen Arbeitsbegriff im arabischen Raum. Das verwies zugleich auf die klassische islamische Theologie, in der das individuelle Tun mit dem Erwerb des von Gott Gesetzten verbunden wurde. In den Kolonialgesellschaften Südamerikas wurden Arbeitsbegriffe zunächst ganz stark von religiösen und antiken Bedeutungselementen geprägt, während ökonomische Faktoren nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung Bedeutung für die Semantik annahmen.122 Vor diesem Hintergrund wurde den Arbeitsbegriffen eine ausgesprochen sozialdisziplinierende Funktion zugeschrieben, so dass sie lange Zeit zur Stabilisierung der frühneuzeitlichen Ständeordnung beitrugen. Müßiggang galt 120 Vgl. auch Hermanns: Arbeit (wie Anm. 1). S. 291. 121 Vgl. den Beitrag von Reinhard Schulze in diesem Band, S. 191–208. 122 Vgl. den Beitrag von Korzilius in diesem Band, S. 115–146.
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als Sünde und zugleich als Infragestellung der kolonialen Herrschaftsordnung. Wurde die Arbeit der über Sklaverei und Tributpflicht abhängigen Indios lange Zeit als „Zivilisierung“ eines Naturzustandes interpretiert, so erzwangen die großen demographischen Verluste der indigenen Bevölkerung schließlich eine Wende zum Ideal freier Lohnarbeit, obgleich in der Realität die rigorose Arbeitspflicht herrschte. Insgesamt konnte sich eine scharfe Grenze zwischen freier und unfreier Arbeit weder in der sozialen Praxis noch in der Semantik von Arbeit durchsetzen, was langfristig auch die Bildung einer distinkten Arbeiterklasse in vielen Gesellschaften Südamerikas verzögert hat. Erst im 18. Jahrhundert begannen sich tiefgreifende Veränderungen im Bedeutungshorizont von Arbeit abzuzeichnen. Nun konnte Arbeit als Teil eines antireligiösen Modernisierungsdiskurses und Sklaverei als Ursache für die moralische Dekadenz der Kolonialgesellschaft angesehen werden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und angesichts der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen erlebte Arbeit schließlich eine eigentümliche Politisierung: Hatte man in den Metropolen Spaniens und Portugals traditionell die Belastung durch die Kolonien und die dortige Neigung zu Müßiggang gegeißelt, so betonten die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen nun ihre eigene Arbeitsgesinnung im Gegensatz zum „Parasitentum“ der alten Kolonialherrn. Nach der Unabhängigkeit trat an die Stelle dieses Gegensatzes der Konflikt zwischen den europäischen Immigranten, die man als effiziente Lohnarbeiter feierte, und der indigenen Bevölkerung, der man Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsverweigerung unterstellte. Diese Stereotypen haben weit über das 19. Jahrhundert hinaus auch noch in der Gegenwart vieler südamerikanischer Gesellschaften Bedeutung. 2.4 Soziale und politische Funktionen des Redens über Arbeit
Aufschlussreich sind die in den Beiträgen untersuchten Wortgebrauchssituationen für die Differenzierung von bestimmten sozialen und politischen Funktionen des Sprechens über Arbeit. Relevant sind dabei zunächst die Zusammenhänge zwischen Arbeitssemantiken und sozialen Ordnungsmustern. Besonders deutlich treten diese in den sozialen Statusdefinitionen und Statuszuschreibungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit hervor, so etwa in den mittelalterlichen Ständelehren (Ludolf Kuchenbuch), aber auch in der Unterscheidung zwischen freier und unfreier Arbeit ( Josef Ehmer) und dem Sonderfall der Bestimmung des Sklavenstatus in Kolonialgesellschaften (Sven Korzilius) sowie schließlich in der Formierung der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert, bei der soziale Gruppenbildung durch Integration nach innen und Abgrenzung nach außen sowie politisch-soziale Partizipationsforderungen in der Berufung auf die Referenzgröße Arbeit Hand in Hand gingen (Thomas Welskopp). Gerade in den Kolonialgesellschaften war mit Statuszuschreibungen, die sich an Arbeitssemantiken anlehnten, zugleich eine besondere sozialdisziplinierende und
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punitive Praxis verbunden, der die Vorstellung zugrunde lag, dass ein funktionierendes Gemeinwesen auf Arbeit und Anstrengung basiere (Korzilius). Andererseits bot die Berufung auf Lohnarbeit auch die Chance, den eigenen Status innerhalb von Kolonialgesellschaften aufzuwerten; hier wurde in den Arbeitssemantiken nicht allein die Exklusion sichtbar, sondern vor dem Hintergrund von Modernisierungsprozessen in der Aussicht auf sozialen Aufstieg und Freiheitsrechte auch ein suggestives Zukunftsversprechen (Seibert). Das Sprechen über Arbeit erlaubte es, Gesellschaften zu differenzieren, aber auch soziale Gruppen in eine Hierarchie einzuordnen, bestimmte Gruppen zu integrieren oder andere auszuschließen, ja im Extremfall sogar ihre physische Existenz in Frage zu stellen. In der Definition von sozialem Status und Zugehörigkeit kamen zwei unterschiedliche Prozesse zum Tragen, die nicht immer trennscharf voneinander geschieden werden können: Einerseits trug die Arbeit entscheidend zur Bestimmung der gesellschaftlichen Position bei, andererseits aber definierte der soziale Status auch die Art der Arbeit, die jemand verrichten durfte oder musste. Die Beiträge dieses Bandes lassen daran zweifeln, dass man die beiden Prozesse in einem diachronen Narrativ zusammenfügen kann, nach dem die Überwindung der vormodernen Ständeordnung langfristig den Weg zu individuellem Aufstieg auf der Basis von Arbeit und Leistung geebnet hätte – das klassische westeuropäisch-transatlantische Motiv der Hochschätzung der individuellen Arbeit im kapitalistisch organisierten System des freien Marktes. Aber Definitionen, durch welche Arbeit jemand ausgezeichnet wurde, was für eine Arbeit jemand übernehmen durfte, welche er verrichten musste und von welcher man ihn a priori ausschloss, waren nicht allein in vormodernen Stände- und Kastensystemen virulent; gerade im 20. Jahrhundert wurden sie im Zeichen ideologischer Extreme und in diktatorischen Zwangsregimen auch auf soziale Gruppen, Ethnien oder Rassen bezogen – mit mörderischen Konsequenzen, wie zumal das Beispiel der Juden im Nationalsozialismus bewies. Im 20. Jahrhundert dienten die im Sprechen über Arbeit vermittelten Positionen und Kriterien dazu, Geschlechterdifferenzen und rassische Hierarchien zu entwickeln. Laura Frader kann in ihrem Beitrag zeigen, dass und wie in den französischen languages of labour des 20. Jahrhunderts bestimmte rechtliche und organisatorische Praktiken des Staates wirksam wurden. Die Definition dessen, was als Arbeit gelten konnte, hatte vor allem nach dem Ersten Weltkrieg wichtige Folgen für die soziale Statuszuschreibung von Männern als traditionellen Ernährern der Familie und ihre politisch-partizipative Definition als Staatsbürger – das ging über die traditionelle Vorstellung von travail als individueller Aktivität weit hinaus. Gegenüber den Vorstellungen französischer Feministinnen, dass auch Mutterschaft als Arbeit gelten könne, setzte sich vor dem Hintergrund der demographischen Verluste des Landes im Krieg aber sehr bald eine Restabilisierung der traditionellen Trennung von Geschlechterrollen entlang der Semantik von Arbeit durch: Der bezahlten Lohnarbeit der Männer als
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Familienvorstände stand die Funktion der Frau als Ehefrau und Mutter gegenüber. An diesem Modell orientierte sich auch die offizielle Sozial- und Familienpolitik, so in der Unterscheidung zwischen sozialpolitischen Zuschüssen, die sich an der Erwerbsarbeit der Männer orientierten, und solchen, die den Frauen als Müttern zukommen sollten. Hinter dem Sprechen über Arbeit zeichneten sich sehr spezifische Vorstellungen zum sozialen Leitbild der Familie und der Geschlechterordnung ab. Hinzu traten seit den 1920er Jahren Neudefinitionen von Arbeit im Zuge einer Rationalisierung von Produktionsabläufen und einer Verwissenschaftlichung von Arbeit. Auch diese Bestimmungen orientierten sich an den Kriterien von Geschlecht und Ethnie bzw. Rasse – dies vor allem im Blick auf schwarzafrikanische Einwanderer auf dem französischen Arbeitsmarkt, deren Qualifikation man mit denen von Frauen verglich und niedriger beurteilte als die von französischen weißen Männern – mit entsprechenden Folgen in der Auswahlpraxis bei Neueinstellungen. Die Orientierung an Geschlechterrollen und ethnisch-rassischen Markierungen imprägnierte die Vorstellungen einer hierarchisch gestuften Wertigkeit von Arbeit. Hier wirkte die Semantik von Arbeit in der Praxis also exkludierend und hierarchisierend, während sie zugleich dazu beitrug, ein bestimmtes Gesellschaftsmodell und Familienleitbild zu rechtfertigen. Eine andere sozialhistorisch relevante Funktion des Sprechens über Arbeit erschließt sich aus der bereits oben angedeuteten langen Dauer eines individuellen Arbeitsethos, eines Stolzes auf die Qualität eines Produkts und der dahinter stehenden Qualifikation. Wie in den Beiträgen von Thomas Welskopp, Jörg Neuheiser und Dietmar Süß deutlich wird, verband sich mit solchen Berufungen auf den Wert des Arbeitsprodukts auch der Kampf um die Anerkennung der Wertigkeit der Arbeit und des aus ihr abgeleiteten sozialen Status desjenigen, der sie verrichtete und der damit Verantwortung für die Qualität ihres Ergebnisses übernahm. Solche Positionen erinnerten nicht zufällig an die moral economy-Diskurse der Vormoderne. Sie erwiesen sich, wie Neuheiser zeigt, selbst gegenüber den Höhenkammdiskursen zwischen politischen Akteuren und Demoskopen im Rahmen der Wertewandel-Diskussionen um postmaterialistische Arbeitssemantiken in den 1980er Jahren als erstaunlich stabil. Zwar drangen neue Begriffe in die tägliche Kommunikation vor Ort und die Konflikte am Arbeitsplatz ein. Aber darin ging das Sprechen über Arbeit keinesfalls auf, im Gegenteil – hier waren stets auch ganz andere Deutungen und Bestimmungen von Arbeit möglich. Der vermeintlich postmaterialistische Sprachgebrauch im Kontext der Diskussionen um die ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ war nicht gleichbedeutend mit einem völlig neuen Arbeitsethos. Leistung und Fleiß, die Hochschätzung von Arbeit für das Selbstbild der Arbeiter, ihr Beharren auf einer eigenen Würde auf der Basis erlernter Fähigkeiten und der sichtbaren Qualität ihrer Produkte blieben vielmehr entscheidende Referenzen. All das unterstreicht die Eigendynamiken, ja den Eigensinn von sozialer Arbeitspraxis und betrieblicher Kommunikation vor Ort.
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Seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert standen solche Rekurse auf traditionelle Arbeitsethiken in einem zunehmend spannungsreichen Verhältnis zu neuen Ansätzen der Rationalisierung, Disziplinierung und Kontrolle von Arbeitsorganisation und der ökonomischen Kosten-Nutzen-Maximierung durch Fragmentierung und Spezialisierung von Produktionsprozessen. Aus der Sicht des Taylorismus und Fordismus stand gerade nicht das Arbeitsethos der Arbeiter im Vordergrund, sondern der Verdacht der natürlichen Faulheit der Arbeiter, ihrer Bequemlichkeit und notorischen Neigung zur Arbeitsvermeidung. Nicht ein bestimmtes Ethos, sondern allein Geld, Sozialleistungen und zusätzliche unternehmerische Anreize, etwa eine Verbesserung der Arbeitsplatzbedingungen oder gesunde Wohnquartiere in Modellsiedlungen, konnten aus dieser Perspektive motivierend wirken. Trotzdem schwächte gerade die immer stärkere Fragmentierung des Arbeitsprozesses die Identifikation des Einzelnen mit seinem Unternehmen; es waren gerade solche konkreten Arbeitserfahrungen seit den 1920er und 1930er Jahren, die dann als Reaktion in den 1980er Jahren neue Forderungen nach einer ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘, nach erweiterten Partizipationsmöglichkeiten (‚betriebliche Mitbestimmung‘) und einer wieder stärker arbeitsethisch konnotierten Identifikation mit der eigenen Arbeit und dem eigenen Unternehmen hervorbrachten. Die Vorstellung, dass die traditionelle Distinktionsfunktion des Sprechens über Arbeit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einer sozialen Integrationswirkung Platz gemacht habe,123 wird durch die Beiträge dieses Bandes korrigiert. Zwar gewann die Integrationsfunktion in dieser Phase enorm an Bedeutung und kann in Anlehnung an Reinhart Koselleck als ‚Demokratisierung‘ des Arbeitsbegriffs beschrieben werden. In diesem Kontext stehen die Befunde von Thomas Welskopp zur sozialdemokratischen Hochschätzung der Arbeit gegenüber unproduktiver Nicht-Arbeit und der handwerklich, politisch und revolutionär konnotierten Arbeitssemantik im späteren 19. Jahrhundert. Diese Entwicklung ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil sich die Arbeitssemantik damit im weitesten Sinne für politische und ideologische Funktionalisierungen im 20. Jahrhundert öffnete. Aber das 20. Jahrhundert ging gerade nicht in der Integrationswirkung der Arbeitssemantik auf. Die Distinktionswirkung verlor nicht nur niemals ihre Relevanz, sondern sie wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar immer stärker radikalisiert. Aus dem Sprechen über Arbeit als Ausgangspunkt für die Selbstpositionierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und als Integrationsinstrument sozialer Gruppenbildung wurde im Zeitalter der ideologischen Extreme schließlich das Mittel zur radikalen Exklusion, ja Vernichtung anderer Gruppen. Der Beitrag von Kiran Patel zur ideologischen Indienstnahme der Arbeit im Nationalsozialismus und im amerikanischen New Deal unterstreicht, wie es in beiden Fällen zu einer nationalen 123 Hermanns: Arbeit (wie Anm 1). S. 277, auch explizit als zeitliche Folge S. 285.
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Überhöhung, ja Sakralisierung von Arbeit kam. Die mögliche Kopplung von Dienst und Arbeit im ‚Arbeitsdienst‘ unterstrich vor allem eine neue Bedeutungsrichtung im frühen 20. Jahrhundert, die ohne die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, das heißt vor allem die Bestimmung des Soldatendienstes als Arbeit im Krieg, und die ideologische Vereinnahmung von Arbeit nicht zu erklären ist. Während aber der deutsche Arbeitsbegriff immer einseitiger auf ‚Volksgemeinschaft‘ ausgerichtet wurde und damit gleichzeitig inkludierend und radikal exkludierend wirkte, indem Arbeit nach Wertigkeiten hierarchisiert und dann bestimmten Rassen zugeordnet wurde, bot in den USA die Identifikation mit dem einzelnen Unternehmen eine Alternative zur Semantik der Arbeit als „Dienst am Ganzen“.124 Hier waren die nationale Überhöhung und rassistische Hierarchisierung der Arbeitssemantik weniger stark ausgeprägt, obgleich Letztere in der Praxis des New Deal fortwirkte. Bildeten in Deutschland Staat und Gemeinschaft die entscheidende Referenz, so in den USA tendenziell eher Familie und persönliches Fortkommen. Auffallend an den politisch-ideologischen Zugriffen seit den 1920er Jahren war vor allem eine Tendenz, national konnotierte Arbeit zu heroisieren (‚Helden der Arbeit‘), das heißt, im individuellen Überwinden vorgegebener Leistungsgrenzen eine besonders exemplarische Identifikation mit dem übergeordneten Ganzen zu vermitteln. Wenn in das Verständnis des totalisierten und des totales Kriegs im 20. Jahrhundert die Semantik von Arbeit einging, so nahm die Arbeitssemantik umgekehrt auch Bedeutungselemente von Kampf und Krieg auf. Die Euphemisierung radikaler Gewalt mit Hilfe des Arbeitsbegriffs („Arbeit macht frei“) im Nationalsozialismus wie im Stalinismus war vor diesem Hintergrund kein Zufall.125 Parallel zu diesen politischen Prozessen verlief im 19. und 20. Jahrhundert noch ein weiterer Strang, den man als Kampf um Anerkennung bezeichnen kann, wobei Arbeit in diesen Zusammenhängen als Kapitalsorte wirkte, als Vehikel für Konvertierungsprozesse. Anerkennung durch Arbeit konnte sich auf politische Partizipation oder soziale Statuszuschreibungen beziehen oder aber – in Kolonialgesellschaften – 124 Vgl. Beder: Selling the Work Ethic (wie Anm. 8). S. 121. 125 Vgl. neben der Literatur in den Anm. 36 und 37 auch Silke Satjukow/Rainer Gries (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin 2002; Dietmar Neutatz: Die Suggestion der „Front“. Überlegungen zu Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im Stalinismus. In: Brigitte Studer/Heiko Haumann (Hg.): Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1928–1953. Zürich 2006. S. 67–80; Dirk Riedel: „Arbeit macht frei“. Leitsprüche und Metaphern aus der Welt des Konzentrationslagers. In: Dachauer Hefte, 22, 2006. S. 11–29; Klaus Gestwa/Kerstin von Lingen: Zwangsarbeit als Kriegsressource. Systematische Überlegungen zur Beziehungsgeschichte von Krieg und Zwangsarbeit. In: dies. (Hg.): Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien. Paderborn 2014. S. 15–54.
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auch auf mehr Autonomie, Freiheitsrechte und soziale Mobilität, jedenfalls auf eine Überwindung ethnisch und rassisch begründeter Ungleichbehandlung. Diese Kämpfe um Anerkennung waren für die Arbeitssemantik deshalb von großer Bedeutung, weil in ihrem Verlauf Phänomene zu Arbeit erklärt wurden, die das so vorher nicht gewesen waren. Das galt zum Beispiel für die Versuche, die Bereiche Mutterschaft und Familie als Arbeit zu definieren, sie damit aufzuwerten und daran sozialpolitische Ansprüche zu knüpfen. 2.5 Grenzziehungen und Grenzverwischungen: Arbeit und Nicht-Arbeit
Der tendenziellen Aufwertung von Arbeit bis hin zur Vorstellung von Arbeit als Normalzustand korrespondierte die Notwendigkeit, Nicht-Arbeit zu rechtfertigen. Die frühmittelalterliche Funktion von labor (im Sinne des physischen Zwangs) und opus (im Sinne des vom einzelnen Mönch erzeugten Werks) im gemeinsamen Lebensunterhalt wurde auch aus dem Gegensatz zur otiositas abgeleitet (Kuchenbuch). Aber für die frühe Neuzeit und die Phase der Reformation, in der sich angesichts der sozialen Differenzierung, der Expansion der Lohnarbeit und der Auseinandersetzungen um die Reformation das Sprechen über Arbeit erheblich intensivierte, ist das Bild bei näherem Hinsehen widersprüchlich, wie der Beitrag von Josef Ehmer zeigt. Einerseits diente die Arbeitssemantik dazu, die tradierte Machtstellung herrschender Gruppen zu legitimieren und körperliche Arbeit den unteren Schichten zuzuweisen. Andererseits diente das Sprechen über Arbeit der identitätsstiftenden Vergewisserung bei zünftigen Handwerkern, Bergarbeitern und zum Teil auch bei Bauern. Aber im Lob der Arbeit zur sozialen Abgrenzung der Mittelschichten nach oben und unten ging die Arbeitssemantik doch nicht auf, auch wenn sich die polemische Kritik an den Müßiggängern unter den Armen intensivierte. Für den Adel blieb Arbeit nach wie vor nicht mit den überkommenen Ehrbegriffen in Einklang zu bringen, in der Theologie blieb die vita contemplativa ein wichtiger Bezugspunkt, und die neuen Utopien vom Schlaraffenland verwiesen auf einen umfassenden Glückszustand ‚ohne Arbeit und ohne Pein‘. Tendenziell verstärkte sich aber seit der Reformation die Aufwertung von Arbeit. Hegel konnte zu Beginn des 19. Jahrhunderts bilanzieren, dass die „Arbeitslosigkeit“ nach der Reformation „nicht mehr als ein Heiliges gegolten“ habe, „sondern es wurde als das Höhere angesehen, daß der Mensch in der Abhängigkeit durch Tätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht“.126 Arbeitslosigkeit erschien Hegel 126 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, in: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.): Theorie-Werkausgabe. Werke in zwanzig Bänden auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ediert, hier: Bd. 12.
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gleichbedeutend mit unsittlich verstandener Armut, Trägheit und gefährlicher Untätigkeit. Nietzsche reflektierte die semantische Trennung zwischen Arbeit und Muße als vorherrschende Tendenz seines Zeitalters – das verlangte Eindeutigkeit und ließ eine Übergangszone zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit nicht mehr zu. Die überkommene adlige Standeskultur mit einer aus dem Ehrbegriff abgeleiteten Distanz zur Arbeit wurde unter diesen Umständen zum anachronistischen Residuum. Das „Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters“ erlaube es, so Nietzsche, jedenfalls nicht mehr, „die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung: wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte.“127 Für die Phase seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Sozialen wurde der Zugriff des Staates für die kategoriale Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit wichtig. Der Beitrag von Bénédicte Zimmermann verweist auf die wichtige Unterscheidung zwischen lexikalischer Begriffssemantik und der Semantik von praxeologischen Kategorien – hier konkretisiert am Beispiel von ‚Arbeitslosigkeit‘/chômage im deutsch-französischen Vergleich. Während die Begriffe um 1900 in Deutschland und Frankreich kongruente Semantiken aufwiesen, traten bei den sozialpolitischen Kategorien die unterschiedlichen Motive hervor. Denn im Kontrast zu Frankreich ging es den deutschen Statistikern nicht darum, die Zahl der Arbeitslosen zu ermitteln, die Anspruch auf staatliche Hilfe haben sollten, sondern darum zu beweisen, dass eine solche Hilfe unnötig sei. Daher wandte man relativ weitgefasste Definitionskriterien an. Während die moralisch intendierte Unterscheidung von eigener Arbeit und der Nicht-Arbeit der Unternehmer bei den Sozialdemokraten das Marx’sche Kapital zunächst noch als Hemmschuh für die eigentliche Arbeit erscheinen ließ, musste man Frankfurt/M. 1970. S. 503; vgl. ebd. S. 457–458 zu den entgegengesetzten Bewertungen im katholischen Mittelalter: „Die Ehe wurde nun zwar von der Kirche zu den Sakramenten gerechnet, trotz diesem Standpunkte aber degradiert, indem die Ehelosigkeit als das Heiligere gilt. Eine andere Sittlichkeit liegt in der Tätigkeit, in der Arbeit des Menschen für seine Subsistenz. Darin liegt seine Ehre, daß er in Rücksicht auf seine Bedürfnisse nur von seinem Fleiße, seinem Betragen und seinem Verstande abhänge. Diesem gegenüber wurde nun die Armut, die Trägheit und Untätigkeit als höher gestellt und das Unsittliche so zum Heiligen geweiht. Ein drittes Moment der Sittlichkeit ist, daß der Gehorsam auf das Sittliche und Vernünftige gerichtet sei, als der Gehorsam gegen die Gesetze […] nicht aber der blinde und unbedingte, der nicht weiß, was er tut“. 127 Friedrich Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten. In: Menschliches, Allzumenschliches II. Kapitel 28, Aphorismus 170. Zit. nach: ders.: Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988. S. 623.
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schon nach 1870 das Zugeständnis machen, dass es sich auch bei den Unternehmern um Arbeit handelte, wenn auch um eine unproduktive Arbeit. Damit deutete sich eine Grenzverwischung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit an, die sich fortsetzen sollte und im frühen 20. Jahrhundert bereits zu einer ausgesprochenen Pluralisierung und einem großen Variantenreichtum führte. Sigrid Wadauers Beitrag unterstreicht das im Blick auf die Semantik von Praktiken des Lebensunterhalts in der Zwischenkriegszeit. Die Dichotomie Arbeit/Nicht-Arbeit löste sich in den Befragungen von Zeitgenossen in ein breites Spektrum von jeweils situativ bestimmten Praktiken auf; das galt für den Arbeitsbegriff selbst, etwa durch Begriffe wie Beruf, Erwerb, Posten, Job, sowie für den Begriff der Arbeitslosigkeit durch Beschreibung eines Ensembles, das von offiziell anerkannter Arbeitssuche, Stellenwechsel, zu Hause Aushelfen, Gelegenheitsarbeit und sein Auskommen Finden bis hin zur strafbaren Nicht-Arbeit und dem Vagabundieren reichte. Vor allem seit den 1970er Jahren sollten sich die Pluralisierung der Vokabulare und die Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit beschleunigen. Symptome dafür waren einerseits die immer größere Variationsbreite der Verwendungsweisen von ‚Arbeit‘, ‚Tätigkeit‘, ‚Stelle‘, ‚Gelegenheit‘, ‚Job‘ und andererseits neue Komposita, welche die Arbeitssemantik, wie oben skizziert, auf klassische Bereiche von Nicht-Arbeit anwendeten (Freizeit, Urlaub, Konsum). Verstärkt wurden diese Tendenzen vor allem seit den 1980er Jahren und im Kontext der Debatten um eine ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘, wie der Beitrag von Dietmar Süß zeigt. Die Angst vor einer Erosion des bürgerlichen Tugendkatalogs und damit vor dem Verschwinden einer bürgerlichen Arbeitssemantik verdeckte dabei, dass die neuen Konzepte von Arbeit als Vehikel der Selbstverwirklichung umstritten blieben und Rekurse auf ältere arbeitsethisch geprägte Bedeutungen keinesfalls ausschlossen. Die Phase seit den 1980er Jahren erscheint in dieser Perspektive als eine weitere Variante eines historischen Leitmotivs: nämlich des Kampfs um die Anerkennung des Einzelnen durch seine Arbeit und ihre Anerkennung als gesellschaftlich relevante Tätigkeit, die eine angemessene materielle wie soziale und kulturelle Honorierung begründet. Während die Gewerkschaften auch in ihrem Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeiten prinzipiell an der Grenzziehung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit und dem Ideal der Erwerbsarbeit festhielten, ging es den neuen sozialen Bewegungen und den alternativen Betrieben um ein prinzipiell neues Verhältnis von Arbeit und Zeit sowie von Arbeit und Lebenswelt. Im Zentrum standen nicht sektorale Tarifinteressen des Arbeitnehmers, sondern alternative Arbeits- und Lebensformen als ein ganzheitliches Programm, das gerade keine klare Grenze von Arbeit und Nicht-Arbeit mehr kannte. Aber genau von hier aus führt eine Spur zur Semantik der Flexibilisierung, der permanenten Selbstoptimierung und des von Ulrich Bröckling beschriebenen „unternehmerischen Selbst“, die an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit durchlässig gemacht haben. Diese neuen Begriffe,
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häufig nicht mehr als eine euphemistische Sprach-Camouflage von konkreter Prekarität, haben die früheren Arbeitssemantiken in den Hintergrund gedrängt – aber sie bleiben ein Bezugspunkt für Vergleiche und damit auch für Kritik und Widerstand. *** Eine vergleichend und diachron angelegte, von Situationen des Wortgebrauchs ausgehende historische Semantik von ‚Arbeit‘, wie sie der vorliegende Band anregt, kann und will die Erforschung der praktischen, materiellen und institutionellen Seiten von Arbeitsverhältnissen und Arbeiterexistenzen nicht ersetzen. Thomas Sokoll weist in seinem abschließenden Kommentar auf diese und weitere Grenzen des semantischen Ansatzes hin. Auch andere Desiderate sind zu nennen: In der räumlichen, weltregionalen Dimension bleiben viele leere Stellen zu füllen. Mehr empirische Tiefenbohrungen und Fallstudien zur Semantik in konkreten Arbeitswelten – vom Mönchskloster über die Hirten Westafrikas bis zum Fabrikalltag bei Mercedes – würden Erkenntniszuwachs bringen. Die visuellen, architektonischen, inszenatorischen, performativen, in Körperpraktiken oder Alltagsobjekte wie zum Beispiel Bürostühle eingeschriebenen Dimensionen von Arbeitsbegriffen sollten die auf Sprache konzentrierte historische Semantik ergänzen. Und man müsste die Frage erörtern, wie sich die hier präsentierten größeren und kleineren Erzählungen zur Semantik von ‚Arbeit‘ durch korpuslinguistische, computergestützte Analysemethoden untermauern oder auch korrigieren ließen. Unbeschadet der Begrenzungen und Desiderate aber sind Geschichten des semantischen Wandels von Arbeitsbegriffen und ihrer sich ändernden Verwendung in Handlungszusammenhängen unverzichtbarer Bestandteil jeder Sozial-, Politik- oder Rechtsgeschichte von Arbeitsformen und Arbeitsbeziehungen. Was Menschen als ‚Arbeit‘ definieren, wie sie ihre ‚Arbeit‘ im Verhältnis zu den Tätigkeiten anderer verstehen, hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre soziale, rechtliche und politische Lage. Der Wortgebrauch ist weder arbiträr noch harmlos. Die Wörter, mit denen Arbeitsformen und Arbeitsbeziehungen, Arbeitende und Nicht-Arbeitende bezeichnet werden, fixieren die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, unter denen Arbeit geleistet wird. Sie konstituieren Hierarchien, vollziehen Ein- und Ausschlüsse und sind Teil unserer Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung. Statistische Kategorien wie ‚Arbeitslosigkeit‘ verteilen materielle Lebenschancen; Bestimmungen von Personen als ‚arbeitsfähig‘ oder ‚arbeitsscheu‘ konnten für das Überleben entscheidend sein. Für die Auseinandersetzung mit historischen Arbeitsbegriffen spricht weiter, dass ältere Arbeitssemantiken, selbst wenn ihre Referenz auf Wirklichkeit schwindet, als Ansatzpunkte für kritische Auseinandersetzungen mit Arbeitsverhältnissen der Gegenwart relevant bleiben. Und nicht zuletzt: Die Beschäftigung mit historischer Semantik sensibilisiert für das, was in der teilnehmenden Beobachtung oder historischen Beschreibung von Arbeit nicht auf den ersten Blick sichtbar ist.
Ludolf Kuchenbuch
Dienen als Werken Eine arbeitssemantische Untersuchung der Regel Benedikts
1 Vorbemerkungen Am Ende meiner Beobachtungen und meines Mitredens während der beiden von Willibald Steinmetz und Jörn Leonhard organisierten Tagungen über Semantiken der Arbeit in Freiburg (FRIAS) und Bochum (Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte) ließ ich mich zu einem handlichen Vorschlag für eine ‚semantische Methode‘ hinreißen – ein Vorschlag zur Vereinfachung, aber unter der Bedingung strenger Textbindung. An ihn möchte ich mich im Folgenden halten.1 Ich schlug vor, man möge drei Maximen folgen: erstens der Zusammenstellung des relevanten Vokabulars und seiner Verteilung im Dokument als Gesamttext (Lexik, Vokabular, Code); zweitens der Ermittlung seiner lexikalischen Ordnung, also auch seiner Rangierung (Regime) im sozialen Zusammenhang, und drittens dem Rekurs auf den historischen Moment (Situation), dem sich das Dokument verdankt, auf die sozialen und kommunikativen Umstände, von denen aus mit wem gesprochen (bzw. geschrieben) wurde. Was man allerdings brauche, seien ‚gute‘ Schriftstücke, d. h. wortreiche Tatorte, sinnreiche Textkörper, Sprachnester mit großem, ausbrütbarem Gelege sozusagen. Eine typische skriptozentrische Mediävistenattitüde – zugegeben. Um diesen Vorschlag nicht in einer programmrhetorischen Ecke verstauben zu lassen, war es nur konsequent, ihn selber zu testen. Im Folgenden soll es also um die ‚arbeits‘-semantische Eigenart eines mittelalterlichen Zeugnisses gehen.2 Nach Jahren der Beschäftigung 1
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Eine frühere Textfassung wurde im Juni 2013 in zwei mediävistischen Arbeitskreisen – ‚Historische Semantik Zürich/Berlin‘ und ‚Arbeitskreis zur Kritik der wissenschaftlichen Bedingungen mediävistischen Wissens‘ – in Berlin und Bergesserin diskutiert. Ich danke allen sehr für Nachfragen, Klärungen und Ergänzungsvorschläge! Dieser Ansatz geht in Teilen auf die akademische Lehre an der FernUniversität in Hagen zurück, wo Ende der 1980er Jahre ein sechsteiliger Studienbrief „Arbeit im vorindustriellen Europa“ entstand, der kontinuierlich eingesetzt und überarbeitet wurde (und wird). Eine Auswahl von fünf Schriftstück-Studien (1991–2012) bildet den zweiten Teil meiner Aufsatzsammlung: Ludolf Kuchenbuch: Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus. Frankfurt a. M./New York 2012. S. 247–415. Dort auch
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mit der Begriffsgeschichte und der historischen Linguistik der Arbeit in Lehre und Forschung haben sich mir Verständniserwartungen ergeben, die ich vorweg grob zusammenfassen will. 1. Um dem Druck zu entgehen, Tätigkeitsformen und -milieus vergangener Zeiten und fremder Kulturräume, die auf den eigenen Lebensunterhalt und den anderer zielen, wie selbstverständlich unter das Wort ‚Arbeit‘ zu stellen, ist es notwendig, sich dessen langfristige europäische Sinntransformationen vor Augen zu führen, doch nicht in deren – unterstellter – formativer Erfolgsform3, sondern möglichst in umgedrehter, gegen den Zeitpfeil gekehrter Richtung. Ein solcher Krebsgang seitwärts-zurück geht – ganz grob gesagt – darin auf, dass sich die enorm magnetische, denotative Kraft des modernen Arbeitsbegriffsfelds mit wachsender Entfernung von der Gegenwart und den wie immer figurierten Modernen abschwächt und entzentralisiert. Sein Sinnkern verändert seine soziale Funktion, beginnt zunehmend als Konnotation anderer Wörter mit anderen Sinnbezirken zu wirken, Wörtern, die an Bedeutung für die Artikulation des Unterhaltshandelns vorindustriellen und vorbürgerlichen Zuschnitts gewinnen. Reformuliert: In Mittelalter und Vormoderne zurückblickend, verliert das deutsche Wort ‚Arbeit‘ in der (Schrift-)Sprache zunehmend seine universalistische Aura, sein denotatives Gewicht und seine Anziehungskraft. Seine Sinnmacht schrumpft, besonders sein Primärbezug auf den geldförmigen Lohn als systemisches Äquivalent lockert sich. Es dient zunehmend der Ergänzung des Sinnfeldes anderer Wörter bzw. Wortgruppen. Es übernimmt sekundäre, qualifizierende bzw. attributive Funktionen. Auch sein Anwendungsfeld und seine Gebrauchsfrequenz nehmen ab. 2. Im Zeitraum von ca. 800–1500 n. Chr. bildet das alt- bzw. mittelhochdeutsche Wort ‚arebeit‘ nur eine Komponente des großen und schwer eingrenzbaren Feldes der Wörter ‚Werk‘, ‚Kunst‘, ‚Lohn‘, ‚Dienst‘ und vor allem ‚Mühsal‘. Dieses deutsche Quintett entspricht etwa dem lateinischen Set von Schlüsselwörtern, bestehend aus opus, ars, merces, servitium und besonders labor, die zwar aus dem antik-römischen Latein stammen, nun aber grundlegend christianisiert sind, was im Einzelnen jeweils etwas anderes bedeuten kann.4 Für mich bilden beide Sets zusammen den General-
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eine kurze Einführung sowie Hinweise auf weitere Arbeiten (S. 25–27). Ich beabsichtige, diesen Forschungsweg der lexikalisch-semantischen Untersuchung von arbeitsgeschichtlich gehaltvollen Einzelzeugnissen begrenzten Umfangs weiterzugehen. Nahezu jede Begriffsgeschichte der Arbeit, derer es genügend gibt, ist als Weg von der Antike bzw. der Vormoderne zur Moderne und meist als Biographie, als monobegriffliche Modernisierung erzählt. Typisch hierfür: Rudolf Walther: Arbeit – ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo. In: Helmut König/Bodo von Greiff/Helmut Schauer (Hg.): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. Opladen 1990. S. 3–25. Der am breitesten angelegte neuere Sammelband der Mittelalterforschung ist Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten. Berlin 2006;
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Code des Feldes des Unterhaltshandelns und der damit verbundenen Vorstellungen im langen christlich-kirchlichen Mittelalter (5.–17. Jahrhundert).5 3. Im forschenden und lehrenden Umgang mit diesen Grundlagen hat sich die Hypothese verfestigt, dass dort, wo in mittelalterlichen Dokumenten vom Unterhalt die Rede ist bzw. gehandelt wird, dieser fünfteilige Set der Schlüsselwörter im Text explizit Regie führt, mindestens aber sinnbildend mitspielt, aber eben jeweils in anderer Präsenz, Frequenz, Kombination, Rangierung und Milieuverankerung. Und gerade auf diese unterschiedlichen Ausprägungen kommt es an, wenn man der so verdienstvollen Begriffshistorie der alteuropäischen Arbeit6 Gebrauchssituationen der Subsistenzsprache zur Seite stellen will, die jedes einschlägige Dokument bietet. Soweit meine konzeptuellen Vorgaben. Nun zur Wahl des Falles. Der ausgewählte Schrifttatort ist ein Einzeldokument begrenzten Umfangs, keine Liste, kein Konglomerat, kein lexikalisches Produkt, kein gigantischer Textkörper, sondern ein wortlautstabiles Dokument mittleren Umfangs. Es gehört in das große Feld der normativen Dokumente des christlichen Okzidents, in die besondere Gattung der Mönchsregeln, die wiederum ihren besonderen Zuschnitt, ihren besonderen Wirkungshorizont, ihre Herstellungs- und Überlieferungs-Eigenheiten haben. Zum Verfahren: Bei Untersuchungen von Einzeldokumenten hat es sich für mich bewährt, mit einem typischen Wortlaut-Ausschnitt aus dem betreffenden Stück zu beginnen, um Anschauung zu bieten, die Sprachuntersuchung und ihre Resultate durchsichtig zu halten und die folgenden Situierungen im sozialen Zusammenhang und die schließlich aus allem folgenden Verallgemeinerungen mitvollziehbar zu machen. Zudem folge ich dem Erfahrungsprinzip, dass jede lexikalische und semantische Untersuchung eines Dokuments auf eigene Wege und Lösungen hinausläuft.
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vgl. auch George Owitt, Jr.: The Restoration of Perfection. Labor and Technology in Medieval Culture. New Brunswick/London 1986; Jacqueline Hamesse/Colette Muraille-Samaran (Hg.): Le travail au moyen âge. Une approche interdisciplinaire. Louvain-La-Neuve 1990; sachgeschichtliches Panorama: Robert Fossier: Le travail au moyen âge. Paris 2000. Das Vokabular der anderen europäischen Sprachen besteht in verwandten, aber auch stark abweichenden Ensembles, was jede arbeits-semantische Tiefenbohrung in ihnen zu einer durchaus anderen Geschichte macht. Gemeint sind hier die einschlägigen Leistungen der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“, aber auch von Werken wie „Dictionnaire de Spiritualité“, „Der Neue Pauly“, „Realenzyklopädie der Antike und des Christentums“, „Theologische Realenzyklopädie“, „Enzyklopädie der Neuzeit“.
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2 Die Regel Benedikts von Nursia (530–560) – Ora et labora? Der Fall ist exemplarisch, gewissermaßen sogar kanonisch. Jede Geschichte der Arbeit im Mittelalter hat mit der Benediktregel einzusetzen, zum einen wegen ihrer enormen Langzeitwirkung als Normtext für alle monastischen Einrichtungen in der Geschichte des christlichen Westens und zum anderen als Bezugspunkt für nahezu jede arbeitsgeschichtliche Argumentation, die sich auf die von ihr abgeleitete Devise Ora et labora/ Bete und arbeite beruft.7 Dieser doppelte Geltungserfolg hat sie zu einem der Initialdokumente des Aufstiegs der Arbeit aus antiker (Sklaven-)Inferiorität zu moderner (Menschen-)Würde werden lassen.8 Die Regel dient, ob im Lexikon oder Handbuch, stets als klassischer Brückentext für jede begriffsgeschichtliche Argumentation. Aber Achtung! Im Folgenden geht es gar nicht um die Benediktregel und ihre Wirkungsgeschichte, sondern um die Regel Benedikts von Nursia (RB) für eine neu formierte Mönchsgemeinschaft in einem oratorium auf dem Montecassino in der Mitte des sechsten Jahrhunderts;9 also um einen historischen ‚Moment‘, in dem ein Abt einer mittelgroßen Mönchsgemeinschaft Regeln für ihr ortsfestes Zusammenleben formuliert hat – der heute geltenden Auffassung nach etwa zwischen 530 und 560. Von diesem Benedikt weiß man als handelnde Gestalt direkt nichts.10 Nur in seinen etwa 50 Jahre späteren Dialogen über Heilige erzählt Papst Gregor d. Gr., der Benedikt nicht persönlich erlebte und kannte, über ihn als heilig lebenden Mann und Autor einer regula, die sich „durch weise Mäßigung und verständliche Darstellung“ auszeichne – so Gregor (Dialoge 2,36). Ob seine hagiographische Erzählung trifft, wer Benedikt war, wie er in seiner direkten Umgebung handelte und wirkte, ist neuerlich erinnerungskritischem Zweifel unterzogen worden.11 Benedikt nennt sich in der Regel selbst nicht, es fehlt ein Autograph, das seine Verfasserschaft verbürgen
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Exemplarisch: Hubert Treiber/Heinz Steinert: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen. Die „Wahlverwandtschaft“ von Kloster- und Fabrikdisziplin. München 1980. 8 Um eine vorsichtige Relativierung der gängigen Meinung von der arbeitsethischen Intention der Regel im Kontext ihrer zeitgenössischen Quellen bemüht sich Birgit van den Hoven: Work in Ancient and Medieval Thought. Ancient Philosophers, Medieval Monks and Theologians and their Concept of Work, Occupations and Technology. Amsterdam 1996. S. 152–158. 9 Albert de Vogüé: Art. Regula S. Benedicti. In: Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert Auty: Bd. 7. München 1995. Sp. 603–605. 10 Die Benedikt-Literatur ist unabgrenzbar. Zur Einführung hier nur Rudolf Hanslik: Art. Benedikt von Nursia. In: Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert Auty: Bd. 1. München 1980. Sp. 1867 f. 11 Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004. S. 344–357.
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würde. Die älteste überlieferte Handschrift gehört erst in die Zeit um 700. Danach ist der Regeltext erstaunlich wortlautstabil geblieben. Nun zu unserer Frage: Wie weiß jener Benedikt sich über das ‚Arbeiten‘ auszudrücken?
3 Ein locus classicus – Einstieg in den Text über Kapitel 48 In Rede steht, darüber ist die gesamte Forschung sich einig, vor allem das 48. der 73 Kapitel der Regel. Es lautet in der Verdeutschung durch Pater Basilius Steidle OSB von 196312: Kapitel 48 Von der täglichen Handarbeit Der Müßiggang ist der Feind der Seele; und deshalb sollen sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit und wieder zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigen. Und so glauben wir, durch folgende Verfügung die Zeit für beides ordnen zu können. Von Ostern bis zum 14. September verrichten die Brüder in der Frühe nach dem Schluss der Prim bis etwa zur vierten Stunde die notwendigen Arbeiten. Von der vierten Stunde aber bis zur Stunde, da sie die Sext halten, beschäftigen sie sich mit Lesung. Wenn sie nach der Sext vom Tisch aufgestanden sind, ruhen sie unter völligem Schweigen auf ihren Betten; oder wer etwa für sich lesen will, soll so lesen, dass er keinen anderen stört. Die Non werde früher gehalten, um die Mitte der achten Stunde, und dann verrichte man wieder bis zur Vesper die notwendige Arbeit. Erfordern es aber die Ortsverhältnisse oder die Armut, dass die Brüder die Feldfrüchte selbst einernten müssen, so seien sie nicht betrübt; denn dann erst sind sie wahre Mönche, wenn sie wie unsere Väter und die Apostel von der Arbeit ihrer Hände leben. Doch geschehe wegen der Kleinmütigen alles mit Maß. Vom vierzehnten September bis zum Beginn der Fastenzeit sollen sie sich aber bis zum Ende der zweiten Stunde mit Lesung beschäftigen. Am Ende der zweiten Stunde werde die Terz gehalten; und bis zur Non sollen alle die ihnen zugewiesene Arbeit verrichten. Auf das erste Zeichen zur Non verlasse jeder seine Arbeit und halte sich bereit, bis das zweite Zeichen gegeben wird. Nach Tisch sollen sie sich mit ihren Lesungen und Psalmen beschäftigen. In den Tagen der Fastenzeit sollen sich die Brüder aber vom frühen Morgen bis zum Ende der dritten Stunde mit ihren Lesungen beschäftigen und bis zum Ende der zehnten Stunde die ihnen aufgetragene Arbeit verrichten. Für diese Tage der Fastenzeit erhalte 12 Die Benediktusregel. Lateinisch-Deutsch, hg. von P. Basilius Steidle OSB. Beuron 1963. S. 156–161.
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jeder aus der Bibliothek ein Buch, das er von Anfang bis Ende ganz lesen soll. Diese Bücher sind zu Beginn der Fastenzeit auszugeben. Vor allem aber bestimme man einen oder zwei Ältere, die zu den Stunden, da sich die Brüder mit Lesung beschäftigen, im Kloster umhergehen, um nachzuschauen, ob sich nicht etwa ein träger Bruder findet, der müßig ist oder die Zeit verplaudert, statt eifrig zu lesen, und nicht nur keinen Nutzen für sich hat, sondern auch andere ablenkt. Fände sich ein solcher, was ferne sei, so werde er einmal und ein zweites Mal zurechtgewiesen; bessert er sich nicht, dann verfalle er der in der Regel vorgesehenen Strafe, und zwar so, dass die übrigen Furcht bekommen. Auch darf kein Bruder mit einem anderen Bruder zu ungehöriger Zeit verkehren. Ferner sollen sich am Herrentag alle mit Lesung beschäftigen, ausgenommen jene, die für die verschiedenen Dienste bestimmt sind. Wäre aber einer so nachlässig und träge, dass er nicht willens oder fähig ist, (Psalmen) zu üben oder zu lesen, so trage man ihm eine Handarbeit auf, damit er nicht müßig ist. Kranke oder schwächliche Brüder sollen eine solche Arbeit oder Beschäftigung bekommen, dass sie nicht untätig sind, aber nicht durch Überbürdung in der Arbeit niedergedrückt oder gar zum Fortgehen veranlasst werden. Der Abt muss auf ihre Schwäche Rücksicht nehmen. Im lateinischen Wortlaut: XLVIII De opera manuum cotidiana Otiositas inimica est animae; et ideo certis temporibus occupari debent fratres in labore manuum, certis iterum horis in lectione divina. Ideoque hac dispositione credimus utraque tempora ordinari: id est, ut a Pascha usque Kalendas Octobres a mane, exeuntes a Prima, usque horam pene quartam laborent, quod necessarium fuerit. Ab hora autem quarta usque horam qua Sextam agent, lectioni vacent. Post Sextam autem surgentes a mensa, pausent in lecta sua cum silentio, aut forte qui voluerit legere sibi, sic legat, ut alium non inquietet. Et agatur Nona temperius, mediante octava hora, et iterum quod faciendum est, operentur usque ad Vesperam. Si autem necessitas loci aut paupertas exegerit, ut ad fruges recollendas per se occupentur, non contristentur; quia tunc uere monachi sunt, si labore manuum suarum uivunt, sicut et Patres nostri et Apostoli. Omnia tamen mensurate fiant propter pusillanimes. A Kalendas autem Octobres usque caput Quadragesimae, usque in horam secundam plenam lectioni vacant. Hora secunda agatur Tertia; et usque Nonam omnes in opus suum laborent quod eis iniungitur. Facto autem primo signo Nonae Horae, deiungant ab opera sua singuli, et sint parati dum secundum signum pulsaverit. Post refectionem autem vacant lectionibus suis aut psalmis. In Quadragesimae vero diebus, a mane usque tertiam plenam vacant lectionibus suis, et usque decimam horam plenam operentur quod eis iniungitur. In quibus diebus Quadragesimae accipiant omnes singulos codices et bibliotheca, quos per ordinem ex integro legant; qui codices in caput Quadragesimae dandi sunt.
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Ante omnia sane deputentur unus aut duo seniores, qui circumeant monasterium horis quibus vacant fratres lectioni, et videant ne forte inveniatur frater acediosus, qui vacat otio aut fabulis, et non est intentus lectioni, et non solum sibi inutilis est, sed etiam alios distollit. Hic talis est, quod absit, repertus fuerit, corripiatur semel et secundo; si non emendaverit, correptioni regulari subiacet taliter, ut ceteri timeant. Neque frater ad fratrem iungatur horis incompetentibus. Dominico item die lectionibus vacent omnes, excepto his qui variis officiis deputati sunt. Si quis vero ita neglegens et desidiosus fuerit, ut non velit aut non possit meditare aut legere, iniungatur ei opus quod faciat, ut non vacet. Fratribus infirmis aut delicatis talis opera aut ars iniungatur, ut nec otiosi sint, nec violentia laboris opprimantur aut effugentur; quorum imbecillitas ab abbate consideranda est. Selbst gewissenhafte Lektüre sowohl des deutschen wie des lateinischen Wortlauts wird den Sinnraum, in den er gehört, nur unvollkommen erschließen. Es ist zwar offensichtlich, dass es hier um eine Wechselbeziehung und einen Gegensatz geht: um das wechselnde Nacheinander von Lesung bzw. Gebet und Handwerken im Tages- und Wochentakt der christlichen Jahreszeiten sowie um den Gegensatz zwischen HandWerken und Müßig-Sein (otiositas) der Brüder in diesem Rhythmus. Aber in welchem engeren Ausdrucksfeld und in welchem weiteren Funktionszusammenhang? Um an das heranzukommen, was Pater Steidle in seiner deutschen Übersetzung elfmal als ‚Arbeit‘ gilt, im lateinischen Wortlaut aber so auffällig differenzierter ausgedrückt wird, sind mehrere Arbeitsschritte nötig. Ich beginne mit einem kurzen Referat des Inhalts der ganzen Regel, angepasst an die Reihenfolge ihrer Kapitel, um ihren Gesamttenor und ihre Ausdrucksrichtung zu vergegenwärtigen. Dadurch wird sich eine erste Vorstellung von der Position und vom Rang des Kapitels 48 im Gesamtdokument ergeben (4). Dann wird der Wortlaut von Kapitel 48 selbst genauer untersucht mit dem Ziel, das dortige Wort- und Sinnfeld zum Unterhaltshandeln im Detail zu erfassen (5). Es schließt sich eine Ausweitung der Untersuchung in den Sprachschatz der Regel im Ganzen samt seiner semantischen Grobordnung an (6). Erst danach bzw. daraus folgend können alle Einzelwörter des Feldes zur ‚Arbeit‘ und ihr kontextueller Sinn im Regeltext intentionsgenau abgewogen werden (7). Zu schließen ist mit kurzen Ausblicken auf das zeitgenössische Umfeld der Regel und seine folgende Wirkung (8).
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4 Der Gedankengang der Regel Der Wortlaut der Regel ist gerahmt von einem Prolog (prologus) und einem abschließenden Hinweis über seinen Sinn und seine Tragweite (Kapitel 73).13 Im Prolog werden wortreich, unter Benutzung von ca. 50 Bibelzitaten, junge Mönche (filii) dazu aufgerufen, sich mit Herz und Leib, mit ganzen Sinnen – Ohren, Mund, Augen – auf Gott zu richten, sich ihrem König Christus, Vater und Herrn zu unterwerfen, ihm mit guten Werken zu gehorchen, damit alles Böse vermieden würde, der Teufel keine Gewalt über sie habe und sie so den Qualen der Hölle entkämen. Und soweit sie diese Gehorsamsmühe (labor oboedientiae) selber nicht zu leisten vermöchten, sollten sie sich Gottes Wirken in ihnen (deus operans in eis) als seine Arbeiter (operarius) demütig überlassen. So könne eine Schule für den Herrendienst (servitium dominicum) im Kloster möglich werden. Im Schlusskapitel wird noch einmal zusammenfassend die Befolgung der Regel beschworen, zugleich aber auch darauf verwiesen, dass für den Weg zur Vollkommenheit über die Regel hinaus alle heiligen Offenbarungs- und Lehrschriften als Tugendwerkzeuge (instrumenta virtutum) bereitstünden. Die 72 Kapitel der Regel folgen im Groben einem ganz anderen leitenden Gesichtspunkt – den Aufgabenfeldern des Abtes als dem Vater einer Bruderschaft, dem alle Autorität und Handlungsleitung zukommt.14 Auf ihn kommt es an, er fällt alle Entscheidungen, ihm ist zu folgen. Auf die kurze Abgrenzung der ortsstabilen Klostergemeinschaft von anderen Formen des damaligen vagierenden oder solitären Asketentums und der Umschreibung der Eigenschaften des Abtes (Kap. 1–3) folgen 4 Abschnitte über die Verhaltensanforderungen an die Brüder (4–7): zuerst der Katalog der ‚Instrumente der guten Werke‘ – von den Einzelgeboten und -verboten des Dekalogs (mit diversen Handlungsverfeinerungen) bis hin zu Forderungen der Selbstverleugnung, Enthaltsamkeit, Todesfurcht bzw. Verboten von Neid, Hass, Streitsucht. Die modernen Herausgeber der RB haben über 70 solcher Forderungen im Text unterschieden. Dann folgen die Bestimmungen über den Gehorsam, die Schweigsamkeit und, besonders ausführlich, über die Demut der Brüder. Der Komplex zum Gottesdienst (8–20), im Wesentlichen das auswahl- und reihenfolgegerechte Psalmodieren und Beten, ist an den Zeitzyklen orientiert – jahreszeitlich, wöchentlich, nachts und tags, an den Feiertagen. Es folgen Bestimmungen über schuldhaftes 13 Unverzichtbar für alle inhaltlichen Bezüge auf die RB ist Georg Jenal: Italia ascetica et monastica. Das Asketen- und Mönchtum von den Anfängen bis zur Zeit der Langobarden (150/250–604). 2 Halbbände. Stuttgart 1995, bes. S. 233–264. 14 Diese Grundhaltung ist überzeugend herausgearbeitet worden von Franz J. Felten: Herrschaft des Abtes. In: Friedrich Prinz (Hg.): Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen. Stuttgart 1988. S. 147–296.
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Verhalten von Brüdern (beim Gottesdienst) samt ihrer Strafen – bestehend aus verschiedenen Stufen des Ausschlusses aus dem Gemeinschaftsleben (21–30). Danach geht es um die rechte Ordnung der Sachgüter des Klosters und der täglichen Geschäfte (31–34), um die damit verbundenen Einzelaufgaben in der Küche, um die Pflege der Kranken, Greise und Kinder (35–38), dann um alles, was mit Speise und Trank zu tun hat (39–42), und um verschiedene Verfehlungen und Bußen beim Gottesdienst und bei Tisch (43–47). Hier schließen sich nun die Bestimmungen an, deren erster Teil oben zitiert ist. Es geht um verschiedene Aspekte des täglichen Hand-Werkens (48–51) in Ergänzung zum Gottesdienst: um zwei zeitliche, das heißt um die genaue Abgrenzung vom Psalmodieren und Beten während des Tages und um die vom Essen und Trinken (in der Fastenzeit), sowie um eine räumliche, das heißt das Beten und Essen derjenigen, die außerhalb des Klosters zu tun haben, also nicht mit am Tisch im Kloster sitzen können. Hierauf folgen Bestimmungen über die Unterbringung und Bedienung von Gästen und die Verwendung von Gaben Auswärtiger. Angeschlossen sind dann die Zuteilung von Kleidung und Schuhwerk an die Brüder (55), die Tischgenossenschaft des Abtes (56) sowie Mahnungen an die Handwerker unter den Brüdern, demütig zu werken und keinerlei Gewinn aus Verkäufen ihrer Werke zu ziehen (57). Es folgen Bestimmungen zur Ergänzung und Stabilität der Gemeinschaft: die Eingliederung junger Neulinge verschiedener sozialer Herkunft, das Verbleiben von Priestern, die Aufnahme Fremder (58–62). Der ursprüngliche Wortlaut der Regel mündet in abrundende Bestimmungen über die Rangordnungen im Kloster, über die Einsetzung des Abtes sowie über die Aufgaben des Priors und des Pförtners (63–66), beschlossen mit dem Wunsch, die Regel solle möglichst oft vor der Gemeinschaft verlesen werden, damit sich ihr keiner wegen Unkenntnis entziehen könne. Etwas später hinzugefügt sind noch Gebote darüber, wie sich die Brüder untereinander benehmen sollten (67–72). Über den Sinn der Gliederung der Regel herrscht kein wissenschaftliches Einvernehmen. Sie muss alle enttäuschen, die von ihr systematische Deduktion im Sinne eines Gesetzes (oder Rechts) erwarten. Dieser ‚Mangel‘ hat immer wieder zu philologischen und überlieferungsgeschichtlichen Hypothesen über Störungen, Brüche, redaktionelle Veränderungen und dergleichen geführt, die durchaus weiter in Umlauf sind. In der hier intendierten Sprachuntersuchung haben solche Fragen – zunächst – keinen Platz. Folgende pauschale Vorstellung kann genügen: Es ging damals um die sechs entscheidenden Verantwortungsbereiche des Abtes: um die Tugendpostulate an die Mönche, um ihr gottesdienstliches Verhalten, um die Strafen für Verfehlungen dabei, um ihre leibliche Versorgung (Speise, Trank, Kleidung) und die von Gästen, um die den Gottesdienst ergänzenden Arbeiten im klösterlichen Anwesen (drinnen und draußen) sowie um die personale Ergänzung der Gemeinschaft, ihren mittelfristigen Erhalt als Gruppe. Vielleicht kommt man dem Sinn der Gliederung der Regel am nächsten, wenn man von einer fiktiven Inspektion des Abtes ausgeht und die
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Reihenfolge der Bestimmungen als Ausführungen zu den verschiedenen Orten des ganzen Anwesens versteht, in dem die Brüder leben. Hinzu kommt allerdings, dass der Sinn dieser Abfolge in einer Bedeutungsabstufung besteht.
5 Das Ausdrucksfeld in Kapitel 48 Aus der Gesamtordnung der Verhaltensgebote für die Brüder ergibt sich also der Rang des Kapitels 48. Es ist der vorletzte Sinnabschnitt. Wie nun lässt sich dem dortigen Ausdrucksfeld der ‚Arbeit‘ methodisch sauber beikommen? Die folgenden linguistischen Aufbereitungsschritte müssen sich notwendig auf den lateinischen Wortlaut beziehen. An den Anfang stelle ich hier eine Auflistung aller 13 einschlägigen Passagen in der Manier jeder Okkurenz mit ihren Konkordanzen, das heißt der wörtlichen, zum Teil auch syntaktischen Umgebung jeder Wortgebrauchsstelle. Der besseren Übersicht dient eine Zentrierung um die involvierten bedeutungsähnlichen Nomina bzw. Verba: 1 (Titel)
de opera manuum cotidiana
Kapitel 48
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occupari debent in labore manuum
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usque […] laborent quod necessarium fuerit
3
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quod faciendum est operentur usque ad
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5
ad fruges recolligendas per se occupentur
7
6
si labore manuum suarum vivunt
8
7
usque […] omnes in opus suum laborent quod eis iniungitur
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8
deiungant ab opera sua singuli
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9
usque horam […] operentur quod eis iniungitur
14
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excepto his, qui variis officiis deputati sunt
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iniungatur ei opus quod faciat, ut non vacet
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fratribus […] talis opera aut ars iniungatur,
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ut nec otioso sit, nec violentia laboris opprimantur
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5.1 Übersetzung
Was ist dieser Auflistung zu entnehmen? Man sieht, dass das, was Pater Steidle stets mit ‚Arbeit‘ und ‚arbeiten‘ – dazu je einmal mit ‚Beschäftigung‘ bzw. ‚Dienst‘ – übertragen hat (s. o.), sich im lateinischen Wortlaut aus den vier Nomina labor, opus, ars, officium und den Verben laborare, operari (und dazu occupari, deputare) zusammensetzt. Der Übersetzer hat also aus einem Wörter-‚Feld‘ gewissermaßen einen Wort-‚Begriff ‘ gemacht. Bleiben wir noch kurz im Operationsraum des Übersetzens. Was bieten die mittellateinischen Lexika zu dieser Gruppe? Die Sinngliederung der betreffenden Artikel des gängigen mittellateinischen Handlexikons von J. F. Niermeyer kann hier aus mehreren Gründen nicht ausreichen. Das Ensemble der dortigen Bedeutungsvarianten samt ihrer Belegstellen ist sachlich und zeitlich zu eng gefasst. Bei labor vermisst man den generellen Sinn körperlicher Anstrengung bzw. Verausgabung, der schweißtreibenden Mühsal, bei opus die Grundbedeutung des Werks als Absicht, Tat und Ergebnis, bei ars den Wissens- und Erfahrungsaspekt für das herstellende Tun.15 Ähnliches gilt für andere Standardlexika des Mittellateinischen. Ihnen fehlt auch meist der ‚Ausweg‘ über die Verweise auf andere Wörter mit ähnlichen Sinnaspekten. Näher heran an die Bedeutungen der einzelnen Wörter in der lateinischen Regel führt der glückliche Fall ihrer Übertragung ins Alemannische (eine althochdeutsche Mundart), die gut zweieinhalb Jahrhunderte später im Kloster St. Gallen erfolgte und fragmentarisch überliefert ist. Ihr kann man folgende Wort-Entsprechungen entnehmen: lat. laborare = ahd. arbeitan; lat. opus = ahd. uuerach; lat. ars = ahd. list; lat. officium = ahd. ambaht. Aber diese althochdeutschen Wörter geben per se, als einzelne, wenig her für unsere Frage nach den Sinnzusammenhängen in unserer Wortgruppe innerhalb der Regula. Zusammenfassend gesagt: Der um das Einzelwort organisierte lexikographische Weg kann hier nicht zum Ziel führen. Es muss uns um die Wortgruppe und ihre Beziehungen im Text gehen. 5.2 Wortfeld-Semantik
Halten wir uns im Folgenden an die obige 13-zeilige Liste der Vorkommen (Okkurenzen).16 Schon aus den dortigen Gebrauchsfrequenzen kann man schließen, welche Wörter besonderes Gewicht im Kapiteltext haben: opus bzw. operari sind siebenmal gebraucht, labor bzw. laborare fünfmal – ein deutliches Übergewicht der 15 Jan Frederik Niermeyer: Mediae Latinitatis Lexicon Minus. Leiden 1976. S. 62. S. 575–577. S. 739. S. 741 f. 16 Begrifflich entscheidend geholfen zum Folgenden hat mir Dietrich Busse: Semantik. Paderborn 2009. S. 91–110.
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beiden Paare gegenüber dem je einmaligen Gebrauch von ars und officium (Z. 10, 12). Welche Beziehungen haben diese Ausdrucks-‚Führer‘ zueinander? Was erweist sie als gleich-, was als eigensinnig? Hier helfen sowohl die Attribute als auch syntaktische Anbindungen entscheidend weiter. Gleichsinnigkeit (Synonymität) erweisen die Formulierungen in den beiden ersten Zeilen. Opus und labor sind gleichsinnig in ihrer Verbindung mit dem manus-Attribut – das handhafte Werken gilt hier der handhaften Mühsal gleich. Eine weitere Ver-Gleichung besteht darin, dass beide Verben – laborare und operari – in syntaktisch gleicher Sinnausrichtung benutzt sind: d. h., das Werken bzw. Sichmühen betrifft das, was nötig bzw. was zu tun, zu machen ist (Z. 3/4: quod necessarium fuerit bzw faciendum est; opus, quod faciat). Dieser aufs Machen abgestellten Sinngemeinsamkeit steht die feste Verbindung des Verbs agere, Handeln/Vollziehen (bzw. vacare und legere, sich Widmen, Lesen) mit der Lesung und dem Gebet im Oratorium bzw. in der Mönchszelle gegenüber (48, Satz 4, 6, 10, 11, 13, 14). Und schließlich gleichen sich opus/operari und laborare darin, vom Abt bzw. seinem Stellvertreter ‚auferlegt‘ zu werden (Z. 7, 9, 11, 12: iniungere; Z. 8: deiungere). Was aber ist beiden je eigen, was unterscheidet sie? Auch hierüber gibt die Auflistung Auskunft. Labor steht einmal in enger Genitivverbindung zu violentia, dem physischen Zwang (Z. 13). Opus wird dagegen der ars, dem ‚listigen‘, wissenden Herstellen, zur Seite gestellt (Z. 12). Und opus ist eigenes Werk, einzelmönchisches Tun; zweimal fällt die Verbindung opus suum (Z. 7, 8), bei labor fehlt sie. Folglich lässt sich nun sagen: Opus/operari und labor/laborare können in verschiedenen Ausdrucksmomenten synonym gebraucht werden, haben aber Eigenarten, die sie voneinander absetzen, antonymische Tendenz aufweisen – in der Art zweier sich überschneidender Sinnbereiche. Beide gelten als handvermitteltes Machen/Tun, stehen sich tendenziell aber hier als körpergebunden, dort als geistgeleitet gegenüber. Der letztere Charakterzug zielt auf ars. Das officium hingegen ist durch eine andere Verbverbindung (deputare) abgesetzt, lässt sich aber durchaus als der opus-Ebene zugeordnet, also hyponymisch verstehen. Zur speziellen Aufgabe bestimmt zu sein geht im allgemeinen Werk(en) auf. Übergeordnet, hyperonym, dagegen fungiert das Verb occupari: Unter seinen Sinn sind labor/laborare und opus/operari subsumiert. Aus Zeile 6 ergibt sich – im Verweis auf Bibel und Väter – die Gesamtfunktion der handhaften Mühsal als Lebensunterhalt: inde vivere – eine deutliche Konkretisierung der beiden Formeln zur Notwendigkeit (necessitas) von opus/labor (Z. 3,4); dazu kann man auch noch die Auferlegung von oben zählen (iniungere), auf die schon hingewiesen wurde. Es ist eben der Abt, der das Unterhaltshandeln ordnet. Damit ist das Generalmotiv im Gebrauch des leitenden Wortpaars klargestellt und autoritativ abgesichert. Es bezeichnet den gemeinsamen Lebensunterhalt als gebotene Notwendigkeit, als Notdurft.
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Der Sinn von occupari führt aber noch einen wichtigen Schritt weiter. Er verweist auf Kapitel 48 als Präskription eines Zeitregimes (dispositio temporum) – was sein Titel gar nicht hergibt. Im zweitem Satz des Textes ist es treffend als Ordnungsversuch zweier Beschäftigungs-Zeiten definiert: „Und so glauben wir, durch diese Verfügung beide Zeiten zu ordnen“ (ideoque hac dispositione credimus utraque tempora ordinari). Es geht um die genauen tempora in labore manuum und die horae in lectione divinae, die Zeiträume des handhaften Machens und die Zeitpunkte des liturgischen Handelns. Über die Inhalte Letzterer ist in den Kapiteln 8–20 im Detail gehandelt (Texte der Psalmen, Gebete, Bibelausschnitte). Kapitel 47, in dem die korrekte Handhabung der Gottesdienstzeiten bzw. Stunden bei Tag und Nacht (horae conpetentiae) geregelt ist, bildet den Übergang. Kapitel 48 beantwortet nun die Frage nach dem Ineinander beider Zeiten im vom Offizium bestimmten Tageslauf, von früh bis spät. Insofern strukturiert die qualifizierte Stunde (hora, von der Prim bis zur Non; 11 Okkurenzen!) den Text. Die Gebets-, Lese- und Meditationsphasen sollen sich mit denen der opera/labores präzise abwechseln – angepasst an die drei liturgischen Jahreszeiten.17 Die liturgischen Tagestermine und ihre Glockensignale bilden die Halte- und Wechselpunkte: von der Sext bis zur Non, nach der Prim usf. Sie verweisen, das sei hier schon vorweggenommen, zugleich beiläufig auf die Orte der occupationes: Gesang/ Gebet/Lesung im Gebetshaus (oratorium), bei Tisch (refectorium), auf dem Bett in der Zelle, opera auf den Äckern (draußen: foris), im Garten, in Küche und Keller (im claustrum). Das Offizium, die tagtägliche Zeitordnung, reguliert also zugleich das räumliche Gebaren der Mönche (in der Klausur und ‚draußen‘). Bemerkenswert sind zwei weitere handlungssemantische Relationen, die Kontradiktion und die Komplementarität. In Zeile 13 blitzt mit dem Adjektiv otiosus der Gegensinn, die Antonymie, zum Tätigsein auf – sei es labor, opus oder ars –, und in Zeile 11 wird das Verb vacare in diesem Sinne benutzt. Auch diese Wortindizien führen, wie die Zeit- und Raumordnung, zurück in den Gesamttext des Kapitels. Er beginnt ja mit dem Grundsatz, dass die otiositas – die Müßigkeit, Trägheit, Untätigkeit, negative Steigerung der Muße (otium) – der Feind der Seele sei und man sie durch zwei Beschäftigungen (occupationes) vermeiden könne und solle: die heilige Lesung (lectio divina) und das handhafte-mühselige Werken (labor/opus manuum). Semantisch stehen beide in einem einander ausschließenden Ergänzungsverhältnis (Heteronymie, Komplementarität). Das Kapitel 48 der Regel, so lässt sich vorerst resümieren, ist also arbeitssemantisch bestimmt durch einen leitenden Sinngegensatz (otiositas versus occupatio), aus dem eine handlungsleitende zweiteilige Sinnergänzung hervorgeht: lectio divina in 17 Sie bestehen in den Zeitstrecken von Ostern bis zum Oktoberbeginn (Sommerzeit), von da an bis zum Beginn der Fastenzeit (Winterzeit) und von der Fastenzeit bis Ostern.
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fester Verbindung mit agere und opus/labor manuum in tendenzieller Koppelung mit facere. Man könnte von einer schiefen Gabelung sprechen. Der erste Zweig ist der dominante. Er ist auffällig oft (sechsmal) in fester Redewendung – lectionibus vacare – formuliert, die wie ein Kürzel, eine Formel für all das fungiert, was enorm detailliert in den Kapiteln 8–20 abgehandelt ist. Der zweite Zweig, der neue Bestimmungs-‚Stoff ‘ des Kapitels 48, ist zu einem mehrgliedrigen Feld von Wörtern aufgefächert, deren gemeinsamer Sinn ebenso artikuliert wird wie deren Eigenprofile bzw. Merkmale. Am gewichtigsten erscheint das opus/operari-Paar, dicht gefolgt von labor/laborare. Ars und officium haben deutlich eine untergeordnete Funktion im opus-Bereich (Hyponomie).18 Im krassen Gegensatz zur Detaillierung und lückenlosen Fixiertheit der liturgischen Handlungen – Zeitpunkte, Plätze, Mittel, Gebaren (Stimme) – steht die sachliche Unbestimmtheit der handhaften Beschäftigungen. Nur ihr körperliches Gewicht wird angesprochen sowie ihre Rolle für diejenigen, die zum liturgischen Handeln wenig geeignet oder erkrankt sind; ihre Verortung bleibt blass. Insgesamt also eine semantisch komplexe Lage. Diesem Ergebnis fehlt aber der Bezug zum Ganzen der Regel. Eine Ausweitung der Untersuchung auf den Gesamttext scheint geboten, um das bisher nur aus dem 48. Kapitel erstellte Wort- und Sinnfeld in weitere Zusammenhänge einzufügen und zu ergänzen.
6 Der Basis-Code der Regel und seine innere Form – ein Versuch Die Frage lautet: Was ergibt sich zusätzlich und was insgesamt über den Gebrauchssinn von labor, opus, ars und officium, und zwar im Verhältnis zu den bestimmenden Wort- und Sinnfeldern des Regelwortlauts als Ganzheit? Um diese Fragen zu beantworten, reichen gut ausgewählte, gewissermaßen treffende Einzelbelege zum bisher ermittelten Vokabular nicht aus. Schon die antonymischen und komplementären Funde in Kapitel 48 haben gezeigt, wie wichtig die semantischen Beziehungen des opus/labor-Vokabulars zu anderen Wortgruppen und deren Sinnausrichtung sind. Aber um welche Zusammenhänge und Gewichtungen könnte es sich im ganzen Regeltext handeln? Die Ermittlung seines Schlüssel-Wortschatzes, hier Basis-Code genannt, als Bestand und in seiner inneren Ordnung verspricht Abhilfe.
18 Ich merke hier an, dass ich die Termini der semantischen Relationen nicht um einer linguistischen Zuordnung willen benutzt habe. Die linguistischen Instrumente dienen hier der Klärung einer beziehungsreichen Struktur, einer komplizierten semantischen Situation. Hilfreich war vor allem Busse: Semantik (wie Anm. 16).
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6.1 Der Set der Schlüsselwörter
Um diesen Code zu ermitteln, habe ich mich eines im Netz frei verfügbaren digitalisierten Wortverzeichnisses der regula Benedicti bedient.19 Aus dem dort gegebenen alphabetischen Gesamtwortverzeichnis – ca. 4300 Wörter (Token) mit 14.300 Vorkommen – habe ich ein grobes Ensemble von gut 100 Schlüsselwörtern herausgefiltert, ihre Benutzungsformen auf den Nominativ Singular/Plural bzw. den Infinitiv zurückgeführt und dann ihre Benutzungen addiert.20 Danach habe ich die meisten von ihnen zu sinnnahen Wortgruppen geordnet, die soziale Instanzen, ihre Eigenschaften und Handlungsweisen sowie die Handlungsorte bezeichnen.21 So wurde ein – natürlich offenes und unvollständiges – Sinnensemble gebildet, sozusagen eine Grobskizze des sozio-ideologischen Wortschatzes der Regel und dessen Ordnung. Letztere stellt eine Art Kommunikationsstruktur dar. All dies war nur vor dem Hintergrund meiner Kenntnis des Regelinhalts und auf das Untersuchungsziel blickend zu machen. Dass sich dadurch nichttextuelle Sinnvoraussetzungen in die Wortauswahl, die Wortformalisierung und die Sinngruppierung – gewissermaßen durch eine unkontrollierte Hintertür – eingeschlichen haben, kann ich hier nicht in Abrede stellen. Auf entsprechende Kritik bin ich gefasst.
19 www.intratext.com/IXT/LAT0011/_INDEX.HTM, zuletzt abgerufen am 11.12.2015. 20 Hier der alphabetisch geordnete Bestand mit den addierten Frequenzen aller Vorkommen: abbas /127, actio /9, ager /3, agere /34; anima /28, annus /2, ars, artes /10, avaritia /1, bonus /34, caelum /6, cantare /5(11), caritas /16, caro /8, cella /8, Christus /19, christianus /2, claustrum /2, congregatio /17, consuetudo /5, coquina /3, cor /24, corpus /15, cotidie /10, culpa /7, cura /15, benedictio /19, debere /34, desidia, desiderium /16, deus /102, diabolus/diabolicus /5, dicere /128(–150), dies /53, disciplina /22, discipulus /10, divinus /24, dominicus /22, dominus /88, ecclesia /2, episcopus /2, evangelium /6, excommunicatio /17, facere, factum /45(–70), ferrum, ferramentum /2, filius /10, frater, fraternitas /98, gehenna /5, gloria, gloriare /18, gradus /19, gratia /8, habitare /13, hebdomada /6, homo /15, honor /15, hortus /3, hora /62, humilis, humilitas /52, ieiunium /11, ingenuus /1, iniungere /26, instrumenta /1, iubere /18, iudicare /26, iugum /1, labor, laborare /16, legere, lectio 65, lectus /2, locus /30, malus /21, mane /3, manus /16, mensa /15, mensis /3, merces /7, mereari, meritum /10, ministerium /5, monachus /36, monasterium /72, oboedientia, oboedire /35, occupari, occupatio /6, officium /12, officina /1, opus, operari /50–60, operarius /3, oratio /21, oratorium /23, ordo /34, otium, otiositas /5, pater /4, peccatum /13, pensum /1, persona /6, poena /8, potestas /7, pretium /1, psalmus, psallere /70, refectio /9, regula /25, scientia /1, scriptura /25, sedere /5, servire, servitium; servus, servitus /25, spiritus /14, stabilitas /5, tempus /29, terra /7, timere, timor /22, vacare /10, vespera /13, vitium /20, voluntas /25. 21 Um sie nicht zu überlasten, wurden nur ca. drei Viertel dieses Bestandes in der Ordnung berücksichtigt.
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Die – sehr vorläufige – Wörter-Gruppierung antwortet auf die Frage, wer zu wem spricht, warum dies geschieht und auf welche Verhaltens- und Handlungskomponenten aller es in der regula insgesamt ankommt. Sie soll also eine Ordnung der sozialen Beziehungen vorgeben. Unter dieser Ausrichtung haben sich folgende fünf Bereiche ergeben. Da sie intern sehr locker gefügt sind, verstehe man sie besser als ‚Konglomerate‘.22 1 Die Sprecher: Gott – Abt – Herr (zusammen ca. 500 Vorkommen) deus /102 – christus /19 – divinus /24 – caritas /16 – gloria /18 – gratia /8; dominus /88 – potestas /7; abbas /127 – pater (familias) /17 – cura /15 – iniungere /12 – iubere /18 – iudicare /26 2 Die Angesprochenen: die Brüder (ca. 280) ordo /53 – gradus /19 – persona /6; congregatio /17 – fratres-fraternitas /98 – monachus /36 – filius /10 – discipulus /10; homo /15 – christianus /2; ingenuus /1 – servus /3 3 Konstitution und Eigenschaften der Brüder ( ca. 230) corpus /15 – caro /8 – cor /24 – manus /16 – anima /28 – spiritus /14; humilitas /52 – oboedientia /35 – timor /22 – honor /15 4 Verhalten und Handeln der Brüder (ca. 710) 4.1 im Allgemeinen (ca. 110): disciplina /22 – occupari-occupatio /6 – debere /34 – operarius /3; bonus /34 – malus /21 4.2 als gutes Handeln (ca. 510) 4.2.1 Gottesdienst (ca. 360): lectio-legere /65 – oratio /21 – meditatio-meditare /3 – scriptura /25 – evangelium /7; agere /34 – psalmus-psallere /70 – cantare /5 – dicere /ca.120 4.2.2 Unterhalt (ca. 150): labor-laborare /16 – opus-operari /50–60 – ars-artes /10, pretium /1– merces /7 – mereari-meritum /10; facere /50 4.3 als schlechtes/böses Handeln und seine Folgen (87): vitium /20 – otiositas-otium /5 – desiderium /6 – peccatum /13 – culpa /7; poena /8 – ieiunium /11 – excommunicatio /17 5 Zeiten des Handelns (ca. 210) tempus /29; hora /62 – mane /3 – vespera /13 – dies-cotidie /63 – hebdomada /6 – dominicus /22– mensis /3 – annus /2 6 Orte des Handelns (ca. 190) locus /30; terra /7 – caelum /6 – gehenna /5; monasterium /72 – claustrum /2 – oratorium /23 – cella /8; coquina /3 – hortus /3 – mensa /15 – lectus /2; habitare /12 – sedere /5; officina /1
22 Untergruppierungen habe ich durch Semikola abgesetzt.
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6.2 Frequenzen
Die Ordnung der Sinnkonglomerate nach Frequenzen zeigt folgende Gewichtung: 1 Gott-Herr-Abt
500
2 Gemeinschaft der Brüder
280
3 Eigenschaften der Brüder
230
4 Verhalten und Handeln der Brüder
710
1 allgemein/neutral
110
2 gut
510
1 Gottesdienst
360
2 Unterhalt
150
3 böse-schlecht
90
5 Zeiten des Handelns
210
6 Orte des Handelns
190
Summe
2120
Was ergibt sich daraus? Das Unterhaltshandeln der Brüder (4,2,2) hat im Gesamtvorkommen der Schlüsselwörter der Regel einen nachrangigen Stellenwert. Bestimmend sind die Instanzen der Sprecher und der Angesprochenen. Auch im Bereich ihres Handelns steht das Unterhaltshandeln weit hinter dem Gottesdienst, rangiert nur knapp vor dem bösen, gottwidrigen Handeln und dessen Folgen, bietet aber im Verbund mit dem guten Handeln das fast Fünffache der Erwähnungen. Man kann daraus auf den deutlichen Vorrang des guten Handelns im Regeltext schließen, in das der Unterhalt hineingehört. Die positive Präskription regiert die Regulierungsabsicht, nicht die punitive Drohung. Der Regeltext will ein-, nicht ausschließen. Es geht um die Entfaltung der Gebote, nicht um die der Verfehlungen, auch wenn sie deutlich gemacht sind. Die grobe Frequenzverteilung der Schlüsselwörter bestätigt also, was sich als Grundeindruck im Inhaltsüberblick ergeben hat. In der Regel steht weder das ‚Arbeiten‘ im Vordergrund, noch wird vom gleichgewichtigen ‚Beten und Arbeiten‘ gesprochen!
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6.3 Basisanalogien im Schlüsselwortschatz
Verlassen wir nun die groben Frequenzverhältnisse23 und wenden wir uns den Hauptbeziehungen im Schlüsselwortschatz zu. Ich meine hier zwei Sinnpaarungen erkennen zu können, die sich auf die Essenz (a) der Sozialform und ihre Modalität (b) beziehen, von der die Regel handelt. (a) Dominus-servus-Antonymie: Die – auch den Frequenzen nach – wichtigste Sinnpaarung ließe sich als die antonyme Beziehung von Herr zu Knecht (dominus-servus) bezeichnen. Hier eine graphische Anordnung der einschlägigen Schlüsselwörter und ihrer Beziehungen. Die Beziehungsnomina sind in die Mitte, die ergänzenden bzw. profilierenden Eigenschaften, das heißt die Merkmale/Eigenschaften an den jeweiligen Rand gesetzt (natürlich in Auswahl):
Ebene
Eigenschaft
Sinnpaarung
Eigenschaft
allgemein
potestas
dominus-(servus)
servire-servitium-servitus
theologisch
gloria
deus-homo
anima-corpus-manus
caritas-gratia
christus-christianus
spiritus-caro
cura-iniungere
abbas-pater-monachus-frater
humilitas-oboedientia
sozial
Über die Dreiheit der links angeordneten dominialen Seite soll hier nicht detailliert gehandelt werden, auch wenn die Gleichsetzung von dominus, deus/christus und abbas verwundern könnte – methodisch ist sie m. E. geboten. An die erste Stelle, also in die erste Zeile, gehört das die beiden anderen inhaltlich einschließende Wort dominus und sein Leitmerkmal potestas. Die nachgeordneten Wörter deus/christus und abbas/ pater sind durch eigene Haupteigenschaften unterschieden. Die Regel spricht also in drei Sinnebenen: über göttliche, christliche und klösterliche Herrschaft. Wichtiger für uns ist die rechte Seite, die Dreiheit von (servus), christianus-homo und frater-monachus.24 Die beiden letzteren Paare entsprechen der Beziehung des
23 Unterblieben ist eine Untersuchung der innertextuellen Verteilung der Schlüsselwörter, die eine enorme Verfeinerung der Ausdrucksstrukturen hätte erbringen können. Darauf kam es hier aber nicht an. 24 Um der Klarheit willen wurden im ganzen Schema einige nachrangige Wörter – hier besonders congregatio und filius – weggelassen, ebenso das Kompositum der Zeit- und Ortswörter. Zu ihnen weiter unten.
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servus zum dominus, sind hier – trotz ihrer weit höheren Frequenz – dem servus in zwei Stufen unterstellt. Warum? Entscheidend scheint mir, dass es im Text mehrfach zu einer Gesamtcharakterisierung der Regel kommt, die die Gottes-Knechtschaft als Gemeinmerkmal des Mönchs (und Menschen) klarstellt. Die Regel gilt als Joch (iugum), das wichtigste symbolische Attribut der servitus. Ihre Befolgung – also das regel-gemäße Tun – wird pensum, militia oder officium servitutis genannt. Das Kloster selbst gilt als schola servitii domini.25 Das zentrale Beziehungsgefüge der sozialen Basiswörter der Regel, so folgere ich, setzt sich aus drei einseitig (das heißt in der Schematisierung von links nach rechts) wirkenden Dualitäten zusammen, die zwar analog gebaut, aber in ihrer Bedeutung gestuft sind. In diese Basisvorstellung ist auch das Unterhaltshandeln, das heißt der oben untersuchte Wort- und Sinnkomplex des Kapitels 48 eingeschlossen. Die für uns wichtigste Folgerung daraus: Servitium (bzw. servitus) ist das das opus-labor-arsofficium-Konglomerat übergreifende, das sie umfassende, ja regierende Nomen! Seine Abwesenheit in Kapitel 48 schmälert seinen Rang im Gesamttext nicht. Erst die Ausweitung der Untersuchung auf den Gesamttext hat diesen für unser Thema so wichtigen Befund erbracht. (b) Bonus-malus-Kontradiktion: Ähnlich wichtig für das Gesamtverständnis der Regel ist das Gegensatzpaar von bonus und malus, Gut und Böse. Die dominante Sinnausrichtung der Regel, das pensum servitutis der fratres, ist in dieses EntwederOder eingespannt. Seine kontextuelle Reichweite erweist sich in der Analogie zweier Gegensätze, zum einen im Ausgangspunkt, das heißt der Wirkungsdualität des allmächtigen Gottes (im Himmel) und des maliziösen Teufels (in der Hölle) als den die Menschen leitenden bzw. verleitenden Mächten. Besonders der die Brüder direkt ansprechende Prolog ist der Ort für seine wortreiche Entfaltung. Zum anderen: In Analogie dazu steht die Bipolarität im homo selbst. Der Geist (spiritus) und die Seele (anima) stehen als tendenziell guter Pol dem Leib (corpus) und Fleisch (caro) als zum Bösen neigender Pol gegenüber. Daraus ergibt sich ein analog polarisiertes Handlungsgefüge, das durch sich weiter entsprechende Wortgruppen bzw. Wortketten charakterisiert ist. Für die gute Seite steht die Merkmalsreihe humilitas-oboedientia-timor. Auf ihrer Entfaltung – in Vokabular und Syntax – liegt, der Zentralintention der Regel entsprechend, das Hauptgewicht. Auch die Frequenzen sind deutlich höher. Die überlangen Kapitel 4–7 sind ja ausschließlich ihr gewidmet. Allein die Demut (7) ist dort wortreich zu 12 Verhaltensstufen ausgebaut. Vorausgeschickt (4) ist die lange Liste der Handlungsgebote und -verbote, der bereits oben erwähnte Tugendkatalog 25 Zu weiteren Komponenten des Sinnfelds von servire-servitium-servus vgl. den folgenden Abschnitt 7.1.
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der Werkzeuge der guten Werke bzw. der geistlichen Kunst (instrumenta bonorum operum bzw. artis spiritalis), wie es im Titel und am Ende im Text – nahezu begrifflich abstrahierend – heißt. Ihm gegenüber steht die Reihe der zum Bösen führenden Einstellungen und Handlungen (Laster) – Eigenwille, Streitlust, Begierde, Müßigkeit (voluntas proprii cordis-contentio-desiderium-otiositas). Sie geben der declinatio in malo, der Neigung zum Bösen nach, werden auch einmal als vitia carnis vel cogitationum – fleischliche und geistige Verfehlungen – bezeichnet. Hieraus resultiert gewissermaßen die Wortkette von Sünde, Schuld, Strafe, Exkommunikation, die in die Arme des Teufels und in die Hölle führt (peccatum-culpa-poena-excommunicatio-gehenna). Die Kontradiktion insgesamt fasst treffend die Formulierung zusammen, dass derjenige Mönch wahrhaft und mühelos (sine labore) demütig sei, der nicht aus Angst vor der Hölle, sondern aus Liebe zu Christus (non timore gehennae, sed amore Christi) handle.
7 Das Wortensemble und sein Ausdrucksgefüge im Gesamtwortlaut der Regel Vor dem Hintergrund dieser Zwischenergebnisse ist nun, gewissermaßen in einer zweiten Runde, anknüpfend an das in Kapitel 48 Gefundene, das Wortfeld und sein Sinngefüge im Wortlaut der Regel insgesamt zu ermitteln. Welche Ergänzungen, Verschiebungen, Neuerungen lassen sich für die einzelnen Wörter finden? Ergeben sich daraus neue Gewichtungen? Gibt es weitere für das Gesamtfeld unverzichtbare Wörter? Die Zahlen der Wortvorkommen im Gesamtwortlaut, verglichen mit denen in Kapitel 48, bieten keine überraschenden Umgewichtungen, wohl aber wichtige Wort- und Sinnerweiterungen! Neu ins Feld gehören nämlich pretium mit 1, merces mit 7 und die servire-servus-Gruppe mit 25 Vorkommen. Den 7 Vorkommen der opus-Wortgruppe in Kapitel 48 stehen 63 im Gesamtwortlaut gegenüber, den 5 der labor-Gruppe 16, dem einen von ars 10 und dem von officium 12. Nur eine in die Einzelokkurenzen gehende Detaillierung kann hier weiterhelfen.26
26 Ich habe die Okkurenzen für alle Wörter des Sets – insgesamt 114 – aufgesucht und regestiert, um dann anhand dieser Zwischenergebnisse das Sinnprofil zu skizzieren.
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7.1 Servire-servitium; servus-servitus
Zu beginnen ist mit dem gewichtigsten Neuling im Set. Die Vorkommen der Wortgruppe – insgesamt 25 Vorkommen – zeigen für jede Wortform, das heißt – servire als handeln / dienen für jemand anderen (13), – servitium als Handlung / Dienst für jemand anderen (4); – servus als Handelnder / Diener von jemand anderem (3), – servitus als Handelnsweise / Dienstbarkeit von jemand (4) ein durchaus eigenes Gebrauchsprofil. Zunächst das Paar servire-servitium: 11 Vorkommen von servire (einschließlich serviens, servitor) bezeichnen das besondere Dienen einerseits des Abtes für die Brüder (regere animas, servire moribus), andererseits das der fratres füreinander in Küche und Keller, bei Tisch, bei Krankheit. All das wird analog zum Dienst Christi im Evangelium verstanden, soll voller Gottesfurcht (timor) und Gottesliebe (diligere, caritas) geschehen, ohne Mühe (labor) und Murren. Die weiteren 3 Vorkommen reichen weiter. Sie stehen in direkter Beziehung auf den einen Gott (servite domino in timore), dem man wie einem König dient. Hier schließen sich die 3 servitium-Passagen gewissermaßen nahtlos an. Alles liturgische Handeln der Brüder gilt als servitium, ihr servitium sanctum – in Verbindung mit der Furcht vor der Hölle und der Herrlichkeit des ewigen Lebens als Grundmotive ihres Verhaltens bzw. Handelns. So liegt nahe, das Kloster selbst eine scola servitii dominici zu nennen. Die drei Vorkommen von servus belegen Gleichartigkeit in Herrschaftsverhältnissen: den Bezug dominus-servus in Analogie zu pater-filius, die Einheit von ingenuus und servus im Blick auf die Gleichheit (aequalitas) beider in Christus, die einende Gleichheit des Abtes als bonus servus mit seinen Mönchen als conservi. Das Nomen servitus schließlich steht in seinen vier Gebrauchsfällen ausschließlich im erklärenden, bestimmenden Genitiv von militia, officium und pensum (servitutis) und bezeichnet, wie oben schon angedeutet, die Eigenart des Handlungsgesamts der Regel für jeden Mönch. Alle beobachteten kontextuellen Profilierungselemente sprechen prinzipiell dieselbe Sprache des guten Dienens für einander, für den Abt und für Christus bzw. Gott. Nur Christus/Gott dient nicht. Umso wichtiger ist die eine Gebrauchsstelle in der Regel, wo genau dieses gute Dienen als das richtige von der weniger guten (deterior) Verfallenheit (servire) der Gyrovagen an Schwächen wie den Eigenwillen und die Esslust abgegrenzt wird (Kap. 1, 11). Es liegt also nahe, dem Wort-Duo eine alles durchdringende hegemoniale Bedeutung zuzuerkennen. Auch, und darauf sollte es ja hier ankommen, die Unterhaltshandlungen sind von dieser Herrschaft umfasst bzw. durchdrungen. Genau diese generelle Unter- bzw. Hineinstellung könnte die Ursache dafür sein, dass es keine auffälligen Kollokationen des Dienens mit dem Unterhaltshandeln gibt (etwa servitium operis,
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laborem servire o. Ä.). Wo der Dienst zu Wort kommt, treten das Werk, die Kunst, die Mühsal zurück. 7.2 Opus-operari-operarius
Das Wort-Duo opus-operari, schon in Kapitel 48 am häufigsten gebraucht und nun durch operarius ergänzt, kommt im Regelwortlaut – in 14 Wortformen – insgesamt 63-mal vor. Die Durchprüfung der Umgebungen aller einzelnen Vorkommen hat im Vergleich mit den in Kapitel 48 gefundenen fünf Komponenten bzw. Aspekten des Sinnprofils Folgendes ergeben: Der Gesichtspunkt der Auferlegung des Werkens durch den Herrn/Abt wird im Gesamtwortlaut durch weitere 5 Erwähnungen bestätigt, damit gewissermaßen solidisiert. Gleiches gilt für den Aspekt der Nötigkeit (opus est, erat, fuerit). Nichts Weiteres verlautet über die manus- und die suus-Verbindungen, sie bleiben also auf Kapitel 48 beschränkt. Die mögliche Ausrichtung von opus auf ars wird durch die Verbindung opera artificium bekräftigt. Zusätzlich kommt die Verbindung zu Hand-Werkzeugen zum Vorschein – eine wichtige Erweiterung über die manus-Ankoppelung hinaus. Die Wortverbindung des opus in agris bestätigt die schon festgestellte Synonymität mit den labores agrorum. 8-mal sind operari bzw. opus im neutralen Sinn des Tuns oder von Taten gebraucht.27 Extrem bedeutsam ist der breite Befund für die Kollokation opus dei-opus divinum – das Gotteswerk, das heißt die Rezitation bzw. das Singen des Psalters, die Bibellesungen, die Gebete, die Buchlektüre – mit 21 Vorkommen. Man darf hier von einer festen Verbindung, einem Phraseologismus, sprechen. Ihr Rang wird klar im Satz: ‚Nichts werde dem Gotteswerk vorgezogen‘ (nihil operi dei praeponatur). An einer Stelle kommt es zur direkten Nachbarschaft des Unterhaltswerkens mit dem Gotteswerk, dort und dann, wenn Mönche während der Gebetszeit außerhalb der Mauern tätig sind: agant ibidem opus dei, ubi operantur. Wie mag diese Engstnachbarschaft von opus und operari damals geklungen haben? Immerhin heißt es ja nicht: servitium dei. Verb und Nomen bilden hier eine zweigeteilte Einheit eigener Art. Das Unterhaltswerken bildet die Basis fürs Gotteswerk. Konsequent mutet es dann auch an, wenn alle Taten und Werke als bona actus, bona opera gelten können, und wenn die lange Reihe der tugendhaften Verhaltens27 Hier lässt sich das Sinnprofil von officium anfügen. Alle Vorkommen (12) belegen ein weites Anwendungsfeld, das von den partikularen Aufgaben (Küche, Gästeempfang usf.; varia officia) bis zum officium divinum reicht. Officium deckt damit den Aspekt der distinkten Aufgaben ab. Konsequent scheint dann auch, dass am Ende von Kapitel 4 das claustrum – Ort der stabilitas für das gute Werken – officina genannt wird.
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und Handelnsgebote in Kapitel 4 im Titel zu den instrumenta bonorum operum zusammengefasst ist. Mehrfach wird Gott der Herr als derjenige begriffen, der selber im Menschen als seinem operarius wirkt, sich am guten Werk eines jeden beteiligt. Auch wenn einmal en passant vom malum opus die Rede ist – wichtig genug, wie oben erörtert –, dann zeigt diese Attribuierung, welches Übergewicht das gute Werken/ Wirken im Gesamtwortlaut der Regel hat. Im Ergebnis sieht man recht deutlich, wie sachlich ausdifferenziert der Sinnbereich des Werks und des Werkens als Handeln und Verhalten, als Machen und Denken, als Zumutung und Gesinnung der Mönche im gesamten Regelwortlaut ist und auch wie polarisiert – zwischen dem Wirken Gottes im homo auf der einen und dessen gutem Werken, sei es für Gott, sei es für sich und die anderen (und angesichts steter Versuchung von Verkehrungen ins Böse) auf der anderen Seite. 7.3 Ars-pretium
Die 9 Vorkommen von ars/artes in der Regel, 6 von ihnen sind in Kapitel 57 konzentriert, bieten, über die in Kapitel 48 belegte Nähe zu opus hinaus, vor allem Ausweitungen in konkrete Tätigkeitsbereiche im Kloster. Eines führt auch aus ihm als selbstgenügsamer Haushaltung heraus, wenn ermahnt wird, den Verkaufswert (pretium) von artisanalen Gütern (opera artificum) – unklar bleibt, an wen außerhalb des Klosters – stets besonders niedrig zu halten. Verwiesen wird weiter auf die Gefahr für die Kunstwerker, im Wissen um ihre Kunst (scientia) zum Hochmut verführt zu werden. Hier schlägt das humilitas-Gebot durch. Ins Profil gehört schließlich folgende wichtige Sinnausweitung. Wie im Titel von Kapitel 4 von den instrumenta der guten Werke die Rede ist, so am Ende des Kapitels von diesen als einer ars spiritalis. Vor dem Hintergrund der spiritus-caro-Kontrarität und Rangierung im homo christianus, die im Schlüsselwörter-Code der Regel vorgegeben wurde, wird hier eine Erhöhung des geistigen Wissens ausgesprochen, die die oben konstatierte Grenze zwischen dem Werken für Gott und dem für sich und einander nach oben, in die Richtung Gottes durchbricht. 7.4 Labor-laborare
Zum labor-laborare-Befund im Gesamtwortlaut ist überraschend wenig beizubringen. Zu den 5 Vorkommen in Kapitel 48 kommen 10 weitere hinzu. In ihrer großen Mehrheit (8) sprechen sie von Situationen leibhaft anstrengender Tätigkeiten – in der Küche, bei bestimmten artes, im Wochendienst und auf den Feldern, wo nicht hart gefastet bzw. mehr Brot und Wein gereicht werden sollte. All das verdeutlicht Nähe
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zum corpus, betont den Gegensatz zur otiositas. Nur je einmal geht es um die Mühsal der obeodientia bzw. um die (vollendete) humilitas sine labore. Beide Ausweitungen ins Innere des Mönchseins sind eher als Tendenz zu verstehen, die leibhafte Mühsal aus dem tugendhaften Gebaren herauszuhalten. Verglichen mit dem artes-Bereich fehlt im labor-Befund die Möglichkeit zur geistigen Ausrichtung aufs Gotteswerk. Ebenso ist dies im Blick auf die opera; den labores fehlt vor allem die spirituelle Reichweite. Anders gesagt: Gott sieht den Mönch nicht als homo laborans, nicht als laborator suus. Dem dürfte entsprechen, dass der labor dei fehlt – also sowohl Gottes Mühe für den Menschen als auch die Mühe des Menschen für Gott. Labor gründet und verbleibt im Irdischen, im rein Leibhaften. 7.5 Merces
Neu im Vokabular ist merces mit 7 Vorkommen im Gesamtwortlaut. Die Sinnausrichtung ist eindeutig, auch wenn die Ausgangspunkte variieren. Ob es um das geduldige Ertragen bestimmter Aufgaben im Kloster geht (Küchen-, Krankendienst), um asketische Ess- und Trink-Enthaltungen, um Almosen, um Selbstlosigkeit bei der Abtwahl, immer ist merces als Folge bzw. als Erfolg dieses gutes Werkens oder Wirkens verstanden, als Verdienst (merces bona). Aber kein reell taxierbarer bzw. begrenzter Gegenwert ist damit gemeint, sondern die Wiedervergeltung Gottes (recompensatio domini) am Tag des Gerichts. Auch wenn bezogen auf unzählige Einzeltaten, ist dieser merces-Sinn auf den einen entscheidenden Pauschallohn hin orientiert, auf die Vermeidung der Hölle und den Gewinn des ewigen Lebens (vita aeterna). 7.6 Eine tempus-locus-Implikation?
Ein nur vorläufiger, keineswegs erschöpfender Blick auf das Zeit- und Raumvokabular des Gesamttextes schließlich bestätigt einerseits das aus Kapitel 48 gewonnene Bild, bietet aber auch beachtliche neue Aspekte. Ich wiederhole hier die Auflistung der Schlüsselwörter und ihre Häufigkeit im Gesamttext. 5 Zeiten des Handelns (ca. 200) tempus /29; hora /62 – mane /3 – vespera /13 – dies-cotidie /63 – dominicus /22 – hebdomada /6 – mensis /3 – annus /2 6 Orte des Handelns (ca. 190) locus /30; terra /7 – caelum /6 – gehenna /5; monasterium /72 – claustrum /2 – oratorium /23 – cella /8; coquina /3 – hortus /3 – mensa /15 – lectus /2; habitare /12; officina /1
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Geht man von den Frequenzen der beiden Wortgruppen aus, dann ergeben sich folgende Gewichtungen: Im – auffallend begrenzten – Bestand der Zeiten-Nomina stehen die Stunde (hora), besonders im Sinne des liturgischen Zeitpunkts im Offizium (Hore), und der Tag (samt dem Sonntag) ohne Konkurrenz da, doch rangiert die Stunde, ergänzt um die Bezeichnungen für die einzelnen Horen, deutlich an erster Stelle.28 Die längeren Zeitstrecken (Woche, Monat, Jahr) fallen demgegenüber enorm ab. Die Gebetsmomente charakterisieren als Trennpunkte aller Handlungen das Zeitregime – Taktstrichen ähnlich. Die Kontextprüfung der 28 tempus-Okkurenzen zeigt, dass dieses Generalwort dort, wo es über unspezifische Gebrauchsweisen im Sinne von ‚stets‘, ‚während‘, ‚früher‘ oder ‚angemessen‘ hinaus eingesetzt ist, überwiegend im Sinn-Dienst von Stunde (hora) und Tag (dies) steht, also die Sinnherrschaft des Zeitpunkts und seiner Beziehungen unterstützt. Im Übrigen erweist sich der Maßstab des Zeitdenkens der regula als überraschend klein, ihm fehlen Aspekte langer (heiliger) Zeiträume, deren Anfang und Ende – solche sind nur mit dem letzten Gericht (iudicium) ausgedrückt. Das Profil des Zeitvokabulars der regula insgesamt ist zugespitzt auf punktualisierte Sequenzen mit dem Ziel der stabilen Abfolge von heiligen und profanen Handlungen. Kapitel 48 bietet so etwas wie eine ‚Formalisierung‘ dieser Ordnung. Im Raum-Vokabular der Gesamtregel ist es überraschenderweise nicht viel anders, obwohl sich, verglichen mit Kapitel 48, wesentlich mehr zur Raumlexik findet. Es ist der geschlossene Bezirk des Klosters (claustrum monasterii), der alle partikularen Plätze vom Bethaus (oratorium) über die Zellen, über Keller und Küche bis zum Essraum (wichtig ist der Tisch – mensa – mit 15 Vorkommen), Garten usf. als Gesamtwort numerisch weit übertrifft. Das Dasein dort gilt als Wohnung (habitatio). Seine Qualität: Beständigkeit – stabilitas congregationis, nicht stabilitas loci. Den im Draußen (foris) Lebenden fehlt sie. Und die 7 terra- und die 30 locus-Vorkommen? Auch ihnen, vergleichbar den tempus-Belegen, geht jeder weitere Horizont ab. Terra meint nichts als den Boden, auf den der demütige Mönch sich wirft oder seinen Blick gesenkten Kopfes richtet. Die Mehrheit der locus-Vorkommen bezieht sich auf soziale Ränge, auf partikulare Plätze, auf unspezifisches ‚Überall‘ des Handelns. Nur einmal wird das monastische Ganze zum ‚Ort‘, wenn von der consuetudo loci die Rede ist, derentwegen ein Neuling in der Brudergemeinschaft bleiben will (Kap. 62,1). Am prägnantesten artikuliert 28 Michel Banniard: Europa. Von der Spätantike bis zum frühen Mittelalter. Leipzig 1993 [Paris 1989]. S. 83 bleibt mit seiner prinzipiell richtigen Einschätzung, in der regula gehe es um „die Herrschaft über die Zeit, über Jahr und Tag“, zu früh stehen – gerade die hora fehlt!
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wird das alles im Satz am Ende von Kapitel 4: „Die Werkstatt aber, wo wir dies alles erwirken sollen, ist die Abgeschlossenheit des Klosters sowie die Beständigkeit der Gemeinschaft“ (Officina, ubi vero haec omni diligenter operemur, claustra sunt monasterii et stabilitas in congregatione). Am Ende ist zu fragen, wie beide ‚Dimensionen‘ zueinander stehen. Ich bin versucht, dem gottesdienstlichen Zeitregime das funktionale Übergewicht gegenüber dem lokalisierenden Ausdrucksverhalten, dem Sprechen über die Plätze, zu geben. Nicht nur das frequenzielle Übergewicht des Vokabulars ist es, sondern die Art und Weise, wie die zeitdisziplinierenden Elemente die örtlichen Bestimmungen in sich bergen. Primär wird nicht darüber gesprochen und bestimmt, wo die Brüder ihre liturgischen oder subsistentiellen Dienste tun, sondern wann. Das gilt nicht nur für Kapitel 48, sondern auch für den Gesamttext der regula. Vielleicht passt für dieses Verhältnis der Begriff der Implikation, den Dietrich Busse dafür vorgeschlagen hat, dass die Bedeutung eines Wortes (oder Wortfeldes) die Bedeutung eines anderen voraussetzt oder bedingt.29 Dieser semantischen Relation entspricht, so lässt sich folgern, der klare Vorrang des opus Dei gegenüber den stärker räumlich determinierten opera sua – mehrfach, auch in Kapitel 48, fällt hier das Syntagma necessitas loci. Kann man noch weitergehen und das Wörter-Trio opus-labor-ars für den partikularen, stärker räumlich verstandenen Ausdrucksbereich halten, im Gegensatz zum generalisierten, zeitlichen Verständnis des opus Dei? Regieren in der Regel die Zeiten die Räume? Mit der Sichtung und Einordnung der Okkurenzen im Gesamtwortlaut und ihrer Umgebungen ist, so meine ich, doch Beachtliches hinzugewonnen. Fassen wir es kurz zusammen. An die erste Stelle gehört die Erweiterung des Wortbestands um das servitium-servitus-Paar. Es steht für das Gesamtziel und den Gesamtsinn der Regel: Gottes-Dienst, Christus dienen, Abtsdienst – das ist die zentrale Botschaft und Forderung, die durch den pater Abt an jeden monachus bzw. die fraternitas ergeht. Das Charakteristische dieses Dienens, und das ist der zweite Sinngewinn, besteht in der Doppelform des Gotteswerks der Mönche und ihres Werkens für sich und füreinander – opus dei und opus suum. Drittens ist dieses opus suum gespalten bzw. polarisiert in geistgetragene Werkkünste und leibgebundene Anstrengungen – artes und labores. Liegt dieser Differenz nicht doch die hominologische Dualität der Dispositionen und Handlungspole in den Mönchen als Leib-Seele-Gebilde zugrunde? Viertens wird all das, also alle gelungenen opera bona, mit dem himmlischen Dasein belohnt – merces. Fünftens spiegelt das Verhältnis des expliziten, präzise detaillierten Zeitregimes zum impliziten, pauschalen Sinnfeld der Orte das des opus-Dei-Kanons zum opus-suum-Konglomerat. Das Wortfeld in Kapitel 48 und seine semantischen Qualitäten, das ist das Ergebnis,
29 Busse: Semantik (wie Anm. 16). S. 107.
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gewinnt erst im Zusammenhang mit dem Gesamtwortlaut der Regel sein Sinn- und Bedeutungsprofil als Ganzes und im Ganzen.
8 Der geschichtliche Moment der Regel und ihre Zukunft So weit der streng textuelle Absichtshorizont der regula. Bleibt die Frage: Wie hat sie damals gewirkt? Wer genau waren die Adressaten?30 Man kann nicht umhin, hier vorsichtig zu bleiben: Angesprochen ist eine größere congregatio von Mönchen, die an einem festen Platz leben (sollen), für ihre künftigen praktischen Handlungsanforderungen und -möglichkeiten, mehr nicht. Die Regel enthält keine topographischen Details, keine Namen. Aber man weiß, es gibt auch andere Gemeinschaften im Umfeld. Die Forschung muss sich mit der beiläufigen Nennung von Bauten im claustrum (Bethaus, Bäckerei, Küche, Keller, Mühle usf.) begnügen.31 Dies wird aber nicht in eine konkrete Umgebung eingefügt, der Hinweis auf die Klausur genügt. So hat die Forschung keine Chancen, die Aufbausituation verlässlich zu situieren. Es ist vermutet worden, dass jener Benedikt mit seiner regula den im Mittelitalischen vagierenden Asketen (gyrovagi), die ja einleitend auch wegen ihrer otiositas äußerst schlecht wegkommen, eine sichere Bleibe und feste Lebensform geben wollte (consuetudo loci, stabilitas congregationis). Aber da die Anlage auf dem Montecassino bereits 577 zerstört wurde und die dort lebende Mönchsgemeinschaft nach Rom floh, wo sie dann als Kommunität verschwand, hat man keine Anhaltspunkte für den praktischen Erfolg der Regel zum Zeitraum ihrer ersten Verwendung. Und was gibt ihr Wortlaut selbst her? Wie das Inhaltsreferat gezeigt hat, kann man einen Adressenwechsel zwischen dem Prolog an die Brüder und dem folgenden Kapitelbestand an den Abt erkennen, ebenso eine Modifikation in der Haltung zwischen Abt und Brüdern in den Ergänzungen am Ende, die auf mehr Kommunalität in der Brüdergemeinschaft schließen lassen könnten. Aber wie sich diese kommunikativen ‚Drehungen‘ ausgewirkt haben, muss dunkel bleiben. Weitere schwache Indizien für die Eigenart des geschichtlichen Moments bietet die philologische Textforschung, vor allem die Frage nach der Eigenständigkeit der Regel Benedikts im Verhältnis zu den über 30 Mönchsregeln der Spätantike. Sicher hat er von den Bestimmungen gewusst, die Augustinus, Bischof von Hippo, im großen Streit um die Frage vorgelegt hatte, ob Mönche körperlich zu arbeiten hätten oder nicht. Von besonderem Interesse ist, dass Benedikt sich zu großen Teilen, auch wörtlich, an die sogenannte Magisterregel gehalten hat, die in die Zeit direkt vor seiner 30 Zum situativen Zusammenhang im zeitgenössischen Italien umfassend Georg Jenal: Italia (wie Anm. 13), Halbband 2. S. 500 ff. 31 Vgl. Jenal: Italia (wie Anm. 13), Halbband 1. S. 261 f.
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Regel datiert und aus dem gleichen römisch-mittelitalischen Sozialmilieu stammt. Verglichen mit deren Wortlaut ergeben sich deutlich Umprofilierungen – eine auf die Psalmen bezogene Spiritualisierung des Gottesdienstes, dazu klarere Strafregeln und Aufgabenzuschreibungen (officia) sowie die Aufnahme von Priestern (sacerdotes) in die Mönchsgemeinschaft, was ja mehr liturgische Autonomie bedeutete. Ob sich dies auf den Sinnkomplex servitium-opus-labor-ars-merces ausgewirkt hat, bleibt unklar. Empfohlen wird zudem die Lektüre der Regeln von Basilius und Cassian. Aus dem vergleichenden Blick auf die servitium-opus-labor-ars-Passagen von anderen Mönchsregeln, die nicht in textueller Nähe zu der Benedikts stehen, ergibt sich die Frage, wie der Abt und die Gemeinschaft die nötigen Grundversorgungsgüter beschafften. Benedikt spricht darüber nicht; der Hinweis auf die paupertas von Mönchen bzw. der Gemeinschaft, die zur Erntearbeit auf den klostereigenen Äckern im unmittelbaren Umkreis zwingt (Kap. 48), schafft keine Klarheit über den Besitz von Ackersklaven. So bleibt die Frage: Woher sollten all die ‚Rohstoffe‘ kommen, auf deren Zurichtung für Speise und Trank, Kleidung und Gerätschaft ja die opera und artes der Brüder zielten? Verstand sich eben doch von selbst, dass die Gottesknechte über Ländereien und sie kultivierende Landleute (servi, coloni) verfügen konnten, wie dies etwa aus der Mönchsregel Isidors von Sevilla eine Generation später belegt ist? Oder sollten die Montecassiner ihr Getreide und alles andere käuflich erwerben, etwa im Gegenzug zum Verkauf ihrer artisanalen Werke? Was sich aus dieser Studie ergab, bezieht sich eben nicht auf die herstellende Aneignung der Versorgungsgüter, sondern auf deren zubereitende Verwendung innerhalb der Gemeinschaft. Alles in allem: enttäuschend wenig zur Intention der Regel und zu der Situation, in die hinein sie ‚sprach‘ und wirken sollte. Auf das soziale Milieu, dem die Regel entsprang, hatte sie keinen erkennbaren Einfluss. Ihre nähere und langfristige Zukunft sollte dann eine ganz andere sein.32 Wie sie als Wortlaut überlebte, im provenzalischen und angelsächsischen Klosterwesen gepflegt wurde, dann – als angelsächsisch-fränkischer Import – für die Neugründung einer Gemeinschaft auf dem Montecassino (718) verbindlich wurde, in päpstliche Hände kam, von den romorientierten karolingischen Herrschern im Zusammenspiel mit Reformklerikern reichsverbindlich gemacht wurde, um dann als der eine Klosterbrauch (una consuetudo monastica) zu dem Normtext zu werden, an dem sich alles monastische Denken und Handeln orientieren sollte (816/819) und dann auch orientierte, ist eine 32 Zum Folgenden besonders Friedrich Prinz: Askese und Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum an der Wiege Europas. München 1980, anknüpfend an ders.: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4.–8. Jahrhundert). München/Wien 1965. S. 532–540; ein neuerer Überblick: Pierre Vatin: Travail. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. XV. Paris 1991. Sp. 1188–1237.
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andere Geschichte. Und sie wiederum besteht aus sehr verschiedenen semantischen Geschehnissen: Umgewichtungen, Verschiebungen, Reduktionen, Ergänzungen. Auch das Aufkommen und der Erfolg der Devise ora et labora des Spätmittelalters gehört zu diesen Nach-Geschichten. Ich hoffe gezeigt zu haben, dass die in ihr zum Ausdruck kommende Gleichstellung von Gebet und Arbeit ein anderes Sinnkonstrukt ist als der Komplex, der sich lexisch und semantisch aus der regula selbst in mehreren, aufeinander aufbauenden Schritten herausarbeiten ließ. Ich fasse ihn hier wie folgt zusammen: ein fünfteiliges Wortfeld mit einer eigenartigen Ordnung, das heißt regiert und umschlossen vom servitium, bestehend im bzw. ausgefüllt vom opus dei und vom opus ad suum (zusammen die opera bona bildend), ungleich gegliedert in die spirituellen und wissenden artes und die leibhaften, anstrengenden labores, schließlich belohnt von jenseitigen merces. Es wäre nicht nur reizvoll, sondern ist auch arbeitssemantisch dringlich, solche Einzeluntersuchungen zu vermehren, um zum einen den generellen und variativen Reichtum des Feldes in verschiedenen mittelalterlichen Gebrauchssituationen zu erweisen und zum anderen die Mikrosemantik von Einzelzeugnissen methodisch zu verfeinern.
Josef Ehmer
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
Lange Zeit galt der ‚Beginn der Neuzeit‘ um etwa 1500 und insbesondere die Reformation als Wendepunkt in der Geschichte der Arbeit, der einen langen Prozess zunehmender Wertschätzung, ja sogar Glorifizierung einleitete.1 Schließlich habe er zur „Arbeitsgesellschaft“ des industriellen Kapitalismus geführt.2 In den letzten Jahrzehnten wurde diese Annahme in zweifacher Hinsicht in Frage gestellt. Zum Ersten verweist eine zunehmende Zahl von Studien auf erstaunlich lange Traditionen einer positiven Bewertung von Arbeit, einschließlich manueller Arbeit. Arbeit scheint nunmehr, trotz aller Vielstimmigkeit und Komplexität der Diskurse, schon in der griechisch-römischen Antike und ebenso im christlichen Mittelalter überwiegend als nützliche, sinnvolle und ehrenhafte Tätigkeit verstanden worden zu sein, als positiver Gegenpol zu Müßiggang und Faulheit.3 Zum Zweiten wurde der „Standarderzählung“4 einer kontinuierlichen Aufwertung der Arbeit in der europäischen Neuzeit eine Sichtweise entgegengestellt, die nach Schwankungen, Brüchen und diskontinuierlichen Entwicklungen sucht. Die wechselnde Intensität von Arbeitsdiskursen und die unterschiedlichen Bewertungen von Arbeit werden nunmehr eher in kürzeren oder längeren Zyklen verortet als in linearen Trends. Die Konjunkturen der Arbeitsdiskurse werden dabei mit dem 1
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Der folgende Beitrag geht zum Teil auf einen bereits auf Englisch publizierten Aufsatz zurück: Josef Ehmer: Discourses on Work and Labour in Fifteenth- and SixteenthCentury Germany. In: Jürgen Kocka (Hg.): Work in a Modern Society. New York/ Oxford 2010. S. 17–35. Für Anregungen und Unterstützung danke ich dem Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zum Begriff der Arbeitsgesellschaft vgl. Hannah Arendt: The Human Condition. Chicago 1958. S. 4. Vgl. dazu insbesondere Catharina Lis/Hugo Soly: Worthy Efforts: Attitudes to Work and Workers in Pre-Industrial Europe. Leiden/Boston 2012. Zum Konzept der „Standarderzählung“ der Geschichte der Arbeit vgl. Jügen Kocka: Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart. In: ders./Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. M. 2000. S. 476–492, hier: S. 477.
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Wechsel ihrer sozialen Trägerschichten, mit den jeweiligen historischen Besonderheiten des sozialen Wandels oder mit spezifischen gesellschaftlichen Problemlagen in Zusammenhang gebracht.5 Auch in dieser Sichtweise bleibt die Periode des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit eine für die Geschichte von Arbeitsdiskursen interessante und relevante Epoche, wenn auch weniger als Beginn eines langen Trends denn als Ausdruck einer spezifischen historischen Konstellation. Zwei Perspektiven prägen die Forschung: Die erste richtet sich auf Arbeitsdiskurse der politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten.6 Dies ist eine etablierte Perspektive, die sich auf ein breites Spektrum von Quellen stützen kann: auf gelehrte – und damit überwiegend theologische – Erörterungen, auf literarische und bildliche Darstellungen. Die einschlägigen Forschungen vermitteln ein relativ konsistentes Bild einer zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Thema der Arbeit und einer überwiegend positiven Bewertung.7 Den sogenannten Bettelorden wird dabei eine besondere Bedeutung zugemessen. Thomas Ertl etwa spricht von einer „mendikantischen Arbeitstheologie“, die im deutschen Sprachraum vom 13. Jahrhundert an Hegemonie erlangt habe.8 Die englische Historikerin Patricia Ranft, eine der Vertreterinnen der neuen Richtung, schreibt verallgemeinernd: “As the late Middle Ages descends upon Western history, medieval society is a society which
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Lis/Soly: Worthy Efforts (wie Anm. 3), z. B. S. 561, verweisen auf die Intensivierung von Arbeitsdiskursen im Zusammenhang mit dem Erscheinen neuer ökonomisch aktiver sozialer Gruppen. Georges Duby etwa hat in seiner meisterhaften Analyse der „ursprünglichen Geschichte der trifunktionalen Figur“, d. h. der Gliederung der Gesellschaft in Priester (oratores), adelige Krieger (bellatores) and ‚Arbeiter‘ (laboratores) vom 10. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass sie in dieser Periode Teil eines Diskurses war, der ausschließlich innerhalb der herrschenden Klassen stattfand und die Beziehungen zwischen König, Bischöfen und Adel, im weiteren Sinn auch zwischen Mönchen und Rittern betraf. Erst im späten Mittelalter wurde das trifunktionale Schema Teil von populären Arbeitsdiskursen. Georges Duby: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt a. M. 1981. S. 498. Vgl. dazu auch Otto Gerhard Oexle: Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in den ständischen Gesellschaften des Mittelalters. In: Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. München 1988. S. 19–51. Vgl. etwa Klaus Schreiner: „Brot der Mühsal“ – Körperliche Arbeit im Mönchtum des hohen und späten Mittelalters. Theologisch motivierte Einstellungen, regelgebundene Normen, geschichtliche Praxis. In: Verena Postel (Hg.): Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklichkeiten. Berlin 2006. S. 133–170. Thomas Ertl: Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Berlin 2006. S. 237 ff.
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
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advocates and respects work. Work saves the individual; work saves the community; both bring happiness and a better life in this world and the next.”9 Die zweite Perspektive geht über die intellektuellen und politischen Eliten hinaus. Sie richtet sich auf Arbeitsdiskurse in mittleren und unteren sozialen Schichten, vor allem unter städtischen Kaufleuten und Handwerkern, auf Arbeit als politisches Argument in den sozialen Konflikten der Zeit, auf das Sprechen über Arbeit in verschiedenen Bereichen des alltäglichen Lebens.10 Auch diese Perspektive kann auf längere Forschungstraditionen verweisen. Diese sind aber ungleichmäßig gewichtet. Am stärksten wurden die diskursiven Beziehungen zwischen Arbeit und Armut untersucht, die im 14. und 15. Jahrhundert – in den Worten von Otto Gerhard Oexle – die bereits „vorherrschende positive Bedeutung der Arbeit in eigentümlicher Weise noch einmal potenziert“ haben, nämlich als „Dissoziierung von Armut und Arbeit“, als Konstruktion von Arbeitswilligen und Arbeitsscheuen.11 Andere Elemente der Arbeitsdiskurse jener Periode wurden dagegen erst weniger behandelt, und vor allem wurde meines Erachtens noch zu wenig versucht, sie in ein kohärentes Bild zu integrieren. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, einen Schritt in diese Richtung zu machen. Die Ausgangsthese lautet, dass im späten Mittelalter Reflexionen über und Bewertungen von Arbeit in eine Reihe von gesellschaftlichen Kontexten Eingang fanden. Zugespitzt könnte man sagen, dass das Denken und Sprechen über Arbeit die Studierstuben der gelehrten Mönche verlassen hatten und zum Gegenstand öffentlichen Interesses wurden. Arbeit rückte in das Zentrum von ökonomischen, politischen und moralischen Reflexionen und wurde ein wichtiges Argument in sozialen Beziehungen und Konflikten. Arbeit wurde für viele soziale Gruppen ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität.12 Die zweite These lautet, dass dabei Arbeit
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Patricia Ranft: The Theology of Work. Peter Damian and the Medieval Religious Renewal Movement. New York 2006. S. 192. 10 Vgl. Jaume Aurell: Reading Renaissance Merchant’s Handbooks. Confronting Professional Ethics and Social Identity. In: Josef Ehmer/Catharina Lis (Hg.): The Idea of Work in Europe from Antiquity to Modern Times. Farnham 2009. S. 71–90. 11 Otto Gerhard Oexle: Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter. In: Kocka/Offe (Hg.): Geschichte (wie Anm. 4). S. 67–79, hier: S. 76, 78. 12 Mit Bezug auf England schrieben Michael Uebel und Kellie Robertson, dass „from the mid fourteenth to the end of the fifteenth century, work arguably shaped social identity to a much greater extent than in either earlier or later times“. Kellie Robertson/Michael Uebel: Introduction. Conceptualizing Labor in the Middle Ages. In: dies. (Hg.): The Middle Ages at Work. New York 2004. S. 1–16, hier: S. 1. Vgl. auch Gerhard Jaritz: The Visual Representation of Late Medieval Work. Patterns of Context, People and Action, in: Ehmer/Lis (Hg.): Idea (wie Anm. 10). S. 125–148, hier: insbes. S. 128 ff.
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in den alltäglichen Sprachgebrauch in einer sehr modern erscheinenden Bedeutung einging, nämlich ganz überwiegend als Erwerbsarbeit. Übereinstimmung herrscht in der Annahme, dass die Ursache der Intensivierung des Arbeitsdiskurses im dynamischen sozialökonomischen Wandel dieser Periode zu suchen sei. Dazu gehörten die Transformation der ländlichen Sozialstrukturen, die Ausbreitung und das Wachstum der Städte, die Intensivierung des ländlichen Gewerbes und des Bergbaus.13 Im zentraleuropäischen Raum hatte die Auflösung des früh- und hochmittelalterlichen Villikationssystems – in dem die landwirtschaftliche Produktion von dem und um den Herrenhof („villa“) des Grundherren organisiert wurde – zur Dominanz einer agrarischen Produktionsweise geführt, die auf selbständig wirtschaftenden, wenn auch abgabepflichtigen und in Dorfgemeinschaften eingebundenen Bauern beruhte. Vom späten Mittelalter an wurde die ländliche Gesellschaft zunehmend zwischen einer bäuerlichen Oberschicht und einer wachsenden Zahl von Klein- und Kleinstbauern, Häuslern und landlosen Haushalten aufgesplittert. Die städtische Bevölkerung wurde noch stärker sozial differenziert. Immer mehr Menschen waren für ihren Lebensunterhalt auf Lohnarbeit angewiesen, sei es ausschließlich oder teilweise als Ergänzung zu anderen Einkommensformen. Die Forschung hat sich bisher vor allem damit beschäftigt, wie Intellektuelle des späten Mittelalters den tiefgreifenden sozialökonomischen Wandel dieser Epoche theoretisch verarbeiteten und welche Bedeutung dabei dem Verständnis von Arbeit zukam. Zu wenig wurde dagegen berücksichtigt, dass eine Reihe von neuen sozialen Gruppen ihren Platz in der Gesellschaft zu definieren hatte. Einige von ihnen, wie zum Beispiel die wohlhabenden Bürger oder auch die Handwerker der Städte, entwickelten politische Ansprüche und strebten nach Macht. In den in mitteleuropäischen Städten vom 12. bis zum 16. Jahrhundert so zahlreichen „Bürger- und Zunftunruhen“ ging es zunächst um die Emanzipation der Bürgergemeinde von der Herrschaft des Stadtherren und im Weiteren um die Partizipation der verschiedenen sozialen Gruppen an den dabei geschaffenen politischen Institutionen, vor allem dem städtischen Rat. In dieser Situation erfüllten Arbeitsdiskurse viele Bedürfnisse, und sie wurden von verschiedenen Akteuren in der sozialen Arena benützt. Hier liegt der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags. Im Folgenden werden Gebrauchsweisen von ‚Arbeit‘ in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten diskutiert. Im Zentrum stehen Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum im Übergang zur Neuzeit, aber zugleich wird versucht, sie in einer europäischen Perspektive zu
13 Vgl. dazu den knappen Überblick von Achatz von Müller: Der Feudalismus: Land und Stadt in Mitteleuropa. In: Arne Eggebrecht u. a. (Hg.): Geschichte der Arbeit. Vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart. Köln 1980. S. 155–192.
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
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interpretieren. So weit wie möglich sollen die Begriffe der zeitgenössischen Quellen zu Wort kommen, um gerade damit einen Beitrag zur Semantik der Arbeit zu leisten.14
1 Sprechen über Arbeit Im deutschen Sprachraum vollzog sich im späten Mittelalter ein Bedeutungswandel des Begriffs ‚Arbeit‘. Im Mittelhochdeutschen hatte das Wort ursprünglich eine passive Bedeutung, im Sinne von Mühsal, Leid und Qual. Vom 13. Jahrhundert an begann allmählich der Wandel hin zu der bis heute üblichen aktiven Bedeutung von Arbeit als Tätigkeit. Damit im Zusammenhang bildete sich auch die gesamte Wortfamilie ‚Arbeit‘, ‚arbeiten‘ und ‚Arbeiter‘ als allgemeiner Begriff heraus – auch wenn darin immer noch Körperlichkeit und Mühe mitschwangen.15 Dieser Bedeutungswandel führte bis zum 16. Jahrhundert auch zur Entstehung von Komposita wie z. B. ‚Arbeitslohn‘, ‚Arbeitsleute‘, ‚Handarbeit‘ oder ‚Hausarbeit‘.16 Es bleibt die Frage bestehen, was die Menschen dieses Raums um 1500 genau meinten, wenn sie diese Begriffe verwendeten. In welchen Kontexten wurden sie benützt, in welchen Quellentypen wurden sie überliefert? Sprach- und begriffsgeschichtliche Studien stützen sich überwiegend auf Texte, die von Intellektuellen, Dichtern oder Obrigkeiten verfasst wurden. Auch in Quellen des zünftigen Handwerks ist allerdings häufig von ‚Arbeit‘ oder ‚arbeiten‘ die Rede. Die folgenden Beispiele stammen aus niederösterreichischen Zunftordnungen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Meine Annahme ist, dass sich aus derartigen Quellen die Alltagsbedeutung dieser Begriffe in der Kommunikation von manuell arbeitenden Menschen erschließen lässt.17 14 Der Beitrag beruht allerdings überwiegend auf Sekundärliteratur und auf edierten Quellen und nur im Bereich des Handwerks auch auf eigener archivalischer Forschung. 15 Wolfgang Haubrichs: Das Wortfeld „Arbeit“ und „Mühe“ im Mittelhochdeutschen. In: Postel (Hg.): Arbeit (wie Anm. 7). S. 91–106, hier: S. 105. 16 Konrad Wiedemann: Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende zur Neuzeit. Heidelberg 1979. S. 49 f. 17 Dies trifft vor allem auf die hier ausgewerteten frühesten Ordnungen zu, die noch keine standardisierten Formulierungen verwenden und sehr wahrscheinlich von den Zunftmeistern selbst den Stadtschreibern diktiert wurden. Die im Folgenden wiedergegebenen Formulierungen finden sich so oder ähnlich in den zahlreichen überlieferten Zunftordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, die im Wiener Stadt- und Landesarchiv (Bestand Innungen), dem Niederösterreichischen Landesarchiv und in einer Reihe von Stadtarchiven aufbewahrt werden. Die hier getroffene Auswahl ist auch in einer Quellenedition zugänglich: vgl. Martin Scheutz u. a. (Hg.): Wiener Neustädter Handwerksordnungen (1432 bis Mitte des 16. Jahrhunderts) (Fontes rerum Austriacarum, Fontes Juris. Bd. 13). Wien 1997. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Edition.
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‚Arbeiten‘ ist hier zuerst die Tätigkeit des Meisters, im Sinne der Ausübung seines Handwerks. ‚Arbeiten‘ und ‚das Handwerk treiben‘ wird dabei synonym verwendet: „[…] daz ein yeder, der […] das hantwerch arbaitten will“, oder „das hantwerch treiben und arbaiten will“.18 ‚Arbeiten‘ ist aber auch die Tätigkeit des ‚Knechtes‘ (wie es bis in das 15. Jahrhundert häufig hieß) oder Gesellen (vom 15. Jahrhundert an zunehmend), wenn er denn „arbaitten will“ oder auch „nit arbaitten will“. Die Zunftordnungen regeln auch die Bedingungen, die es Gesellen erlauben („arbaiten lassen“) oder nicht erlauben zu arbeiten („ze arbaiten verboten“), etwa auf Grund eines Fehlverhaltens.19 Bei Knechten und Gesellen, also bei unselbständig Beschäftigten, die gegen Lohn arbeiten, wird ‚arbeiten‘ in diesen Quellen auch synonym mit ‚Arbeit haben‘ oder ‚in Arbeit stehen‘ gebraucht.20 ‚Arbeiten‘ bedeutet für diese Gruppe also auch, beschäftigt zu werden bzw. eine Anstellung zu haben („knechts weis arbaiten“ oder „ainem maister arbaiten“). Gesellen mochten Arbeit finden oder nicht finden („nicht arbait fund“),21 wandernde Gesellen kamen in eine Stadt, um Arbeit zu suchen, zu begehren („begert er aber arbeit“, „hie aribaiten wolt“), oder auch nicht.22 Die Tätigkeit von Lehrlingen wird dagegen selten als ‚Arbeit‘ bezeichnet. Lehrjungen dienen, sie müssen ihre „lernjar ausdienen“. Auch erwachsene Knechte oder Gesellen werden im 15. Jahrhundert mitunter als „Diener“ bezeichnet, aber doch häufiger als Menschen, die arbeiten.23 In dieser sprachlichen Differenzierung kommen, wie ich vermute, Besonderheiten handwerklicher Arbeit zum Ausdruck, die für Meister wie auch für Gesellen gelten: berufliches Wissen und Können als Eigentumsrecht, die Ehre der freien Arbeit, sei sie nun selbständig ausgeübt oder gegen Lohn, und eine starke berufsbezogene kollektive Identität.24 Arbeit hat in handwerklichen Quellen auch eine zweite Bedeutung, nämlich die Bedeutung des Werks, des Ergebnisses oder Produkts des Arbeitens. Die ‚gemachte Arbeit‘ ist das fertiggestellte Produkt. Dieses kann gut oder schlecht, das heißt den Erwartungen und Regeln der Zunft und der Konsumenten entsprechend oder nicht entsprechend, ausfallen. Die Quellen sprechen von „guter und gerechter“ wie von
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Ebd. S. 30, 33. Ebd. S. 30, 37. Ebd. S. 141. Ebd. S. 40 f. Ebd. S. 58, 145. Ebd. S. 33 f., 113, 145 f. Lis und Soly sehen in handwerklichem „property of skill“ und in „the honour of free labour“ die Grundlage eines auf Arbeit gegründeten Selbstbewusstseins, das im vormodernen Europa in keiner anderen Gruppe der unteren Mittelschicht oder der Lohnarbeiterschaft ähnlich stark ausgeprägt war. Vgl. Lis/Soly: Worthy Efforts (wie Anm. 3). S. 333 (zu den Meistern) und S. 547 (zu den Gesellen).
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
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„ungerechter und böser arbait“.25 Aufgabe der Vorsteher der Zunft ist es, die letztere zu identifizieren. Gewerbliche Tätigkeit außerhalb der Zunft oder gegen ihre Regeln wird auch als „haimliche“ oder „ungewondliche arbait“ bezeichnet.26 Wenn ein Handwerker Kredit brauchte oder von seinen Kunden Vorauszahlungen erbat, dann hatte er „gelt auff die arbeit entlehnet“.27 Vielleicht besteht auch eine Beziehung zwischen ‚Arbeit‘ als Tätigkeit und ‚Arbeit‘ als Werk. In den von mir untersuchten Quellen werden vor allem solche Tätigkeiten als ‚Arbeit‘ bezeichnet, die zu einem Produkt führen. Die Tätigkeiten der Händler und Kaufleute werden auch mit anderen Begriffen bezeichnet. Sie arbeiten nicht, sie „halten vail“.28 Zeitgenössische geschlechtsspezifische Verwendungsweisen von ‚Arbeit‘ passen zu diesem Bild. Lyndal Roper identifizierte in Augsburger Quellen des 16. Jahrhunderts zwei Bedeutungen von Arbeit: zum Ersten einen „verklärenden Begriff […], der nicht zwischen der Arbeit des Mannes und jener der Frau unterschied“. Streitende Paare wurden etwa vom Rat dazu ermahnt, „treulich miteinander (zu) arbaiten“. Zur Bezeichnung der gemeinsamen Tätigkeit des „Arbeitspaars“ (Heide Wunder) diente allerdings vor allem der Begriff der „Nahrung“ („[…] wie 2 eeleutt sich ernören […]“). Es ist der Begriff der Nahrung, der „die Scheidelinie zwischen der Arbeit in der Werkstatt und der Hausarbeit im heutigen Sinn – Kochen, Waschen, die Beköstigung der in der Werkstatt Arbeitenden (überbrückte). Mit dem Wort Nahrung wurde die Bedeutung des Beitrags der Frau im Haushalt betont, ohne jedoch in ihrer Tätigkeit eine Arbeit im eigentlichen Sinn zu sehen.“ Diese zweite Bedeutung von Arbeit betonte scharf den Unterschied zwischen den Geschlechtern und beschränkte sich auf Berufs- und Erwerbstätigkeit, die wiederum als Domänen des Mannes erschienen. Dies kam z. B. in jenen Texten zum Ausdruck, in denen Meister, Gesellen und Obrigkeiten den Ausschluss von Frauen aus dem Gewerbe festlegten: Strafen gegen jeden Meister, der „aine Magdt uber die Arbait setzt die den gesellen zu machen geburet“.29 Auch in anderen handwerksgeschichtlichen Quellen zeigt sich, dass weibliche Tätigkeiten durchaus als ‚Arbeit‘ bezeichnet wurden, aber nur dann, wenn es sich um von den Zünften anerkannte Berufe handelte. Das traf etwa zu auf die Augsburger Erzeugung von Schleiern, die noch im 16. Jahrhundert überwiegend 25 Scheutz: Handwerksordnungen (wie Anm. 17). S. 35 f., 40 f., 54. 26 Ebd. S 30. Vgl. auch Reinhold Reith: Art. Handwerk. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich Jaeger: Bd. 5. Stuttgart 2007. Sp. 148–173. 27 Zit. nach: Rudolf Holbach: „Im auff Arbeit gelihen“. Zur Rolle des Kredits in der gewerblichen Produktion vom Mittelalter bis in das 16. Jahrhundert. In: Michael North (Hg.): Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Köln 1991. S. 133–158, hier: S. 157. 28 Scheutz: Handwerksordnungen (wie Anm. 17). S. 45, 47. 29 Alle Zit. nach: Lyndal Roper: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Frankfurt/New York 1995. S. 41–45.
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von Frauen durchgeführt wurde („fast nur weyber arbeit“).30 Dies traf ebenfalls zu auf die Leitung einer Werkstätte durch die Witwe eines verstorbenen Meisters. Manche Zunftordnungen legten etwa fest, dass „ain jede wittib unseres hanndtwerch nuer ain jar arbaiten muge“.31 Andere Handwerker forderten überhaupt den Ausschluss der Witwen von der Fortführung des Gewerbes wie die Augsburger Goldschmiede 1550, da Frauen die Arbeit der Goldschmiede nicht beherrschen würden („frawen versteen sich nichtz auf der goldschmid arbeit“).32 Auch der Begriff des ‚Arbeiters‘ ist vielschichtig. Zum Teil umfasst er alle tätigen Menschen, zum Teil die manuell Tätigen, mitunter aber dient er zur Beschreibung von unspezifischer, gerade nicht beruflich verfasster Lohnarbeit. Obrigkeitliche Ordnungen aus dem 16. Jahrhundert sprechen zum Beispiel von „Arm Leut / Als Knappen / Tagwercher / Zimmerleut / unnd andere Arbaiter / (welche) mit jrer Handt Arbait / jr / und Jrer Armen Weyb unnd Kinder / Narung wol gewinnen“, oder sie unterscheiden zwischen „handtwerchs Leuth und Arbaiter“.33 Zusammenfassend lautet mein Befund, dass der Begriff der ‚Arbeit‘ sowohl im Zusammenhang mit handwerklicher Berufsarbeit wie auch bei unspezifischer Lohnarbeit eine allgemeine Bedeutung trägt. Wenn von ‚arbeiten‘ oder ‚Arbeit‘ die Rede ist, dann ist in aller Regel keine konkrete Tätigkeit gemeint, sondern Erwerbsarbeit im Allgemeinen – auch wenn dieser Begriff in den Quellen der Zeit nicht vorkommt. Die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit war bereits um 1500 vorherrschend.
2 Arbeit, Konflikt und Identität In historischen Studien zur Bewertung von Arbeit in vormodernen Gesellschaften wird regelmäßig das Schweigen der Unterschichten beklagt. Auch zu dieser Frage scheinen allerdings soziale Konflikte das Schweigen zu brechen. In den sozialen Bewegungen und Konflikten des ausgehenden Mittelalters diente die Wertschätzung der Arbeit als politisches Argument: Sie legitimierte die Ansprüche und Forderungen der Aufrührer, und sie delegitimierte die Herrschenden, indem deren Tätigkeit nicht als Arbeit bewertet wurde. Ein erstes Beispiel dafür bilden die aufständischen Bauern vom späten 14. bis zum 16. Jahrhundert, die in ihrer Rhetorik immer wieder den hart arbeitenden 30 Zit. nach: C. P. Clasen: Die Augsburger Weber. Leistungen und Krisen des Textilgewerbes um 1600. Augsburg 1981. S. 10. 31 So die Wiener Neustädter Schneider um 1531, Scheutz: Handwerksordnungen (wie Anm. 17). S. 161. 32 Roper: Haus (wie Anm. 29). S. 45. 33 Vgl. Heinz Flamm: Die ersten Infektions- und Pest-Ordnungen in den österreichischen Erblanden, im Fürstlichen Erzstift Salzburg und im Innviertel im 16. Jahrhundert. Wien 2008. S. 35, 45.
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Bauern dem faulen Edelmann gegenüberstellten.34 Im englischen Bauernkrieg von 1381 hieß es: „When Adam delved and Eve span / Who was then the gentleman“, und einhundert Jahre später fand in Mitteleuropa die deutsche Version große Verbreitung: „Als Adam reutte und Eva span / Wer was die Zeit da ein Edelmann?“35 Derselbe Vers war im deutschen ‚Bauernkrieg‘ von 1524/25 weit verbreitet und ebenso in den folgenden Aufständen des 16. Jahrhunderts. Die Wertschätzung der Arbeit, insbesondere der Handarbeit auf dem Feld, durch protestantische Prediger wurde von Bauern aufgegriffen und bildete eine Quelle ihres Selbstbewusstseins. Arbeit wurde so zum Symbol ihrer Ehre im Gegensatz zu adeligen Statusaktivitäten wie z. B. dem Kriegsdienst.36 Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde in einem Spruchgedicht (eines unbekannten Autors) die Frage nach der Entstehung der sozialen Ungleichheit aufgeworfen und mit Verweis auf eine Stelle der Genesis (1 Mose 10) auf ungewöhnliche Weise beantwortet: Nimrod sei der erste Edelmann gewesen, er habe sich diese soziale Position gewaltsam angeeignet, weil er träge und faul („treg und auch faul“) gewesen sei. Deshalb habe er sich auch auf ein Pferd gesetzt und sich die Kälber und Kühe anderer Leute angeeignet. Vor allem aber wollte er gut leben, ohne zu arbeiten: „[…] Und wollt nit arbeiten, darumb betzwang er die armen leiten […]“, und zwang diese, ihn zu ernähren.37 Ähnliche Argumente finden sich auch in der populären städtischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, die unter Handwerkern und Kaufleuten zirkulierte. Beispiele dafür sind Texte der Nürnberger Handwerker und Poeten, vor allem des Panzerhemdmachers (oder Gelbgießers) Hans Rosenplüt (von ungefähr 1400 bis ungefähr 1460) und einhundert Jahre später des Schuhmachers Hans Sachs (1494–1576).38 34 Nach Ansicht von Lis/Soly: Worthy Efforts (wie Anm. 3). S. 182 vertraten die aufständischen Bauern des 14. Jahrhunderts die „idea that all people should work with their hands“. 35 In einer späteren Fassung „Als Adam grub und Eva spann / Wo war denn da der Edelmann“; Werner Lenk: ‚Ketzer‘lehren und Kampfprogramme. Ideologieentwicklung im Zeichen der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland. Berlin 1978. S. 33; Ferdinand Seibt: Vom Lob der Handarbeit. In: Hans Mommsen/Winfried Schulze (Hg.): Vom Elend der Handarbeit. Stuttgart 1981. S. 158–181, hier: S. 175. 36 Wiedemann: Arbeit (wie Anm. 16). S. 153, 214. 37 Lenk: ‚Ketzer‘lehren (wie Anm. 35). S. 34. Ungewöhnlich ist diese Interpretation deshalb, weil im späten Mittelalter die vorhergehende Bibelstelle (1 Mose 9) in der Regel zur Legitimation sozialer Ungleichheit benützt wurde: Noah verflucht seinen Enkel Kanaan und macht ihn zum Knecht. 38 Vgl. dazu Jörn Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg. Stuttgart 1985 (zum handwerklichen „Leitbegriff “ der Arbeit insbes. S. 180–192). Vgl. auch Wilfried Reininghaus: Arbeit im städtischen
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In Fastnachtsspielen und Reimen wurde die Handarbeit der Bauern und der Handwerker als Tätigkeit dargestellt, die Wohlstand, Ansehen und Ehre begründe.39 Rosenplüts Poem „Von den mussiggengern und arbeitern“ (um 1450) ist ein Loblied des Arbeitsschweißes, in dem Handarbeit als ethisch wertvollste Tätigkeit überhaupt dargestellt wird. Dass der „Arbeiter sein Antlitz netzt / mit seiner harten Arbeit Schweiß“ würde die Liebe Gottes und die Aufnahme in das Himmelreich sichern. Und an anderer Stelle heißt es: „Und hätte ich als Lehrling gedient diesen dreien (i. e. Hippokrates, Orientius, Plinius, J. E.) / so könnte ich doch nicht so gut arzneien / wie ein Arbeiter, der einen Tropfen schwitzt / wenn ihn die Arbeit stark erhitzt […]. / Daher ist die Arbeit ein reicher Garten […].“40 Derartige Auffassungen wurden nicht nur im Schauspiel auf Marktplätzen verkündet, sondern auch durch Flugschriften weit verbreitet. Sie gipfelten in einer Schrift des Poeten Johannes Fischart von 1577 in einer allgemeinen Apologie der Arbeit: Nichts sei so schwer, dass es nicht mit Arbeit bewältigt und zuwege gebracht werden könne: „Dann nichts ist also schwer und scharff / Das nicht die arbeit unterwarf / Nichts mag kaum sein so ungelegen / Welchs nicht die Arbeit bringt zuwegen.“41 In den bäuerlichen und städtischen sozialen Bewegungen des ausgehenden Mittelalters diente die Wertschätzung der Arbeit vor allem zur Abgrenzung der ‚gemeinen Leute‘ gegenüber dem Adel. Die Sprecher des ‚Volks‘ kamen allerdings nicht aus den unteren Rängen der sozialen Hierarchie, sondern gehörten als Bauern oder Handwerksmeister den Mittelschichten an.42 Arbeit diente aber auch als Argument in den sozialen Konflikten
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Handwerk an der Wende zur Neuzeit. In: Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte. Göttingen 1986. S. 9–31. Wiedemann: Arbeit (wie Anm. 16). S. 233–238. In einer neueren Übersetzung zitiert nach: Evamaria Engel/Frank-Dietrich Jacob: Städtisches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse. Köln 2006. S. 262. Vgl. auch Peter Michael Lipburger: „Quoniam si quis nun vult operari, nec manducet […].“ Auffassungen von der Arbeit vor allem im Mittelalter. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, 128, 1988. S. 47–86, hier: S. 80; Seibt: Lob (wie Anm. 35). S. 176; Wiedemann: Arbeit (wie Anm. 16). S. 204–206); Ertl: Religion (wie Anm. 8). S. 251 sieht darin eine „laikale Verdichtung mendikantischer Arbeitstheologie“, die „aus Opposition zur verdammten Figur des Müßiggängers eine Heiligung der Handarbeit“ ableite. Zit. nach Wiedemann: Arbeit (wie Anm. 16). S. 258. Es handelt sich dabei um die Variation eines seit der Renaissance verbreiteten lateinischen Spruchs (labor vincit omnia), der auf einen Vers in Vergils Georgica zurückgeht (labor omnia vincit improbus). Labor improbus trug bei Vergil allerdings noch die negative Bedeutung ‚arge Mühlsal‘. Vgl. Werner Suerbaum: Art. Vergilius. In: Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, hg. von Hubert Cancik: Bd. 12/2. Stuttgart/Weimar 2002. Sp. 42–60, hier: Sp. 49. Lis/Soly: Worthy Efforts (wie Anm. 3), betonen an mehreren Stellen ihres Buchs die Bedeutung der „middling groups“ für die Wertschätzung der Arbeit.
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innerhalb des städtischen Handwerks, zwischen Meistern und Gesellen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Jahr 1529 versuchte die Straßburger Kürschnerzunft, alte Rechte der Gesellenbruderschaft zu beschneiden und die Zahl der Gesellen auf drei pro Werkstätte zu beschränken, was diese einen Verlust an Arbeitsplätzen befürchten ließ. Die Gesellen argumentierten dagegen mit biblischen Texten, vor allem aus dem Buch Hiob und aus der Genesis: „Wir menschen [sind] von got zu der arbeit wie der vogel zu dem fliegen erschaffen auch von gott gebot in dem schweis unsers angesichtz unser brot [zu] essen […]“.43 Diese Argumentation enthält zwei interessante Aspekte: Zum Ersten interpretierten die Gesellen den oft zitierten Vers aus der Genesis („Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“) nicht als göttlichen Fluch, sondern als göttliches Recht auf Arbeit. Zum Zweiten benützten sie eine im frühen 16. Jahrhundert keineswegs selbstverständliche deutsche Version des Verses, der im Lateinischen lautet: „Homo nascitur ad laborem, et avis ad volatum.“ Martin Luther übersetzte an dieser Stelle labor nicht als ‚Arbeit‘, sondern als ‚Unglück‘ („Sonder der Mensch wird zu unglück geborn […]“).44 Die Straßburger Kürschnergesellen bevorzugten dagegen eine positive Bedeutung von Arbeit, sowohl als Pflicht wie auch als Recht, um im Konflikt mit der Zunft ihrer Position Nachdruck zu verleihen.
3 Arbeit im Kontext von Armut, Fürsorge und Sozialpolitik Eines der wichtigsten Felder des Arbeitsdiskurses im späten Mittelalter bildeten die Beziehungen zwischen Arbeit, Armut und Fürsorge. Hier vollzog sich ein fundamentaler Wandel in den Einstellungen zu Arbeit und Nicht-Arbeit. Er bestand in einer radikalen Abwertung der Armut, die nunmehr jegliche ideelle Wertschätzung einbüßte und als beklagenswerte Folge von Müßiggang und Faulheit erschien. Damit einher ging eine neue Einstellung zu den Armen. Das Geben und Empfangen von Almosen wurde nun negativ bewertet und durch eine Sozialpolitik ersetzt, deren Ziel es war, ‚Müßiggang‘ zu verhindern und Arbeit zu fordern oder sogar zu erzwingen. Bettler wurden diffamiert und zum negativen Gegenbild des Arbeiters gemacht. Da 43 Hiob 5,7 und Genesis 3,19; Lipburger: Quoniam (wie Anm. 40). S. 80. 44 Ebd. In der gegenwärtig anerkannten Standard- und Einheitsübersetzung der Bibel lautet der Vers: „[…] der Mensch ist zur Mühsal geboren, wie Feuerfunken, die hochfliegen.“ Allerdings wurde Hiob 5,7 schon in der mittelalterlichen Theologie, u. a. von Thomas von Aquin, so interpretiert, dass die natürliche Beschaffenheit des menschlichen Körpers auf Arbeit angelegt sei, dass also körperliche Arbeit zwar nicht für alle einzelnen Individuen, wohl aber für das Gattungswesen Mensch ein Naturgesetz darstelle. Vgl. dazu Verena Postel: Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter. Stuttgart 2009. S. 135 ff. Vgl. auch die sehr differenzierte Darstellung von Schreiner: Brot (wie Anm. 7). S. 161 ff.
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aber Armut und Bettelei offensichtlich nicht beseitigt werden konnten, fand die neue Sozialpolitik ihren Ausdruck in der diskursiven Konstruktion von drei Gruppen von Menschen: erstens jene, die arbeitswillig waren, tatsächlich arbeiteten und deshalb als nicht von Armut gefährdet angesehen wurden. Zweitens jene, von denen die Obrigkeiten annahmen, dass sie zwar arbeiten wollten, aber nicht konnten. Die Angehörigen dieser Gruppe, vor allem alte, kranke und behinderte Menschen, wurden als ‚würdige‘ Arme betrachtet. Nur sie sollten mit Almosen unterstützt werden oder das Recht erhalten zu betteln. Und drittens die Gruppe der ‚Müßiggänger‘, die als arbeitsunwillige und deshalb ‚unwürdige‘ Arme galten. 45 Sie sollten bestraft, zur Arbeit gezwungen oder, wenn sie nicht schon länger in der jeweiligen Stadt ansässig waren und deshalb als „fremd und auslendisch” galten, aus ihr vertrieben werden.46 Mit unzähligen Verordnungen wie Armenordnungen oder Bettelordnungen versuchten die städtischen Behörden – in kleinerem Maße auch staatliche Autoritäten – diese Unterscheidung durchzusetzen und zu exekutieren. Armenordnungen und Bettelordnungen sind Quellen, in denen die Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚arbeiten‘ sehr stark präsent sind. Im Deutschland des 15. und 16. Jahrhunderts ist dies besonders gut dokumentiert für die großen Städte und für urbanisierte Regionen wie den Oberrhein oder Sachsen, wo Lohnarbeit weit verbreitet war und Armut ein drängendes soziales Problem bildete. Hier finden sich zahlreiche Quellen, die von Arbeit handeln. Um einige Beispiele zu nennen: Die erste Nürnberger Bettlerordnung von 1478 bestimmte, dass auch jene bedürftigen Menschen, denen das Betteln in der Stadt erlaubt war, „an keinem wercktag vor den kirchen an der pettelstat müssig sitzen (sollen), sondern spynnen oder annder arbeit, die in irem vermügen wer, thun“. Kinder von armen Eltern sollten vom achten Lebensjahr an zu anderen Leuten „zu diensten“ gegeben werden, also als Dienstboten selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen.47 Sebastian Brants satirische Dichtung „Narrenschiff “, erstmals erschienen in Basel 1494 und weit verbreitet im deutschen Sprachraum, fasste unter dem Begriff des „Narren“ auch „unwürdige“ Bettler, Müßiggänger, Vagabunden oder Bettelmönche zusammen.48 Sein Spott zielte auf jene Menschen, die bettelten, obwohl sie jung, stark und gesund 45 Vgl. Otto Gerhard Oexle: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Frankfurt a. M. 1986. S. 73–101; sowie Oexle: Arbeit (wie Anm. 11). 46 So der Stadtrat von Altenburg in Sachsen 1522; zit. nach Helmut Bräuer: Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen bis in das 18. Jahrhundert. Leipzig 1997. S. 29. 47 Helmut Bräuer: Arbeitende Bettler? Bemerkungen zum frühneuzeitlichen BettlerBegriff. In: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 3, 1993. S. 70–91, hier: S. 80. 48 Katharina Simon-Muscheid: Ein rebmesser hat sine frowe versetzt für 1 ß brotte. Armut in den oberrheinischen Städten des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Helmut Bräuer (Hg.):
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seien und deshalb arbeiten könnten.49 Erasmus von Rotterdam stellte in seiner 1516 verfassten und Karl V. gewidmeten Schrift „Institutio Principis Christiani“ den Fürsten die Aufgabe, Müßiggänger zur Arbeit zu zwingen oder sie zu vertreiben: „zwing sie entweders zu arbeyten oder treib sie us auß der Stadt.“50 Auch in theologischen Schriften verstärkten sich im 15. Jahrhundert Diskurse über Armut und Arbeit. Aus der Bibel wurde häufig Paulus zitiert (2. Thess. 3,10: „So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen […]“) oder auch die schon oben erwähnten Verse aus dem Buch Hiob (5,7) („zu arbeiten seint wir alle geboren […]“). Daran anschließend wandten sich Martin Luther und viele seiner protestantischen Nachfolger heftig gegen Müßiggang, freiwillige Armut und Betteln in jeder Form und insbesondere gegen „frembde betler“.51 Auch in dieser Hinsicht bildete die Reformation für die Geschichte der Arbeit einen geringeren Einschnitt, als lange Zeit angenommen wurde.52 Otto Gerhard Oexle spricht von einer überraschenden „Kontinuität der Mentalitäten vor und nach ‚1500‘“.53 Im 16. Jahrhundert überwogen in Bezug auf Arbeit und Armut auch die Gemeinsamkeiten zwischen katholischen und protestantischen Gebieten.54 In den ersten Jahren der Reformation wurden allerdings in zahlreichen lutherischen Gemeinden Armenordnungen ähnlichen Inhalts verfasst.55 In einer der bekanntesten von ihnen, der als Musterbeispiel lutherischer Sozialpolitik angesehenen „Kastenord-
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Arme – ohne Chance? Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig 2004. S. 39–70, hier: S. 49 f. „Mancher dut bättlen by den joren / So er wol wercken möht und kundt / Und er jung / starck ist / und gesundt“. Sebastian Brant: Das Narrenschiff, hg. von Manfred Lemmer. Tübingen 1986. Kapitel 64, Verse 22–30. In Südwestdeutschland war nicht nur der Begriff ‚arbeiten‘ gebräuchlich, sondern synonym auch ‚wercken‘. In Kapitel 98 kontrastiert Brant Trägheit und Faulheit mit Arbeitsfleiß: „Selig, wer mit der Hacke schafft / Doch Müßiggang ist narrenhaft / Die Müßiggänger straft der Herr / Der Arbeit gibt er Lohn und Ehr.“ In neuhochdeutscher Übertragung in Sebastian Brant: Das Narrenschiff, hg. von Hans-Joachim Mähl. Stuttgart 1964. Unter dem Titel „Herrenzucht“ erschienen ab 1521 zahlreiche deutsche Übersetzungen dieses Fürstenspiegels. Vgl. dazu Otto Herding: Die deutsche Gestalt der Institutio Principis Christiani. Leo Jud und Spalatin. In: Josef Fleckenstein (Hg.): Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Freiburg 1968. S. 534–551. Das hier ausgewählte Zitat nach Wiedemann, Arbeit (wie Anm. 16). S. 215. Besonders deutlich in seiner Schrift „An den christlichen Adel“; Wiedemann: Arbeit (wie Anm. 16). S. 115–152. Vgl. Ranft: Theology (wie Anm. 9). S. 5; Lipburger: Quoniam (wie Anm. 40). Oexle: Arbeit (wie Anm. 11). S. 79. Simon-Muscheid: Rebmesser (wie Anm. 48). S. 42. Zahlreiche Beispiele in Adolf Laube/Annerose Schneider/Sigrid Looß (Hg.): Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). 2 Bde. Berlin 1983.
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nung“ der mittelsächsischen Stadt Leisnig von 1523, heißt es etwa: „Keyne betteler und bettleryn sollen ynn unnserm kirchspiell ynn der stadt noch dorffern gelidden werden, dann welche mit alder oder krankckheitt nicht beladen sollen arbeiten ader aus unnserm kirchspiell […] hynwegk getrieben werden. Die aber aus zufellen bey uns verarmen oder aus kranckheitt und alder nicht arbeiten konnen, sollen […] aus unserm gemeinen kasten zimlicher weiße versehen werden […].“56 In der sächsischen Stadt Altenburg publizierte der Prediger Wenceslaus Linck im selben Jahr 1523 eine Schrift mit dem Titel „Von Arbayt vnd Betteln wie man solle der faulheyt vorkommen / vnd yederman zu Arbeyt ziehen“.57 Die ersten staatlichen Bettlerordnungen wie z. B. die „Landesbettlerordnung“ für Sachsen von 1541 orientierten sich an diesem Ziel und drohten „den Müßiggengern, die nicht erbeiten wöllen“, Strafen oder Landesverweisungen an.58 Die Salzburger Landesordnung von 1526 untersagte den Aufenthalt und das Umherziehen im Lande allen jenen, die nicht „angesessen“ seien, in „erlichen diennsten“ stünden oder „sonnst Arbeit oder ander redlich ursach“ hätten.59 In den Dokumenten, in denen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert der Wandel des Arbeitsdiskurses zum Ausdruck kommt, wurde ein Thema erstaunlich wenig angesprochen, nämlich das Thema der Arbeitslosigkeit. Die strikte Gegenüberstellung des Arbeiters und des Bettlers verdrängte die Frage, ob es denn ausreichend Arbeit für die Armen gab. Eine Ausnahme bildete eine Leipziger Bettlerordnung um 1520, die „armen tagelohnern“, Frauen oder Männern, „Im wynter, so sye nicht Arbeyt haben kontten“, das Betteln gestattete, wenn auch nur so lange, bis es wieder Arbeit gab („dye arebeyt angehtt“).60 Es handelt sich um eine der wenigen Quellen des frühen 16. Jahrhunderts, die Fluktuationen in der Nachfrage nach Lohnarbeit, saisonale Unterbeschäftigung und ganz allgemein die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt anerkannte – ein Problem, das für die unteren Schichten von enormer Bedeutung war. Im Lauf des 16. Jahrhunderts wird dieses Thema aber immer stärker in den Quellen fassbar und noch stärker im 17. und 18. Jahrhundert.61 Während die normativen 56 Ebd. Bd. 2. S. 1063. 57 Zit. nach Bräuer: Leipziger Rat (wie Anm. 46). S. 29. 58 Ankündigung der Publikation der Landbettlerordnung Herzog Heinrichs von Sachsen durch den Rat der Stadt Leipzig. 16. April 1541; zit. nach Bräuer: Leipziger Rat (wie Anm. 46). S. 114 f. 59 Franz V. Spechtler/Rudolf Uminsky (Hg.): Die Salzburger Landesordnung von 1526. Göppingen 1981. S. 43 f. 60 Zit. nach Bräuer: Leipziger Rat (wie Anm. 46). S. 111. 61 Auf das 17. und 18. Jahrhundert kann hier nicht eingegangen werden. Es sei aber der Hinweis gestattet, dass die Armenpolitik eine große Zahl von schriftlichen Zeugnissen – und damit von historischen Quellen – hervorbrachte, in denen die Armen selbst zu Wort kamen. Dem Leipziger Historiker Helmut Bräuer kommt das Verdienst zu, sich ganz besonders intensiv mit diesen Quellen beschäftigt und sie auch in großem
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Regelungen der frühen Armenpolitik um 1500 und der frühen Reformationsbewegung auf außerordentlich restriktive Weise und in einer aggressiven Rhetorik zwischen Arbeitenden und Müßiggängern unterschieden, scheint sich in der folgenden Periode – vermutlich aufgrund der Erfahrungen der sozialpolitischen Praxis, die ja einen ständigen Dialog zwischen Unterstützung begehrenden Armen und den diese gewährenden oder verweigernden Vertretern der Obrigkeit einschloss – ein realistischerer Blick auf die Schwankungen der Arbeitsmärkte und auf die Risiken der Lohnarbeit im Allgemeinen verbreitet zu haben.62 Auch in allen diesen Quellen tritt einem ein moderner und vertrauter Arbeitsbegriff gegenüber: Arbeit ist Erwerbsarbeit und vor allem Lohnarbeit.63 Umfang erschlossen zu haben. Vgl. dazu insbes. Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hg.): Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches Inventar. Leipzig 2002; Helmut Bräuer: Armenmentalitäten in Sachsen 1500 bis 1800. Essays. Leipzig 2008. 62 Bräuers oben zitierte Forschungen zeigen, dass Menschen, die sich um eine Lizenz zum Betteln bewarben, vor den Obrigkeiten ihre Gründe anführen und ihre soziale Lage beschreiben mussten. Ihre Aussagen wurden protokolliert und sind in städtischen Archiven in großer Zahl überliefert. Bettler ohne obrigkeitliche Genehmigung wurden immer wieder in großer Zahl verhaftet und verhört, und auch ihre Aussagen wurden protokolliert. Im Bereich der Armut und der Armenpolitik finden wir also in den Quellen einen Dialog zwischen den Obrigkeiten und den Angehörigen der unteren Schichten, in dem für beide Seiten das Sprechen über Arbeit im Zentrum stand. Die Obrigkeiten versuchten, herauszufinden, ob ein verarmter Mensch nicht arbeiten wollte oder nicht arbeiten konnte bzw. warum er nicht arbeiten konnte. Die Angehörigen der unteren Schichten führten verschiedene Gründe an, warum sie keiner Arbeit nachgehen könnten und deshalb auf Almosen angewiesen seien oder betteln müssten. Wenn man die Quelleneditionen und Darstellungen Helmut Bräuers liest, wird deutlich, dass auch in diesem Kontext Arbeit ausschließlich als Erwerbsarbeit erscheint. Neben Gründen wie Krankheiten, Unglücksfällen oder hohem Alter, die als Nachweis der Arbeitsunfähigkeit vorgebracht – und in der Regel auch akzeptiert wurden – kam einem weiteren Argument zentrale Bedeutung zu, nämlich dass man „keine Arbeit habe“ oder „keine Arbeit bekommen“ könne: „Ich habe seit einem halben Jahr keine Arbeit gehabt“, „ich habe keine Arbeit und kein Brot“, „ich kann in meinem Handwerk keine Arbeit bekommen“, sind Argumente, die in den einschlägigen Quellen vom 16. bis in das 18. Jahrhundert immer wieder vorgebracht werden. Vgl. dazu auch Helmut Bräuer: „… und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich zur Zeit Kaiser Leopolds I. Wien/Köln/Weimar 1996. 63 Das Thema der Arbeitslosigkeit und der Fluktuation des Arbeitsmarkts gewinnt auch in neueren Forschungen zu Arbeit und Armut zunehmende Bedeutung. Sie ermöglichen eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Arbeit und Betteln, die der dichotomischen Gegenüberstellung, die den Diskurs des 15. und 16. Jahrhunderts prägte,
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4 Bildliche Quellen Eine Intensivierung von Arbeitsdiskursen im späten Mittelalter kann man nicht nur in schriftlichen Quellen erkennen, sondern auch in bildlichen. Genaue Darstellungen der Arbeit von Bauern und Handwerkern finden sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in den ökonomisch entwickelten Regionen Europas nicht nur in Gegenständen für den privaten Gebrauch der Oberschicht wie z. B. Stundenbüchern, sondern zunehmend auch im öffentlichen Raum, an den Fassaden und inneren Wänden von Kirchen, Uhrtürmen oder Rathäusern.64 Manuelle Arbeiten wurden häufig in Monatsbildern (oder Monatsarbeiten) oder in bestimmten biblischen Szenen dargestellt wie dem Turmbau zu Babel oder dem Bau der Arche durch Noah.65 Sie dienten als Symbole für göttliche und gesellschaftliche Ordnung und für die ‚gute Regierung‘ durch die herrschenden sozialen Gruppen.66 Im späten 15. Jahrhundert spielt die Arbeit von Bauhandwerkern in Fresken eine große Rolle, in denen die Gründung von Kirchen oder Klöstern dargestellt wurde. Dabei wurde manuelle Arbeit mit dem Leben von Heiligen in Zusammenhang gebracht.67 Im mitteleuropäischen Raum finden sich um 1500 aber auch zahlreiche Arbeitsdarstellungen in Bergbaugemeinden, die man als visuellen Ausdruck des Selbstbewusstseins der Bergarbeiter interpretieren kann. Die Kirchen ihrer Gemeinden wurden mit Wandmalereien, Gemälden oder künstlerisch gestalteten Altären ausgestattet, auf denen die Arbeitswelt der Bergleute detailliert geschildert wurde. Zu den berühmtesten Beispielen zählen Annaberg im sächsischen Erzgebirge, Kuttenberg/Kutná Hora in Böhmen, Flitsch in Kärnten oder Rosenau/ Roznava in der Slowakei. Die bildliche Wiedergabe der eigenen Arbeit diente vermutlich der Festigung der Gemeinschaft und der Identität der Bergleute.68
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diametral widerspricht. Untersuchungen der Lebensläufe und Schicksale vieler einzelner Bettler und Arbeiter zeigen, dass es für viele Angehörige der unteren Schichten notwendig war, beide Einkommensquellen miteinander zu kombinieren, um überleben zu können. Arbeit und Bettel waren nicht so sehr unterschiedliche Lebensformen, sondern zwei „Seiten einer Existenzweise“; Bräuer: Arbeitende Bettler (wie Anm. 47). S. 89. Georges Duby: Die Zeit der Kathedralen. Frankfurt am Main 1992. S. 163, 463–466; Postel: Arbeit und Willensfreiheit (wie Anm. 44). S. 8. James Carson Webster: The Labors of the Month in Antique and Medieval Art. To the End of the Twelfth Century. New York 1938. Gerhard Jaritz: Der Kontext der Repräsentation oder: Die „ambivalente“ Verbildlichung von Arbeit im Spätmittelalter. In: Postel (Hg.): Arbeit (wie Anm. 7). S. 245– 264, hier: S. 258. Ebd. S. 257–259; Gerhard Jaritz: The Visual Representation of Late Medieval Work. Patterns of Context, People and Action. In: Ehmer/Lis (Hg.): Idea (wie Anm. 10). S. 125–148, hier: 128 ff. Jaritz: Kontext (wie Anm. 66). S. 246–250.
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Ein in diesem Zusammenhang noch wenig beachtetes Beispiel führt an die Spitze der sozialen Hierarchie. Eine interessante Quelle zur Bewertung von Arbeit zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist Kaiser Maximilans I. „Weisskunig“.69 Maximilian verfolgte eine Reihe von künstlerischen und literarischen Projekten zur Darstellung seines Lebens und seiner Regierung. Dazu gehört ein (auto-)biographischer Prosaroman, der Erziehung und Jugend sowie Kriege und politische Unternehmungen des „weisen Königs“ darstellt.70 Der oft als „Selbstbiographie“ bezeichnete Text beruht auf Erinnerungen, Aufzeichnungen und Diktaten Maximilians, die von Sekretären ins Reine geschrieben, ergänzt und erweitert und schließlich von Maximilians Geheimschreiber Marx Treitzsaurwein – offensichtlich nach persönlichen Korrekturen des Kaisers und in enger Kooperation mit ihm – um 1514/1516 bearbeitet und vorläufig beendet wurden.71 Maximilian hatte die Veröffentlichung des Textes geplant und für Illustrationen in den besten Augsburger Werkstätten eine große Zahl von Holzschnitten in Auftrag gegeben.72 Das Thema der Arbeit wird im Text und in den Holzschnitten im zweiten Teil des „Weisskunig“ angesprochen, der Kindheit, Jugend und Erziehung Maximilians behandelt.73 Die Erzählung ist dem Topos verpflichtet, dass „[…] die kunig, die selbs regieren, mer wissen (muessen) dann die fursten und das volk, damit das ir regierung by inen beleib […]“.74 Welches Wissen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten wurden nun als nützlich bzw. unverzichtbar für einen regierenden König erachtet und Kaiser Maximilian I. zugeschrieben? Es handelt sich um einen sehr umfangreichen Kanon, der unter anderem Latein und die Heilige Schrift, die „sieben freien Künste“ oder artes liberales (insbesondere Grammatik, Logik, Medizin und Astronomie), Regierungskunst und Ständelehre, Genealogie, Geschichte und Münzwesen und eine Reihe 69 Kaiser Maximilians I. Weisskunig. 2 Bde. Stuttgart 1956. 70 Hermann Wiesflecker: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Bd. V. Wien 1986. S. 315–317. 71 Clemens Biener: Entstehungsgeschichte des Weißkunigs. In: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, 44, 1930. S. 83–102. Ausstellung Maximilian I. Innsbruck. Katalog. Innsbruck 1969. S. 139–140. 72 Die meisten der insgesamt 251 Holzschnitte stammen von Hans Burgkmair und Leonhard Beck, einige wenige auch von Hans Springklee und Hans Schäufflein; Ausstellung (wie Anm. 71). S. 139. Ihre Herstellung wurde in Augsburg vom gelehrten Humanisten und Stadtschreiber Konrad Peutinger überwacht; Wiesflecker: Kaiser Maximilian (wie Anm. 70). S. 316. Wegen des Todes Maximilians (1519) und Treitzsaurweins (1527) blieb der „Weisskunig“ unveröffentlicht. Die erste gedruckte Ausgabe erschien erst 1775 in Wien; Ausstellung: S. 139. Vgl. Larry Silver: Marketing Maximilian. The Visual Ideology of a Holy Roman Emperor. Princeton 2008. S. 38. S. 158 ff. 73 Vgl. vor allem Maximilian I.: Weisskunig (wie Anm. 69). Bd. 1 (Textband). S. 221– 231; Bd. 2 (Tafelband). S. 20–51. 74 Ebd. Bd. 1. S. 223.
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von Fremdsprachen umfasst.75 Dazu gehören aber weitere Kenntnisse, die über die unmittelbaren politischen und militärischen Aufgaben eines Fürsten und über die gesellschaftlichen Anforderungen des Hoflebens hinausgehen und mit der Arbeitswelt der unteren Schichten tun haben. Zu ihnen zählen zum einen Verwaltungs- und Kanzleitätigkeiten: Der „Weisskunig“ schrieb schneller und schöner als seine Sekretäre und war ganz allgemein „erfaren und kundig [im] canzler ampt und secretari ampt“.76 Zum anderen umfassen sie aber auch manuelle handwerkliche Tätigkeiten. Der junge Weisskunig lernte Malen, das Bauwesen mit Stein und Holz, die Plattnerei und Harnischmacherei, die Arbeit im Bergbau und die Herstellung von Geschützen und einiges andere mehr und wurde in diesen Gebieten rasch seinen Lehrmeistern überlegen. Die illustrierenden Holzschnitte stellen alle diese Tätigkeiten in den konkreten Rahmen handwerklicher Arbeits- und Werkstätten: In der Werkstätte des Malers blickt Maximilian dem konzentriert arbeitenden Künstler über die Schulter; auf dem Bau spricht er mit den Steinmetzen und überprüft mit dem Lot die Geradheit der Mauer; bei den Zimmerleuten hält er eine große Säge in den Händen; in der Werkstatt der Harnischmacher unterbricht er einen Gesellen bei der Arbeit usw.77 Maximilian ist in den Werkstätten durch seinen fürstlichen Ornat und einen Lorbeerkranz kenntlich. Auch wenn er gelegentlich Werkzeug in den Händen hält, nimmt er selbst nicht am Arbeitsprozess teil. Er zeigt aber, dass er mit den Tätigkeiten der Handwerker vertraut ist. Der Text stellt ihn als Persönlichkeit mit handwerklichen Kenntnissen dar, die in der Lage ist, persönlich Anordnungen zu treffen, Ausführungen zu überprüfen, neue Erfindungen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Handwerkliche Arbeit enthält geistige und manuelle Komponenten, und der Kaiser wird eher mit der geistigen Arbeit in Zusammenhang gebracht.78 Die Holzschnitte zeigen ihn aber auch als Menschen, der sich ganz selbstverständlich in den Werkstätten bewegt, der mit Handwerkern persönlich bekannt ist, der sich ohne Scheu unter den körperlich arbeitenden Meistern, Gesellen und Hilfskräften bewegt. In der Aufzählung und bildlichen Darstellung des Wissens, der Kenntnisse und der Fähigkeiten des Weisskunigs kommen unterschiedliche Einflüsse zur Geltung. Sie stehen in der Tradition der humanistischen Pädagogik und Fürstenerziehung, wie sie auch in den ‚Fürstenspiegeln‘ wiedergegeben wurden; sie enthalten Auffassungen der 75 Vgl. dazu insbes. Jan-Dirk Müller: Zwischen Repräsentation und Regierungspraxis. Transformation des Wissens in Maximilians Weisskunig. In: Gerhild Scholz Williams/ Stephan K. Schindler (Hg.): Knowledge, Science, and Literature in Early Modern Germany. Chapel Hill 1996. S. 49–70. 76 Maximilian I.: Weisskunig (wie Anm. 61). Bd. 1. S. 226. 77 Ebd. Bd. 2. S. 30, S. 31, S. 32, S. 50. 78 Zu den zeitübergreifenden intensiven Debatten über das Verhältnis von manueller und geistiger Arbeit im Handwerk vgl. Lis/Soly: Worthy Efforts (wie Anm. 3), Kap. 6 (Artisans: Practice and Theory).
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
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humanistisch gebildeten Freunde des Kaisers, vor allem aus dem gehobenen Bürgertum der oberdeutschen Reichsstädte und seiner – oft aus dem städtischen Handwerk stammenden – Schreiber und Sekretäre; und in den Holzschnitten natürlich auch die Ideen der führenden Augsburger Künstler. Da der Kaiser aber wesentlichen Einfluss auf Text und Bildausstattung nahm, ist anzunehmen, dass der Weisskunig auch seine eigenen Ansichten repräsentiert. Im Text wird der Nutzen einer handwerklichen Ausbildung meist in einen Zusammenhang mit militärischen Aufgaben gestellt, etwa für den Festungs- und Brückenbau oder für die Verbesserung von Rüstungen und Kanonen. Handwerkliche Arbeit wird auch nur in einem kleinen Teil des Textes und des Bildprogramms angesprochen und nimmt im Vergleich zum kriegerischen und politischen Geschehen nur wenig Raum ein. Nichts deutet aber darauf hin, dass Maximilian eine Ausbildung im Handwerk und engen Kontakt mit körperlicher handwerklicher Arbeit als unehrenhaft oder unstandesgemäß empfunden hätte. Ganz im Gegenteil werden sie als zum Bildungskanon und zur Praxis eines Fürsten gehörend gezeichnet. Die positive Darstellung von Arbeit, einschließlich handwerklich-manueller Arbeit, die in Maximilians „Weisskunig“ sichtbar wird, ist allerdings Ausdruck einer spezifischen historischen Situation, in der der regierende Herrscher eine große Affinität zum städtischen Bürgertum zeigte, um die Macht des hohen Adels zu brechen. Wie es scheint, integrierte Maximilian den arbeitsbezogenen Wertekanon des städtischen Bürgertums in seine Selbstdarstellung, um damit die Legitimation seiner Herrschaft auch gegenüber dieser sozialen Gruppe zu erhöhen. Mit der Ausdehnung und Bürokratisierung der staatlichen Verwaltung vom späten 16. Jahrhundert an begann der Adel hohe Ämter zu besetzen; in diesem Zusammenhang wurde auch die Rolle des Fürsten neu definiert, und in diesem Zusammenhang scheint auch der positive Bezug zur Arbeit der städtischen Mittelschichten zu verblassen.
5 Schlussfolgerungen Debatten um Arbeit wurden im deutschen Sprachraum um 1500 vermutlich intensiver geführt als davor und danach. Arbeitsdiskurse gingen in dieser Periode über den Kreis der Gelehrten hinaus und gewannen öffentlichen Charakter. Dies stand in Zusammenhang mit der zunehmenden sozialen Differenzierung in Stadt und Land, mit der Durchsetzung des Zunftwesens im städtischen Handwerk, mit den zahlreichen bäuerlichen und städtischen Revolten, mit der Ausbreitung der Lohnarbeit und damit in Zusammenhang mit der Neuausrichtung städtischer und staatlicher Sozialpolitik. Die geistigen und religiösen Umwälzungen der Zeit, darunter die vorreformatorischen Bewegungen und die Reformation, förderten die öffentliche Auseinandersetzung mit Arbeit.
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Man findet in diesen Diskursen eine Arbeitsideologie von oben, die die Machtstellung der herrschenden Gruppen legitimiert und harte körperliche Arbeit den unteren Schichten zuweist. Man findet aber auch eine Arbeitsideologie von unten, wenn auch nicht von ganz unten, sondern am stärksten ausgeprägt bei den zünftigen Handwerkern der Städte, bei Bergarbeitern und zum Teil auch bei Bauern. Das Lob der Arbeit diente der Identitätsbildung vor allem der selbständigen Mittelschichten in Stadt und Land und zugleich ihrer sozialen Abgrenzung nach unten und oben. Diese Gruppen leiteten aus der Tatsache, dass sie Handarbeit leisteten, Selbstbewusstsein und politische Ansprüche ab. Darüber hinaus erschien Arbeit als Teil einer richtigen Lebensführung in allen sozialen Schichten, vom fürstlichen Bildungsprogramm über die Tätigkeiten von Priestern und Mönchen bis hin zu den von Armut bedrohten sozialen Gruppen. Die vermeintlichen Müßiggänger unter den Letzteren waren allerdings in dieser Periode einer besonders ausgrenzenden Sozialpolitik und einer aggressiven rhetorischen Polemik ausgesetzt. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, welchen Platz Arbeit im gesellschaftlichen Wertesystem dieser Periode tatsächlich einnahm. Argumente, die eine Glorifizierung von Arbeit auch relativieren, sollten nicht übersehen werden. In Maximilians I. idealisierter Vision eines weisen Königs hat handwerkliche Arbeit ihren Platz, aber es ist doch nur ein kleiner Platz im Vergleich zu seinen anderen Aufgaben und Aktivitäten. Für den Adel war Arbeit, vor allem körperliche Arbeit, nach wie vor unehrenhaft. Im theologischen Diskurs hatte das Konzept der vita activa jenes der vita contemplativa keineswegs verdrängt.79 Und nicht zuletzt fand im deutschen Sprachraum gerade an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert eine neue populäre Utopie Verbreitung, nämlich der „Traum vom Schlaraffenland“, einem Land des Überflusses „ohne Arbeit und ohne Pein“.80 Auch in mündlich erzählten Volksmärchen – die dann vom 17. Jahrhundert an gesammelt und gedruckt werden sollten – spielte der Traum vom Reichtum eine große Rolle, aber nicht als Reichtum durch Arbeit, sondern durch Glück, Witz oder Zufall.81 Eindeutig scheint dagegen zu sein, dass der Begriff der Arbeit in der deutschsprachigen Welt des 15. und 16. Jahrhunderts nicht diese oder jene konkrete Tätigkeit bezeichnete, sondern allgemeine Bedeutung hatte. Der Gebrauch dieses Begriffs in den verschiedenen sozialen Kontexten, die in diesem Artikel diskutiert wurden, weist 79 Nach Ertl: Religion (wie Anm. 8). S. 239, wurde im Denken der Bettelmönche die vita contemplativa in die vita activa integriert, und auch das „kontemplative Leben des Studiums […] zum Bestandteil des aktiven Lebens gemacht“. 80 Herman Pleij: Der Traum vom Schlaraffenland. Frankfurt am Main 1997. S. 67. 81 Robert Darnton: Peasants Tell Tales. The Meaning of Mother Goose. In: ders.: The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History. New York 1984. S. 9–72.
Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts
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eine Gemeinsamkeit auf: ‚Arbeit‘ bezieht sich auf den Lebensunterhalt, auf Einkommen oder Lohn. Erst seit etwa 1900 wird im Deutschen der Begriff ‚Erwerbsarbeit‘ zur Beschreibung derartiger Tätigkeiten benützt. Er beschreibt aber sehr gut die vorherrschende Bedeutung von Arbeit schon in den Diskursen der Zeit um 1500.
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Arbeit und Status in den iberischen Königreichen und ihren amerikanischen Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert
Der Beitrag beleuchtet Arbeitssemantiken aus dem Bereich der iberischen Mächte und ihrer Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Die spanischsprachige Forschung hat Kolonialgeschichte akzentuierter auch als Arbeitsgeschichte geschrieben als die portugiesisch-brasilianische.1 Nahezu alle Quellengattungen enthalten Aussagen zu dem Thema, die Auswahl muss sich hier aber auf einige Wörterbücher, Traktat- und Predigtliteratur sowie Gesetzeswerke beschränken. Die Quellen variieren in ihrer Distanz zur Alltagspraxis. Man kann „gelehrte“ von „pragmatischen Diskursen“ abgrenzen und solche eher technisch-deskriptiver Art von rechtfertigenden, normativen und appellativen. Kontexte, Anwendungsfelder und Funktionen sollen innerhalb dreier Themenkomplexe erschlossen werden: Nach einem kurzen Blick auf Begründungen der Tugendhaftigkeit bzw. Notwendigkeit des Arbeitens werden Wirtschaftszweige beleuchtet, die besondere Aufmerksamkeit genossen, um dann Personengruppen zu betrachten, denen Arbeit einerseits zugewiesen, andererseits verboten wurde. Als Paradigmen, welche die Beantwortung solcher Fragen nach dem Sinn und Zweck der Arbeit prägten, sind besonders die des Religiösen, des Politischen sowie des Ökonomischen zu beachten. Ein Phänomen, das im vorliegenden, notwendigerweise sehr gerafften Panorama nur berührt werden kann, stellt der gegenseitige Transfer von europäischen und amerikanisch-indigenen Arbeitssemantiken und damit verbundener etwaiger Bedeutungswandel dar. Zum Einstieg seien Grundbegriffe des Arbeitens im Kastilianischen und im Portugiesischen vorgestellt. Lateinische Ausgangspunkte sind labor2, laborare/i und opera, operare/i, officium, ministerium, ars. Labor ist im Kastilianischen des 18. Jahrhunderts noch die investierte Arbeit, aber auch das Werk. Auch Bluteau, das zentrale portu1 2
Antonio Luigi Negro/Flávio Gomes: Além das senzalas e fábricas: uma história social do trabalho. In: Tempo Social, revista de sociologia da USP, 18 (2006). S. 217–240. In seiner ursprünglichen Bedeutung Leid; vgl. Werner Conze: Art. Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 154–215, hier: S. 157.
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giesische Wörterbuch aus der Aufklärungszeit, kennt das Substantiv noch, allerdings bereits mit dem Zusatz „antiq.“ (veraltet) versehen; laborar als Verb wird demgegenüber noch ohne weiteres für „arbeiten“ angeführt, es sei allerdings ein Begriff, der eher im militärischen Sprachgebrauch und im Bereich der Marine verwendet werde;3 laborioso ist arbeitsam (amigo de trabalhar). Etwas wichtiger sind sowohl beim Substantiv als auch beim Verb im Portugiesischen Formen, bei denen sich das b zum v verschoben hat: Lavor, lavrar.4 Lavrador ist vor allem ein Arbeiter, der Land kultiviert (cultiva as terras), oder jemand, der textile Handarbeiten (mit der Nadel) verrichtet, insbesondere als Näher- oder Stickerin in den weiblichen Formen lavradora oder lavradeira.5 Auch die spanischen Begriffe für den Ackerbau bleiben nah an labor ‒ unmittelbar in labor de los campos, nah aber auch noch in laborio und labranza6. Ähnliches gilt für den Bergbau. Er ist im Spanischen labor de las minas, und auch das Verb labrar (port. lavrar) wird neben der Landwirtschaft gerne im Bergbau gebraucht. Der Arbeiter wird im Spanischen auch als obrador bezeichnet, wichtiger noch ist aber die Variante obrero,7 welcher im Portugiesischen obreiro entspricht, wobei auch operário existiert.8 Operar, so das spanische Wörterbuch, finde sich (wie unser „Operieren“) mehr im Bereich der Medizin, gelegentlich aber auch noch im Bereich der 3
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Labrar ist im Kastilianischen des 18. Jh. noch jede Arbeit mit den Händen [qualquier obra de manos], vgl. Art. labrar. In: Diccionario de la lengua castellana, hg. von der Real Academia Española: Bd. 4. Madrid 1734. S. 344. Im Folgenden wird auf die gesonderte Angabe des Wörterbuchseintrags verzichtet, wenn dieser zum definierten Begriff exakt gleichlautend ist. Dem Substantiv entsprechend „fazer qualquer obra de mãos“. Der Art. lavor. In: Rafael Bluteau: Diccionario da lingua portugueza, hg. von Antonio Moraes Silva: Bd. 2. Lissabon 1789. S. 11 (als Digitalisat verfügbar auf: http://www.brasiliana.usp.br/ bbd/handle/1918/00299220#page/1/mode/1up, zuletzt abgerufen am 27.09.2015), spricht von „trabalho artificioso, de qualquer obra de mãos“, also von einer manuellen Arbeit, aber mit einer gewissen Kunstfertigkeit. Ebenso im Spanischen, vgl. Art. labor. In: Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 4. S. 432. Zur Verwendung in der Landarbeit vgl. frz. labourer; siehe hierzu Barbara von Gemmingen-Obstfelder: Semantische Studien zum Wortfeld ,Arbeit‘ im Französischen. Versuch einer Darstellung unter Berücksichtigung handwerklich-fachsprachlicher Texte des 13.–17. Jahrhunderts. Tübingen 1973. S. 5 et passim. Labranza ist nach dem Diccionario (wie Anm. 3). S. 343, auch die Bezeichnung für einen Ackerbau betreibenden Betrieb sowie Synonym für Agrikultur schlechthin. Verbformen sind labrar oder laborear (el campo). Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. Madrid 1737, gibt als Wurzeln operarius und operator an. Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 125, definiert obreiro schlicht als „trabalhador em obras“. Allerdings kennt er auch eine Substantivform obrador (ebd.). Operário (Bd. 2. S. 134) wird von ihm dagegen schlicht als Synonym für obreiro, trabalhador verwendet. Im 19. Jahrhundert wird operário wichtig in classe operária.
Arbeit und Status in den iberischen Königreichen und ihren amerikanischen Kolonien
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Arbeitswelt, wo es im Kastilianischen aber meist durch das sprachlich abgeschliffene obrar ersetzt ist.9 Außerhalb der Arbeitswelt besitzt obrar den Sinn von „(be)wirken“.10 In diesen Kontexten kommt das Verb im Portugiesischen weit häufiger vor. Obra ist in beiden Sprachen das hergestellte Werk,11 im Portugiesischen etwa in Wendungen wie „obras de seu officio de carpinteiro (Zimmermann)/sapateiro (Schuhmacher)/alfaiate (Schneider)/pedreiro (Steinmetz/Maurer)“. Das Substantiv obra bezeichnet nicht nur das fertige Werk, sondern, inbesondere im Plural, auch die Baustelle;12 obrage (span.) ist (vor allem) die (Textil-)Manufaktur. Zum Teil wird versucht, unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen unterschiedliche Arbeitsbegriffe zuzuordnen. Das im 13. Jahrhundert kompilierte und bis ins 18. Jahrhundert auch in den Kolonien maßgebliche kastilische Gesetzbuch, die Siete Partidas (2.20.5), sind bereits bemüht, labor und obra voneinander abzugrenzen.13 9 10 11
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Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 7: „Hacer alguna cosa, trabajar en ella. Viene de Latino Operari“ [Eine Sache machen, an ihr arbeiten. Vom Lateinischen Operari]. Anwendungsbeispiele ebd.: Ein Medikament wirkt, Jesus bewirkt mit seinem Tod die Erlösung der Menschheit. Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 125, spricht von producto, interessanterweise aber nicht so sehr von (körperlicher) Arbeit, sondern als Werk der Natur [effeito da natureza] oder als Ergebnis übernatürlicher Gnade [da Graça sobrenatural], also ähnlich wie in unserem Begriff Wunderwerk, oder der Kunst ([arte]; Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 6: „Qualquiera cosa que es hecha ó producida“ [irgendeine Sache, die gemacht oder produziert ist]. Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 6: „Se llama asimismo el edificio que se vá fabricando, ù la compostura que se hace en alguna casa“ [So nennt man das Gebäude, welches erstellt wird, oder die Umbau-/Renovierungsarbeiten, die an einem Haus ausgeführt werden.]. Real Academia de La Historia (Hg.): Las Siete Partidas del Rey Don Alfonso el Sabio, 3 Bde., Madrid 1807 (als Digitalisate verfügbar auf: http://www.cervantesvirtual.com/ obra/las-siete-partidas-del-rey-don-alfonso-el-sabio-cotejadas-con-varios-codicesantiguos-por-la-real-academia-de-la-historia-tomo-2-partida-segunda-y-tercera--0/, zuletzt aufgerufen am 27.09.2015). Die Siete Partidas sind in die sieben namengebenden Hauptabschnitte (Partidas) gegliedert. Ein Hauptabschnitt ist in Titel (titulos) eingeteilt, ein Titel enthält als kleinste Einheit Gesetze (leyes). 2.20.5 ist somit nach der hier gewählten Zitierweise zu lesen als das fünfte Gesetz im zwanzigsten Titel des zweiten „Buches“ (Partida). Labor, so die Ley 5, sei eher eine Tätigkeit unter freiem Himmel, bei welcher der Arbeiter Kälte und Hitze ausgesetzt sei, obra könne in überdachten Räumlichkeiten ausgeübt werden wie zum Beispiel das Handwerk des Gold-, Silber- oder Waffenschmieds. Solche Handwerksberufe werden ebd. als meesteres bezeichnet, solche Handwerker seien menestrales, die Arbeiter unter freiem Himmel dagegen labradores. Doch alle diese Tätigkeiten erforderten, so die zitierte Ley, ein gewisses Maß an maestria und arte.
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Trabajo bzw. trabalho werden gegenüber den vorangehenden Begriffen im allgemeinen Sprachgebrauch immer wichtiger. Der entsprechende Eintrag im Diccionario enthält den Hinweis auf das mittellateinische tri- oder trepalium, das aus drei Hölzern gefertigte Gerüst zur Bändigung von Pferden, aber wohl auch zur Auspeitschung oder sonstigen Folterung.14 Die Grundbedeutung im 18. Jahrhundert ist körperliches Arbeiten bzw. die Beschäftigung an einem Werk, auf einer Baustelle; die Bedeutungen der Schwierigkeit (dificultad), des zu überwindenden Hindernisses (impedimento), der Mühe, der Beschwerlichkeit, des Verdrusses (molestia), der Drangsal oder Pein (tormento), der mit ihr verbundenen Kosten bzw. eingesetzten Energie (costa) oder sogar Beeinträchtigung, Schädigung (perjuicio) und des Unglücks (sucesso infelíz) schwingen allerdings mit.15 Trabajador wird häufig für einen Tagelöhner auf dem Lande gebraucht (el que trabaja por su jornal en el campo). Fraglich ist, ob auch schon ein gewisser Berufsbegriff vorhanden oder zumindest im Entstehen begriffen ist.16 Ministerio (sp. u. port.) bezeichnet (neben dem Amt im Staatsdienst) im 18. Jahrhundert immer noch auch den Handwerksberuf,17 auch in den Formen menester18/mester (vgl. frz. métier). Der häufigere Quellenbegriff hierfür ist allerdings wohl of( f )ício. Of( f )icial ist der Geselle19, maestro/mestre der Meister, 14 Marie-Dominque Chenu/Hans Joachim Krüger: Art. Arbeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel. Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971. Sp. 480–487. Zum Vergleich mit frz. travail vgl. Gemmingen-Obstfelder: Semantische Studien (wie Anm. 5). S. 103. 15 Im Plural bedeutet nach Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 6. S. 312, trabajos auch Mangel, Misere, Armut, Bedürftigkeit. Nach Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 478, ist trabalho ein „exercicio corporeo, rustico, ou mecanico“, also eine mit körperlicher Verausgabung verbundene mechanische oder ländliche Tätigkeit. 16 Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 395, definiert professión (heute: profesión) nicht ganz in die Richtung unseres Berufsbegriffes. Professión ist weiter, nämlich „[e]l modo de vida que cada uno tiene, y la usa y exerce publicamente“ [die Lebensweise, die jemand hat, pflegt und öffentlich ausübt]; Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 250, definiert fast wortgleich, macht aber einerseits noch deutlicher, dass dieser Lebensstil mit dem Stand [estado] zusammenhängt, und fügt andererseits hinzu, dass profissão auch Syonym für offício sein könne, womit der Weg zum Berufsbegriff bereits deutlicher eingeschlagen ist. 17 Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 4. S. 572, spricht von „qualquier exercicio ó trabajo manuál“, nahezu wörtlich Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 84. 18 Umgangssprachlich bezeichnen die Handwerker auch ihre Werkzeuge so. Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 4. S. 540. 19 Of( f )ício ist ein Begriff, in dem in Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 21, auch die sehr viel weitere Bedeutung des Werks mitschwingt, das ein jeder verrichten muss und mit dem er beschäftigt ist, je nach seiner Position und seinem Stand. Nach Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 129, ist dieser Geselle [official] „o homem que faz algum officio manual, e mecanico, e talvez se contrapõem ao mestre“; officina ist
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servente (port.) der Gehilfe.20 Zu notieren ist für den körperlich Arbeitenden auch der Begriff des mecánico, für die körperlich-handwerkliche Arbeit mechánica/mecánica.21 Arte scheint sich im Portugiesischen des 18. Jahrhunderts schon von den Handwerken wegzubewegen und häufiger für medizinische und künstlerisch-musische Tätigkeiten (arte de cirurgia, arte de sangria [also des Aderlasses], arte de pintura, „arte de tocar violla, psalterio e alguma couza de flauta“22) gebraucht zu werden, Bluteau gibt arte (mecáncia) aber noch als Synonym für offício und manufactura an.23 Indústria kann nach Bluteau Synonym für arte sein bzw. für ingenho, das Geschick bei der handwerklichen Herstellung, aber auch im Handel;24 als Verb, industriar, ist es die Erziehung hierzu. Für das Beschäftigungsverhältnis existieren ocupación/occupação oder empleo/ emprego (vgl. frz. emploi).25 Die Bezahlung einfacher freier Lohnarbeit erfolgt regelmäßig tageweise, der Lohn wird daher als jornal bezeichnet, ein solcher Tagelöhner als jornalero/jornaleiro. Salario ist dagegen nach Bluteau das Gehalt, welches man den „mestres das boas artes“ (Meistern der schönen Künste), Amtsinhabern und Soldaten zahlt.26 Personen in einem solchen bezahlten Beschäftigungsverhältnis sind folglich zu Bluteaus Zeiten schon (As)salariados.27
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die Werkstatt; in Academia: Diccionario. Bd. 5. S. 21 heißt es, oficial sei derjenige, der „no ha passado a ser Maestro“. Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 396. Vgl. Ramon Llull: Arbol de la Ciencia. Brüssel 1663. S. 412 f. Die Beispiele entstammen portugiesischen und brasilianischen Zivilprozessakten aus dem 18. Jahrhundert. Im letzten Zitat werden die musikalischen Fähigkeiten des in Portugal lebenden Sklaven Joseph Narciso beschrieben; vgl. Statusprozess desselben, vertreten durch die Bruderschaft Nossa Senhora do Rosário dos homens pretos, gegen seinen Eigentümer, Dr. Manoel Francisco de Carvalho, aus dem Jahr 1777 (Schreiber: José Teixeira da Costa), Arquivo Nacional Torre do Tombo (ANTT), Lissabon, Bestand: Feitos Findos, Fundo Geral, Bündel (Maço) J 2941, fol. 42. Auch Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 1. S. 422, kennt arte als Bezeichnung für „los oficios de manos“. Der artífice, der ebd. S. 426, noch in erster Linie ein „Maestro en alguna de las artes mecánicas ò manuales“ ist, scheint bei Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4) schon weniger ein Handwerksmeister zu sein; eine Variante ist artesano/ artezão, ein Begriff, der im 18. Jahrhundert in beiden Sprachen noch nicht so sehr wie heute den Kunsthandwerker vom „einfachen“ Handwerker abgrenzt. Ähnlich in Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 4. S. 257: Destreza, habilidad, ingénio. Die Arbeitssoziologin Noêmia Lazzareschi datiert den Gebrauch von emprego in diesem Sinn im Portuguiesischen erst auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Noêmia Lazzareschi: Trabalho ou Emprego? São Paulo 2007. S. 10. Nach Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 6. S. 22, ist salario vor allem der Lohn für Hausangstellte bzw. für Beauftragte. Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 1. S. 128 bzw. Bd. 2. S. 368; Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 6. S. 22.
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Eine Abgrenzung unfreier von freier Arbeit lässt sich am ehesten an den Entwicklungen aus servus/servire festmachen, obwohl selbst hier keine ganz strikten Verwendungsgrenzen bestehen. Das kastilianische siervo ist zwar recht ausschließlich dem Sklaven vorbehalten, servo im Portugiesischen aber schon offener; es wird nach Bluteau auch synonym für serviente oder servidor sowie für criado gebraucht.28 Servir bezeichnet, ähnlich dem deutschen Dienen (in Gottesdienst, Staatsdienst, Kriegsdienst), einerseits Tätigkeiten gegenüber Gott, im Staat und in der Armee, ist andererseits aber, abgesehen von freien Hausdienern, fast ausschließlich unfreien Beschäftigungen vorbehalten29, wobei das umfassende Abhängigkeitsverhältnis in der Bedeutung mitschwingt, die ständige Verfügbarkeit zu inhaltlich undefiniertem Tun; in Wendungen wie „servir, como seo escravo“ [als sein Sklave zu dienen],30 „servir no Estado de Escravidão perpetua“ [im Stand ewiger Sklaverei zu dienen],31 oder in substantivischer Form: „[P]restar serviços ao seo Senhor“ [seinem Herrn Dienste leisten],32 „prestarlhe os serviços porprios da sua escravidão“ [ihm die der Sklaverei gemäßen Dienste zu leisten].33 Teilweise wird serviços (ähnlich obras) im Sinne von operae servorum verwendet. Der römischrechtliche Fachausdruck operae (Tageseinheiten unfreier Arbeit) wird auch mit obras übersetzt, etwa in den Formulierungen „huma especie de usofructo, a que os Romanos chamarão operae servorum = obras de escravos“34 [eine Art von Nießbrauch, die die Römer operae servorum = Dienste von Sklaven, nannten] oder „estava na posse da escrava e do livre e honesto uzo do seu serviço, e obras, ou trabalho“ [er befand sich im Besitz der Sklavin und der uneingeschränkten und ehrbaren Nutzung ihres Dienstes, ihrer Verrichtungen oder ihrer Arbeit].35 28 Criado kann man wörtlich in etwa mit „der Großgezogene“ übersetzen. Das Wort spiegelt also die soziale Praxis wider, dass viele Abkömmlinge armer Familien schon im Kindesalter zu wohlhabenden Familien in Dienst gegeben wurden. 29 Nach Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 6. S. 101, ist es das Ausführen von „ministerios pertenecientes à la persona, casa ò hacienda de alguno, como criado, ò siervo suyo“. 30 Arquivo Histórico da Casa Setecentista de Mariana-Iphan, 2º ofício, Zivilprozess 291, 7056 aus dem Jahr 1810, fol. 3v, Antrag des Klägers, den in Freiheit befindlichen Beklagten dazu zu verurteilen, ihm wieder als Sklave zu dienen. 31 Arquivo Histórico da Casa Setecentista de Mariana-Iphan, 2º ofício, Zivilprozess 319, 7629 aus dem Jahr 1851, fol. 11 (aus der Klausel einer Freilassungsurkunde). 32 Arquivo Histórico da Casa Setecentista de Mariana-Iphan, 2º ofício, Zivilprozess 380, 10218 aus dem Jahr 1809, fol. 13v. 33 Wie Anm. 31. 34 Arquivo Judiciário, Museu da Inconfidência, Anexo III, Casa do Pilar, Ouro Preto, Minas Gerais, 1º ofício, Zivilprozess 171, 2334 aus dem Jahr 1822, fol. 41r. 35 Arquivo Nacional Torre do Tombo (ANTT). Lissabon. Bestand: Feitos Findos, Fundo Geral, Zivilprozess gegen Manoel Luis Pedro im Bündel (Maço) J 2927, beginnend im Jahr 1778, fol. 15r.
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Eine gewisse Übergangszone zwischen den Begriffen für freies und unfreies Arbeiten reflektiert die soziale Wirklichkeit. Vor allem in Städten bieten Sklaven ihre Handwerksleistung oder Arbeitskraft wie Tagelöhner an. Im Außenverhältnis erfolgen Abwicklung und Bezahlung freier und unfreier Arbeit nicht selten unterschiedslos. Wie sein freies Pendant wird der unfreie Handwerker vom Auftraggeber zumeist für sein Werk bezahlt, als Tagelöhner muss er, escravo de ganho,36 seine Arbeitskraft „vermieten“: alquilar-se bzw. alugar-se.37
1 Theologie und politische Ökonomie als semantische Referenzmuster Theologisch wurde die Notwendigkeit zu arbeiten in der christlichen Tradition mit dem Sündenfall begründet, dabei eher nicht negativ als Strafe konnotiert, sondern positiv als Buße.38 Warum einige mehr „büßen“ sollten als andere, erklärten die Theologen nicht. Vielmehr propagierten sie die „Heiligung der Arbeit“ als eine Überhöhung derjenigen, die arbeiteten, so etwa in einer Predigt Antônio Vieiras, gehalten 1633 vor Sklaven eines Zucker-engenho,39 in der er ihre „süße Hölle“ zur imitiatio Christi stilisierte: In einem Engenho seid ihr Nachahmer des gekreuzigten Christus: Imitatoribus Christi crucifixi, denn ihr leidet auf eine sehr ähnliche Art, was der Herr selbst an seinem Kreuz, in all seiner Passion, erlitt. Sein Kreuz war aus zwei Balken gebildet, eures in einem Engenho aus drei. Auch dort fehlte das Rohr nicht, denn es kam zweimal in der Passionsgeschich36 Im spanischsprachigen Bereich ganador/a, vgl. José Antonio Saco: Historia de la esclavitud de la raza africana en el nuevo mundo y en especial en los paises americo-hispanos. Band 1. Habana 1938. S. 295. 37 Negro/Gomes: Senzalas (wie Anm. 1). S. 226. Luíz Felipe Alencastro: Proletários e escravos: imigrantes portugueses e cativos africanos no Rio de Janeiro, 1850–1872. In: Novos Estudos Cebrap, 21, 1988. S. 30–56; Marilene Rosa Nogueira da Silva: Negro na rua: a nova face da escravidão. São Paulo 1988; Leila Mezan Algranti: O feitor ausente: estudos sobre a escravidão urbana no Rio de Janeiro (1808–1822). Petrópolis 1988. 38 Vgl. Chenu/Krüger: Arbeit (wie Anm. 14). Sp. 481: „Sühne- und Läuterungswerk“. 39 Engenho bezeichnet die technische Anlage zur Zuckerherstellung und somit diejenigen Plantagen, die über eine eigene solche Einrichtung verfügen. Nach André João Antonil [= Andreoni, Giovanni Antonio]: Cultura e Opulência do Brasil por suas drogas e minas. São Paulo 2007 [Erstausgabe Lissabon 1711], sind diese Anlagen so benannt, weil sie große Erfindungen des menschlichen technischen Geistes seien [„uns dos principais partos e invenções do engenho humano“].
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te vor: einmal als Spottzepter dienend, einmal um ihm den gallegetränkten Schwamm zu reichen. Das Leiden Christi bestand aus Nächten ohne Schlaf und aus Tagen ohne Rast, und so sind eure Nächte und eure Tage. Christus entkleidet und ihr ohne Kleidung: Christus ohne Speise und ihr hungrig: Christus in allem misshandelt und ihr misshandelt in allem. Die Eisen, die Fesseln, die Peitschhiebe, die Wunden, die Schimpfnamen, aus all dem besteht eure Nachahmung, und wenn sie von Duldsamkeit begleitet ist, wird sie das Verdienst des Martyriums erhalten.40
Ob hierin eine an die Senhores adressierte Kritik der Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Unfreien zu sehen ist, wird unterschiedlich beurteilt.41 Jedenfalls richtete sich die Hauptbotschaft an die Sklaven selbst, deren rhetorische Sublimation zu Auserwählten sie zum Erdulden ihres Schicksals animieren sollte. Daneben sollte Arbeit der Sündenvermeidung dienen. Müßiggang (ociosidade) als ein der Sünde eröffneter Freiraum bildete das Zentralantonym zur Arbeit, etwa bei Lull, Bernardez oder bei dem Jesuiten João Pereyra, der den Müßiggang als eine der gefährlichsten Krankheiten („huã das mais perigozas doenças“) bezeichnete.42 Die fleißige Ameise diente 40 „Em um Engenho sois imitadores de Cristo crucificado: Imitatoribus Christi crucifixi, porque padeceis em um modo muito semelhante o que o mesmo Senhor padeceu na sua Cruz, em toda a sua Paixão. A sua Cruz foi composta de dois madeiros, e a vossa em um Engenho é de três. Também ali não faltaram canas, porque duas vezes entraram na Paixão: uma vez servindo para o cetro de escárnio, e outra vez para a esponja em que lhe deram o fel. A Paixão de Cristo parte foi de noite sem dormir, parte foi de dia sem descansar, e tais são as vossas noites e os vossos dias. Cristo despido, e vós despidos: Cristo sem comer, e vós famintos: Cristo em tudo maltratado, e vós maltratados em tudo. Os ferros, as prisões, os açoites, as chagas, os nomes afrontosos, de tudo isto se compões a vossa imitação, que se for acompanhada de paciência, também terá merecimento de martírio.“ Sermão XIV do Rosário: Os três filhos de Maria, abgedruckt in: Antônio Vieira: Sermões, hg. von Alcir Pécora. Bd. 2. São Paulo 2000. S. 635–58; vgl. Ronald Ferreira da Costa: Latim e retórica nos sermões de Vieira: o Sermão XIV do Rosário. In: Classica [Brasilien] 20, 2007. S. 261–269. 41 Fábio Eduardo Cressoni: Educação pela palavra: a pedadogia da escravdião nos sermões de Antônio Vieira. In: Comunicações 17, 1 (2010). S. 55–69, hier: S. 63 (online: www.metodista.br/revistas/revistas-unimep/index.php/comunicacao/article/viewFile/164/452, zuletzt aufgerufen am 27.09.2015), beispielsweise, gesteht dem Prediger durchaus zu, dass er die Bedingungen der Sklavenhaltung kritisieren wollte. Amarilio Ferreira Jr./Marisa Bittar: A pedagogia da escravidão nos Sermões do Padre Antonio Vieira. In: Revista brasileira de Estudos pedagógicos 84, 206/207/208, 2003. S. 43–53, wollen den Jesuiten eher in seiner systemstabilisierenden Funktion sehen. 42 Vgl. Conze: Arbeit (wie Anm. 2). S. 160; Llull: Arbol (wie Anm. 21). S. 593 [„la ociosidad es el antecedente de gran culpa“]; P. Manoel Bernardez: Pratica da Dominga Quarta da Quaresma. In: Sermoens e Praticas, Primeyra Parte (obra posthuma). Lissabon 1711: Mit der Brotvermehrung habe uns Jesus das Arbeiten gelehrt, und die Arbeit
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Pereyra hingegen als Vorbild („porque a formiga com o seo cuidado nos ensina fogir a ociozidade“), und er verwies als Ermahnung gegen die Faulheit auch auf entsprechende Stellen im Neuen Testament (z. B. Matthäus 25,1543) sowie bei Seneca44. Auch der Jesuit Jorge Benci wies der Arbeit inbesondere bei Sklaven eine religiöse, aber auch schon ins Innerweltliche gewendete Präventivfunktion zu: „Da die Sklaven verdienen müssen, was sie essen, ist es gerecht, dass sie arbeiten; und da es gerecht ist, dass sie arbeiten, ist es auch richtig, dass der Herr sie beschäftigt und sie nicht müßiggehen lässt.“ „Noch viel weniger dürfen die Herren den Sklaven Müßiggang erlauben, damit sie nicht aufmüpfig gegen Gott werden, indem sie sich Lastern und Sünden hingeben. Die Müßigkeit ist die Mutter aller Leichtsinnigkeiten, und vor allem der schlimmsten, welche die Laster sind […]. Die Müßigkeit ist die Schule, in der die Sklaven lernen, lasterhaft zu sein und Gott zu beleidigen […]. Und da die Schwarzen für das Gebiet der Bosheit eine unvergleichlich bessere Befähigung besitzen als die Weißen, verlassen sie die Klasse des Müßiggangs nach weniger Zeit und mit weniger Mühen als große Lizenziaten des Lasters.“45
Weltliche Texte, die das Thema der politischen Ökonomie berührten, zehrten noch bis zum Ende der Kolonialzeit und darüber hinaus von diesen religiös-biblischen Semantiken, wenn es um das Lob der Arbeit ging.46 Der zwanzigste Titel (titulo) des zweiten Abschnitts (partida) der Siete Partidas ordnete die Arbeit in einen biblischen Diskurs des „Wachset und mehret euch“ ein,47 der harmonisch mit aristotelischem
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sei notwendig, um das tägliche Brot zu verdienen, während den Müßiggängern Armut und Hunger drohe. João Pereyra: Exhortação XV. A ociozidade ha-se de fugir [zu Spr. 6,6]. In: Exhortaçoens Domesticas. Coimbra 1715. S. 231–245, hier: S. 233. Ebd. S. 236 (das Gleichnis von den Talenten). Ebd. S. 235 zitiert Epist. 82.3: Otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura. „Devendo pois os escravos merecer o que comem, justo é que trabalhem; e sendo justo que trabalhem, justo é também que o senhor os ocupe e os não deixe andar ociosos […].“ „Muito menos devem consentir os senhores ócio aos escravos, para que se não façam insolentes contra Deus, desmandando-se em vícios e pecados. É o ócio mãe de todas as leviandades e ainda das piores, que são os vícios […].“ „O ócio é a escola onde os escravos aprendem a ser viciosos e ofender a Deus […]. E como os pretos são sem comparação mais hábeis para o gênero de maldades que os brancos, eles com menos tempo de estudo saem grandes licenciados do vício na classe do ócio.“ Jorge Benci: Economia cristã dos senhores no governo dos escravos; deduzida das palavras do capítulo 33 do Eclesiástico: Panis et disciplinae et opus servo. São Paulo 1977 [Erstausgabe: Rom 1705]. S. 174. Schon der Titel zeigt diesen fließenden Übergang zwischen eher geistlichen und eher weltlichen Diskursen: Diogo Guerreiro Camacho de Aboym: Escola Moral, Politica, Christãa, e Juridica. 3. Auflage Lissabon 1759. Etwa in Academia: Las Siete Partidas (wie Anm. 13). Ley VI (Gesetz 6).
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Gedankengut verknüpft wurde. Eine strikte Abgrenzung zwischen religiöser und innerweltlicher Funktion der Arbeit gab es aber auch schon in biblischen Texten nicht, etwa in Stellen wie „Du wirst dich nähren von deiner Hände Arbeit; wohl dir, du hast es gut“ (Psalm 128,2) oder: „Lässige Hand macht arm; aber der Fleißigen Hand macht reich“ (Sprüche 10,4).48 Das übergeordnete Argument lautete, dass erst zielgerichtete Aktivität ein Gemeinwesen konstituiere und bestehende Gemeinwesen nur ständige Arbeit vor ihrem Verfall bewahre. Noch sehr stark an die Siete Partidas angelehnt, betonte ein 1801 in Madrid erschienenes Werk zur Staatslehre die Notwendigkeit, den Müßiggang (ocio) zu bekämpfen.49 Ganz parallel zum religiösen Diskurs, in dem die Arbeit als präventiv gegen das Sündigen galt, sollte sie im innerweltlichen Diskurs kriminalpräventiv bzw. im weiteren Sinne sozialdisziplinierend wirken. Arbeit halte insbesondere die Sklaven, so Benci, nicht nur vom Sündigen ab, sondern auch von Freiheitsstreben und Rebellion: „Damit sie nicht aufmüpfig werden und damit sie nicht Wege und Weisen finden, um sich von der Unterwerfung unter ihre Herren zu befreien, indem sie rebellisch und widerspenstig werden […]. Dies ist also das beste Mittel, um die Sklaven unterworfen und domestiziert zu halten […]. Die Arbeit des Sklaven ist die Ruhe des Herrn; denn während der von der Arbeit erschöpfte Sklave nach Erholung strebt, plant oder betreibt er keine Rebellion […].“50
48 Lat.: „labores manuum tuarum quia manducabis: beatus es et bene tibi erit“; „egestatem operata est manus remissa, manus autem fortium divitias parat“. Pontificia commissio pro nova Vulgata editione (Hg.): Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum editio: Sacrosancti Oecomenici Concilii Vaticani II. ratione habita, Rom 1998. S. 855 bzw. S. 877. 49 Ramon Lázaro de Dou, y de Bassóls: Instituciones del Derecho Público General de España con Noticia del Particular de Cataluña y de las principales Reglas de Gobierno en qualquier Estado: Band 4. Madrid 1801. S. 370; zeitnah und ähnlich für Portugal etwa Jozé Verissimo Alvares da Silva: Memoria – Das verdadeiras cauzas porque o Luxo tem sido nocivo aos Portuguezes. In: Memorias económicas da Academia Real das Sciencias de Lisboa. Band I. Lissabon 1789. S. 207–222 zum Vergleich mit der Parasitentopik im 20. Jahrhundert: Sven Korzilius: „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln u. a. 2005, passim. 50 „Para que se não façam insolentes, e para que não busquem traças e modos com que se livrem da sujeição de seu senhor, fazendo-se rebeldes e indômitos […]. O trabalho pois é o melhor remédio para trazer os servos sujeitos e bem domados […]. O trabalho do escravo é descanso do senhor; porque enquanto o servo fatigado do serviço […] aspira a algum repouso, não cuida, nem trata de se rebelar […].“ Benci: Economia (wie Anm. 45). S. 175, eigene Übersetzung.
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Eine zur religiösen Bußfunktion analoge, explizit punitive Funktion von Arbeit ist auf den ersten Blick in den innerweltlichen Texten weniger prominent. Trotz der üblichen etymologischen Herleitung der Begriffe trabajo oder trabalho von tripalium ist Arbeit nicht schlechthin als Strafe konnotiert,51 und zur Strafmaßnahme wird sie meist nur unter verschärften Bedingungen, etwa bei der Galeerenstrafe. Wo Staatlichkeit erst langsam konstituiert wurde, galten diese Erwägungen besonders. Für den Juristen Juan de Solórzano Pereira (1575–1655) hatte erst die spanische Präsenz die indigene Bevölkerung Amerikas aus ihrer natürlichen Muße (ocio) durch „enseñar“ und „industriar“ in gesellschaftliches und politisches Leben überführt: Und die Wohltat, die die Neue Welt selbst durch die Entdeckung erfahren hat, ist nicht geringer zu schätzen [als die Vorteile, die die Alte Welt davon hat]; denn abgesehen vom Licht des Glaubens, welches wir seinen Bewohnern gegeben haben, haben wir sie zum gesellschaftlichen und politischen Leben geführt, ihre Barbarei ausgetrieben und ihre wilden Sitten in menschliche verwandelt und ihnen so viele nützliche und notwendige Dinge übermittelt, und ihnen die wahre Kultivierung des Bodens, das Errichten von Häusern, das Leben in Dörfern, Lesen und Schreiben und viele andere Fähigkeiten beigebracht, die ihnen vorher völlig fremd waren.52
Imperiale Größe ohne Staatsbankrott erforderte, dass Kolonien verursachte Kosten selbst erarbeiteten. Entgegen gängigen Deutungen des neuzeitlichen Kolonialismus als einem vorrangig von privatem Gewinnstreben dominierten Unternehmen betonten politische Traktate die imperiale Komponente der Herrschaft über Gebiete und Untertanen; so rechtfertigte der Alvará, also ein königlicher Erlass, vom 23. Dezember 1723, die Sklaveneinfuhr nach Brasilien mit dem Erhalt und der Vergrößerung des Reiches.53
51 Die Bedeutung der penalidad [Strafe] schwingt allerdings nach Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 6. S. 312, mit. 52 „Y no es menos estimable el beneficio de este mesmo descubrimiento, havido respecto al proprio Mundo Nuevo […]; […] pues de mas de la luz de la Fé, que damos à sus habitadores […] les avemos puesto en vida sociable, y politica, desterrando su barbarismo, trocando en humanas sus costumbres ferinas, y comunicandoles tantas cosas, tan provechosas, y necessarias […], y enseñandoles la verdadera cultura de la tierra, edificar casas, juntarese en Pueblos, leer, y escribir, y otras muchas Artes, de que antes totalmente estaban agenos“ ( Juan de Solórzano Pereira: Política. Tom. 1, lib. 1, cap. 8, n. 7, Madrid 1736). 53 „[C]onservação dos meus Reinos e aumento das Conquistas“, hier zitiert nach Silvia Hunold Lara (Hg.): Legislação sobre escravos africanos na América portuguesa. Madrid 2000. S. 264–267.
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Das Privatökonomische hatte keine den religiösen und politisch-ökonomischen Begründungsmustern vergleichbare Deutungsmacht. Wir haben es daher mit einem Kapitalismus avant la lettre zu tun, der seine Hauptmotivation des kolonialen Unternehmens verschwieg. Arbeit diente den Traktaten zufolge der Erhaltung (sustento), Gewinnstreben aber war negativ konnotiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass die Überarbeitung vieler der Akkumulation durch wenige diente, deutete sich allenfalls zaghaft an. Solórzano, der einerseits die Krone gegen den Vorwurf der Gier verteidigte, verurteilte andererseits die Ausbeutung Indigener zur privaten Bereicherung der Spanier.54
2 Die Differenzierung von Arbeitsbegriffen nach ökonomischen Sektoren: Landwirtschaft versus „Goldhunger“ Abgesehen von der Überhöhung besonders „höllischer“ Tätigkeiten wegen ihres gesteigerten Askesewerts waren die meisten körperlichen Arbeiten aus moraltheologischer Sicht gleichwertig, wobei jedoch der Landwirtschaft besondere Sympathie galt.55 Auch weltliche Traktate und die Gesetzgebung schenkten der Landwirtschaft besondere Beachtung, wobei oft das antike Rom als Vorbild diente.56 Der Boden wurde in den Müßigkeitsdiskurs einbezogen – die Rede von „terras ociosas“, brachliegendem Land, zog sich durch die iberoamerikanische Geschichte von der Reconquista bis zum Ende der Kolonialzeit.57 Die Siete Partidas lobten die Landarbeit, und die portugiesische 54 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 1, cap. 12, n. 6, 7. 55 Siehe als Ausgangspunkt Sir. 7,16: „Non oderis laboriosa opera et rusticationem ab Altissimo creatam“ (In der Lutherübersetzung: „Verachte die beschwerliche Arbeit nicht und den Ackerbau, den der Höchste gestiftet hat“). 56 Neben Academia: Las Siete Partidas (wie Anm. 13) 2.20.4 etwa Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 9, n. 10 und 11: „[L]os Romanos la estimaron tanto, que en ella ponian su mayor riqueza […].“ „[E]n la abundancia de las comidas, que de la agricultura proceden, consiste el lustre, poblacion, y conservacion de los Reynos, que en faltando, se yerman, y reducen à soledades: y […] los labradores son los pies, como dixo Plutarco, escribiendo à Trajano, que sustentan todo el peso de la Republica.“ [„Die Römer schätzen sie [die Landwirtschaft] so sehr, dass sie in sie ihren größten Reichtum investierten […]. In der Fülle der Nahrungsmittel, die aus der Landwirtschaft hervorgehen, bestehen Glanz, Bevölkerung und Erhaltung der Königreiche, während sie sich, wenn dies fehlt, entvölkern und zu Einöden werden: und die Bauern sind die Füße, wie Plutarch sagte, als er an Trajan schrieb, die das ganze Gewicht der res publica tragen“]. 57 Belege für die Rede von den zu bearbeitenden terras ociosas: João Bautista de Castro: Mappa de Portugal, antigo e moderno. Lissabon 1762. S. 3; Joaquim de Santa Rita: Academia dos humildes, e ignorante no sitio de N. S. da Consolação sua protectora,
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Sesmaria-Gesetzgebung sollte sie fördern, dennoch erlebte sie immer wieder Krisen. Einer landwirtschaftsorientierten Politik musste es zum langfristigen Ziel werden, auch die „Neue Welt“ zu kultivieren. Zu arbeiten bedeutete in Amerika vor allem, das Land zu erschließen, also oft sehr großflächig zu entwalden. Im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert fand eine Rezeption physiokratischen Gedankenguts statt.58 Noch spät machte die portugiesische Krone mit brachialen Wirtschaftslenkungsmaßnahmen ihre derart geprägte Prioritätensetzung für die Kolonie deutlich. Ein erst 1808 revidierter Alvará vom 5. Januar 1785 ordnete die Schließung von Textilmanufakturen in Brasilien mit der Begründung an, dass die Bindung von Arbeitskräften die Landwirtschaft und den Bergbau verhindere. Wahrer und solider Reichtum liege, so der Alvará, in den Früchten und Erzeugnissen der Erde („consistindo a verdadeira e sólida riqueza nos frutos e produções da terra“), weshalb das Land „colonos e cultivadores“ statt „artistas e fabricantes“ brauche.59 Kritische Autoren wie Frei Vicente do Salvador warfen den Kolonisatoren beim Umgang mit dem Land allerdings schon recht früh fehlende Nachhaltigkeit vor; man verhalte sich nicht wie der wahre Eigentümer, sondern eher wie ein Nießbraucher, der für kurzfristige Vorteile eine langfristige Schädigung der Böden in Kauf nehme.60 Schon die frühen conquistadores trieb der Goldhunger an,61 und den Bullionisten war die Suche nach Edelmetallen selbstverständlich; so selbstverständlich wie die Agrikultur, mit der Solórzano sie gleichsetzte.62 „Kultivierung des Landes“ bedurfte dagegen der Konkretisierung. Die Landwirtschaft musste Gewinn, also cash crops wie
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dialogo entre hum theologo, hum letrado, hum filosofo, hum ermitão, hum estudante, e hum soldado, que a todos os seus anjos, e santos advogados. Lissabon 1762. Bd. 1. S. 170; José Verissimo Alvares da Silva: Memoria Historica Sobre a Agricultura Portugueza considerada desde o tempo dos Romanos até ao presente. In: Memorias economicas da Academia Real das Sciencias de Lisboa: Band V. Lissabon 1785. S. 194–256, hier: S. 195, S. 219 f. Zur gesamteuropäischen Einordnung vgl. Chenu/Krüger: Arbeit (wie Anm. 14). Sp. 483–484. Als Beispiele aus dem portugiesischen Raum siehe neben den in Anm. 56 und 57 Angeführten auch José Joaquim da Cunha de Azeredo Coutinho: Ensaio Economico sobre o Commercio de Portugal e suas Colonias. 2. Aufl. Lissabon 1816. Der Erlass ist abrufbar auf den Seiten des brasilianischen Nationalarchivs: http://www.historiacolonial.arquivonacional.gov.br/cgi/cgilua.exe/sys/start.htm? infoid=978&sid=107, zuletzt aufgerufen am 28.09.2015. Die Kolonisatoren gebrauchten das Land [terra], „não como senhores, mas como usufrutuários, só para a desfrutarem e a deixarem destruída“. Frei Vicente do Salvador: História do Brasil [Manuskript aus dem Jahr 1627]. São Paulo/Rio de Janeiro 1918. S. 16. „Io no viene aqui para cultivar la tierra como un labriego, sino para buscar oro“, schreibt Hernán(do) Cortés (hier zit. nach Paulo Prado: Retrato do Brasil. Ensaio sobre a tristeza brasileira. 2. Aufl. São Paulo 1981). Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 9, n. 15.
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Zucker (und später Kaffee) produzieren.63 Aufgrund der mit der Entdeckung von Goldvorkommen im heutigen Minas Gerais Ende der 1690er Jahre einsetzenden Konkurrenz um Arbeitskräfte wurde für Brasilien plötzlich die Frage „Gold oder Zucker?“ virulent. Die Zuckerproduzenten trauten der Politik Lösungskompetenz zu, doch die Erfolge waren bescheiden. Ein Gutachten des portugiesischen Überseerats (Consulta do Conselho Ultramarino) vom 1. September 1706 beklagte den Abzug der Sklaven aus der Plantagen- in die Minenregion und die Wirkungslosigkeit gesetzlicher Maßnahmen dagegen.64 Die Goldsuche genoss im Gegensatz zur Landwirtschaft oft nicht den Ruf, wirkliche Arbeit zu sein;65 in Moraltraktaten standen die Goldsucher zuweilen auf der niedrigen Stufe von Glücksspielern. Die koloniale Exportproduktion beherrschte das engenho de açucar (span. ingenio de azucar), um das sich Produzenten ohne Mühlen gruppierten: lavradores (span. labradores) mit ihren lavouras. Daneben gewann der koloniale Binnenmarkt Aufmerksamkeit, vor allem die Versorgung mit Getreide und Fleisch. In Estancias zur Viehzucht (crianza) betrieben vor allem im spanischsprachigen Süden Lateinamerikas pastores die guarda de los ganados. Neben der großen Plantage ist die Bedeutung bäuerlicher Kleinbetriebe für ein Panorama der Arbeitswelten in Brasilien nicht zu unterschlagen.66
3 Der Zusammenhang zwischen Arbeitsbegriffen und gesellschaftlicher Differenzierung In das Korsett des Drei-Stände-Modells mit defensores, oradores und labradores,67 das den den Siete Partidas und den Ordenações Afonsinas zugrunde lag, passte die immer differenziertere frühneuzeitliche Gesellschaft nur bedingt.68 Von den Erträgen seines 63 Zu den Anfängen des brasilianischen Zuckers siehe Basílio de Magalhães: O açúcar nos primórdios do Brasil colonial. Rio de Janeiro 1953. 64 Ediert in Annaes da Bibliotheca Nacional do Rio de Janeiro 39, 1917. S. 301 f. 65 Vgl. dazu eine Bemerkung Basílio Teixeira de Savedras, wiedergegeben bei Laura de Mello e Souza: Declassificados do Ouro. A Probreza Mineira no Século XVIII. Rio de Janeiro 1982. S. 38. 66 Für das späte brasilianische Kaiserreich siehe hierzu Wellington Castellucci Junior: Nas franjas da plantation: trabalho e condições de vida de escravos e libertos em pequenas propriedades de Itaparica: 1840–1888. In: Tempo, 14, 2010. S. 193–221. 67 Academia: Siete Partidas (wie Anm. 13). 2.21.pr., nach der mittelalterlichen Trias oratores, bellatores, laboratores. In den sehr eng hieran angelehnten Ordenações Afonsinas (1.63.pr.) heißt der Dritte Stand mantenedores [Erhalter]. 68 Zur portugiesischen Ständegesellschaft im 15. Jh. und Statusdurchlässigkeiten Maria Helena da Cruz Coelho: Clivagens e Equilíbrios da Sociedade Portuguesa Quatrocen-
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Landes zu leben blieb etwa dem iberischen Adel zwar Norm, andere Betätigungen, etwa der Fern- oder Großhandel (grosso trato), wurden ihm aber im Zuge eines bereits im 15. Jahrhundert im Gange befindlichen Prozesses geöffnet. Im Gegenzug wurde vielen Großhändlern der Zugang zu Adelstiteln ermöglicht.69 Im 18. Jahrhundert verlief schließlich eine am Ausgang des Mittelalters noch nicht ausgeprägte Grenze zwischen Groß- und Kleinhandel (varejo oder venda a retalho); nur die Ausübung des Letzteren war am Ausgang des Ancien Régime als „exercício mecânico“ mit dem Adelsstand noch immer inkompatibel.70 Rein körperliche Arbeit wurde den „Erhaltern“ zugewiesen, sie waren nach der auch in Portugal und Spanien bekannten antiken Körpermetapher die Füße der Gesellschaft; das Verlassen dieses Arbeiterstandes wurde durch Ständeschranken erschwert. Zentralbegriff dieser Abschließung war im Portugiesischen der des „defeito mecânico“. Die körperliche Arbeit erniedrigte, sie galt als vil (vgl. lat. vilis).71 Um zu gewissen zivilen bzw. militärischen Posten zugelassen oder in einen Ritterorden aufgenommen zu werden oder um die Steuerprivilegien des Adels zu genießen, musste man daher unter Umständen nachweisen, dass kein Vorfahr bis zum Urgroßvater eine solche tista. In: Tempo (Rio de Janeiro) 3, 5 (1998). S. 121–145. 69 António Henrique de Oliveira Marques: Geschichte Portugals und des portugiesischen Weltreichs. Stuttgart 2001. S. 113, S. 178. Die Formulierung, in Italien sei das Großbürgertum zum Adel aufgestiegen, während in Portugal der Adel gewissermaßen zum Bürgertum „abgestiegen“ sei, wirkt etwas überspitzt. Den Prozess der Öffnung veranschaulicht beispielsweise die auf den portugiesischen Cortes [Ständeversammlung] von 1455 vorgebrachte Beschwerde der Händler gegen das Eindringen von senhores [Adligen] und fidalgos [niedrigen Adligen, vorsichtig vergleichbar mit dem Ritterstand im HRR] in den Handel (Armindo de Sousa: As cortes medievais portuguesas [1385– 1490]. Bd. 2. Lissabon 1990. S. 348). 70 Jorge Miguel Pedreira: Os negociantes de Lisboa na segunda metade do século XVIII: padrões de recrutamento e percursos sociais. In: Análise Social, 27, 1992. S. 407–440, hier: S. 412, S. 416. 71 So bedeutet nach Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 4. S. 523, Mechanica auch „accion indecorósa y mezquína, propria de la gente baxa y foéz“, also eine fast schon unziemliche, schäbige Handlung, die typisch für vulgäre Personen niedrigen Standes ist. Nach Bluteau: Diccionario (wie Anm. 4). Bd. 2. S. 66, ist mecânico gleichbedeutend mit „não nobre“; ähnlich José Marques: Novo Diccionario das Linguas Portugueza, e Franceza, com os termos latinos: Bd. 2. Lissabon 1764. S. 430: Die artes mecanicas seien artes sordidae, humiles, der mecanico ein plebeus, ignobilis. Hier spielt in der frühen Neuzeit auch die Vorstellung eine Rolle, dass diese Tätigkeiten in der Antike vor allem von Sklaven ausgeübt worden seien. Vgl. Juan Pérez de Montalbán: Para todos, exemplos morales humanos y divinos: En que se tratan diversas Ciencias, Materias, y Facultades. repartidos en los Siete Dias de la Semana. 8. Aufl. Barcelona 1656. fol. 172; Elias Lipiner: O sapateiro de Trancoso e o alfaiate de Setúbal. Rio de Janeiro 1993. S. 28.
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Tätigkeit ausgeübt hatte. Abkömmlinge von Sklaven litten bis zur entsprechenden Generation hinab immer an diesem „Defekt“.72 Diese „erhaltende Arbeit“ wurde von Freien, Halbfreien oder Unfreien geleistet. Auf der iberischen Halbinsel ging die Zahl Schollengebundener (adscripticii) bereits im Zuge der mittelalterlichen Reconquista zurück. Landgewinne wirkten emanzipatorisch, die „servidão da gleba“ wurde durch freiere Formen abgelöst (colonos, foreiros, solarengos, tributários oder vilãos). Reste der unfreieren Variante der adscripticii überlebten aber das 16. Jahrhundert, denn noch die Ordenações Filipinas schritten hiergegen ein. Die Tendenz ging zur Aufspaltung der Arbeitsbevölkerung in Freie und Sklaven (Letztere waren bis ins letzte Drittel des 15. Jahrhunderts nahezu ausschließlich „Mauren“) zu Lasten der im Europa nördlich der Pyrenäen feudalismustypischen halbfreien Formen. Einfache, ungelernte Arbeiter genossen geringes Ansehen.73 Ein Alvará von 1751 privilegierte Handwerksmeister (artífices e mestres) gegenüber einfachen obreiros, indem er Ersteren das Letzteren verbotene Tragen von Schwertern gestattete.74 Qualifizierte Berufsarbeit wurde also bevorzugt. Vermö72 Beispiele für die Aufnahmekriterien finden sich in Ordinaciones de la imperial ciudad de Zaragoza dadas por la Magestad Catolica del Señor Rei Felipe Terder en Aragon, Año MDCLVIII. Çaragoça (sic) 1659. S. 64, und in den Diffiniciones de la Orden y Cavalleria de Alcantara. Titel XIII. Madrid 1576. S. 103, die unter anderem bestimmen, dass weder der Kandidat, „ni su padre sean, ni ayan sido officiales mecanicos, ni tenido officio vil, ni indecente a esta nuestra Cavalleria, ni que ayan vivido, o vivan de officio de sus manos d[e] qualquier manera que sea, ni servido ellos ni sus padres en todos los sobredichos officios“. Siehe hierzu Manuel Álvares Pegas: Commentaria ad ordinationes Regni Portugalliae: Bd. 12, Lissabon 1694, hier zu Ord. lib. 2. tit. 45. ord. 31, insbesondere die Entscheidung bei Rn. 7. Zu Tendenzen, dies mehr und mehr auf die Hautfarbe als solche auszudehnen, statt die konkreten Statusverhältnisse zu untersuchen, aber auch zu den entgegenwirkenden Entscheidungen siehe Rêgo/Olival sowie Francis A. Dutra: Ser mulato em Portugal nos primórdios da época moderna. In: Tempo, 15, 2011. S. 101–114. 73 Ihre ständige Kontrolle und Überwachung sei notwendig, so der in Academia: Diccionario (wie Anm. 3). Bd. 5. S. 8, abgedruckte Spruch „obreros a no ver, dineros a perder“, der schon lateinischen Ursprungs sei. 74 Das Verbot des Waffentragens für die niederen Stände findet sich in der sog. Pragmática vom 28. Mai 1749, abgedruckt in: Collecção das leys, decretos, e alvarás que comprehende o feliz reinado del rey fidelíssimo D. Jozé o I. nosso Senhor. Desde o anno de 1750 até o de 1760, e a Pragmatica do Senhor Rey D. João o V. do anno 1749. Band I. Lissabon 1771. S. 1–10, hier: S. 6. Nach dem hier einschlägigen Kapitel 14 war das Waffentragen verboten für „aprendizes de Officios mecanicos, lacaios, mochillas, marinheiros, barqueiros, e fragateiros, negros e outras pessoas de igual ou inferior condição“ [Lehrlingen von Handwerksberufen, Lakaien, Dienern, Seeleuten, Fährmännern, Ruderern, Schwarzen und anderen Personen vergleichbaren oder noch niedrigeren Standes]. Der in der Literatur häufig als „Alvará com força de lei“ bezeichnete
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genslose traf grundsätzlich eine Arbeitspflicht. Einkünfte, die aus der Bettelei oder auf vergleichbare Weise erzielt worden waren, wurden zunehmend delegitimiert. In Portugal wurde schon 1349 die Ausweisung von Beschäftigungslosen (vadios) aus Städten verfügt, 1375 dann die Arbeitspflicht auf dem Land für Beschäftigungslose und Bettler eingeführt. In Spanien verfügte ein auf den Cortes von Briviesca (1387) erlassenes Gesetz, dass „vagabundos“, die nicht arbeiten wollten, von jedem Privatmann ergriffen und einen Monat lang zur Arbeit ohne Entlohnung bis auf Kost und Logis gezwungen werden durften.75 „Ai, que preguiça!“ – „ach, was für eine Faulheit!“ – legt Mário de Andrade dem Titelhelden seines 1928 geschriebenen Romans Macunaíma in den Mund, ironisierend an europäische Topoi über die indigenen Bewohner Amerikas anknüpfend, die als träge, schlaffe Müßiggänger ohne Gewinnstreben galten, die mit wenig zufrieden seien, Reichtümer nicht zu schätzen wüssten und nicht an morgen dächten, weshalb sie mit Zwang zur Arbeit zu erziehen seien.76 Die durch die Reconquista bedingte Erlass vom 21. April 1751 schränkt die Pragmática von 1749 dahingehend ein, dass „Artifices, e Mestres encartados, e embandeirados“ (und weitere Gruppen) von dem Verbot ausgenommen sein sollten. Abgedruckt in: Collecção da legislação portuguesa desde a ultima compilação das ordenações redegida pelo Desembargor Antonio Delgado da Silva. Legislação de 1750 a 1762. Lissabon 1830. S. 59–62, hier: S. 61. 75 Zit. nach: Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 4, n. 33; häufig angeführt in der jüngsten Forschung, etwa bei: José María Garrán Martínez: La proibición de la mendicidad. La controversia entre Domingo de Soto y Juan de Robles en Salamanca (1545). Salamanca 2004. S. 41. 76 Jesús María García Añoveros: La idea, ‚statusʽ y función del indio en Juan de Solórzano y Pereira. In: Juan de Solórzano y Pereira: De Indiarum Iure, Liber III, De retentione Indiarum. Madrid 1994. S. 111–175, hier: S. 165; Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 6, n. 32. Noch Azeredo Coutinho: Ensaio (wie Anm. 58). S. 3, malt auf den ersten Blick dieses Indio-Bild, differenziert es aber in späteren Kapiteln, etwa im fünften (S. 56 bis 83), wo er sich ausdrücklich von Montesquieus klimatologischem Erklärungsansatz und von den „Sectarios do systema dos Climas“ distanziert, um im sechsten Kapitel (S. 83 bis 92) insbesondere die Ouetacazes zu loben. Für Brasilien siehe auch Mauro Cezar Coelho: Do Sertão para o Mar. Um estudo sobre a experiência portuguesa na América a partir da Colônia: o caso do Diretório dos Índios (1751–1798). Diss. phil. São Paulo 2005. S. 245, wo er von dem frühneuzeitlichen Vertrauen in die Erziehung und in die Arbeit spricht als Mittel, die indigenen Völker aus ihrem Elend und ihrer Barbarei zu erlösen, in dem die Europäer sie vorgefunden zu haben meinen. Eine treffende Quelle hierzu ist José de Acosta: De Promulgando Evangelio apud Barbaros: sive De Procuranda Indorum Salute. Libri sex. Lyon 1670. Lib. I. S. 40. Zur Fortschreibung dieser Topiken noch in der Historiographie sodann Coelho: Sertão (wie Anm. 76). S. 45–72. Nach Coelho verschlechtert sich dabei die Charakterisierung des Indios vom „noblen Krieger“ der Romantik des brasilianischen Kaiserreichs zum faulen Modernisierungsunfähigen in der Geschichtsschreibung der Republik
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Praxiserfahrung mit der Sklaverei war einer der Gründe dafür, dass die Conquistadores bei dem Versuch, Indigene als Arbeitsbevölkerung in die Kolonie zu integrieren, alteuropäischem ius gentium folgend, zunächst diese hergebrachte Form unfreier Arbeit wählten. Der aristotelische Topos vom Barbaren als einem zu zivilisierenden „Sklaven von Natur“ erleichterte dies, ebenso die religiöse Rechtfertigung mit der Christianisierung – semantisch hervorragend vorbereitet durch die bereits referierte christliche Verbindung von Müßiggang und Sünde. Auch im politischen Diskurs bestand zunächst kein Zweifel an dieser Form der Integration eroberter Völker.77 Die Arbeit Indigener wurde daneben in Hispanoamerika aber schon früh auch als von Abgabenpflichtigen (macehuales oder tributaris) zu leistender Tribut interpretiert (servicios personales), von dem die indigene Oberschicht befreit war.78 Realengos leisteten diesen Tribut direkt an die Krone, der weit bedeutendere übrige Teil unterstand encomenderos, die das königliche Recht, Tribut einzutreiben, in commendam innehatten. In der encomienda79 sah Solórzano eine neue Organisationsform, was ihre (S. 57 f.). Noch die modernen Klassiker Gilberto Freyre, Caio Prado Júnior und Sérgio Buarque de Holanda enthalten entsprechende Inferioritäts- und Faulheitstopiken; vgl. Coelho: Sertão (wie Anm. 76). S. 60 f. 77 Der Topos der Barbarei findet sich vor allem bei Juan Ginés de Sepúlveda: Democrates alter, sive de justis belli causis apud Indo. Demócrates segundo o De las justas causas de la guerra contra los indios. In: Boletín de la Real Academia de la Historia 21, 1892. S. 257–369, ab S. 288 passim, bestritten vor allem von Bartolomé de las Casas in verschiedenen seiner Werke. Am deutlichsten finden sich die beiden Positionen gegenübergestellt in: Bartolomé de las Casas/Juan Ginés de Sepúlveda: Aqui se contiene vna disputa, o controuersia: entre el Obispo don fray Bartholome de Las Casas [...] y el doctor Gines de Sepulueda [...], sobre q[ue] el doctor co[n]tendia, que las conquistas de las Jndias contra los Jndios eran licitas, y el Opispo por el contrario defendio y affirmo auer sido y ser impossible no serlo: tyranicas injustas y iniquas La qual question se ventilo y disputo en prese[n]cia de muchos letrados theologos y juristas, en vna congragacion que ma[n]do su magestad juntar el an[n]o de mil y quinie[n]tos y cincue[n]ta en la villa de Vallad[olid]. Sevilla 1552. Knapp wiedergegeben finden sich die zentralen Argumente der vor allem wegen ihres Höhepunkts, des Disputs von Valladolid (Junta de Valladolid, 1550/51) bekanntgewordenen Kontroverse bei Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 1, cap. 9, n. 19 bis 38. Zur Versklavung von Indios Silvio Zavala: Los Trabajadores Antillanos en el Siglo XVI. In: Revista de Historia de la América, 2, 1938. S. 31–67. 78 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom 1, lib. 2, cap. 20, n. 40. Für den mexikanischen Bereich dazu Silvio Zavala: Estudios acerca de la historia del trabajo en México. México 1988. S. 27. 79 Zu ihrer Entwicklung und zu den Unterschieden in den verschiedenen Regionen siehe auch Antonio Dougnac Rodríguez: Manual de Historia del Derecho Indiano. Mexico 1998. S. 332–359.
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neue Bezeichnung rechtfertige: „Para cosas nuevas, nuevos vocabulos“.80 Die Leyes de Burgos von 1512/13 erklärten, dass die Indios zwar von den encomenderos zur Arbeit gezwungen werden könnten, aber in Geld oder Naturalien zu entlohnen seien.81 Faktisch verhielten sich die encomenderos allerdings weiterhin wie Volleigentümer von Land und Menschen und überarbeiteten die wie Sklaven gehaltenen Indios. Die Heftigkeit der demographischen Katastrophe verursachte früh Appelle zugunsten der Freiheit sowie besserer Arbeitsbedingungen der Indios, etwa in dem Breve Veritas Ipsa Papst Pauls III. vom 2. Mai 153782, in den spanischen Leyes Nuevas von 154283 und in der vor allem von Las Casas vertretenen Position während der Kontroverse bzw. des Disputs von Valladolid in den 1550er Jahren84. Die Appelle blieben nicht ganz ohne Erfolg. Die Anerkennung der Indios als freie Vasallen der Krone wurde politische Leitlinie, die der Durchsetzung durch die Audiencias (Appellationsgerichte) von Lima, Santo Domingo, Guatemala und Mexico bedurfte. Das letztgenannte dieser Gerichte setzte die neue Rechtslage zwar zögerlich um, entschied dann aber allein 1561 über 3000 solcher Statusprozesse, die die Freiheit von Indigenen betrafen.85 Das Konzept des bellum iustum86 wurde eingeschränkt, Krieg mit Versklavung blieb aber (etwa auf 80 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 3, cap. 1, n. 2 (nach Cicero: „Aut enim nova sunt rerum novarum facienda nomina“. M. Tullii Ciceronis Opera, cum delectu commentariorum, in usum serenissimi Delphini. Tom. 2, Patavii [= Passau] 1753. S. 90). Encomienda stammt allerdings von der kirchenrechtlichen Kommende, hat also bereits im mittelalterlichen Europa ein gewisses Vorbild. 81 Rafael Altamira: El Texto de las Leyes de Burgos de 1512. In: Revista de Historia de América, 4, 1938. S. 5–79. 82 Ediert z. B. in: Vatikanisches Archiv (Hg.): America Pontificia primi saeculi evangeliationis: 1493–1592: documenta pontificia ex regristris et minutis praesertim in Archivo secreto vaticano existentibus. Bd. 1. Nr. 84. Rom 1991. S. 364–366. 83 „Item, ordenamos, y mandamos, que de aqui adelante por ninguna causa de guerra, ni otra alguna, aunque sea so titulo de rebelion, ni por rescate, ni de otra manera, no se pueda hacer esclavo Indio alguno. Y queremos, y mandamos, que sean tratados como vassallos nuestros de la Corona de Castilla, pues lo son“ [„Ebenso bestimmen und befehlen wir, dass von jetzt an, aus keinem Grund, sei es Krieg oder ein sonstiger, auch nicht wegen einer Rebellion noch im Wege des Kaufs noch auf andere Weise, ein Indio zum Sklaven gemacht werden kann. Und wir wünschen und befehlen, dass sie als unsere Vasallen der Krone von Kastilien behandelt werden, denn sie sind es“]. Onlineausgabe: http://www. lluisvives.com/servlet/SirveObras/public/06922752100647273089079/p0000026. htm, (zuletzt aufgerufen am 29.09.2015). 84 Wie Anm. 79. 85 García Añoveros: Idea (wie Anm. 76). Hier insbes. S. 116 f. Zur Umsetzung vgl. Manuel Lucena Salmoral: El Descubrimiento y la fundación de los reinos ultramarinos: Hasta fines del siglo XVI. Madrid 1982. S. 498. 86 Zu den spanischen kriegsrechtlichen Überlegungen (und Praktiken) siehe Hector José Tanzi: El derecho de guerra en la America Hispana. In: Revista de Historia de América
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den Anthropophagievorwurf gestützt) noch nach 1680 gegen die mexikanischen Chichimecas erlaubt, in Südamerika gegen Caribes, Araucanos, Mindanaos, ähnlich in der portugiesischen Gesetzgebung gegen einige indigene Völker Brasiliens. Die immer wieder scharf kritisierte encomienda war ebenfalls Objekt gesetzgeberischer Aktivität. Sie wurde (nach erfolglosem Abschaffungsversuch 1542/43) 1547 als durch königlichen Akt verliehenes, auf eine weitere Generation vererbliches Recht definiert, Tribute von den Indios eines bestimmten Gebietes einzunehmen. Strittig blieb, ob die encomenderos diesen Tribut als persönliche Arbeitsleistung durch Indios fordern konnten, ob ihnen dies durch königliche Konzession als Recht gewährt war.87 Erste Versuche (1518, 1523), diese sogenannte demora zu beenden, scheiterten, doch die Gesetzgebung betrieb die Abschaffung der Tributarbeit weiter, in Regelungen von 1549, 1601, 1609 und 1634; sowie, für Chile, in der tasa de Santillán von 155888 und in der tasa de Gamboa von 1580.89 Die Indios sollten idealerweise freie Lohnarbeiter sein, die Bezahlung sollte persönlich erfolgen, nicht an caciques oder curacas.90
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75/76, Jan.–Dez. 1973. S. 79–139; dort auch zu dem berühmt-berüchtigten Requerimiento und zu den in Valladolid ausgetauschten Argumenten. Für Brasilien siehe ein (vorsichtig auf das Jahr 1556 datiertes) Traktat über den gerechten Krieg eines anonymen Verfassers, ediert in: As Gavetas da Torre do Tombo, hg. von António da Silva Rego. Lissabon 1962. Gaveta XI 8-3. S. 676–685. „[U]n Derecho concedido por merced Real à los benemeritos de las Indias“, so zitiert bei Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 3, cap. 3, n. 1 mit anschließender knapper Diskussion; zu den gescheiterten Bemühungen von 1542/53 vgl. ebd. Tom. 1, lib. 2, cap. 2, n. 4–21. Speziell hierzu: Alvaro Jara: El salario de los indios y los sesmos del oro en la tasa de Santillán. Santiago 1961. Speziell zur tasa de Gamboa: Agata Gligo Viel: La Tasa de Gamboa. Santiago 1962. Zu beiden tasas sowie der Fortschreibung dieser Gesetzgebung in der Tasa de Esquilache (1620), Tasa Real und Tasa de Laso de la Vega (1635) Dougnac Rodríguez: Manual (wie Anm. 79). S. 355–360. Für Chile siehe ergänzend: Rolando Mellafe: La Introducción de la Esclavitud Negra en Chile. Tráfico y Rutas. Santiago 1984. S. 115. Betroffen waren Personen zwischen 18 und 50 Jahren, sie mussten zwei bzw. vier Monate im Jahr dienen, so dass je nach Gebiet zwischen einem Sechstel und einem Viertel der Bevölkerung tatsächlich in diesem System arbeiteten. Für die Situation in Mexiko siehe: Zavala: Estudios (wie Anm. 78). S. 27. Recopilación de Leyes de los Reynos de las Indias [aus dem Jahr 1680]. Ley 1, tit. 12, lib. 6 (hier überprüft an der vierbändigen 3. Auflage, Madrid 1774, fol. 241v; Digitalisat verfügbar: https://archive.org/details/recopilacindel02unseguat, letztmalig aufgerufen 04.10.2015). Caciques (dt. teilweise Kaziken) ist ein wohl ursprünglich aus der Karibik stammender Begriff für indigene Oberhäupter, den die Europäer auch auf andere Regionen übertrugen (Art. Kazike im Lexikon des LAI der FU Berlin: http:// www.lai.fu-berlin.de/e-learning/projekte/caminos/lexikon/index.html; zuletzt aufgerufen am 04.10.2015). Curaca, Kuraka [Quechua] bezeichnet den Anführer einer
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In der Realität existierte das Freiheitsidyll nur begrenzt, nicht nur weil die Schutzgesetze immer wieder missachtet wurden,91 sondern auch, weil die Indios die konkrete Umsetzung einer Anti-Müßiggangs-Politik durch Zwangseinweisung in Arbeit spürten, die im Übrigen Lohnarbeit war. Solórzano erwähnt eine Ordenanza aus Mexico von 1530, welche gegen Müßiggang und Vagabundentum unter den Indios eingeschritten sei.92 Eine Cédula von 1552, erneuert 1558 und 1563, bestimmte, dass Indios ohne feste Arbeitsverhältnisse durch die Justiz Arbeitgebern zugewiesen werden konnten, 93 ebenso die Instrucciones an die peruanischen Vizekönige von 1595 bzw. 1628 und ähnlich noch die Recopilación von 1680.94 Möglicherweise lagen hier die Wurzeln
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Großfamilie bzw. Dorfgemeinschaft [Ayllu] in den Anden, nach anderer Auffassung (sogar) eine Art Provinzgouverneur im Inka-„Reich“ (Efraín Cazazola/Félix Layme Pairumani/Pedro Plaza Martínez: Diccionario bilingüe Iskay simipi yuyayk̕ ancha […]. La Paz – Bolivien 2007. S. 46; Online-PDF: http://futatraw.ourproject.org/descargas/ DicQuechuaBolivia.pdf, letzter Abruf: 04.10.2015). Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 2, n. 7, beschreibt von illegaler sklavenähnlicher Haltung betroffene Frauen: „[L]as detenian en sus casas, como en carcel privada, para que les hilassen, y texiessen, e hiciessen otras obras, labores, y servicios, como sie fueran esclavas suyas“ [„Sie hielten sie in ihren Häusern wie in Privatgefängnissen, damit sie dort spannen, webten und andere Werke, Arbeiten und Dienste ausführten, als ob sie ihre Sklavinnen wären“]. Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 6, n. 48. Alvaro Jara: Los asientos de trabajo y la provision de mano de obra para los no-encomenderos en la ciudad de Santiago, 1586–1600. Santiago 1959. S. 15. Zu den instrucciones von 1595 siehe folgenden Auszug von Kapitel 51: Sie können zwangszugewiesen werden „para labores del campo, y obras de Ciudad, y que el forzarles, y repartirles à estos servicios, se haga por mano de la Justicia, y que los Españoles no les pudean compeler à ello; aunque sea à los Indios de su Encomienda, y se dé orden, como les paguen el jornal de su trabajo à los mesmos Indios, que trabajaren, y no a sus principales, ni á otra persona alguna, y que el trabajo sea moderado“ [„Indios können zur Arbeit auf dem Feld, und zu Arbeiten in der Stadt verpflichtet werden, und der Zwang und die Einteilung zu solchen Diensten hat durch die Hand der Justiz zu erfolgen. Die Spanier können die Indios (ohne Einschaltung der Justiz) nicht dazu zwingen, auch wenn es Indios ihrer eigenen encomienda sind. Und die Justiz hat über ihre Bezahlung zu bestimmen, die an sie persönlich zu erfolgen hat, und darauf zu achten, dass die Arbeit moderat ist“], hier zit. nach Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). lib. 2, cap. 6, n. 54. In den Instrucciones von 1628 siehe cap. 50 (abgedruckt in: Luis Suárez Fernández: Historia general de España y América. Bd. IX-2, 2. Aufl. Madrid 1990. S. 534). In der Recopilacíon siehe lib. 6, tit. 1, Ley 21 (in der verwendeten Ausgabe fol. 191v). Zur Entwicklung der Kompilation der Gesetzgebung für das spanische Kolonialreich [Las Indias]: Dougnac Rodríguez: Manual (wie Anm. 79). S. 239–254.
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zu einer Ausweitung dieses Systems zum Repartimiento.95 Das Repartimiento war dadurch gekennzeichnet, dass rechtlich als frei geltende Indios (aber auch andere Personengruppen) zur Arbeit bei den Europäern gezwungen werden konnten, wenn ihnen die Bearbeitung eigenen Grund und Bodens keine ausreichende Beschäftigung bot und sie selbst keine Arbeitsstelle fanden. Außerdem blieben in den Regionen unterschiedliche rotierende Systeme in Gebrauch, bei denen ein Teil der erwachsenen indigenen Bevölkerung einer Region für eine bestimmte Zeit pro Monat oder Jahr diente und dann durch einen zahlenmäßig gleichen Teil ersetzt wurde, wobei die Arbeit jedenfalls minimal entlohnt wurde. Die zahlreichen Gesetzgebungsakte zu dem Themenkomplex waren widersprüchlich, oft auch kasuistisch.96 Regional verwendete man für diese mit dem „öffentlichen Interesse“ gerechtfertigte Kontingent-Pflichtarbeit unterschiedliche Begriffe: in Neuspanien cuatequil (mit maximaler Dienstpflicht von drei bis vier Wochen pro Indio pro Jahr);97 diese (zu entlohnenden) Verpflichteten hießen vor allem bei dem Einsatz unter Tage tapisques, im Gegensatz zu eigentlich freien Lohnarbeitern. In Chile erhielten rund neunzig Prozent der zu Asientos de Trabajo (Arbeitsverträgen mit Privaten) Verpflichteten innerhalb dieser vertraglichen Arbeitsverhältnisse bloß Kost und Logis, nur eine Minderheit Geldlöhne.98 Mita war die peruanische Lösung.99 Hier wurden die Arbeiter weiter von ihrer Heimat weg und längerfristig eingesetzt, so dass ständig über ein Siebtel der Bevölkerung betroffen war.100 Der Rückgriff auf 95 Vgl. hierzu die Real Cédulas vom 21. April 1574 und vom 24. November 1601. Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 3, n. 1; klar als Maßnahme gegen Beschäftigungslose gegenüber den anderen Formen von Arbeitspflichten abgrenzend Dougnac Rodríguez: Manual (wie Anm. 79). S. 360–362; knappe Hinweise zum Repartimiento auch bei Zavala: Trabajadores (wie Anm. 77). S. 63. 96 García Añoveros: Idea (wie Anm. 76). S. 141. Die genaue Abgrenzung bzw. Abgrenz barkeit von encomienda und repartimiento ist in der Literatur umstritten. Siehe aber für Mexiko die klare Einteilung bei Andre Gunder Frank: Mexican Agriculture 1521– 1630. Transformation of the Mode of Production. Cambridge 1979, S. 23. Demnach ersetzt Repartimiento auch in der Praxis ab der Mitte des 16. Jh. das Encomienda-System. 97 Hierzu Silvio Arturo Zavala: El servicio personal de los indios en la Nueva España, Bd. 1–7. México 1989–1996; John Andrew Kaska: Cuatequil: Paid Forced Indian Labor in New Spain, 1542–1632. Santa Clara, Calif., 1960; David M. Carballo: Obsidian and the Teotihuacan State. Weaponry and Ritual Production at the Moon Pyramid. Pittsburgh/México D. f. 2011. S. 37; Zavala: Estudios (wie Anm. 78). S. 28. 98 Jara: Asientos (wie Anm. 93); siehe auch ders.: Salario (wie Anm. 88). 99 Dougnac Rodríguez: Manual (wie Anm. 79). S. 363–365. 100 Hierzu Silvio Arturo Zavala: El servicio personal de los indios en el Perú: Bd. 1–3. México 1978–1980; Carmelo Vinas y Mey: Aportaciones para la historia del trabajo en Indias. In: Boletín de la Universidad de Santiago de Compostela, 3, 1931. S. 3–69;
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indigene Begrifflichkeiten sollte die Akzeptanz der Pflichtarbeit erhöhen, spiegelte zum Teil aber wohl auch die Tatsache wider, dass alte Sozialstrukturen derjenigen indigenen Gesellschaften, die einerseits adelsäquivalente Gruppen, andererseits arbeitende Klassen mit limitierten Freiheiten kannten, nicht vollständig zerbrachen.101 Als Beispiel für einen gewissen Bedeutungswandel mag in diesem Zusammenhang das Quechuan-Wort minka (minca, minga) dienen. Es bezeichnete ursprünglich die gemeinschaftliche Arbeit im Dorf, im Kontext von Potosí negativ konnotiert aber die Praxis, Personen als Arbeiter „anzumieten“, um sie an der Stelle von Abwesenden arbeiten zu lassen.102 Nach ablehnender Haltung gegenüber der Möglichkeit der Arbeitsverpflichtung durch Private103 diskutiert Solórzano die zwangsweise Heranziehung von Indios für dem Gemeinwohl dienende, im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten. Gegen eine solche Arbeitspflicht spreche, so Solórzano, die mit ihr verbundene Freiheitsbeschneidung (Solórzano verwendet sogar den Ausdruck trabajos forzados), die Qualität der Indios als Vasallen Spaniens, die übermäßige Ausbeutung der Indios im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen, die Bereicherung der Spanier durch fremde Arbeit und die damit verbundene Gefahr des privatnützigen Missbrauchs der eigentlich gemeinnützigen Arbeit. Schließlich könne auch die Gesetzgebung gegen eine öffentliche Pflichtarbeit der Indios interpretiert werden. Für einen Arbeitszwang streite die innerhalb eines Gemeinwesens wie im Körper bestehende Ungleichheit, außerdem sei es inzwischen Gewohnheit, die Indios arbeiten zu lassen; es diene dem Erhalt der jeweiligen Provinzen, und die Indios zögen Vorteile aus der ihnen widerfahrenen Zivilisation. Wegen fehlender Gewinnmotivation der Indios sei Zwang notwendig, den schon die „Inkas und Montezumas“ ausgeübt hätten. Nie liege in der Arbeitspflicht von Bürgern ein
Peter Bakewell: Miners of the Red Mountain: Indian Labor in Potosí, 1545–1640. Albuquerque 1984 sowie Jeffrey A. Cole: The Potosí Mita, 1573–1700: Compulsory Indian Labor in the Andes. Stanford 1985. 101 Vgl. Ronald Raminelli: Nobreza indígena da Nova Espanha. Alianças e conquistas. In: Tempo, 14, 2009. S. 68–81; Brígida von Mentz: Esclavitud y semiesclavitud en el México antiguo y la Nueva España (con énfasis en el siglo XVI). In: Studia Historica. Historia antigua, 25, 2007. S. 543–558; Guillaume Boccara: Poder colonial e etnicidade no Chile: territorialização e reestruturação entre os Mapuche da época colonial. In: Tempo 12, 2007. S. 56–72. 102 So ein Gutachten der Padres de la Compañia del Colegio de Potosí aus dem März 1610, mit dem sich ein weiteres Gutachten vom April 1610 direkt auseinandersetzt (beide abgedruckt bei Carmelo Vinas y Mey: Aportaciones para la historia del trabajo en Indias. In: Boletín de la Universidad de Santiago de Compostela 3, 1931. S. 3–69, hier: S. 32). 103 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 1–4.
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Angriff auf deren Freiheit. Bei alledem sei aber der Erhalt einer gesunden und starken Bevölkerung vorrangig.104 Akzeptabel blieb für den Autor der Política Indiana letztlich der Einsatz von Indios für die Errichtung öffentlicher Gebäude sowie in Ackerbau und Viehzucht, keinesfalls in Zuckermühlen oder Textilmanufakturen. Solche obrages seien ausschließlich mit freier Lohnarbeit, als obrages abiertos, zu betreiben, eine Zwangseinweisung sei seit 1601 selbst als Strafe unzulässig. Die Verwendung als Lastenträger (in Neuspanien Tamemes, in Peru Apires) sei, so Solórzano, mehrfach verboten worden, der Einsatz im Postdienst (span. correios, quechuan. Chasquis) bleibe zulässig.105 Die lebensgefährliche Minenarbeit obliege traditionell Sklaven oder Sträflingen (carga servil), so dass solche dort eingesetzt werden sollten. Lohnarbeit sei hier nur freiwillig zulässig, bei guter Bezahlung und eventuell Steuervorteilen. Zugewiesene sollten allenfalls überirdisch arbeiten.106 An anderer Stelle erörtert Solórzano die Arbeitsbedingungen der Arbeitspflichtigen, soweit die Arbeitspflicht denn weiterbestehen bleibe. Überarbeitung sei auszuschließen und auf tägliche Freizeit, Sonn- und Feiertagsruhe zu achten. Die Nachtarbeit, auch im Zwei-Schicht-System (wie in den Azogue-Minen, wo die die Nachtarbeiter Tuta Runas genannt wurden), lehnte er ab. Die Arbeitsverpflichtung sollte nach Solórzano erst ab 18 Jahren zulässig sein, nach der Gesetzgebung war sie es wohl ab 14. Über 60-jährige sollten nicht mehr verpflichtet werden, ebenso wenig Frauen; die Natur habe sie, so Solórzano unter Verweis auf Columella, allein für die Hausarbeit gemacht. Der Hin- und Rückweg gehöre zur bezahlten Arbeitszeit. Gerichte sollten den Tageslohn bestimmen. Es dürfe kein Negativsaldo für die Arbeiter durch überhöhte Preise bei Nahrung, Unterkunft und Kleidung entstehen (Cédula vom 5. März 1571); medizinische Versorgung sei zu gewährleisten, eine mäßige körperliche Züchtigung sei zulässig107. Tatsächlich wurde das Repartimiento-System erst durch die Cortes Constituyentes von Cádiz
104 Ebd. Tom. 1, lib. 2, cap. 5 und 6. 105 Zu diesen einzelnen Tätigkeitsbereichen vgl. ebd. Tom 1, lib. 2, cap. 8–12, sowie García Añoveros: Idea (wie Anm. 76). S. 145 bis 150. 106 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 16–18. Er referiert ebd., Tom. 1, lib. 2, cap. 15, jedoch zunächst Argumente, die für einen (auch zwangsweisen) Einsatz von Indios in Minen sprechen, etwa ihre der Landwirtschaft ebenbürtige Nützlichkeit, die Notwendigkeit zur Finanzierung der Kolonien, die große Geschicklichkeit der Indios bei diesen Arbeiten, die Tatsache, dass Monarchen zu allen Zeiten Untertanen zum Bergbau herangezogen hätten, und schließlich eine gewisse gewohnheitsrechtliche Festigung dieser Praxis, vgl. García Añoveros: Idea (wie Anm. 76). S. 150 f. 107 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 7.
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im Oktober 1812 bzw. endgültig nach der liberalen Revolution von 1820 durch Gesetz vom 22. April abgeschafft.108 Eine besondere Arbeitsform von unklarem Status, welche sich Versuchen gesetzlicher Interventionen (etwa 1539, 1542, 1550) widersetzte, war das Yanaconazgo im Gebiet von Charcas (Peru , heute Bolivien). Solórzano konnte nicht aufklären, wie das von ihm abgelehnte Phänomen entstanden war,109 jedenfalls handelte es sich um auf landwirtschaftlichen Betrieben (Chacaras) (oft auf eigenen Antrieb) angesiedelte Indios, die durch eine gewisse Schollengebundenheit gekennzeichnet waren.110 Sie waren keinesfalls Sklaven; Solórzano verglich sie mit den römischen coloni partiarii und adscripticii bzw. aus der neueren Zeit mit mansarii in Mailand oder der Remensa (Aragón). Die soziale Praxis sei rechtlich unverbindlich, die Ersitzung eines Rechtsanspruchs an den Yanaconas ausgeschlossen. Bei Duldung der Praxis solle man sich jedenfalls vor Überarbeitung und zu harter Bestrafung hüten. Ähnlich lebten die Naborías, welche die Spanier wohl nicht nur begrifflich, sondern teils auch in vergleichbarer Funktion von der altamerikanischen Gesellschaft übernahmen.111 108 Manuel Ferrer Muñoz: Igualdad e indianidad: una de las paradojas del México decimonónico. In: Revista Mexicana de Ciencias Políticas y Sociales XLIV, núm. 183, 2001. S. 159–193. Hier: S. 160; Salvador Bernabéu Albert: Las Cortes de Cádiz y los indios: imagines y contextos. In: Martha Ortegam Soto/Danna Levin Rojo/María Estela BáezVillaseñor (Hg.): Los grupos nativos del septentrión novohispano ante la independencia de México, 1810–1847. S. 39–64. Hier: S. 45 f. 109 Er behandelt es in Política. Tom. 1, lib. 2, cap. 4, vor allem n. 1-3; siehe dazu auch García Añoveros: Idea (wie Anm. 76). S. 142 f.; sowie Juan Carlos Garavaglia: The Crisis and Transformations of Invaded Societies: The La Plata Bassin (1535–1650). In: The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas. Bd. 3.2, hg. von Frank Salomon und Stuart B. Schwartz. Cambridge 1999. S. 1–58, hier: S. 38 ff. 110 Im Unterschied zu Sklaven können sie nicht isoliert verkauft werden, allerdings (und das nähert sie eben adscripticii an) mit einem Gut [fundo] „como accessorios“. 111 Zavala: Trabajadores (wie Anm. 77). S. 61, gibt mit Marqués de la Fuensanta del Valle/D. José Sancho Rayón (Hg.): Bartolomé de las Casas: Historia de las Indias. 4. Bd. Madrid 1876, hier: Bd. III, cap. 34. S. 45, an, dass naborías ein indigener Begriff im Antillenraum ist, der „criados y sirvientes ordinarios de casa“ bezeichnet. Nach cédulas aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, etwa für die Insel San Juan, geschah die Verdingung als naboría bei Spaniern freiwillig und mit Zustimmung des cacique. Entsprechend ihrem freien Status können naboría durch Spanier nicht veräußert werden und können ihren Dienstherrn jederzeit verlassen. Der Begriff wird dann allerdings auch nach Neuspanien transplantiert, wo er Bedeutungsausweitungen und -verwischungen erfährt (er kann jetzt auch den repartido oder encomendado meinen, vgl. Zavala: Trabajadores [wie Anm. 77]. S. 62. Dies ist eine Verwischung, weil der ursprüngliche Gedanke von naboría die vertragliche Bindung an den spanischen Arbeitgeber betont.
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Die Entwicklung hin zu freier Lohnarbeit war zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. In der Landwirtschaft, wo indigene Tagelöhner als tlaquehuales oder indios peones voluntarios arbeiteten, setzte dagegen seit dem 17. Jahrhundert eine gegenläufige Bewegung ein ‒ über die Schuldknechtschaft, die zu einer neuen Variante der Schollengebundenheit der Arbeiter bei kreditgebendem Großgrundbesitz führte.112 Der bekannte mexikanische Historiker Silvio Zavala macht den Wechsel vom Haus Habsburg zum Haus Bourbon für eine Ausweitung dieser erst durch die Revolution von 1910 in Mexiko weitgehend beseitigten peonaje verantwortlich113, welche anderswo unter den Bezeichnungen terraje (Kolumbien), concertaje (Ecuador), enganche (Peru), pongueaje (Bolivien) oder inquilinaje (Chile) auftrat.114 Nach diesem Blick auf die Arbeitswelt der Indios mit ihrer Fülle von Organisationsformen mit mehr oder weniger freiem Status ist der Blick auf andere Gruppen der Kolonialgesellschaft zu richten. Für die „Kolonialaristokratie“ war, wie für den iberischen Adel, körperliche Arbeit unehrenhaft und somit undenkbar.115 Doch wurde sie nicht ausschließlich als Sache der Indios wahrgenommen. Auch andere Gruppen standen im Fokus. Körperliche Arbeit war auch das Los eines armen europäischen Bevölkerungsanteils, wobei die Armut zwar zum Arbeiten zwang, aber durch Arbeit in aller Regel der Armut nicht zu entkommen war. Die Nachahmung eines aristokratischen Lebensstils durch nichtbegüterte Siedler und ihre Versuche, ein arbeitsames Leben zu meiden, wurden zur Zielscheibe von Spott und Kritik, so etwa bei Solórzano116, José Barbosa de Sá (1769)117 und Jozé Verissimo Álvares da Silva118, sowie zum Gegenstand staatlicher Maßnahmen.119 Schließlich wurden in Teilen des spanischen Kolonialreichs bald afrikanische Sklaven bedeutsam, und ihre Arbeit wurde unter anderem in besonderen Sklavengesetzen thematisiert.120 Als besonders zur Arbeit zu 112 Zur Entwicklung Zavala: Estudios (wie Anm. 78). S. 35. 113 Zur Verschärfung unter den Bourbonen ebd. S. 52 und S. 207 (dort auch ein kurzer Hinweis auf das Andauern bis 1910). 114 Ders.: Victor Considérant ante el problema social de México. In: Historia mexicana vol. VII. num. 3 (1958). S. 309–328 (309 f.). 115 Hierzu näher Maria Beatriz Nizza da Silva: Ser Nobre Na Colônia. São Paulo 2005. 116 Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 3, n. 12, sowie, mit gleicher Zielrichtung, lib. 2, cap. 5, n. 16. 117 S. das Zitat bei Silva: Nobre (wie Anm. 115). S. 19. 118 Übrigens auch die Tatsache, dass in der Metropole selbst alle danach streben, als Höflinge zu leben, statt sich um die Bearbeitung ihres Landes zu kümmern; etwa bei Silva: Memoria (wie Anm. 49). S. 224. 119 Zum Problem, spanische Immigranten zum Arbeiten anzuhalten, vgl. Zavala: Trabajadores (wie Anm. 77). S. 73–75. Für Brasilien siehe dazu Coelho: Sertão (wie Anm. 76). S. 154 f. 120 Saco: Historia (wie Anm. 36); Mellafe: Introducción (wie Anm. 89); José Andrés-Gallego/Añoveros, Jesús María García (Hg.): La iglesia y la esclavitud de los negros.
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disziplinierende Gruppe tauchten sehr bald freie farbige Bevölkerungsteile auf. Schon Solórzano plädierte für eine stärkere Heranziehung von „Negros, Mestizos y Mulatos“, von denen es „tanta canalla ociosa“ gebe121. Brasilien, wo die Kolonialmacht nicht auf etablierte Reiche mit ihren entsprechenden Sozialstrukturen traf, präsentierte sich im Vergleich zum spanischen Amerika etwas weniger komplex. Die Versklavung der Urbevölkerung wurde von den Siedlern hartnäckiger gegen gesetzgeberische Angriffe (etwa von 1587, 1595, 1596 und 1609) verteidigt.122 Ein Gesetz von 1611 erlaubte wieder den „bellum iustum“, mit dem neben dem Institut des resgate noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Versklavungen gerechtfertigt wurden.123 Für den ganz überwiegenden Teil der Indios, deren Versklavung nicht erlaubt war und die an sich als Kleinbauern leben sollten oder als Lohnarbeiter zu beschäftigen waren, entwickelte sich neben der besonderen Form der Arbeit als Soldaten aufgrund von Zwangsrekrutierungen das Institut der administração, ein hybrider Status sui generis zwischen Freiheit und Unfreiheit.124 Während einerseits die (unter den Juristen nicht unumstrittene) Möglichkeit, administrados zu vererben, sie Sklaven annäherte, war andererseits die Pflicht, ihnen Lohn zu zahlen, Kennzeichen freier Arbeit. Tatsächlich wurden Betroffene zuweilen schlimmer als Sklaven behandelt, der geschuldete Lohn sehr oft nicht gezahlt.125
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Pamplona 2002; Zavala: Trabajadores (wie Anm. 77). S. 76–79; José Andrés-Gallego: Esclavos de Temporalidades. El Tucumán 1768: Possibilidades de una fuente documental. In: Hispania Sacra, 97, 1996. S. 231–260; Louis Sala-Molins: L’Afrique aux Amériques. Le Code Noir espagnol. Paris 1992; Manuel Lucena Salmoral: Los Códigos Negros de la América Española. Alcalá de Henares 1996; für Kuba siehe Jean-Pierre Tardieu: „Morir o dominar“: en torno al reglamento de esclavos de Cuba (1841–1866). Madrid/Frankfurt a. M. 2003. Solórzano Pereira: Política (wie Anm. 52). Tom. 1, lib. 2, cap. 3, n. 11. Beschrieben etwa bei Pero de Magalhães Gândavo: Tratado da Terra do Brasil. São Paulo/Belo Horizonte 1980 [Original vor 1580]. S. 42. Kauf von in Kriegen von Indigenen untereinander Gefangenen durch Portugiesen, mit dem Argument, sie fielen sonst anthropophagen Praktiken zum Opfer. Zum Ideal indigener Kleinbauern siehe §§ 16 ff. des Diretório dos Índios von 1755/57 (Rita Heloísa de Almeida [Hg.]: O diretório dos índios: um projeto de „civilização” no Brasil do século XVIII. Brasilia 1997). Wichtige legislative Marksteine waren außerdem die Lei da Liberdade dos Índios von 1755 und eine Carta Régia vom 12. Mai 1798, welche das Diretório ablöste; vgl. Patrícia Melo Sampaio: „Vossa Excelência mandará o que for servido[...]“: políticas indígenas e indigenistas na Amazônia Portuguesa do final do século XVIII. In: Tempo 12, 2007. S. 39–55. Antonio Vieira: „Carta 24“ (an den König). In: José Ignacio Roquette (Hg.): Cartas selectas do Padre Antonio Vieira. Paris 1856. S. 71, hier: S. 73; vgl. auch Giuseppe Marocci: Escravos ameríndios e negros africanos: uma história conectada. Teorias e modelos de discriminação no império português (ca. 1450–1650). In: Tempo, 15,
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Wichtiger wurde im portugiesischen Südamerika schon ab dem 16. Jahrhundert die bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum hinterfragte afrikanische Sklaverei.126 In rechtfertigenden Aussagen verschmolz aristotelisches Gedankengut mit der biblischen Ham-Legende, die bei Nóbrega, Brandão und Benci vorkam, ohne dass dadurch notwendigerweise rassistische Faulheits-Topoi bedeutsam wurden.127 Als semantischer Kausalfaktor noch höher als philosophisch-religiöse Begründungen ist jedoch die Verankerung der Sklaverei im römischen und gemeinen Recht zu bewerten. Das Ökonomische dagegen wurde nicht zu einer bedeutungsbestimmenden Referenz. Deskriptiv-technische Passagen früher Quellen nannten amerikanische und afrikanische Sklaven undifferenziert als Teil der Ausstattung eines engenho, etwa Brandão. Neben escravo waren die Bezeichnungen servo und captivo (Kriegsgefangener) üblich. Die Arbeitswelt der Sklaven war inhomogen, nur ein Teil war der Plantagensklaverei unterworfen. Daneben existierten kleinbäuerliche Betriebe, Viehwirtschaft, Bergbau, Handwerk und Haussklaverei. Ab dem 17. Jahrhundert beschäftigten sich Traktate, etwa von Benci, zunehmend mit den Arbeitsbedingungen der Sklaven,128 deren Leben nach der biblisch-antiken Trias panis, disciplina, opus gestaltet wurde. Überarbeitung und Misshandlung seien zu vermeiden, das Alter, die Kraft und das Geschlecht zu berücksichtigen, Kranke zu versorgen.129 Die Arbeitszeit sei zu begrenzen, auf Nacht-
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2011. S. 41–70; John Manuel Monteiro: Negros da Terra: índios e bandeirantes nas origens de São Paulo. São Paulo 1994; John Hemming: Red Gold. The Conquest of the Brazilian Indians. London 1978. Zur brasilianischen Sklavenhalterideologie Ronaldo Vainfas: Ideologia e Escravidão: os letrados e a escravidão colonial. São Paulo 1988. Vgl. Sezinando Luiz Menezes: Escravidão e educação nos escritos de Antônio Vieira e Jorge Benci. In: Diálogos DHI/PHH/UEM, 10, 2006. S. 215–228. Vorherrschend ist eine Beschreibung der Afrikaner als gute Arbeiter wie bei Alonso de Sandoval: De Instauranda Aethiopum Salute. Historia de Aethiopia, naturaleça, Policia Sagrada y profana, Costumbres, ritos, y Cathecismo Evangelico, de todos los Aehtiopes con que se restura la salud de sus almas. Bd. 1. Madrid 1647, p. 1, lib. 1, cap. IX. S. 45; siehe allerdings andererseits das Negativ-Klischee im Zitat bei Fn. 45. Vgl. etwa Benci: Economia (wie Anm. 45). S. 89: „O trabalho é continuo, a lida sem sossego, o descanso inquieto e assustado, o alívio pouco e quase nenhum: quando se descuida, teme; quando falta, receia; quando não pode, violenta-se, e tira da fraqueza forças“ [Die Arbeit ist ununterbrochen, die Mühe ohne Ruhe, die Erholung unruhig und schreckhaft, sie bringt wenig oder so gut wie keine Erleichterung: wenn er (der Sklave) unachtsam ist, fürchtet er sich, wenn er einen Fehler begeht, hat er Angst; wenn er nicht (mehr) kann, zwingt er sich dennoch, um noch aus der Schwäche Kraft zu zehren]. Zum juristischen Vorgehen der Sklaven gegen Misshandlung Sven Korzilius: „Ob saevitiam cogi dominum vendere, ut hic resolvitur“ – römisches Recht in Statusprozessen aus Portugal (und Brasilien) am Beispiel der zivilrechtlichen Folge der Sklavenmiss-
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und Sonntagsruhe zu achten, der Samstag den Sklaven für Subsistenzfeldarbeit freizugeben. Während Benci dabei eher an die Religiosität der Herren appellierte, sprach Antonil stärker ökonomisches Kalkül an130. Insbesondere in der Landwirtschaft gab es wohl neben Sklaven arme Freie, die als Tagelöhner (jornaleiros) arbeiteten. Die Existenz von Unbeschäftigten wurde auch in der Kolonie, etwa in Minas Gerais, als zu bekämpfende „vadiação, e ociosidade“ immer wieder kritisiert.131
4 Zusammenfassung und Ausblick Im von biblischen und klassisch-antiken Elementen beherrschten iberischen Arbeitsdiskurs standen ökonomisch-kapitalistische Erwägungen im Hintergrund. Arbeit wurde religiös zur mehr als innerweltlichen Askese überhöht und zur Sündenvermeidung als notwendig angesehen. Sie erschien nicht nur als soziokulturelle Grundlage oder fiskalische Notwendigkeit, sondern auch als Element ständischer Ordnung sowie präventiver und punitiver Sozialdisziplinierung. Müßiggang galt als sündhaft und sozialschädlich. Die katholische Arbeitsethik war von der protestantischen dabei an sich nicht unterscheidbar, Letztere spielt als kontrastiver Topos der Selbstkritik gelegentlich bis heute eine Rolle.132 Diesen Semantiken entsprechen (Arbeits-)Politiken und gesellschaftliche Praktiken. Die auf Agrikultur und Bergbau fixierten iberischen Monarchien konzentrierten sich in den Kolonien, die sie durch „Kultivierung“ und „Zivilisierung“ ihrem „Naturzustand“ entreißen wollten, fast ausschließlich auf Edelmetalle und cash crops, zu deren Produktion anfangs die Arbeitskraft der Indios über Sklaverei und Tributpflicht verfügbar gemacht werden sollte. Erst die demographische Katastrophe bewirkte die Wende zum Ideal freier Lohnarbeit, von dem eine tatsächlich bestehende rigorose handlung. In: Elisabeth Hermann-Otto (Hg.): Sklaverei und Zwangsarbeit zwischen Akzeptanz und Widerstand. Hildesheim 2011. S. 75–93. 130 Benci: Economia (wie Anm. 45); Antonil. Cultura. Primeira Parte, Livro I, Cap. IX. S. 22–28 (in der Ausgabe von 1711). 131 De Mello e Souza: Declassificados (wie Anm. 65). S. 72 ff. 132 Etwa bei Prado: Retrato (wie Anm. 61). S. 81–110, in dem den strengen pilgrim fathers, die dem kargen Boden und dem strengen Klima der nördlichen Hemisphäre als Kleinbauern mit ihrer eigenen Hände Arbeit das zum Unterhalt erforderliche Getreide abtrotzen, die katholischen Emigranten einer selbst schon vom Luxus korrumpierten Metropole (Portugal) gegenübergestellt werden, deren ohnehin schon verderbte Sitten durch Unkeuschheit, Goldgier und die Institution der Sklaverei zu einer Art postkoitalen Depression gesteigert werden. Für ein fehlendes gesellschaftliches, kulturelles und intellektuelles Leben wird bei Prado der historische Faktor der Sklaverei verantwortlich gemacht.
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Arbeitspflicht allerdings weit entfernt war. Vor allem gegen Ende der Kolonialzeit wurde die Freiheit vielerorts auch durch Schuldknechtschaft ausgehöhlt, während lokal „schollengebundene“ Formen weiter existierten. Diese halbfreien Arbeitsformen als „feudalistisch“ zu etikettieren, ist im Sinne semantischen Transfers jedoch nicht ganz korrekt, da schon die spätmittelalterliche iberische Arbeitsbevölkerung eher durch die Dichotomie zwischen Freien und Sklaven statt von feudalismustypischen Arbeitsformen gekennzeichnet war. Der Rückgriff auf afrikanische Sklaven wurde unter Verweis auf die antike Philosophie und das Christentum gerechtfertigt, auf praktischer Ebene aber vor allem durch die Verankerung im Römischen Recht und durch die bestehende Erfahrung mit islamischen Sklaven erleichtert. Die Semantik trug zur Perpetuierung dieser Produktionsweise direkt bei. Eine scharfe Grenze zwischen freier und unfreier Arbeit bestand weder in der sozialen Praxis noch in ihrer Semantisierung, wobei allerdings besonders gefährliche und belastende Tätigkeiten als typische Sklavenarbeit galten und die Arbeitsbedingungen Unfreier oft ungünstiger waren als die Freier. Erschütterungen der Arbeitssemantik erfolgten erst in der Krise des (kolonialen) Ancien Régime.133 Unter Pombal erlebte die Arbeit als Element eines antireligiösen Modernisierungsdiskurses den ersten Höhepunkt;134 Sklaverei wurde nun zunehmend als Ursache moralischer Verderbtheit der gesamten Gesellschaft angeführt.135 Ein entscheidendes Revirement erlebte der Arbeitsdiskurs zwischen Metropole und Kolonie: Während ursprünglich die die Perspektive des Mutterlandes vertretenden Autoren stets auf die potentiell belastende Rolle der Kolonien hinwiesen und den Hang der dortigen Untertanen zum Müßiggang geißelten, betonten die nach Unabhängigkeit Strebenden ihren Fleiß und ihre Regsamkeit. Die metropolitane, als parasitär wahrgenommene Bequemlichkeit erschien nun aus ihrer Sicht als Belastung. Sklaverei wurde zur politischen Metapher dieses Verhältnisses.136 Über ihre soldatische Beteiligung 133 Zum Konzept der Krise des Kolonialsystems vgl. Fernando Antonio Novais: Portugal e Brasil Na Crise do Antigo Sistema Colonial (1777–1808). 3. Aufl. São Paulo 1985. 134 So erfährt die Landwirtschaft Mitte des 18. Jahrhunderts eine Umakzentuierung von der von Sünden reinigenden Tätigkeit („atividade purgativa, meio de expiação dos pecados“) und Ort des Leidens („lugar do sofrimento“) zu einem Ort der Adelung, der Vermögensbildung und des Reichtums („[lugar] do enobrecimento, do enriquecimento, da fartura“); vgl. Coelho: Sertão (wie Anm. 76), S. 191. 135 Francisco Foot/Victor Leonardi: História da Indústria e do Trabalho no Brasil (das origens aos anos vinte). São Paulo 1982. S. 42. 136 Etwa in einigen Flugblättern der bahianischen Verschwörung. Hierzu Sven Korzilius: Die bahianische Verschwörung von 1798. Politische Justiz im Brasilien des ausgehenden Ancien Régime. In: Karl Härter/Beatrice de Graaf (Hg.): Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2012. S. 73–102.
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in Unabhängigkeitskämpfen erlangten in vielen ehemaligen spanischen Kolonien die Sklaven Freiheit und Bürgerrecht, so dass hier, anders als in Brasilien, wo auch die Industrialisierung erst spät begann,137 die äußere und die binnengesellschaftliche Emanzipation weitgehend parallel verliefen und sich die Formierung einer Arbeiterklasse früher vollzog. Auch im jungen brasilianischen Kaiserreich wurde allerdings von Sklavereigegnern die Disproportionalität zwischen der von den Unfreien geleisteten Arbeit und ihren fehlenden Staatsbürgerrechten kritisiert.138 „Sklavenarbeit“ wurde in dieser Zeit auch zum Kampfbegriff freier Arbeiter, um Arbeitsbedingungen zu kritisieren. In Brasilien begann eine breitere abolitionistische Agitation relativ spät und rezeptiv, und trotz der aufgezeigten Durchdringung freier und unfreier Arbeitswelten verzögerte sich die Formierung einer Arbeiterklasse, während die einsetzende Debatte über die Form der „Nationalisierung des Imperiums“ zu einer rassistischen Färbung von Arbeitsdiskursen führte: Der begehrte europäische Immigrant galt als der moderne, fähige Lohnarbeiter, der einheimischen Bevölkerung wurde Arbeitsunfähigkeit und -unlust zugeschrieben, was auch zur regionalen Gegenüberstellung „fleißiger Südosten – fauler Nordosten“ führte.139 Dieses semantische Erbe, welches nicht zuletzt bei der Analyse der lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu berücksichtigen ist, prägt ideologisch wie in sozialen Praktiken die Arbeits- und Nichtarbeitswelten des Kontinents bis heute – etwa im Fall der sklavereiähnlichen
137 Vgl. Nuria Sales de Bohigas: Esclavos y Reclutas en Sudamerica, 1816–1826. In: Revista de Historia de América 70, 1970. S. 279–337 und Foot/Leonardi: História (wie Anm. 135). S. 23. 138 Zu dieser Phase der Unabhängigkeit siehe Gladys Sabina Ribeiro: O desejo da liberdade e a participação de homens livres pobres e „de cor“ na independência do Brasil. In: Cadernos Cedes 22, 2002. S. 21–45. 139 Beispiele bei Oswaldo Truzzi/Ana Silvia Volpi Scott: Pioneirismo, disciplina e paternalismo nas relações de trabalho entre proprietário e imigrantes no século XIX: o caso da colónia de Nova Lousã, em São Paulo. In: Revista da Faculdade de Letras História, 6, 2005. S. 339–354; Foot/Leonardi: História (wie Anm. 135). S. 41. Relativ unkritisch übernommen wird die Sichtweise auf die Einheimischen noch bei Francisco Iglesias: Industrialização Brasileira no Século XIX. In: Revista de História da América 70, Juli bis Dezember 1970. S. 393–420. Hier: S. 412. Zur Nord-Süd-Dichotomie vgl. Negro/ Gomes: Senzalas (wie Anm. 1). S. 221, sowie Célia Maria de Azevedo: Onda negra, medo branco: o negro no imaginário das elites, século XIX. Rio de Janeiro 1987. Die Nationalisierung erfolgte entlang der Gegensatzpaare Land-Stadt; Sklaven-Industriearbeiter; Barbarei-Zivilisation; Afrika-Europa; Rückstand-Fortschritt; vgl. Negro/ Gomes: Senzalas (wie Anm. 1). S. 227.
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Arbeitsbedingungen auf einigen der heutigen Plantagen oder bei der Abholzung des Regenwalds im Amazonasgebiet.140
140 José Agnaldo Gomes: O Canavial como Realidade e metáfora. Leitura estratégica do trabalho penoso e da dignidade no trabalho dos canavieiros de Cosmópolis (Diss., USP). São Paulo 2010. Zur unmittelbar tradierten Erinnerung an die Sklaverei bei Deszendenten von Unfreien siehe Matthias Röhrig Assunção: A memória do tempo de cativeiro no Maranhão. In: Tempo 15, 2010. S. 68–110.
Gerd Spittler
Arbeit zur Sprache bringen – ethnographische Annäherungen
Wenn ich hier über Arbeit spreche, dann verstehe ich darunter nicht einen einmaligen Akt, sondern eine Tätigkeit, die sich über einen langen Zeitraum hinzieht. Über Arbeit wird viel geredet und geschrieben. Aber versteht man sie dadurch wirklich oder bleibt vieles verborgen? Viele Aspekte der Arbeit bleiben oft unausgesprochen. Oder es wird zwar über Arbeit gesprochen, aber das Wesentliche kommt dabei nicht zur Sprache. Über die Sprache hinaus benötigt man daher auch andere Methoden, z. B. Beobachtung. Spätestens wenn ein Forscher die Untersuchungen zu Papier bringt, benötigt er aber wieder die Sprache. Ein Verhaltensforscher oder Arbeitswissenschaftler wird dafür einen Referenzrahmen aus der Wissenschaft wählen, der sich nicht oder wenig um die Sichtweise der Arbeitenden kümmert. Wer am Handeln und nicht nur am Verhalten der Arbeitenden interessiert ist, wird sich bemühen, das Arbeiten zu verstehen, auch wenn es sprachlich nur schwer fassbar ist. Darum geht es in diesem Artikel. Ich stelle hier ethnographische Ansätze aus Ethnologie und Soziologie vor, die dies versuchen. Ich spreche von Annäherungen, weil das Unternehmen selten vollständig gelingt.
1 Reden über Arbeit Es gibt Berufe, bei denen das Reden im Mittelpunkt der Arbeit steht. Der Erfolg eines Vertreters oder einer Verkäuferin hängt davon ab, wie weit er oder sie durch rhetorische Kunst potentielle Kunden davon überzeugen kann, eine Versicherungspolice oder eine Ware zu kaufen. Häufiger haben wir es mit einer Situation zu tun, bei der das Reden die Arbeit begleitet und unterstützt. Für die Koordination ist es oft notwendig, miteinander zu kommunizieren. Reden ist nicht immer, aber häufig beim Lernen von Arbeit wichtig. Daneben gibt es auch die Unterhaltung, die die Arbeiter bei der Arbeit und in der Pause führen, die aber nichts direkt mit dem Arbeitsprozess zu tun hat. Alle diese Formen von Reden bei der Arbeit bezeichne ich als Arbeitsgespräche. Die vielfältigen Verbindungen von Arbeiten und Reden können leicht den Blick dafür verstellen, dass bei vielen Arbeiten das Reden im Sinne einer Unterstützung des Arbeitsprozesses keine Rolle spielt. Das beginnt schon beim Lernen der Arbeit.
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Entgegen einer landläufigen Meinung werden die meisten manuellen Tätigkeiten nicht durch Unterrichten gelehrt und gelernt. In der Familienwirtschaft ist das Nachahmen und Ausprobieren in der Regel wichtiger als das explizite Unterrichten durch die Eltern.1 Vom Reden bzw. Schweigen bei der Arbeit ist das Reden über die Arbeit außerhalb des Arbeitsprozesses zu unterscheiden. Dazu gehören vor allem öffentliche Diskurse über die Arbeit. Ich spreche hier von Diskurs, weil das nicht nur Gespräche, sondern auch Texte einschließt. Welche Tätigkeiten werden von den Mitgliedern einer Gesellschaft zusammenfassend als ‚Arbeit‘ bezeichnet? Hannah Arendt weist darauf hin, dass sich in der westlichen Gesellschaft der Arbeitsbegriff seit dem 19. Jahrhundert überall durchsetzte.2 Nicht nur die Arbeiter arbeiten, sondern auch Minister und Könige. Umgekehrt ist oder war bei manchen Tätigkeiten strittig, ob sie als Arbeit zu bezeichnen sind, z. B. Hausarbeit, Pflege von Verwandten usw. In einer Gesellschaft besteht in der Regel keine einhellige Meinung über die Arbeit. Die, die selbst arbeiten, reden anders darüber als die Herren, die sie nur von außen beurteilen. Der öffentliche Diskurs über die Arbeit lässt also keine sicheren Schlüsse auf die Arbeit selbst zu, wie sie ausgeführt und von den Betroffenen bewertet wird.
2 Ethnographische Forschungen über Arbeit Soziologen oder Ethnologen, die sich in einer empirischen Forschung dem Phänomen Arbeit nähern, stützen sich dabei häufig auf Interviews. Dabei lassen sich viele Formen unterscheiden, die vom standardisierten Fragebogen bis zum narrativen Interview reichen. Mit Interviews allein lässt sich allerdings Arbeit nicht angemessen erfassen. Am ergiebigsten ist eine ethnographische Forschung, das heißt eine Kombination von Beobachtungs- und Befragungsmethoden. Der Begriff ‚Ethnographie‘ stammt aus der Ethnologie und bezeichnet ursprünglich die Beschreibung von fremden Völkern. Eingeengt bezeichnet er die spezifische Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung, bei der ein Forscher sich über längere Zeit bei einem fremden Volk aufhält, ihre Sprache spricht, an ihrem Leben teilnimmt und durch Beobachtung und Fragen ihre Alltagswirklichkeit zu erfassen sucht.3
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Gerd Spittler/Michael Bourdillon (Hg.): African Children at Work. Working and Learning in Growing Up for Life. Berlin 2012. Hannah Arendt: Vita activa, oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960. Gerd Spittler: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme. In: Zeitschrift für Ethnologie, 126, 2001. S. 1–25; ders.: Dichte Teilnahme und darüber hinaus. In: Sociologus, 64, 2014. S. 207–230.
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Seit längerer Zeit ist der Begriff auch in der Soziologie gebräuchlich. Obwohl dabei die eigene Gesellschaft untersucht wird, behält man den Begriff, der sich eigentlich auf fremde Völker bezieht, bei, um anzudeuten, dass auch die eigene Gesellschaft fremd ist oder verfremdet werden kann und man sich ihr daher in besonderer Weise nähern muss. Methodisch orientiert man sich dabei zum Teil an der teilnehmenden Beobachtung der Ethnologie, entwickelt aber auch eigene Methoden, wobei der lange Aufenthalt oft aufgegeben wird.4 Wenn ich im Folgenden von Ethnographie spreche, schließe ich sowohl die ethnologische wie die soziologische Tradition ein. Bei der Arbeit lässt sich nicht alles beobachten. Nicht nur bei der geistigen, sondern auch bei der manuellen Arbeit bleibt vieles unsichtbar, z. B. das Wissen, das Planen, die Bewertung, die Arbeitsethik. Eine ethnographische Methode, die Beobachten, Teilnahme und Interviews kombiniert, bietet hier die beste Methode. Idealerweise lernt der Forscher die Arbeit selbst, so wie z. B. Michael Burawoy die eines Fabrikarbeiters oder Charles Keller die eines Schmiedes.5 Eine Arbeit dadurch zu verstehen, dass man sie selber lernt, mag ideal sein. Doch ist dies nicht immer praktikabel: Es ist sehr zeitaufwendig, es erlaubt nur die Erforschung eines einzelnen Berufes, und nicht jeder ist dazu in der Lage. In der Regel beruht die Forschung über Arbeit auch auf Interviews. Im Folgenden stelle ich ethnographische Fallstudien vor, die innerhalb eines halben Jahrhunderts (zwischen ca. 1950 und 2000) durchgeführt wurden und die ich hier in ihrer zeitlichen Reihenfolge präsentiere: Ethnographie avant la lettre: Eine Untersuchung über Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet (3); das ethnographische Interview: eine Kellnerin in einer Stadt der USA (4); Gespräche von und mit kolumbianischen Bauern (5); ethnomethodologische Studien zur Arbeit: der Umgang mit Kopierern (6); dichte Teilnahme: Hirtenarbeit in der Sahara (7).
3 Ethnographie avant la lettre: Eine Untersuchung über Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet Ich beginne mit einer älteren Studie, die noch vor der Zeit der systematischen Reflexion und entwickelten Begrifflichkeit über ethnographische Methoden in der Sozio4
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Stefan Hirschauer: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M. 1997; Hubert Knoblauch: Fokussierte Ethnographie. Soziologie, Ethnologie und die neue Welle der Ethnographie. In: Sozialer Sinn 1, 2001. S. 123–141. Michael Burawoy: Manufacturing Consent. Changes in the Labor Process under Monopoly Capitalism. Chicago 1979; Charles Keller/Janet Keller: Cognition and Tool Use: The Blacksmith at Work. Cambridge 1996.
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logie lag, die aber in der Qualität den späteren Fallstudien gleichkommt. Die beiden von Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres und Hanno Kesting publizierten Bücher „Technik und Industriearbeit“ und „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“6 beruhen auf Untersuchungen, die von den Verfassern 1953/54 in einem Hüttenwerk des Ruhrgebiets durchgeführt wurden.7 Die Verfasser verstehen sich als Industriesoziologen, das Wort Ethnographie oder Ethnologie kommt kein einziges Mal vor. Aber in der Sache sind die Autoren Ethnographen. In „Technik und Industriearbeit“ liegt das Schwergewicht auf einer genauen Beschreibung des Arbeitsprozesses („Arbeitsvollzug“). Dazu gehören genaue Beobachtungen über einen längeren Zeitraum. Außerdem wurden Gespräche mit den Arbeitern geführt. Der Kontakt wurde dadurch erleichtert, dass die Autoren während der achtmonatigen Untersuchung im Werksledigenheim wohnten. Man würde eine solche Vorgehensweise heute als teilnehmende Beobachtung bezeichnen. Von den Autoren wird dieser Begriff aber für die Eingliederung des Forschers in den Arbeitsprozess reserviert, eine Methode, die sie ablehnen, weil man nicht gleichzeitig Arbeiter und Soziologe sein könne und es eine Illusion sei, dass man sich dabei die Erfahrung eines Arbeiters aneignen könne. An die Untersuchung zu den Arbeitsprozessen schloss sich bei den gleichen Arbeitern eine weitere Forschung über „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“ an. Diese beruhte auf Interviews. Die Autoren sprechen hier abwechselnd von Interviews, Befragungen oder Gesprächen. Die Gespräche beginnen immer mit den konkreten Arbeitserfahrungen des Arbeiters und schreiten dann fort zu allgemeineren Fragen wie technischer Fortschritt, wirtschaftspolitische Probleme und Mitbestimmung. Im Laufe des Gesprächs kann der Befragte zunächst unbewusst, dann aber immer mehr bewusst eine Bilanz ziehen, bei der er sich vielleicht zum ersten Mal innerbetriebliche Probleme im Zusammenhang klarmacht. Diese Interviews werteten die Autoren im Hinblick auf „das Gesellschaftsbild des Arbeiters“ aus. Ihr Ergebnis: Trotz aller Unterschiede zwischen den Arbeitern gibt es ein einheitliches Arbeiterbewusstsein, das auf der Erfahrung der körperlichen Arbeit beruht. Das Gesellschaftsbild ist dichotomisch angelegt. Auf der einen Seite stehen die Arbeiter, die da unten, auf der anderen Seite die da oben, die Manager und Eigentümer. Das kollektive Arbeiterbewusstsein und das dichotome Gesellschaftsbild sind fast allen Arbeitern gemeinsam, doch lassen sich unterschiedliche Typen unter6 7
Heinrich Popitz/Hans Paul Bahrdt/Ernst August Jüres/Hanno Kesting: Technik und Industriearbeit. Tübingen 1957; dies.: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen 1957. Im Folgenden spreche ich meistens nur von Popitz, nicht nur der Kürze wegen, sondern weil er der Leiter der Untersuchung war und die Passagen, auf die ich mich hier beziehe, von ihm geschrieben wurden.
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scheiden. Nur wenige sehen die Gesellschaft als Klassengesellschaft und noch weniger sehen ihr Heil im Klassenkampf. Am verbreitetsten sind zwei andere Typen, die die Dichotomie entweder als unentrinnbares kollektives Schicksal empfinden bzw. von einer progressiven Ordnung ausgehen. Das Gesellschaftsbild der Arbeiter und seine Untertypen werden hier aus den Erzählungen der Arbeiter entwickelt. Die Systematik wird in langen Diskussionen mit den Arbeitern herausgearbeitet. Es handelt sich nicht um direkte Arbeitsgespräche, obwohl sie immer mit Arbeitserfahrungen beginnen und die Interviews in der Nähe des Arbeitsplatzes durchgeführt wurden. Handelt es sich hier um die Gesellschaftsbilder der Arbeiter oder um ein Konstrukt der Forscher? Die Gesellschaftsbilder ergeben sich nicht einfach aus der Lektüre der aufgezeichneten Interviews. Sie beruhen auf einer Interpretation, „auch wenn man sich von den Texten führen und belehren läßt“.8 Auch ist nicht auszuschließen, dass besondere Vorstellungen einzelner Arbeiter durch die Art der Fragen nicht berührt wurden, obwohl die Forscher versuchten, ihre Fragen möglichst offen zu stellen und das Gespräch den Gedankengängen des Befragten anzupassen. In welchem Zusammenhang steht das Gesellschaftsbild der Arbeiter mit öffentlichen Diskursen zur Arbeit? Schließlich handelt es sich hier um ein Thema, zu dem es sowohl von linker wie von bürgerlicher Seite eine Debatte gibt. Nur bei wenigen Arbeitern lässt sich ein marxistisches Gesellschaftsbild nachweisen; die Debatten in Gewerkschaften und Arbeiterparteien hinterlassen schon eher Spuren. Aber insgesamt ist das Gesellschaftsbild weniger durch politische Ideologien als durch die Arbeitserfahrung geprägt. Zu den seit über einhundert Jahren ideologisch aufgeladenen Themen gehört die Beziehung zwischen Mensch und Technik, zwischen Mensch und Maschine. Es gibt auf der einen Seite eine euphorische Technikliteratur, die nicht nur die Segnungen der Technik hervorhebt, sondern im Hinblick auf die Arbeit die Befreiung von mühseliger Tätigkeit und die höhere Qualifikation hervorhebt. Auf der anderen Seite existiert eine verbreitete kulturkritische Literatur, in der der Industriearbeiter als Sklave der übermächtigen Maschine oder seine Arbeit als stumpfsinnige Tätigkeit ohne jede schöpferischen Elemente denunziert wird. Die Trennung zwischen körperlicher und nichtkörperlicher Arbeit ist nicht nur für das Denken der Arbeiter, sondern auch für das bürgerliche Denken konstitutiv. Im Gegensatz zur Antike, in der die Arbeit zur Welt der Sklaven gehörte, während die Freien anderen Tätigkeiten nachgingen, arbeiten in der modernen Welt alle, allerdings nicht in der gleichen Weise. Die einen, die Arbeiter, arbeiten nur mit dem Körper, die anderen mit dem Geist. So stellt es sich jedenfalls der bürgerlichen Philosophie der Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert dar. Die eine Arbeit ist auf eine primitive Körperlichkeit beschränkt, die andere ist 8
Popitz/Bahrdt/Jüres/Kesting: Gesellschaftsbild (wie Anm. 6). S. 185.
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geistig, schöpferisch. Sie ist individuell und bildet. Der apologetische Charakter ist hier ebenso evident wie im Arbeiterbewusstsein. Beide sind sich komplementär. Das gilt auch für die wechselseitige Fremdheit. So unbekannt die Welt der Angestellten und des Kapitals dem Arbeiter ist, so unbekannt ist die Welt der Arbeiter der bürgerlichen Zeitkritik. Ich bin hier ausführlich auf die Studie von Popitz und seinen Kollegen eingegangen, nicht obwohl, sondern weil es eine Ethnographie avant la lettre ist. Deshalb ist hier vieles tastend, begrifflich neu, manchmal auch unsicher. Wie oft bei Neuerungen ist die methodische Reflexion groß. Was die Autoren hier kritisch zur teilnehmenden Beobachtung und selbstkritisch zur Konstruktion ihrer Typologie sagen, ist auch heute noch bedenkenswert und nicht überholt. Wichtiger noch als diese Reflexionen ist aber der Ertrag der Forschungen von Popitz und Kollegen. Auf der Grundlage von intensiven Beobachtungen und Befragungen haben sie hier Industriearbeit in einer Weise beschrieben und interpretiert, die einen Markstein in der industriesoziologischen Forschung darstellt.
4 Das ethnographische Interview: eine Kellnerin in einer Stadt der USA In Dienstleistungsberufen wird mehr gesprochen als bei der Industriearbeit. Dennoch bleibt es auch hier schwierig, Arbeit mit rein sprachlichen Methoden zu erfassen. Das wird im folgenden Beispiel der Arbeit einer Kellnerin deutlich. Ich stütze mich dabei auf zwei Bücher von James P. Spradley: „The Ethnographic Interview“ und „The Cocktail Waitress. Women’s Work in a Man’s World“.9 Das Letztere wurde von ihm zusammen mit Brenda Mann publiziert. Spradley geht von einem Kulturkonzept aus, bei dem Kultur als die gemeinsame kognitive Karte (cognitive map) einer Gruppe verstanden wird, auf deren Basis die Menschen handeln. Jede nationale Kultur, z. B. die amerikanische, besteht aus vielen Subkulturen, denen unterschiedliche kognitive Karten zugrunde liegen. Die kognitive Karte ist in der Regel den Teilnehmern nicht voll bewusst, aber sie kann vom Ethnologen durch Interviews erschlossen werden. Das ist insofern schwierig, als der Ethnograph die Tendenz hat, seine Begriffe und seine kognitive Karte zu benutzen. Diese Tendenz ist in der ‚eigenen‘, in diesem Falle der amerikanischen Kultur noch stärker, weil die sprachliche Verständigung auf Englisch erfolgt. Ihr passt sich auch oft der Informant an.
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James P. Spradley: The Ethnographic Interview. New York 1979; ders./Brenda J. Mann: The Cocktail Waitress: Women’s Work in a Man’s World. New York 1975.
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In der Tradition der ethnographischen Semantik von Dell Hymes10 unterscheidet Spradley verschiedene „Sprechereignisse“ (speech events), die je eigene Regeln für Anfang, Ende, Pausen, Fragen, Rollenwechsel haben. Für eine Unterhaltung (friendly conversation) gilt z. B., dass sie keinen klaren Verlauf hat, dass die Gesprächspartner abwechselnd sprechen, dass man Interesse am anderen zeigt, dass man nicht durch ständiges Nachfragen insistiert. Ein ethnographisches Interview (ethnographic interview) sollte möglichst viele Elemente einer Unterhaltung übernehmen, um eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, doch unterscheidet es sich davon dadurch, dass es einen expliziten Zweck verfolgt, dass der Ethnograph häufig Erklärungen gibt (z. B. zum Projekt, zu seinen Fragen) und dass er bestimmte Typen von Fragen stellt. Fragen sind das wichtigste Mittel des Ethnographen, um das kulturelle Wissen des Informanten zu erfassen. Spradley unterscheidet deskriptive, strukturelle und Kontrastfragen. Es ist wichtig, dass der Informant sich nicht der Sprache des Ethnographen anpasst, sondern dass er so spricht, wie er in seinem Milieu sprechen würde. Am Beispiel der Arbeit einer Kellnerin in einer Stadt des Mittleren Westens der USA erläutert Spradley das Verfahren. Er lässt sie zunächst die Arbeit des letzten Tages erzählen, er betont immer wieder seine Ignoranz gegenüber ihrer Arbeit, um sie zu weiteren Details zu bewegen. Er achtet dabei auf die Begriffe, die sie verwendet, und versucht, sich dieser Sprache anzupassen. Neben diesen deskriptiven Fragen stellt er systematische Fragen, um die Bedeutung dieser emischen Begriffe zu erfassen. Er stellt strukturelle Fragen, die sich auf die Zuordnung von Wörtern zu einem bestimmten Bereich, einer Domäne beziehen. Er versucht dabei, nicht nur die explizite, sondern auch die verborgene Bedeutung zu erfassen. Auf diese Weise beschreibt er u. a. die räumliche Anordnung der Bar, den zeitlichen Ablauf der Arbeit, die Varianten von Drinks, die Beziehungen zwischen der Kellnerin und dem Barkeeper, vor allem aber die vielfältigen Beziehungen zwischen der Kellnerin und den Kunden. Wie kann der Ethnologe weiterführende Fragen in einem Feld stellen, das ihm nicht vertraut ist? Er kann es nur deshalb, weil er sich nicht allein auf das Fragen verlässt. Brenda Mann, die Mitautorin der Studie, arbeitete ein Jahr lang als Kellnerin in der Bar. Ihre Erfahrungen, die auf einer teilnehmenden Beobachtung beruhten, befähigten sie und Spradley, Fragen zu stellen, deren Relevanz ihnen vorher verborgen war. Die differenzierten Taxonomien, die die ethnographische Semantik zutage fördert, sind in ihrer Vielfalt beeindruckend, vor allem weil sie viele implizite Strukturen deutlich machen. Es ist freilich anzumerken, dass die vielen gezielten strukturellen und Kontrastfragen vielleicht eine Ordnung zeigen, die weniger der kognitiven Karte des Befragten entspricht, sondern vor allem durch das Insistieren des Ethnologen konstruiert wird. Auch wenn man von diesem Problem absieht, bleibt immer noch 10 Dell Hymes: Foundations in Sociolinguistic. An Ethnographic Approach. Philadelphia 1974.
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die Frage, wie weit man mit diesen Rastern Handeln, in unserem Falle Arbeit, voll erfassen kann. ‚Eine Bestellung annehmen‘ ist eine der wichtigsten Arbeitsaktivitäten der Kellnerin. Hier geht es überwiegend um verbale Interaktionen, die auch sprachlich wiedergegeben werden können. Aber erst die teilnehmende Beobachtung zeigt die vielen Varianten, die in der Praxis vorkommen, und das notwendige Wissen der Kellnerin. Sie muss nicht nur die unterschiedlichen Drinks und Mischungen kennen, sondern auch die Sprache der Kunden interpretieren und sie für den Barkeeper übersetzen können. Und sie muss den Drink nachher den richtigen Kunden zuordnen. Das mag gewöhnlich funktionieren, aber nicht wenn das Lokal überfüllt ist und sie auf dem Weg zur Theke ‚angemacht‘ wird. Es gehören nicht nur Wissen, Gedächtnis und Reden dazu, sondern auch Können. Die Kellnerin muss sich in einem dunklen Raum zwischen vielen Hindernissen wie Füßen, Ellbogen, Stühlen und Tischen bewegen. Ereignisse, die die Routine durchbrechen, kommen häufig vor und müssen bewältigt werden, z. B. Problemkunden. Spradley und Mann liefern hier eine dichte Beschreibung, wie Bestellungen aufgenommen und erledigt werden. Aber sie hätten dies nicht durch ethnographische Interviews allein erfassen können. Erst die teilnehmende Beobachtung über viele Monate hinweg erlaubte es ihnen, die vielen Variationen zu erfassen und das dann zusätzlich durch deskriptive und Kontrastfragen zu ergänzen.
5 Gespräche von und mit kolumbianischen Bauern Kultur entspricht bei Spradley einer kognitiven Karte, an der sich die Menschen in ihrem Handeln orientieren. Ähnlich argumentiert Stephan Gudeman in seinem Buch „Economics as Culture“.11 Menschen konstruieren Modelle, mit deren Hilfe sie die Welt interpretieren und darin handeln: Das gilt auch für die Wirtschaft und die Arbeit. Mehr als Spradley interessiert sich Gudeman für die Dynamik solcher Modelle, für ihren Entstehungsprozess und für die Änderungen. Das wird vor allem in seiner Folgepublikation deutlich. „Conversations in Colombia. The Domestic Economy in Life and Text“ heißt der Titel des Buches, das Gudeman zusammen mit Alberto Rivera 1990 publizierte.12 Der Begriff ‚Gespräche‘ (conversations) bezieht sich teils auf Gespräche unter den Bauern, zu denen auch Arbeitsgespräche gehören, teils auf Gespräche im Auto, die zwischen ihm und seinem Kollegen und zwischen ihnen 11 Stephen Gudeman: Economics as Culture: Models and Metaphors of Livelihood. London 1986. 12 Ders./Alberto Rivera: Conversations in Columbia. The Domestic Economy in Life and Text. Cambridge 1990.
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und mitfahrenden Bauern geführt wurden. In unserer Terminologie handelt es sich meist nicht um natürliche Gespräche, sondern um freie Interviews. Gespräche bilden die Grundlagen für die Modelle. Sie entwickeln sich in Gesprächsgemeinschaften (conversational communities) und in der Interaktion zwischen diesen. Gudeman und Rivera diskutieren die von ihnen gefundenen Modelle mit den Bauern, die ihnen zustimmen oder Kritik äußern. Die Konversationen haben auch eine historische Basis. Für die Ethnologen lassen sich die Modelle der Bauern über das Haus, das Land und die Arbeit mit den Modellen der Physiokraten, mit Locke und mit Marx vergleichen. Am größten sind die Ähnlichkeiten mit dem physiokratischen Modell. Das ist kein Zufall. Das Modell der häuslichen Ökonomie bei den kolumbianischen Bauern ist stark von europäischen Vorstellungen geprägt, die mit der spanischen Eroberung nach Amerika gelangten. In Europa waren die Physiokraten am stärksten davon beeinflusst. Die Themen, die hier in Interviews mit den Bauern behandelt werden, sind für unsere Fragestellung unmittelbar relevant: die Konzeption von Haus und Hauswirtschaft, das Verhältnis von Arbeit, Land, Nahrung und dem Willen Gottes. Arbeit wird vor allem mit Kraft identifiziert. Durch Essen wird die Kraft aufgebaut, durch die Arbeit verausgabt man sie. Arbeit ist wichtig, aber sie allein garantiert keineswegs eine erfolgreiche Produktion. Arbeit ist nicht die Schöpferin eines Produktes, sondern sie hilft beim Wachstum der Natur. Und die Fülle der Natur geht letztlich auf den Willen Gottes zurück. In welchem Zusammenhang steht dieses Modell der kolumbianischen Bauern mit deren Arbeitspraxis? Spiegelt das Modell das Verhalten wider? Oder wird das Verhalten durch dieses Modell gesteuert? Oder steht beides in einem komplizierten Wechselverhältnis? Leider erfahren wir dazu nichts bei Gudeman und Rivera. Wir lesen, dass die Campesinos hart und stetig arbeiten. Die Arbeitstage sind lang, es wird auch an Samstagen und bei allen Wetterverhältnissen gearbeitet. Es gibt keine Ferien. Die Gespräche der Ethnologen mit den Bauern finden zum großen Teil auf den Feldern statt; während des Gesprächs fahren die Bauern fort zu arbeiten. Die Evidenz für einen großen Fleiß ist also groß. Aber was hat das mit dem Modell zu tun, dass die Produktion nicht primär durch Arbeit geschaffen wird, sondern diese nur hilft? Im Gegensatz zu anderen linguistisch orientierten Ethnologen beschränkten sich die beiden Autoren nicht darauf, in kurzer Zeit viele Konversationen aufzunehmen und zu Texten zu verarbeiten. Die beiden Ethnologen verbrachten viel Zeit mit den Bauern auf dem Feld, und sie kamen immer wieder. Ihre Forschungen in Kolumbien wurden zwischen 1977 und 1987 durchgeführt. Die Konversationen zwischen den beiden Forschern, zwischen den Forschern und den Bauern und zwischen den Forschern und einer 2000-jährigen europäischen Tradition haben sich in dieser Zeit kontinuierlich weiterentwickelt.
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6 Ethnomethodologische Studien zur Arbeit: Der Umgang mit Kopierern Methodisch strenger als Gudeman und Rivera in ihren Konversationen mit kolumbianischen Bauern gehen die aus der Ethnomethodologie stammenden „Studies of Work“ vor.13 Sie versuchen den Arbeitsprozess im Detail zu beschreiben und zu analysieren: die spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten, die sprachlichen Interaktionen der Arbeitenden, den Umgang mit Instrumenten, die räumliche Organisation von Objekten. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich Kompetenzen weder in Lehr- und Handbüchern abbilden lassen noch in retrospektiven Darstellungen von Arbeitsabläufen zur Sprache kommen noch in den Beobachtungsnotizen der Forscher. Jede Arbeit muss als praktische Tätigkeit erlernt werden. Methodisch bedeutet das, den Arbeitsprozess in seinem realen Ablauf möglichst genau zu erfassen. Dem dienen Beobachtungsprotokolle, Fotografien, Tonband- und Videoaufzeichnungen. In dieser Tradition steht Lucy Suchmans 1987 erschienenes Buch „Plans and Situated Actions. The Problem of Human-Machine Communication“.14 Das Buch beginnt mit einer Darstellung der Navigation bei den Trukesen. Die Trukesen sind ein Inselvolk in Mikronesien, das in der Südsee über größere Entfernungen hinweg mit selbstgefertigten Booten segelt. Sie orientieren sich dabei an den Sternen, am Wind, an den Fischen, sogar am Geräusch des Wassers. Ein Europäer dagegen orientiert sich an einem Plan, den er notfalls revidiert. Suchman hält diese Interpretation allerdings für falsch. Ihr Buch ist dem Nachweis gewidmet, dass auch wir nicht oder nur partiell Pläne ausführen, sondern dass wir uns auf die Dinge einlassen und sie auf uns wirken lassen. Arbeit ist immer kontextbezogen. Wir reden zwar so, als würden wir vorgefasste Pläne ausführen, aber in Wirklichkeit handeln wir wie die Trukesen. Die Orientierung auf See dient Suchman nur zur Illustration und ist nicht ihr eigentliches Thema. In ihrer empirischen Forschung untersucht sie den Umgang von Nutzern mit einem Kopierer. Dieser ‚intelligente‘ Kopierer ist so konstruiert, dass sowohl für die Prozesse im Kopierer wie für die potentiellen Nutzer Handlungspläne eingebaut sind. Suchman ließ das Kopieren von jeweils zwei Personen durchführen und fertigte davon eine Videoaufzeichnung an. Die Nutzer waren Neulinge, die zuvor nicht mit der Maschine gearbeitet hatten. Insgesamt wurden vier Arbeitssitzungen à 1½ bis 2 Stunden festgehalten. Das tatsächliche Verhalten der Nutzer lässt sich mit den Handlungsanweisungen des Kopierers nur unvollständig erfassen. Die Nutzer beziehen verschiedene Ele13 Jörg Bergmann: „Studies of Work“ – Ethnomethodologie. In: Uwe Flick u. a. (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. 2. Aufl. Weinheim 1995. S. 269–272. 14 Lucy A. Suchman: Plans and Situated Actions. The Problem of Human-Machine Communication. Cambridge 1987.
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mente in ihre Interpretation ein, nicht nur die Anweisungen des Kopierers, sondern auch falsche Ergebnisse. Sie probieren verschiedene Möglichkeiten aus, wobei die Anweisungen des Kopierers nur ein Element sind. Sie diskutieren Probleme auch mit Kollegen. Die Nutzer, so die These, handeln kontextspezifisch und nicht nach einem vorgegebenen Plan. Sie unterstellen dabei der Maschine pragmatisch Intentionen ähnlich wie Menschen. Suchmans Buch löste eine heftige Debatte aus. In der zweiten Auflage des Buches, die 2007 unter dem Titel „Human-Machine Reconfigurations. Plans and Situated Actions“ erschien, geht sie auf ihre Kritiker ein und präzisiert und erweitert ihre Argumentation.15 Ihre zentrale These bleibt, dass Handeln immer in Bezug auf konkrete Situationen gesehen werden muss. Die Elemente der Umwelt bilden nicht nur Hindernisse, die ein Akteur berücksichtigen muss, sondern sie bieten ihm Chancen, die er ergreifen kann. Je mehr man die Elemente der Umwelt auf sich wirken lässt, desto erfolgreicher kann man handeln. Pläne sind ebenfalls ein Element von Situationen. Sie sind aber eher die Grundlage für eine rhetorische Strategie, die das Handeln vor und nach seiner Realisierung einheitlich erscheinen lässt. Die Betonung des Plans in der westlichen Tradition als Grundlage des Handelns hängt eng mit der westlichen Vorstellung der Rationalität menschlichen Handelns zusammen. Diese Studie erfüllt unsere Forderung nach einer genauen Untersuchung des Arbeitsprozesses, einschließlich seiner sprachlichen Manifestationen. Allerdings hat diese methodische Rigorosität ihren Preis. Von der Arbeit dieser Angestellten werden gerade einmal zwei Stunden erfasst. Die Dauer und Kontinuität der Arbeit, ein für uns besonders wichtiger Aspekt, wird hier nicht untersucht. Und es bleibt auch unklar, auf welcher Grundlage das Handeln der Nutzer ausgeführt wird, sieht man von der komplexen Situationsanalyse ab. Man könnte gegen die Suchman’sche Untersuchung auch einwenden, dass diese Nutzer von Kopierern tumbe Laien waren, die nicht richtig mit den Geräten umgehen konnten. Glücklicherweise gibt es eine andere ethnographische Studie, die etwas später in derselben Firma durchgeführt wurde und die sich auf kompetentere Akteure konzentriert. In „Talking about Machines. An Ethnography of a Modern Job“ untersucht Julian E. Orr die Beziehung zwischen Wartungstechnikern, Kunden und Kopierern.16 Orr war schon vor der Feldforschung viele Jahre als Techniker für Kopiermaschinen tätig gewesen. Diese Erfahrung ging in seine Untersuchung ein, die vor allem auf teilnehmender Beobachtung beruht. Die Wartungs- und Reparaturarbeiten entsprechen nur zum Teil der Vorstellung, die man sich von der Arbeit eines Technikers macht. Die Techniker haben alle eine 15 Lucy A. Suchman: Human-Machine Reconfigurations. Plans and Situated Actions. Cambridge 2007. 16 Julian E. Orr: Talking about Machines. Ethnography of a Modern Job. Ithaca 1996.
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technische Ausbildung, die sie befähigen soll, technische Probleme zu lösen. Obwohl sich die Techniker als kompetente Professionals sehen, die ihre Maschinen kontrollieren und Ordnung bei der Arbeit schätzen, entsprechen ihre Gespräche über die Maschinen kaum diesem Bild. Für die Wartungstechniker sind die Maschinen nicht nur Gegenstände, sondern auch Subjekte. Die Maschinen geben Rätsel auf, die man anderen Technikern vorlegt. Über die Maschinen lassen sich war stories erzählen. Diese handeln nicht nur von heroischen Erfolgen, sondern häufig auch von Niederlagen im Umgang mit perversen Maschinen. Diese Perversitäten werden mindestens ebenso bewundert wie die heroischen Siege. Die Techniker sehen sich als „Masters of the black arts of dealing with machines“.17 Jede Maschine ist ein Individuum, auch wenn viele ein und demselben Typ angehören. Sie werden nach ihren Nutzern einzeln benannt. Ein Techniker kann jede Maschine in seiner Herde unterscheiden. Die Maschinen sind (wie eine Viehherde) im Prinzip domestiziert, aber nur im Prinzip. Bei der Beschreibung der negativen Eigenarten von Maschinen gebraucht man Werturteile und moralische Bewertungen. Maschinen können monströs, pervers, schrullig, wunderlich und seltsam sein. Die Probleme in einer fragilen Arbeitswelt, die nicht voll unter Kontrolle ist, werden zum Teil durch Gespräche gelöst. Es handelt sich hier um Arbeitsgespräche, nicht um öffentliche Diskurse: Gespräche unter Kollegen, Gespräche mit Kunden, Gespräche mit und über Maschinen. Wie sind die Gespräche der Techniker, in denen sie die Dinge wie Akteure behandeln, zu verstehen? Vielleicht sind viele technische Vorgänge so komplex, dass sie auch von Experten nicht voll beherrscht werden können. Die anthropomorphisierende Redeweise, wie sie Orr bei seinen Technikern beschreibt, wäre dann eine Strategie, um diese Komplexität zu reduzieren. Man könnte aber auch argumentieren, dass wir eben nicht so modern sind, wie wir uns geben, sondern dass wir im Umgang mit Dingen eine interaktionistische Handlungsweise beibehalten, die den Dingen nicht nur Eigensinn und Eigenwillen, sondern auch moralische Eigenschaften zubilligt.18 Sogenannte traditionale wie moderne Gesellschaften unterscheiden sich nur graduell voneinander. In beiden Fällen ist die Arbeit mit Dingen nicht oder nicht nur instrumentell organisiert, sondern beruht auf einer Interaktion, bei der den Dingen Eigensinn und Eigenwillen zugebilligt wird.
17 Orr: Talking about Machines (wie Anm. 16). S. 2. 18 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt 1998.
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7 Dichte Teilnahme: Hirtenarbeit in der Sahara Bei meinen langjährigen Forschungen über die Arbeit der Kel Ewey Tuareg19 habe ich verschiedene Methoden eingesetzt: Archivstudien, Beobachtungen, Interviews, Fotos.20 Zu den sprachlichen Zugängen gehören die im Folgenden behandelten Wortfeldanalysen, ethnographischen Interviews und Arbeitsgespräche. Im Vergleich zu den anderen hier behandelten Fallstudien gibt es zwei wesentliche Unterschiede. Erstens spielte durchgängig die teilnehmende Beobachtung bzw. „dichte Teilnahme“21 eine zentrale Rolle. Die Interviews konnten ihr volles Potential erst im Zusammenhang mit der dichten Teilnahme entfalten. Zweitens erstreckte sich die Forschung über eine dreißigjährige Dauer (1976–2006). Das eröffnet neue Perspektiven sowohl zur Arbeit wie zum Reden über die Arbeit. 7.1 Semantik der Arbeit
Mit ‚Arbeit‘ (asshaghal) bezeichnen die Kel Ewey Tuareg eine anstrengende, dauerhafte und nützliche Tätigkeit.22 Dazu gehören für die meisten die Arbeit der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen, der Karawaniers, der Gärtner, der Handwerker, aber auch Hausarbeiten wie z. B. Hirsestampfen. Die Arbeit eines islamischen Gelehrten oder eines Ethnologen sind kein asshaghal. Man bestreitet zwar nicht ihren Nutzen und hat Respekt vor ihnen, aber sie sind körperlich nicht anstrengend und man kann dabei im Schatten sitzen. Bei der Gegenüberstellung von asshaghal (‚Arbeit‘) und erawayen (‚Spiel‘) denkt man an den Nutzen und die Stetigkeit der Arbeit, die zum unsteten Spiel im Gegensatz steht. Ein Kind hilft z. B. seiner Mutter beim Hirsestampfen, nach kurzer Zeit aber lässt es den Stößel liegen und läuft weg. Kinder sollen die Ziegen, die beim Lager weiden, beaufsichtigen. Sie tun das auch einen Augenblick lang, aber dann sehen sie einige Perlhühner, laufen ihnen nach und vergessen die Ziegen. Hier handelt es sich um Spiel, nicht um ‚wahre Arbeit‘, zu der die Stetigkeit gehört. 19 Gerd Spittler: Hirtenarbeit. Die Welt der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen von Timia. Köln 1998. 20 Eine umfangreiche, digitalisierte und durch Schlagworte erschließbare Fotosammlung steht im Netz frei zur Verfügung (http://www.deva-research.uni-bayreuth.de/dok_ start.fau?prj=deva&dm=slg_spittler, zuletzt aufgerufen am 02.12.2015). 21 Gerd Spittler: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme; ders.: Dichte Teilnahme und darüber hinaus (wie Anm. 3). 22 Gerd Spittler : La notion de travail chez les Kel Ewey. In: Revue du Monde Musulman et de la Méditerranée, 57, 1990. S. 189–198; ders. Hirtenarbeit (wie Anm. 19).
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Über die Kriterien, die zu asshaghal gehören, ist man sich weitgehend einig, aber nicht darüber, welche Tätigkeiten dem zuzurechnen sind. Beim Stampfen von Hirse muss sich eine Frau zwar anstrengen, aber sie sitzt dabei im Schatten. Daher bestreiten vor allem Männer, dass es sich um asshaghal handle. Die Frauen verweisen dagegen auf die Schwielen an ihren Händen als Beleg dafür, wie körperlich anstrengend die Arbeit sei. Diskrepanzen gibt es auch bei der wichtigsten Tätigkeit, der Hirtenarbeit. Die einen bezeichnen sie nicht als asshaghal, weil man dabei den ganzen Tag geht und nicht mit den Händen arbeitet. Sie zeigen ihre feinen Hände, die sich von denen eines Bauern unterscheiden. Andere verweisen auf die Anstrengung des langen Gehens in Hitze, Kälte und Regen. Die Antwort auf die Frage hängt auch davon ab, an was der Hirte gerade denkt. Wenn er an die Tränkarbeit am Brunnen oder an die Herstellung von Seilen denkt, zögert er nicht, von asshaghal zu sprechen. Eine Ziegenhirtin kann das Hüten als reine Lust bezeichnen, wenn sie mit ihnen auf einer grünen Weide spazieren geht. Sie sieht die Arbeit als mühsame asshaghal, wenn sie in einer Dürre mit einer Stange die letzten Blätter von einem Baum schütteln oder mit der Herde ins steile Gebirge steigen muss, um die letzten Grasreste zu suchen. Ein wichtiges Ergebnis dieser semantischen Untersuchung ist die geringe Stabilität der Aussagen. Nicht nur weichen Alte und Junge, Frauen und Männer, Handwerker und Gärtner voneinander ab, wenn man sie nach der Semantik von asshaghal fragt. Das Problem ist grundsätzlicher: Auch ein und dieselbe Person gibt auf dieselbe Frage nicht immer die gleiche Antwort. Aber auch wenn die Aussagen stabil wären, würden wir noch nicht wissen, worin die Arbeit der Ziegenhirtin, des Kamelhirten oder auch der Hausfrau, die Hirse stampft, eigentlich besteht. Und wir wissen auch nicht, ob sie sich bei der Arbeit freuen oder ob sie darunter leiden. Dazu benötigen wir andere Forschungsmethoden. 7.2 Beobachten und Fragen
Die Arbeit des Ziegenhütens gehört zu den Hauptaktivitäten der Mädchen und Frauen, die des Kamelhütens zu den Hauptaktivitäten der Jungen und Männer. Fast jede Person ist damit vertraut. Heißt das, dass jeder darüber viel erzählen könnte? Eher ist das Gegenteil der Fall. Die Arbeiten sind für jeden alltäglich und selbstverständlich. Man lernt sie von Kind auf, vor allem durch Nachahmung und Ausprobieren, weniger durch systematische Vermittlung. Es handelt sich um Alltagswissen und -fertigkeiten, über die kaum gesprochen wird. Bat ich die Hirten, ihre Arbeit zu beschreiben, dann erhielt ich meist nur allgemeine Aussagen, die mich kaum weiterführten. Erst nachdem ich die Hirten und Hirtinnen wochenlang begleitet hatte, konnte ich dazu Fragen stellen und Antworten erhalten. Ich sah eine Kamelspur im Sand und
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fragte, zu welchem Kamel sie gehört und wie der Hirte das erkennt. Viele Tätigkeiten ließen sich nur durch diese Kombination von Beobachten und Fragen erfassen. Eine abstrakte Frage: „Wie hütet man Kamele?“ wird kurz beantwortet, weil der Hirte die gängigste Art oder die, die er gerade zuletzt erlebt hat, vor Augen hat. Das differenzierte Vokabular erschließt sich erst bei der Beobachtung verschiedener Verhaltensweisen. Dabei kann man zwischen sieben Formen des Hütens unterscheiden: Folgen (alukkum), Treiben (addag), Zurücktreiben (asughel), Umkreisen (aghalay), Zusammentreiben (ashidew), Zusammenhalten (aragham), Zurückhalten (ewwagh).23 Zu den alltäglichen Arbeiten des Hirten gehört auch das Kamelsuchen. Es umfasst so viele Aspekte und ist so kompliziert, dass ich ihm in meinem Buch ein eigenes Kapitel widme. Wenn junge Hirten und Hirtinnen ihre Arbeit lernen, dann wird sie ihnen nie abstrakt erklärt, sondern das Zusehen und Nachahmen spielt eine wichtige Rolle. Viele meinen, dass das nicht nur das Wichtigste sei, sondern sogar ausreiche. Andere kombinieren Beobachten und Erklären miteinander. Aber das Beobachten steht an erster Stelle. Die Kombination von Sehen und Fragen ist noch aus einem weiteren Grunde eine erfolgreiche Forschungsmethode. In der Tuareggesellschaft wird Fragen schnell als bedrohlich angesehen. Niemand findet es aber anstößig, wenn ich nach den Dingen frage, die ich unmittelbar vor Augen habe. Die Antwort wird nicht nur willig gegeben, sondern die Frage ist auch leichter zu beantworten, wenn der Fragesteller und der Antwortende das Objekt oder den Prozess vor sich sehen. Abstrakt nach Dingen zu fragen, die außer Sichtweise sind, ist nicht nur schwieriger, sondern auch weniger selbstverständlich und daher eher sozialen Normen unterworfen. Alltägliche Arbeiten, die jedermann ausführt, bedürfen keines öffentlichen Diskurses. Das heißt aber nicht, dass bei der Arbeit keine kognitiven Leistungen erforderlich sind, die sich auch sprachlich fassen lassen. Fragen, die im Kontext der Arbeit gestellt werden, mobilisieren die sprachlichen Kategorien, das verborgene Wissen und die für die Ausführung der Arbeit kognitiven Operationen. Jeder verfügt darüber und kann darüber sprechen, wenn er im Kontext der Arbeit dazu gefragt wird. Aber nicht jeder kann in einem Feld, wo das Wissen nicht systematisiert vorliegt, eine zusammenhängende Ordnung präsentieren. Auf meine Frage nach den Formen des Hütens hat nie ein Hirte von sich aus die sieben Formen, die ich oben nannte, aufgezählt, obwohl jeder sie alle schon praktiziert hat und auch die Bezeichnungen kennt. Nur einer der Hirten, die ich beim Spurenlesen begleitete, konnte mir zusammenhängend erklären, worauf das Spurenlesen beruht. Und nur eine Hirtin verstand meine Frage, was die Grundlage des Ziegenhütens sei, so, dass sie mir zusammenhängend die Struktur einer Herde erläutern und im Sand aufzeichnen konnte.
23 Spittler: Hirtenarbeit (wie Anm. 19). S. 131–134.
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Nach Vorstellung der Kel Ewey Tuareg besitzen nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, ja sogar Dinge einen ausgeprägten Eigenwillen, der der Kontrollierbarkeit Grenzen setzt. Wenn der Marktpreis für die zu verkaufenden Datteln schlecht ist, sagt man: „Die Datteln weigern sich verkauft zu werden.“ Es ist nicht immer klar, welche Verhaltensrelevanz diese Formulierungen haben. Glaubt der Verkäufer wirklich, dass die Datteln sich weigern? Nimmt er die Weigerung der Datteln hin oder bemüht er sich um einen anderen Markt? Man benötigt weitere Informationen und Beobachtungen, um die Fragen beantworten zu können. Erst die Kombination von Beobachtung und Frage ergibt Auskunft. Das zeigt folgendes Beispiel, bei dem ich zunächst einen Interviewausschnitt wiedergebe: (Frage): „Warum zieht ihr weiter, obwohl ihr erst vor zwei Tagen hier angekommen seid und die Weide fast neu ist?“ (Antwort der Hirten): „Du hast recht. Aber sowenig du willst, dass man dir eine Schüssel mit Essen vorsetzt, aus der schon ein anderer gegessen hat, so wenig wollen die Ziegen eine Weide, an der schon andere das Gras angefressen haben. Deshalb ziehen wir weiter.“ Als ich das einige Tage später einem islamischen Geistlichen erzählte, sagte er: „Die Tiere sollen den Menschen dienen und nicht die Menschen den Tieren. Diese Hirten sind selbst wie Tiere.“
Wichtig ist an diesem Beispiel, dass diesem Gespräch eine lange Beobachtung vorausging. Ich war mit dieser Nomadengruppe umhergezogen und hatte das Weideverhalten der Hirten und der Tiere beobachtet. Wichtig ist auch, dass die Hirten und Hirtinnen, mit denen das Gespräch geführt wurde, auch diejenigen sind, die Ziegen hüten. Das gilt nicht für den islamischen Geistlichen in Timia, dem ich über das Gespräch berichtet hatte. Er war beim Gespräch nicht dabei, er hütet selbst keine Ziegen, sondern er gab hier eine Bewertung über die Arbeit von anderen ab. 7.3 Dauer und Wiederholung der Forschung
Unsere bisherigen Beispiele beziehen sich vor allem auf die methodische Erfassung des Arbeitsprozesses. Wie hütet man Ziegen und Kamele, wie sucht man verlorene Kamele? Um Hirtenarbeit zu verstehen, muss man aber nicht nur den Arbeitsprozess, sondern auch die Dauerhaftigkeit berücksichtigen. Fragt man die Kel Ewey, was eine bestimmte Person tue, so erhält man häufig die Antwort, sie sei ein amawal, ein Hirte bzw. eine tamawal, eine Hirtin. Damit ist gemeint, dass er oder sie verschiedene, zusammenhängende Tätigkeiten kontinuierlich ausübe, dass diese deren Tageslauf weitgehend bestimmen, dass sie diese Tätigkeiten beherrschen und sich von anderen Personen, für die andere Tätigkeitsbündel typisch sind, unterscheiden. Hirte ist ein Beruf.
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Ziegenweiden während der Regenzeit funktioniert völlig anders als in der Trockenzeit. Die Hütearbeit für Kamele im Aïr gestaltet sich anders als im Hausaland. Der Wechsel gilt noch mehr für außergewöhnliche Ereignisse, die zu jedem Hirtenleben gehören: Schakale, die die Ziegen reißen, eine Flut, die ein halbes Dutzend Ziegen, vielleicht sogar Kamele wegschwemmt, ein Kamel, das weggelaufen ist und mehrere Tage lang nicht gefunden wird, Diebe, die Kamele stehlen. Auch stellt das Kamel- und Ziegenhüten in einer Dürre viel größere Anforderungen als in einem normalen Jahr.24 Alle diese Ereignisse gehören zur Hirtenarbeit und zum Beruf des Kamelhirten. Sie lassen sich nicht an einem Tag erfassen. Sie setzen eine teilnehmende Beobachtung über mehrere Monate, über einen Jahreszyklus voraus. Mehr noch: Ereignisse wie Dürren, die immer wieder, aber in längeren und unregelmäßigen Abständen vorkommen, verlangen Forschung über einen jahrelangen Zeitraum.
8 Arbeit zur Sprache bringen Welche Schlüsse lassen sich aus diesen heterogenen ethnographischen Fallstudien ziehen? Repräsentieren die öffentlichen Diskurse das Arbeitshandeln? In Wirklichkeit weichen sie oft weit davon ab. Vor allem aber sind sie zu allgemein und haben wenig mit dem konkreten Arbeitshandeln zu tun. Meine Ausführungen über den Arbeitsbegriff bei den Kel Ewey Tuareg sind hier ein durchaus repräsentatives Beispiel. Auch dienen die öffentlichen Diskurse über Arbeit kaum als Handlungsmodelle für die Arbeit, wie Gudeman postuliert. Arbeit wird in einem komplexen, situationsspezifischen Kontext durchgeführt. Oft verbergen öffentliche Diskurse über Arbeit mehr, als sie enthüllen. Der öffentliche Diskurs über Arbeit, in dem diese als instrumentelle Aktion definiert wird, verbirgt den interaktiven Charakter der Arbeit, u. a. die spielerischen und kämpferischen Elemente.25 Der öffentliche Diskurs über Arbeit als geplantes Handeln übersieht, dass Arbeit immer situationsspezifisch ist. Das gilt auch für Arbeitsgespräche. Das Reden über Planung ist eher eine Rechtfertigungsstrategie als eine Wiedergabe des Arbeitsprozesses (Suchman). Das Selbstverständnis der Wartungstechniker als Professionelle, die ihre Geräte nach den gelernten Regeln
24 Gerd Spittler: Handeln in einer Hungerkrise. Tuaregnomaden und die große Dürre von 1984. Opladen 1989; ders.: Handeln in einer Hungerkrise – das Beispiel der Kel Ewey. In: Dominik Collet/Thore Lassen/Ansgar Schanbacher (Hg.): Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität. Göttingen 2012. S. 27–44. 25 Gerd Spittler: Arbeit – Transformation von Objekten oder Interaktion mit Subjekten? In: Peripherie, H. 85/86, 2002. S. 9–31.
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ihres Berufs unter Kontrolle haben, verbirgt ihren Umgang mit den Kopierern, der teilweise dem eines Hirten mit seiner Herde gleicht (Orr). Nicht immer, aber sehr häufig werden öffentliche Diskurse über Arbeit von Menschen bestimmt, die die Arbeiten, von denen die Rede ist, nicht selbst ausführen. Der sogenannte antike Diskurs über Arbeit wird von Philosophen geführt, die mit körperlicher Arbeit nichts zu tun haben. Wo versucht wird, in Anlehnung an ethnologische Forschungen der Arbeitskonzeption der griechischen Bauern näherzukommen, ergibt sich ein ganz anderes Bild.26 Der Diskurs über Sklavenarbeit wird in allen Zeitperioden nicht von den Sklaven, sondern von anderen bestimmt.27 Die Vorstellung der Sklaven über ihre Arbeit ist eine ganz andere. Der moderne Diskurs über Kinderarbeit wird von Institutionen formuliert, die weder als Kinder noch als Eltern damit etwas zu tun haben.28 Dagegen haben die hier vorgestellten ethnographischen Fallstudien bei allen Unterschieden eines gemeinsam: Sie interessieren sich primär für die Diskurse derer, die die Arbeit selbst ausführen. Auch dann bleibt eine Diskrepanz zwischen Diskurs und Arbeit bestehen. Aber diese Diskurse beziehen zumindest die eigene Erfahrung mit ein. Anders als die öffentlichen Diskurse stehen die Arbeitsgespräche in einem engen Zusammenhang mit der Arbeitspraxis. Sie werden von den Arbeitenden am Arbeitsplatz geführt und beziehen sich direkt auf die Arbeit. Bei den Untersuchungen von Suchman und Orr stehen sie im Mittelpunkt der Analyse. Bei Popitz, Gudeman und Spittler spielen sie ebenfalls eine Rolle. Aber auch sie sind kein getreues Abbild der Arbeit, sondern es bedarf zusätzlich anderer Methoden, um die Arbeit zu erfassen. „Arbeit zur Sprache bringen“, so lautet der Titel dieses Artikels. Wir müssen uns jetzt genauer damit beschäftigen, was mit dieser Redeweise hier gemeint ist. Gemeinhin versteht man darunter, dass ein bestimmtes Thema in einem Gespräch behandelt wird. Mir geht es aber hier um die wörtliche Bedeutung. Arbeit zur Sprache bringen, das bedeutet zunächst, dass die beiden weit voneinander entfernt sind. Arbeit ist etwas anderes als das Sprechen darüber. Die erste Konsequenz davon ist, dass Arbeit unabhängig vom Sprechen erfasst werden muss, durch Beobachtung und teilnehmende Beobachtung. Das Arbeitshandeln, einschließlich der zugrunde liegenden Kenntnisse, wird oft nur partiell oder gar nicht sprachlich artikuliert. Bei uns werden Wissen und Fertigkeiten durch Lehren vermittelt. Dabei spielen Schulen eine zentrale Rolle. Abstraktes Wissen spielt in einer Lehre eine geringere Rolle. Aber auch dort erklärt der Meister 26 Winfried Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland. Berlin 2004. 27 Gerd Spittler: Anthropologie/Ethnologie der Sklaverei. In: Heinz Heinen (Hg.): Handwörterbuch der antiken Sklaverei (HAS). CD-ROM-Lieferung. Stuttgart 2012. 28 Spittler/Bourdillon: African Children at Work (wie Anm. 1).
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dem Lehrling die Arbeit, das heißt, der Arbeitsprozess wird sprachlich artikuliert und kann daher auch entsprechend für den Forscher zugänglich gemacht werden. In den meisten Kulturen der Welt spielt dagegen zumindest für das praktische Wissen weniger das Lehren als das Lernen eine Rolle.29 Der Lehrling ebenso wie das Kind in der Familie lernt vor allem durch Nachahmen und durch trial and error. Aber auch in westlichen Kulturen ist der Arbeitsprozess nicht durchgängig versprachlicht oder verschriftlicht. Das zeigt z. B. die Untersuchung von Charles und Janet Keller über die Arbeit eines Schmiedes in den USA.30 Das praktische Handeln des Schmiedes ist nicht Ausdruck von sprachlichen Artikulationen und Wissen, sondern sie stehen in einer Wechselwirkung miteinander. Ausgangspunkt der Untersuchung muss daher die performance eines Akteurs sein. Arbeit ist nicht einfach sprachlich vorgegeben und abrufbar. Das heißt aber nicht, dass sie nicht sprachlich artikulierbar ist. Sie mag unausgesprochen sein, aber sie ist nicht unaussprechbar. Die Arbeit kann zum Sprechen gebracht werden. Das ist die eigentliche Leistung der hier diskutierten ethnographischen Methoden. Sie versuchen das Nichtartikulierte zu artikulieren. Popitz bemüht sich, in Leitfadeninterviews Arbeitsbeschreibungen und Gesellschaftsbild der Arbeiter zu erfassen. Spradley präsentiert im ethnographischen Interview eine elaborierte Interviewtechnik, die den Gesprächscharakter beizubehalten versucht, bei der aber dennoch ausführliche Erklärungen und deskriptive, strukturelle und Kontrastfragen einfließen. Für meine Untersuchungen ist die „dichte Teilnahme“, das heißt die enge Verbindung von Beobachten und Fragen, charakteristisch. Hinzu kommt eine jahrelange Forschungszeit, die es erlaubt, Veränderungen und besondere Ereignisse einzubeziehen. Die ethnographische Semantik präsentiert als Ergebnis Wortfeldanalysen und Taxonomien, die einen recht statischen Charakter haben. Bei den anderen Ansätzen dominieren dagegen Gespräche und Diskussionen. Die Aussagen über Arbeit sind widersprüchlich, in Bewegung, sie entwickeln sich je nach Diskussionsverlauf in verschiedene Richtungen. Das zeigt sich in den Studien von Popitz, Orr, Gudeman und Spittler. Als Ergebnis präsentieren die Autoren Arbeitsbeschreibungen, Bewertungen der Arbeit, Modelle über Wirtschaft und Arbeit, Gesellschaftsbilder, war stories. Hier wird Arbeit zur Sprache gebracht. Aber um wessen Sprache handelt es sich dabei, um die der Arbeiter oder die der Autoren? Im besten Falle handelt der Autor wie eine Hebamme, die hilft, ein Kind zur Welt zu bringen. Er bringt den Arbeiter dazu, etwas zu artikulieren, was latent in ihm angelegt war. Er legt ihm keine Begriffe in 29 David F. Lancy: „Learning form Nobody“: The Limited Role of Teaching in Folk Models of Children’s Development. In: Childhood in the Past 3, 2010. S. 79–106; Spittler/Bourdillon: African Children at Work (wie Anm. 1). 30 Keller/Keller: Cognition and Tool Use (wie Anm. 5).
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den Mund, sondern bringt dessen eigene, zum Teil verborgene Sprache zu Geltung.31 Das Modell, das er dann präsentiert, ist aber in der Regel ein Konstrukt des Forschers. Das gilt für Popitz, Spradley, Gudeman und Spittler. Wie weit es noch dem Denken und Sprechen des Arbeiters entspricht, ist eine offene Frage, die von Fall zu Fall beantwortet werden muss. Wenn wir bei dem Bild „Arbeit zur Sprache bringen“ bleiben, dann können wir die Sache auch umdrehen: Sprache zur Arbeit bringen. Die Sprache setzt sich in Arbeit um. Das ist die These von Gudeman, vielleicht auch von Spradley. Aber ist diese These haltbar? In einem begrenzten Sinne ja. Befehle zur Arbeit, die vom Vorgesetzten an den Untergegebenen, von einem Meister an seinen Lehrling gegeben werden, können in Arbeit umgesetzt werden. Auch sind Arbeitsgespräche unter Kollegen und mit Klienten oft Teil der Arbeit. Aber die meisten Autoren haben nicht solche Befehle oder Arbeitsgespräche im Sinn, sondern sie gehen davon aus, dass sprachlich verfasste Taxonomien und Modelle das Arbeitsverhalten steuern. Für Hymes und Spradley ist Kultur ein sprachlich verfasstes Regelsystem, durch das unser Verhalten, u. a. die Arbeit gesteuert wird. Auch bei Gudeman steuern sprachlich verfasste Modelle unser Verhalten, wobei er stärker die Dynamik und Entwicklung von Gesprächen betont. Unsere Fallstudien, einschließlich der von Spradley und Gudeman, zeigen aber, dass Arbeit damit nur unvollkommen erfasst wird. Arbeit muss in ihrem situativen Kontext erfasst und verstanden werden.
31 Spradley: The Ethnographic Interview (wie Anm. 9).
Laura Levine Frader
Gender, Ethno-racial Difference, and the ‘Languages of Labor’ in 20th Century France
Historians of modern Europe have used the term the ‘languages of labor’ to highlight the meanings of work and their consequences, particularly the social practices and policies that flowed from them from the eighteenth through the twentieth centuries.1 Such ‘languages’ included the changing definition of what ‘counted’ as work as well as the representations of work and its symbolic meanings, and forms of legal and institutional regulation. We have also seen how modern languages of labor have been deeply marked by ideas about sexual and ethno-racial difference and have helped to produce new forms of inequality. The semantics of work shaped individuals’ relationships to work and wages, to political and social movements, and influenced welfare state provisions and citizenship.2
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The term was used by William H. Sewell, Jr.: Work and Revolution in France. The Language of Labor from the Old Regime to 1848. Cambridge 1980; and Kathleen Canning: Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany 1850– 1914. Ithaca 1996. See also Sonya O. Rose: Limited Livelihoods. Gender and Class in Nineteenth Century England. Berkeley 1992 and Laura Levine Frader: Breadwinners and Citizens. Gender and the Making of the French Social Model. Durham 2008. See Robert Castel: Les Métamorphoses de la question sociale. Paris 1995. Joan Scott’s work has had a powerful influence on thinking about language and gender. Joan Scott: Gender as a Useful Category of Historical Analysis. In: American Historical Review 91, 1986, pp. 1053–1075; Joan Scott: Gender and the Politics of History. New York 1988. Labor historians took up Scott’s challenge to unpack the meanings of sexual difference embedded in work and labor movements. See, for example, Ava Baron: Work Engendered. Towards a New History of American Labor. Ithaca 1991; Rose: Limited Livelihoods (see fn. 1); Laura Lee Downs: Manufacturing Inequality: Gender Division in the French and British Metalworking Industries. Ithaca 1995; Canning: Languages of Labor (see fn. 1); Frader: Breadwinners and Citizens (see fn. 1); Laura L. Frader/Sonya O. Rose (eds.): Gender and Class in Modern Europe. Ithaca 1996. Sally Alexander’s work is an excellent example of how the language of British artisans constructed the working class as male. Sally Alexander: Women, Class, and Sexual Difference. In: History Workshop Journal 17, Spring, 1984, pp. 125–149. See Frader/Rose: Introduction. In: Frader/Rose (eds.): Gender, pp. 1–33.
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Here we examine the semantics of work in France between the two world wars. How did the definitions and meanings attached to work and their consequences for labor and social policies shift in a period of economic recovery, heightened attention to the working body and ultimately economic depression in the decade before World War II? ‘Work’ always incorporates broader social and historical meanings – who is considered a breadwinner, who has the right to work, who needs to work, and what kinds of work are ‘appropriate’, as well as the connections between work and citizenship. We examine first the resurgence of the male breadwinner model – and the definition of work as a male activity in the context of recovery following World War I. Whereas the languages of labor in the nineteenth century focused primarily on the alleged incompatibility of motherhood and work, post-war twentieth century discourses stressed the importance of men’s work to sustain the family and hinted at the idea that motherhood could also be considered a form of work. We then turn to how rationalization of the labor process and efforts to scientifically assess work in the 1920s and 1930s refined definitions of work specifically in relation to gender and ethno-racial difference. Finally, we explore how the gender and ethno-racial meanings of work inflected the social policies that underscored the French welfare state and influenced measures taken during the Depression of the 1930s.
1 Gender, Class, and Ethno-racial Difference after World War I Gender and ethno-racial difference profoundly marked French society after the war. Across the political and social spectrum, many criticized women’s independence during wartime, while men suffered and died at the front and expressed concern about the restoration of gender and racial hierarchies after the war. The novelist Ernest Perochon described the situation faced by men returning from the front in his 1924 novel Les Gardiennes: “The virile fist was gone and the capricious beings upon whom it ultimately weighed now sought to emancipate themselves.”3 Automobile workers at Citroën complained about the presence of women in the labor force: “Women never worked in metallurgy before the war and if Citroën continues to employ them, it is only to drive down men’s wages.”4 And the presence of large numbers of foreign workers in France after 1918 led to anxieties about racial mixing. For immigrant workers not only supplied needed labor after the war; they socialized with and married French women. One observer, a former High Commissioner for immigration and Naturalization writing in 1928, argued for the careful selection of immigrants 3 4
Ernest Perochon: Les gardiennes. Paris 1924. Quote at p. 38. My translation. Archives nationales de France [hereafter AN] Dossier F7 13367. Police report to the Minister of Interior. April 9, 1919.
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to “renovate the French race.” He advocated the selection of European and Nordic peoples as “good stock;” and believed that Africans and Asians, “races that cannot melt [into the French race]” should be avoided.5 This was the discursive climate that shaped the semantics of work in the interwar years. Tension between the need to literally regenerate the national body and the need for women’s and immigrant men’s participation in the labor force shaped debates over economic reconstruction and more than ever before, work became less exclusively an individual activity and more explicitly linked to family and to perceived gender roles.6 Despite (or perhaps because of ) the fact that growing numbers of women and immigrant men entered the industrial labor force during the war, many social observers and government officials persisted in seeing work as the primary responsibility of a French male breadwinner and promoted a domestic role for women. As one worker commented: “A man must be paid enough to cover his family’s needs so that his wife can stop all work in order to devote herself to her social role as wife and mother.”7 Indeed gender influenced the very definition of work. If men’s activity constituted ‘work’ (travail) women’s activity was the result of her ‘social role.’8 Even before the end of the war French metalworkers characterized women’s work in metalworking shops in the defense industry as “opposed to the [very] existence of the home and family” and as contradicting “the demand to procreate.”9 At the same time, the enormous mortality the French suffered during the war, coupled with low fertility (12.6 births per thousand in 1919), made the regeneration of the national body a high priority. Alongside the critique of women’s wartime work (and independence), came all too familiar inducements to women to ‘be fruitful and multiply,’ including the revision of criminal penalties for abortion and contraception in 1920, and symbolic measures such as the establishment of the ‘Medal of the French Family,’ that awarded progressively more valuable medals to mothers as rewards for bearing ever larger numbers of children. The state now required that all schoolgirls take a course in childcare. At the same time, the dominant discourse that promoted maternity as women’s primary vocation, reinforced by housewives’ organizations such as the conservative Ligue de 5 6 7 8
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Charles Lambert: La France et ses étrangers. Paris 1928, pp. 74–78. I explore this process in some detail in Frader: Breadwinners and Citizens (see fn. 1). Lean-Louis Robert: La CGT et la famille ouvrière. In: Mouvement social, 116, July– September 1981, p. 59. One exception to the opposition to women’s work outside the home came from social Catholics. Although they deplored women’s industrial work, they encouraged women to return to farming, hoping that the rationalization of farm work would “make the farm woman a specialized, qualified professional.” Comtesse Keranflech-Kernezne: La Femme à la Campagne. Ses Epreuves et ses responsibilities. Paris 1933. Françoise Thébaud: La Femme au temps de la guerre de quatorze. Paris 1986, pp. 187– 188.
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la mère au foyer (Housewives’ League) that campaigned for mothers to abandon paid work outside of the home, failed to keep women out of the labor force. Although the female labor force participation rate declined immediately after the war, it nonetheless remained relatively stable (averaging 37.2 percent of the active population) until the Depression.10 Moreover, women’s relatively strong participation in paid work stimulated enhancements to employment-based social policies that benefitted them directly. Complementing pre-war legislation, a 1928 law provided that women could take up to 12 weeks of paid maternity leave. All mothers enjoyed governmentsponsored hospital care for themselves and their newborns, as well as a monthly nursing allowance. But such benefits came at the price of discourses that identified women primarily as mothers; and the rhetoric of maternity that accompanied these policies, because it de-legitimized women’s wage work, helped to constitute women as a separate and secondary category of worker.11 Thus, despite women’s strong labor force participation in the interwar years and the additional social protections from which working mothers benefitted, the 1920s and 1930s saw remarkable continuities with the pre-war years. What changed however were the semantics of work that applied to men as fathers and workers. Alongside a campaign to promote motherhood, the state and social observers also promoted procreative fatherhood, a male breadwinner model, and privileged men’s access to work-related benefits. In 1920 the French established a special income tax of 25 percent on single working men and women and a special tax of ten percent on the incomes of childless couples who had been married for two years, redistributing the burden of taxation to those who had no children.12 As one deputy stated before the French Chamber of Deputies, such measures linked respectable manhood to the production of children as well as to work. Setting respectable fathers apart from single, childless men, other legislators criticized bachelors who lived what they perceived 10 Jean-Louis Robert: Women and Work in France. In: Richard Wall/Jay Winter (eds.): The Upheaval of War. Family, Work, and Welfare in Europe 1914–1918. Cambridge 1988, p. 262. République française: Statistique générale de France. Résultats statistiques des recensements 1921, 1926, 1931, 1936. Paris 1921, 1926, 1931, 1936. 11 On the discourses of maternity see Downs: Manufacturing Inequality (see fn. 2) and Frader: Breadwinners and Citizens (see fn. 1). Mary Lynn Stewart has shown how concern about maternal health and the health of newborns pushed French legislators to pass the first French maternity leave legislation (the Strauss Law) in 1913. Mary Lynn Stewart: Women Workers and the French State. Labor Protection and Social Patriarchy 1879–1919. Montreal 1989. 12 As Mary Louise Roberts points out, radical opponents of the surtax argued that it amounted to a punitive measure tantamount to “procreation by constraint.” Mary Louise Roberts: Civilization Without Sexes. Reconstructing Gender in Postwar France 1917–1927. Chicago 1994, p. 160.
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as pleasure-filled lives, whereas “the father of eight children has to feed ten mouths with the same amount of money the bachelor uses for himself, alone.”13 The financial burden of raising a large family should be borne by “bachelors and fathers with fewer than three children who have not completely fulfilled their social obligation.”14 One observer criticized “the inequality between the bachelor worker who has only himself to think of and the [father] who must provide for his wife and children […].”15 Such discourses implied that fathers should earn more than childless men, much in the same way that employers and social observers justified women’s low wages by calling upon their ‘natural functions’ as mothers and housewives. The valorization of men’s work and of the male breadwinner also colored discussions of family allowances that provided support upon the birth of a child, implemented broadly by employers in the 1920s and eventually by the state in the 1930s. In parliamentary debates, deputies defended the right of working fathers of large families to receive the allowance (against claims that mothers should receive it) as a symbolic reward to men for producing children, “it would be inadmissible that the law deprive the father of his rights as a family head.”16 They also proposed a mother’s allowance to provide mothers with an annual stipend, based on the number of children less than 16 years of age in their household, provided that the mother remained at home. These policies, supported mostly by the political right, incorporated assumptions not only about the inherent right of men to provide for their families, but came close to transforming motherhood into a form of work for which women could be compensated, even if only symbolically.17
13 République française: Journal Officiel de la République française. Chambre. Débats parlementaires [hereafter J. O.], March 11, 1921, p. 1185. 14 J. O., March 11, 1921, p. 1185. 15 Robert Pinot: Les Oeuvres sociales des industries métallurgiques. Paris 1924, pp. 151– 156. 16 J. O., March 23, 1921, p. 1365. 17 Not all believed that motherhood could be construed as a form of work. See below. Moreover, the mother’s allowance could not be considered a real wage; it was no more than a token form of recognition of a ‘labor of love’ that was considered women’s ‘natural’ vocation. This was not the first time that maternity was viewed as a form of work. The beginning of a change in the semantics of women’s work could be seen in 1908, when feminists argued for women’s suffrage on the grounds that pregnancy was a form of work: “The pregnant woman works physiologically and psychologically for the nation.” Marie-Hélène Zylberberg-Hocquard: Féminisme et syndicalisme en France. Paris 1978, p. 127. Feminist labor activists also claimed rights for women on the grounds that maternity constituted a social function. Laura Frader: Social Citizens without Citizenship. Working-Class Women and Social Policy in Interwar France. In: Social Politics, 3, Summer-Fall 1996, pp. 111–135.
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However, the valorization of the working father did not apply to all men. Restoring the primacy of the male breadwinner in the post-war years was complicated by massive immigration that brought over one million, mostly foreign workers to France between 1919 and 1924, their numbers nearly tripling by 1931. These global migrants counted for some twelve percent of the French labor force by 1931, and constituted an increasingly visible presence in the workplace.18 As Tyler Stovall has shown, during the war anxiety about the employment of French women alongside colonial men raised the specter of interracial sexuality and sparked racial conflict. Such concerns enhanced the arguments of those who defined women’s work outside the home as illegitimate. They persisted after the war, as numerous colonial subjects remained in France and other immigrant workers from Poland, Russia, and Spain, joined them. But post-war debates over immigration added new levels of complexity. Some observers focused on the problem of competition between women and immigrants for unskilled, low-waged jobs.19 Others argued that hiring immigrants would prove demoralizing to French male workers and proposed that it would be better to hire French women rather than immigrant men. They worried that recruiting black and Chinese male workers would “lead to social difficulties [especially] if the just price of work is cast aside for servile men.”20 The ‘just price of work’ referred to the more highly paid (and more highly valued work of French men; the reference to the ‘servility’ or less manly qualities of certain groups of male immigrants incorporated assumptions central to the power relations of ‘great power’ domination of non-Western peoples. Such assumptions were arguably reinforced by efforts to rationalize work along gender and ethno-racial lines.
2 The Language of the Working Body During and after the war, employers sought to increase productivity by applying the principles of scientific management to organizing the workplace and refining the division of labor. They also relied on the research of industrial physiologists who 18 Gary S. Cross: Immigrant Workers in Industrial France. The Making of a New Working Class. Philadelphia 1983, p. 55. 19 Eugène Morel: Action politique et sociale. Le chômage à Paris. In: La France libre, January 19, 1919. Not everyone believed in limiting all immigration. Charles Lambert for example viewed selective immigration as a means to the “renovation of the French race”, as did pronatalist leader Fernand Boverat. Charles Lambert: La France et ses étrangers. Paris 1928; Fernand Boverat: Il faut à la France une politique d’immigration. In: Revue de l’alliance pour l’accroissement de la population française, 129, April 1923, pp. 137– 138. 20 Pierre Hamp: Les Métiers blessés. Paris 1919, pp. 217 and 225. My emphasis.
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analyzed the body at work and its resistance to fatigue. In the drive for greater efficiencies in the organization of work and the deployment of workers, the semantics of work now incorporated the idea of the body as a “human motor.”21 Engineers reorganized the factory floor to cut down on time-wasting trips between different parts of the factory and to make it possible for workers to reach tools more easily.22 These processes were central to the rationalization of work and also allowed employers to differentiate between work and working bodies ‘scientifically’ on the basis of gender and race. In metalworking and automobile manufacture, food production and even the telephone service, employers reduced work to its simplest components in order to employ women and male colonial workers on the assumption that both groups could withstand repetitive, unskilled work and indeed had particular aptitudes for such work.23 Refinements in the differentiation of work and workers helped to reproduce the status of women and colonial workers as inferior categories of workers separate from French male breadwinners. They also influenced thinking about skill and professional training, the latter typically available only to French men. Historians and sociologists have called attention to how skills (or lack thereof ) have been marked by gender and race.24 As Anne Philips and Barbara Taylor have remarked, skill was 21 The term is used by Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue and the Origins of Modernity. New York 1990. 22 Frederick Winslow Taylor’s “Principles of Scientific Management” was translated into French before the war and French automobile manufacturers attempted to apply some of his ideas. Patrick Fridenson: Un Tournant taylorien de la société française (1904– 1918). In: Annales ESC, 5, September–October 1987, pp. 1031–1060; Yves Cohen: Ernest Mattern chez Peugeot (1906–1918) ou comment peut-on être taylorien? In: Maurice de Montmollin/Olivier Pastré (eds.): Le Taylorisme. Paris 1984, pp. 115– 126; Aimée Moutet: Les logiques de l’entreprise. La Rationalisation de l’Industrie française de l’entre-deux-guerres. Paris 1997; Downs: Manufacturing Inequality (see fn. 2); Georges Ribeill: Les débuts le l’ergonomie en France à la veille de la première guerre mondiale. In: Le Mouvement social, 113, October–December 1980, pp. 3–36; Georges Ribeill: Les organisations du mouvement ouvrier en France face à la rationalisation (1926–1932). In: Montmollin/Pastré (eds.): Le Taylorisme, pp. 127–140. 23 On the racial division of labor, see Bertrand Nogaro/Lucien Weil: La main d’œuvre étrangère et coloniale pendant la guerre. New Haven/Paris 1926; Tyler Stovall: ColorBlind France. Colonial Workers During the First World War. In: Race and Class 35, 2, 1993, pp. 33–55; Tyler Stovall: The Color Line Behind the Lines: Racial Violence in France During the Great War. In: American Historical Review, 103, 1998, pp. 737–769. 24 In addition to the sources in fn. 18 above, see Anne Philips/Barbara Taylor (eds.): Sex and Skill: Notes Towards a Feminist Economics. In: Feminist Review, 6, October 1980, pp. 79–88; Charles Tilly: Durable Inequality. Berkeley 1998; Sonya O. Rose: Gender Segregation in the Transition to the Factory. The English Hosiery Industry, 1850–1910. In: Feminist Studies, 13, 1987, pp. 163–184; and Rose: Limited Livelihoods (see fn. 1).
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not an “objective economic fact,” but rather “an ideological category imposed on certain types of work by virtue of the sex and power of the workers who perform it,” [the] classification of women’s jobs as unskilled and men’s jobs as skilled or semi-skilled frequently bears little relation to the exact amount of training or ability required for them. Skill definitions are saturated with sexual bias. The work of women is often deemed inferior simply because it is women who do it. Women workers carry into the workplace their status as subordinate individuals, and this status comes to define the value of the work they do.25
Although the ‘social constructed-ness’ of skill was apparent throughout the nineteenth century in North America and Western Europe, in post World War I France the presence of large numbers of immigrant men from Southeast Asia, North Africa and sub-Saharan Africa led to new ways of defining work that became apparent with regard to professional training. Well aware of the need for highly trained and skilled labor after the war, the French government passed legislation in 1919, the Astier Law, to require that municipalities sponsor technical training courses for men. Placide Astier, author of the bill, believed that training would produce more capable male workers and would also develop the values of citizenship. “When the State takes responsibility for [men’s] technical education,” he wrote, “an entirely new mentality will appear […] simultaneously [developing] the man and the citizen […].” Connecting work to citizenship in this way automatically implied forms of ethno-racial and gender exclusivity. Astier believed that workers (by which he meant French male workers) would reject the appeals of the labor movement and would achieve a heightened sense of civic responsibility.26 Many employers established their own apprenticeships, such as those in naval and electrical construction and in the automobile industries. Automobile manufacturer André Citroën did the most to advance training for his male workers, offering apprenticeships inside the factory and building a school outside the factory. However, technical training was not available to all men; even after the French government required all employers to provide job training in 1928, some French men and most immigrant workers typically remained untrained and unskilled; immigrants were not included in training programs; and with few exceptions, nor were women. Indeed, social observers and government officials believed that women possessed ‘natural aptitudes’ for certain kinds of work that made training unnecessary. It is worth noting in this context that the term ‘natural aptitudes’ – as a substitute for skill – appeared time after time in discussions of women’s work, but almost never 25 Philips/Taylor: Sex and Skill (see fn. 24). 26 Bernard Charlot/Madeleine Figeat: Histoire de la formation des ouvriers 1789–1984. Paris 1985, the quote at pp. 245–246. My translation.
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in discussions of French men’s work. These aptitudes included fine motor coordination (nimble fingers), a nervous constitution, and the innate ability to withstand monotonous, repetitive work. Women might however, benefit from training in home economics: [M]en are usually employed at more difficult work than women and they need a certain scientific culture. On the contrary the young woman is normally called upon to form a household and in devoting herself to her home will sooner or later leave industrial work […]. Wouldn’t it be better to emphasize general instruction [for her] which would include […] an entirely feminine and particularly useful science: household science?27
Some conservative Catholic textile manufacturers in Lille and Roubaix regularly provided home economics training to young women employees, as did several municipalities in the Paris region.28 These varieties of ‘training’ reinforced prevailing postwar discourses about the gender of work. Women in a small number of luxury trades (such as haute couture – sewing for the high fashion houses) were among the few to receive an apprenticeship, but most learned on the job, as did immigrant workers. Indeed, for the majority of women, not training but rationalization and the creation of new categories of unskilled work identified as ‘female’ actually facilitated women’s re-entry into the labor force after the World War I. At the Citroën automobile plant for instance, a list of jobs showed some 186 different categories of unskilled and skilled work.29 In the mechanical casting department (atelier de fonte méchanique) seventy unskilled women and thirty unskilled men worked on simple machines, making nuts 27 Pierre Magnier de Maisonneuve: Les Institutions sociales en faveur des ouvrières d’usine. Paris 1923. The quote at p. 80. My translation. 28 Magnier de Maisonneuve: Les Institutions (see fn. 27), p. 80; Kathleen Canning has shown how the 1891 German labor code incorporated housekeeping schools in its expanded definition of technical training for workers. Canning: Languages of Labor (see fn. 1), pp. 140 and 305. In France, Home economics training was not specific to conservative Catholic employers; the post-war period saw the development of new ideas about home economics training for women more generally in France. Paulette Bernège, a major proponent of the rationalization of housework who won significant popular support, established a magazine, the Household Organization League (Ligue de l’organisation ménagère) and a School of Advanced Studies in Home Economics (Ecole de haute enseignement ménagère). See Martine Martin: Femmes et société, Le travail ménagère (1919–1939). Thèse de doctorat du troisième cycle. Université de Paris VII. 1984. 29 Archives nationales de France (AN): Dossier 39 AS 914, Groupement des industries métallurgiques de la région parisienne (GIM) Archives, Typewritten list “Catégories professionnelles et salaires demandés par le comité d’entente des ouvriers en Métaux [1919].”
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and bolts and parts for automobile gas filters (noyautage), producing 800 bolts an hour and 960 gas filter parts. The highly skilled work of trimming was entirely male, occupying 123 men at filing parts by hand.30 The gendered fragmentation of work and lack of training for women also influenced the pace of work and wage levels in the more highly rationalized factory, where employers used piece rates to increase productivity.31 On assembly line repetition work, women (and some unskilled men) worked at breakneck speed to produce enough to make a living wage. Teacher and Social Catholic labor activist Simone Weil, who worked in a metalworking factory at piece rates, described the relentless work-pace, physical exhaustion and the cost of mistakes: [Monday 17 December] Afternoon – [Work on the] press: pieces very difficult to place, [lost 56 centimes]. [Made] 600 [pieces] from 2:30 to 5:15 p.m. with a half hour to readjust the machine […] Tired and disheartened […] Disgust because of the 56 centimes, causing [me] to become tense and exhaust myself with the certainty that I’ll be yelled at for not working fast enough or for botched pieces […] I feel like a slave.32
Proponents of rationalization who promoted the idea that women’s ‘nervous constitution’ made them especially fit for rapid assembly line work enabled employers to justify brutally repetitive labor, illustrating how the gendered ‘languages of labor’ influenced employment practices. At the very moment that some French employers began to adopt ‘scientific management,’ industrial physiologists studied work and the body from the perspective of fatigue and endurance in order to reduce wasted motions, use physical energy effectively and increase productivity.33 Their objective was to more efficiently match the worker to the work. Like the proponents of scientific management, their findings 30 Sylvie Schweitzer: Des Engrenages à la chaine. Les Usines Citroën 1915–1935. Lyon 1982, p. 40. 31 Eugénie Rey, “Rapport de stage [de surintendante] fait aux usines de la compagnie Thompson Houston, du 17 au 30 juin 1921”, pp. 1, 3–4. In: Archives de l’école des surintendants d’usine, Ecole supérieure du travail social, Paris. 32 Simone Weil: La Condition ouvrière. Paris 1951. The quote at p. 40. My translation. 33 See Jean-Marie Lahy: Le système taylor et la physiologie du travail professionnel. Paris 1916, pp. 156–157. Taylorism and work science both shared productivist goals. Rabinbach: Human Motor (see fn. 21), p. 253. Industrial fatigue research was international in scope, as Rabinbach shows. In 1913, Chauveau presided over a committee created by the French Minister of Labor, Henri Chéron, and charged with investigating the physiology of work, and on which physiologists Jules Amar and M. A. Imbert both participated. See report in: Le travail professionnel. Recherches sur la physiologie du travail professionnel. In: Bulletin mensuel de la statistique IX, 1919, pp. 333–350.
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facilitated the employment of unskilled immigrant and colonial labor in the 1920s and 1930s and helped to justify placing immigrant and colonial men at the bottom of a racial labor hierarchy.34 Indeed, a study of the use of colonial labor during the war illustrates how scientists and social observers deployed assumptions about race and gender to determine the workers’ abilities. The authors, Bertrand Nogaro and Lucien Weil, argued that foreign male workers’ productivity differed according to the “unequal value and different aptitudes of the diverse races […]”.35 Their report found Moroccans, Kabyles, and Berbers to be “sturdy” and “energetic,” and suitable for industrial work. The Indochinese (Cambodians, Cochin-Chinese, Annamites, and Tonkinois) on the other hand, tended to be “soft and submissive” and made good unskilled workers for powder factories or agriculture. Nogaro’s and Weil’s observations demonstrate how the racial semantics of work attributed ‘natural aptitudes’ and altered the gender characteristics of work and working bodies. In feminizing the body of the colonial male subject, they illustrated how ‘knowledge’ of the body could be used to dictate the deployment of workers. To the feminine characteristics of softness and submissiveness (or servility) supposedly characteristic of Indo-Chinese workers, the report’s authors added that these workers were especially suitable for jobs “requiring dexterity as opposed to physical force” – the very characteristics most often claimed for work gendered female, and associated with beliefs about women’s superior fine motor coordination and their ‘nimble fingers.’ “The Indo-Chinese,” it
34 As Rabinbach points out, industrial physiology took account of changes in the labor process going on outside the laboratories in which it was first conceived. “Concern with fatigue, time, and motion reflected deep social changes in the nature of the factory and the emergence of a workforce that no longer had to be subjected to the moral economy of industrial discipline outside the workplace. Instead, workers had to be taught to internalize the regularity imposed by machine technology and adapt to newly intensified work norms.” Anson Rabinbach: European Science of Work. The Economy of the Body at the End of the Nineteenth Century. In: Stephen Laurence Kaplan/Cynthia J. Koepp (eds.): Work in France. Representations, Meaning, Organization, and Practice. Ithaca 1986, pp. 475–513, p. 507. The literature on industrial physiology is voluminous. For an excellent review, see Ribeill: Les débuts (see fn. 22). See also Claudine Fontanon/André Grelon (eds.) : Les professeurs du conservatoire national des arts et métiers. Dictionnaire biographique 1794–1955. 2 vols. Paris 1994. 35 Nogaro/Weil: La main d’œuvre (see fn. 23), p.26. Approximately 30,000 North Africans already worked in France prior to the war, most as unskilled laborers in mining and industry (ibid., p. 5). In 1915, the Undersecretary of State for Artillery and Munitions in the Ministry of War hired several hundred Kabyle workers for artillery manufacture and the Minister of Agriculture hired several hundred for agricultural work. A more systematic mobilization of colonial labor began in 1916. On the differences in treatment of European and colonial labor, see Stovall: Color-Blind France (see fn. 23).
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concluded, “[have] no more strength than women.”36 The feminization of East Asian male workers conveniently fit within the framework of an imperial system that relied on the domination of foreign bodies – although to be sure not all colonial workers were feminized. In contrast to relative stability of normative meanings attached to the gender of European workers, the gender of colonial workers appeared less stable, and likewise marked their potential employability.37 The work of industrial physiologist Jules Amar, head of the Occupational Labor Research Laboratory in Paris (Laboratoire des recherches sur le travail musculaire professionel), is worth noting in this regard. One of a large group of research scientists who studied work and fatigue, Amar believed in men’s and women’s fundamentally different capacities for work. Reviewing the cardiograms of French men and women responding the sound of the fall of a two-kilogram weight, he observed significant changes in women, but negligible or no change in men. Eliding socially developed characteristics of femininity and scientific observation, he attributed the difference to women’s allegedly greater sensation of fear and powerlessness, as well as their greater nervous and emotional susceptibility.38 He argued that in general “the shape of the body […] provides a guide for the worker’s choice of one form of work over another […]. Normally, men are organized and constructed to work in a certain way because this is the way their work is most economical.” Workers could be classified, he believed, according to the morphology or “architecture of their bodies.”39 His experiments on North African men likewise attempted to demonstrate that ethno-racial differences could determine their suitability for work.40 Recruiting his subjects from petty criminals housed in the Algerian prison of Biskra, Amar conducted experiments on men carrying weights while walking and climbing to test endurance and fatigue. In North Africa he could find men presenting “the physical and moral temperament of beasts of burden [le tempérament physique et
36 Stovall: Color-Blind France (see fn. 23), p. 48. Stovall observes that during the war, such supposed physical characteristics came to be viewed as a moral deficiency: laziness. Dexterity was the skill most often associated with women, usually because of cultural beliefs about women’s superior fine-motor coordination and their ‘nimble fingers.’ See also Downs: Manufacturing Inequality (see fn. 2), pp. 83–84. 37 Nogaro/Weil: La main d’œuvre (see fn. 23), pp. 49–50. Quote at 54. 38 Mathilde Dubesset/Françoise Thébaud/Catherine Vincent: Les munitionnettes de la Seine. In: Patrick Fridenson (ed.): L’Autre front. Paris 1977, p. 196, n. 34. 39 Jules Amar: Le moteur humain. 2nd ed. Paris 1923, pp. 148–178, at pp. 323–324. 40 On Amar’s study of the body at work, see also Ribeill: Les Débuts (see fn. 22), pp. 14–16, and Elisa Camiscioli: Reproducing the French Race. Immigration, Intimacy, and Embodiment in the Early 20th Century. Durham 2009, pp. 4–6.
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moral du bœuf].”41 Reproducing almost a century of scholarship devoted to establishing the superiority of Kabyles over Arabs, he concluded that Kabyles are superior to all the Arabs in respect of the amount of daily labor of which they are capable, and the rapidity of their movements. More nervously constituted, they instinctively tend to work rapidly […]. The Kabyle alone is adapted to industrial work and to swift exertion […] one may reckon that five Kabyles are equivalent to six good Arab workers. Their endurance […] was more particularly displayed by the way in which they resumed the same labor several days in a row without appearing to suffer […].42
Thus, ‘science’ legitimated and naturalized ethno-racial differences in distinguishing different capacities for work. These examples illustrate how unpacking the labor process led to expanding the gender and ethno-racial meanings of work. Male immigrants indeed provided much of the unskilled labor that facilitated economic recovery in the 1920s and 1930s and figured prominently in industrial rationalization, working at the same unskilled jobs as French women and at jobs that employers believed were too dangerous or too dirty for French women or that French men refused to do. By 1931, almost 60 percent of immigrant workers (as against one third of French workers) were employed in heavy industry (automobile manufacture, sugar refining and metallurgy for example). Of these immigrant workers, the majority (68 percent) were unskilled.43 Most of these workers were men; immigrant women tended to be concentrated in textiles, garment production and domestic services.44 In the sugar refineries of the Paris region, Senegalese men pushed heavy wagons filled with sugar and worked in rotating teams on shifts that lasted as long as sixteen hours, naked to the waist because of the intense heat.45 Although we do not have evidence 41 Henri Le Chatelier: Introduction. In: Amar, Le moteur humain (see fn. 39), p. x. 42 Jules Amar: The Physiology of Industrial Organization and the Re-employment of the Disabled. Translated by Bernard Miall. Edited with notes and an introduction by A. F. Stanley Kent. London 1918. Quote at pp. 219–220. This observation also revealed how French workers’ characteristics were defined. Patricia E. Lorcin has discussed the distinction between Arabs and Kabyles in: Imperial Identities. Stereotyping Prejudice and Race in Colonial Algeria. London 1999. 43 Gérard Noiriel: Population, immigration, et identité nationale en France XIX–XX siècles. Paris 1992, pp. 66–67. See also Ralph Schor: L’Opinion française et les étrangers 1919–1939. Paris 1985, p. 103. 44 Gerard Noiriel: Le creuset français: Histoire de l’immigration, XIX–XX siècles. Paris 1988, p. 142; Georges Mauco: Les Etrangers en France. Leur rôle dans l’activité économique. Paris 1932, p. 304. 45 Stéphane Sirot: Les conditions de travail et les grèves des ouvriers coloniaux à Paris dès les lendemains de la Première guerre mondiale à la veille du Front populaire. In: Revue
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of the semantic distinctions used by employers in this industry that allowed them to believe that West African men were especially suited for this kind of work, it is entirely plausible that the research of industrial physiologists on ethno-racially differentiated work influenced hiring practices. In the automobile industry of the Paris suburbs, companies in Boulougne, Issy-lesMoulineaux, Courbevoie, Asnières, St.-Ouen employed from 6.000 to 8.000 foreign workers, notably North Africans and Africans, Russians and Poles.46 At Citroën’s Clichy factory, foreign workers made up 39 percent of the work force in November 1928. The majority (25 percent) were unskilled Algerian and Moroccan men; the company also employed Poles, Belgian, Portuguese, Spanish, Russian, and Italian men. Most automobile workers (60 percent) worked at unskilled, heavy work in the foundries and ironworks, in handling and loading, or at sandblasting metal in preparation for painting or enameling, all areas in which French workers avoided the heat, dirt, work accidents, burns and respiratory infections.47 By and large, employers tended to agree with industrial physiologists’ claims about the racial and gender division of labor. Metalworking employers in the Paris region for example, argued that substituting French workers for immigrant workers was difficult because of “the repulsion of indigenous workers [la main d’œuvre nationale] for hard work.” Moroccan workers on the other hand “have shown themselves to be particularly good at hard, unpleasant work.”48 Here is another case where the meaning of work became attached to certain types of ethno-racial difference. Industrial physiologists’ studies of women’s bodies also illustrated the application of gender meanings to specific kinds of work. They scrutinized women telephone operators whose numbers grew steadily in the 1920s and 1930s with the expansion of the modern telephone service.49 The state telephone service offered an example of
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française d’histoire d’outre-mer, 83, 1996, pp. 65–92, p. 77, citing articles in L’Humanité, June 20, 1923, and May 8, 1929. Mauco: Les Étrangers en France (see fn. 44), p. 310. Schweitzer: Des Engrenages à la chaine (see fn. 30), p. 80. On the importance of North African colonial workers in the Paris region and the number of Kabyles, see Sirot: Les conditions de travail (see fn. 45), pp. 70–72. AN 39 AS 914, “Observations présentées par le groupe des industries métallurgiques, mécaniques et connexes de la région parisienne au sujet de la fixation des pourcentages de main d’œuvre étrangère dans les industries des métaux de la région parisienne, janvier 1935.” Julien Fontègne/Emilio Solari: Le travail de la téléphoniste. Essai de psychologie professionnelle. In: Archives de Psychologie XVII, 66, November 1918, pp. 93–95. The Dutch applied industrial physiology to telephone operators even more aggressively. See Robert Korving/Gerard Hogesteeger: Psychotechnik bei der PTT Niederlande. In: Helmut Gold/Annette Koch (eds.): Fräulein vom Amt. München 1993, pp. 120–134.
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highly rationalized and gendered public service sector work that relied on women’s alleged innately ‘nervous character’ (nervosité) and their supposed ability to tolerate fast-paced, repetitive work (travail à répétition). Seated at long switchboards in the telephone exchange, operators executed the rapid placement of pins into the jacks of the switchboard in order to answer calls and make connections, repeating such precise movements hundreds of times in the course of an hour. Industrial physiologists who studied telephone operators agreed that women’s physical differences from men (their allegedly greater nervousness, their ability to move rapidly and react quickly to external stimuli, and their ability to give sustained attention to work) made them especially well qualified for the job. The conceptualization of female and colonial workers as categories different from French male workers facilitated the employment of large numbers of women and colonial men in ways that would not threaten French men’s employment and perpetuated gender and ethno-racial inequality. Because of how work in France became tied to gender, ethno-racial status and the family, these modern discourses of gendered and racialized work in turn influenced the French social policies of the 1920s and 1930s.
3 Breadwinners and the Welfare State After World War I, largely in response to France’s population crisis the French continued the process begun before the war of crafting the extensive social protections to which all citizens would be entitled. These measures went far beyond nineteenth century protective labor legislation banning the work of women and children in mines (1874) and banning night work for women (1892), and even the 1913 Strauss Law that provided unpaid maternity leave to working mothers. Changes in the gender See also the discussion of Münsterberg’s and McComas’ experiments on telephone operators in Henri Pieron/Henri Magne/Marcel Frois: Physiologie du travail. Contribution à l’étude du rendement de la main d’œuvre et de la fatigue professionnelle. Paris 1922, pp. 96–98. Doctors and scientists gave increased attention to the bodies of working women in France during World War I. See Mathilde Dubesset/Françoise Thébaud/ Catherine Vincent: Quand les femmes entrent dans l’usine. Mémoire de Maîtrise. Université de Paris VII, 1973–1974; and Dubesset/Thébaud/Vincent: Les munitionnettes (see fn. 38). On the interwar years, see Annie Fourcault: Les femmes à l’usine en France dans l’entre-deux guerres. Paris 1982; and Downs: Manufacturing Inequality (see fn. 2). Attention to women’s bodies was paralleled by the focus on the mutilation of men’s bodies in war and the politicization of the male body. See Sandra M. Gilbert: Soldier’s Heart. Literary Men, Literary Women, and the Great War. In: Margaret Randolph Higonnet/Jane Jenson/Sonya Michel/Margaret Collins Weitz (eds.): Behind the Lines. Gender and the Two World Wars. New Haven/London 1987, pp. 197–226.
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and racial definitions of work and the rights and duties associated with work of the 1920s shaped social policies. Two examples illustrate these developments: the family policies of firms and state unemployment policies during the Depression. Modern social policy in France began with the private initiatives of pronatalist entrepreneurs in the early decades of the twentieth century, who responded to France’s low fertility by providing financial supports to workers with dependent children, as an incentive to bear children. Attention to the health of working bodies influenced employers’ and the state’s management of France’s fertility crisis throughout the 1920s and 1930s. During the war, concern about the negative consequences for maternity of women’s work with toxic chemicals in the defense industry had led to the establishment of nursing rooms and day care centers in war factories that enabled women to combine motherhood and wage work. Conservative Catholic textile entrepreneurs in Grenoble and in Roubaix-Tourcoing established a system of family bonuses (sursalaires familiales) during the war, paid to workers with dependent children. Men or women employees who had worked for a month could receive the allowance and families stood to receive a larger supplement if both parents and adolescents over thirteen worked for the firm. Families could add as much as 25 percent to their wages; those with six children effectively doubled the amount of their wage with a family bonus.50 These allowances required continuity of employment – workers who struck or lost time at work forfeited the allowance – and required home visits by women welfare supervisors who provided home economics education for mothers, and taught them about childcare.51 Initiatives like these laid the foundations of future welfare policy following the war, spreading to other industries such as metalworking. In 1923, the Mining and Metallurgical Industries Consortium (GIMM) established substantial allowances for fathers of large families. A father of four who earned 400 francs in metalworking plus an additional 40-francs family allowance experienced a 30 percent rise in aggregate wage to 570 francs a month. A father of nine children could bring home 970 francs a month, a 98 percent increase from his previous 490 francs a month.52 From the 50 Susan Pedersen: Family, Dependence, and the Welfare State in France and Britain, 1914–1945. Cambridge 1995, p. 245. See also her discussion of the administration of these funds through the caisses de compensation, pp. 224–288. As Pedersen shows, the number of caisses grew steadily from 15 in 1920 to 255 in 1932 (p. 231). On the development of French social policy see also Françoise Thébaud: Le mouvement nataliste dans la France de l’entre deux guerres. L’Alliance nationale pour l’accroissement de la population française. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine, 32, 1985, pp. 276–301. 51 Pedersen: Family (see fn. 50), pp. 273–274. 52 Paul Dutton: Origins of the French Welfare State. The Struggle for Social Reform in France 1914–1947. Cambridge 2002, p. 27.
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employers’ perspective these allowances encouraged the reproduction of the labor force and served as a form of wage restraint, since only workers with children received the allowance. They also encouraged loyalty to the firm and constituted a form of labor regulation, since a worker who went on strike against the firm forfeited the allowance. Although they provided families with children significant increases in income during the inflationary post-war years, they also reflected a conservative vision of the family as an economic unit and underscored how some conceived of social benefits as resting on a definition of women as primarily mothers rather than as workers. In other respects however, the possibility that women’s maternal and domestic activity could be legitimately viewed as ‘work’ hinted at the changes in the meanings of work. This was the assumption behind the notion of the stay-at-home mother’s allowance (allocation de la femme au foyer). Indeed, some employers viewed the family allowance as a form of stay-at-home mother’s allowance that would free workingclass wives to remain in the home to care for children. The metallurgical employers of the Dauphiné region for example, developed individual labor contracts that took account of the worker’s family situation. Two of their four family allowance initiatives incorporated a mother’s allowance. According to the first of these programs, a married male employee whose wife did not work would receive a stipend in addition to his wages, “this sum being due to each woman who works [qui travaille] at no other occupation other than of the care of her household, even if she is able to. We seek in this way to encourage women to take exclusive care of their households and we think it opportune to encourage them to do so even if they have no children.”53 In this iteration, the meaning of work expanded to include motherhood, child care, and domestic duties. But this shift in the semantics of work was unusual. The second initiative applied to the married worker whose wife was unable to earn wages because of illness, pregnancy, or care of one or more children under age 13. In this case the man received a 25-francs wage supplement per month. “[A] woman who has a single child less than thirteen years of age has the right to devote herself entirely to her household and not to work [de ne pas travailler].” Beneficiaries had to be married; widows, widowers, divorced persons, or unmarried partners had no right to this allowance.54 Here the writer distinguished between wage work on the one hand and child care and domestic activity on the other hand, showing that not everyone accepted the notion of women’s maternal and domestic activity as ‘work’. The Textile Consortium of Lille, Roubaix, Tourcoing also provided a form of stay-at-home mother’s allowance in addition to a generous program of health and sickness benefits, paying birth bonuses of 240 francs to its employees for each child, 53 Anonymous: Le problème de la natalité. In: Information ouvrière et sociale, No. 108, March 23, 1919, p. 4. 54 Anonymous: Le problème de la natalité (see fn. 53).
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as long as the mother didn’t work for wages [“ne faisait pas du travail salariée”]. The Consortium noted approvingly the large numbers of women who left work to care for their young children under this program in 1928, again distinguishing between wage work outside of the home and women’s maternal duties within the home: “a happy result of family allowances […] the entire household […] profits by returning mothers to their normal functions.”55 Here as elsewhere, women’s activities were described as ‘functions’ (fonctions in French), and not ‘work’ (travail). Parenthetically, although the allowance was designed to reduce infant mortality and provided families with needed income, it simultaneously reproduced existing gender inequalities in the labor market. By rewarding mothers’ withdrawal from paid work after bearing children, it encouraged the very discontinuity in women’s employment that employers argued made women unreliable workers.56 Finally, in January 1928, the Paris Electricity Distribution Company also began providing its women employees with a nursing allowance of 600 francs for four months. Under the terms of the allowance, mothers were forbidden to engage in any form of income earning, even at home, again enforcing the distinction between maternity and paid work.57 Only women labor activists came close to arguing for maternity as a form of work in the 1920s when they made claims for paid maternity leave and nursing allowances on the basis of motherhood as a ‘social function.’ But even here activists emphasized women should regard “the possibility of reconciling their roles as mothers of families with their work,” preserving the distinction between work (outside the home) and motherhood.58 Given French concerns about low fertility in the 1920s, and the need to reconstitute the national body in the years after World War I, it is not entirely surprising that the majority of employers and state officials viewed motherhood through the prism of demographic regeneration rather than as a form of work. On balance, employmentbased social provisions like the stay-at-home mother’s allowance reinforced the idea 55 Archives départementales du Nord (ADN): Dossier M619/79, L’effort social du Consortium de l’industrie textile en 1928. Typescript report. 56 The Creusot metallurgical firm and Michelin rubber were among other companies that provided similar allowances on the basis of mothers’ withdrawal from paid work. Robert Pinot: Les œuvres sociales des industries métallurgiques. Paris 1924, p. 198. See also Magnier de la Maisonneuve, Les institutions (see fn. 27), p. 8. René Siau: La fonction sociale d’une grande entreprise. L’œuvre de la Compagnie parisienne de distribution d’électricité. Paris 1932, p. 72. 57 René Siau: La fonction sociale d’une grande entreprise: l’œuvre de la Compagnie parisienne de distribution d’électricité. Paris 1932, p. 74. 58 This was part of the ‘Working Women’s Demands’ set forth by the Union des syndicats de la Seine in 1925. F. Doyen: Pourquoi un programme de revendications pour les ouvrières. In: L’Humanité, 18, 1925. See also Germaine Jouhaux: Le Congrès de l’internationale des travailleuses. In: La Voix du peuple, 53 ( July–August 1935), p. 332.
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that ‘work’ was the job of the French male citizen-worker. Moreover work did not automatically confer social provisions. Neither foreign nor most colonial workers, benefitted from this fledgling social model with the exception of Algerians, who were considered French nationals. Before a 1927 law permitting French women to retain their nationality when marrying foreign men, women workers who married foreigners and adopted their nationality forfeited social benefits. Thus, a woman shoe worker who married a Belgian (and therefore relinquished her French nationality) was refused the right to take maternity leave.59 The majority of foreign workers were single men, and although they could well have been family providers, French employers did not recognize them as breadwinners and did not make the link between work, fatherhood (or motherhood), and the social rights that proved so important to the emerging French welfare state. Indeed, the 1920s and 1930s, the government even discouraged the immigration (or migration) of colonial families.60 Exceptionally the Department of the Seine developed social services for immigrant workers, the Surveillance, Protection and Assistance Services for North Africans (Services de surveillance, protection, et assistance des indigènes Nord Africains).61 This organization provided dormitory housing, medical services, and a social services office, but as Clifford Rosenberg has noted, and as the name of the service suggests, these programs not only served as a form of social assistance; they also served as a form of surveillance. The Depression of the 1930s threw into dramatic relief the social dynamics of the changing gender and racial semantics of work.
4 Defending the Male Breadwinner in the Depression of the 1930s The languages of labor marked by gender and ethno-racial distinctions had a profound effect on the experience of the Depression in France and the social policies that attempted to address its effects.62 The Depression pushed to the foreground the 59 This was the case of a woman who worked at the Dressoir shoe factory in 1921. See Mme. Henri-Collet: Rapport de stage ouvrière fait à la manufacture de chaussures ‘Incroyable’ [Dressoir] du 6 au 21 janvier [1921], Archives de l’école des surintendantes d’usine. Ecole supérieure du travail social. Paris. 60 Amelia H. Lyons: The Civilizing Mission in the Metropole. Algerian Families and the French Welfare State during Decolonization. Stanford 2013, pp. 39–40. This policy changed after World War II when family settlement became seen as a way to stabilize the Algerian labor force in France. Lyons, pp. 82–83. 61 Clifford Rosenberg: Policing Paris. The Origins of Modern Immigration Control Between the Wars. Ithaca 2006. 62 A standard analysis of the Depression in France remains Alfred Sauvy: Histoire économique de la France entre les deux guerres. Vol. 1. Paris 1967. On the emergence of
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questions of who had the right to work and who ‘counted’ as a family provider. It raised afresh the tension between the alleged rights of male breadwinners and duties of mothers, exposing the deep ambiguity about women and immigrant men in the labor force, and reinforcing the status of male breadwinners. The gender division in industrial work allowed women to experience less overall unemployment than men; moreover, unemployment fluctuated across the economy: the Depression’s effects in some industrial trades could be devastating while women in relatively ‘protected’ jobs in the public sector, such as teaching or the telephone service, held on to their jobs. Those who remained in full-time work experienced relative stability and even saw their purchasing power improve in this period of falling prices.63 But ethno-racial and gender difference inevitably shaped the social perceptions of the meanings of work in hard times as well as state policies. Almost immediately the Depression opened an attack on the employment of immigrant men and women, who were accused of taking work from French men. Conservative deputies decried the “invasion of foreigners,” and some blamed immigrants for taking bread from the mouths of Frenchmen.64 A tract published by the right wing Action française in April 1934 starkly illustrated this sentiment, charging that immigrant workers had reduced French workers to poverty. “In the Seine, 160.000 French unemployed; 230.000 wage-earning foreigners […]. Who is to blame?”65 Numerous voices spanning the political spectrum within and outside of government argued that employment should be the privilege of French nationals – especially fathers – and foreigners should be denied work permits. Others encouraged the government to the category of the unemployed, see Robert Salais/Nicolas Bavarez/Bénédicte Reynaud: L’invention du chômage. Paris 1986, pp. 77–123. See also Gabrielle Letellier/ Jean Peret/Henri Ernest Zuber/A. Dauphin-Meunier: Le chômage en France de 1930 à 1936. 3 vols. Paris 1938; Henri Dubief: Le déclin de la IIIe république. Paris 1973; Dominique Borne/Henri Dubief: La crise des années trente 1929–1938. Paris 1989; Serge Berstein: La France des années trente. Paris 1988; Jacques Marseille: Les origines ‘inopportunes’ de la crise de 1929 en France. In: Revue économique, 31, July 1980, pp. 648–684; Robert Boyer: Le particularisme français revisité. La Crise des années trente à la lumière des recherches récentes. In: Mouvement social, 154, 1991, pp. 3–40; Siân Reynolds: France between the Wars. Gender and Politics. London 1996, addresses women’s experience of the Depression in Chapter 5. 63 On this point see Sauvy: Histoire économique (see fn. 62), pp. 403–406; Catherine Omnès: Ouvrières parisiennes. Marchés du travail et trajectoires professionnelles au 20e siècle. Paris 1997, pp. 213–218. 64 Schor: L’Opinion française (see fn. 43), p. 121. On the xenophobic reaction, see also Cross: Immigrant Workers (see fn. 18), pp. 186–190; Gérard Noiriel: Les ouvriers dans la société française. Paris 1986; Mary Dewhurst Lewis: The Boundaries of the Republic: Migrant Rights and the Limits of Universalism in France 1918–1940. Stanford 2007. 65 Reproduced in Schor: L’Opinion française (see fn. 43), p. 122.
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pursue the repatriation of immigrants and migrants that a handful of employers had already begun, and spoke boldly in favor of closing borders to newcomers, and of giving priority to hiring French men.66 Responding to widespread pressure, the Ministry of Labor organized trains to return foreign workers to their countries of origin. The government’s Law for the Protection of National Labor (Loi pour la protection de la main d’œuvre nationale) in August 1932 further established that immigrant labor could constitute no more than five percent of the labor force in public sector jobs. Immigrant workers were required to obtain ministerial authorization before setting foot on French soil, facilitating the regulation of foreign workers in both public and private sector jobs. According to one estimate, a third of immigrant workers in the most industrialized departments had lost their jobs by 1936.67 Working women, especially married women, also suffered attacks. As in many countries, French women’s unemployment rates tended to be lower than those of men because employers could afford to keep more of them on the job and social observers blamed women, like immigrants, for men’s joblessness. Like attacks on foreign ‘invaders,’ attacks on women’s work from the right and ultra right in the 1930s were accompanied by the naturalization of women’s domestic and family roles (though without identifying the latter as ‘work’).68 The conservative Société d’études et d’informations économiques in 1931 claimed that women’s entry into the workforce had taken them away from their “natural sphere” and had transported them to a sphere “which is congruent neither 66 Anonymous: Comment lutter contre le chômage et atténuer ses effets? In: Information sociale, No. 394, January 29, 1931, p. 4. 67 Noiriel: Les ouvriers (see fn. 64), p. 172. Yet foreigners still counted for less than a fifth of all construction workers, a quarter of workers in heavy metallurgy and a third of all workers in mining. Vincent Viêt, La France immigrée. Construction d’un politique 1914–1997. Paris 1998. Some employers protested against the law, arguing that foreign workers (like women) possessed capacities for work distinct from those of French workers. Thus the labor inspector in Lille (where textile manufacturers historically relied on Belgian workers) reported, “The Belgians are especially in demand for their courage, their physical endurance and their modest pretensions. The willingly accept work that our compatriots reject or that they are incapable of executing for any length of time.” ADN 77J2263: Dossier Main d’œuvre étrangère. Rapport de l’inspecteur divisionnaire de la 5ième circonscription, Ministère du Travail au Préfet du Nord. June 23, 1932. 68 Similar debates took place in the United States and across Europe. See [Alice] KesslerHarris: The Gendered Limits of Social Citizenship in the Depression Era. In: Journal of American History 86, 3, 1999, pp. 1251–1279; Victoria De Grazia: How Fascism Ruled Women Italy, 1922–1945. Berkeley 1992; and Claudia Koonz: Mothers in the Fatherland. Women, the Family, and Nazi Politics. London 1982. On right-wing rhetoric against working women in Depression-era France, see Cheryl Koos/Daniella Sarnoff: France. In: Kevin Passmore (ed.): Women, Gender and Fascism in Europe 1919–1945. Manchester 2003, pp. 168–188.
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with reason, nor with their natural instincts.”69 These semantic distinctions were not new, but here they were deployed to justify returning women to the home and denying them unemployment benefits. Thus in spite of major changes in the scope of women’s employment, social observers, particularly on the political right persisted in deploying semantic distinctions that naturalized women’s abilities to an extent that French men did not experience. Such discourses facilitated gender selectivity in employers’ efforts to deal with stagnant markets and in the government’s decisions about who could receive unemployment relief. In 1932 metallurgical employers took account of the worker’s family situation and discharged bachelors and those “without roots in the local community” (immigrant and itinerant workers). They also laid off married women rather than their husbands because “the unemployment of a married woman is in no real sense total unemployment; she can compensate for the loss of her income with economies to insure the survival of her household.”70 Thus state policies assumed a married women’s dependence on a male wage earner. The management of unemployment benefits also showed how the languages of labor, gender, and ethno-racial difference influenced state support of the rights of French men as breadwinners. Unemployment assistance bureaus recognized married women as entitled to receive payments only if the male head of household was also unemployed – not on the basis of the wife’s unemployment as an individual. Married men on the other hand, received an unemployment allowance based on the number of dependents in their care that did not take account of whether or not wives had been employed outside the home.71 Women who received benefits received proportionately less assistance than men because unemployment compensation was based on a proportion of the wage, uniformly lower for women. Finally, although unemployment offices in theory were charged with helping workers to find new jobs, not only did they fail to recognize women’s status as independent wage-earners, they offered jobs to the worker who corresponded to the ‘model’ unemployed worker: the married French man and head of household. Immigrant workers who remained in France and escaped deportation did not benefit from these services despite their contribution to the French economy. Thus, the rules governing the distribution of assistance both reflected and reinforced gendered and ethno-racial definitions of work and bolstered 69 Anonymous: Les variations de la main d’œuvre en France. In: Information sociale, No. 392, January 15, 1931, p. 3. My italics. The article quoted from a recent issue of the Bulletin de la Société d’études et d’informations économiques. 70 AN Dossier F7 13786, Syndicats métallurgiques: Rapport annuel de l’Union des industries métallurgiques et minières, de la construction mécanique, électrique, et métallique, February 27, 1932, p. 3. 71 Maryse Marpsat: Chômage et profession. In: Économie et Statistique, 170, 1984, p. 57. See also discussion in Reynolds: France between the Wars (see fn. 62), pp. 115–117.
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the male breadwinner model. Men’s priority as workers and women’s dependence on men constituted the standard underlying the distribution of benefits.
5 Conclusion The gender and ethno-racial semantics of work that circulated in France during the 1920s and 1930s involved new definitions of work and new ways of thinking about the division of labor that became embedded in the cultural practices of work. The specific historical contexts in which these developments played out were critical. In the midst of France’s economic and demographic recovery after World War I, the valorization of fatherhood and men’s work on the one hand and the promotion of maternity as a primary role for women on the other hand had enormous salience in shaping men’s and women’s opportunities for work, training, and the kinds of jobs available to them. At the same time, gender was not the only marker of meaning; not all men experienced advantages over women in the labor market. The ethno-racial discourses attached to male colonial workers or non-French European nationals mattered greatly in shaping their opportunities in the post-war workplace, as the rationalization of work and the application of industrial physiology confirmed. Finally, gender and ethno-racial difference not only influenced the semantics of work, but shaped the social policies that employers and the state attached to work. The absence of work in many ways proved the most telling of the deep social ambivalence about the rights of different categories of workers – something that even the experience of another war, occupation and liberation never definitively reversed. Recent scholarship on French welfare state provisions for Algerians and for Algerian immigrants to France prior to and during the Algerian War has shown how these gender and racial languages of labor continued to inform social policies after World War II when the French sought to integrate Algerian immigrants into French society, win their loyalty to France and prevent them from joining Algerian nationalists. Now, in the face of an increasingly militant independence movement, the French encouraged family migration to France as a form of ‘stabilization’, and established gender-based policies designed to integrate immigrant workers into metropolitan society. These included job training for Algerian men and home economics courses (but not job training) for women, family allowances and access to public housing for families that conformed to French norms of domestic economy.72 This “civilizing mission in the metropole,” although it reversed earlier practices of denying immigrants access to job training or welfare provisions, inherited and deployed the same languages of labor and gender that applied to French citizens and immigrant workers in the interwar years and would continued to do so for decades to come. 72 Lyons: The Civilizing Mission in the Metropole (see fn. 60).
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1 „Arbeit“ als Forschungsfeld Je weiter man schaut, desto allgemeiner werden die Beobachtungen. Diese Binsenweisheit bestätigt sich, wenn sich sozialgeschichtliche Forschungen globalen Fragestellungen zuwenden, wenn sie also versuchen, die globalen Kontexte sozialen Handelns historisch zu erforschen und sie in sozialgeschichtliche Modellbildungen auf der Grundlage einer transnationalen Empirie aufzunehmen. Dieses Problem wird vor allem dann deutlich, wenn es um begriffs- und sozialgeschichtliche Forschungen geht. ‚Arbeit‘ als Gegenstand historischer Forschung macht hier keine Ausnahme: Neben den großen Entwürfen, die zum Beispiel Frans van der Ven um 1971/73 vorlegt hat1, dominieren mikrosoziologische Forschungen, in denen zum Teil minutiös die sozialgeschichtliche Relevanz von Arbeit in kleinteiligen Kontexten erarbeitet wird. Parallel hierzu steht die begriffsgeschichtliche Forschung, die letztlich jede ontologische Bestimmung von ‚Arbeit‘ zunichtemacht. Klassische Definitionen verweisen auf Arbeit als einen Prozess, der als Ausdruck aller Formen des zwischenmenschlichen Tausches verstanden wird, bei dem das Handlungsergebnis als Input in neuen Formen zwischenmenschlichen Umgangs verwendet werden kann. Dieser Tausch kann sowohl physisch als auch geistig sein oder als zielbewusste und brauchvermittelte Tätigkeit des Menschen zur Lösung oder Linderung seiner Überlebensprobleme dienen, durch die zugleich auch die sozialen Beziehungen der Menschen unter- und widereinander gestaltet werden und durch die die ‚natürliche‘ Umgebung in eine ‚kulturelle‘ Umgebung umgeformt wird.2 Ökonomische Arbeitstheorien, die von Arbeit als sinnvoller, zielgerichteter Tätigkeit, die auf die Erstellung von Waren oder Dienstleistungen abzielt, ausgehen und Arbeit letztlich als ein quantitatives Maß für
1 2
Frans van der Ven: Geschichte der Arbeit. Bd. I–III. München 1971–1973 (erstmals niederländisch 1965–1968). Hier als Paraphrase von Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. 5. Aufl. Stuttgart 2007. S. 37.
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das Schaffen eines „Werks“ definieren3 oder die schon in der Scholastik ausformulierte Bestimmung aufnehmen, dass Arbeit und Herstellungskosten den Wert einer Sache definieren, zeigen, dass der Arbeitsbegriff immer auch das Arbeitsprodukt mit bedachte, also gewissermaßen als Wertungsbegriff für etwas anderes diente. Dies war in der klassischen Nationalökonomie zwischen 1776 und 1848 (Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say, Thomas Malthus und John Stuart Mill) nicht anders.4 Nun ist allgemein anerkannt, dass der Begriff ‚Arbeit‘ nicht von der Geschichte seiner normativen Verwendung getrennt werden kann. Robert Knegt bemerkte hierzu: A general concept of ‘labour’ in its present meaning has only gradually emerged in the course of a process of differentiation, in which certain activities are put together under specific viewpoints, thereby excluding other activities from the notion of ‘labour’. At least from the sixteenth century, in written sources the traditional view of labour as manual work associated with toil, curse and hardship gradually made way for a conception that did not do away with hardship, but saw labour also as an important way of human self-realization. In the public sphere this transformation ushered firstly in a negative way: in the public condemnation and prohibition of forms of idleness, and only in the late eighteenth century in positively valued concept of gainful, market-related work.5
Dies bedeutet, dass ‚Arbeit‘ selbst einen historischen Prozess darstellt. Der Begriff ‚Arbeit‘ teilt sich damit das Schicksal der Begriffe ‚Staat‘, ‚Religion‘ oder ‚Gesellschaft‘. Das nun macht es noch schwieriger, andere historische Felder einzubeziehen. Immerhin gibt es Versuche, den Arbeitswelten in der islamischen Geschichte und den islamischen Normenordnungen in Bezug auf ‚Arbeit‘ nachzuspüren,6 doch ist es bisher nicht gelungen, eine begriffs- wie sozialgeschichtliche Forschung zu ‚Arbeit‘ in islamischer Tradition zu fundieren. 3 4 5
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Vgl. die Ausdrucksweise: „In diesem Werk steckt viel Arbeit“ oder: „Um dies zu tun, hat sie nicht viel Arbeit investiert“. Nochmals zusammenfassend Nicholas J. Theocarakis: Metamorphoses. The Concept of Labour in the History of Political Economy. In: The Economic and Labour Relations Review 20, 2, 2010. S. 7–38. Robert Knegt: Normative Structures of Pre-industrial Wage Labour. Paper Submitted to the European Social Sciences History Conference. Lissabon 2008. (http:// www.verbeteronderzoek.nl/uploaded_files/publications/Robert1.pdf, letzter Zugriff 21.8.2014) Claude Cahen: Art. Arbeit. In: Lexikon des Mittelalters, hg. von Robert Auty: Bd. l. München 1980. S. 878–883; Maya Shatzmiller: Labour in the Medieval Islamic World. Leiden 1994; Ellis Jay Goldberg (Hg.): The Social History of Labor in the Middle East. Boulder, Colo. 1996; Joel Beinin: Workers and Peasants in the Modern Middle East. Cambridge 2001.
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Das Manko ist vor allem darin begründet, dass der Symbolraum ‚Islam‘ primär gesetzt ist und damit ‚Arbeit‘ vor allem in Bezug auf Kult, dogmatische Wahrheitsordnung, rechtliche Gültigkeit oder Ethik diskutiert wird.7 Natürlich gibt es vielversprechende Versuche, diesen Rahmen zu überwinden. In dem Sammelband, den Jürgen Kocka und Claus Offe unter dem Titel „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ herausgegeben haben, finden sich die Beiträge von Rüdiger Klein, „Arbeit und Arbeiteridentitäten in islamischen Gesellschaften. Historische Beispiele“, und von Ravi Ahuja, „Geschichte der Arbeit jenseits des kulturalistischen Paradigmas. Vier Anregungen aus der Südasienforschung“.8 In einem anderen Sammelband, den Manfred Bierwisch unter dem Titel „Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen“ 2003 veröffentlicht hat, sind ertragreiche Beiträge von Ulrich Haarmann zum Thema „Arbeit im Islam“9 und von Georg Elwert zu „Arbeit in Afrika“ vertreten.10 Im selben Band aber diskutierte Jürgen Kocka „Arbeit als Problem der europäischen Geschichte“.11 Hier wird ein säkularisierter Referenzrahmen benutzt, den es für die ‚islamische Welt‘ noch nicht gibt. Kockas Beitrag ist eben nicht mit „Arbeit als Problem der christlichen Geschichte“ betitelt. Vielmehr verflicht er geschickt begriffsgeschichtliche, mikround makrohistorische Forschungen zu einem Gewebe, in dem Arbeit deutlich als Paradigma komplexer historischer Prozesse hervortritt. Diese deutliche mikrosoziologische Perspektive wird natürlich durch einen allgemeinen gesellschaftshistorischen Bezug aufgeweicht, dennoch braucht sich kaum ein Forscher oder eine Forscherin darum zu bemühen, die Relevanz ihrer Arbeit durch einen makrotheoretischen Bezug auf Europa oder den Westen zu begründen. In dem Moment aber, wo der empirische Raum – vielleicht in komparatistischer Absicht – 7
Monika Tworuschka: Arbeit im Islam. In: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.). Ethik der Religionen – Lehre und Leben. Bd. 2: Arbeit. Göttingen/München 1985. S. 64–84; Paul M. Lubeck: Islam and Labor in Northern Nigeria. The Making of a Muslim Working Class. Cambridge 1984. 8 Rüdiger Klein: Arbeit und Arbeiteridentitäten in islamischen Gesellschaften. Historische Beispiele. In: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hg): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. M./New York 2000. S. 163–174; Ravi Ahuja, Geschichte der Arbeit jenseits des kulturalistischen Paradigmas. Vier Anregungen aus der Südasienforschung. In: ebd. S. 121–134; außerdem Rüdiger Klein: Aleppiner Handelshäuser zwischen Basar und Börse. Informationssuche und -verarbeitung im Zeichen der Inkorporation (ca. 1780–1920). In: Dietmar Rothermund (Hg.): Aneignung und Selbstbehauptung. München 1999. S. 345–372. 9 Ulrich Haarmann: Arbeit im Islam. In: Manfred Bierwisch (Hg.): Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Berlin 2003. S. 137–152. 10 Georg Elwert: Wissen, Freude und Schmerzen. Über Arbeit in einer afrikanischen Gesellschaft. In: Bierwisch (Hg.): Rolle der Arbeit (wie Anm. 9). S. 153–172. 11 Jürgen Kocka: Arbeit als Problem der europäischen Geschichte. In: Bierwisch (Hg.): Rolle der Arbeit (wie Anm. 9). S. 77–92.
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geöffnet werden soll, sind Verallgemeinerungen unumgänglich. Dies trifft besonders dann zu, wenn Spezialisten etwa zur Geschichte der Arbeit in einem afrikanischen Land im 19. Jahrhundert ihre Forschungen in einen globalen Kontext einbetten. Andreas Eckert zum Beispiel hatte 1999 im „Archiv für Sozialgeschichte“ einen bibliographischen Essay zur Geschichte der Arbeit in Afrika vorgelegt.12 Auf knappem Raum diskutiert er die Forschungen zum Sklavenhandel, zu Kolonialismus, Dienstarbeit, Arbeitsmigration, Stereotypisierungen, postkolonialen Entwicklungen und die Funktion marxistischer Ideologien im Kontext afrikanischer Arbeiterbewegungen. Etwa den selben Seitenumfang benötigte Karl Heinz Metz in derselben Zeitschrift für seine Diskussion der Armenhilfe und der Definition von Arbeit während der industriellen Revolution in Südschottland im Jahre 1834.13 Versuche, den Horizont für eine globalgeschichtliche Perspektive zu öffnen, führen so zwangsläufig zu einem informationellen Ungleichgewicht: hier die detailfreudige, minutiöse und oft lokal beschränkte Rekonstruktion von Arbeit als sozialgeschichtliche Kategorie, dort die allgemeine Befassung mit allem, was sich über Jahrhunderte hindurch und über einen Kontinent oder eine sogenannte Kultur hinweg mit Arbeit in Beziehung bringen lässt. Fast notgedrungen treten makrotheoretische Annahmen in den Vordergrund, wenn eine außereuropäische Perspektive aufgenommen wird. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch für andere außereuropäische Kontexte mikrohistorische Forschungen gäbe. Ich nenne hier nur die Studie von Kamran Asdar Ali, einem pakistanischen Historiker, zu den Arbeiterprotesten in Karachi 1972.14 Neue Versuche, dieses Ungleichgewicht zu bearbeiten, stammen von Andreas Eckert.15 Dies zeugt von dem Bemühen, gegenzusteuern. Zu Recht wird beklagt, dass die Geschichte der Arbeit bisher meist unter europäischen Gesichtspunkten untersucht wurde, wohingegen Forschungen den Blick auch auf andere Regionen der Welt richten und vergleichend andere Gesellschaften einbeziehen sollten. An Vorschlägen, wie diese komparatistische Forschung aussehen könnte, mangelt es nicht. So wird als Vergleichsparadigma die Beziehung zwischen Arbeit und Lebenslauf angenommen 12 Andreas Eckert: Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte in Afrika. In: Archiv für Sozialgeschichte, 39, 1999. S. 502–530. 13 Karl Heinz Metz: Armut und Arbeit. Armenhilfe und Arbeitslosigkeit in Großbritannien während der Industriellen Revolution. In: Archiv für Sozialgeschichte, 27, 1987. S. 1–23. 14 Kamran Asdar Ali: The Strength of the Street Meets the Strength of the State. The 1972 Labor Struggle in Karachi. In: International Journal of Middle East Studies, 37, 2005. S. 83–107. 15 Andreas Eckert: Globale Perspektiven auf die Geschichte und Gegenwart der Arbeit – eine Skizze. In: Helmut König/Julia Schmidt/Manfred Sicking (Hg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa. Chancen und Risiken neuer Beschäftigungsverhältnisse. Bielefeld 2009. S. 19–32.
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und gefragt, wie Arbeit intergenerationell zur Schaffung von sozialer Gerechtigkeit beiträgt. Materiell könnte dieser Anspruch durchaus eingelöst werden, insofern als seit 1955 eine beachtliche Zahl von Studien zu sozialgeschichtlichen Aspekten der Arbeit in außereuropäischen Kontexten vorgelegt wurde. Vergleicht man diese Zahl der Publikationen mit denen zu Themen wie Religion, Krieg oder Familie, dann fällt auf, dass ‚Arbeit‘ sehr viel deutlicher als globales Thema wahrgenommen wurde. Es scheint ein besonderes Problem der deutschsprachigen Forschung zu geben, wenn es um die Integration außereuropäischen Wissens in eine globalgeschichtliche Perspektive geht. Der Hintergrund ist nicht schwer zu erkennen. Außereuropa war akademisch und über lange Zeit hinweg Sachbereich der Philologie, der Völkerpsychologie und dann der Anthropologie. Besonders gravierend war diese Festlegung für Forschungen zu Ländern und Gesellschaften des Vorderen Orients. Wir haben also mit zwei Problemen zu tun: 1. Das Wissen um eine außereuropäische Sozialgeschichte der Arbeit ist zwangsläufig allgemein, unspezifisch und in vielerlei Hinsicht ahistorisch. 2. Das Wissen um eine außereuropäische Sozialgeschichte der Arbeit wird systematisch anders gefasst als das Wissen um die europäische Sozialgeschichte der Arbeit. Es kommt ein Drittes hinzu: Wenn die Islamwissenschaft danach befragt wird, wie es denn um Arbeit im Islam bestellt sei, wird sie vornehmlich ihre ‚islamischen Texte‘ befragen und vor allem ethisch-normative Konzepte rekonstruieren. Tatsächlich lässt so manch einer entsprechende Untersuchungen damit beginnen, indem er den Koran oder die Prophetentradition nach normativen Aussagen zum Thema ‚Arbeit‘ durchforstet. Natürlich ist es verdienstlich, die Geschichte islamischer Normativität zum Thema Arbeit zu rekonstruieren. Bisweilen wird man überraschende Ergebnisse zu Tage fördern. Ich nenne nur sechs Beispiele: 1. Im 14. Jahrhundert wurde Arbeit als Quelle von Gemeinwohl diskutiert und erkannt, dass im Arbeitsprodukt der ökonomische Wert der Arbeit ausgedrückt wird. 2. Es muss zumindest unter bestimmten puritanisch gesonnenen Eliten im Osmanischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert eine moralische Neubewertung von Arbeit gegeben haben, die Arbeit konzeptionell vom theologisch definierten ‚Werk‘ trennte, Arbeit also autonom von religiösem Gewinn definierte. 3. Spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts vertrat das arabische Wort ‛amal einen Allgemeinbegriff ‚Arbeit‘, der vor allem mit dem französischen Wort travail korrespondierte und als normativer Begriff einer gesellschaftlichen Ordnung Verwendung fand. 4. Im 19. Jahrhundert interpretierten muslimische Theologen in Ägypten ‚Arbeit‘ zweckorientiert als die Erfüllung eines Gemeinwohls.
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5. Klassische Islamisten des 20. Jahrhunderts (vor allem der Ägypter Sayyid Quṭb) verstanden Arbeit stets als Ausdruck generationeller und intergenerationeller sozialer Gerechtigkeit. 6. Common Sense älterer islamistischer Ideologien wie auch neuerer wertkonservativer islamischer Parteien ist die Forderung nach einer Änderung der Einstellung zur Arbeit. Doch daraus lässt sich keine Sozialgeschichte der Arbeit ableiten. Allerdings zeigen die vielen expliziten oder impliziten Stellungnahmen, dass mittels moralischer oder bisweilen auch rechtlicher Normativität versucht wurde, Arbeit als Ordnungskategorie der Gesellschaft zu theoretisieren und in manchen Fällen auch durchzusetzen. Dieses historische Gefüge allein aber zeigt schon, dass in einer globalgeschichtlichen Perspektive ‚Arbeit‘ im Islam nicht ‚an sich‘ behandelt werden kann, schon gar nicht, indem der Koran oder die Prophetentradition als Fixpunkte für einen wesentlichen ‚islamischen Willen‘ genommen werden. Zum Paradigma eines sozialgeschichtlichen Prozesses wird ‚Arbeit‘ also erst, wenn der Prozess ‚Arbeit‘ als soziale Institution der Vergesellschaftung historisch modelliert wird. Dies bedeutet, Arbeit nicht als metahistorische analytische Kategorie zu definieren, sondern als historische Kategorie von hoher normativer Qualität. Dies führt zwangsläufig zu einer begriffsgeschichtlichen Fragestellung.
2 Der Arbeitsbegriff der Moderne in der arabischen Welt Der Begriff ‚Arbeit‘ verhält sich hier nicht anders als der Begriff ‚Religion‘: Beiden ist gemein, dass ihr Status als Ordnungsbegriff, wie er im 19. Jahrhundert normativ durchgesetzt wurde, zum historischen Paradigma erklärt wird. Die normative Ordnung, die mit dem Begriff ‚Religion‘ im 19. Jahrhundert bezeichnet wurde, ist aber nur das Ergebnis eines sozialgeschichtlichen Prozesses. Anders ausgedrückt: Religion wurde im 19. Jahrhundert paradigmatisch und zu einem geschlossenen generischen Begriff, der dann rückwirkend mitsamt seinem normativen Gehalt in die Historie der jeweiligen Traditionen eingeschrieben wurde.16 ‚Religion‘ und ‚Arbeit‘ sind zweifellos Begriffe, die die Standardisierung normativer Ordnungen seit dem 18./19. Jahrhundert abbilden. Die enge genealogische Beziehung zwischen Arbeit und Religion ist natürlich nicht zufällig. Dies zeigt gerade die islamische Religionsgeschichte. Die Sozialgeschichte der Arbeit ist dort immer zugleich auch die Konstruktion von Arbeit als normativem Begriff sozialer Ordnung. Soziale Praxen aggregierten 16 Mehr dazu bei Reinhard Schulze: Die Dritte Unterscheidung: Islam, Religion und Säkularität. In: Wolfgang Lienemann/Walter Dietrich (Hg.): Religionen – Wahrheitsansprüche – Konflikte. Theologische Perspektiven. Zürich 2010. S. 147–205.
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im 19. Jahrhundert als Arbeit, genauso wie andere Praxen zu Religion kondensiert wurden. Globalgeschichtlich bedeutsam ist nun die Konvergenz sozialer Ordnungen im Hinblick auf das Arbeits- und Religionsparadigma. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Kontext explizit erörtert, und zwar sowohl in den christlichen wie in den islamischen Traditionen.17 Aus islamwissenschaftlicher Perspektive erscheint diese Konvergenz bemerkenswert. Sie historiographisch zu modellieren könnte zeigen, dass soziale Ordnungen über die Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚Religion‘ weitgehend standardisiert wurden. Da sich nun heute abzeichnet, dass in lokalen Kontexten dieser doppelte Standard zu bröckeln beginnt, könnte eine Sozialgeschichte der Arbeit auch bedeuten, die Auflösungsprozesse eines universellen Arbeitsbegriffs zugunsten differenzierter lokaler Praktiken zu erforschen. Der moderne Arbeitsbegriff, also jener Ordnungsbegriff, der soziales Handeln als Arbeit normativ konstruiert und würdigt, zeichnete sich also durch folgende Merkmale aus: a) Eine Entdifferenzierung sozialer Tätigkeiten durch ihre Subsumtion unter einen normativen Arbeitsbegriff. Das bedeutete zugleich auch den Ausschluss bestimmter Tätigkeiten aus dem semantischen Feld ‚Arbeit‘. Als Beispiel sei hier auf Prozessionen zum Anlass des Geburtstags des Propheten Muhammad in Ägypten Ende des 19. Jahrhunderts verwiesen. Die Prozessionen rangierten hierarchisch das gesamte Feld wirtschaftlicher Tätigkeiten und wiesen diese als Repräsentanten der ‚Arbeit‘ aus. An der Spitze liefen Vertreter privilegierter Tätigkeiten, am Ende die Barbiere und Bader. Kultureller Ausdruck dieser ‚Zünfte‘ waren sufische Orden. Seit 1897 aber erfolgte der Ausschluss der Prostituierten, der Tänzer und Musiker, Bettler und Schattenspieler, ein Zeichen, dass diese Tätigkeiten nicht mehr als ‚Arbeit‘ angesehen wurden. b) Die Vergesellschaftung der Arbeit. Sie geschah, indem Arbeit als Gesamtaussage einer Gesellschaft definiert und die ökonomische Leistung über die statistisch erfasste Arbeit messbar und bewertbar gemacht wurde. Als Beispiel kann hierzu die Einführung einer Berufsstatistik in Ägypten in den 1820er Jahren genannt werden. c) Die Verrechtlichung der Arbeit. Sie erfolgte, als der Staat Arbeit als Rechtsbegriff definierte und Arbeit als Maß für eine Einkommenssteuer bestimmte. Als wichtige
17 Landelin Winterer: Arbeit und Religion: ein kleiner sozialer Katechismus. Rixheim 1897; Eduard Reich: Berufs-Arbeit und Gesittung. Gesammte Werke, Abth. 1. Leipzig 1896; Albert Lorenz: Die Arbeit und die Religion. Schweidnitz 1897; Christian Geyer: Religion und Arbeit. Ulm 1914; Esther Kuhn-Luz: Religion prägt Arbeit – prägt Arbeit Religion? Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll 25. bis 26. April 2008. Bad Boll 2009.
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Station wäre hier die Osmanische Arbeitsgesetzgebung in den 1860er Jahren zu nennen. d) Die Institutionalisierung von Arbeit als öffentliche Interessensaussage. Zu nennen wäre hier das Beispiel der Gründung einer Gewerkschaft der Zigarettendreher in Alexandria 1899. e) Die Herausbildung einer Individualverantwortung für Arbeit, mithin die Aufhebung der gruppeninternen Delegation von Tätigkeiten. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Kennzeichnung von Bauern als Individualbauern, die nicht mehr als Kollektiv wirkten. f ) Die Technologisierung der Arbeit im 19. Jahrhundert. Sie zeigte sich vor allem durch die Einführung von Dampfmaschinen. Man denke hier an die durch Dampfmaschinen bewirkte Veränderung des Anbauprozesses in Oberägypten. Erst dieses Gesamtgefüge bildet das semantische Feld von ‚Arbeit‘ ab und schuf die Möglichkeit, ‚Arbeit‘ generisch aufzufassen. Dies aber bedeutete nicht, dass die damit verbundene Normativität und Standardisierung alle Tätigkeitsbereiche sozialer und ökonomischer Reproduktion erfassen konnte. In vielen arabischen Ländern entstand vielmehr ein duales System: Arbeit, die den oben genannten Prinzipien unterstand, und daneben ein heterogenes Feld von Tätigkeiten, die soziale und ökonomische Reproduktion ermöglichten. So erfasst die Einkommenssteuer in Ägypten auch heute nur 20 Prozent der ökonomisch aktiven Menschen; nur für sie ist Arbeit offiziell definiert.
3 ‚ Arbeit‘ in arabischer Semantik Das Wort ‛amal lexikalisierte ursprünglich allgemein Tätigkeiten, weshalb es zum Beispiel in levantinischen arabischen Dialekten als Präverb auch zur Bezeichnung eines Handlungsverlaufs dienen kann (‛ammāl yišrib, kurz ‛amyišrib = ‚er trinkt gerade‘, wörtlich ‚tuend trinkt er‘). In westsemitischen altaramäischen Inschriften meinte das Wort noch ‚schuften‘, ‚hart arbeiten‘; im Arabischen wie auch schon im altsüdarabischen Sabäischen hingegen hatte die Wurzel ‛ml die Konnotation ‚schuften‘ verloren und bezeichnete allgemein ein sichtbares Tun. ‛amal hatte also ursprünglich nichts mit physischer Arbeit zu tun; hierfür traten arabische Begriffe wie kadda (‚schuften‘), kada‛a (‚sich abmühen‘)18 oder šaġala (‚physisch hart arbeiten‘) ein. Während diese Begriffe eher das Tun als das ‚Schuften‘ definierten, bezeichneten andere Begriffe
18 Vgl. Koran 84:6 yā-ayyuhā l-insānu innaka kādiḥun ilā rabbika kadḥan fa-mulāqīhi, „Du Mensch! Du strebst mit all deinem Bemühen deinem Herrn zu, und so wirst du ihm (dereinst) begegnen.“
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wie ṣana‛a19 allgemein Herstellungstätigkeiten. Die koranische Verwendung der Wurzel ṣn‛ für ‚verfertigen‘, ‚anfertigen‘ zeigt deutlich, dass hier immer das Objekt, das geschaffen wird, mitgedacht war. Da das Objekt (im Koran z. B. ein Schiff oder ein Bauwerk20) seine spezifische Herstellungskenntnis voraussetzt, definiert es den Herstellungsprozess als ‚gelerntes Tun‘. Die Bezeichnung ‛amal hingegen verwies nicht auf ein spezifisches Objekt. Gegenstand von ‛amal konnte alles sein, was ‚getan‘ werden konnte. Hier tritt semantisch deutlich das Subjekt in den Vordergrund. Das lexikalische Feld unterschied so konventionell zwischen gelernter und nichtgelernter Tätigkeit. In arabischen Texten des Mittelalters, hier vor allem in dem berühmten Prolegomenon des 1402 verstorbenen maghrebinischen Gelehrten Ibn Ḫaldūn, trat schon die Opposition ‛amal (‚ungelerntes Tun‘) und ṣana‛a (‚erlerntes Tun‘) deutlich hervor. Der Philosoph al-Fārābī zum Beispiel stellte fest:21 „Für jeden, der in der Tugendlichen Stadt ist, ist es wünschenswert, dass er mit einer einzigen Arbeit (ṣinā‛a), der er sich allein verpflichtet, und mit einer Arbeit (‛amal), die er ausführt, betraut wird, sei es im Rang einer Dienstbarkeit (ḫidma), sei es im Rang einer Herrschaft (ri’āsa), ohne ihren [Rahmen] zu überschreiten und ohne ihn zu belassen, dass er sich vielen (verschiedenen) Arbeiten (a‛māl) widmet, also nicht mehr als einer einzigen Arbeit (ṣinā‛a).“22 Diese Tätigkeiten wurden allgemein als hierarchisch geordnet angesehen: „In der Tugendhaften Stadt haben die Ränge Vorrang gegenüber anderen in (verschiedener) Hinsicht, dazu gehört, dass der Mensch, der eine Arbeit verrichtet hat, um irgendein Ziel zu erreichen, und der hierfür irgendeine Sache benutzt hat,
19 Spätsabäisch = ‚(Bauten) verstärken‘, nominal auch zur Bezeichnung eines Baus; im Westsemitischen nur als Lehnwort aus dem Arabischen belegt. Hier wurden Herstellungstätigkeiten oft mit der Wurzel ml’k bezeichnet (so auch Genesis 2:2). Saʿdīya Gaon (gest. 942) parallelisierte in seiner arabischen Übersetzung von Dtn 5:12, 13 ʿāvad (‚schaffen‘) mit ʿamala und mlākhah (‚Werk‘) mit ṣanā᾽i᾽ (‚Tätigkeiten der Herstellung‘). In einem ismailitischen Traktat aus dem 10. Jh. hingegen wurde die vom Sabbathgebot erfasste Tätigkeit (mlākha) als ῾amal bezeichnet, zit. in al-Baġdādī (gest. 1037), al-farq bayna al-firaq, Kairo: 1948, S. 177 ff. 20 Aber auch der Mensch, insofern Gott sein „Verfertiger“ ist (Koran 20:39). 21 kullu wāḥidin mimman fī l-madīnati l-fāḍilati yanbaġī an yufawwaḍa ilayhi ṣinā‛atun wāḥidatun yufridu bihā wa-‛amalun wāḥidun yaqūmu bihī immā fī martabati ḫidmatin wa-immā fī martabti ri’āsatin lā yata‛addāhā wa-lā yatruka aḥadan minhum yuzāwilu a‛mālan kaṯīratan wa-lā akṯara min ṣinā‛atin wāḥidatin. Al-Fārābī: Aphorisms of the Statesman; ed. with an English Translation, Introduction and Notes by D. M. Dunlop. Cambridge, 1961. S. 144. 22 Eine etwas gekürzte Übersetzung findet sich in Al-Fārābī: The Political Writings. Selected Aphorisms and Other Texts. Translated and Annotated by Charles E. Butterworth. Ithaca/London 2001. S. 42.
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wobei diese (ihrerseits) das Ziel einer Handlung ist, die ein anderer Mensch ausübt, dann ist der erste der Herrscher und geht dem zweiten im Rang voraus.“23 Das ‚Tun‘ im Sinne ungelernter mühevoller Tätigkeit (‛amal) bot kaum die Möglichkeit, eine soziale Gruppe oder eine individuelle Biographie mit diesem Begriff auszugestalten. Der arabische Plural ‛ummāl bezeichnete somit auch nicht ‚Arbeiter‘, sondern allgemein ,Agenten‘ für eine bestimmte Sache oder gar Statthalter, die für einen Herrscher ‚arbeiteten‘.24 Gelegentlich wurde situativ von ‛ummāl im Sinne von ‚Leuten, die etwas machen sollten‘, gesprochen. Daher war es sprachlich auch nicht möglich, von ‚Arbeitsleuten‘ (ahl al-‛amal) zu sprechen. Herstellungstätigkeiten hingegen konnten natürlich auf Kollektive bezogen sein (allgemein ahl al-ḥiraf ‚Gewerbeleute‘). Die heterogenen Tätigkeitsfelder einer Bevölkerung waren bis in das späte 18. Jahrhundert zumindest in den arabischen Gebieten des Osmanischen Reichs nicht einem geschlossenen Klassenbegriff zugeordnet. Gewiss, es gab Oberbegriffe wie ‚Handwerk‘, ‚bäuerliche Tätigkeit‘ oder ‚Soldat‘, doch bildeten sie keine geschlossene Ordnung ab. Ordnung wurde über einzelne Tätigkeitsformen hergestellt, also über Kategorien wie Fleischer, Bader, Landpächter, Bote, Träger, Wasserspender oder Holzmacher. Die Tätigkeiten wurden danach unterschieden, ob sie freiwillig oder durch Zwang geschahen, ob sie erlernt oder nicht erlernt waren, und welche Art von Ergebnis sie erbrachten, also welche materiellen Güter, Handelsgeschäfte, Lebensmittel wie Brot sie zur Folge hatten. Es handelte sich also um sozial fixierte Tätigkeitsfelder, die für gewöhnlich die Sozialisationsgrundlage für den Einzelnen darstellten. In mittelalterlichen ägyptischen und syrischen Berufslisten wurden knapp 1800 solcher einzelnen Tätigkeitsfelder erfasst, die sich auf folgende Felder bezogen:25
23 al-marātibu fī l-madīnati l-fāḍilati yuqaddimu ba‛ḍuhā ‛alā ba‛ḍin bi-anḥā’in minhā anna l-insāna iḏā kāna ya‛malu ‛amalan li-yabluġa ġāyatam-mā fa-kāna yasta‛milu šay’am-mā huwa ġāyatun li-fi‛lin yatawallāhu insānun āḫaru fa-inna l-awwala raʼīsun wa-muqaddimun ‛alā ṯ-ṯānī fī l-marātibi. Al-Fārābī: Aphorisms of the Statesman. S. 138 f; Übers. Butterworth, ebd. S. 38. 24 Da das arabische Wort ‛amal auch ‚Distrikt‘, ‚Gegend‘ meinen konnte, war ein ‛āmil oftmals auch gleichbedeutend mit dem Machthaber in einem bestimmten Distrikt. Daher herrscht gerade auch in früheren arabischen Chroniken für ‛ummāl die Bedeutung ‚Agenten‘, ‚lokale Machthaber‘ vor. 25 Eigene Zusammenstellung, erstellt aus einem Korpus ägyptischer Texte des 13.– 16. Jahrhunderts, z. B. as-Subkī, Tāǧ ad-Dīn ʿAbdalwahhāb Ibn ʿAlī: kitāb muʿīd an-niʿam wa-mubīd an-niqam, hg. von David W. Myhrman. New York 1978; al-Qudsī, Ilyās Ibn ʿAbduh: Notice sur les corporations de Damas, hg. von Carlo Landberg. Leiden 1884; at-Tamīmī, Abū al-ʿArab Muḥammad Ibn Aḥmad: kitāb al-miḥan, hg. von Yaḥyā Wahīb al-Ǧubūrī. Beirut 1988; al-Maqrīzī, Aḥmad Ibn ʿAlī: kitāb al-mawāʿiẓ wa-l-iʿtibār fī ḏikr al-ḫiṭaṭ wa-l-āṯār, hg. von Gaston Wiet. Kairo 1911–1927.
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Differente Gruppen Dienste
845
Erziehung
190
Handel
290
Steuerverwaltung, Militär
325
Transport
40
Handwerk
542
Bau
63
Chemisch
20
Elfenbein
1
Glas
16
Korbflechter
28
Lebensmittelverarbeitung
103
Leder
50
Metall
70
Papier
6
Textilien
114
Tischler
53
Töpferei
18
Frei ausgebildet
110
Frei ausgebildet
110
Frei unausgebildet
100
Frei unausgebildet Extrahierende Tätigkeiten
100 60
Bergbau
10
Landwirtschaft, Fischerei
50
Gesamtergebnis
1657
Zu den 110 ‚gelernten‘ Tätigkeiten zählten Tamburspieler, Barbiere, Masseure, Augenärzte, Schreiber etc. und zu den 100 ‚ungelernten‘ Tätigkeiten Nachtwächter, Taubenhalter, Wahrsager, Totengräber, Wäscher etc. Zusammengefasst wurden diese Tätigkeiten unter der Berücksichtigung ihrer Funktionalität (Dienste, Handwerk etc.); soziologisch behielten sie ihre Autonomie in Form von Korporationen und oftmals mit ihnen verbündeten Sufi-Orden. Als geschlossene Klassen waren all diese Tätigkeiten nur für die Steuerverwaltungen vor allem im Osmanischen Reich wichtig. Durch die Steuer wurde die Gesamtheit dieser Tätigkeitsfelder erfasst, wobei sowohl die Tätigkeit an sich wie das Produkt
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dieser Tätigkeit besteuert wurden. Der Bauer oder der Handwerker zahlte Steuern, weil er Bauer oder Handwerker war. Diese Steuerhoheit verhalf zu einer gewissen Gemeinschaftsbildung, insofern sich die Steuerpflichtigen in einer Interessensgemeinschaft gegenüber der Herrschaft sahen. Da aber die Steuern fast ausschließlich auf die Tätigkeiten erhoben wurden, die die Landwirtschaft betrafen, ergab sich die Auffassung, dass eigentlich nur die Bauern eine geschlossene Klasse darstellten. Die Tätigkeiten wurden vor allem dann zur ‚Arbeit‘, wenn sie durch Zwang geschahen und somit eigentlich eine Plackerei darstellten; daher entsprach auch der arabische Begriff für solche Arbeit (kadd, šuġl etc.) der Zusammenstellung von ‘ālām wā-ʼāwen (labor et dolor) in Psalm 90:10.26 Wie auch im Deutschen war ‚Werk‘ von ‚Arbeit‘ semantisch deutlich getrennt. Von ‚Werk‘ (‘amal) sprach man, wenn man die Tätigkeit an sich bezeichnen wollte, von ‚Arbeit‘ (kadd) dann, wenn man erzwungene Formen physischer Tätigkeit meinte. Solche Arbeit war also meist identisch mit Zwangsarbeit, Mühe und Plackerei. Zwang konnten sein: materielle Not (ġumma) oder Herrschaftsgewalt (sulṭa). Man arbeitete also aus Not oder unter Zwang, oder man machte etwas, um zum Beispiel optional als Tagelöhner (aǧīr) seinen Lebensunterhalt zu sichern.27 Wenn man hingegen etwas verfertigte (ṣana‛a), also in einem konkreten Handwerk (ḥirfa) engagiert war, dann war man fest in einem sozialen Ordnungsgefüge eingebettet, in dem diese Tätigkeit zum lebensweltlichen Dasein gehörte. In früheren arabischen Quellen bezeichnete das Wort fa‛ala weit häufiger Leute, die etwas arbeiteten. In 1001 Nacht zum Beispiel ist zu lesen: „Dann kam er herunter nach Basra, wo er mit den Arbeitern (fa‛ala) im Ton schuftete (‛amala); er schuftete für nur einen Dirham und einen Sechsteldirham am Tag, wobei er sich allein von dem Sechsteldirham ernährte und den Dirham als Almosen gab.“28 Der Begriff fa‛ala war sowohl bei Theoretikern, so Ibn Ḫaldūn29, als auch bei Chronisten gängig. Bis26 Das biblisch-hebräische Wort ‛āmāl ist deutlich negativ konnotiert im Sinne von Unbill, Mühe. Vgl. Prediger 6:7: koll ‛amal hā-ādām li-phīhū we-gam han-nepheš lō thimmālē („Alle Arbeit des Menschen ist für seinen Mund; aber doch wird die Seele nicht davon satt“). 27 Nach islamischem Recht (hier nach malikitischem Recht) ist ein Tagelöhner nur dann ‚in Arbeit‘, wenn er einen Vertrag über eine bestimmte Leistung, die er zu erbringen hat, abgeschlossen hat. Daher galt der Grundsatz: „Der für einen Lohn Gedungene (aǧīr) darf nur für eine benannte Sache gemietet werden, die Miete darf sich nur darauf beziehen.“ Muḥammad b. ‛Abdalbāqī az-Zarqānī. šarḥ az-Zarqānī ‛alā muwaṭṭaʼ al-imām Mālik. I–IV. Kairo 2003, III. S. 542. Bezeichnenderweise war es rechtlich gestattet, Muslime wie Nichtmuslime für den Jihad zu mieten, vgl. Yaḥyā b. Šaraf an-Nawawī: rawḍat aṭ-ṭālibīn. Bd. 5. Kairo 2003. S. 339. 28 alf layla wa-layla, E. Būlāq 1836, I. S. 581 (401. Nacht). 29 Z. B.: „Nous disons qu’il y a un rapport intime entre la grandeur des monuments et la puissance de la dynastie naissante. En effet, il faut, pour les achever, le concours d’une
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weilen vertrat er die Gesamtheit aller derjenigen, die etwas auf Anweisung baulich herstellten.30 Diese ‚Arbeiter‘ konnte man auch mieten, zum Beispiel um sich ein Haus bauen zu lassen. In Chroniken und geographischen Beschreibungen wird daher deutlich zwischen ‚Arbeitern‘ (fa‛ala) und ‚Gewerbsleuten‘ (ṣunnā‛) unterschieden. Arbeiter ‚arbeiteten‘, zum Bespiel um einen Graben auszuheben, einen Brunnen zu graben oder um ein Gebäude einzureißen.31 Semantisch wurde so deutlich zwischen ‚nach Plänen anderer ausführender Arbeit‘ (fa‛ala) und ‚nach eigenem Plan herstellender Arbeit‘ (ṣana‛a) unterschieden. Nur selten ist für beide Tätigkeitsformen ein generischer Begriff belegt. So ist es kaum verwunderlich, dass weder die Tätigkeit von Sklaven noch die von Bauern mit einem Begriff ‚Arbeit‘ (fa‛ala oder ‛amala) erfasst wurde. Der Begriff ‚Arbeit‘ bezeichnete daher keinen spezifischen sozialen Status.
4 Der arabische Begriff von „Arbeit“ in der Moderne Diese Differenzierung dominierte bis in das 18. Jahrhundert das Ordnungsgefüge. Arbeitswelten gestalteten sich so immer spezifisch im Rahmen erlernter und nicht erlernter beziehungsweise ausführender und herstellender Tätigkeiten. Der klassische soziale Raum für solche erlernten, herstellenden Tätigkeiten waren im Osmanischen Reich Korporationen (‚Gilden‘, osmanisch-arabisch aṣnāf), die vor allem in den Metropolen von Bedeutung waren. Solche Gilden organisierten zwar vielfach die Arbeit, doch sollte ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. Gilden waren oftmals eher herrschaftliche Konstrukte, um die Steuereinnahme zu regeln, als soziale Wirklichkeit.32 Dennoch darf angenommen werden, dass Gilden zumindest diskursiv ‚Arbeit‘, die zu besteuern war, ausgestalteten. Zwar gibt es keinen arabischen Terminus, der dem osmanischen Sprachgebrauch entsprechen würde, doch waren sogenannte arbāb al-ḥiraf wa-ṣ-ṣanāʼi‛ (‚Gewerbe- und Handwerksleute‘) durchaus in Korporationen eingebettet, die aber eher soziale also rechtlich fixierte Gefüge darstellten.33 Bemerkenswert ist
30 31 32 33
multitude d’ouvriers (fa‛ala)“. Ibn Ḫaldūn. muqaddima, hier nach der Übersetzung von Les Prolégomènes d’ibn Khaldoun. Übers. v. William Mac Guckin, Baron De Slane (1863). Paris 1934. I. S. 352. „La dévastation des pays cultivés ayant ensuite amené l’affaiblissement de ces empires et diminué le nombre de leurs soldats, les travailleurs (fa‛ala) manquèrent et l’on abandonna complètement cet usage.“ Les Prolégomènes d’ibn Khaldoun, II. S. 71. Daher findet sich oft das Syntagma ‛amala l-fa‛ala ‚Die Arbeiter arbeiteten‘. Der Begriff ṣunnā‛ (‚Werker‘) hingegen wurde selten mit dem Verb ‛amala verbunden. Donald Quataert: Labor History and the Ottoman Empire, c. 1700–1922. In: International Labor and Working-Class History, 60, 2001. S. 93–109. Über die Existenz von Gilden in der arabischen Geschichte ist viel gestritten worden, einen Überblick gibt André Raymond: Art. ṣinf. In: Encyclopaedia of Islam, hg. von
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nun, dass spätestens zum Ende des 18. Jahrhunderts die soziale Macht und bisweilen die ökonomischen Privilegien der Korporationen zu schwinden begannen. Für das Osmanische Reich ist gesichert, dass dieser Machtverlust mit der Umstrukturierung der Arbeit durch die Modernisierung der Industrieproduktion in Europa verbunden war, die einen maßgeblichen Einfluss auf den transregionalen Handelsverkehr hatte. Dies bedingte eine Veränderung des sozialen Raums von ‚Arbeit‘ und entsprechend eine Verschiebung der Semantik, die mit dem Begriff ‚Arbeit‘ verbunden war. Besonders markant ist diese Veränderung in der Sozialgeschichte Ägyptens ablesbar. Der ägyptische Historiker al-Ǧabartī (gest. 1825/26) unterschied zunächst ganz konventionell zwischen den Leuten, die ‚werkten‘, jenen, die ‚arbeiteten‘, und jenen, die ‚Fron leisteten‘ (suḫra). Die ersten waren Gewerbetreibende, Handwerker und Bauern, die ihr eigenes oder gepachtetes Land bestellten, die zweiten Tagelöhner und Saisoniers, und die dritten ‚Sklaven auf Zeit‘. Für Arbeit an sich wurden natürlich keine Steuern bezahlt, denn die Arbeit selbst war so etwas wie eine Steuer dafür, überhaupt leben zu können. Nun fällt auf, dass er in seinen Einträgen zu Ereignissen ab etwa 1800 diese Ordnung aufgegeben hat. So vermerkte er in einem Eintrag zum 16. Juni 1804: „Sie sandten ‚Arbeiter‘ (hier fa‛ala, Pl. v. fā‛il) und ‚Arbeiter‘ (‛ummāl), um Barrikaden und (andere) Bauten in der Gegend von Ṭurrā und Gizeh zu errichten.“34 Erstmals benutzte er hier den Terminus ‛ummāl, um ein beruflich nicht differenziertes Kollektiv zu bezeichnen. Diese ‚Arbeiter‘ waren keine Bauern, wie er an anderer Stelle in einem Eintrag zum Juni 1806 vermerkte: „[Auf Grund eines Dammbruchs] änderte sich das Wasser des Nils in der Provinz Šarqīya, und bis an die die Grenzen von al-Manṣūra trat Salzigkeit hervor und verhinderte den Reisanbau; das östliche Deltagebiet verdörrte; man trank Brackwasser oder Wasser aus Brunnen und Kanälen. Die Klagen der Leute des Landes mehrten sich. Deshalb wurde beschlossen, diesen (Kanal) in diesem Jahr zu verschließen. Damit wurden Muḥammad al-Maḥrūqī und Ḏū l-Faqār beauftragt. Sie forderten Schiffe an, um Steine vom [Muqaṭṭam]-Berg heranzuschaffen. Ḏū l-Faqār machte sich auf zum Damm und versammelte [dort] Arbeiter (‛ummāl) und Bauern.“35 Für Einträge ab 1800 verwendete al-Ǧabartī bisweilen auch den alten Begriff al-fa‛ala (wörtl. ‚die Tätigen‘), deren Einkommen gewöhnlich etwa die Hälfte des Einkommens eines Bauarbeiters ausmachte.36 So vermerkte er: „Er [der Pacha Perri Bearman u. a. Leiden 1997. S. 644–645. 34 ‛Abdarraḥmān al-Ǧabartī, ‛aǧāʼib al-āṯār fī t-tarāǧim wa-l-aḫbār III. Kairo 1998. S. 481. 35 al-Ǧabartī. ‛aǧāʼib, IV. S. 15. 36 al-Ǧabartī. ‛aǧāʼib, III. S. 318 (zu September 1801). Der arabische Text erlaubt an dieser Stelle zwei Interpretationen: Es heißt wörtl. fa-ġalā bi-sabab ḏālika al-ǧibs wa-l-ǧīr wa-aǧr al-fa‛ala wa-l-bannāʼīn ḫuṣūṣan wa-qad iḥtāǧa an-nās li-bināʼ mā hadamahū l-frānsīs („Daher wurden Gips, Kalk und der Lohn der Arbeiter und der Bauleute teurer, besonders weil die Leute das aufbauen mussten, was die Franzosen zerstört hatten“).
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Muḥammad ‛Alī] befahl, ein Wasserrad zu bauen, um Wasser heranzuführen, und erstattete den Arbeitern hierfür einen Lohn, auf dass sie in den versalzten Marschgebieten arbeiteten.“37 Der Begriff ‚Arbeiter‘ konnte nun auch auf gelernte Tätigkeiten bezogen werden. Für das Jahr 1813 berichtete al-Ǧabartī, dass ein Bauherr seinen Architekten „verfluchte“, weil dieser die Bauarbeiter (‛ummāl) nicht „anspornte“.38 Auch in anderen Kontexten ( Jahr 1816) wird klargestellt, dass die Arbeiter (‛ummāl) nun für Lohn, den der Staat bezahlte, arbeiteten.39 Al-Ǧabartīs Chronik dokumentiert damit einen Prozess, der zur Herausbildung eines Ordnungsgefüges führte, in dem die Bevölkerung in großen Kollektiven sozial differenziert wurde und der mit dem Begriff ‛amal semantisiert wurde. Der Begriff ‛amal fasste nun immer größere Gemeinschaften zusammen und diente zugleich als generischer Begriff für jedwede Tätigkeit, die dem Lebensunterhalt diente. Entsprechend wurde der soziale Status durch die Tatsache, dass jemand arbeitete, markiert. Einzig die Grenze zur bäuerlichen Welt blieb semantisch bestehen. Zwar konnten nun auch Bauern ‚arbeiten‘, doch blieb ihr sozialer Status von denjenigen, die ‚arbeiten‘, weiterhin differenziert. Gewiss spielte hierfür eine Rolle, dass der von Muḥammad ‛Alī repräsentierte Staat Monopole einrichtete, die sich zum Beispiel auch auf Bautätigkeiten bezogen. So wurden Handwerker und Bauleute verpflichtet, nur noch für öffentliche Bauten zu arbeiten. Aus der Sicht des Staats erschien die Gesamtheit der dem Staat unterstellten Handwerker und Berufsleute als ‚Arbeiter‘. Innerhalb kurzer Zeit wurden so Handwerker und Berufsleute sowie Ungelernte in einem ‚Stand‘ (rutba) zusammengefasst. Doch schon unabhängig von der Herrschaft von Muḥammad ‛Alī muss es bereits im 18. Jahrhundert das Bedürfnis gegeben haben, ‚Stände‘ zu bezeichnen. Am auffälligsten ist die im 18. Jahrhundert aufkommende Formulierung awlād al-balad (‚Landeskinder‘)40, die all diejenigen bezeichnet, die nicht Fürsten, Soldaten, Gelehrte, Kaufleute oder Bauern waren. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurden mehr und mehr soziale Gruppen diesem Begriff zugeordnet, so dass eine Grundordnung entstand, in der zwischen Fürsten, Militär, Der Text kann aber auch hinter dem arabischen Wort ḫuṣūṣan eine Pause machen, was dann die Übersetzung erlaubte: „Daher wurden Gips, Kalk und der Lohn der Arbeiter, besonders der Bauleute teurer.“ Das würde bedeuten, dass der Begriff fa‛ala als Allgemeinbegriff für Arbeiter gebraucht wurde. 37 al-Ǧabartī. ‛aǧāʼib, IV. S. 255. 38 al-Ǧabartī. ‛aǧāʼib, IV. S. 306. 39 al-Ǧabartī. ‛aǧāʼib, IV. S. 397. 40 Im frühen 19. Jahrhundert auch abnāʼ al-balad; der Singular ibn al-balad ist eher selten belegt. Hierzu Sawsan Messiri, Ibn Al-Balad: A Concept of Egyptian Identity. Leiden 1978. In der Bibelübersetzung von Brian Walton: Biblia Sacra Polyglotta, London 1655–1657, wird der Ausdruck „Kinder der Landschaft“ (Neh. 7:6) bnē hammedīnah) mit awlād al-balad wiedergegeben.
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‚Landeskindern‘ und Bauern unterschieden wurde. Dies wiederum erlaubte es, den französischen Begriff citoyen mit ibn al-balad zu umschreiben, was schließlich dazu führte, den Rechtsstatus eines Staatsangehörigen mit diesem Wort zu bezeichnen.41 Die neue herrschaftliche Ordnung generierte so einen sozialen Ordnungsbegriff ‚Arbeiter‘, dessen spezifisches Merkmal allein die Lohnarbeit war. Daher konnten nun auch Tagelöhner (uǧarāʼ) zu ‚Arbeitern‘ werden. Es war nun möglich, den Begriff ‚Arbeit‘ (‛amal) auch auf bäuerliche Tätigkeiten zu beziehen.42 Der generische Begriff ‚Arbeit‘ erlaubte es zudem, den Zustand von ‚Arbeitslosigkeit‘ (biṭāla) zu bezeichnen.43 In den europäischen Sprachen wurden Mühe und Plackerei, im Fall von travail sogar Folterwerkzeuge zum Begriff Arbeit/labor/travail/trud‘44 verallgemeinert; im Arabischen hingegen lexikalisiert der Begriff ‛amal den neuen Standard ‚Arbeit‘. Es mag sein, dass hier eine Konvergenz zum englischen Sprachgebrauch maßgeblich war, insofern worker schon früh mit ‛āmil wiedergegeben wurde. Im Unterschied zu anderen arabischen Begriffen, die auf ‚Arbeit‘ verweisen, hatte das Wort ‛amal das Privileg, islamisch konnotiert zu sein. Es meinte hier die ‚Tat‘ oder das ‚Werk‘, für das der Mensch beim Jüngsten Gericht belohnt oder bestraft werden wird. Diese religiöse Konnotation von ‘amal (‚Werk‘) bedingte, dass dieses semantische Konzept als Ordnungsbegriff eine deutliche moralische Qualität aufwies und den Prozess der Zuordnung von ökonomischen Tätigkeiten mit bestimmte. Natürlich verwies ‛amal hier nicht auf den Zusammenhang irdischen Überlebens. Daher wurde in einer frühen arabischen Übersetzung von 2. Thess 3,10 aus dem 9. Jahrhundert die Aussage: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ (ὅτι εἴ τις οὐ θέλει ἐργάζεσθαι μηδὲ ἐσθιέτω) mit man lā yašāʼu an yakudda wa-lā yaʼkulu ayḍan. übersetzt, also unter Nutzung des Begriffs für ‚sich plagen‘ (kadda). Im Griechischen hingegen verweist der Begriff ἐργάζεσθαι auf ergon, also auf die spezifische Funktion oder Aufgabe einer Sache, die für diese Sache essentiell ist, weshalb in der Vulgata nicht laborare, sondern operari steht. In der schon angeführten Übersetzung von Walton hingegen heißt es: man lā yuʼṯiru an ya‛mala fa-lā yaʼkula; ganz dem puritanischen Zeitgeschmack entsprechend findet sich hier nun das Wort ya‛mal (‚arbeitet‘).45 Dies zeigt die semantische Nähe 41 An die Stelle von balad trat bald (unter osmanischem Einfluss) das Wort waṭan; das altertümlich klingende Syntagma ibn al-waṭan wurde dann zu muwāṭin (‚Bürger‘) vereinfacht. 42 So in der „Wegleitung für das Gedeihen in der Unterweisung der Landwirtschaft und des Erfolgs“ (lāʼiḥat al-falāḥ fī ta‛līm az-zirā‛a wa-n-naǧāḥ. Bulaq: Staatsdruckerei, 1830). Das arabische Wort falāḥ (‚Gedeihen‘) ist hier hintergründig, denn als fallāḥ gelesen meint es den ‚Bauern‘. 43 In früheren Texten bezeichnete biṭāla den Mangel an etwas (Geld, Wissen, Moral etc.). 44 In Ivrit wird „Arbeit“ mit ‛avōdah („schwere Arbeit“) lexikalisiert. 45 Walton: Biblia Sacra Polyglotta (wie Anm. 39). VI. S. 818. Andere neuere Übersetzungen benutzen auch das Wort yašġal (‚er befasst sich mit …‘).
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von ‛amal und ‚Werk‘ (ergon, opus), die sich in der theologischen Auslegung ergeben hat.46 Notwendigerweise entstand auch in der islamischen Theologie die Frage, ob das ‚Werk‘ zum Seelenheil führe. Islamische Puritaner des 16. und 17. Jahrhunderts verneinten dies radikal und lehnten jede Werkgerechtigkeit ab. Legalistische Annahmen, nach denen gute Werke (a‛māl ḫayrīya) das Seelenheil garantierten, wurden zwar durch den islamischen Puritanismus nicht ausgemerzt, wohl aber verloren sie angesichts der diskursiven Macht moralischer Setzung der Puritaner ihre Deutungsmacht. Beliebt war es, hier folgende Prophetentradition anzuführen: „Es gibt einige Sünden, die weder Gebet noch Fasten oder Pilgerfahrt vergelten können. Sie können nur vergolten werden durch die Sorge, die man für seinen Lebensunterhalt aufbringt.“47 Puritaner anerkannten natürlich auch, dass es gottgefällige Werke gebe, und zitierten gerne Prophetentradition wie diese: „Eines Tages traf der Prophet Sa‛d ibn Mu‛āḏ, und sie schüttelten sich die Hände. Da sah der Prophet, dass Sa‛ds Hände voller Schwielen waren und fragte ihn nach dem Grund dafür. Sa‛d antwortete ihm: ‚Sie sehen so aus, weil ich mit Spaten und Schaufel arbeite, um meine Familie zu unterhalten.‘ Und der Prophet erklärte: Hier sind die Hände, die Gott gefallen.“48 Gängiger hingegen war (und ist) es, der Arbeit an sich einen hohen ethischen Wert zuzuweisen, etwa gemäß der Tradition „Niemand isst eine Speise tugendhafter als der, der aus seiner Hände Arbeit isst, denn auch Dawid, der Prophet Gottes, aß aus seiner Hände Arbeit (‛amal).“49 Zugleich wurde immer darauf hingewiesen, dass es ein ethisches Gebot sei, nur das zu arbeiten, wozu man befähigt sei. Dies aber bedeutete, dass ‛amal als ‚Werk‘ interpretiert seine moralische Konnotation ähnlich wie im Englischen work auf den vergesellschafteten Arbeitsbegriff ‛amal übertrug. Arbeit hatte damit einen ‚moralischen Wert‘ und disqualifizierte Nichtarbeit entsprechend als biṭāla („Untätigkeit“, dann „Arbeitslosigkeit“). Dieser ergänzte den ökonomischen Wert, den schon Ibn Ḫaldūn beschrieben hatte; er erkannte das Geld, das man aus dem Verkauf eines selbst produzierten Gutes erwirtschaftete, als den verwirklichten Wert der Arbeit und subsumierte alle Tätigkeiten, ob nun natürliche oder unnatürliche, unter dem einheitlichen Begriff ‚Arbeit‘ (‘amal). Dieses Werk war immer Erwerbstätigkeit (maksab), also Tätigkeit, die einen Erwerb von Besitz (Geld oder andere Waren) zum Ziel habe. In Kontext seiner Herrschaftstheorie bedeutete dies, dass der Herrscher diese ‚Werktätigkeit‘ zu schützen habe, da sie allein die Quelle 46 In arabischen Übersetzungen griechischer philosophischer Texte aus dem 9. und 10. Jh. wird ergon oft mit fi‛l (‚Tat‘) wiedergegeben. 47 Hier zit. nach: Muḥammad b. Darwīš al-Ḥūt: asnā al-maṭālib fī aḥādīṯ muḫtalifat al-marātib. Beirut o. J., I. S. 88. Diese Tradition gilt als ‚schwach überliefert‘. In der neueren deutschsprachigen islamischen Rezeption wird ‚Sorge‘ (Arabisch hamm) oft einfach mit ‚Arbeit‘ übersetzt. 48 Zit. nach as-Saraḫsī, kitāb al-mabsūṭ, Bd. 30. Beirut 1973. S. 246. 49 al-Buḫārī. aṣ-ṣaḥīḥ, kitāb al-buyū‛, Nr. 4111.
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Reinhard Schulze
für Wohlstand (und Steuern für den Herrscher, auf dass er sein Militär finanzieren könne) darstelle. Doch auch Ibn Ḫaldūn hatte nur jene ‚Werktätigen‘ vor Augen, die freibestimmt tätig waren, also nicht einem Zwang unterstanden, und die spezifische erlernte Fähigkeiten voraussetzten. Der von ihm angesprochene Zusammenhang von Arbeit, Wert und Erwerb (kasb) spiegelte sich in der klassischen Theologie, da hier das ‚Tun‘ vielfach in Beziehung zum ‚Erwerb‘ des von Gott Gesetzten gedeutet wurde. Die islamische Dogmatik erlaubte es gewissermaßen, den Vergesellschaftungsprozess des Arbeitsbegriffs moralisch zu begleiten. Nicht mühevolle, quälende Arbeit, sondern Erwerbstätigkeit bildete mithin die semantische Grundlage für einen modernen Arbeitsbegriff. Es verwundert so nicht, dass in den letzten Jahrzehnten zahlreiche muslimische Autoren versucht haben, den vergesellschafteten Arbeitsbegriff islamisch zu verankern. Doch angesichts der Tatsache, dass der moderne Arbeitsbegriff nur zu einem Teil die Erwerbstätigkeiten in den arabischen Ländern normativ erfassen konnte, dass also etwa nur 50–60 Prozent der Erwerbstätigkeit durch Arbeitsstatistiken oder steuerlich erfasst werden können, fällt der diskursive Erfolg eines islamischen normativen Arbeitsbegriffs eher bescheiden aus.
Julia Seibert
Kazi. Konzepte, Praktiken und Semantiken von Lohnarbeit im kolonialen Kongo 1 Einführung Die langsame und komplizierte Durchsetzung von Lohnarbeit ist eine historische Entwicklung, die im engen Zusammenhang mit der Ausbreitung des Kapitalismus steht – jener Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, für die die Bereitschaft von Arbeitern und Arbeiterinnen, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen, eine zentrale Voraussetzung war. Die globale Geschichte der Arbeit und der Arbeiter hat jedoch gezeigt, dass sich präkapitalistische wirtschaftliche und soziale Ordnungen äußerst resilient gegenüber dem Arbeitsmodell des industriellen Kapitalismus zeigten, was dazu führte, dass sich das Projekt Lohnarbeit vielerorts nur durch eine gewaltsame Transformierung bestehender Arbeitskulturen und Arbeitsordnungen verwirklichen ließ.1 Wie bereits die Arbeiten von E. P. Thompson und Herbert Gutman in den 1960er Jahren überzeugend zeigen konnten, war die Durchsetzung der ‚freien Lohnarbeit‘ weder in den Zentren der Industrialisierung in England und Nordamerika noch in den industriellen ‚Peripherien‘ in Afrika, Asien und Lateinamerika eine ‚natürliche‘ Entwicklung.2 Obwohl es sich hier offensichtlich um ein globales Phänomen handelt, ist das Beispiel der langsamen Durchsetzung der Lohnarbeit im kolonialen Afrika in den Jahren von 1885 bis 1960 für das Verständnis des Zusammenhangs von Kapitalismus und Lohnarbeit zentral – denn an keinem anderen Ort wurde so viel Gewalt angewendet, um die Zurückhaltung der Bevölkerung, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen, zu überwinden. Die Kolonialgeschichte Afrikas zeigt, dass Zwangsarbeit nicht im Widerspruch zum Kapitalismus an sich steht, sondern dass sie ein wesentlicher Teil von dessen Geschichte ist.3 1 2
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Die langsame und nicht lineare Durchsetzung von Lohnarbeit in Europa, Afrika, Asien sowie Süd- und Nordamerika thematisiert: Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward a Global Labor History. Leiden 2008. S. 46–61. Edward Palmer Thompson: Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism. In: Past & Present, 38, 1, 1967. S. 56–97; Herbert Gutman: Protestantism and the American Labor Movement: The Christian Spirit in the Gilded Age. In: American Historical Review, 72, 1966. S. 74–101. Zum Zusammenhang zwischen Sklaverei, Zwangsarbeit und Kapitalismus siehe z. B.: Seth Rockman: The Unfree Origins of American Capitalism. In: Cathy Matson (Hg.).
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Die Anwendung und Androhung von physischer und psychischer Gewalt bei der Durchsetzung von Lohnarbeit im kolonialen Afrika soll jedoch nicht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen. Vielmehr sollen am Beispiel des kolonialen Kongo (1908–1960) die komplizierten Prozesse, die zu einer Durchsetzung von freieren Lohnarbeitsverhältnissen führten, nachgezeichnet und analysiert werden. Diese Prozesse werden insbesondere durch eine sich wandelnde Semantik von Lohnarbeit sichtbar. Der Wandel von Begriffen von Arbeit steht daher im Fokus der Analyse. Räumlich konzentriert sich die Untersuchung auf die im Süden der ehemaligen belgischen Kolonie liegende Bergbauregion Katanga – eine Region, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zur wirtschaftlich wichtigsten Industrieregion Zentralafrikas entwickelte. Verglichen mit anderen ‚industriellen Inseln‘ innerhalb der belgischen Kolonie setzte sich Lohnarbeit in Katanga ‚erfolgreicher‘ durch. Dies lag vor allem an der zentralen Bedeutung Katangas für die belgische Kolonialwirtschaft: Um die Produktivität der Region zu gewährleisten, schuf der koloniale Staat zusammen mit der Bergbauindustrie seit den 1920er Jahren attraktivere und stabilere Lohnarbeitsstrukturen, die dazu führten, dass Arbeiter und ihre Familien für immer längere Zeiträume in Katanga lebten und arbeiteten. Diese gezielte Politik der Stabilisierung hatte auch zur Folge, dass die Handlungsspielräume afrikanischer Arbeiter und ihrer Familien bei der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitskulturen größer waren als in anderen Industrieregionen der belgischen Kolonie. Die wachsende soziale Macht afrikanischer Arbeiter in Katanga führte zum einen zu Konflikten und Gewalt zwischen dem Minenkonzern und der Arbeiterschaft, zum anderen setzte sie Aneignungs- und Transferprozesse in Gang, die langfristig zu einem Wandel von Arbeit und Arbeitsbeziehungen und schließlich zur Durchsetzung von ‚freierer‘ Lohnarbeit führten. Die Veränderung von Lohnarbeitsverhältnissen in Katanga wird auch deutlich durch die sich wandelnde Semantik von Lohnarbeit. Das semantische Feld von Lohnarbeit in Katanga ist unmittelbar mit dem Lexem Kazi – dem im Swahili gebrauchten Wort für Lohnarbeit – verbunden. Kazi hat viele Bedeutungen, die im Zusammenhang mit Lohnarbeit stehen. Im Swahili, das in Katanga gesprochen wird, wird Kazi oftmals mit Partikeln verbunden, die Kazi näher beschreiben, z. B. kazi ya Union Minière – „ich arbeite bei der Union Minière“, oder kazi ya nguvu – „harte Arbeit“. Das Lexem Kazi als Oberbegriff für das semantische Feld von Lohnarbeit im Kontext von industrieller Arbeit in Katanga zu benennen, ist auch deshalb sinnvoll, weil Kazi einen Kontrast markiert zwischen industrieller Arbeit (auch administrativer Arbeit) und landwirtschaftlicher Arbeit. Obwohl es im Swahili kein exklusives Wort für industrielle Arbeit gibt, wird Kazi in der Regel immer in Zusammenhängen mit industrieller Lohnarbeit verwendet. Diese Spezifizierung wird auch deutlich im Kontrast The Economy of Early America: Historical Perspectives and New Directions. Pennsylvania 2006. S. 335–361.
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zu dem Verb kulima, das im Swahili im Kontext von agrarischen Arbeitsprozessen wie ‚Anbauen‘ oder ‚Arbeiten auf dem Feld‘ benutzt wird.4 Unter Semantiken von Kazi werden hier die verschiedenen Bedeutungen von Lohnarbeit verstanden, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in Katanga herausgebildet haben und in Form von sprachlichen Mustern sichtbar und objektivierbar werden.5 Die unterschiedlichen Bedeutungen von Lohnarbeit sind auf die wandelnden Erfahrungen mit Lohnarbeit zurückzuführen, die Individuen oder Gruppen in Arbeitsverhältnissen im kolonialen Katanga erlebten.6 Die Analyse sich wandelnder Semantiken von Kazi eignet sich daher als ‚Fenster‘, um die von afrikanischen Arbeitern erfahrene Transformierung ihrer Arbeits- und Lebenswelten zu analysieren. Im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen Momente und Kontexte, an denen Arbeiter und ihre Familien Lohnarbeitsverhältnisse und soziale Ordnungen in den Minenstädten Katangas beeinflussen und mitgestalten konnten.
2 Kazi – Koloniale Arbeits- und Lebenswelten im „Königreich des Kupfers“ In dem 1939 erschienenen Sachbuch „Europa blickt nach Afrika“ fasst der Autor Erwin Barth von Wehrenalp die industrielle Entwicklung der Provinz Katanga mit 4 5
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Johannes Fabian: Kazi: Conceptualizations of Labor in a Charismatic Movement among Swahili-Speaking Workers. In: Cahiers d‘études africaines, 13, 50, 1973. S. 293–325, hier: S. 299 ff. Quellengrundlage für die hier präsentierte Untersuchung sind lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Arbeitern der Union Minière du Haut Katanga (UMHK) oder Gécamines. Die Arbeiter wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten von unterschiedlichen Interviewern interviewt. Die letzten Interviews mit ehemaligen Arbeitern wurden 2008 und 2009 von der Autorin des vorliegenden Beitrags selbst geführt. Weitere Interviewsammlungen siehe: Katanga Documents and Field Notes, hg. von Bruce Fetter, comp. 1966, University of Wisconsin-Madison Microfilm 4500. Bruce Fetter hat 1966 circa 30 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Arbeitern der UMHK geführt; Oral History Project „Le travail, hier et aujourd’hui“ Lubumbashi 1990–1999, Université de Lubumbashi, Interviews, abgedruckt in: Donatien Dibwe dia Mwembu (Hg.): Histoire des conditions de vie des travailleurs de l’Union Minière du Haut-Katanga/Gécamines (1910–1999). 2. Aufl. Lubumbashi 2001. Zur Funktion von Sprache bei der Anverwandlung von vergangenem Erfahrungswissen folge ich dem Ansatz Jörn Leonhards, siehe z. B.: Jörn Leonhard: Grundbegriffe und Sattelzeiten – Languages and Discourses. Europäische und anglo-amerikanische Deutungen des Verhältnisses von Sprache und Geschichte. In: Rebekka Habermas (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften. Göttingen 2004. S. 71–86.
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folgenden Worten zusammen: „Wo noch 1910 spärlich besiedeltes Land anzutreffen war, liegt heute ein moderner Bergbaubezirk.“7 Hier in Katanga – so schien es – war es belgischen Kolonialisten zusammen mit europäischen Unternehmern gelungen, die koloniale Utopie von einer schnellen Transformierung einer agrarischen, von der Außenwelt abgeschnittenen Region zu einer Insel der Industrialisierung umzusetzen. Der Grundstein für diese Entwicklung wurde 1906 gelegt, als eine Gruppe von finanzstarken belgischen Unternehmen den Minenkonzern Union Minière du Haut Katanga (UMHK) gründete, ein Unternehmen, an dem auch der belgische Staat beteiligt war. Zwanzig Jahre nach ihrer Gründung war die Union Minière du Haut Katanga nicht nur das größte und mächtigste Wirtschaftsunternehmen der belgischen Kolonie, sondern auch einer der größten Förderer von Kupfer weltweit − und damit ein wichtiger Akteur an den bedeutendsten Metallbörsen in London und New York City.8 Die in Katanga erwirtschafteten Gewinne flossen sowohl in die Taschen einflussreicher belgischer Familien als auch in den Haushalt des belgischen Kolonialstaates. Die Steuern, Gebühren und Dividenden der UMHK machten etwa 30 Prozent des gesamten Haushalts des belgischen Kongos aus, wie der Historiker Jean Stengers für die 1950er und 1960er Jahre errechnet hat.9 Das „Königreich des Kupfers“, dessen Minen, Hochöfen, Werkshallen, Lagerhallen, Kantinen und Camps die Landschaft Süd-Katangas beherrschten, hatte seit seiner Gründung 1906 zwischen 180.000 und 250.000 Männer als Arbeiter mobilisieren können, die entweder als Minenarbeiter, Handwerker, Fahrer, Hilfsarbeiter, Pfleger, Lehrer oder Sekretäre für den riesigen Konzern arbeiteten.10 Aber die Beschäftigung bei der Union Minière war nicht nur eine zentrale Lebens- und Arbeitserfahrung für Tausende kongolesische Männer, sondern auch für deren Ehefrauen und Kinder, die seit Mitte der 1920er Jahre auf vielseitige Weise in die Strukturen des Unternehmens integriert wurden.11 Das Leben der Männer, Frauen und Kinder fand in den riesigen 7 8
Erwin Barth von Wehrenalp: Europa blickt nach Afrika. Leipzig 1939. S. 256. Zur Geschichte der UMHK siehe: Jean Luc Vellut: Mining in the Belgian Congo. In: David Birmingham/Phyllis M. Martin (Hg.): History of Central Africa. Bd. 2. New York 1983. S. 126–162; Bruce Fetter: L’Union Minière du Haut-Katanga, 1920– 1940: la mise en place d’une sous-culture totalitaire. CEDAF Brüssel 1973; Bogumil Jewsiewicki: Raison d’état ou raison du capital: l’accumulation primitive au Congo belge. In: African Economic History, 12, 1981. S. 157–183. 9 Jean Stengers: Congo, mythes et réalités. 100 ans d’histoire. Gembloux 2005. S. 234. 10 John Higginson: A Working Class in the Making. Belgian Colonial Labor Policy, Private Enterprises, and the African Mineworker, 1907–1951. Madison 1989. S. 5; Charles Perrings: Mineworkers in Central Africa. New York 1979. S. 11. 11 Vgl. hierzu: Nancy Rose Hunt: „Le bébé en brousse“: European Women, African Birth Spacing, and Colonial Intervention in Breast Feeding in the Belgian Congo. In: Frederick Cooper/Ann Laura Stoler (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bour-
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Arbeitercamps der UMHK statt, in denen es neben Häusern für die Arbeiter und ihre Familien auch Schulen, Werkstätten, Kirchen, Clubs, Sportplätze, Kinos, Tanzsäle und Krankenhäuser gab. Diese gezielte Politik der Stabilisierung der Arbeiterschaft hatte auch zu einem Wandel der Arbeitsverhältnisse geführt: Während sich die Arbeiterschaft des Unternehmens in den ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts vor allem aus ungelernten, zwangsrekrutierten Arbeitern aus Nord-Katanga oder Kasai zusammensetzte, begann die Union Minière seit Mitte der 1920er Jahre Arbeiter und ihre Familien gezielt und für längere Zeiträume anzuwerben. Anders als beispielsweise im Minensektor der Gold- und Diamantenindustrie in Südafrika sollte Kupfer in Katanga nicht durch Wanderarbeiter produziert werden, die nach drei- bis sechsmonatiger Arbeit wieder in ihre Dörfer zurückkehrten, sondern durch Arbeiter, die zusammen mit ihren Familien in Süd-Katanga lebten, um so die ‚Reproduktion‘ von Arbeitskräften direkt in den Konzessionen des Unternehmens zu ermöglichen.12 Dass sich ausgerechnet in Katanga die Arbeitsbedingungen und die Methoden der Anwerbung drastisch verändert hatten, lag vor allem an den Erfordernissen der Kupferproduktion: Tatsächlich war die Produktion von Kupfer in den Konzessionen der Union Minière auch nach Ende des Ersten Weltkriegs stetig gestiegen. Waren 1923 noch 1.360.303 Tonnen Kupfer in Katanga gefördert worden, waren es 1930 bereits 2.603.999 Tonnen.13 Eine solche Produktionssteigerung war nur durch eine stabile Arbeiterschaft möglich geworden. Technische Neuerungen hatten zu Produktionssteigerungen in der Kupferproduktion geführt. Eine Arbeiterschaft, die nur aus ungelernten, schlecht ernährten und kranken Arbeitern bestand, die ihre Arbeitsplätze nach wenigen Monaten wieder verließen, um von neuen ungelernten Arbeitskräften abgelöst zu werden, konnte die immer komplizierter werdenden Arbeitsprozesse nicht ausführen.14 Ein wichtiger Bestandteil der Stabilisierungspolitik war der Ausbau der Arbeitercamps, die in der Nähe der Minen und der Anlagen zur Kupferverarbeitung lagen. In der ersten Phase der Industrialisierung Katangas von 1906–1918 lebten die Arbeiter beengt in selbstgebauten Hütten, die sie mit mehreren Männern teilten. Später wurden die Hütten durch Baracken abgelöst. Ab 1926 – im Zuge der Stabilisierungspolitik – standen jedem Arbeiter 4 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung. geois World. Berkeley 1997. S. 287–321; dies.: Hommes et femmes, sujet du Congo colonial. In: Jean Luc Vellut (Hg.): La mémoire du Congo. Le temps colonial. Gand 2005. S. 51–57. 12 Tshidiso Maloka: Mines and Labour Migrants in Southern Africa. In: Journal of Historical Sociology, 10, 2, 1997. S. 213–224. 13 Perrings: Mineworkers (wie Anm. 10). S. 247. 14 Zur technischen Weiterentwicklung der Kupfer-Produktion bei der UMHK siehe: Union Minière du Haut Katanga: Evolution des techniques et des activités sociales 1906–1956. Brüssel 1956. S. 11–210.
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Brachten die Arbeiter ihre Ehefrauen oder Familien mit nach Katanga, wurde die Quadratmeterzahl erhöht.15 Im Laufe der Jahre vergrößerte sich jedoch nicht nur die berechnete Quadratmeterzahl für Wohnraum pro Kopf, sondern auch die Zahl der Arbeiterfamilien, die in solchen Lagern untergebracht wurden, sowie die Dauer ihrer Arbeitsverträge16: So hatten im Jahre 1934 34 Prozent der Belegschaft länger als 6 Jahre bei der UMHK gearbeitet; 1940 waren es schon 67 Prozent.17 Und mit den steigenden Zahlen stieg auch die Reputation des Konzerns, der in der kolonialen Welt bereits 1930 als Modell für eine erfolgreiche Arbeiterpolitik stand. Und tatsächlich schien die Stabilisierungspolitik der UMHK ein erfolgreiches Rezept gegen das Hauptproblem des Unternehmens, den Mangel an zuverlässigen Lohnarbeitern, zu sein. Dank dieser Politik konnten die Union Minière und der belgische Staat nun endlich vom Reichtum Katangas profitieren. Dass das Unternehmen selbst in wirtschaftlich harten Zeiten wie während der Weltwirtschaftskrise, in der insbesondere US-amerikanische Kupferkonzerne große Einbußen erlitten, erfolgreich war, wurde deutlich, als der Präsident der Union Minière Jean Jadot im August 1931 auf einer Aktionärsversammlung in Brüssel nicht ohne Stolz behaupten konnte, dass das Unternehmen trotz des Preisverfalles von Kupfer weiter schwarze Zahlen schreibe. Die Gründe hierfür – so Jadot weiter – lägen in den Stärken der zentralafrikanischen Kupferindustrie. Jadot hebt zum einen die gute Qualität des katangesischen Kupfers hervor, das sich deutlich von konkurrierenden Kupferproduzenten abhebe. Außerdem könne das Kupfer schneller und günstiger von Katanga nach Europa transportiert werden. Der wichtigste Grund für die Erfolgsgeschichte der kongolesisch-belgischen Kupferproduktion sei aber die besonders billige und stabile Arbeit, die in Katanga mobilisiert werden könne.18 Um die von Jean Jadot beschriebene „billige und stabile“ Arbeit in Katanga langfristig zu mobilisieren, ergriff die Union Minière eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen. So veranlasste das Departement Main d’Œuvres Indigènes der UMHK nicht nur den Bau und die Instandhaltung von Arbeiterhäusern, sondern organisierte auch den Einkauf und die Verteilung von Grundnahrungsmitteln an die Arbeiter und ihre Familien und etablierte eine minimale medizinische Versorgung in den Lagern. ‚Sozialarbeiterinnen‘ aus Belgien veranstalteten Kurse in Haushaltsführung und Kleinkindpflege, die für die in den Camps lebenden Frauen verpflichtend waren.19 15 16 17 18
Dibwe dia Mwembu: Histoire des conditions de vie (wie Anm. 5). S. 24. Die Arbeitsverträge wurden in der Regel nach 3 Jahren verlängert. Dibwe dia Mwembu: Histoire des conditions de vie (wie Anm. 5). S. 43. Business & Finance. Copper’s Travail. In: Times Magazine. 10.08.1931 (siehe: http:// www.time.com/time/magazine/article/0,9171,882051,00.html (Stand: 15.06.2013). 19 Musée Royale de l’Afrique Centrale (MRAC): Archives, tervuren, papiers Jean-Marie Roose, Organisation de la Main d’Œuvre Indigène, Notes sur l’organisation de la M. O. I. de l’Union Minière, 1927. S. 2.
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Die Politik der ‚Stabilisation‘ war demnach viel mehr als eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Angestellten der UMHK – die Politik der ‚Stabilisation‘ war Teil eines größeren Projekts des „social engineering“20, bei dem es darum ging, die sozialen Praktiken und Ordnungssysteme der lokalen Bevölkerung zu transformieren, um sie für den kolonialen Staat und seine Wirtschaft zugänglicher und damit nutzbarer zu machen. Ziel dieser kolonialen Utopie, die in der kolonialen Welt des 20. Jahrhunderts viele Anhänger hatte, war also eine Neuordnung der kolonisierten Gesellschaft, was letztlich zu einer radikalen Überwindung afrikanischer Konzepte und Praktiken von Arbeits- und Familienleben führen sollte.21 Und so entwickelte sich die Union Minière tatsächlich in den 1930er Jahren zu einem Labor, in dem soziale Ingenieure verschiedene Ansätze zur Neuordnung der kolonisierten Gesellschaft erproben konnten. Wie in anderen wirtschaftlichen Sektoren der Kolonie ging es den Planern und Managern vor allem darum, Möglichkeiten zu finden, Arbeiter und ihre Familien besser zu kontrollieren und sie möglichst effizient in das Unternehmen und damit in die koloniale Wirtschaft zu integrieren. Der Kontrollwahn der UMHK lässt sich am ehesten in den von dem Unternehmen geführten Personalakten der Arbeiter nachvollziehen, in denen versucht wurde, jede Veränderung des sozialen Lebens der Arbeiter und ihrer Familien zu verzeichnen.22 Die Personalakten wurden vom Departement Main d’Œuvres Indigènes, dessen Zentrale sich in Elisabethville befand, verwaltet. Die Akten enthalten neben biografischen Angaben Informationen über das Verhalten des Arbeiters am Arbeitsplatz – zum Beispiel wurden alle Regelverstöße dokumentiert – sowie eine allgemeine Bewertung seines Charakters. Alle Angaben wurden fast jährlich aktualisiert, um ‚die Entwicklung‘ des Arbeiters zu dokumentieren. Aber nicht nur die tatsächliche Arbeit des Angestellten wurde bewertet; es gab Noten für seine „Qualités de chef de famille et conduite des enfants“, auch die „attitude“ gegenüber „Européens“ konnte mit „excellent“, „très bien“, „bien“ oder „défavorable“ bewertet werden. Auch die Ehefrau und Kinder der Arbeiter wurden in den Akten erfasst: Geburtsurkunden und medizinische Berichte aller Familienmitglieder waren genauso Bestandteil der Dokumentation wie das „Entretien de la maison et 20 Zum Konzept von social engineering siehe Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. Zu social engineering im kolonialen Afrika siehe Frederick Cooper: Africa since 1940. The Past of the Present. Cambridge 2002. S. 34. 21 Zur ‚Modernisierung‘ der afrikanischen Familie im Kontext von Urbanisierung und Lohnarbeit im kolonialen und postkolonialen Zambia siehe auch: James Ferguson: Expections of Modernity. Myths and Meanings of Urban Life on the Zambian Copperbelt. Berkeley 1999, hier: insbes. S. 166–206. 22 La Générale des carrières et des mines (Gécamines), Lubumbashi, Personalarchiv.
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mobilier“.23 An der Beschaffung von Informationen waren verschiedene Akteure und Institutionen beteiligt. Eine wichtige Rolle spielten zum Beispiel die sogenannten chefs de cité − Europäer, die die Herrschaft über die einzelnen Arbeitercamps ausübten und zusammen mit ihren afrikanischen Mitarbeitern das Verhalten und die Gewohnheiten der Arbeiter und ihrer Familien kontrollierten und ausspionierten, mit dem Ziel, gewisse Regeln zu implementieren. Die chefs de cité waren auch Träger einer für die afrikanischen Arbeiter neuen Sprache: So spielten sie eine zentrale Rolle bei der Einführung neuer Konzepte und Begrifflichkeiten von industrieller Arbeit und Arbeitsorganisation. In den Sprachen der afrikanischen Männer, die in Katanga arbeiteten, gab es nämlich keine Lexik für spezielle Arbeitsprozesse im Bergbau und für die spezifische Arbeitsorganisation moderner Industrien. Um diese sprachlichen Lehrstellen zu füllen, übernahmen die Arbeiter das Vokabular der europäischen chefs de cité und integrierten französisches Vokabular aus dem semantischen Feld von industrieller Lohnarbeit wie contrat, salaire, congés in ihre verschiedenen lokalen Sprachen. Auch die spezifischen Berufsbezeichnungen im Kontext von Minenarbeit, mineur, soudeur, travailler au four, clerc, wurden aus dem Französischen entlehnt. Das Gleiche gilt für Begriffe im Zusammenhang mit Arbeitsorganisation: Zeiteinteilungen und Zeitangaben wie Monate, Tage und Uhrzeiten wurden aus dem Französischen übernommen. Diese zahlreichen Entlehnungen haben langfristig dazu geführt, dass sich in Katanga eine besonderen Varietät des Swahilis herausgebildet hat24 – eine sprachliche Entwicklung, die nur durch die Industrialisierung Katangas und die Integration von Hundertausenden afrikanischen Arbeitern in die Minenindustrie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu erklären ist. Entlehnungen aus dem Französischen finden sich auch in Semantiken von Disziplinierung und Kontrolle von Arbeitern und ihren Familien, in diesem Zusammenhang finden sich Wörter wie sanction, prison, chicotte (Peitsche). Wie bereits beschrieben, spielten die Arbeitercamps der UMHK ein wichtige Rolle bei der Einführung neuer Praktiken von Arbeits- und Familienleben. Die umzäunten, nicht frei zugängigen Camps bildeten einen idealen Raum, um Arbeiter und ihre Familien zu kontrollieren und zu disziplinieren. Diese oftmals gewaltsame Kontrolle aller Aspekte des Lebens von Arbeitern und ihren Familien bedurfte einer legitimierenden Ideologie und so entwickelte die UMHK neben immer neuen Ideen zur Lebens- und Freizeitgestaltung 23 Aus datenrechtlichen Gründen ist es nicht möglich, genaue Angaben zu den Akten zu machen, weswegen hier nur ein allgemeiner Einblick gewährt werden kann. 24 Belege für französische Entlehnungen finden sich zum Beispiel in den auf Swahili geführten lebensgeschichtlichen Interviews, die die Autorin mit ehemaligen Arbeitern des UMHK 2008 und 2009 geführt hat (siehe Anmerkung 5). Eine systematische Analyse des in Katanga gesprochenen Swahili im Kontext von kolonialer Industrialisierung und Lohnarbeit findet sich bei: Johannes Fabian: Language and Colonial Power. The Appropriation of Swahili in the Former Belgian Congo 1880–1938. London 1961.
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ihrer Arbeiter die Idee, sich als umsorgender Familienvater darzustellen, der seine Kinder großzügig versorgte, solange sie diszipliniert in den Minen, Werkstätten oder Camps ihre Arbeit verrichteten. Diese paternalistische Firmenideologie, die eine starke Bevormundung und Kontrolle der Arbeiter und ihrer Familien bedeutete, erinnert stark an die Diskurse von Plantagenbesitzern im 18. und 19. Jahrhundert in Nordamerika und war ein geeignetes Instrument, unfreie Arbeits- und Lebenssituationen, die sich hinter den Zäunen der Arbeitercamps zwischen Bewohnern und dem firmeneigenen Sicherheitsdienst der chefs de cité oder im Inneren der Minen zwischen weißen Vorarbeitern und kongolesischen Minenarbeitern abspielten und nicht selten von Gewalt geprägt waren, zu verschleiern. Denn obwohl sich der Konzern mit Fotos und Filmen von lächelnden Arbeitern, sauberen Krankenhäusern und zufriedenen Kleinfamilien als wohltätiger Arbeitgeber in Szene setzte und damit dem gesamten belgischen Kolonialprojekt den Ruf einer ‚Modellkolonie‘ einbrachte, war der Alltag der meisten Arbeiter immer noch durch harte und gefährliche, aber schlecht bezahlte Arbeit charakterisiert. Und auch für die Frauen, die ihren Männern nach Süd-Katanga gefolgt waren, war das Leben im „Königreich des Kupfers“ schwierig. Nicht nur mussten sie sich an eine komplett neue Umgebung anpassen, in der ihre eigene Arbeitskraft auf das Gebären und Aufziehen von Kindern sowie auf Kochen, Putzen, Nähen und Aufräumen reduziert wurde25, sondern sie waren auch abhängig von den von der Union Minière verteilten Essensrationen, die zum einen nicht besonders üppig ausfielen und zum anderen oftmals von schlechter Qualität waren.26 In dieser Situation begannen die rekrutierten Arbeiter, sich nicht nur während der Arbeit über ihre Unzufriedenheit, sondern auch in ihrer Freizeit – beim Zusammensitzen mit Nachbarn, beim Fußball und nach der Messe – auszutauschen. Und auch die Arbeiterfrauen schufen neue Verbindungen: Sie unterhielten sich mit Nachbarn, trafen andere Frauen bei der Essensausgabe und beobachteten, wie ihre Kinder zusammen spielten. Jeden Samstagmorgen zum Beispiel standen Hunderte Frauen vor der Essensausgabe des Arbeitercamps der Union Minière im Arbeiterbezirk von Elisabethville, oftmals begleitet von ihren Kindern, und warteten.27 An anderen Vormittagen arbeiteten Dutzende Frauen gemeinsam daran, das Unkraut auf den Wegen der cité des travailleurs zu jäten. Oder sie trafen sich beim gemeinsamen Kochen in den von der Union Minière konstruierten Außenküchen, die sich jeweils zwischen zwei 25 Vgl. hierzu auch: Hunt: Hommes et Femmes (wie Anm. 11). S. 51–57. 26 MRAC, Tervuren, Documents Vellut, Archives Province Katanga, Note, Parquet d’Elisabethville, Le Procureur du Roi, P. van Arenberg, 12.01.1942. S. 2–3. 27 Siehe zum Beispiel die Schilderung von Joseph-Emmanuel Ikos Rukal Diyal: La Générale des Carrières et des Mines (GCM). Une Culture et une Civilisation. Une Narration Affective sur l’Enterprise. Lubumbashi 2006. S. 30–41; Interviews Julia Seibert mit Francois Nkongolo (*26.04.1942) am 08.09.2008 in Lubumbashi (23:34 min.).
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Häusern befanden.28 Die Lebenswelt der Frauen sowie auch die der Männer in der cité des travailleurs in Elisabethville und den anderen Standorten der UMHK war durch enge soziale Netzwerke charakterisiert, die sich zwar von der sozialen Organisation ihrer Herkunftsdörfer unterschieden, die aber dennoch vielzählige Möglichkeiten zum Austausch und letztlich auch zur kollektiven Mobilisierung boten. Denn während die Personalabteilung für ‚eingeborene‘ Arbeiter in Elisabethville und die Büros der Vorsteher der Arbeitersiedlung – der chefs de cité – in den Minenstädten Elisabethville, Kolwezi, Jadotville und Kipushi damit beschäftigt waren, den Arbeits- und Lebensraum der UMHK-Beschäftigten zu kontrollieren, indem sie den Ein- und Ausgang aus den Camps überwachten, die Gründung von Vereinen verboten, Besuche von Verwandten und Freunden reglementierten, die Anzahl der Familienmitglieder in den Haushalten kontrollierten29, konnten sie nicht verhindern, dass die Bewohner der cité und die Arbeiter in den Minen die vielen nicht kontrollierbaren Bereiche des alltäglichen Lebens nutzten, um ihre sozialen Netzwerke innerhalb des Camps und in den Minen zu stärken. Dies war auch deshalb möglich, weil die Beschäftigten der Union Minière seit Ende der 1920er Jahre immer längere Zeiträume in Katanga lebten und arbeiteten. Ironischerweise war das Entstehen dieser Kommunikationsräume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen einander näherkamen und ihre sozialen Beziehungen ausweiteten, überhaupt erst durch die Stabilisierungspolitik der UMHK möglich geworden. Auch die Voraussetzung für die Kommunikation in diesen Netzwerken wurde erst von der UMHK geschaffen, indem sie eine gemeinsame Verkehrssprache in den Minen und im Camp etablierte. Dank dieser Sprache – einer Varietät des Swahili, die zum einen Entlehnung aus verschiedenen afrikanischen Sprachen ist und zum anderen von französischer und englischer Lexik durchdrungen ist und die bis heute in Katanga gesprochen wird – konnten sich Menschen mit ganz unterschiedlichen lokalen Sprachhintergründen verständigen.30 Unterschiedliche Zugehörigkeiten31 der einzelnen Arbeiterfamilien manifestierten sich jedoch nicht alleine durch die Verschiedenheit einzelner Sprachen. Die 28 Vgl. Récit de vie de Clémentine Kawama recueilli par Dibwe di Mwembu et Claude Mwilambwe. In: Bogumil Jewsiewicki (Hg.): Naître et mourir au Zaire. Un demi-siècle d’histoire au quotidien. Paris 1993. S. 231–238. 29 Vgl. hierzu: Interviews Julia Seibert, Interview mit Stéphane Mafuta Kilo (*12.10.1920) am 13.02.2009 in Likasi, vgl. auch: Sean Hanretta: Space in the Discourses on the Elisabethville Mining Camps: 1923 to 1938. In: Florence Bernault (Hg.): Enfermement, prison et châtiments en Afrique du 19e siècle à nos jours. Paris 1999. S. 305–335. 30 Soziolinguistische Aspekte des in Katanga gesprochenen Swahili diskutiert: Fabian: Language and Colonial Power (wie Anm. 24). S. 92–111. 31 Zum Konzept der situativen Zugehörigkeit siehe: Frederick Barth: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organisation of Cultural Difference. London 1969, insbeson-
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Männer, Frauen und Kinder, die in die Union Minière integriert wurden, hatten ihr kulturelles Gepäck aus den verschiedenen Regionen des Kongos, aus Ruanda und Rhodesien in die Minen und Camps nach Katanga mitgebracht. Es gab eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitspraktiken, Essgewohnheiten, Zubereitungsverfahren, Kleidungsstilen, Verhaltensregeln, Heiratsritualen, Tänzen, Musik und Formen von Spiritualität, die sich nicht ohne Weiteres transformieren ließen. Die Union Minière reagierte unterschiedlich auf dieses kulturelle Gepäck der Arbeitsmigranten: Gewisse Praktiken versuchte sie zu reglementieren oder zu verbieten, andere ließ sie zu, ja unterstützte sie sogar: So baute die Union Minière die bereits erwähnten offenen Küchen zwischen zwei Häusern, reglementierte jedoch den Anbau von Nahrungsmitteln, den insbesondere die Arbeiterfrauen auf kleinen Parzellen außerhalb der cité betrieben. In den 1940er Jahren durften Frauen nur samstags auf dem Feld arbeiten.32 Eine allgemeine Politik der Union Minière bestand darin, diejenigen Arbeiter, die eine starke soziale Zugehörigkeit durch eine gemeinsame Herkunft mitbrachten, in der cité und am Arbeitsplatz nach einer gewissen Eingewöhnungszeit durch Umzüge in andere cités und Versetzungen zu anderen Arbeitsstätten zu trennen, denn sie fürchtete, dass bereits bestehende soziale Beziehungen eine Quelle des Protestes sein konnten.33 Und so wurden auch die équipes de travail, die Arbeitertrupps, die für die Arbeit in den verschiedenen Minen eingeteilt wurden, mit wenigen Ausnahmen bewusst vermischt, um die Entstehung von zu engen Bindungen zwischen den Arbeitern zu vermeiden.34 Ironischerweise entwickelte sich jedoch gerade in diesen Arbeitertrupps, bestehend aus Arbeitern mit unterschiedlicher Herkunft, eine neue Zugehörigkeit, die langfristig die soziale Macht der Arbeiter stärkte, eine Zugehörigkeit, die entscheidend dazu beitrug, die Praxis von Kazi und den Begriff von Kazi zu transformieren. Wie Arbeiter aus unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Sprachhintergründen und unterschiedlichen Arbeitserfahrungen ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln konnten, das über ein gemeinsames Arbeitsethos hinaus auch dazu führte, dass sich Praktiken und Begriffe von Arbeitsordnungen, Arbeitspraktiken und Arbeitsverhältnisse langfristig änderten, lässt sich nur durch eine Analyse der Arbeitsprozesse selbst beantworten. Die Antwort auf die Frage, wie Arbeiter ihre unterschiedlichen Zugehörigkeiten überwinden konnten, liegt daher im Inneren der Minen – in einer Umgebung, dere S. 9–38. 32 Interviews Julia Seibert mit Madleine Nsekela Mwa Mbibwa (*1938) am 08.09.2008 in Lubumbashi (9:50 min.). 33 Dieser Eindruck bestätigt sich in den Personalakten der Arbeiter, die regelmäßig ihren Arbeitsplatz und das Camp wechseln; vgl. La générale des carrières et des mines (Gécamines), Lubumbashi, Personalarchiv. 34 Eine Ausnahme sind die aus Ruanda rekrutierten Arbeiter, die in der Regel zusammen unter Tage in der Mine in Kipushi arbeiteten; vgl. La générale des carrières et des mines (Gécamines), Lubumbashi, Personalarchiv, Personalakten „Ruandais“.
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in der junge und ältere Männer, Arbeiter mit und ohne Arbeitserfahrung aus ganz Zentralafrika unter harten und gefährlichsten Bedingungen zusammenarbeiteten, sich kennenlernten und zum ersten Mal eine kollektive Zugehörigkeit als Arbeiter entwickelten. In diesen „workscapes“, wie der Historiker Thomas G. Andrews für die spezifische Arbeitserfahrung von Minenarbeitern in den Kohleminen in Colorado in den USA Ende des 19. Jahrhunderts argumentiert hat, entwickelten Minenarbeiter durch die gemeinsame Erfahrung der harten und gefährlichen Arbeit unter extremen Umweltbedingungen eine spezifische Identität, die sich durch eine besonders starke Solidarität manifestierte.35 Solche „workscapes“, die Andrews als „a place shaped by the interplay of human labor and natural process“ definiert, entwickelten sich auch in den Minen der Union Minière und halfen, eine starke Solidarität zwischen den Arbeitern zu schaffen, die dazu führte, dass Kazi eine Bedeutung und einen Wert bekam, der zunächst innerhalb dieser Community verhandelt und verstanden wurde und dann auch außerhalb der Mine in den Arbeiterfamilien, aber auch außerhalb der cité eine wichtige soziale Kategorie wurde. Diese spezifische Zugehörigkeit, die die Arbeiter aufgrund ihrer Tätigkeit in den Minen und in der Verarbeitung von Kupfer entwickelten, spiegelt sich in den Semantiken von Kazi wider, die die Arbeitsverhältnisse und Arbeitswelten in Katanga beschreiben. Die Bedeutungen von Kazi im Kontext von Katangas Minenindustrie sind so unterschiedlich wie die von den Arbeitern gemachten Erfahrungen mit der Arbeit und dem Leben im „Königreiche des Kupfers“. Kazi vereint sowohl positive als auch negative Deutungsmuster von Arbeit in den Minen: So wird Kazi im Kontext von schlechten Arbeitsbedingungen, Zwangsrekrutierung und strenger sozialer Kontrolle in den cités als ‚Sklaverei‘ gedeutet.36 Positive Deutungen von Kazi stehen im Zusammenhang mit dem ‚modernen‘ Leben in der Stadt und den damit verbundenen sozialen Aufstiegschancen, die in den sozialen Strukturen der afrikanischen Familien und Bevölkerungsgruppen nicht möglich wären. Der Zugang zu Schulbildung und beruflicher Ausbildung für die Kinder von Arbeitern der Union Minière ist ein zentraler Bestandteil dieser positiven Deutungen von Kazi. Die Union Minière unterhielt eine Vielzahl von eigenen Schulen und Ausbildungsstätten. In lebensgeschichtlichen Interviews heben Arbeiter und ihre Familien immer den Aspekt der Schulbildung als entscheidenden Vorteil gegenüber nichtindustriellen Arbeitsverhältnissen vor. Obwohl die meisten der Interviewten „travailler à l’Union Minière“ als Ausbeutung beschreiben, interpretieren sie ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der 35 Thomas G. Andrews: Killing for Coal. American Deadliest Labor War. Cambridge 2008. S. 125. 36 Vgl. hierzu auch: Boniface Kizobo Okwess O’bweng, Le Kazi dans l’univers Mental Lushois. In: Donatien Dibwe dia Mwembu/Bogumil Jewsiewicki/Véronique Klauber (Hg.): Le travail, hier et aujourd’hui. Mémoires de Lubumbashi. Paris 2004. S. 15–25.
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„travailleurs de l’Union Minière“ als positiv. In diesem Zusammenhang heben die Interviewten den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung insbesondere für ihre Kinder hervor. Auch Kinder von ehemaligen Arbeitern, die in den 1950er Jahren geboren und ihre Kindheit in den Arbeitercamps verbracht haben, deuten die Lohnarbeitsverhältnisse ihrer Väter positiv, wobei sie genau wie ihre Eltern den garantierten Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Nahrung (Kinder wurden in den Schulen mit Essen versorgt) hervorheben.37 Diese positiven Deutungen von Kazi im Kontext von Sozialleistungen des Arbeitgebers werden auch durch den Gebrauch von unterschiedlichen Verben zur Beschreibung von ‚Arbeit‘ und ‚arbeiten‘ in Katanga deutlich: Während das französische Verb ‚travailler‘ gebraucht wird, um zu verdeutlichen, dass jemand einem durch einen Arbeitsvertrag mit der Union Minière geregelten Lohnarbeitsverhältnis nachgeht, wird ‚arbeiten‘ außerhalb der Union Minière als ‚se débrouiller‘ bezeichnet. ‚Travailler‘ ist demnach das Verb, das gebraucht wird, um arbeiten im Kontext von stabilen Lohnarbeitsverhältnissen zu beschreiben, während ‚se débrouiller‘ (zurechtkommen/sich durchschlagen) im Zusammenhang von Gelegenheitsarbeit ohne festen Arbeitsvertrag, aber auch ohne Zusatzleistungen für die Familie benutzt wird. Dass ‚travailler‘ mehr Prestige als ‚se débrouiller‘ besitzt, wird auch daran deutlich, dass Töchter von Arbeitern der Union Minière es als sozialen Abstieg empfinden, einen Mann zu heiraten, der nicht ‚arbeitet‘, sondern ‚sich durchschlägt‘, oder anders gesagt, der kein Lohnarbeitsverhältnis bei der Union Minière hat, sondern einer Arbeit außerhalb des Unternehmens nachgeht. So berichtet Clémentine Kawama, die 1938 als ältestes Kind eines UMHK-Arbeiters in Likasi in einem Krankenhaus der UMHK zu Welt gekommen ist, dass sie 1953 ein „Kind“ der Union Minière geheiratet habe (einen jungen Mann, dessen Vater Arbeiter bei der UM war), denn jemanden von „außerhalb“ (dehors) zu heiraten, hätte eine Demütigung für sie und ihre Familie dargestellt.38 Eine andere Entwicklung, die in der Welt von Kazi entstand und die zu einer positiven Aufwertung seiner Semantik führte, war die Aufwertung der individuellen Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter. Das Herausstellen der eigenen Arbeitskraft wurde besonders von erfahrenen Arbeitern kollektiv genutzt, um sich von noch unerfahrenen Arbeitern und gegenüber Arbeitern anderer kolonialer Unternehmen wie zum Beispiel der Eisenbahn-Gesellschaft Katangas abzugrenzen. Diese Abgrenzung war ebenfalls eine 37 Interviews von Julia Seibert mit Pierre Bitupampa wa Bunyengu (5.7.1951) am 30.08.2008 in Lubumbashi sowie mit Louis Muleba Kasadi ( 21.10.1943) am 30.08.2008 in Lubumbashi. 38 Récit de vie de Clémentine Kawama recueilli par Dibwe di Mwembu et Claude Mwilambwe. In: Bogumil Jewsiewicki (Hg.): Naître et mourir au Zaire. Un demi-siècle d’histoire au quotidien. Paris 1993. S. 237.
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Folge der Stabilisierung der Arbeiterschaft bei der Union Minière: Waren die meisten Arbeiter als junge Männer und ungelernte Kräfte nach Katanga gekommen, hatten sie über die Jahre reiche Kenntnisse und vielfältige Fähigkeiten entwickelt, so dass sie nicht nur gegenüber Neuankömmlingen im Vorteil waren, sondern auch gegenüber ihrem Arbeitgeber eine soziale Macht entwickelten. Als Arbeitgeber konnte die Union Minière nicht ohne Weiteres auf diese nun qualifizierten Arbeiter verzichten. Die Logik der Kupferproduktion, die nur profitabel sein konnte, wenn es genug qualifizierte Arbeiter gab, die die schwere und gefährliche Arbeit effizient erledigen konnten und die auch Neuankömmlinge vor Unfällen und anderen Gefahren schützen und sie für die Arbeit ausbilden konnten, stärkte die Position dieser ersten Generation von „stabilisierten“ Arbeitern gegenüber der UMHK erheblich. Mit dem Bewusstsein, dass ihre Arbeit bedeutend war und dass sie nicht ohne Weiteres ersetzt werden konnten, begannen die Minenarbeiter, Forderungen zu stellen – nach höheren Löhnen, für besseres Essen und vorteilhafte Lohnabstufungen. Damit begannen die Arbeiter, Lohnarbeitsverhältnisse in Katanga aktiv zu transformieren. Indem sie sich auf ihren Status als Lohnarbeiter und auf den Wert ihrer Arbeit beriefen, leisteten sie individuell oder mit der Unterstützung ihrer équipe de travail Widerstand gegen die harschen Arbeitsbedingungen des Unternehmens. Dieser Widerstand fand vor allem während der Arbeit in den Minen oder Werkshallen der Union Minière statt, wo die Arbeiter durch schlechtes Arbeiten, durch lange Pausen oder durch den Verlust und die Zerstörung ihrer Arbeitsgeräte ihren Arbeitsplatz zu „small war zones“39 machten, in denen sie gegen weiße Vorarbeiter rebellierten, um bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Die verschiedenen Praktiken dieses Protestes werden in den Personalakten, die von der Union Minière für jeden Arbeiter angelegt wurden, deutlich. Auf der fiche disciplinaire vermerkten die Angestellten des Büros der Main d’Œuvre Indigène alle vom Vorarbeiter gemeldeten Vergehen der einzelnen Arbeiter. Interessanterweise fällt auf, dass trotz ständiger Vergehen die Union Minière keine Konsequenzen zog und die Verträge der revoltierenden Arbeiter immer wieder verlängerte.40 Der Wert der Arbeit der kongolesischen Arbeiter und ihrer Kollegen aus Ruanda war für die Union Minière zu groß − und diese Abhängigkeit des Minenkonzerns von seinen Arbeitern gab den Arbeitern Macht, ihre Vorstellungen von Kazi durchzusetzen.
39 Zum Konzept der small war zones vgl. James C. Scott: Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven 1985; eine überzeugende Weiterentwicklung von Scotts Konzepten findet sich bei: Robin Kelley: Race Rebels, Culture, Politics and the Black Working Class. New York 1994. 40 La générale des carrières et des mines (Gécamines) (wie Anm. 34).
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3 Fazit Die Stabilisierungspolitik der Union Minière, die zu Brüchen, Kontinuitäten und Transformierungen von Zugehörigkeiten geführt hatte, war die Grundlage für die Entstehung eines Modells von Lohnarbeit, an dem die Arbeiter und ihre Familien innerhalb der UMHK ihre Interessen verhandeln und schützen konnten. Von den Minen ausgehend entwickelte sich eine Kultur des Widerstandes, die letztlich die Basis für eine kollektive Mobilisierung gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen innerhalb der Union Minière bildete. Es war diese Kombination aus individuellem Widerstand gepaart mit den stabilen Verhältnissen in der UMHK, aber auch die Situation der speziellen „workscapes“, die eine neue Zugehörigkeit in Katanga schufen, unter der sich Arbeiter unterschiedlichster Hintergründe vereinigen konnten, um Arbeitsverhältnisse neu auszuhandeln. Die sich seit der Mitte der 1920er Jahre wandelnden Arbeitswelten in Katanga manifestieren sich auch in Bedeutungsverschiebungen lokaler Semantiken von Kazi. Während Kazi vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Mitte der 1920er Jahre noch ein Synonym für Sklaverei und Zwangsarbeit war, erfuhren Semantiken von Lohnarbeit seit den 1930er Jahren eine positive Aufwertung. Diese Bedeutungsverschiebung lässt sich auf die durch die Stabilisierungspolitik herbeigeführte strukturelle Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im „Königreich des Kupfers“ zurückführen. Eine andere Erklärung für die positive Umdeutung von Kazi ist der sich seit den 1930er Jahren vergrößernde Handlungsspielraum von Arbeitern bei der Mitgestaltung von Lohnarbeitsverhältnissen. Auch die Aufwertung der individuellen Arbeitskraft und die damit verbundene Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs innerhalb der sozialen Ordnung der Kupferindustrie führten schließlich dazu, dass Kazi bis zum heutigen Tag Konnotationen von Freiheit und Modernität in sich vereint.
Sigrid Wadauer
Immer nur Arbeit? Überlegungen zur Historisierung von Arbeit und Lebensunterhalten1
Was wir heute gemeinhin unter Arbeit verstehen, ist historisch relativ jung. Arbeit, so Conrad/Macamo/Zimmermann, „wurde seit den 1880er Jahren so stark verändert und geradezu neu konstituiert, daß man gewissermaßen von ihrer ‚Erfindung‘ sprechen könnte“.2 Moderne, kodifizierte und institutionalisierte Arbeit sei von der Arbeit in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit durch eine tiefe Kluft getrennt. Meiner Erfahrung zufolge kann – trotz aller ‚turns‘ der letzten Jahrzehnte – die Feststellung einer (Neu-)‚Erfindung‘ oder, wie ich eher sagen würde, ‚Produktion‘ von Arbeit große Irritation, ja sogar Erheiterung auslösen, so vertraut und selbstverständlich ist der Gedanke, dass es Arbeit ‚immer schon‘ gab. Das ist nicht nur im Alltagsverständnis von Arbeit so. Auch wissenschaftliche Vorstellungen von Arbeit vereinen meist einen universellen, ahistorischen und einen partikularen, historischen Aspekt in unterschiedlicher Gewichtung. Man findet verschiedene Arten der Historisierung und unterschiedliche Arten, das Wort, den Begriff, die Vorstellung zu den Praktiken des Arbeitens in Verbindung zu setzen. Dieser Text beschäftigt sich mit Problemen der Gegenstandskonstruktion, mit Erkenntnishindernissen3 im Bemühen um eine konsequente Historisierung von Arbeit. 1
Dieser Text ist im Rahmen eines vom European Research Council im Siebenten Rahmenprogramm der Europäischen Union (FP7/2007–2013 / ERC grant agreement n 200918) und vom FWF (Y367-G14) geförderten Forschungsprojektes „The Production of Work“ an der Universität Wien entstanden. Für Diskussion und Hinweise danke ich Alexander Mejstrik, Thomas Buchner, Sonja Hinsch, Jessica Richter, Georg Schinko und Irina Vana. 2 Sebastian Conrad/Elisio Macamo/Bénédicte Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation. In: Jürgen Kocka/Klaus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt/New York 1999. S. 449–475, hier: S. 450; Peter Wagner/Claude Didry/Bénédicte Zimmermann: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive. Frankfurt a. M./New York 2000. S. 15–22. 3 Im Sinne von Gaston Bachelard: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1987.
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Er formuliert Überlegungen, die nicht aus einem theoretischen Interesse entstanden sind, sondern aus der Reflexion empirischer Arbeiten des Forschungsprojektes „The Production of Work“, das die Normalisierung von Arbeit in der Zeit von ca. 1880– 1938 am Beispiel vor allem Österreichs untersucht. In diesem Zusammenhang stellen sich unweigerlich die Fragen, was alles an Praktiken in die Untersuchung von Arbeit einbezogen werden muss und welches Gewicht, welchen Anteil die unterschiedlichen und unterschiedlich wirksamen Vorstellungen an der Veränderung von Arbeit haben. Mit anderen Worten: Was macht man sich zum Gegenstand, wenn man sich Arbeit (und ihre Veränderung) zum Gegenstand macht?
1 Universalismus Man kann Arbeit als anthropologische Konstante denken. „Work“, so etwa Herbert A. Applebaum, „is basic to the human condition, to the creation of the human environment, and to the context of human relationships. […] No matter how we conceptualize work, our survival as a species depends on the need to work, whether the work ethic is strong or not, accepted or not, or revised or not. […] Work is a necessity of life, and yet, it is performed in the most diverse ways to achieve the universally necessary goal of providing the sustenance of life.“4 Aus einer universalistischen Perspektive arbeiten Menschen ‚immer schon‘ und unabhängig davon, wie sie ihr eigenes Tun repräsentieren. Es arbeiten also auch Menschen in Gesellschaften, die eventuell gar kein Wort für oder gar keine Vorstellung von Arbeit haben.5 Eine Möglichkeit der Historisierung einer solchen universell gedachten Arbeit wäre, historisch unterschiedliche und veränderbare Arbeitsformen und -verhältnisse zu beschreiben.6 Arbeit könnte also als das verstanden werden, was Arbeiter, Bauern, Handwerker, Angestellte etc. in verschiedenen historischen Epochen unternommen
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Herbert Applebaum: The Concept of Work. Ancient, Medieval, and Modern. New York 1992. S. X u. XII. Der Philosoph Manfred Füllsack übertitelt ein Kapitel „Als die Arbeit noch nicht Arbeit hieß“. Manfred Füllsack: Arbeit. Wien 2009. S. 13. Vgl. z. B. Raymond E. Pahl: On Work. Historical, Comparative and Theoretical Approaches. Oxford/New York 1988; Frans van der Ven: Sozialgeschichte der Arbeit. München 1972; Reinhold Reith weist darauf hin, dass die Praxis der Arbeit selbst oft kaum beschrieben wurde. Vgl. Reinhold Reith: Praxis der Arbeit. Überlegungen zur Rekonstruktion von Arbeitsprozessen in der handwerklichen Produktion. In: Ders. (Hg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung (Studien zur historischen Sozialwissenschaft Bd. 23). Frankfurt a. M./New York 1998. S. 11–54, hier: S. 11.
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haben, um ihren Lebensunterhalt7 zu sichern, oder als zumindest der Teil davon, den Historiker und Historikerinnen entsprechend der jeweiligen histor(iograph)ischen Konjunktur als Arbeit anerkennen.8 Die Fragen, was Arbeit sei und ob dies alles Arbeit sei, bleiben dabei oft unbeachtet und werden nicht explizit behandelt. Angenommen wird jedoch, dass sich diese Arten des Arbeitens auch in eine Geschichte der Arbeit – von der Antike bis zur Gegenwart – einordnen lassen. Dass sich derart universalistische Vorstellungen von Arbeit zugleich mit historisch sehr spezifischen Vorstellungen mischen können, lässt sich etwa daran erkennen, dass auch eine als quasi ewig menschlich gedachte Arbeit verschwinden kann. So schreibt der Soziologe Jeremy Rifkin: „From the beginning, civilization has been structured, in large part, around the concept of work. From the Palaeolithic hunter/gatherer and Neolithic farmer to the medieval craftsman and assembly line worker of the current century, work has been an integral part of daily existence. Now, for the first time, human labor is being systematically eliminated from the production process.“9
2 Begriffsgeschichte In der skizzierten Perspektive ist es irrelevant, welche Vorstellungen die Arbeitenden jeweils von ihrer Arbeit hatten. Hingegen hat sich die Begriffs- und Ideengeschichte mit der Veränderbarkeit des Begriffs von Arbeit beschäftigt.10 Im Vordergrund stehen dabei die jeweiligen Wertungen und Umwertungen von Arbeit. Seltener geht es darum, welche Tätigkeiten überhaupt als Arbeit verstanden wurden und welche nicht.11 Nicht jede Epoche, nicht jede Gesellschaft hat ein Wort für Arbeit. Unterstellt wird 7
Walther weist darauf hin, dass auch Lebensunterhalt eine Vorstellung ist, die dem Wandel unterliegt. Rudolf Walther: Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo. In: Helmut König/Bodo von Greiff/Helmut Schauer (Hg.): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit (Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft Sonderheft 11/1990). Opladen 1990. S. 3–25; Kurt Beck/Gerd Spittler: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Arbeit in Afrika (Beiträge zur Afrikaforschung 12). Hamburg 1996. S. 1–24. 8 Die Geschichte der Arbeit erscheint dabei oft eher als die Geschichte der Arbeiterbewegung, der Arbeiter, ihrer Herkunft, ihres Verhaltens etc. Vgl. Klaus Tenfelde: Einführung. In: Ders. (Hg.): Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte. Göttingen 1986. S. 5. 9 Jeremy Rifkin: The End of Work. The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the Post-Market Era. New York 1996. S. 3. 10 Vgl. z. B. Patrick Joyce (Hg.): The Historical Meanings of Work. Cambridge 1987. 11 Vgl. Fritz Hermanns: Arbeit. Zur historischen Semantik eines kulturellen Schlüsselwortes. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 19, 1993. S. 43–62.
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jedoch in dieser Perspektive, und das ist die Grenze dieser Art der Historisierung, dass in jeder Epoche gearbeitet wird und jede Epoche auch einen Begriff von Arbeit habe, dass somit jede Epoche (zumindest der europäischen Welt) in eine mehr oder minder kontinuierliche Entwicklung eingeordnet werden könne. So beginnt Werner Conze seinen Beitrag für die „Geschichtlichen Grundbegriffe“ mit einer Definition aus dem Brockhaus: „‚Arbeit‘, das bewußte Handeln zur Befriedigung von Bedürfnissen, darüber hinaus als Teil der Daseinserfüllung des Menschen [Brockhaus, Enz., Bd. 1 (1966), 656], hat eine auf die früheste Überlieferung zurückgehende, noch keineswegs voll aufgearbeitete Begriffsgeschichte, deren Traditionszusammenhang im 18. Jahrhundert abgebrochen wurde. Bis dahin, und darüber hinaus immer noch weiter nachwirkend, war das deutsche Wort, ebenso wie die entsprechenden Wörter in den antiken und europäischen Sprachen, begrifflich mehrdeutig.“12 Der Begriff der Arbeit enthalte unterschiedliche Elemente: Mühe/Qual/Last, eine „bejahte […], gesuchte […] Anstrengung um eines Zieles willen“, das Werk13 von historisch variablem Gewicht. Seit dem 18. Jahrhundert verselbständige sich der Begriff und löse sich immer mehr von Armut, Mühe und Last ab. Es komme zu einer Aufwertung und Einengung des Begriffs.14 Arbeit werde zum zentralen, säkularisierten, ökonomischen Begriff, der zunehmend von den konkreten Formen der Arbeit abstrahiere: zur Idee einer Tätigkeit, die Glück und Bedürfnisbefriedigung verspreche und Wohlstand begründe.15 In diesem Sinne steht die Begriffsgeschichte zu einem universalistischen Zugang keineswegs in Gegensatz:16 Das Wort bezieht sich auf einen Begriff, eine Art Behälter, in den mehr oder weniger hineinpasst, auch Heterogenes und Widersprüchliches, dessen Elemente sich wandeln und im historischen Verlauf unterschiedliches Gewicht erlangen,17 und dieser wiederum bezieht sich auf ein universell/ahistorisch gedachtes 12 Werner Conze: Art. Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck: Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 154–215, hier: S. 154. 13 Ebd. S. 154. 14 Dagegen wendet Ehmer ein, nicht Arbeit schlechthin sei idealisiert worden, sondern nur ganz bestimmte Tätigkeiten: Josef Ehmer: Geschichte der Arbeit als Spannungsfeld von Begriff, Norm und Praxis. In: Bericht über den 23. Österreichischen Historikertag in Salzburg. Salzburg 2003. S. 25–44, hier: S. 29. 15 Conze: Art. Arbeit (wie Anm. 12). S. 168 ff., S. 179; Maurice Godelier: Aide-Memoire for a Survey of Work and Its Representations. In: Current Anthropology, 21, 6, 1980. S. 831–835, hier: S. 832. 16 Koselleck verstand die Begriffsgeschichte auch als Ergänzung der Sozialgeschichte. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Ders. (Hg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979. S. 19–36; ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt a. M. 2010. 17 Die Beziehung ist oft unklar, vgl. Hermanns: Arbeit (wie Anm. 11). S. 52.
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Signifikat, auf etwas, das über die Jahrtausende zumindest so weit mit sich selbst identisch bleibt, dass man es als eine Sache, die eine Geschichte hat, beschreiben kann. Arbeit ‚hat‘ also jeweils historisch unterschiedliche Bedeutungen.18 Auch aus dieser Perspektive gibt es eine Arbeit ‚an sich‘, einen Sachverhalt, zu dem sich sekundär die jeweiligen Worte, historischen Begriffe und Wertungen auf verschiedene Art und Weise (beschreibend, vorschreibend, idealisierend, verzerrend …) gesellen.19
3 Begriffs- und Realgeschichte Die Geschichte des ‚objektiven‘ Arbeitens und die Begriffs- oder Ideengeschichte von Arbeit stehen häufig gar nicht in Widerspruch zueinander, oft bestätigen und ergänzen sie sich gegenseitig, und manchmal scheinen sie kaum deutlich unterscheidbar.20 Eine epochenübergreifende „Geschichte der Arbeit schlechthin wurde häufig nicht als eine Geschichte des Arbeitens geschrieben, sondern vielmehr explizit oder implizit als Begriffs-, Ideen- oder Theoriegeschichte.21 Das ist nicht nur so, weil die jeweils gegebenen Vorstellungen untrennbar zu den Praktiken dazugehören. Jede/r, die/der die Entwicklung von Arbeit über eintausend, zweitausend oder gar mehr Jahre beschreiben will, kann dies nur auf der Grundlage der Lektüre und weniger auf der Grundlage eigener empirischer Forschung tun. Man muss zwangsläufig abstrahieren und kann dies nur, indem man verallgemeinert. Dabei wird auf Konzepte aus gelehrten Texten zurückgegriffen, die zugleich auch die Quellen der Begriffsgeschichten darstellen, die sich bisher bekanntlich fast ausschließlich auf die sogenannte Höhenkammliteratur stützen. Das hat, wie die Forschung gezeigt hat, nicht immer akkurate Darstellungen ergeben, nicht zuletzt auch, weil aktuelle empirische Ergebnisse oft nicht ausreichend Berücksichtigung finden (oder angesichts des Umfangs des Themas finden können). 18 Hans Frambach: Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg 1999. S. 12. 19 Koselleck: Begriffsgeschichten (wie Anm. 16). S. 62; Ehmer: Geschichte der Arbeit (wie Anm. 14). 20 Z. B. Michael S. Aßländer: Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg 2005; Josef Ehmer/ Edith Saurer: Art. Arbeit. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich Jaeger: Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2005. S. 507–533. 21 Z. B. Frambach: Arbeit (wie Anm. 18); ders.: Zum Verständnis von Arbeit im historischen Wandel. Eine Untersuchung aus nationalökonomischer Perspektive. In: Arbeit. 11, 3, 2002. S. 226–243; Füllsack: Arbeit (wie Anm. 5); Josef Ehmer/Catharina Lis (Hg.): The Idea of Work in Europe from Antiquity to Modern Times. Farnham/Burlington 2009; Willi Buggert: Arbeit im Wandel. Von antiker Sklavenarbeit zu neueren Arbeitsformen. Aachen 1999.
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Man läuft dabei beispielsweise Gefahr, jene Formen der Arbeit als epochentypisch zu beschreiben, die auch von Seiten der heute kanonisierten zeitgenössischen Denker die meiste Aufmerksamkeit erhalten haben,22 weil sie neu erschienen, während scheinbar untergehende (oft gar nicht minoritäre) Arbeitsformen vernachlässigt wurden, so etwa lange Zeit das Handwerk in der Industrialisierung oder eben alles, das nicht dem Idealtyp der freien Lohnarbeit entsprach.23 Entsprechend der angenommenen Aufwertung der Arbeit seit der Frühen Neuzeit kann man z. B. Arbeitsstolz finden, jedoch die Idealisierung des Lebens ohne Arbeit oder der Faulheit leicht übersehen.24 Damit läuft die Geschichte von Arbeit Gefahr, mehr das Produkt der gegenwärtigen Gelehrsamkeit als der Untersuchung dessen zu werden, was man in empirisch explorativer Forschung als Arbeit oder Nicht-Arbeit finden könnte. Der Wunsch, diachrone und epochenübergreifende Beschreibungen zu erzeugen, bringt die Gefahr mit sich, dass sich auch trotz des Bemühens zu historisieren oft ein ahistorischer Gegenstand durchsetzt. Die Vorstellung eines „concept of work“, einer Abstraktion aller möglichen Tätigkeiten, ist relativ jung.25 Selbst wenn man die Begriffsgeschichte ernst nimmt und sich z. B. durchringt, von Arbeit nur unter Anführungszeichen zu schreiben (weil Arbeit als Abstraktum ein Modernismus sei, den es im vorindustriellen Europa eben ‚streng genommen‘ gar nicht gebe),26 muss und kann man – oft allein schon der Nachfrage27 wegen – nicht davon absehen, dann doch die Arbeit im vorindustriellen Europa zu beschreiben. Oft aber sind Historiker und Historikerinnen mit den zeitgenössischen Begriffen nicht wirklich zufrieden und stellen ihren Untersuchungen ihre eigene wissenschaftliche Definition voran.28 So wird etwa dem als problematisch und verzerrend empfundenen, seit dem späten 22 Vgl. dazu auch Catharina Lis/Hugo Soly: Worthy Efforts: Attitudes to Work and Workers in Pre-Industrial Europe. Leiden/Boston 2012. 23 Vgl. Josef Ehmer/Helga Grebing/Peter Gutschner: Vorwort: Einige Überlegungen zu Aspekten einer globalen Geschichte der Arbeit. In: Dies. (Hg.): „Arbeit“: Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Wien 2002. S. 9–18. 24 Hingegen: Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe 2012. 25 Keith Thomas: Introduction. In: Ders. (Hg.): The Oxford Book of Work. Oxford 1999. S. xiii–xxiii, hier: S. xiv. 26 Richard van Dülmen: „Arbeit“ in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. In: Kocka/Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft (wie Anm. 2). S. 80–87. 27 Vgl. zum Problem der Nachfrage Alexander Mejstrik/Thomas Hübel/Sigrid Wadauer: Sozialwissenschaften – Reflexion und Intervention. In: Dies. (Hg.): Die Krise des Sozialstaats und die Intellektuellen. Sozialwissenschaftliche Perspektiven aus Frankreich. Frankfurt a. M./New York 2012. S. 7–16. 28 Z. B. Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward a Global Labor History. Leiden/Boston 2008; zu verschiedenen Definitionsversuchen vgl. auch Richard H. Hall: Dimensions of Work. Beverly Hills/New Delhi/London 1986. S. 9–14.
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neunzehnten Jahrhundert durchgesetzten ‚engen‘ Arbeitsbegriff29 ein scheinbar objektiverer, ideologisch neutraler, ‚weiter‘ Arbeitsbegriff gegenübergestellt, der neben der Erwerbsarbeit auch unbezahlte Arbeit wie etwa Reproduktionsarbeit mit einschließt.30 Einem spezifischen Verständnis wissenschaftlicher Objektivität zufolge garantiert ein solches Definieren Objektivität. Doch ist die Sache mit solchen Setzungen erledigt? Übersehen wird dabei zumindest, dass ein Arbeitsbegriff, der die zeitgenössischen Sichtweisen eliminieren will, genauso wenig objektiv und unbeteiligt ist, da er lediglich eine andere gegenwärtige Moral (im obigen Beispiel die der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen) anachronistisch manifestiert. Der Unterschied von Reproduktionsarbeit zu anderen Praktiken – wie z. B. Freizeit – wird willkürlich gesetzt.
4 Die Krux des Definierens Eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Definieren ist daher nicht nur Spitzfindigkeit. Wenn man diesen Aspekt ausklammert, eliminiert man einen wesentlichen Teil des Forschungsgegenstandes selbst, nämlich die Geschichtlichkeit von Arbeit: Wenn es Arbeit gab und gibt, dann nur, wenn und weil es historisch dauernd praktisch darum ging und geht, was Arbeit ist und sein soll. Genau dies stand und steht auf dem Spiel – und eben das macht Arbeit zu einem durch und durch historischen Phänomen. Dass Arbeit schwer abzugrenzen ist, dass ihre Grenzen stets fließend und umstritten sind, wird in vielen Quellen manifest und auch thematisiert. Sieht man sich verschiedene Definitionsversuche des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts an, so fällt auf, dass die Autoren jeweils eine Bandbreite von Bedeutungen und Sichtweisen festgehalten haben und die Besonderheit des wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Arbeitsbegriffs gegenüber dem alltäglichen Gebrauch des Wortes hervorheben. Wilhelm Heinrich Riehl schreibt in seiner Schrift über „Die deutsche Arbeit“: Allein dieß nackte Wort deckt nachgerade einen wahren Abgrund von Begriffen; es ist ein überdefinirtes Wort, in welches man so vielerlei Sinn hinein geschoben, daß es schier gar keinen besonderen Sinn mehr hat. Der Volkswirth, der Moralphilosoph, der Socialist, 29 Karin Hausen: Arbeit und Geschlecht. In: Kocka/Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft (wie Anm. 2). S. 343–361; Marie Jahoda: Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim/Basel 1983; Hall: Dimensions (wie Anm. 28). S. 12. 30 Z. B. Andrea Komlosy: Arbeitsverhältnisse und Gesellschaftsformen. In: Markus Cerman u. a.: Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000. Wien 2011. S. 244–263.
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Jeder denkt sich etwas Anderes unter diesem Wort, und wenn alle Drei ein Buch über die Arbeit schreiben, so würden sie nicht etwa denselben Gegenstand aus drei verschiedenen Gesichtspunkten, sondern drei verschiedene Gegenstände behandeln. Gerade die gangbarsten und ältesten Wörter sind oft die vieldeutigsten. Denn lange bevor man sie wissenschaftlich an einen klaren Begriff zu ketten suchte, hat der Volksmund sie zu den verschiedensten Werthen in Umlauf gesetzt. Neugeprägte Schulwörter dagegen decken viel sicherer und dauernder ihren Begriff; darum sind sie den Gelehrten so bequem, mögen sie noch so fremd und häßlich klingen.31
Karl Elster stellt – mit Verweis auf Riehl – 1919 in den „Jahrbüchern der Nationalökonomie“ fest: „Der Sprachgebrauch kennt in der Verwendung des Wortes [Arbeit] keine Engherzigkeit, sondern schaltet mit ihm in souveräner Willkür.“32 „Arbeit“, so Bernd Harms 1923 im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“, „ist Betätigung geistiger und körperlicher Kraft. Aber nicht jede Betätigung geistiger und körperlicher Kraft ist Arbeit. Die Grenzen zwischen Arbeit, Spiel, Zeitvertreib usw. sind durchaus flüssig, so daß die Aufstellung von scharf umrissenen Kategorien unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnet und deshalb ‚Arbeit‘ als solche nicht zwingend definiert werden kann. Der volkstümliche Sprachgebrauch kommt für die wissenschaftliche Begriffsbestimmung nicht ausschließlich in Betracht, weil er ungemein mannigfaltig ist und fester Anhaltspunkte enträt.“33 „Wirtschaftliche Arbeit“ stehe in seiner Abhandlung im Vordergrund, sie sei eine besondere Kategorie: „die auf Bedarfsdeckung oder Erwerb gerichtete Betätigung körperlicher oder geistiger Kraft: Bedarfsdeckung im Sinne der eigenwirtschaftlichen Hervorbringung von Gebrauchsgütern, Erwerb im Sinne der Beschaffung von Gütern (Waren) im Verkehr. Die Grenzen sind auch hier flüssig. Dieselbe Art von Arbeit kann unter Umständen teils wirtschaftlich, teils Arbeit im weiteren Begriff sein.“34 Ist das Schreiben eines Buches um der Forschung willen Arbeit? Ist die Tätigkeit von Hausfrauen Arbeit? Ist Diebstahl Arbeit?35 Braucht Arbeit Sittlichkeit oder Vernunft? Einen Bezug zum Gemeinwohl oder zur Volkswirtschaft? Wenn man festlegen will, was Arbeit war, dann ist diese jeder sozialen Tatsache inhärente Unschärfe, Vielfalt, Diffamierbarkeit36 und Strittigkeit37 ein Störfaktor 31 Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit. 3. Aufl. Stuttgart 1883. S. 4 f. 32 Karl Elster: Was ist „Arbeit“? In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 112, 1919 (3. Folge, Bd. 57). S. 609–627, hier: S. 609. 33 Bernhard Harms: Arbeit. In: Ludwig Elster/Adolf Weber/Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Bd. 1. Jena 1923. S. 368–387, hier: S. 368. 34 Ebd. S. 369. 35 Elster: Was ist Arbeit (wie Anm. 32). S. 613. 36 Thomas: Introduction (wie Anm, 25). S. xvi. 37 Jürgen Kocka (Hg.): Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective. New York/Oxford 2010. S. 1; Sandra Wallmann:
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und Hindernis. Eine Definition zu finden, die eindeutig und präzise ist – also quasi einen ‚Schulbegriff ‘ –, gilt vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen als erstrebenswert. Man definiert dabei gegen einen vieldeutigen Alltagsbegriff. Nicht definieren zu wollen löst im Fachpublikum oft Irritation aus. Eine objektive Definition zu finden heißt jedoch nicht, die Perspektivität zu eliminieren, sondern sich bewusst oder unbewusst für ein(ig)e der möglichen Perspektiven zu entscheiden, andere hingegen zu verwerfen. Will man etwa Arbeit – jenseits der Vorstellungen, Meinungen und Ideologien – einfach nur objektiv zählen oder messen, dann nimmt man Arbeit meist nur durch den Blick staatlicher Bürokratie wahr. Das ist zweifellos eine sehr wichtige Perspektive, aber nicht die einzige und nicht per se immer die wichtigste. Wenn man den Vorstellungen also nicht entkommt, wie kann man dann mit ihrer Diversität umgehen? In welchem Verhältnis zueinander stehen diese verschiedenen Perspektiven und Meinungen?38 Auch in der Beschäftigung mit den historisch variablen Vorstellungen und Bewertungen von Arbeit ist die jeweils synchron gegebene Vielfalt nicht unbedingt willkommen. Oft wird versucht, das Typische zu finden und das Untypische zu verwerfen. Meist geht es eher darum, was als Arbeit galt, und weniger wie und wogegen diese Vorstellung durchgesetzt worden war und wurde. Es wird oft – ohne empirische Überprüfung – ein Konsens, eine allgemeine Gültigkeit angenommen. Aber welche Wirksamkeit und Reichweite hatten eigentlich die Texte, welche die Quellengrundlage der Meistererzählung über die Entwicklung des Begriffs Arbeit bilden? Geht die Wirksamkeit gelehrter Texte über ein gelehrtes Publikum hinaus? Bringen philosophische, theologische, wissenschaftliche Texte oder bildliche Darstellungen ein allgemeines Verständnis der Arbeit zum Ausdruck? Manifestieren kollektive Repräsentationen von Arbeit (z. B. Manifeste, Ordnungen, Lieder) die Vorstellungen aller, die in der Landwirtschaft, im Handwerk, in der Industrie etc. auf verschiedene Art und Weise arbeiten oder ein Auskommen finden, gleichermaßen? Wie kommen solche Repräsentationen zu Stande? Was ist ihr Kontext, ihre Logik, ihre Perspektivität? In welchem Verhältnis stehen solche Deklarationen und politischen Auseinandersetzungen zum Arbeiten, was sagt das Lob der Arbeit (oder die Utopie des arbeitsfreien Lebens) über den individuellen Fleiß aus? In welchem Verhältnis steht z. B. die Introduction. In: Dies. (Hg.): Social Anthropology of Work. London 1979. S. 1–23. 38 Vgl. dazu auch Alexander Mejstrik/Therese Garstenauer/Peter Melichar/Alexander Prenninger/Christa Putz/Sigrid Wadauer: Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit. Vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völkischen Schaffen 1938–1940. Wien/München 2004; Alexander Mejstrik: Felder und Korrespondenzanalysen. Erfahrungen mit einer „Wahlverwandtschaft“. In: Stefan Bernhard/Christian Schmidt-Wellenburg (Hg.): Feldanalyse als Forschungsprogramm. Bd. 1. Der programmatische Kern. Wiesbaden 2012. S. 151–189.
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autobiographische Selbstdarstellung der Protagonisten der Arbeiterbewegung39 zur Selbstsicht und zu den Praktiken der (ja auch nicht einheitlichen) Arbeiter? Abgesehen von all diesen und ähnlichen Fragen: Läuft man mit einer solchen Quellengrundlage nicht auch Gefahr, Vorstellungen von Lebensunterhalten zu einer rein geistigen Sache zu machen? Zu vernachlässigen, dass sich Vorstellungen vor allem praktisch darin manifestieren, wie man sich einen Lebensunterhalt organisiert, wie man arbeitet oder auch nicht? Arbeiten ist schließlich nicht nur, nicht einmal vor allem eine Sache des Darüber-Sprechens.
5 Die Erzeugung von Arbeit Dies sind Fragen, die sich nur empirisch beantworten lassen, indem man statt der Arbeit die Auseinandersetzungen um Arbeit zum Gegenstand macht, indem man die jeweils gegebene synchrone Vielfalt, die Unterschiede und Hierarchien von Lebensunterhalten (wovon Arbeit nur eine Möglichkeit ist) systematisch vergleicht. Freilich, Arbeit ist nicht beliebig, nicht jede Praktik ist gleichermaßen und in gleicher Weise als Arbeit wirksam. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Lebensunterhaltspraktiken der Zwischenkriegszeit erläutert werden. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhundert wurde Arbeit immer mehr zur Sache staatlicher Politik. Es entstand eine moderne staatliche Sozialpolitik, die nicht einfach in Arbeitsverhältnisse intervenierte und Arbeit in neuer Art und Weise regulierte und verwaltete, sondern die vielmehr neue soziale Tatsachen mit hervorbrachte: Arbeit (in einem neuen Sinn), Arbeitslosigkeit, nationale Arbeitsmärkte.40 Arbeit wurde nun immer mehr als berufliche Erwerbstätigkeit normalisiert, als Lohnarbeit, die Eignung und Neigung, ausreichend Einkommen, Stabilität, Dauerhaftigkeit, Status und eine Karriere verlangte und versprach. Mit dieser Arbeit waren bestimmte Rechte (etwa 39 Zum Arbeitsbegriff der Arbeiterbewegung vgl. z. B. Thomas Welskopp: The Vision(s) of Work in the Nineteenth-Century German Labour Movement. In: Kocka (Hg.): Work in a Modern Society (wie Anm. 37). S. 55–71; Jürgen Schmidt: Feierabend statt Ruhestand? Über die Bedeutung des Ruhestandes in der Arbeiterschaft und in der Arbeiterbewegung in Deutschland um 1900. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22/2011. S. 55–80; vgl. auch den Beitrag von Thomas Welskopp in diesem Band. 40 Vgl. dazu Sigrid Wadauer/Thomas Buchner/Alexander Mejstrik (Hg.): The Making of Public Labour Intermediation. Job Search, Job Placement, and the State in Europe, 1880–1940. In: International Review of Social History, S57/2012. S. 161–189; dies.: (Hg.): History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. Oxford/New York 2015; vgl. auch den Beitrag von Bénédicte Zimmermann in diesem Band.
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Versicherungsleistungen) und Verbindlichkeiten (Arbeitswilligkeit) verknüpft, sie wurde von neuen Formen legitimer Nicht-Arbeit komplementiert (Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Freizeit, Kindheit, Alter). Diese Arbeit wurde ein wichtiger sozialer Tatbestand, an dessen Erzeugung nicht unwesentlich auch die Wissenschaften beteiligt waren, die in ihrem Bemühen, Arbeit zu erfassen, zu beschreiben und zu verändern, diese zugleich als abstrakte Kategorie und als konkrete Situation mit hervorbrachten41 und sich dabei zugleich mit mehr oder weniger Erfolg als Arbeitswissenschaften konstituierten. Mit der Durchsetzung dieser neuen Arbeit wurden zugleich alle anderen Arten, einen Lebensunterhalt zu sichern, umdefiniert, umgewertet und verändert. Erst in diesem Zusammenhang erscheinen sie traditionell, dominiert, als nicht richtige Arbeit oder auch Nicht-Arbeit. Um die neue Arbeit kam man nicht umhin, sie wurde eine dominante Referenz, auf die sich unvermeidlich alle Arten, einen Lebensunterhalt zu organisieren, bezogen, wenn auch auf unterschiedliche Weise: im Konsens oder Konflikt, in Affirmation oder Verweigerung. Dass solche Arbeit durchgesetzt und normalisiert wurde, hieß dementsprechend nicht, dass sich Arbeit auf diesen offiziellsten staatlichen Sinn reduzieren ließ, dass der Gebrauch von Arbeit uniform und einheitlich war und in einer Verwaltungs- oder gelehrten Logik aufging. Im Gegenteil. Zur Arbeit gehören grundsätzlich immer auch die Tätigkeiten derer, die auf verschiedene Art und Weise arbeiteten, ihren Lebensunterhalt sicherten oder auch nicht arbeiteten. Arbeit (und darin eingeschlossen auch ihre Repräsentation) folgt einer praktischen Logik, in vielen Texten findet man dementsprechend das Wort ‚Arbeit‘ in verschiedener, auch in scheinbar widersprüchlicher Verwendung: Nun war Vater wieder für uns da, aber leider bekam er keine Arbeit mehr. Er half auch Mutter beim Wäscheschwemmen, arbeitete viel im Garten, sodaß wir immer reichlich mit Gemüse versorgt waren. Sehr viel Zeit verbrachte er mit politischer Arbeit.42
41 Vgl. Thomas Buchner: Organising the Market? Labour Offices and Labour Markets in Germany, 1890–1933. In: Wadauer/Buchner/Mejstrik: History of Labour Intermediation (wie Anm. 40). S. 23–52; ders: Arbeitsämter und Arbeitsmarkt in Deutschland, 1890–1935. In: Annemarie Steidl u. a. (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion. Wien/Köln/ Weimar 2008. S. 133–158. 42 Elisabeth Hahn. In: Peter Gutschner (Hg.): „Ja was wissen denn die Großen …“ Arbeiterkindheit in Stadt und Land. Wien/Köln/Weimar 1998. S. 132–145, hier: S. 142.
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Oder: Lachend und scherzend, die schweren Arbeitsstunden vergessend, geht’s nach Hause. […] Ich gehe hinaus auf ’s Feld und mache dort ein wenig Landarbeit, das ist für mich der schönste Feierabend, denn da bin ich dabei aufgewachsen.43
Auch wenn diese Gebrauchsweisen des Wortes ‚Arbeit‘ nicht logisch kohärent scheinen, sie ergeben Sinn und werden verstanden. Es wäre verfehlt, der Praktik (also auch der Praktik des Sprechens und Schreibens) mehr Logik und Schlüssigkeit abzuverlangen.44 Es lässt sich eine Ökonomie der Logik feststellen, so Pierre Bourdieu, wenn man beobachtet, „daß nicht mehr Logik aufgewendet wird als für die Bedürfnisse der Praxis erforderlich“45 ist. Mit anderen Worten: „Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre.“46 Sprachliches Handeln folgt keinen Regeln, ist dabei jedoch nicht beliebig oder willkürlich. Die Tätigkeit eines Bettlers etwa kann nach den Kriterien der beruflichen Erwerbsarbeit beschrieben werden. Er ist mit Fachkenntnissen, einem fixen Arbeitsplatz, geregelten Arbeitszeiten und einem regelmäßigen Einkommen und einer Berufsvertretung ausgestattet. So kann er von sich behaupten: „Warum ich nicht arbeite? Aber was wollen Sie denn? Ich arbeite doch!“47 Erst der Bezug auf ein gemeinsames Verständnis macht (prinzipiell) auch Ironie, Zynismus, Prätention oder provokante Verkehrung möglich. Nicht alles lässt sich behaupten, zumindest nicht ohne Konsequenzen. Es gilt nicht bloß in diesem Beispiel, sondern generell: Arbeit ist immer auch diffamier- und anzweifelbar. Arbeit bleibt trotz und genau wegen aller Normalisierungen immer auch vage und unscharf abgegrenzt, umso mehr als diese Normalisierung nicht alle Lebensunterhaltspraktiken determiniert. Nimmt man die Worte und die spezifischen Ausdrucksweisen ernst, sieht man davon ab, einen ‚eigentlichen‘ Sinn einzelner Praktiken zu suchen und zu unterstellen, so ist nicht leicht feststellbar, wo Arbeit anfängt, wo sie aufhört. Praktiken können als Arbeit oder als Nicht-Arbeit getan werden, je nach Zusammenhang, je nach Perspektive. 43 N. N.: Die Uhr rückt vor. In: Mein Arbeitstag – mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen. Gesammelt und herausgegeben vom deutschen Textilarbeiterverband. Hauptvorstand. Arbeiterinnensekretariat. Berlin o. J. [1930]. S. 11 f., hier: S. 11. 44 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der Theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1993. S. 157. 45 Bourdieu: Sozialer Sinn (wie Anm. 44). S. 158. 46 Pierre Bourdieu: Die Kodifizierung. In: Ders.: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. 1992. S. 99–110, hier: S. 103. 47 Die Bettler Wiens. In: Neue Freie Presse, 10.11.1933, Nr. 24844. S. 5.
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Der Einsatz des Wortes ‚Arbeit‘ – wie seiner Synonyme oder Gegenbegriffe – ist kontextgebunden und kann nur in dieser Bindung verstanden werden.
6 Kinderarbeit? Besonders deutlich wird dies etwa bei dem Beitrag, den Kinder zum Lebensunterhalt ihrer Familien leisteten.48 Manche lebensgeschichtliche Erzählungen sprechen vom „Helfen“, „Mithelfen“,49 „Aushelfen“ müssen oder dürfen,50 vom „sich nützlich machen“.51 Es geht in vielen Texten um das Organisieren von Essbarem,52 das „Verdienen“ von ein paar Groschen, oder um das „Mitverdienen“.53 Oft werden konkrete Tätigkeiten angeführt, ein Autor führt beispielsweise seine ‚Berufstätigkeiten‘ an: „Wir waren ‚Ballschani‘ auf den Tennisplätzen, Brotschani, Zigarettenverkäufer, Tellerwäscher und Fensterputzer im Hotel Schneller (jetzt Hotel Wien), Botengänger für Geschäftsleute, Schneeschaufler, kurz: wir taten alles, um leben zu können!“54 Viele Berichte erwähnen das Sammeln – von Holz etwa, von Pilzen, Kräutern, Früchten, Beeren für den Eigenbedarf oder Verkauf.55 Oft wird berichtet, dass die Autoren und Autorinnen im Sommer bei der Ernte halfen oder Vieh hüteten – zu Hause oder an fremden Höfen.56 Manche beschreiben Tätigkeiten, die man heute für Brauchtum hält, etwa das Adventsingen, als mögliche Einkunftsquelle. Sie schildern das Sammeln von Lebensmitteln
48 Von einer eindeutigen Zäsur und eindeutigen Unterscheidungen geht hingegen Jane Humphries aus. Jane Humphries: Childhood and Child Labour in the British Industrial Revolution. Cambridge 2010. S. 173. 49 Hans Hülber. In: Gutschner (Hg.): „Ja was wissen denn die Großen …“ (wie Anm. 42). S. 51–63, hier: S. 55. 50 Anton Krautschneider: Lebenslauf. Typoskript, 1983. Dokumentation Lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien (im Folgenden: DOKU). S. 4. 51 Josef Winkler: Ohne Titel. Handschrift, 1996. DOKU. S. 4. 52 Helmut Frömel in: Gutschner (Hg.): „Ja was wissen denn die Großen …“ (wie Anm. 42). S. 146–158, hier: S. 155; Hans Hülber. In: ebd. S. 51–63, hier: S. 55 f. 53 Franz Engelmann: Ohne Titel. Manuskript, 1997. DOKU. S. 8. 54 Engelmann: Ohne Titel (wie Anm. 53). S. 7. 55 Alois Stöckl: Wanderschaft 1930–1933. Typoskript (Abschrift) 1988–1990. DOKU. S. 3; Krautschneider: Lebenslauf (wie Anm. 50). S. 4; Ambros Neussl: So war mein Leben. Typoskript, 1997. DOKU. S. 2; Winkler: Ohne Titel (wie Anm. 51). S. 4; Gisela Dihsmaier: Ohne Titel. Handschrift, 1984–1995. DOKU. S. 6. 56 Rudolf Kikel. In: Gutschner (Hg.): „Ja was wissen denn die Großen …“ (wie Anm. 42). S. 120–131, hier: S. 124.
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an kirchlichen Feiertagen oder sprechen auch davon, dass sie betteln gingen.57 All das kann, muss jedoch nicht Arbeit genannt werden.58 Das Wort ‚Arbeit‘ – so scheint es – wird in diesem Zusammenhang verwendet, um die Härten der Kindheit hervorzuheben und anzuklagen, so die Erzählung eines Pflegekindes: „Ich musste statt der Schule fest arbeiten. Meine Mutter kam jedes Jahr zu Weihnachten. Einmal brachte sie mir eine Puppe mit ins Bett. Doch kaum war Mutter fort, war auch mein Spielzeug weg. Als ich weinte, sagte die Bäuerin: ‚Du bist zur Arbeit hier, nicht zum Spielen!‘“59 Es wird eine Kontrast-Vergangenheit dargestellt, oft auch, weil diese einfach erwartet und nachgefragt wurde: [Interviewer:] Sind Sie während Ihrer Schulzeit schon arbeiten gegangen? [Interviewter:] Nein, direkt nicht. Ich habe Zeitungen ausgetragen, Mist ausgefahren bei den anderen Leuten. Zum Beispiel bei einem Konditor in der Schmiedstraße; ich habe immer süße Sachen bekommen und ich hätte zu Hause teilen müssen; ich habe immer gleich alles zusammengegessen, damit ich nicht teilen muß, und dann ist mir immer schlecht gewesen. Wir waren ja 5 Kinder und ich hätte meinen Geschwistern auch etwas geben sollen; weil ich so gierig war, ist mir schlecht gewesen.60
Weil die Arbeit nachgefragt wird, wird sie dann auch in der Antwort präsentiert, und sei es, wie hier, nur in Verneinung. Die Erzeugung von ‚Arbeit‘ in lebensgeschichtlichen Erzählungen reagiert immer auch auf bestimmte Nachfragen – seien es nun Interviewer, Familie, Schreibaufrufe oder auch politische Konstellationen, sie findet immer in einer bestimmten Situation und in Hinblick auf diese Situation, das anvisierte Publikum sowie eine angestrebte Zukunft statt. Um solche oft unausgesprochenen oder 57 Z. B. Hermann Hollweger. In: Gutschner (Hg.): „Ja was wissen denn die Großen …“ (wie Anm. 42). S. 195–210, hier: S. 203 f. u. S. 206; Franz Gierer: Meine Lebenserinnerungen. Hg. von Christa Gierer/Susanna Annerl-Gierer, Pöchlarn 1995. S. 14; vgl. dazu auch Maria Papathanassiou: Zwischen Arbeit, Spiel und Schule. Die ökonomische Funktion der Kinder ärmerer Schichten in Österreich 1880–1939. Wien/München 1999. 58 Manchmal wird Arbeit oder Berufstätigkeit auch unter Anführungszeichen gesetzt. Engelmann: Ohne Titel (wie Anm. 53). S. 7 f.; von Mithilfe als freiwilligem „Zeitvertreib“ spricht hingegen Neussl: So war mein Leben (wie Anm. 55). S. 1. 59 Johanna Kalisch. In: „Als lediges Kind geboren …“ Autobiographische Erzählungen 1865–1945. Wien/Köln/Weimar 2008. S. 159–188, hier: S. 162. 60 Gespräch mit Herrn NN, geb. am 28. August 1920 in Eferding. Interview geführt von Edwin Grinninger und Johann Mayer. Institut für Wissenschaft und Kunst, Archiv soziale Bewegungen in Oberösterreich. Vgl. auch Edwin Grinninger/Johann Mayr: Geschichte, Geschichten und Bilder. Ein politisches Lesebuch über die Entwicklung der Sozialdemokratie im Bezirk Eferding. Linz 1989.
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auch negierten Zusammenhänge und Bezüge, um spezifische Redeweisen überhaupt erkennen zu können, ist es notwendig, sie mit anderen und auch mit zeitgenössischen Redeweisen zu vergleichen.
7 Berufe, Nicht-Berufe und Unberufe Unschärfen, Mehrdeutigkeiten und Strittigkeiten beschränkten sich nicht auf die Lebensunterhaltsaktivitäten von Kindern. Auch das Ende der Schulzeit oder das Verlassen des elterlichen Haushaltes markierte nicht immer eindeutig den Beginn von Arbeit, des Arbeitslebens. Gerade die Arten, in denen Frauen ihr Leben organisierten, waren oft wenig stabil, dauerhaft und formalisiert. Die österreichische Volkszählung 1934 nennt nach dem der Landwirtin „niedriges Hauspersonal“ als den häufigsten Beruf von Frauen.61 Im Dienst zu sein war meist keine längerfristige Position, zum häufigen Wechsel der Stellen kamen Rückkehr und Aushelfen im Haushalt der Herkunftsfamilie sowie andere Versuche, Erwerb und Unterhalt zu sichern. Worum handelte es sich bei den Tätigkeiten im fremden Haushalt? Dies war Gegenstand politischer Auseinandersetzungen: Während der „Reichsverband der christlichen Hausgehilfinnen“ darin einen „Liebesdienst“ sah und die Dienstboten als beschützten Teil des Haushalts betrachtete,62 wollte die sozialdemokratische Gewerkschaft „Einigkeit“ diese Tätigkeit als Lohnarbeit anerkannt wissen.63 In vielen lebensgeschichtlichen Erzählungen geht es teils um Arbeit, teils um Posten, teils um Dienst; viel deutlicher hingegen wird der Gegensatz zu einer beruflichen Ausbildung, 61 Vgl. die Tabelle „Die Berufsträger nach dem Beruf, der Stellung im Beruf und nach dem Geschlecht“. In: Bundesamt für Statistik (Hg.): Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearbeitet vom Bundesamt für Statistik, Bundesstaat. Heft 1. Wien 1935. S. 165–168. 62 In dieser Perspektive erschien die „berufliche außerhäusliche Arbeit“ der Frau als eine Gefahr für Körper und Moral. Vgl. etwa M. Schiwald: Frauenarbeit im Wandel der Zeiten. In: Die Hausgehilfin, 12, 1930, Folge 8–9. S. 8–10. 63 Jessica Richter: A Vocation in the Family Household? Household Integration, Professionalization and Changes of Employment in Domestic Service (Austria, 1918– 1938). In: Wadauer/Buchner/Mejstrik (Hg.): History of Labour Intermediation (wie Anm. 40). S. 236–285; dies.: Von der Arbeit im (fremden) Haushalt. Lebensverläufe von Dienstbot/innen im Vergleich (Österreich, 1918–1938). In: Thomas Hübel/ Therese Garstenauer/Klara Löffler (Hg.): Arbeit im Lebenslauf . Verhandlungen von (erwerbs-)biographischer Normalität. Bielefeld 2016. S. 15–52; dies.: Den Dienst als offizielles Erwerbsverhältnis (re-)konstruieren. Hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche DienstbotInnen in Österreich (1918–1938). In: Franziska Schößler/Nicole Colin (Hg.): Das nennen Sie Arbeit? Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse. Heidelberg 2013. S. 189–213.
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zu einem Beruf mit der Möglichkeit, sich zu verbessern, dargestellt.64 Eine Lehre zu beginnen, war für viele junge Frauen unerreichbar, nur eine kleine Zahl an Lehrberufen war Frauen zugänglich.65 Gerade Arbeiterinnen, wie Käthe Leichter schrieb, waren „wohl ständig im Berufe, doch in keinem Berufe zuhause“.66 Nicht jeder Erwerb, nicht jede Beschäftigung war ein Beruf,67 doch sollte ab ca. 1900 alle Arbeit, selbst der Dienst, zum Beruf gemacht werden.68 Keinen Beruf zu haben, konnte vor allem für Jugendliche, für Männer mehr, für Frauen weniger,69 zur „Berufsnot“ werden. In diesem Sinne wurden Ausbildungen formalisiert und eine Berufsberatung etabliert, die ein Verständnis des Berufs und der Berufe sowie Eignung und Neigung für einen bestimmten Beruf feststellen sollte.70 Der Kolpingverein schreibt mit Hinblick auf den Ständestaat:71 „Wir verweisen aber eindringlich darauf 64 Allerdings schloss auch keinen Beruf zu haben die auf entsprechende Nachfrage gegebene Antwort „Mein Beruf ist Dienstmädchen“ nicht aus. Vgl. Mareike Witkowski: Eine Arbeit ohne Ansehen oder der ideale Frauenberuf ? Hausgehilfinnen in Deutschland von 1918 bis in die 1960er Jahre. In: Alexander Mejstrik/Thomas Buchner/Sigrid Wadauer (Hg.): Die Berufe – Der Beruf. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24, 1. 2013. S. 59–79. 65 Käthe Leichter: Die Entwicklung der Frauenarbeit nach dem Krieg. In: Handbuch der Frauenarbeit in Österreich. Herausgegeben von der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien. Wien 1930. S. 28–42, hier: S. 39. 66 Ebd. S. 38. 67 Werner Sombart: Beruf. In: Handwörterbuch der Soziologie, hg. von Alfred Vierkandt. Unveränderter Nachdruck Stuttgart 1959. S. 25–31; Fritz Karl Mann: Zur Soziologie des Berufs. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 138, 3. Folge, 1933. S. 481–500, hier: S. 482. Bereits in Hinblick auf die Volkszählung 1890 wurde festgehalten: „Aber nicht die Ausübung einer jeglichen Berufs- oder Erwerbsthätigkeit kann schon als Beruf im eigentlichen Sinne angesehen werden. Es ist dazu erforderlich, dass diese Thätigkeit die ganze Persönlichkeit erfasse, ihre gesellschaftliche Function, aber auch ihre Lebensstellung bestimme.“ Österreichische Statistik XXXIII. 1. Heft. S. I; vgl. zu dieser Frage auch Thomas Kurtz (Hg.): Aspekte des Berufs in der Moderne. Opladen 2001; Werner Conze: Art. Beruf. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von: Brunner/Conze/Koselleck: Bd. 1 (wie Anm. 12). S. 490–507. 68 Die Berufsausbildung in der Hauswirtschaft. In: Die Hausgehilfin, 12, 1930, Folge 10. S. 4 f. 69 Leichter: Entwicklung (wie Anm. 65). S. 39. 70 Raimund Fürlinger: Beruf, Berufswahl, Berufsberatung, Berufsfürsorge. Eine orientierende Schrift für Eltern, Erzieher, Lehrer und für die Jugend selbst. O. O. O. J. [Wien 1926]; Robert Kauer: Berufsberatung und Fürsorge. In: Sondernummer: Zeitschrift für Kinderschutz, Familien und Berufsfürsorge. Herausgegeben von der Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Wien, XVI, 6, 1924. S. 132–135. 71 Vgl. Johannes Messner: Die berufsständische Ordnung. Innsbruck/Wien/München 1936. S. 9.
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hin, daß besonders die Jugend nicht nur Arbeit schlechthin braucht, sondern Beruf. Denn ohne feste Verankerung des Menschen im Berufsleben werden wir niemals Berufsstände aufbauen können. Darum nicht nur Arbeitsbeschaffung, sondern auch Berufsbeschaffung!“72 Allerdings war eine dauerhafte Beschäftigung in einem Beruf, auch über die Ausbildung hinaus, nicht zuletzt wegen der Wirtschaftskrise für viele nicht erreichbar. Berufliche Erwerbsarbeit zeichnete sich im Gegensatz zu anderen Arten des Lebensunterhaltes gerade durch die Möglichkeit zur Arbeitslosigkeit aus. Die Hierarchien der Arbeit waren untrennbar mit den Hierarchien der NichtArbeit verbunden. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde nicht nur Arbeit neu erzeugt, es wurde auch Arbeitslosigkeit ‚erfunden‘ oder ‚entdeckt‘,73 es entstand – zunächst in Abgrenzung zum Nicht-Arbeiten aus Arbeitsscheu und zur Vagabundage – ein Verständnis marktbedingter und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit.74 Diese sollte durch die Etablierung öffentlicher Arbeitsvermittlung, in Cisleithanien auch durch eine Organisierung und Unterstützung des Wanderns Arbeitswilliger von öffentlicher Seite, bekämpft werden, also durch eine Formalisierung des Status der Arbeitssuche, eine Formalisierung, die von bestimmten Berufen absah und unabhängig von der Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Arbeitervereinen war.75 Zugleich aber waren es gerade Handwerker und Facharbeiter, denen diese ersten staatlichen Maßnahmen zugute kamen und die als arbeitslos wahrgenommen werden konnten.76 Wer einen Beruf hatte, konnte und sollte Arbeit in seinem/ihrem Beruf suchen und (zumindest für eine bestimmte Dauer an Zeit) nicht jede beliebige Arbeit annehmen müssen. Arbeitslosigkeit ermöglichte also den Beruf und umgekehrt. Landwirtschaft72 Die Arbeitsschlacht. In: Österreichisches Kolpingblatt. Zeitschrift für junge Werkleute, 3, 5, 1935. S. 54 f., hier: S. 55. 73 Christian Topalov: The Invention of Unemployment. Language, Classification and Social Reform 1880–1910. In: Bruno Palier (Hg.): Comparing Social Welfare Systems in Europe. Vol. 1. Oxford Conference, France – United Kingdom. O. O. 1994. S. 493–507; Paul T. Ringenbach: Tramps and Reformers 1873–1916. The Discovery of Unemployment in New York. Westport, CT/London 1973; Bénédicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie. Frankfurt a. M./New York 2006; John Burnett: Idle Hands. The Experience of Unemployment, 1790–1990. London/New York 1994. S. 3; John A. Garraty: Unemployment in History. Economic Thought and Public Policy. New York 1978. S. 4; vgl. auch den Beitrag von Bénédicte Zimmermann in diesem Band. 74 Sigrid Wadauer: Establishing Distinctions: Unemployment Versus Vagrancy in Austria from the Late Nineteenth Century to 1938. In: International Review of Social History 56, 2011. S. 31–70. 75 Sigrid Wadauer: Tramping in Search of Work. Practices of Wayfarers and of Authorities (Austria 1880–1938). In: Wadauer/Buchner/Mejstrik (Hg.): History of Labour Intermediation (wie Anm. 40). S. 286–334. 76 Vgl. dazu auch Zimmermann: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 73).
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liche Arbeit, Hilfsarbeit und Dienst hingegen schlossen Arbeitslosigkeit weitgehend aus, weil jede Arbeit angenommen werden konnte, sollte und mangels entsprechender Unterstützung auch werden musste. Eindeutiger normalisiert wurde Arbeitslosigkeit mit der Einführung von Arbeitslosenunterstützung 1918 und Arbeitslosenversicherung 1920, wobei Dienstboten und Dienstbotinnen, Landarbeiter und Landarbeiterinnen oder Arbeiter und Arbeiterinnen in überwiegend ländlichen Gebieten zunächst auch davon ausgeschlossen waren.77 Mit der normalisierten Arbeitslosigkeit entstanden zugleich auch weitere neue Unterschiede und Hierarchien. Wer arbeitslos war, der konnte ‚richtige‘ Arbeit im Beruf von Gelegenheitsarbeit, Pfusch oder Schwarzarbeit unterscheiden.78 Dank Arbeitslosenversicherung und Arbeitsamt hatte man einen eindeutigen Status inne, zumindest für die Dauer der Anspruchsberechtigung. Der Arbeitslose (und zu einem weit geringeren Ausmaß: die Arbeitslose) konnte Arbeitslosigkeit als kollektives Schicksal, als Effekt der Wirtschaftskrise begreifen: „Ich war arbeitslos und damit eingereiht in die große Schlange vor dem Arbeitsamt in der Thalia Straße.“79 Auch in diesem Zusammenhang findet man keine einfache Dichotomie, keinen simplen Gegensatz von Arbeit und Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr ein Variationsspektrum von Arbeit und Lebensunterhalten, von Arbeitslosigkeit, offiziell anerkannter Arbeitssuche (z. B. im Wandern) über zahlreiche ambivalente Aktivitäten des Stellenwechsels, 77 Vgl. Dieter Stiefel: Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938. Berlin 1979; Karl Pribram: Die Sozialpolitik im neuen Oesterreich. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 48, 1920/1921. S. 615–680. 78 Vgl. Irina Vana: The Usage of Public Labour Offices by Job Seekers in Interwar Austria. In: Wadauer/Buchner/Mejstrik (Hg.): History of Labour Intermediation (wie Anm. 40). S. 194–235. 79 Engelmann: Ohne Titel (wie Anm. 53). S. 40; Franz Schick: Gestohlene Jugend. Die Tagebücher und Aufzeichnungen des Franz Schick. 1930 bis 1933, hg. von Karl Stocker. Graz 1991. S. 12. S. 36 f.; ein anderer Autor grenzt sich gerade davon ab: „Ich könnte ja auch wenn ich wollte, mich beim Arbeitsamt melden, so wäre ich in der Reihe der Arbeitslosen. Zu leben hätte ich ja, habe weder Frau noch Familie, nur für mich allein zu sorgen, der Vater Staat gibt mir das Geld dazu. Bei meinen bescheidenen Ansprüchen, Nichtraucher, Wirtshaus nur wenn es wirklich lustig war oder getanzt wurde, kein Kartenspiel, eigentlich für mich ein recht gemütliches Dasein, kann aufstehen wann ich will, fortgehen wann ich will, kein Termin. Ich könnte ja wieder einmal heimfahren, meine Eltern hätten sich sicher gefreut. Es war aber erst Juni, die nächste Aussicht auf Arbeit war, außer in Saisonorten, für den Herbst. […] Ein süßes Nichtstun, dafür war in meinen Vorstellungen kein Platz und dazu in meinem Alter. Also stand wieder der Entschluss fest eine Wanderzeit einzulegen.“ Winkler: Ohne Titel (wie Anm. 51). S. 47; vgl. dazu auch Irina Vana: Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung. Österreich 1889–1938. Wien, Diss.phil., 2013.
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des Zu-Hause-Aushelfens, der Gelegenheitsarbeit und irgendwie Sein-AuskommenFinden bis hin zur strafbaren Nicht-Arbeit und dem Vagabundieren. Nicht zufällig fehlt in den Strafakten jener, die wegen Bettelei oder Vagabundentum angeklagt waren, meist der Vermerk ‚stellenlos‘ oder ‚arbeitslos‘, nicht bloß weil es sich ohnehin von selbst verstand, dass die Beschuldigten ohne Arbeit waren, sondern auch weil ihr Status eben gerade auf dem Spiel stand. Strafbar war laut § 1 des Vagabundengesetzes, „[w]er geschäfts- und arbeitslos umherzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitzt oder redlich zu erwerben suche“.80 Hatte man keine Arbeit, bezog man keine Arbeitslosenunterstützung (mehr) und bewegte man sich auch nicht (mehr) in den anerkannten Zusammenhängen des institutionalisierten Wanderns um der Arbeitssuche willen, so ging es wesentlich um die Interpretation der Absichten. Das Kriterium für Vagabundage war, so die Kommentare zur Gesetzgebung, „Arbeitsscheu bei vorhandener Arbeitsfähigkeit und Subsistenzlosigkeit verbunden mit dem Hang zum Herumziehen“.81 Auf diese wurde aus Indizien geschlossen, wenn der/die Beschuldigte keinen Arbeitsnachweis erbringen konnte, wenn die letzte Arbeit zu lange zurücklag, wenn man freiwillig Arbeit aufgegeben, verweigert, vermieden oder wenn man zu selten, zu kurz gearbeitet hatte. Arbeit war also nicht bloß eine bestimmte Tätigkeit, sondern verlangte auch Dauer und Regelmäßigkeit. Auch hier sind Arbeit, die Verpflichtung dazu respektive der sittliche Defekt des Nicht-Arbeitens nicht unabhängig von Alter, Geschlecht und Nationalität. Es wurden vor allem junge, ledige Männer angeklagt und verurteilt. Die eindeutigsten Fälle betrafen Fremde, die auf Grund fehlender Arbeitsbewilligung gar nicht die Möglichkeit hatten, legal zu arbeiten.82 Allerdings ging es weder der Exekutive noch denen ohne Unterhalt per se nur um Arbeit. Die Mittel, seinen Unterhalt zu fristen, konnten nicht bloß aus Arbeit resultieren, ein „redlicher Erwerb“ konnte auch in Armenhilfe, Renten, Geschenken oder dem Viatikum bestehen. Redlich waren auch Erwerbe (oder Geschäfte), die illegal ausgeübt wurden, für die es aber prinzipiell auch amtliche Bewilligungen gab, 80 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden. Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, 1885/89. 81 August Finger: Landstreicherei und Bettel. In: Ernst Mischler/Josef Ulbricht (Hg.): Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes. Bd. 3. Wien 1907. S. 434–441, hier: S. 437; Landstreichergesetz. In: Ludwig Altmann/Siegfried Jacom u. a. (Hg.): Kommentar zum Österreichischen Strafrecht. Bd. 2. Wien 1930. S. 1698–1717. 82 Vgl. dazu Sigrid Wadauer: The Usual Suspects. Begging and Law Enforcement in Interwar Austria. In: Beate Althammer/Andreas Gestrich/Jens Gründler (Hg.): The Welfare State and the ‘Deviant’ Poor in Europe 1870–1933. S. 126–149.
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die also als Gewerbe verwaltet wurden, so etwa das in diesem Zusammenhang häufig genannte Hausieren, andere Wandergewerbe oder auch das Bettelmusizieren.83 Auch wenn diese Tätigkeiten oft weniger als Improvisation denn als Simulation von Arbeit betrachtet wurden, so stellten diese doch im streng rechtlichen Sinne einen Tausch einer Leistung oder Ware gegen Geld dar, wie zweifelhaft auch immer diese Leistung oder Ware schien.84 Selbst der illegale Charakter von Betteln – auch ein Erwerb oder Verdienst85 – verstand sich nicht von selbst und verlangte genauere Erläuterung, stand es doch immer noch im Kontext zahlreicher Arten des erlaubten oder gerade noch akzeptierten Bittens und Nehmens, nicht zuletzt auch weil es noch Bettelbewilligungen der Heimatgemeinden gab. Gerade an solchen Grenzfällen wurden Kriterien der Arbeit expliziert.86 In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie auch die selbständige Arbeit, die in diesem Zusammenhang gerne vergessen wird, durch die Etablierung eines Sozialstaates verändert wurde. Diese Gewerbe, so wurde von ihren Gegnern ins Treffen geführt, seien nicht nur ärmlich und kaum kontrollierbar, sie zahlten auch keine oder kaum Steuer, keine Regien und Sozialabgaben, sie würden sich der Regulierung der Geschäfts- und Arbeitszeiten entziehen, sie vertrieben fremdländische oder industrielle minderwertige und unhygienische Waren, sie übervorteilten die Kundschaft. An diesen Tätigkeiten, die zum Un-Gewerbe und zur „negativen Arbeit“87 erklärt und durch zahlreiche Einschränkungen auch praktisch gemacht wurden, lassen sich also die Kriterien der Hierarchisierung selbständiger Arbeit aufzeigen: der Formalisierungsgrad der Ausbildung und Ausübung, die Art des Bezugs zum Staat, zu Steuern und Staatsausgaben, zu Produktion und Konsum in einer Volkswirtschaft. Andere Gewerbe meldete man an, man erbrachte gegebenenfalls den Nachweis der entsprechenden 83 Entscheidungen des Österr. Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten. Veröffentlicht von seinen Mitgliedern unter Mitwirkung der Generalprokuratur. XVIII. Band. Wien 1938. S. 80 f. Auch ein unerlaubter Erwerb kann ein rechtlicher Erwerb im Sinne des § 1 des Gesetzes vom 24. Mai 1885, RGBl. Nr. 89, sein. Entscheidung vom 21. April 1938, 5 Os 268/38. 84 Oberster Österr. Gerichtshof (Hg.): Entscheidungen des Österr. Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten. Bd. 1. Wien 1925. S. 98 ff.: 42. Sogenannte Bettelmusikanten fallen nicht unter die Bestimmungen des § 2 VagGes. Entscheidung nach § 292 StPO. vom 2. Mai 1921, Os 229/21. 85 Vgl. Hans Wielandner: Lebenslauf, Typoskript 1991, DOKU. S. 34; Oberösterreichisches Landesarchiv, Bezirksgericht Raab, U304/1934, Ludwig E. 86 Sigrid Wadauer: Mobility and Irregularities. Itinerant Sales in Vienna in the 1920s and 1930s. In: Thomas Buchner/Philip Hoffmann (Hg.): Shadow Economies and Irregular Work in Urban Europe. 16th to early 20th Centuries. Münster/Wien/New York 2011. S. 197–216. 87 Landesgerichtsdirektor Rotering zu Beuthen: Die negative Arbeit. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 16, 1896. S. 198–223.
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Ausbildung und Berufspraxis, es bedurfte keiner weiteren Erläuterung, worum es dabei ging. Beim Hausieren und ähnlich umstrittenen Gewerben musste hingegen verhandelt und expliziert werden. Auch wenn die Ausübung der Gewerbe selbst kaum kontrolliert werden konnte: Die Person des Antragstellers/der Antragstellerin wurde einer rigorosen Prüfung unterzogen. Meist blieb ihm/ihr als einziger Bezug auf das Allgemeinwohl nur die in Aussicht stehende Entlastung der Gemeinde, vor allem aber ging es darum, selbst ein Auskommen zu finden, um Brot, Unterhalt, um den Verdienst, ohne den man nicht leben konnte, sowie die Möglichkeit, seine/ihre Familie zu ernähren, um die Unmöglichkeit, einer anderen oder überhaupt einer Arbeit, einem Beruf, einem Erwerb nachzugehen.88
8 Resümee Um Arbeit konsequent zu historisieren, ist es notwendig, sich die Auseinandersetzungen um Arbeit zum Forschungsgegenstand zu machen. Die Veränderungen von Arbeit seit dem späten neunzehnten Jahrhundert lassen sich nicht als simpler Ein- und Ausschluss von Praktiken begreifen. Eher handelt es sich um die Durchsetzung neuer Unterschiede und Hierarchisierungsprinzipien. Auch wenn berufliche Erwerbsarbeit die durchgesetzte Referenz darstellte, um die man nicht umhin kam, selbst wenn man sie verweigerte, so lässt sich Arbeit doch nicht darauf beschränken. Vielmehr findet sich ein Spektrum von Lebensunterhalten, die ihr mehr oder minder entsprachen, die sich positiv affirmativ und zugleich konflikthaft vermeidend auf sie bezogen, die aber wesentlich auch zum neuen Regime von Arbeit (und darin eingeschlossen immer auch die Nicht-Arbeit) gehörten. Gerade an den umstrittenen Grenzfällen von Arbeit werden Kriterien der Arbeit deutlich, gerade hier wird auch das Wünschenswerte expliziert, werden Maßnahmen zu seiner Erzeugung gesetzt. Anhand des skizzierten Spektrums der Praktiken lässt sich eine Hierarchie von sozialen Tatbeständen formulieren, in der Arbeit im hier untersuchten Zeitraum ihre unterschiedlichen, teils auch konträren Bedeutungen und Bewertungen erlangte: Vom ‚Auskommen‘ (der Subsistenz, dem Nicht-zu-Grunde-Gehen) über den ‚Unterhalt‘ (die Mittel zur Lebensführung), den ‚redlichen Erwerb‘ (der einem die Mittel verschaffte, der oft, aber nicht immer Arbeit war und Rente oder Unterstützung sein konnte) hin zum ‚Beruf ‘, der all das und noch mehr einschloss, der nicht nur Unterhalt und 88 Zu den Argumentationsstrategien der Antragsteller und Antragstellerinnen vgl. Sigrid Wadauer: Asking for the Privilege to Work. Applications for a Peddling Licence (Austria in the 1920s and 1930s). In: Elizabeth Hurren/Andreas Gestrich/Steven King (Hg.): Poverty and Sickness in Modern Europe. Narratives of the Sick Poor 1780– 1938. London/New York 2012. S. 225–246.
Arbeit, sondern auch einen positiven Bezug zum großen Ganzen, zur Kultur und zur Volkswirtschaft darstellte und der ganz wesentlich auch die Möglichkeit der legitimen Nicht-Arbeit einschloss.
Thomas Welskopp
Von „Geldsäcken“ und „Couponabschneidern“ Sozialdemokratische Semantiken der Nicht-Arbeit zwischen der Revolution von 1848 und den 1890er Jahren
Dass eine Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert eine sorgfältige Semantik der Arbeit pflegte, mag nicht verwundern. Denn es ging schließlich darum, aus dieser Begrifflichkeit der Arbeit herzuleiten, wer gerechtfertigterweise als Arbeiter gelten konnte, und zu begründen, warum man aus dieser besonderen zugeschriebenen Identität politische Ansprüche zu erheben gedachte. Auffällig ist aber, dass in der frühen deutschen Sozialdemokratie, zwischen der Revolution von 1848 und den 1890er Jahren, dem wortreichen Register der Arbeit und des Arbeiters eine mindestens ebenso aufwendige Semantik der ‚Nicht-Arbeit‘ gegenüberstand. Sozialdemokratische Redner und Schreiber gaben sich alle erdenkliche Mühe, nicht nur die politischen Gegner, Konservative, Angehörige des Zentrums und Liberale, sondern auch den vermeintlichen gesellschaftlichen Gegner, den Bourgeois, also Kaufleute und in zunehmendem Maße industrielle Unternehmer sowie den Rentier und Spekulanten, die ihre Einkünfte komplett aus Kapitalanlagen bezogen, als ‚Nicht-Arbeiter‘ und ihre Tätigkeiten als ‚Nicht-Arbeit‘ abzustempeln. Dieser große rhetorische Mobilisierungsaufwand lässt einen näheren Blick lohnend erscheinen, denn eine Charakterisierung der Unternehmer als ausbeutende Klasse und als betriebliche Despoten, ganz egal, womit sie sich die Zeit tatsächlich vertrieben, hätte für eine politische Verdammnis auf agitatorischem Gebrauchsniveau wohl schon ausgereicht. Aber so einfach machte es sich selbst Karl Marx nicht, der seine Kritik des „Kapitals“ ja gerade zu entmoralisieren trachtete, um sie zu schärfen, und der sie deshalb in seinem Hauptwerk so gut es ging entpersonalisierte.1
1 Wer war Arbeiter, warum und zu welchem Ende? Der Vorwurf des ‚Nicht-Arbeitens‘ sollte den gesellschaftlichen Gegner in seiner moralischen Seinsberechtigung treffen. Und das war kein Akt der Selbstverteidigung 1
Carmen Platonina/Thomas Welskopp: Entfremdung. Marx’ negative historische Evolutionslehre der Arbeit. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2010. Berlin 2011. S. 28–52.
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einer aus der Defensive heraus argumentierenden Arbeiter-Identität, sondern ein feindseliger Vorstoß mit der revolutionären Zielrichtung des Systemumsturzes. Das war der Fall, weil sich der Begriff des Arbeiters und die ihm unterliegende Semantik der Arbeit in der frühen deutschen Sozialdemokratie offensiv – und das heißt in erster Linie: politisch – konstituierten. ‚Arbeiter‘ war zu keiner Zeit nur eine einfache, offensichtliche soziale Beschreibungskategorie.2 Das bedeutet, dass auch Marx’ und Engels’ zeitgenössische Diagnose, die sie im März 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ in glühenden Worten beschworen, keine Zündkraft entfalten konnte, denn diese beschrieb die Arbeiter in schonungsloser historisch-dialektischer Zuspitzung als aus allen traditionellen sozialen Bindungen herausgefallenes „Proletariat“.3 ‚Proletarier‘ mochten sich die Sozialdemokraten im Betrachtungszeitraum dagegen nur ungern nennen, hatten sie in ihren Augen doch gerade mit dem Status und den Fähigkeiten des Arbeiters weit mehr zu verlieren als ihre Ketten. Arbeit sollte das alleinige Anrecht auf gesellschaftliche und schließlich: politische Teilhabe begründen, der Arbeiter also in einer gerechten Ordnung als prototypischer Vollbürger der Bürgergesellschaft, als citoyen par excellence, auftreten. So stellte sich das jedenfalls der Tischlermeister Otto Stehr, Vorsitzender des Bielefelder Arbeiterbildungsvereins, in den 1860er Jahren vor: „Der vermeintliche Gegensatz zwischen Arbeitern und Bürgern verschwindet, denn nur die Arbeit (in unserem erweiterten Sinne) berechtigt zum Bürgerthum, mit einem Worte: nur der Arbeiter ist Bürger.“4 Gewiss antwortete man damit auf die seit den Revolutionstagen einstweilen ohnmächtig hinzunehmende Weigerung bürgerlicher Liberaler, arbeiterspezifische Problemlagen in den Vereinen offen zu diskutieren und in den Parlamenten, soweit es sie denn noch gab, zur Sprache zu bringen. Auch attackierte man – zunächst 1848, dann erneut in den 1860er Jahren – die bis in radikale bürgerliche Demokratenkreise herrschende Auffassung, man müsse eine sich auf einen speziellen Arbeiterstatus berufende separate Organisation gleich welcher Form unbedingt verhindern, „denn
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Ausführlich: Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000. S. 60–97, S. 622 ff., S. 639 ff. Thomas Welskopp: Rechtfertigung und Blaupause für die Revolution: Karl Marx/ Friedrich Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848). In: Anja Kruke/ Meik Woyke (Hg.): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848 – 1863 – 2013. Bonn 2012. S. 42–47. Zit. nach: Karl Ditt: Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld 1850–1914. Dortmund 1982. S. 137. In allen wörtlichen Zitaten wurde die zeitgenössische Schreibweise beibehalten, weil dies Einblicke in den damaligen Sprachgebrauch eröffnet, die für eine semantische Analyse von Belang sein können.
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schließlich sind wir alle Arbeiter“.5 Die bürgerlichen Attacken auf eine selbst zugeschriebene Arbeiteridentität als Organisationsgrundlage zu parieren, motivierte zweifellos dazu, den Gegner als ‚Nicht-Arbeiter‘ zu entlarven. Aber das geschah mit einer verbalen Aggressivität, die weit über das Ziel hinausschoss, einem Argument des Kontrahenten oder – im Fall der radikalen Demokraten – auch möglichen Bündnispartners den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Aggressivität leitete sich zu einem guten Teil aus der dezidiert handwerklichen Redeweise her, aus der sich die sozialdemokratische Kategorie der Arbeit – und damit auch des Arbeiters – konstituierte. Die Radikalität wurde durch die Aufgabe, den Arbeiterbegriff zu einem sozial anschlussfähigen Koalitionsbegriff und damit zu einem politischen Angebot zu erweitern, eher verschärft als gelindert, galt es doch, dann die Außengrenze der Gruppe, um die man warb, umso klarer zu markieren. Schließlich stellte die Legitimierung des lange Zeit angestrebten gesellschaftlichen Umsturzes, der Revolution, hohe moralische Anforderungen. So durfte der politische und auch der gesellschaftliche Gegner nicht nur als eine gegenüber der Masse des ‚eigentlichen Volkes‘ verschwindend kleine Minderheit erscheinen. Er musste darüber hinaus rhetorisch zwingend aus einer funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung ausgegrenzt, als parasitär, überflüssig und ohne Schaden eliminierbar gebrandmarkt werden. Die handwerkliche, die politische und die revolutionäre Färbung der Arbeitsund Arbeitersemantik überlagerten sich bis in die 1880er Jahre und radikalisierten dabei den Wortgebrauch. Das verlieh auch der Sprache der ‚Nicht-Arbeit‘ und der Rede vom ‚Nicht-Arbeiter‘ ihre Brisanz.6 Die Vorstellungen von Arbeit lassen in ihrer treuherzig-naiven Konkretheit den Erfahrungshintergrund der kleinen handwerklichen Werkstatt – nicht des industriellen Betriebs – klar erahnen, wenn auch ebenso klar wird, wie idealisierend man die handwerkliche Arbeit über die tatsächlich oft monotonen Verrichtungen in tristen Werkstattverhältnissen erhob: „Wir hämmern, sticheln frisch drauf los“, hieß es in einem in den 1850er und 1860er Jahren zirkulierenden Handwerker-Liederbuch, „Und keiner hält die Hand im Schooß, / Denn woll’n wir essen ehrlich Brod, / Muß es verdienet sein. / Drum in der Arbeit Lobgesang / Stimmt alle ein mit frohem Klang, / Denn sie erweckt die Lebenskraft / Und zeigt des Mannes Werth.“ ‚Arbeit‘ galt jedoch als Tugend nicht nur in einem wörtlichen, materiellen Sinn. Über die ältere, auf antike Vorstellungen zurückgreifende handwerkliche Denkfigur eines 5 6
Volker Szmula (Hg.): Johann Most. Dokumente eines sozialdemokratischen Agitators. Bd. 2. Grafenau 1988–1992. S. 11 f.; Art. „Wer ist ein Arbeiter“. In: Agitator, Nr. 27, 1.10.1870; Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 2). S. 63 f. Thomas Welskopp: The Vision(s) of Work in the Nineteenth-Century German Labour Movement. In: Jürgen Kocka (Hg.): Work in Modern Society. The German Experience in European-American Perspective. New York/Oxford 2010. S. 55–71.
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gesunden Gleichmaßes zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Genuss‘, die auch dem Modell einer ‚ganzheitlichen Persönlichkeit‘ unterlag, dem man nacheiferte, verband sie sich in einem übertragenen Sinn mit Bildung und Geselligkeit im Kreis der Brüder: „Und wenn am Tag die Arbeit schmeckt, / Wird Abends für den Geist gedeckt, / Das Herz ist leicht, der Kopf ist hell, / Der Arbeit danken wir’s.“7 Eine solche überaus handfeste Vorstellung von gewerklich geschulter Handarbeit, die mit der ‚Arbeit an sich selbst‘, der Schulung des Geistes und damit der Vollendung der Persönlichkeit einherging, wirft bereits ein Schlaglicht auf die Attacken auf die Gegner, denen man genau diese Fähigkeiten und Neigungen absprach. Düsseldorfer Schneidergesellen klagten in den 1860er Jahren in diesem Sinne: „Der Geldsack tritt heute an die Stelle der Geschicklichkeit und des Verstandes.“8 Ein deutlicher Verweis auf die handwerkliche Herkunft dieses Arbeitsbegriffs war seine Koppelung an eine gedachte Arbeitspflicht, die in der Revolution dann zur Grundlage der Forderung nach einem ‚Recht auf Arbeit‘ als Basis auch politischer Teilhabe wurde und in den kurzlebigen französischen Nationalwerkstätten eine im übrigen revolutionären Europa mit übertriebener Hoffnung wahrgenommene materielle Gestalt annahm. Das zweite der 1849 in der „Verbrüderung“ abgedruckten „Zehn Gebote der Arbeiter“ forderte bezeichnenderweise: „Du sollst keinen Müssiggänger neben dir dulden.“ „Wenn du einen siehst, der müßig neben dir steht und fähig zur Arbeit ist, so gieb ihm ein Schurzfell und eine Hacke und sprich zu ihm: ,Jetzt schaffe! Denn siehe, Bruder, wenn du müßig gehst, so muß ich deinen Theil Arbeit mit übernehmen, und das ist ungerecht. Darum schaffe, reicher Müssiggänger.‘“9 Was wie ein moralischer Appell an Menschen anklingt, die Marx dem „Lumpenproletariat“ zugeschlagen hätte, nimmt mit dem völlig unvermittelt auftauchenden Adjektiv „reich“ eine hier unerwartete antikapitalistische Wende. Der „Reiche“ verstößt gegen die handwerklich verordnete Arbeitspflicht und stellt sich damit außerhalb der Gesellschaft. Das mochte für die revolutionäre Situation um 1848 eine gewisse Plausibilität besitzen. Aber noch 1870, vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Industrialisierung, machte der damalige Leipziger Drechslermeister August Bebel das handwerkliche Ideal der Arbeitspflicht geltend, als sozialistisches Zukunftsziel, das die gegenwärtige Stellung des gesellschaftlichen Gegners diskreditiere: „Aber arbeiten müssen Alle, Faullenzer giebt’s nicht. Letztere werden im sozialistischen Staat dieselbe Rolle spielen, wie die Diebe im heutigen; allgemeine Verachtung ist ihr Loos. Im heutigen Staat und der heutigen Gesellschaft ist’s umgekehrt: wer am meisten faullenzt, weil er von der Arbeit Anderer sich mästet, ist am angesehensten; wer die Profitmacherei 7 8 9
Liederbuch für Handwerker-Vereine. O. O. 1859. S. 27 f. Zit. nach: Wilhelm Matull: Der Freiheit eine Gasse. Geschichte der Düsseldorfer Arbeiterbewegung. Bonn 1980. S. 43. Die zehn Gebote der Arbeiter. In: Verbrüderung, Nr. 46, 9.3.1849.
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am besten los hat, wird bewundert, und der Mann, der vom frühesten Morgen bis in die späte Nacht oft mit Frau und Kind sich abrackern muß, verdient kaum so viel, um Tag für Tag das nackte Leben zu fristen. Es ist himmelschreiend.“10 Und selbst in der gewerkschaftlichen Rhetorik kleideten Sozialdemokraten die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit noch nicht in ein Argument gegen die zermürbenden Folgen der Ausbeutung, sondern gegen die Faulenzerei der Arbeitgeber. In seinem Referat über den „Normalarbeitstag“ auf dem Dresdner SDAP-Kongress von 1871 polemisierte der Harburger Tischlergeselle Theodor York unter dem „lebhaften Beifall“ der Delegierten: „Was die Faulheit anbelangt, m[eine] F[reunde], so ist das ein eignes Ding. ‚Böse Beispiele verderben gute Sitten‘, und wenn wir sehen, wie die Fabrikanten, die Großkapitalisten u.s.w., die den ganzen Tag wenig arbeiten, also doch auch auf der faulen Bärenhaut liegen, uns doch immer als Musterknaben, an denen wir uns ein Beispiel nehmen sollen – und wäre es auch nur, um uns zu verhöhnen – vorgehalten werden, nun, warum sollten wir uns nicht ein kleines Beispiel nach einer gewissen Richtung hin von den Leuten nehmen, nachdem sie uns in anderer Beziehung mit so gutem Beispiel vorangegangen sind?“11 Um den Anspruch vertreten zu können, für die weit überwiegende Mehrheit des Volkes zu sprechen, musste die Zuschreibung ‚Arbeiter‘ über die engeren handwerklichen Kreise, denen sie entstammte, ausgeweitet werden. So postulierte die Frankfurter „Allgemeine Arbeiter-Zeitung“ im Mai 1848: „Unter Arbeiter verstehen wir jeden, der von seiner eigenen Arbeit und nicht von der Ausbeutung anderer Arbeiter lebt, jeden, der durch seine persönliche Thätigkeit dem Ganzen, entweder der Gemeinde oder dem Volksganzen nützt, mag er als Fabrikarbeiter, als Handwerker den Bedürfnissen der Menschheit genügen und den Wohlstand der Nation schaffen oder durch die Arbeit des Kopfes seinen Beitrag zur Befreiung, Bildung und Veredlung des Volkes liefern.“12 Noch 1875 hieß es im „Volksstaat“: „Und, wohlgemerkt, unter arbeitendem Volk verstehen wir nicht bloß die Industriearbeiter, sondern Jeden, der nicht von der Arbeit Anderer lebt, also außer den städtischen und ländlichen Lohnarbeitern auch die Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden“.13 10 August Bebel: Unsere Ziele. Eine Streitschrift gegen die „Demokratische Correspondenz“. Leipzig 1870 (Nachdruck: Berlin [DDR] 1969). S. 20 f. 11 Protokolle der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. 2 Bde., (Nachdrucke). Glashütten im Taunus 1976 (fortan: Protokoll 1869 ff.). Bd. 1: Protokoll 1871. S. 13. 12 Allgemeine Arbeiter-Zeitung, Nr. 1, 18.5.1848. S. 1; Byung-Jik Ahn: Handwerkstradition und Klassenbildung. Eine sozialgeschichtliche Studie zum Verhältnis von Handwerksmeistern und -gesellen in Frankfurt am Main 1815–1866. Unveröff. Diss. Universität Bielefeld 1991. S. 126. 13 Unser Programm. In: Volksstaat, Nr. 151, 30.12.1874. S. 1 f.; Wolfgang Schröder: Der „Berliner Entwurf “ des Vereinigungsprogramms von 1875 und seine Stellung im Vereinigungsprozess von SDAP und ADAV. Die erste Fixierung der Programm- und
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Darin waren ausdrücklich Handwerksmeister eingeschlossen, also Personen, die im gewerblichen Vokabular aus Gesellen- wie auch aus Obrigkeitssicht ‚Arbeitgeber‘ genannt wurden. Vor allem kleine Meister, die nach der Definition nicht mehr als vier Gesellen beschäftigen durften, fanden sich in erstaunlich großen Zahlen in den Rängen der frühen Sozialdemokratie, nicht wenige, so wie Bebel, in führenden Positionen.14 Keineswegs verlief deshalb bereits seit 1848, wie Jürgen Kocka postuliert hat, die „Klassenlinie“ zwischen Meistern und Gesellen.15 Der im Frühjahr 1848 gegründete demokratisch-soziale Arbeiterverein in Breslau nannte sich in seinen Statuten „eine geschlossene Gesellschaft von Handarbeitern aller Art, und was die eigentlichen Gewerke angeht, ohne Rücksicht auf den äußeren Unterschied von Meistern und Gesellen. Der Verein erkennt das Recht und die Pflicht zur Arbeit an.“16 Der wohlhabende Braunschweiger Getreidekaufmann Wilhelm Bracke bezog 1876 Meister und andere kleine Unternehmer und Gewerbetreibende ausdrücklich in den sozialdemokratischen Arbeiterbegriff ein, solange die eigene Arbeitsleistung des Betreffenden den durch die abhängig Beschäftigten erarbeiteten Ertrag überwog: [W]enn die kleineren Besitzer in Stadt und Land sich fragen, ob sie von der Arbeit ihrer Gesellen u.s.w. leben, oder von ihrer eigenen Arbeit, so werden sie das letztere als richtig erkennen; und dann müssen sie auf den ersten Blick auch einsehen, dass ihre eigene Lage sich bessert, wenn die Arbeit überhaupt besser bezahlt wird […]. [D]ie kleineren Unternehmer [leben] nicht […] von dem Arbeitsertrag Andrer, auch wenn diese in ihren Diensten stehen, – dazu arbeiten sie gegenüber dem Großkapital in zu ungünstigen Verhältnissen –; sondern […] sie [leben] von ihrer eigenen Arbeit. […] Wer da arbeitet, um zu leben, hat daher mit dem Lohnarbeiter das gleiche Interesse, und das ist, der Arbeit zu ihrem Rechte zu verhelfen gegenüber der Macht des Großkapitals!17
In der Programmrede der Einberufer des Arbeiterkongresses vom 18. November 1862 erklärte der Leipziger Volksschriftsteller und ehemalige Forstprofessor Emil Roßmäßler, ein gefeierter Veteran der 1848er Revolution, „ein Unterschied zwischen Meister und Gehilfe, selbständiger und unselbständiger Arbeit [sei] gar nicht festzustellen;
14 15 16 17
Organisationsvorstellungen für eine vereinigte Arbeiterpartei vom Januar 1875. In: Jahrbuch für Geschichte 21, 1980. S. 169–245, S. 226. Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 2). S. 70 ff., S. 185–203. Jürgen Kocka: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800–1875. Berlin/Bonn 1983. S. 174 f. Zit. nach: Max Quarck: Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte der Arbeiterverbrüderung 1848/49. Leipzig 1924. S. 30. Wilhelm Bracke: „Nieder mit den Sozialdemokraten!“. Braunschweig 1876. S. 25 f.
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die Frage entscheide sich im einzelnen und tatsächlich durch die Einträglichkeit des Geschäfts, das ein Meister betreibe“.18
2 Der ‚Nicht-Arbeiter‘ als ‚Geldsack‘ Um die Außengrenze dieser Gruppe möglichst scharf zu ziehen und den Gegner mit der nötigen Klarheit benennen zu können, war es notwendig, ihn auf seine Eigenschaft als Kapitalbesitzer zu reduzieren und ihm vor allem jedwede produktive Tätigkeit in Abrede zu stellen. In diesem Prozess mutierte der Bourgeois zum ‚Geldsack‘. Der ‚Geldsack‘ war dabei durchaus eine leibhaftige physiognomische Metapher. Man kann in den Karikaturen Honoré Daumiers über den französischen „Bürgerkönig“ Louis Philippe (etwa als Birne) aus den 1830er Jahren eine Idee gewinnen, wie zeitgenössische Sozialdemokraten den ‚Geldsack‘ vor ihrem inneren Auge Gestalt annehmen sahen: als ausladende, birnenförmige Figur mit gewaltigem Bauch, dessen geldwerter Inhalt die Gestalt bewegungsunfähig machte, mit einem Gewicht, das nicht nur die eigene Person niederzog, sondern alles niederwalzte, was sich ihr in den Weg stellte. Das ‚Kapital‘ erschien so nicht als Brennstoff und Motor des Produktionsprozesses, als Treibsatz der Industrialisierung, sondern als in lebloser Münze angesammelter Geldhaufen, immobil und unhandlich, als Mehltau auf den Produzenten. Das aber stellte das Kapital und den Kapitalisten außerhalb der Gesellschaft. Statt das Kapital als strukturimmanentes Kernelement des kapitalistischen Wirtschaftssystems anzusehen, nahmen die Sozialdemokraten aus ihrer handwerklichen Sicht erstaunlich lange an, der im Kapital angehäufte „tote Besitz“ drohe, die eigentliche Arbeit der Produzenten von außen zu erdrücken. So Wilhelm Bracke 1876: „Heute ist es der todte Besitz, der [das Eigenthum] zum größeren Theile an sich zieht, indem den menschlichen Arbeitsbienen – mögen sie Lohnarbeiter, Beamte, Bauern oder Handwerker sein – in ihrer überwiegenden Mehrheit nur die kleinere Hälfte der geschaffenen Werthe, nur so viel gelassen wird, dass sie sich eben kümmerlich durchzuhelfen vermögen; so dass ihnen auch die entfernteste Möglichkeit abgeht, an den Segnungen der Zivilisation unseres Jahrhunderts wirklichen Antheil zu nehmen. Dem todten Besitz bleibt die größere Hälfte.“19 Marx mochte an dieser in seinen Augen naiven Sichtweise der ‚zurückgebliebenen‘ deutschen „Straubinger“ schier verzweifeln, aber in der Tat spricht aus dieser Rhetorik die Annahme, ‚Kapitalismus‘ als trotz aller Krisenhaftigkeit stabiles Wirtschaftssystem 18 Heinrich Laufenberg: Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgebung. 2 Bde., Hamburg 1911 u. 1931 (Nachdruck: Bonn-Bad Godesberg 1977). Bd. 1. S. 206. 19 Bracke: „Nieder mit den Sozialdemokraten!“ (wie Anm. 17). S. 15 f.
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mit Zukunftsfähigkeit und Wachstumspotential könne es nicht geben. Vielmehr sei das System politisch oktroyiert und als subversiver Modus gesellschaftlichen Diebstahls ein Hemmschuh, wenn nicht ein Würgejoch für eine Arbeit, die sich, wenn von diesem Joch befreit, zu neuer Blüte entfalten würde. Der ‚Kapitalismus‘ erschien als bereits auf seine (revolutionäre) Endzeit zutreibende dekadente Ordnung. Das ‚Kapital‘ stand nach dieser Lesart dem gesellschaftlichen System der Produktion eigentlich äußerlich gegenüber; wie ein Kraken wie ein Krebsgeschwür habe es sich von außen der gesellschaftlich nützlichen Produktion bemächtigt, sie ausgesaugt; wie ein Vampir entziehe es ihr die lebensnotwendigen Ressourcen. Die Mitglieder des Bildungs- und Unterstützungsvereins für Arbeiter zu Schwabach kamen im Nachklang der Revolution von 1848, wie sie an die „Verbrüderung“ berichteten, zusammen, „um zu berathen, wie den Gebrechen der immer mehr um sich greifenden Verarmung, sowie dem wie ein Krebsschaden an der Lebenskraft des Arbeiterstandes fressenden Kapital abzuhelfen sei“.20 „Das Großkapital, als der alleinige Inhaber unserer Industrie, der Besitzer aller Arbeitswerkzeuge, saugt gleich einem Vampyr langsam aber sicher dem arbeitenden Volke das Herzblut aus […]“, hieß es in einem „Aufruf an die Metallarbeiter aller Länder“ vom Mai 1869.21 Und der gelernte Schlosser Philipp Wiemer sekundierte 1871 im Alter von 22 Jahren, die „freie Konkurrenz“ bilde „einen Zustand, der sich mit demjenigen vergleichen lässt, wo Tausende von Menschen fortwährend an einer Mauer bauen, die andere Tausende fortwährend wieder einreißen“.22 Selbst wenn die Inhaber dieses „Kapitals“, die „Geldsäcke“, so „arbeiteten“, wie sie selbst es beteuerten, stichelte der wie immer scharfzüngige Johann Most, trage das aus dieser Sicht nur zur Lähmung und Unterdrückung der „eigentlichen“ Arbeit bei: „Die Regel ist, dass die gedachten Individuen durch das, was sie als ihre ‚Arbeit‘ bezeichnen, nicht nur keinen Nutzen schaffen sondern Schaden.“23
3 Der ‚Geldsack‘ als Dieb gesellschaftlichen Eigentums Nur wenn man nachweisen konnte, dass Kapitalbesitzer keiner produktiven Tätigkeit nachgingen, also ‚Nicht-Arbeiter‘ waren, erschien ihre Aneignung des Arbeitsertrags anderer moralisch besonders skandalös:
20 Verbrüderung, Nr. 3, 8.1.1850. 21 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: A 5, Nr. 396: Aufruf an die Metallarbeiter aller Länder. Nürnberg, den 25.5.1869. 22 Philipp Wiemer: Art. „Die Gewerbefreiheit“. In: Volksstaat, Nr. 48, 14.6.1871. 23 Johann Most: Die Arbeit. In: Szmula (Hg.): Johann Most (wie Anm. 5). Bd. 2. S. 20.
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Wer am meisten arbeitet, hat am wenigsten; wer wenig oder nichts arbeitet, hat viel. Die Armuth ist für die Arbeit, der Reichthum für die Nichtarbeit; die Arbeiter, welche sog. ‚Nationalreichthum‘ erzeugen, sind von ihm ausgeschlossen; er ist das Monopol der Nichtarbeiter. Dadurch wird die Ungleichheit zur empörenden Ungerechtigkeit […]. Die jetzige Ungerechtigkeit entspringt daraus, dass die Arbeit nicht für sich selbst arbeitet, dass sie sich für Lohn an die Nichtarbeit verkaufen muß und von dieser ‚ausgebeutet‘ wird. Mit einem Worte: aus dem System der Lohnarbeit. Die jetzige Ungerechtigkeit ist nur dadurch zu beseitigen, dass die Arbeit aufhört für die Nichtarbeit zu arbeiten, und dass sie stattdessen für sich selbst arbeitet.24
Weder von der ‚Expropriation des Mehrwerts‘ noch von tyrannischen Formen betrieblicher Herrschaft und des ‚Gehorchenmüssens‘ abhängig Beschäftigter war die Rede, sondern von einer Form des Diebstahls an der Gesellschaft. Ein reisender Agitator des Lassalle’schen Allgemeinen deutschen Arbeitervereins machte dies 1869 einer „1000köpfigen“ Versammlung im sächsischen Burkhardsdorf in volkstümlicher Derbheit klar: „Ferner wies Er nach, dass uns immer entgegen gehalten würde was wollen denn die Arbeiter bezwecken sie haben ja kein Geld was wollen nun die bezwecken; ich kenne blos 3 Classen Menschen 1. die Diebe 2. die Bettler u. 3. die Arbeiter also unter die Diebe rechne ich mich nicht weil ich nicht stehlen darf. Unter die Bettler rechne ich mich nicht, weil ich mich durch meiner Händearbeit ehrlich ernähre und 3. die Arbeiter also Arbeiter sind wir. Nun meine Freunde Diejenigen die nicht Arbeiter sein wollen entweder sind das Diebe oder Bettler.“25 Wilhelm Bracke schwang einen eleganteren Degen und unterschied, Geschäftsmann, der er ebenso war wie führender Sozialdemokrat, feinsinnig zwischen aktivem „Erwerb“ und passiver Kapitalanhäufung: Was die Sozialdemokraten bekämpfen, ist nicht der Erwerb für geleistete Arbeit, wie mancher glauben könnte; nein dieser Erwerb soll gerade gegenüber Denen gesichert werden, die Nichts oder fast Nichts thun und doch erwerben und zwar Das, was Andere erarbeitet haben, und die obendrein noch das Meiste, den Löwenantheil, an sich ziehen. Indem die Sozialdemokraten den mühelosen Erwerb in jeder Gestaltung bekämpfen, bemühen sie sich,
24 Unser Programm (wie Anm. 13); Schröder: „Berliner Entwurf “ (wie Anm. 13). S. 228 f. 25 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO, BArch), Bestand LADAV: RY 15/6/66: Briefe und Berichte der Bevollmächtigten der Gemeinden: Breslau, Brinkum b. Bremen, Buchholz b. Chemnitz, Burkhardsdorf b. Chemnitz, 1868–1870, Bl. 94 f.: Oswald Roscher an das Präsidium, Burkhardsdorf, den 28.2.1869.
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dem arbeitenden Volke den Ertrag seiner eigenen Arbeit zu sichern! (Hervorhebungen im Original – T. W.)26
Eines solchen Diebstahls am gesellschaftlichen Eigentum bezichtigte man den ‚nichtarbeitenden‘ ‚Geldsack‘ nicht nur in Bezug auf die passive Aneignung des Arbeitsertrags anderer. Man warf ihm auch vor, der Gesellschaft aus geldgierigem Egoismus bürgergesellschaftliches und politisches Engagement vorzuenthalten und sie damit zusätzlich zu schädigen: Wie wir der angeblichen Nationalökonomie, aber eigentlichen Privatökonomie der Glieder der Bourgeoisklasse, die soziale Ökonomie, die Ökonomie des Gemeinwesens gegenüber stellen, so stellen wir unsern zu errichtenden Volksstaat, als Ausdruck des Gesammtdenkens, Wollens und Schaffens dem individualisirenden, die Gesellschaft in ihre Bestandteile auflösenden Herrenstaat gegenüber – ja dem modernen Herrenstaat, wo Jeder fachgemäß für sein Dasein vereinzelt kämpfen muss, der Gemeinschaft sich aus Gnade annimmt, wenn er ‚Zeit‘ hat, oder nebenbei seinen Privatinteressen einen Vorschub zu leisten hofft, in den Rathsälen mehr an seine Privatspekulationen in Eisenbahnaktien, Baumwolleballen u. s. w., als an’s Volkswohl denkt, lieber Bankpräsident wird, als Regierungspräsident bleibt, eher sein Talent einer Salineverwaltung verkauft, als einer Staatsverwaltung widmet, wo endlich in einem allgemeinen ‚sauve qui peut’ (es rette sich, wer kann) Alles wild übereinander stürzt, im ‚Kriege Aller gegen Alle’ jedes Staatswesen zur Karrikatur, jede Gemeinschaft zum Schattenbilde herabsinken muss, wo unsere Zustände stumpfem Christenthum anheimfallen müssten, wenn nicht eine regenerirende Jugendkraft die Kultur vor [dem] Untergang erretten und ihre Errungenschaften zu höheren und allbeglückenderen Glanzpunkten emporheben würde.27
Das hatte in den 1850er Jahren im „Liederbuch für Handwerker“ noch so geklungen: „Wer stets docirt mit kaltem Blut / Von Menschenlieb’ und Pflicht, / Und keinem Menschen Gutes thut, / den mögen wir hier nicht. / Fort, fort mit ihm! / Wer immer schwatzt von Recht und Pflicht, / Und sie nicht übt – ist für uns nicht.“28
26 Bracke: „Nieder mit den Sozialdemokraten!“ (wie Anm. 17). S. 9 (Hervorhebungen im Original). 27 Art. „Was wir wollen und sollen“, Teil 2. In: Deutsche Arbeiterhalle, Nr. 15, 12.8.1868. 28 Liederbuch für Handwerker-Vereine (wie Anm. 7). S. 20 f.
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4 Der „Geldsack“ als faulenzender Prasser Das noch aus Zunftzeiten stammende handwerkliche Ideal beschrieb eine Balance, ein Gleichmaß von ‚Arbeit‘ und ‚Genuss‘. Das übersetzte sich im 19. Jahrhundert auf der einen Seite in das harte Diktum des Arbeitspflichtgedankens („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“), dem in den 1860er Jahren August Bebel eifrig beisprang und das die sozialdemokratische „Zündnadelschnauze“ Johann Most auf dem Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1871 auf die Reichen im Lande ummünzte: „Die Arbeiter bilden die Mehrheit des Volkes und diese Mehrheit wird aussprechen, dass Niemand auf Kosten Anderer leben darf; Jeder soll arbeiten oder nicht genießen; wer nicht arbeitet, soll hungern. Diese Grundsätze, durch die Gesetzgebung verwirklicht, werden die jetzigen Schmarotzer der Gesellschaft vertreiben und unmöglich machen.“29 Die Idealvorstellung vom Gleichmaß zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Genuss‘ schien im zeitgenössischen Zeitalter der kapitalistischen Kommerzialisierung empfindlich gestört, weil dem Arbeiter nichts mehr bleibe außer seiner – fremdbestimmten – Arbeit. Das wiederum legte die Behauptung nahe, dass, da ja Kaufleute und Unternehmer, also die ‚Geldsäcke‘, nicht arbeiteten, ihre persönliche Waagschale völlig zugunsten des ‚Genusses‘ ausgeschlagen sei. Eine solche gesellschaftliche Polarisierung zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Genuss‘ zeige an, dass die ursprüngliche Harmonie gefährlich in Schieflage geraten sei, zum Schaden der Gesamtgesellschaft. In Brackes Worten klang das wie folgt: „Diejenigen, denen täglich neue Reichthümer zufließen, die sich von Genuß zu Genuß stürzen können, haben vielleicht in ihrem Leben nie etwas Nützliches gethan; ohne eigene Arbeit zu leisten, ziehen sie die Erträge der Arbeit anderer Leute an sich.“30 Damit konnte man den gesellschaftlichen Gegner, den vermeintlichen ‚NichtArbeiter‘, nicht nur der Faulenzerei auf Kosten anderer bezichtigen, sondern der hemmungslosen Prasserei. In Johann Mosts Artikelserie „Die Arbeit“, die 1875 im „Volksstaat“ erschien und 1877 in der „Berliner Freien Presse“ nachgedruckt wurde, hieß es in gewohnt drastischer Manier: Die unproduktiven Arbeiter arbeiten nur für einen Teil ihrer eigenen Gattung, etwa noch für die hie und da ausnahmsweise etwas günstiger situierten einzelnen produktiven Arbeiter und vor allem und im hervorragendsten Maßstabe für – Nichtarbeiter. So will es die moderne Ordnung! Die zuletzt erwähnte Art oder Unart, das Parasitentum des menschlichen Geschlechts, konsumiert unglaubliche Massen von Arbeitskraft und leistet der Menschheit dafür nichts, absolut gar nichts. Man hört zwar oft davon faseln, dass der und jener, welcher im allgemeinen als Generalfaulenzer angesehen wird, ‚arbeite‘, aber 29 Protokoll 1872 (wie Anm. 11). S. 9 f.: Grundsatzreferat Most. 30 Bracke: „Nieder mit den Sozialdemokraten!“ (wie Anm. 17). S. 7.
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wer sich die Mühe nehmen wollte, den Wert der betreffenden Leistungen abzuschätzen, der fände gewiß im allergünstigsten Falle, dass dieser Wert nicht einmal dem Wert des Salzes gleich kommt, welches der Betreffende verzehrt. […] Wir wollen davon absehen, die Gattungen zu bezeichnen, unter denen man diese Bärenhäuter suchen muß, aber die Bemerkung können wir uns nicht enthalten, dass die Zahl der Jünger des dolce far niente (des süßen Nichtstuns) Legion ist. […] [Es gibt] Nurkonsumenten oder Nichtarbeiter, die Notwendiges und Überflüssiges in unbegrenzten Massen verzehren, zuweilen sogar in einer solchen Weise, dass das Übermaß von Angenehmem Unangenehmes erzeugt, so dass man eine ganze Reihe von geistigen und körperlichen Wohlstandskrankheiten kennt.31
Johann Most wäre nicht er selbst gewesen, hätte er auf diese Polemik nicht noch eins daraufsetzen können. Ihm gelang das Kunststück, die zeitgenössische Klassengesellschaft und die ganze Ungerechtigkeit und Dekadenz, die ihr entsprangen, auf den frivolen ‚Nur-Genuss‘ der reichen ‚Nicht-Arbeiter‘ zurückzuführen: Würde sich diese Klassengruppierung bis zum äußersten Extrem, und ohne dass zugleich Elemente einer völligen Neubildung der Gesellschaft entstehen, abspielen, so gingen wir den traurigsten Zeiten entgegen, welche je die Welt gekannt hat. Denn die vorbemerkte Klassenscheidung bedeutet nichts anderes als die Nebeneinanderstellung (!) [sic!] von zwei total verschiedenen Menschenarten. Einerseits wären etliche Tausende von Eigentümern im Besitze aller menschlichen Reichtümer, wie sie im Laufe der Jahrtausende durch millionenarmige Arbeit, durch unausgesetzte Gedankentätigkeit und rastloses Abmühen aller bergehoch aufgestapelt werden, und andererseits befänden sich die zahllosen Volksmassen in der bittersten Armut. – Dort würde den raffiniertesten Genüssen und Ausschweifungen gefrönt, hier hielte der Hungertyphus seine grausigen Ernten. Die einen wüßten nicht mehr, was sie aus müssiggängerischem Übermute anfangen sollten, die anderen rackerten sich bei mühseliger Arbeit zuschanden. Endlich würden jene im Laster entnervt werden und immer tiefer in dem Moraste der skandalösesten Schlemmerei versinken, während diese in verzweiflungsvoller Knechtschaft einer allgemeinen Verwilderung anheimfielen, geistig und körperlich verkrüppelten.32
Die Zügellosigkeit des gegnerischen ‚Genusses‘ weitete sich in der sozialdemokratischen Rhetorik der Zeit auf sämtliche Lebensbereiche aus und wurde genüsslich zu einer frivolen Unterminierung bürgerlicher Moralmaßstäbe durch das dekadente Bürgertum selbst stilisiert. So in einer hübschen Anekdote im „Volksstaat“ vom
31 Most: Die Arbeit (wie Anm. 23). S. 20. 32 Johann Most: Der Kleinbürger und die Sozialdemokratie. In: Szmula (Hg.): Johann Most. (wie Anm. 5). Bd. 4. S. 132.
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Februar 1875, der freilich Wilhelm Liebknechts gewohnte Zeigefinger schwingende moralische Empörung ein wenig die Pointe nahm: Die Moral in der ‚Creme‘ der Gesellschaft. Kürzlich erschien die Frau eines der angesehensten Berliner Bankiers in einer feinen Gesellschaft in so decolletirtem (entblößtem) Anzug, dass es selbst der in diesem Punkte an Starkes gewöhnten Versammlung auffiel. Ein anwesender Diplomat machte den Witz: Die Kleidung der Dame wundere ihn nicht, sie kleide sich nach dem neuen Bankgesetz, das künftig für die Noten nur ein Drittel Deckung verlange. Der Witz ist nicht übel; uns aber interessirt nur die Thatsache, dass die Frauen und Töchter unserer Bourgeoisie in der schamlosesten Bloßlegung ihrer Reize selbst die käuflichen Dirnen übertreffen.33
Der cholerische Liebknecht, einer der schlecht bezahlten Redakteure des Parteiblatts, ließ denn auch keine Gelegenheit aus, die herrschende Moral der bürgerlichen Gesellschaft als eine Doppelmoral zu geißeln, die in der Monopolisierung des ‚Genusses‘ durch ‚Nicht-Arbeiter‘ wurzele und umgekehrt der Knechtung des Arbeiters erst ‚ganzheitliche‘, auf alle Bereiche des Lebens ausgeweitete Wirkung verlieh: Eigenthum, Familie, Moral, Bildung! Es zeugt wahrlich von großer Dreistigkeit, dass unsere Bourgeois diese Worte im Munde führen. Für das Eigenthum sind sie – ja für das Eigenthum, das sie dem Arbeiter geraubt haben. Für die Familie sind sie – und die Familie des Arbeiters haben sie zerstört. Für Moral sind sie – und die Moral, welche sie in der Theorie predigen, treten sie in der Praxis mit Füßen, wie alle ihre schönen Theorien. Sie predigen auch die Freiheit, und stoßen den Arbeiter in die Sklaverei; sie predigen Bürgertugend, und werfen sich in den Staub vor dem siegreichen Säbel; sie predigen Friede, und laben sich an den Greueln des Krieges; sie predigen die ‚Harmonie der Interessen‘, und erregen den gesellschaftlichen Krieg.34
5 Auch der Chef im Großbetrieb arbeitet nicht wirklich Das Bild des vor lauter passiver Profiteinstreicherei fettleibig und damit unbeweglich gewordenen ‚Geldsacks‘ ließ sich mit fortschreitender Industrialisierung immer weniger umstandslos plausibel machen. Gerade die bürgerliche Presse porträtierte 33 Volksstaat, Nr. 24, 28.2.1875. 34 Wilhelm Liebknecht: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Dresdner Bildungs-Vereins am 5. Februar 1872. 3. Aufl. Berlin 1894. S. 44.
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erfolgreiche Industrielle der Zeit als jung, energisch und tatkräftig. Der Sozialdemokratie hielt man ihre Vorstellung vom faulenzenden und prasserischen Unternehmer als anachronistisch und unverschämt-naiv entgegen, auch in der ihr eigentlich nicht feindselig gesinnten Publizistik etwa in demokratischen Kreisen. Umso mehr argumentativen Aufwand betrieb August Bebel 1870, der darauf beharrte, dass die Stellung und der Reichtum des Großkapitalisten eben doch nicht Früchte seiner eigenen Arbeit sein konnten. Die „Demokratische Correspondenz“ habe behauptet, der „Großbetrieb brauche mehr als den bloßen Kapitalisten und sein Kapital“. „Nein, Verehrte, der Großbetrieb braucht nichts weiter, als Kapital. Der Kapitalist bekommt durch sein Kapital alles Übrige, was er haben will und braucht: technische und kaufmännische Leitung, Arbeitskraft, Maschinen, Rohmaterial, Alles, Alles bekommt er für Kapital und er hat, wenn er will, nichts weiter zu thun, als die Bücher zu prüfen und den Profit – und oft was für einen Profit! – einzustreichen. Gewiß eine kleine Arbeit und eine große Belohnung.“35 Fachkenntnisse und eine einschlägige Spezialbildung ließ der bildungsbewusste Bebel beim Kapitalbesitzer nicht gelten: Ich habe schon oben gezeigt, wie wenig Wissen Jemand braucht, wenn er Kapitalist ist. Hinge Kapitalist zu sein vom Wissen, von der Bildung ab, dann müßten artige Veränderungen in der Welt vorgehen. Gar mancher Kapitalist würde zum Arbeiter degradirt und viele der ihm Untergeordneten könnten seine Kapitalistenstellung einnehmen. Die edelsten und größten Geister der Nation hätten Kapitalisten sein müssen; die ‚Demokratische Correspondenz‘ weiß noch viel besser als ich, dass sie das gerade Gegentheil in fast allen Fällen waren und sind.36
Operative technische und kaufmännische Funktionen bei der Leitung großer Unternehmen sprach Bebel den Produktionsmitteleigentümern pauschal ab: „‚Die technische und kaufmännische Seite des Geschäfts darf ihnen nicht fremd sein‘, meint die ‚Demokratische Correspondenz‘. Die Worte ‚nicht fremd sein‘ charakterisiren den Ausspruch, ich habe nicht nöthig, ihn weiter zu kritisiren.“37 Schließlich rekonstruierte Bebel den Klassengegensatz zwischen Arbeiterschaft und Bourgeoisie ganz im Sinne der zeitgenössischen sozialdemokratischen Alltagssprache als frivolen Gegensatz zwischen dem hart arbeitenden, um die Früchte seiner Arbeit betrogenen produzierenden Volk und den ihren Reichtum in müßiggängerischem Luxus verprassenden Kapitalbesitzern. Dies war Identitätsbildung und Klassenabgrenzung auf der Basis kontrastierender Lebensstile oder – um mit Marx zu sprechen – in der Denkfigur 35 Bebel: Unsere Ziele (wie Anm. 10). S. 23. 36 Bebel: Unsere Ziele (wie Anm. 10). S. 23 ff. 37 Ebd.
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„relativer Verelendung“, nicht aber auf der Basis der strukturellen Machtasymmetrie in den Betrieben, wie sie Marx’ Lohnarbeiterbegriff zugrunde liegt38: „‚Thätig sein müssen sie auch.‘ O, und wie! Die Wein- und Frühstücksstuben und die Bäder und Vergnügungstouren geben die Antwort hierauf.“39 Letztlich näherte sich Bebel der auch bei Marx vorzufindenden Vorstellung an, wenn denn Unternehmer ‚arbeiteten‘, so handle es sich dabei um unproduktive Arbeit. Das gerann bis Ende der 1870er Jahre bei ihm zu einem Klischee, das es erlaubte, die Unternehmer sogar als unrühmliches Beispiel heranzuziehen, wenn es darum ging, das Scheitern gewerblicher ‚Mittelklassen‘ und ihren Rückzug auf Handel und Distribution in kleinen Dimensionen mehr oder weniger grob gesellschaftlich einzuordnen: Diese täglich zunehmende Masse von Zwischenpersonen hat aber noch andere Übelstände im Gefolge. Obgleich meist sich redlich mühend und abarbeitend ist diese zahlreiche Klasse dennoch, und zwar in allen ihren Schichten, eine Klasse von Parasiten, die unproduktiv thätig ist, von der Arbeit und dem Arbeitsertrage anderer fast in höherem Grade lebt wie die eigentliche Unternehmerklasse.40
6 Die Verwandlung des ‚Geldsacks‘ in den ‚Couponabschneider‘ Auch während die Schornsteine und Fabrikschlote in den entstehenden Industrie revieren in den Himmel wuchsen und mit ihrer materiellen Präsenz durchaus ein durch stabiles Wachstum ausgezeichnetes neues Zeitalter ankündigten, blieb es für die deutschen Sozialdemokraten einstweilen schwierig, den Unternehmern zumindest einen Teil dieser Aufbauleistungen gutzuschreiben. Zumindest standen die Kapitalbesitzer für sie nach wie vor für die Volatilität und Unsicherheit des Wirtschaftssystems. Umstandslos konnte man hier zunächst von der ‚Nicht-Arbeit‘ der Unternehmer aus auf ihre Faulenzerei und Prasserei, von dort aus auf ihre egoistische Frivolität und moralische Verderbtheit und von dort aus auf ihre Habgier und Unverantwortlichkeit beim Geschäftemachen schließen. Anstelle des ‚Geldsacks‘ rückte nun der von betriebsfernen Interessen getriebene Aktionär in den Mittelpunkt der Polemik,
38 Thomas Welskopp: Markt und Klasse in der deutschen Sozialdemokratie, 1848–1878. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2004 (2005). S. 9–30. 39 Most: Der Kleinbürger (wie Anm. 32). S. 87. 40 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. 1. Auflage 1879 hg. von Anneliese Beske/ Eckhard Müller (August Bebel. Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 10/1). München u. a. 1996. S. 112.
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der seinen Reibach durch ‚Couponabschneiderei‘ machte, aber nicht durch seiner Hände Arbeit. Die „Gründerkrise“ nach dem Börsenkrach von 1873 ‚rettete‘ diese Sichtweise vorübergehend. Das Spekulantentum der Gründerjahre verlieh dem Bild des ‚nichtarbeitenden‘ Finanzkapitalisten neue Plausibilität. Vom Frankfurter Bankier Leopold Sonnemann distanzierte sich der Kongress der vereinigten Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1876 nicht, weil er ein bürgerlicher Demokrat war, sondern weil man Gerüchten Glauben schenkte, er habe an „faulen Gründungen“ mitgewirkt.41 Ein ähnliches Bild vom ‚Kapitalisten‘ skizzierte Ottilie Baader für die Zeit ihrer Kontaktaufnahme mit der Sozialdemokratie: „Die sogenannten Gründerjahre, die dem Krieg gegen Frankreich folgten, entfesselten eine wüste Spekulation. Der Schwindel stand in Blüte.“42 Für den Braunschweiger Getreidehändler und Verleger Wilhelm Bracke waren „Wucherer“ und „Gründer“ ein und dieselbe Spezies Mensch: „Fragt der Wucherer danach, was aus den Opfern seiner Habgier wird? Oder der Gründer, was die Aktionäre beginnen, wenn ihr oft sauer erworbenes Eigenthum verloren ist?“: Die Sozialdemokraten sind der Meinung, dass heute die Theilerei in der schönsten Blüthe steht. Und sie sind ferner der Meinung, dass diese Theilerei in der ungerechtesten Weise von der Welt vor sich geht. Lieber Leser, denke nur an die schönen Summen, welche die sehr ehrenwerthen Gründer, die trotzdem fast Alle noch in Rang und Ansehen stehen, sich zuzutheilen verstanden haben! Und wie vielen Handwerkern, Bauern, Beamten, Arbeitern damit das sauer erworbene kleine Vermögen weggenommen wurde!43
Der „Volksstaat“ berichtete im Mai 1873, dass nunmehr auch in Wien ein großer Börsenkrach stattgefunden habe, d. h. eine Menge von Bankhäusern und zwar darunter von den ‚solidesten‘ Firmen, haben die Zahlungen eingestellt. Eine Menge Gründer, Gauner, Stroußberg’s und Wagener’s sind plötzlich ‚brodlos‘ geworden. Die Börsen- und Actiencorruption hat in Wien alle ‚Stände‘, auch die ‚besten‘, angefressen, d. h. Hoch und Niedrig hat sich nicht gescheut, ‚gesetzlicher‘ Räuber und Dieb zu werden. Natürlich haben die meisten der ‚brodlos‘ gewordenen Börsenjobber einen ansehnlichen Theil ihres Raubes in Sicherheit gebracht, so dass sie als ‚ehrliche‘ Rentiers ganz gemüthlich sich weiter mästen können.44
41 Protokoll 1876 (wie Anm. 11). S. 46–55. 42 Ottilie Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen einer Sozialistin. 3. Aufl. Berlin/Bonn 1979 (zuerst 1921). S. 22. 43 Bracke: „Nieder mit den Sozialdemokraten!“ (wie Anm. 17). S. 11, S. 7. 44 Volksstaat, Nr. 40, 17.5.1873.
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Auch in Bebels Ausführungen dominierte das Feindbild des Aktionärs vor dem des unternehmerischen ‚Herrn-im-Hause‘, wie er sich zeitgleich etwa in der Person eines Krupp oder Stumm manifestierte: „Wenn die ganzen Aktionäre Dummköpfe sind, kein einziger etwas von der technischen oder kaufmännischen Leitung versteht, wird doch der Profit derselbe sein. Keiner hat ja mitgearbeitet, Keiner eine Faser seines kostbaren Hirns geopfert, und doch ist der Profit da.“45 Im Grunde löste im sozialdemokratischen ‚Normalweltbild‘ also nur der ‚Couponschneider‘ des Finanzkapitals den Verlagskaufmann als gesellschaftliches Feindbild ab; der ‚Unternehmer‘ als betrieblicher Despot und struktureller Ausbeuter blieb in diesem Weltbild randständig. „Es sei Niemand verwehrt, Arbeiter zu werden“, proklamierte Friedrich Wilhelm Fritzsche auf der Barmener Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Frühjahr 1869, „z. B. dem Herrn Rothschild nicht, das Couponabschneiden mit der Riemendreherei zu vertauschen, und es erfordere auch hier die Gerechtigkeit volle Gleichberechtigung in umgekehrter Weise“.46 Und Bebel postulierte ein Jahr später: Ei, was hindert denn den Fabrikanten, Lohnarbeiter oder Kleinhandwerker zu sein? Nichts! Es muß also doch ein besonderes Vergnügen sein, Fabrikant zu werden, sonst wären so viele Menschen nicht so erpicht darauf ! Die durchschnittliche Lebensdauer der Fabrikanten und Kaufleute ist viel höher, als die Lebensdauer der arbeitenden Klasse. Die meist runden wohlgenährten Gesichter wie der kräftige Körperbau zeichnen sich ebenfalls sehr vortheilhaft aus vor den meist mageren, oft hohläugigen Gestalten der Arbeiter. Lange Lebensdauer und gute Genährtheit sind aber die sprechendsten Zeichen von geringer Sorge und gutem Leben. Es muß also da doch wohl keine Last sein, Fabrikant zu sein.47
7 Seit den 1890er Jahren: Der Klassengegner als autokratischer Herrscher Die Trope vom Unternehmer als faulenzendem, prasserischem, moralisch verkommenem, unverantwortlich spekulierendem ‚Nicht-Arbeiter‘ war seit Beginn der 1890er Jahre aus dem sozialdemokratischen Diskurs verschwunden. Den Vorgang des Verschwindens genauer zu datieren, erweist sich als unmöglich, sei es, weil er sich allmählich vollzog, sei es, weil man zunehmende Abwesenheit in einem Textkorpus schlichtweg nicht dokumentieren kann. Auch die Gegenüberstellung der ersten 45 Bebel: Unsere Ziele (wie Anm. 10). S. 23. 46 Dieter Dowe (Hg.): Protokolle und Materialien des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (inklusive Splittergruppen). Nachdrucke. Berlin/Bonn 1980. S. 143. 47 Bebel: Unsere Ziele (wie Anm. 10). S. 22.
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Auflage von August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ von 1879 mit späteren Ausgaben hat sich als nicht begehbarer Weg erwiesen, weil der Ursprungstext nicht kontinuierlich – und damit in Schritten nachvollziehbar – modifiziert wurde, sondern grundlegende Umstrukturierungen erfuhr. In den späteren Versionen spielten die Sozialfigur des Unternehmers und die Frage, ob und inwiefern er ‚arbeitete‘ oder nicht, keine Rolle mehr. Sie waren kommentarlos verschwunden. So lässt sich über die Ursachen dieser Bereinigung im sozialdemokratischen Diskurshaushalt und über eine zeitliche Abfolge nur spekulieren: Erstens wird sich der Eindruck des Anachronismus, der dem sozialdemokratischen Bild vom ‚Geldsack‘ schon zu Beginn der 1870er Jahre anhaftete, mit fortschreitender Industrialisierung so weit verschärft haben, dass es schlichtweg mittlerweile als unzeitgemäß empfunden und erkannt wurde. Die politisch zudem in wachsendem Maße organisationsfähigen und damit auf der nationalen Bühne präsenten Unternehmer fällten ohne Zweifel Entscheidungen, die die gesamte Gesellschaft betrafen, und bei aller Krisenanfälligkeit der Konjunktur wuchsen ihre Unternehmen und expandierte die Industrie in Größenordnungen hinein, die too big to fail schienen. Diagnosen vom ‚Kapitalismus‘ als einem moribunden Wirtschaftssystem, das die Arbeit der wirklichen Produzenten erdrückte und sich am Rande des Kollapses befand, verloren zusehends an Plausibilität, und damit wankte das ganze handwerkliche Gesellschaftsbild, das die Sozialdemokratie seit der Revolution von 1848 so deutlich beherrscht hatte. Das Bild vom ‚Geldsack‘ war also unmöglich geworden. Zweitens hatte sich die deutsche Arbeiterbewegung, spätestens nachdem sie den zwölf Jahren des Sozialistengesetzes getrotzt und sich als stärker denn jemals zuvor auf parlamentarischer Bühne präsentiert hatte, als politische Kraft fest etabliert. Man verfügte über zum Teil besoldete Funktionärsapparate, und die Reichstagsabgeordneten waren, obwohl noch keine Diäten gezahlt wurden, Berufspolitiker. Auch der Legitimationsbedarf, warum Arbeiter zu einer spezifischen Organisation berechtigt und berufen waren, hatte so weit abgenommen, dass über die legitimen Formen von Arbeit und die Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft kaum noch öffentlich spekuliert wurde. Die gesellschaftliche Gegenseite hatte sich ebenfalls als politische Kraft eingerichtet und war von der Sozialdemokratie in die Phalanx weiterer politischer Gegner: Regierung, Militär, Klerus, aufgenommen worden, ohne dass es jetzt noch erforderlich schien, die ‚Kapitalisten‘ auch noch spezifisch zu verdammen. Die offene politische Feindschaft zu konkret benennbaren Personen und Personengruppen ersetzte quasi die moralische Distanzierung von einem abstrakten Sozialtypus. Das Bild vom ‚Geldsack‘ war damit verzichtbar geworden. Drittens schließlich machten sich die Expansion der Gewerkschaften und die Effekte ihrer betrieblichen Interessenvertretung nachhaltig bemerkbar. Die steil ansteigende Zahl von Tarifverträgen, vor allem in der mittelständischen Industrie Südwestdeutschlands, trug seit den 1890er Jahren dann wiederum dazu bei, den
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Unternehmer in einer gesellschaftlichen Funktion wahrzunehmen und zu adressieren, in der es auf seinen persönlichen Fleiß oder auf seine private Lebensführung nicht im Geringsten ankam: als Arbeitgeber.48 Der Übergang bzw. die Erweiterung der Bezeichnung ‚Arbeitgeber‘ vom Handwerksmeister auf den industriellen Unternehmer ist hierfür ein handfestes semantisches Indiz; allerdings lässt sich auch hier der Prozess nicht einmal grob eindeutig datieren. Man nahm die Unternehmer nun einerseits als Gegner im Arbeitskampf oder zunehmend als Vertragspartner in ihrer sozialen Funktion ernst und rückte sie andererseits als Ausübende betrieblicher Herrschaft in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Kritik. Das galt besonders dann, wenn sich, wie im Fall der westdeutschen Schwerindustrie, die Industriellen jeglichen Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern verweigerten. Der ‚Herr-im-Hause‘-Standpunkt machte aus dem sozialpolitischen Gegner der Gewerkschaften einen gesellschaftspolitischen Feind, der aber jetzt nicht mehr als fauler Prasser und Dieb am gesellschaftlichen Eigentum stilisiert wurde, sondern als ‚Schlotbaron‘, als unnahbarer Autokrat in seinem industriellen Reich, den man damit in die Nähe zu den reaktionären Junkern und den volksfeindlichen Chargen einer rückwärtsgewandten Erbmonarchie rückte.49 Das Bild vom ‚Geldsack‘ war damit durch das des autokratischen Unterdrückers der ‚eigentlichen Arbeiter‘ ersetzbar geworden.
48 Thomas Welskopp: Transatlantische Bande. Eine vergleichende Geschichte der Gewerkschaften in Deutschland und den USA im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ursula Bitzegeio/Anja Kruke/Meik Woyke (Hg.): Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik. Bonn 2009. S. 29–61. 49 Georg Eckert (Hg.): 1863–1963. Hundert Jahre deutsche Sozialdemokratie. Bilder und Dokumente. Hannover 1963. S. 172/173.
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Semantiken der Nicht-Arbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ‚Arbeitslosigkeit‘ und ‚chômage‘ im Vergleich
Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wurde am Ende des 19. Jahrhunderts aus ‚Arbeitslosigkeit‘ und chômage eine neue Kategorie des soziopolitischen Denkens und Handelns. Die Jahrhundertwende war eine Zeit der Bedeutungsverschiebung, als ‚Arbeitslosigkeit‘ aus den anderen sozialen Übeln herausgelöst wurde und chômage sich vom bäuerlichen Leben trennte, um ein Risiko der Industriearbeit zu werden. Der Ausgangspunkt für diesen Wandlungsprozess war im Deutschen das Adjektiv ‚arbeitslos‘, für das es weder im Wörterbuch der deutschen Sprache von J. H. Campe (1807) noch im Deutschen Wörterbuch von J. und W. Grimm (1854) oder in der ersten Ausgabe des Handwörterbuches der Staatswissenschaften (1890) ein Substantiv gab.1 Im Französischen dagegen war der Ausgangspunkt das Substantiv chômage, dessen adjektivierte Form damals kaum benutzt wurde. Die Komplementarität zwischen Adjektiv und Substantiv entstand erst, als Nicht-Arbeit um 1900 als politisches Problem neu wahrgenommen wurde. Dies geschah gleichzeitig in beiden Ländern. So setzt die semantische Untersuchung bei einer Reflexion über die Historizität jener Begriffe an und verknüpft sich mit einer Untersuchung der Umstände, Praktiken und Vorstellungen, die das Fehlen von Arbeit zum sozialen Problem machten.2 Um dieser Bedeutungsverschiebung in einer vergleichenden Perspektive näherzukommen, werde ich auf Debatten über die statistische Erfassung der Arbeitslosigkeit, die in beiden Ländern parallel liefen, zurückgreifen. Arbeitslosigkeit und chômage wurden in Deutschland und Frankreich zum ersten Mal am Ende des 19. Jahrhunderts in den nationalen Volkszählungen wahrgenommen: 1895 in Deutschland, 1896 in Frankreich. Um 1900 transformierten sich die Formen der Produktion von
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Eingang in das Handwörterbuch der Staatswissenschaften fand das Substantiv Arbeitslosigkeit im ersten Supplementband (1895), mit einem Artikel von Georg Adler. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1. Supplementband. Jena 1895. S. 117–139. Reinhart Koselleck: Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte. In: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Göttingen 1986. Bd. 1. S. 89–109.
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Wissen über Wirtschaft und Gesellschaft.3 Mit der Veränderung der Methoden und Gegenstände der Sozialwissenschaften entstanden neue Modi, die Spannungen in einer Gesellschaft zu formalisieren, die den Auswirkungen von Industrialisierung, Verstädterung und nationaler Einigung unterworfen war. Die Statistik wurde in dieser Situation zum bevorzugten Instrument, um semantische Einheiten mit noch unklaren Konturen in Kategorien des politischen Handelns zu übersetzen. Die statistischen Klassifizierungen sind zum einen durch die dominanten Vorstellungen und die Kriterien zur Definition von Arbeit und Nicht-Arbeit, zum anderen durch die ihnen zugeschriebene politische Bestimmung determiniert. Sie sind das Ergebnis einer nationalen Konfiguration, in der die Geschichtlichkeit der Denkkategorien sich mit dem verbindet, was mit den kategorialen Abgrenzungen unmittelbar auf dem soziopolitischen Spiel steht. Die Statistik spiegelt gesellschaftlich bedingte Kategorisierungsprinzipien wider, scheint ihnen historische Objektivität zu verleihen, schafft aber auch zugleich neue Prinzipien. Daher ist sie nicht nur eine Messtechnik, sie setzt auch einen Klassifizierungsprozess voraus, der konkrete Handlungsräume eingrenzt. Wenn sie Wörter verwendet, trägt die Statistik auch immer dazu bei, sie zu bestimmen, und dadurch prägt sie die Art und Weise, wie Menschen der Welt Sinn verleihen. Dieser Beitrag wird jedoch nicht so sehr die allgemeine Frage der Statistik als Instrument zur Realitätsbestimmung4 behandeln, sondern vielmehr einen engeren Aspekt untersuchen: nämlich wie Arbeitslosigkeit und chômage gleichzeitig in Deutschland und Frankreich zum ersten Mal in einer nationalen Volkszählung thematisiert und sprachlich gefasst wurden.5 Es geht darum zu zeigen, wie diese statistische Wahr3 4
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Johan Heilbron: The Rise of Social Theory. Oxford 1995; Björn Wittrock/Johan Heilbron/Lars Magnusson (Hg.): The Rise of the Social Sciences and the Formation of Modernity. Dordrecht 1997. Zu der vielfältigen Literatur zu dieser Frage u. a. Ulla Schaeffer: Historische Nationalökonomie und Sozialstatistik als Gesellschaftswissenschaft. Köln 1972; Theodor Porter: The Rise of Statistical Thinking. Princeton 1986; Alexander Keyssar: Out of Work. The First Century of Unemployment in Massachusetts. Cambridge Mass. 1986; Alain Desrosières: La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique. Paris 1993; Robert Salais/Nicolas Baverez/Bénédicte Reynaud: L’invention du chômage. Paris 1986; Adam Tooze: Statistics and the German State 1900–1945: The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001; Bénédicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie. Frankfurt a. M. 2006. Teile dieses Beitrages wurden schon veröffentlicht in Bénédicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit um die Jahrhundertwende: Zwei Formen der statistischen Konstruktion einer nationalen Kategorie. In: Peter Wagner/Claude Didry/Bénédicte Zimmermann (Hg.): Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive. Frankfurt a. M. 2000. S. 283–308.
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nehmung zugleich historisch bedingt war und wie sie den Grundstein legte für die Kategorisierung von Nicht-Arbeit, die durch ökonomische Gründe verursacht war. Mein Ziel besteht darin, die Besonderheiten der beiden nationalen Arbeitslosenstatistiken zu erhellen. Über die Untersuchung des Fragebogens hinaus ergeben sich viele Fragen, die der Arbeit eines Statistikers im engen Sinne vorausgehen. Diesen Fragen nachzugehen erlaubt es, dem semantischen Feld der Nicht-Arbeit als Arbeitslosigkeit und chômage und deren nationalen Besonderheiten näherzukommen. Aus dem Fragebogen lassen sich die Modi der statistischen Identifikation des Arbeitslosen, das heißt die Abgrenzungskriterien der Kategorie ‚Arbeitslosigkeit‘ bzw. chômage, herauslesen. Während in Frankreich diese Identifikation von der rechtlichen Stellung der Betroffenen ausging, wurde sie in Deutschland von ihrer wirtschaftlichen Lage geprägt.
1 Vom Begriff zu einer Kategorie der Sozialpolitik Die sozialstaatlichen Kategorien ‚Arbeitslosigkeit‘ und chômage wurden durch historische Themen der Begriffsbildung wie der Assoziation von Nicht-Arbeit mit der moralischen Vorstellung von Müßiggang in Deutschland oder mit dem Wetter in Frankreich ebenso geprägt wie durch solche, die für ihre Objektivierung als soziales Risiko um die Wende zum 20. Jahrhundert spezifisch waren. Sie verorten sich in einer langen Geschichte, die über diejenige ihrer bloßen Definition als Kategorie der Sozialpolitik weit hinausgeht. 1.1 Kontrastierte semantische Hintergründe
Deutschland: die Frage nach der Schuld des individuellen Arbeiters. Am Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutete ‚arbeitslos sein‘ arm und entwurzelt zu sein. Arbeitslos sein gehörte damals zu einem Komplex von sozialen Übeln, die als Gefahr für die öffentliche Sicherheit thematisiert wurden.6 Arbeitslos, besitzlos, heimatlos, nahrungslos, brotlos, beschäftigungslos, erwerbslos: Dies alles schienen austauschbare Begriffe zu sein. Mit einem von ihnen wurden immer auch die anderen evoziert, um das Bild des entwurzelten Landmanns ohne Brot, Heimat und Arbeit zu zeichnen. Die Gründe für die Nicht-Arbeit spielten hier keine Rolle; betont wurden lediglich das Fehlen eines Broterwerbs und die damit einhergehenden Konsequenzen. Die verbreitete Durchsetzung des Substantivs ‚Arbeitslosigkeit‘ als Kategorialbegriff am Ende des 6
Vgl. Carl Jantke/Dietrich Hilger (Hg.): Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur. Freiburg/München 1965.
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19. Jahrhunderts war das Zeichen einer Unterscheidung zwischen den Gründen der Nicht-Arbeit und einer Autonomisierung der Nicht-Arbeit aus wirtschaftlichen Gründen, die mit der ‚Arbeiterfrage‘ entstand. Die Herkunft aus dem semantischen Umfeld des Verbrechens und der öffentlichen Ordnung bestimmte in Deutschland eine moralische Prägung des Begriffs der Arbeitslosigkeit. Die Schuldfrage blieb immer wie ein Gespenst in ihrem Schatten; sie tauchte regelmäßig wieder auf, auch nachdem die Arbeitslosigkeit als soziales Risiko und Alternative zur selbstverschuldeten Nichtarbeit definiert worden war. Frankreich: Witterungsbedingte Nicht-Arbeit. In Frankreich entstand das Wort chômage aus einem semantischen Feld, das nicht von vornherein negativ geprägt war. Das Substantiv chômage gab es, lange bevor es die besondere Bedeutung von Nicht-Arbeit aus wirtschaftlichen Gründen annahm. Es ist vom Verb chômer aus dem Lateinischen caumare abgeleitet, das im 13. Jahrhundert ‚sich ausruhen während der Hitze‘7 bedeutete. Während das Heu in der Hitze trocknete (les chaumes), war der Bauer gezwungen, nicht zu arbeiten und sich auszuruhen. Als das Wort im 19. Jahrhundert von der Lebenswelt der Bauern in diejenige der Industriearbeiter wanderte, nahm es den allgemeinen Sinn von ‚erzwungener Nicht-Arbeit‘ an, jedoch hatte sich die Natur der Zwänge geändert. Die nationalen Unterschiede in der historischen Herkunft der Wörter bedingten am Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedliche semantische Grundlagen für die Konstitution der Arbeitslosigkeit als Kategorie des Sozialstaates: Auf der französischen Seite war der Begriff mit der allgemeinen Bedeutung von ‚erzwungener Nicht-Arbeit‘ verknüpft, auf der deutschen mit einer Semantik der moralischen Verfehlung und der Schuldfrage. Deutsch-französische begriffliche Annäherung im späten 19. Jahrhundert. Am Ende des 19. Jahrhunderts herrschte jedoch eine deutsch-französische Übereinstimmung über die Bedeutung der Begriffe ‚Arbeitslosigkeit‘ und chômage. Beide waren zu dieser Zeit zu Bezeichnungen für inactivité oder Erwerbslosigkeit wegen unfreiwilligem Mangel an Arbeitsgelegenheit geworden. Über diese allgemeine Definition gab es einen weitreichenden Konsens innerhalb der beiden Länder. Aber die Kontroversen entstanden, sobald es um eine genauere, praxisorientierte und sozialpolitisch verfügbare Definition ging. Diese Feststellung ist von besonderer Bedeutung für den Vergleich. Solange man sich nämlich auf der Ebene des Begriffes bewegt, treten die Ähnlichkeiten hervor, sobald man aber die Analyse auf die Ebene der praxisorientierten Kategorien der Sozialpolitik verschiebt, ergeben sich beachtenswerte Unterschiede. Auf dem Spiel stand tatsächlich in beiden Ländern die Umwandlung spezifischer Formen der Nicht-Arbeit in eine Kategorie der Sozialpolitik. Und dafür waren genaue Identifizierungskriterien erforderlich. 7
Le Robert. Dictionnaire étymologique du français. Paris 1992. S. 99.
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1.2 Was unterscheidet den Begriff von einer Kategorie der Praxis?
Die „soziale Arbeitslosigkeit“ kommt dann auf, so Werner Sombart im Jahr 1912, „wenn der Arbeiter arbeiten will, von sich aus auch arbeiten kann, trotzdem keine Arbeit findet, weil keine Nachfrage nach seiner Arbeitskraft vorhanden ist“.8 Dies war eine weithin geteilte Definition,9 die aber zu allgemein war, um darauf eine Kategorie des öffentlichen Handelns zu gründen. Man musste auch in der Lage sein, die Personen zu identifizieren, die in dieser spezifischen Lage waren. Wie sollte man sich vom Arbeitswillen des Arbeiters überzeugen und von seiner Unschuld im Entlassungsfall? Musste man „Arbeitskraft“ im weitesten Sinne verstehen oder nach beruflichen Fachgebieten? Sollte der Arbeitsmarkt als lokal begrenzter oder als viel weiterer Raum begriffen werden? All diese Fragen kamen auf, als es darum ging, vom allgemeinen Begriff zu einer operativen Kategorie der sozialen Intervention zu gelangen. Für heuristische Zwecke lohnt es sich deshalb, den Begriff von der Kategorie zu unterscheiden, wie es Albert Ogien vorschlägt. Für Ogien bestimmt „der Begriff eine Liste empirischer Elemente, die, in verschiedenen Zusammensetzungen, das Spektrum der Bedeutungen bilden, die man einem Wort geben kann“. Die Kategorie dagegen verweist auf „eine Abfolge kognitiver Vorgänge, die die Beziehungen herbeiführen, die die verschiedenen Arten des Wissens formen“.10 Sie bezieht sich auf die konkreten Kriterien, die die individuelle Einreihung oder Zuordnung zum Begriff bestimmen. Laut dieser Definition verfeinert die Kategorie den Begriff. Die Geschichte der Konstitution der Arbeitslosigkeit zeigt, dass diese beiden Aktivitäten – die Definition der geforderten Eigenschaften und ihr In-BeziehungSetzen – aufs Engste zusammenhängen. Die konstitutiven Bestandteile des Begriffs sind nicht von den Regeln zu trennen, die ihre Zuordnung bestimmen und umgekehrt. Die allgemeinen Prinzipien, auf die sich der Konsens über den Begriff Arbeitslosigkeit gründete, verblassten in der Suche nach konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit letztlich hinter der Notwendigkeit, präzise Kriterien zur Bestimmung des Arbeitslosen zu entwickeln. Diese Kriterien, die sich je nach den beabsichtigten Maßnahmen unterschieden, wurden bei der Entwicklung konkreter Projekte immer feiner. So waren in Deutschland für fortschrittliche Liberale wie Brentano oder Buschmann, die den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in die Arbeiterorganisationen verlegen wollten, der Beruf und die verschiedenen Faktoren, die dazu beitrugen, eine berufliche Position zu bestimmen, die entscheidenden Kriterien zur Identifikation 8 Werner Sombart: Die gewerbliche Arbeiterfrage. Berlin 1912. S. 122. 9 Siehe Zimmermann: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 4). S. 41 f. 10 Albert Ogien: Les propriétés sociologiques du concept. In: Bernard Fradin/Louis Quéré/Jean Widmer (Hg.): L’enquête sur les catégories. De Durkheim à Sacks. Paris 1994. S. 243–269, hier: S. 245 f.
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des Arbeitslosen. Echte Arbeitslosigkeit war die von „Menschen, welche sich durch ihre Arbeit ernähren müssen, aber trotz disponibler Arbeitskraft und vorhandener Arbeitslust wegen nicht vorhandener Arbeitsgelegenheit keine ihren Gewohnheiten, Fähigkeiten und üblichem Lohnanspruch entsprechende Beschäftigung finden können“, schrieb Buschmann 1897.11 Andere Autoren waren gegen diese Betonung des Berufs und des Lohns, in der sie nicht nur eine verwerfliche Vermengung von Nicht-Arbeit aus wirtschaftlichen Gründen und solcher, die aus Arbeitskämpfen resultierte, sahen, sondern auch einen inakzeptablen Ausschluss von ungelernten und gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitern.12 Von der Analyse eines Begriffs zu der einer operativen Kategorie der politischen Reform zu wechseln heißt von der Semantik zu einer Pragmatik der Anwendung des Begriffes in konkreten Handlungssituationen überzugehen. Der Zugang über den Prozess der Kategoriebildung erlaubt es, die Kategorie ‚Arbeitslosigkeit‘ als Ergebnis sozialer Aktivitäten, in denen kognitive, normative und praktische Dimensionen zusammenfließen, zu betrachten. Die Vielfalt dieser Aktivitäten, die aus spezifischen Situationen resultiert, veranschaulicht den Interpretations- und Anpassungsspielraum, den ein Begriff mit sich trägt. 1.3 Ein Feld umstrittener Fragen
Die Kategorienbildung öffnete ein Feld strittiger Fragen. Zunächst: Wie sollte man Arbeit erfassen und begrenzen? Wie sollte man ‚Arbeitsmangel‘ verstehen? Wie viele Stunden konnte jemand arbeiten am Tag, in der Woche, im Monat oder im Jahr, wenn es um Saisonarbeit ging, um noch oder nicht mehr zu den Arbeitslosen zu zählen? Was hieß ‚unfreiwillig‘? Sollte man Krankheit oder Streik zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit zählen? All diese Fragen und noch viele andere öffneten ein breites Feld von Auseinandersetzungen in Frankreich wie in Deutschland. Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich wider in den Vorbereitungsdebatten der deutschen und französischen Volkszählungen von 1895 und 1896. Die Kompromisse und Lösungen, die damals erreicht wurden, sind seitdem in beiden Ländern immer wieder in Frage gestellt worden, nicht zuletzt seit dem Anfang der 2000er Jahre. Trotzdem ist aber das Moment der 1890er Jahre von besonderer Bedeutung, sowohl für den deutschfranzösischen Vergleich als auch für das Verständnis der gegenwärtigen Erosion dieser Kategorie der Sozialpolitik.
11 Claus Buschmann: Die Arbeitslosigkeit und die Berufsorganisationen. Ein Beitrag zur Lösung der Arbeitslosen-Frage. Berlin 1897. S. 6. 12 Paul Berndt: Die Arbeitslosigkeit, ihre Bekämpfung und Statistik. Berlin 1899. S. 44.
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2 Nationale Unterschiede in der kategorialen Abgrenzung Betrachtet man die Fragebögen und die jeweiligen Formulierungen, so scheinen relativ ähnliche Kriterien vorgelegen zu haben, um in Frankreich und Deutschland die Arbeitslosen zu beschreiben. Die Aussagen darüber, was unter der Ausübung einer Arbeit, unter dem Status des Arbeitnehmers und dem Grund für die Arbeitsniederlegung zu verstehen sei, glichen sich. Nach diesen Aussagen wurden als Arbeitslose die entlohnten Arbeitnehmer betrachtet, deren Arbeitsverhältnis vorübergehend, nicht jedoch wegen Krankheit oder Invalidität, aufgehoben wurde. Sobald man sich jedoch mit der konkreten Anwendung dieser auf den ersten Blick gleichen Terminologie beschäftigt, stößt man auf bedeutende nationale Besonderheiten, die sich in der statistischen Aufnahme widerspiegeln. Der französische Fragebogen der Volkszählung von 1896 (Auszug)13 Wenn Sie unter Leitung oder im Dienste eines anderen als Ingenieur, Angestellter, Arbeiter, Tagelöhner, Dienstbote, Lehrling, Hausangestellter etc. arbeiten (s. Anmerkung auf der Rückseite) a) Name und Anschrift des Arbeitgebers oder des Unternehmens, bei dem Sie angestellt sind b) Art des Berufs, des Gewerbes, des Geschäfts Ihres Arbeitgebers c) Wenn Sie keinen Arbeitsplatz oder keine Beschäftigung haben, dann aus folgendem Grund … – Krankheit oder Invalidität – regelmäßige saisonale Arbeitslosigkeit – weitere Gründe für zufällig fehlende Arbeit? d) Seit wie viel Tagen haben Sie keine Arbeit? Der deutsche Fragebogen der Volkszählung von 1895 (Auszug)14 Für männliche und weibliche Arbeiter, Dienstboten, Gesellen und sonstige Arbeitnehmer, auch für Hausindustrielle und Heimarbeiter, mit Ausschluß der dauernd völlig Erwerbsunfähigen. 13 „Si vous travaillez sous la direction ou au service d’autrui comme ingénieur, employé, ouvrier, journalier, garçon, apprenti, domestique, etc. (voir la note au dos): a) Nom et adresse du patron ou de l’entreprise qui vous emploie; b) Nature de la profession, de l’industrie, du commerce de votre patron; c) Si vous êtes sans place ou sans emploi estce pour cause de […] maladie ou invalidité, morte-saison régulière, manque accidentel d’ouvrage ?; d) Depuis combien de jours êtes-vous sans place ?“. Nach der Abbildung eines individuellen Erfassungsbogens aus der Volkszählung in Salais/Baverez/Reynaud: L’invention (wie Anm. 4). S. 33. 14 Nach dem Formular zur Volksbefragung in: Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 5, 1896. S. I.9–I.12.
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15. Ob gegenwärtig in Arbeit (in Stellung)? Ja oder Nein? 16. Wenn nein, seit wieviel Tagen außer Arbeit (Stellung)? 17. Ob außer Arbeit (Stellung) wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit? Ja oder Nein? Zu Spalte 15. Diese Frage ist für jede männliche und weibliche Person zu beantworten, die (…) mit einem Hauptberuf und in diesem als Arbeitnehmer – nämlich als Arbeiter und Tagelöhner in einem bestimmten Gewerbezweig oder wechselndem Erwerbszweig, als Geselle, Gehülfe oder Dienstbote oder als Angestellter irgend einer Art eingetragen ist. Kein Eintrag ist zu machen: – für Ehefrauen ohne eigenen Hauptberuf, – für Zivil- und Militärpersonen, welche aus Reichs-, Staats- oder Kommunalkassen Pension beziehen und für Witwen von solchen, – für Empfänger von Unfallrente, sofern diese wegen dauernder völliger Erwerbsunfähigkeit gewährt wird. In Arbeit und Stellung sind alle in Lohn und Arbeit Beschäftigten, solange das Lohnverhältnis dauert. Zu Spalte 17. Hier ist insbesondere bei Beschäftigungslosigkeit in Folge von Krankheit mit Ja zu antworten.
Der französische Fragebogen verwendete verschiedene Kriterien, um die Zugehörigkeit zur Kategorie Arbeitslosigkeit zu erfassen. Insbesondere der Begriff Arbeitnehmerschaft (salariat), dessen rechtliche und statistische Kodifizierung in jedem Land unterschiedlich war, führte – jenseits einer scheinbaren terminologischen Übereinstimmung – zu spezifischen kategorialen Abgrenzungen. Wenn die Begriffe salariat und Arbeitnehmerschaft auf beiden Seiten des Rheins auch den sozialen Raum der abhängigen Arbeit bezeichneten, so meinte doch Abhängigkeit nicht das Gleiche. Während Abhängigkeit in Deutschland eine wirtschaftliche Dimension implizierte, wurde sie in Frankreich unter ihrem rechtlichen Aspekt betrachtet und auf die physische Bindung bezogen, die eine Person zu einem Betrieb hatte.15 In diesem Fall wurde Arbeitnehmerschaft mit einem rechtlichen Unterordnungsverhältnis 15 Der juristische Begriff ‚Betrieb‘ (établissement) wird in einem Ministerialrunderlass vom Februar 1896 definiert, in dem es heißt: „Von einem Betrieb ist immer dann zu sprechen, wenn zwei oder mehrere Personen sich treffen, um regelmäßig an einem bestimmten Ort unter der Leitung eines oder mehrerer Vertreter einer Firma zusammenzuarbeiten.“ Zit. nach: Bénédicte Reynaud: L’émergence de la catégorie de chô-
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unter den Arbeitgeber assoziiert, das Ende des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Definition des Arbeitsvertrages stand.16 2.1 Frankreich: Juristische Kriterien
Auf dem Formular für die französische Volkszählung war die Abhängigkeit von einem Betrieb in der Frage selbst enthalten: „Unterstehen Sie der Leitung eines anderen oder stehen Sie im Dienst eines anderen?“ War die Antwort positiv und wurden Name und Anschrift des Arbeitgebers angegeben, so ließ sich daraus die Position des Arbeitnehmers rekonstruieren, während eine negative Antwort auf die Kategorie ‚Betriebsleiter‘ verwies. Was sollte aber ein Heimarbeiter antworten, der wirtschaftlich von dem Betrieb abhing, der ihm Arbeit gab, der diese Arbeit aber in eigener Regie und unabhängig ausführte? Für den Statistiker gehörten die Heimarbeiter und die Personen, die nach eigenen Angaben nicht unter der Leitung eines anderen arbeiteten (jedoch niemanden für sich arbeiten ließen), zur gleichen Kategorie wie Betriebsleiter. Damit standen sie im Gegensatz zur Gruppe der abhängigen Arbeitnehmer, bei denen zwischen Arbeitnehmern mit unregelmäßiger Beschäftigung (Personen, die angegeben hatten, in der Regel für mehrere Arbeitgeber zu arbeiten) und Angestellten und Arbeitern (Personen, die in der Regel für einen einzigen Betrieb arbeiteten) unterschieden wurde. Darin bestand eine erste Sortierungsoperation. Diese Unterteilung der Erwerbspersonen in zwei Kategorien wurde zu einem dreiteiligen Klassifizierungsschema erweitert und verfeinert: ‚Betriebsinhaber‘ (patrons), ‚Alleinstehende‘ (isolés), wozu Heimarbeiter oder Inhaber kleiner Betriebe und Arbeitnehmer mit unregelmäßiger Arbeit gehörten, und schließlich ‚Angestellte und Arbeiter‘ (employés et ouvriers). In der letzten Gruppe ließen sich die ‚Arbeitslosen‘ (Personen, die angaben, in der Regel in einem Betrieb zu arbeiten, auf dem individuellen Erfassungsbogen jedoch weder Name noch Anschrift ihres Arbeitgebers genannt hatten) erkennen, während bei den atypischen Formen der unter der Bezeichnung ‚Alleinstehende‘ zusammengefassten abhängigen Arbeit nicht davon ausgegangen wurde, dass sie zur Arbeitslosigkeit führen konnten. Heimarbeiter ohne Auftrag waren folglich von der Kategorie ‚Arbeitslose‘ ebenso ausgeschlossen wie Arbeitnehmer mit unregelmäßiger oder unterschiedlicher Arbeit, auch wenn sie keine Beschäftigung hatten. Die gewöhnliche Ausübung einer regelmäßigen Arbeit an einem festen Arbeitsmeur à la fin du XIXe siècle. In: Économie et statistique, 165, 1984. S. 53–63, hier: S. 57 (meine Übersetzung). 16 Zur juristischen Definition von Arbeitsvertrag und Arbeitnehmerschaft im Hinblick auf die Unterordnung des Arbeitnehmers und die Verantwortung des Arbeitgebers siehe Salais/Baverez/Reynaud: L’invention (wie Anm. 4). S. 65 f.
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platz bei einem anderen bildete also das entscheidende Kriterium, um diejenigen zu identifizieren, die als Arbeitslose galten. Von Arbeitslosigkeit ging man von nun an dann aus, wenn „Arbeitnehmer, die in der Regel an einem festen Arbeitsplatz bei einem anderen tätig sind, keinen Arbeitsvertrag haben“.17 Das rechtliche Konzept des Arbeitsvertrages war hier zentral. 2.2 Deutschland: Wirtschaftliche Kriterien
In Deutschland dagegen waren die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Abhängigkeit die maßgeblichen Kriterien für die statistische Erfassung der Arbeitnehmerschaft. Die deutsche Definition des Arbeitslosen begnügte sich damit, die Arbeitslosigkeit aller Arbeitnehmer festzuhalten, ohne zwischen Arbeitern mit oder ohne festem Arbeitsplatz oder Heimarbeitern zu unterscheiden. So zählten zu der betreffenden Bevölkerungsschicht sowohl Heimarbeiter als auch Arbeitnehmer mit unregelmäßiger oder unterschiedlicher Arbeit. Dieser Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland lässt nicht auf eine geringere rechtliche Kodifizierung des Arbeitsverhältnisses in Deutschland schließen. Die rechtliche Kodifizierung des Arbeitsverhältnisses basierte ebenso wie in Frankreich auf der Vorstellung, dass eine physische Bindung zum Betrieb bestand. Lediglich der Vertrag von Arbeitnehmern, die ihre Arbeit in einer Werkstatt und folglich unter der Leitung eines Arbeitgebers ausführten, wurde im Abschnitt VII der Gewerbeordnung geregelt.18 Geht man vom Kriterium einer physischen Bindung zum Betrieb aus, so war der Vertrag des Heimarbeiters theoretisch „kein gewerblicher Arbeitsvertrag“, wie er vom Gesetz definiert wurde; in der Praxis wurde er jedoch „wie ein Annex betrachtet“19. Ebenso wie in Frankreich wurde in Deutschland bei der rechtlichen Kodifizierung des Arbeitnehmerverhältnisses das Kriterium der physischen Bindung zum Betrieb zwar gesehen, bei der sozialen und statistischen Klassifizierung der Arbeit jedoch kaum beachtet. Nicht so sehr der Rechtsbegriff der Abhängigkeit, sondern vielmehr die wirtschaftliche Dimension dieser Abhängigkeit diente im Sinne einer bipolaren Unterteilung als Klassifikationskriterium; entsprechend einer im Bürger17 Entsprechend der von Max Lazard vorgeschlagenen Definition: „absence de contrat de travail des salariés travaillant habituellement à poste fixe chez autrui“. Max Lazard: Le chômage et la profession, Paris 1909. S. 189 (meine Übersetzung). 18 „Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Angestellte des Unternehmens, Meister, Techniker und Fabrikarbeiter“. Lediglich diese Arbeiter fallen in die Kategorie „gewerblicher Arbeitsvertrag“ im Sinne der Gewerbeordnung. Philipp Lotmar: Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reichs. Leipzig 1902. Bd. 1. S. 308. 19 Lotmar: Arbeitsvertrag (wie Anm. 18), Bd. 1. S. 1, 311 u. 314.
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lichen Gesetzbuch verankerten generischen Unterscheidung wurde lediglich die Gruppe der Arbeitgeber von der Gruppe der Arbeitnehmer getrennt. Während in Frankreich die juristischen Kriterien bei der statistischen Erfassung der Arbeitslosigkeit unbestreitbar strukturierend wirkten, war das zur Beurteilung der Arbeitslosigkeit bei der deutschen Volkszählung angewendete Verfahren wesentlich durch wirtschaftliche und soziale Vorstellungen von abhängiger Arbeit geprägt. Auch wenn der deutsche Statistiker über die gleichen juristischen Quellen zur Spezifizierung der Kategorie Arbeitslosigkeit verfügte wie sein französischer Amtskollege, so nutzte er diese nicht, sondern wählte ein breiteres Definitionsspektrum. Welche Faktoren waren ausschlaggebend dafür, dass unter allen dem Statistiker zur Verfügung stehenden Klassifizierungsmöglichkeiten gerade ganz bestimmte ausgewählt werden? Die diesen Erhebungen zugeschriebene politische Bedeutung beeinflusste zweifellos die Auswahlkriterien, die außerdem noch durch die Art der sozialen Objektivierung von Arbeitslosigkeit bedingt waren, die in jedem der beiden Länder vorherrschte. Das von den deutschen Statistikern gewählte Kriterium der wirtschaftlichen Abhängigkeit muss im Zusammenhang mit der sozialen Frage gesehen werden, die von den deutschen Sozialreformern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Eigentumslosigkeit diskutiert worden war.20 In der Nachfolge von Marx und Engels hatten Letztere versucht, Arbeitslosigkeit auf die fehlende Existenzgrundlage von Personen zu beziehen, die in ökonomischer Abhängigkeit einzig und allein von der Frucht ihrer Arbeit leben mussten und diese Arbeit gegen ihren eigenen Willen nicht mehr ausüben konnten.21 Gestützt durch eine um Eigentumslosigkeit zentrierte Rhetorik war die deutsche Definition der Arbeitslosigkeit in der Nachfolge der marxistischen Kritik der abhängigen Arbeit und der daraus resultierenden ökonomischen Abhängigkeit angesiedelt. Arbeitslosigkeit wurde demzufolge mit einer besonderen Form von Eigentumslosigkeit assoziiert, die in einer „Wirtschaftsverfassung, die auf den Abschlüssen von Arbeitsverträgen beruht“, zur Jahrhundertwende dazu tendierte, dominant zu werden. „Wir sagen Arbeitslosigkeit; wir meinen Nahrungslosigkeit“, betonte der liberale Reformer Ignaz Jastrow.22 Der Begriff ‚Arbeitslosigkeit‘, der sich aus der Stammform Arbeit und dem Verneinungssuffix -losigkeit zusammensetzt, evoziert allein schon durch seine Etymologie die Vorstellung von Eigentumslosigkeit und Ausschluss. Es handelt sich also um eine Definition ex negativo. Eigentumslosigkeit beinhaltet, dass einerseits die materiellen 20 Jantke/Hilger: Die Eigentumslosen (wie Anm. 6). 21 Nach der von Friedrich Engels vorgeschlagenen Definition. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 2. Berlin 1969. S. 544. 22 Ignaz Jastrow: Arbeitslosenversicherung. In: Schriften der Gesellschaft zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit 6, Berlin 1920. S. 49.
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Beziehungen zum Arbeitgeber gelöst werden und andererseits der Arbeiter sich nicht mehr mit dem Arbeitskollektiv identifizieren kann; sie fügt sich also in die Thematik der Auflösung der sozialen Bindung und ihrer unerlässlichen Erneuerung ein, die die deutschen Reformer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so stark beschäftigte. Die Bedürftigkeit und Eigentumslosigkeit des arbeitslosen Arbeiters, die Marx und Engels fünfzig Jahre früher stigmatisiert hatten, standen in den 1890er Jahren im Mittelpunkt des Formalisierungsprozesses der Arbeitslosigkeit und fielen mit Begriffen wie ‚abhängige Arbeit‘ und ‚Nahrungsgrundlage‘ in die Kategorie staatlicher Intervention. Diese historische Prägnanz der ökonomischen Abhängigkeit bei der Beurteilung von bezahlter Arbeit war für den Statistiker die Grundlage des Klassifikationsverfahrens. So war in Deutschland das Verständnis vom Arbeitslosen nicht so stark durch die juristische Seite der Auflösung des Arbeitsverhältnisses als Beendigung der physischen Bindung zu einem Betrieb, sondern vielmehr durch die sozialen Implikationen der Unterbrechung des Lohnverhältnisses als Ausdruck des Verlustes der Nahrungsgrundlage geprägt. Insgesamt ging das verwendete Kriterium nicht so sehr von dem im Arbeitsvertrag vereinbarten rechtlichen Unterordnungsverhältnis aus, sondern vielmehr von dem durch die wirtschaftliche Abhängigkeit entstandenen Lohnverhältnis. Nach diesem Kriterium waren Personen mit Kurzarbeit aus dieser Kategorie ausgeschlossen; Personen, die jedoch vorübergehend keinen Lohn erhielten, aber noch zur Belegschaft des Betriebs gehören wie Streikende, waren darin enthalten.
3 Erwerbslos, beschäftigungslos oder arbeitslos? Nicht alle Erwerbslosen oder Beschäftigungslosen wurden jedoch als Arbeitslose bezeichnet. Auch wenn die regelmäßige Ausübung einer entlohnten Arbeit das erste Auswahlkriterium war: Ausschlaggebend waren die Gründe für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. 3.1 Differenzierungskriterien
Die deutsche Volkszählung unterschied bei den Gründen für die Arbeitseinstellung zwischen „vorübergehender Arbeitsunfähigkeit“ und „anderen Gründen“,23 während die französische Erhebung zwischen drei Gründen differenzierte: persönliche Vertragsauflösung aus Krankheitsgründen, durch regelmäßige saisonale Arbeitslosigkeit 23 Siehe oben den Auszug aus der Volksbefragung von 1895. Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. 5, 1896. S. I.9–I.12.
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verursachte „normale“ Arbeitslosigkeit und „anormale“, durch zufällig fehlende Beschäftigung verursachte Arbeitslosigkeit.24 So bildeten die zwei letzteren Subkategorien die französische Kategorie chômage; dagegen waren es in Deutschland die Beschäftigungslosen, die nicht wegen „vorübergehender Arbeitsunfähigkeit“ ohne Arbeit waren, die in die Kategorie Arbeitslosigkeit fielen. Die Erfassung der Arbeitslosigkeit und des chômage blieb aber durch eine derartige Abgrenzung noch schwimmend und unpräzis.25 Die deutsche Volkszählung war nicht in der Lage, außer dem Krankheitsfall noch andere Gründe der Nicht-Arbeit zu identifizieren wie etwa Streik oder Arbeitseinstellung auf eigenen Wunsch. Alle diese unterschiedlich bedingten Arten der Nicht-Arbeit waren in der deutschen Kategorie Arbeitslosigkeit enthalten. Deshalb benutzten die deutschen Statistiker bei der Veröffentlichung der wichtigsten Ergebnisse eher die breitere Kategorie der „Beschäftigungslosigkeit“, insbesondere bei der Aufteilung nach Alter, Familienstand und der geographischen Herkunft der Personen.26 Um die Kategorie ‚Arbeitslose‘ genauer zu definieren, wurden in Frankreich 1896 Korrektive eingeführt, die sich vor allem auf die Antworten zur Dauer der Arbeitseinstellung und zum Alter der Erklärenden bezogen. Gemäß diesen Korrektiven wurden Personen nicht mitgezählt, die die Dauer ihrer Arbeitseinstellung nicht angegeben hatten; zudem wurden die über 65-Jährigen und Personen, die über ein Jahr arbeitslos waren, gesondert aufgelistet.27 Auf der Grundlage dieser beiden Kriterien – der Altersbegrenzung (65 Jahre) und einer Maximaldauer der Arbeitsniederlegung (1 Jahr) – wurde die Zahl der Arbeitslosen korrigiert, die dann etwa 10 Prozent unterhalb des ursprünglichen Ergebnisses von 270.000 „Angestellten und Arbeitern ohne Beschäftigung“ (employés et ouvriers sans emploi) lag.
24 Nach dem Unterschied zwischen „normaler“ und „anormaler“ Arbeitslosigkeit, den A. Keufer machte. Salais/Baverez/Reynaud: L’invention (wie Anm. 4). S. 45 f. 25 Entsprechend der Kritik von Georg Schanz: Die neuen statistischen Erhebungen über Arbeitslosigkeit in Deutschland. In: Archiv für Sozialgesetzgebung und Statistik, 10, 1897. S. 325–378. 26 Lediglich bei der Dauer der Arbeitseinstellung und bei der Berufsangabe wird der Begriff „Arbeitslose“ verwendet, sonst handelt es sich stets um „Beschäftigungslose“. Nach der Darstellung der Ergebnisse in Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 5, 1896. 27 Christian Topalov: Naissance du chômeur 1880–1910. Paris 1994. S. 329; Bénédicte Reynaud: L’émergence de la catégorie de chômeur à la fin du XIXe siècle. In: Économie et statistique, 165, 1984. S. 53–63, hier: S. 58 f.
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3.2 Verschiedenartige politische Ziele der statistischen Erhebung
Während die bei der kategorialen Abgrenzung entstandenen Unbestimmtheiten in Frankreich zum Anlass für Anpassungen genommen wurden, die eine präzisere Erhebung der Arbeitslosen erreichen sollten, wurden diese Unbestimmtheiten in Deutschland zur Herstellung eines Regierungsdiskurses genutzt, der sozialen Frieden schaffen sollte, indem die erhaltenen Maximalzahlen als gesicherte Höchstwerte angesehen wurden. Die Arbeitslosenzählung von 1895 gehörte in den Kontext des „Neuen Kurses“ im Kaiserreich nach Otto von Bismarcks Abschied und Hans von Berlepschs Berufung an die Spitze des preußischen Handelsministeriums.28 Von Berlepsch, gemäßigter Konservativer, der für seine reformerischen Anwandlungen bekannt war, hatte die Gründung der Kommission für Arbeiterstatistik im Jahr 1892 initiiert, um zusätzliche Informationen und Argumente für die Durchführung der Regierungspolitik zu gewinnen. Allerdings war die Politik der Kanzler von Caprivi (1890–94) und von Hohenlohe (1894–1900) im Bereich Arbeitslosigkeit durch eine starke nichtinterventionistische Position geprägt. So wurde die Verantwortung für die Lösung dieses Problems im Namen der Subsidiarität den Gemeinden und Ländern überlassen – entgegen der SPD-Forderung nach nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.29 Wenn die Abweichung zwischen dem der Arbeitslosenstatistik von 1895 zugeschriebenen Ziel: der Veranschlagung der „Zahl der arbeitsfähigen und -willigen Arbeiter, die auf Grund der wirtschaftlichen Konjunktur keine Beschäftigung haben“30, und der tatsächlich in dieser Kategorie registrierten Personenzahl auch enorm zu sein schien, so trösteten sich die Statistiker des Reichs und der Bundesstaaten mit der Gewissheit, die Arbeitslosigkeit im weitest möglichen Sinne erfasst zu haben. Die Ergebnisse (1,89 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung waren im Juni 1895 beschäftigungslos; 4,88 Prozent im Dezember 189531), die ihrer Ansicht nach viel höher lagen als die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen, gaben dennoch keinen Anlass zur Besorgnis und lieferten der Regierung eine wissenschaftlich gestützte Rechtfertigung, nichts gegen die Arbeitslosigkeit zu unternehmen. Trägt man der Genese und der politischen Bestimmung dieser Statistiken Rechnung, so werden die bei beiden Volkszählungen verwendeten Klassifizierungskriterien besser verständlich. Die deutsche Erhebung, die eher dazu bestimmt war, das strittige Ausmaß eines Phänomens zu evaluieren als die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen festzustellen, und die beweisen sollte, dass der Staat bei Arbeitslosigkeit nicht zu inter28 Hans-Jörg von Berlepsch: „Neuer Kurs“ im Kaiserreich? Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896. Bonn 1987. 29 Vgl. Zimmermann: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 4). Kap. 2 und 3. 30 Statistik des Deutschen Reichs, 134, 1899. S. 245. 31 Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 5, 1896. S. 11.
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venieren brauchte, führte allein schon von ihrem Anspruch her zur Entstehung relativ dehnbarer Kategorien. Deshalb basierten das Auswahlkriterium der wirtschaftlichen Abhängigkeit und die relativ weitläufige Kennzeichnung des Arbeitslosen als in der Regel bezahlter Arbeitnehmer, der nicht wegen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit, sondern aus anderen Gründen keine Arbeit hatte, auf dem spezifischen dieser Statistik zugeschriebenen Zweck. Im Gegensatz zu Frankreich ging es nicht um die Ermittlung der Anzahl von Personen, die möglicherweise staatlicher Hilfe bedürften, sondern um die Beweisführung, dass eine solche Hilfe unnötig sei. Das wurde durch relativ weite Definitionskriterien, die wegen ihrer maximalen Ausdehnung eine gewisse Alibifunktion besaßen, gewährleistet.
4 Nationale Triebkräfte einer statistischen Feinkategorisierung Entsprechend der „Zirkularität von Wissen und Handeln“,32 die jede Statistik prägt, leisten sowohl die politischen Motivationen der Maßnahme als auch die juristischen oder kognitiven Grundlagen ihrer Anordnung einen Beitrag zur Erstellung der Klassifikationskriterien. In dieser Dialektik zwischen Wissenschaft und Politik, die die spezifischen historischen Umstände des jeweiligen Landes widerspiegelt, entstehen gesellschaftliche Konventionen der Gleichsetzung, auf die sich das Verfahren der statistischen Aggregation stützt und kraft derer sehr unterschiedliche Personen einer selben Kategorie zugeordnet werden können. 4.1 Frankreich: Gewerkschaftliche Mitwirkung
In Frankreich wurde die Frage nach der Arbeitslosigkeit in die Volkszählung aufgrund der Forderung des Gewerkschaftlers Auguste Keufer aufgenommen. Er hatte sich als Mitglied des Conseil supérieur du travail im Arbeitsministerium für ein stärkeres staatliches Engagement für die Durchführung öffentlicher Arbeiten eingesetzt. Der Conseil supérieur du travail war im Jahr 1891 zusammen mit dem Office du travail als ein dreigliedriges, durch Arbeiter-, Arbeitgeber- und Staatsvertreter besetztes Gremium der Dritten Republik gegründet worden. Nach der großen wirtschaftlichen Depression der 1880 Jahre sollte sein Ziel darin bestehen, die Arbeitswelt zu untersuchen und dazu beizutragen, neue soziale Beziehungen durch politische Reformen zu schaffen.33 Im Gegensatz zu Deutschland beruhte die statistische Erhebung der Arbeitslosenzahlen
32 Desrosières: La politique des grands nombres (wie Anm. 4). Paris 1993. S. 301. 33 Siehe Jean Luciani (Hg.): Histoire de l’Office du travail (1890–1914). Paris 1992.
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mithin auf einer positiven Einstellung gegenüber staatlicher Intervention.34 Es ging nicht nur darum, ganz allgemein die Zahl der Arbeitslosen festzustellen, sondern auch diejenigen zu erfassen, die möglicherweise staatlicher Hilfe bedürften: ein Ziel, das zahlreichere und präzisere Identifikationskriterien erforderte. Die von Auguste Keufer befürwortete Unterscheidung zwischen einerseits „normaler“ Arbeitslosigkeit auf Grund eines regelmäßigen saisonalen Arbeitsmangels, andererseits „abnormaler“ Arbeitslosigkeit durch zufälliges Nichtvorhandensein von Beschäftigung, spielte im französischen Kategorisierungsprozess eine entscheidende Rolle.35 Sie spiegelte die Vorstellung einer staatlichen Interventionsnotwendigkeit wider, die auf unvorhersehbare Fälle der Arbeitseinstellung beschränkt sein sollte. Berufsspezifische Arbeitslosigkeit – wie beispielsweise die durch vorhersehbare Schwankungen der anfallenden Arbeitsmenge verursachte saisonbedingte Arbeitslosigkeit – wurde als „normal“ angesehen und der individuellen und beruflichen Vorsorge überlassen. Diese Differenzierung trug den Chancen zur Vorsorge Rechnung. Sie ist erkennbar in den bei der Volkszählung von 1896 verwendeten Klassifikationskriterien. Die Altersbegrenzung auf 65 Jahre und die Maximaldauer der Arbeitseinstellung von einem Jahr, die von den französischen Statistikern bei der Einordnung der Antworten berücksichtigt wurden, spiegeln ebenfalls den Versuch wider, eine neue Kategorie der politischen Intervention statistisch zu objektivieren. War diese Altersund Zeitgrenze überschritten, so fiel der Arbeitslose in den damaligen reformerischen Schemata unter die Kategorie der Personen ohne Beruf und wurde ein Fall für die Fürsorgeinstitutionen und nicht für mögliche spezifische Maßnahmen zur Behebung der Arbeitslosigkeit. 4.2 Deutschland: Die Anregung der kommunalen Statistiker
In Deutschland war die Berücksichtigung der Arbeitslosigkeit bei der Volkszählung von 1895 auf ganz andere Motive zurückzuführen. Der Entschluss der konservativen Regierung, nicht zu intervenieren, war damals eindeutig und wurde immer wieder vor dem Reichstag bestätigt. Es wurde auf die Zuständigkeit der Gemeindeverwaltung als Behörde verwiesen, die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung verfasst war. Die Neuheit des Problems der Arbeitslosigkeit und seiner Berücksichtigung in der Politik, die Kontroversen über seine Tragweite, die Forderung politischer und intellektueller Kreise, seine Ausmaße zu erfassen, und der dem neuen Kaiser Wilhelm II. und einigen seiner Mitarbeiter wie von Berlepsch zugeschriebene Voluntarismus bei ihrer Arbei34 Zur Genese der Arbeitslosigkeit bei der französischen Volkszählung von 1896 siehe Topalov: Naissance (wie Anm. 27). S. 323 f. 35 Salais/Baverez/Reynaud: L’invention (wie Anm. 4). S. 45 f.
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terpolitik trugen gleichwohl zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts dazu bei, ein günstiges Klima für die Erhebung der Arbeitslosigkeit entstehen zu lassen.36 Diese Statistik, die angesichts der von den Sozialdemokraten vorgebrachten alarmierenden Zahlen die Gemüter beruhigen und eine offizielle Wahrheit begründen sollte, war jedoch ohne Befragung ihrer wichtigsten Befürworter, der städtischen Statistiker und der Gewerkschaftler, angefertigt worden – im Gegensatz zu Frankreich, wo Gewerkschaftler an den Auseinandersetzungen im Arbeitsamt (Office du travail) teilgenommen hatten. Die deutschen kommunalen Statistiker und die Gewerkschaftler hatten ihre eigenen Vorstellungen von den durchzuführenden Maßnahmen und wollten – wie Keufer in Frankreich – statistische Richtlinien für eine Operationsbasis des sozialen Handelns setzen, sie wurden jedoch bei der Erarbeitung des Fragebogens nicht beachtet. Dieser wurde vom Statistischen Reichsamt entworfen, der Konferenz der Statistiker der Bundesstaaten zur Begutachtung vorgelegt und anschließend dem Reichstag und dem Bundesrat unterbreitet.37 Die städtischen Statistiker, die auf Gemeindeebene ihre eigenen Umfragen über die Arbeitslosigkeit vornahmen, kritisierten die auf Reichsebene verwendete Definition von Arbeitslosigkeit als zu vage und schlugen die Einführung von Kontrollfragen vor, wie beispielsweise die Frage nach dem letzten Arbeitgeber.38 Da es keine offizielle Konsultation der städtischen Statistiker gegeben hatte und ihnen die rechtmäßige Mitarbeit bei der Erstellung der reichsweiten Statistiken verweigert worden war,39 übernahmen es diejenigen Kommunalstatistiker, die auf höherer Ebene Verantwortung trugen, dort ihre Vorstellungen vorzutragen. Im Jahr 1895 war es Ernst Hasse, von 1875 bis 1908 Leiter des Statistischen Amtes in Leipzig und von 1893 bis 1903 Vertreter der nationalliberalen Fraktion im Reichstag, der diese Mittlerfunktion ausübte. Als Mitglied der X. Kommission des Reichstags, die den Fragebogen zu beurteilen hatte, versuchte er, die Ansichten der lokalen Statistiker einzubringen, allerdings ohne großen Erfolg. Noch nicht einmal der Frage nach dem letzten Arbeitgeber, die vom Reichstag gebilligt wurde, stimmte der Bundesrat zu. 36 Zu dieser besonderen Konjunktur Anfang der 1890er Jahre, die nach Bismarcks Entlassung von einer Reorganisation der Sozialpolitik gekennzeichnet war, siehe von Berlepsch: „Neuer Kurs“ (wie Anm. 28). 37 Viktor Böhmert: Zur Statistik der Arbeitslosigkeit, der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenversicherung. In: Zeitschrift des königlichen Sächsichen Statistischen Bureaus, 40, 1894. S. 160–200. 38 Ernst Hasse: Zur Methode der Berufs- und Gewerbezählung. In: Sozialpolitisches Centralblatt 4 (28. Januar 1895). 39 Zu den städtischen Statistikern und zu ihrer ursprünglichen Stellung in der Konstellation der deutschen Reformer siehe Bénédicte Zimmermann: Statisticiens des villes allemandes et action réformatrice (1871–1914). La construction d‘une généralité statistique. In: Genèses, 15, 1994. S. 4–27.
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Angesichts dieses Misserfolgs entschieden die städtischen Statistiker auf einer Versammlung im Mai 1895, einen zusätzlichen Fragebogen zur Volkszählung auszuarbeiten, den jede Gemeinde freiwillig ihren Bürgern unterbreiten könnte. Diese Umfrage zur Ermittlung der Gründe der Arbeitslosigkeit, der Mobilität der Arbeitslosen und der Art der zuletzt ausgeführten Beschäftigung sollte es erlauben, die bei der Volkszählung gesammelten Informationen zu kontrollieren und zu präzisieren, um sie bei der Konzeption der Gemeindepolitik im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen. Städtische Zusatzfragen zur Volkszählung von 189540 NB. Von allen Personen auszufüllen, die bei der Volkszählung von 1895 arbeitslos waren. 1. Ursache der Arbeitslosigkeit (Krankheit, vorübergehende Erwerbsunfähigkeit, eigene Kündigung, Streik, Ortswechsel und damit verbundene Stellensuche – Geschäftsstille, Aufhören der Saisonarbeit, Kündigung des Arbeitgebers oder andere Gründe und welche? 2. Seit welchem Tage ist die Zählgemeinde ständiger Aufenthaltsort? 3. Aus welchem Ort zugezogen? (Ort der letzten Beschäftigung). 4. Genaue Adresse des letzten Arbeitgebers in der Zählgemeinde oder auswärts. 5. Art der letzten Stellung. 6. Eigentlicher gelernter Beruf. 7. Ist der Arbeitslose zur Zeit der Nachfrage wieder in Arbeit? … seit welchem Tage?
Die unterschiedlichen Methoden zur Erhebung der Arbeitslosigkeit auf nationaler und lokaler Ebene und die so erzeugten verschiedenen Arten der statistischen Objektivierung des Phänomens Arbeitslosigkeit entsprachen mithin verschiedenen Zwecken. Während es den Gemeinden darauf ankam, Informationen zu erhalten, um wirksame Maßnahmen zur Intervention bei Arbeitslosigkeit festzulegen, ging es auf Reichsebene darum, das Ausmaß dieses Phänomens zu evaluieren; die Formulierung der Fragen bei der Volkszählung von 1895 war durch diese Perspektive geprägt. Die von kommunalen Statistikern in etwa zehn Städten durchgeführten zusätzlichen Umfragen, die sich auf die in der Volkszählung erfasste arbeitslose Bevölkerung der Städte beschränkten, versuchten, anhand einer genaueren Kenntnis des Arbeitslosen dessen Profil herauszuarbeiten. Nach Abzug der schulpflichtigen Kinder, der Selbständigen, aller Rentner und Pensionäre, der Kranken im Krankenhaus und in anderen Anstalten wurden so von den 2122 von der Volkszählung registrierten Arbeitslosen in Straßburg lediglich 1635 Personen von den zusätzlichen Ermittlungen 40 Von der Konferenz der Städtestatistiker entworfener Musterfragebogen. Protokoll über die am 13., 14., 15. und 16. Mai 1895 in Frankfurt a. Main abgehaltene X. Conferenz der Vorstände der statistischen Aemter Deutscher Städte, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, IHA, Rep. 77, n° 3852, S. 1.
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erfasst. Durch den kommunalen Fragebogen konnten noch einmal 250 Fälle (Beamte, Invalide, Müßiggänger, Gelegenheitsarbeiter, Berufslose) eliminiert werden, so dass die Zahl der Arbeitslosen in Straßburg 1385 betrug.41 Die mit dem Bemühen um eine strenge Abgrenzung verbundenen Zusatzfragen etwa nach dem Beruf, nach der Aufenthaltsdauer in der Stadt, nach der Registrierung bei der Arbeitsvermittlung und nach der Zahl der zu unterhaltenden Personen zeugten vom Willen, den Arbeitslosen zu identifizieren – ein Bestreben, das der Volkszählung auf Reichsebene völlig fremd war. Das außerordentlich praktische Problem der Strategie der Sozialreform findet sich hier im Prinzip der Konstruktion statistischer Kategorien wieder. In Übereinstimmung mit den nichtinterventionistischen Positionen der Regierung formalisierte die nationale Erhebung von 1895 eher Beschäftigungslosigkeit als Arbeitslosigkeit. Zwar genügte sie der Forderung der Mehrheit im Reichstag, das Ausmaß des sozialen Elends zu messen, das durch den Mangel an Arbeit hervorgerufen wurde, doch blieb sie gleichzeitig ungenau genug, um den Risiken der Festlegung einer Kategorie des sozialen Handelns zu entgehen. Die Regierung überließ den Städten und Gewerkschaften die Aufgabe festzustellen, wer von den Arbeitslosen in ihrem Bereich unterstützungsbedürftig war, als ob allein schon der Vorgang der statistischen Benennung Verantwortung gegenüber den dadurch erfassten Individuen impliziere.
5 Schlussbemerkungen In Frankreich wie im Deutschen Reich war die Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit als gesellschaftliches Problem auf den Druck von Gewerkschaften und Gemeinden zurückzuführen, aber deren Repräsentanten hatten unterschiedlichen Zugang zu staatlichen Gremien. Das Klischee der vergleichenden Vulgata, mit dem versucht wird, die jeweiligen nationalen Besonderheiten mit dem Gegensatz zwischen dem französischen Zentralismus und dem dezentralen und subsidiären deutschen System zu erklären, erweist sich hier als wenig hilfreich, ganz im Gegenteil. Zwei Ergebnisse lassen sich demgegenüber aus der hier vorgelegten vergleichenden Studie ziehen: Das erste bezieht sich auf eine Geschichte der kurzen Dauer. Hier bietet der angelegte Vergleich einen genaueren Blick auf die Merkmale der Beteiligung und Mitwirkung unterschiedlicher Gruppen und Akteure am Entstehungsprozess einer neuen Kategorie der Sozialpolitik im Kaiserreich und in der ersten Phase der französischen Dritten Republik. Aus diesem unterschiedlichen Entstehungsprozess resultierte die breite Definition der Kategorie als Beschäftigungslosigkeit auf deutscher Seite und –
41 Nikolaus Geissenberger: Die Erhebung über die Arbeitslosigkeit am 2. Dezember 1895. In: Beiträge zur Statistik der Stadt Strassburg, 1, 1896.
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im Gegensatz dazu – die eingehendere Suche nach den Ursachen der Arbeitslosigkeit auf französischer Seite. Das zweite Ergebnis bezieht sich auf eine Geschichte der langen Dauer und trägt zu einem besseren Verständnis der gegenwärtigen Umwandlung der Kategorie Arbeitslosigkeit in Frankreich und Deutschland bei. Obwohl die nationalen Umwandlungsprozesse viele gemeinsame Aspekte teilen, nicht zuletzt unter dem Druck der europäischen Politik, verlaufen sie unterschiedlich. Diese Prozesse sind noch heute in Frankreich ganz deutlich von der Anwendung eines juristischen Verständnisses der Abhängigkeit geprägt, während in Deutschland weiterhin ein wirtschaftliches Verständnis dominiert, bei dem einerseits die Frage der Subsistenzmittel und des Familiengesamteinkommens, andererseits die Frage nach der Schuld des individuellen Arbeiters an seiner Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielen.
Kiran Klaus Patel
Arbeit als Dienst am Ganzen Nationalsozialismus und New Deal im Vergleich
Eigentlich arbeiten alle. Dies war eine der Erkenntnisse eines Soziologenteams, das Mitte der 1920er Jahre eine der ersten großen sozialwissenschaftlichen Feldforschungen der USA in Muncie, Indiana unternahm. In leicht ironischem Ton schrieben die Autoren anschließend darüber, dass man sich als Feldforscher in der Stadt schnell als „lonely person“ fühlen könne, denn alle anderen seien „intently engaged day after day in some largely routinized, specialized occupation“. „Only the infants, the totteringly old, and a fringe of women“ stünden eigentlich zur Verfügung, um die endlosen Fragen, die man selbst habe, zu beantworten. Tatsächlich: Ihren Berechnungen zufolge befanden sich 43 Prozent der Bevölkerung in einem festen Beschäftigungsverhältnis; weitere 23 Prozent waren „engaged in making the homes of the bulk of the city“; 19 Prozent gingen einer Ausbildung nach, und lediglich die restlichen 15Prozent „chiefly those under six years, and the very old“ waren nicht primär „engaged in getting a living“.1 Natürlich hat der Begriff „getting a living“ andere Konnotationen als das deutsche ‚Arbeit‘, und dasselbe gilt für die englischen Begriffe work oder labor, die sich ebenfalls nicht direkt auf die deutsche Sprache abbilden. Das Beispiel aus der amerikanischen Provinz verweist jedoch darauf, wie sehr ein modernes Arbeitsethos, demzufolge jeder Mann und jede Frau primär ihren Lebensunterhalt zu bestreiten hätte, moderne westliche Gesellschaften im 20. Jahrhundert geprägt hat. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre forderte ein solches Verständnis von Arbeit vor allem in jenen Gesellschaften heraus, in denen es zu massenhafter Arbeitslosigkeit kam. Denn wie ließ sich ein arbeitszentriertes Gesellschaftsmodell damit vereinbaren, dass ein wesentlicher Bestandteil der Bevölkerung davon unwillentlich ausgeschlossen wurde? Besonders drängend stellte sich diese Frage in Deutschland und den USA, da in diesen beiden Ländern die Massenarbeitslosigkeit ein Ausmaß erreichte wie in kaum einem anderen industrialisierten Staat. So waren am jeweiligen Tiefpunkt in Deutschland und den Vereinigten Staaten 33,9 bzw. 24,9 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos.2 1 2
Robert S. Lynd/Helen Merrell Lynd: Middletown. A Study in American Culture. New York 1956 [1929]. S. 21. Vgl. Frederick E. Hosen (Hg.): The Great Depression and the New Deal. Legislative Acts in their Entirety (1932–1933) and Statistical Economic Data (1926–1946).
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Zugleich fanden beide Länder mittelfristig dramatisch unterschiedliche politische Antworten auf die Krise: Der Machtübertragung und dem ‚Dritten Reich‘ stand mit dem New Deal eine Reformphase der amerikanischen Demokratie gegenüber. Hitlers Deutschland und Franklin D. Roosevelts Amerika sollen deswegen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen, die um die Frage nach Neubestimmung und Vergleich von Semantiken der Arbeit in den 1930er Jahren kreisen. Der Vergleich von politisch extrem unterschiedlich verfassten Gesellschaften, deren Reaktionen auf die Krise dennoch gewisse Ähnlichkeiten in sich bargen, kommt dabei zu folgendem Befund: Lange vor der Weltwirtschaftskrise war ‚Arbeit‘ in beiden Gesellschaften zu einem zentralen Begriff gesellschaftlicher Selbstbeschreibung geworden. Ab 1933 entwickelten die politischen Führungen auf beiden Seiten des Atlantiks eine Rhetorik des Neuaufbruchs, bedienten sich dabei aber zugleich in guten Teilen aus einem bereits vorhandenen, transatlantisch geteilten semantischen Kanon. Neu waren in den 1930er Jahren dagegen viele der Verknüpfungen zwischen bereits vorhandenen semantischen Bestandteilen. Das semantische Feld verdichtete sich und, ebenso wichtig, es traf nun auf einen radikalen politischen Willen, gewisse Vorstellungen in gesellschaftliche Praxis zu übersetzen – und andere zu marginalisieren. Nicht in der Beschaffenheit des semantischen Feldes an sich, sondern in der Verdichtung und Verschränkung mit gesellschaftlicher Ingangsetzung liegt somit das Interessante. Zum Vergleich ist außerdem hinzuzufügen, dass es auf den ersten Blick gewisse Parallelen zwischen dem Arbeitsverständnis des Nationalsozialismus und dem des New Deal gab; bei genauerer Analyse sind diese jedoch nicht zu überschätzen. Um die Kontinuitäten, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA herauszuarbeiten, soll in einem ersten Schritt das nationalsozialistische Arbeitsverständnis während der Vorkriegsjahre des Regimes von 1933 bis 1939 näher untersucht werden. Dabei wird sowohl analysiert, was sich durch den Nationalsozialismus auf semantischer Ebene änderte, als auch die Frage, wie dies mit gesellschaftlicher Praxis korrespondierte. In einem zweiten Schritt wird dasselbe für die USA der 1930er Jahre erörtert, bevor im Schluss die Teilergebnisse aufeinander bezogen und kontextualisiert werden. Um diese weit aufgespannten Fragen beantworten zu können, sollen im Folgenden vor allem programmatische Aussagen der politischen Führung als Quellen herangezogen werden, jeweils durch Tiefenbohrungen in den jeweiligen Arbeitsdiensten der beiden Gesellschaften ergänzt.3 Denn
3
London 1992. S. 257–268; Karl Hardach: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert 1914–1970. 3. Aufl. Göttingen 1993 [1. Aufl. 1976]. S. 69. Vgl. zur Problematik des Verhältnisses zwischen dem Sprachgebrauch seitens der Regime in Diktaturen und seitens der Bevölkerung Willibald Steinmetz: New Perspectives on the Study of Language and Power in the Short Twentieth Century. In: ders. (Hg.): Political Languages in the Age of Extremes. Oxford 2011. S. 3–51, hier: S. 46.
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sowohl der nationalsozialistische Arbeitsdienst (ab 1935 Reichsarbeitsdienst, RAD, genannt) als auch das amerikanische Civilian Conservation Corps (CCC) waren Institutionen, die für die Neubestimmung von Arbeit sowohl auf semantischer Ebene wie auch durch ihre gesellschaftliche Praxis einen hohen Stellenwert hatten.4 Jeweils ging es darum, junge arbeitslose Männer wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Dass der Schwerpunkt dabei lediglich auf einem Geschlecht liegt, erklärt sich teils aus pragmatischen Gründen, vor allem aber aus dem männerzentrierten Arbeitsverständnis der Zwischenkriegszeit. Denn wenngleich „alle“ im 20. Jahrhundert zu arbeiten schienen, galt es in beiden Gesellschaften als besonders problematisch, wenn junge Männer – als eine über Geschlecht und Alter eingegrenzte Gruppe – aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen blieben.5
1 Arbeit als „Gottesdienst“: Der Nationalsozialismus Jede Rekonstruktion des nationalsozialistischen Arbeitsverständnisses steht vor der Gefahr, ein in sich kohärentes Ideengebäude dort zu sehen, wo in Wirklichkeit zahlreiche innere Widersprüche und Leerstellen zu konstatieren sind. Dennoch lassen sich einige generelle Tendenzen durchaus identifizieren. So war Arbeit laut Meyers Lexikon von 1936 „jeder zielbewußte Einsatz geistiger oder körperlicher Kräfte für ein Werk, das – sei es in einem noch so geringem Maße – dem Ganzen des Volkes dient“. Demnach sei Arbeit die „sozialistische Pflicht des Volksgenossen und nicht – wie es die jüd. Ethik hinstellt – ein notwendiges, aus dem Sündenfall erwachsenes Übel“.6 Aus der kurzen Definition lassen sich die meisten Elemente des nationalsozialistischen Arbeitsverständnisses ableiten. Erstens war dieses, wie die Quelle verdeutlicht, auf die ‚Volksgemeinschaft‘ – als vages Konzept, das sowohl den Ist-Zustand nationalsozialistischer Herrschaft meinte wie auf das Wunschbild einer immer ‚vollkommeneren‘ Gemeinschaft zielte – bezogen.7 Dieser Gemeinschaftsbezug stellte einen 4 5 6 7
Vgl. zu den beiden Organisationen im Vergleich Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA, 1933–1945. Göttingen 2003. Vgl. Eileen Boris/Christiane Eifert: Geschlecht. Zwänge und Chancen. In: Christof Mauch/Kiran Klaus Patel (Hg.): Wettlauf in die Moderne. Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika von 1890 bis heute. München 2008. S. 259–293. Meyers Lexikon. 9 Bde. Leipzig 1936–1942, hier: Bd. 1, S. 496. Vgl. zur neueren Diskussion über Begriff und Bedeutung für das Verständnis des NSRegimes z. B. Ian Kershaw: „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59, 2011. S. 1–17; Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009; zum Thema besonders wichtig: Rüdiger Hachtmann: Vom „Geist der Volksgemeinschaft durchpulst“ – Arbeit, Arbeiter und
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Kernbestandteil der NS-Weltanschauung dar. Damit inszenierte sich der Nationalsozialismus als radikalen Bruch mit der Weimarer Republik und knüpfte zugleich an Vorstellungswelten des späten 19. Jahrhunderts und der Frühen Neuzeit an. Der Reichsarbeitsdienst, in derselben Auflage von Meyers Lexikon übrigens als eine der drei Hauptsäulen des NS-Arbeitsverständnisses neben der Deutschen Arbeitsfront und dem Arbeitsrecht gepriesen, propagierte dieses Selbstverständnis gebetsmühlenhaft. So proklamierte etwa „Reichsarbeitsführer“ Hierl – der Titel war ebenso anmaßend wie bezeichnend – auf dem Reichsparteitag 1933: „Liberalistische Auffassung sah in der Arbeit nur ein Mittel zum Gelderwerb […]. Liberalistische Auffassung wertete die Arbeit nach dem, was sie für den einzelnen eintrug, wir schätzen die Arbeit nach ihrem Werte für die Volksgemeinschaft.“8 Zugleich grenzten sich die Nationalsozialisten von jenen ab, die Arbeit stärker an den Staat binden wollten, wie dies zeitgenössisch etwa Ernst Jünger tat. Das institutionell fluidere Modell der ‚Volksgemeinschaft‘ sollte vielmehr dessen Stelle einnehmen, und Staatsbindung galt durch das eigene Konzept als überholt.9 Teil der Ausrichtung auf die ‚Volksgemeinschaft‘ war daneben die Vorstellung, bestehende Klassengegensätze zu überwinden und jede Art von Arbeit als wertvoll anzuerkennen, solange sie nur dem gemeinsamen Ganzen dienlich sei. Grundlage dessen war Hitlers in „Mein Kampf “ vorgenommene Trennung in einen materiellen und einen ideellen Arbeitsbegriff. Danach galt jede Arbeit als gleich wertvoll, solange sie der ‚Volksgemeinschaft‘ zu Gute kam – was nicht hieß, dass alle Tätigkeiten gleich bezahlt werden sollten.10 Weniger durch materielle Besserstellung als durch symbolische Anerkennung versuchte der Nationalsozialismus, vor allem die Arbeiterschaft zu umgarnen. Dementsprechend gab es zahlreiche begriffliche und symbolische Anleihen bei der Arbeiterbewegung, vor allem bezüglich der Ästhetisierung physischer Arbeit. So finden sich besonders in den ersten Jahren nach der Machtübertragung Begriffe wie
die Sprachpolitik der Nationalsozialisten. In: zeitgeschichte-online, 2010, verfügbar über http://www.zeitgeschichte-online.de/zol-sprachpolitik-2010 (zuletzt eingesehen am 7.5.2014). 8 Konstantin Hierl: Ausgewählte Schriften und Reden, hg. von Herbert Freiherr v. Stetten-Erb. 2 Bde. München 1941. Bd. 2. S. 345–349 (1933), hier: S. 345. 9 Vgl. Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. 2. Aufl. Hamburg 1932 [1932]. Bes. S. 288 f.; vgl. ferner zur Staatszentrierung des italienischen Faschismus im Vergleich zum Nationalsozialismus: Roger Eatwell: Introduction. New Styles of Dictatorship and Leadership in Interwar Europe. In: António Costa Pinto/Roger Eatwell/ Stein Ugelvik Larsen (Hg.): Charisma and Fascism in Interwar Europe. London 2007. S. xxi–xxxi. 10 Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, 73. Auflage. München 1933. S. 483.
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„deutscher Sozialismus“ oder „sozialistisches Arbeitsheer“.11 Entsprechend kritisierte zum Beispiel Hierl in der oben zitierten Rede den „Hochmut“, mit dem die Weimarer Republik auf „Handarbeiter“ herabgesehen habe. Im „Dritten Reich“ gelte vielmehr: Wir wollen dem deutschen Arbeiter seine Ehre geben, sie ist ihm unentbehrlicher als Tariflöhne, weil er ein Deutscher ist. Wir wollen das Wort ,Arbeiter‘ zum Ehrentitel für jeden Deutschen machen, deshalb soll jeder junge Deutsche eine gewisse Zeit seines Lebens als Handarbeiter Ehrendienst tun für sein Volk.12
Wie sehr diese Dimension der Umwertung des Arbeitsbegriffs immer zielgruppenspezifisch blieb, hat jüngst Rüdiger Hachtmann herausgearbeitet. Während seine Analyse der Sprachpolitik der Deutschen Arbeitsfront im Wesentlichen das bisher Dargelegte bestätigt, verdeutlichte Hachtmann zugleich, dass die Rede vom ‚Arbeitertum‘ oder von den ‚Arbeitern der Stirn und der Faust‘ die Sprachpraxis von Wissenschaftsorganisationen wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kaum berührte. Dort sprach man sich weiterhin mit seinen Titeln an und hielt diskursiv wie sozial Distanz zur Arbeiterschaft. Laut Hachtmann finden sich keine Belege, dass die Funktionäre des Regimes dies ernsthaft zu ändern versucht hätten. Die diskursive Aufwertung des Arbeitsbegriffs richtete sich vielmehr primär an die industrielle Arbeiterschaft und die einfachen Angestellten, umfasste jedoch nicht den gesamten offiziellen Sprachgebrauch.13 Der soziale Status der so angesprochenen Gruppen wurde damit aufgewertet. Aus der Perspektive des Nationalsozialismus handelte es sich jedoch um ein eher billiges, primär symbolisches Integrationsangebot. Es griff sozialdemokratische und kommunistische Ideen auf und versuchte, diese für das neue Regime zu usurpieren. All dies wurde nur unzureichend flankiert durch Maßnahmen, die eine ökonomische und soziale Besserstellung erbracht hätten. Daran zeigt sich der primär instrumentelle Charakter dieser Umwertung des Arbeitsbegriffs. Die Rede vom „Ehrendienst“ verweist darüber hinaus auf ein drittes Element des Bezugs auf die ‚Volksgemeinschaft‘ neben dem Antiliberalismus und den Anleihen bei der Arbeiterbewegung: Arbeit wurde aufgrund ihres Gemeinschaftsbezugs im Nationalsozialismus immens überhöht, teilweise sogar sakralisiert. Besonders greifbar wird dies wiederum im RAD, für den seine Arbeiten nicht nur „Ehrendienst“,
11 Vgl. z. B. Hans Biallas: Die Arbeit im neuen Reich. In: Arbeitertum, 4, 1934. S. 4 f.; allgemein dazu Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939. Bonn 1999, S. 141–146. 12 Hierl: Schriften (wie Anm. 8). S. 345. 13 Vgl. Hachtmann: Vom „Geist der Volksgemeinschaft durchpulst“ (wie Anm. 7).
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sondern sogar „wahre[n] Gottesdienst“ darstellten.14 Vor allem in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre häuften sich Begriffe aus dem Bereich des Sakralen zur Charakterisierung von Arbeit. Auf dem Reichsparteitag 1937 legte Hierl zum Beispiel ein regelrechtes Glaubensbekenntnis ab: „Indem wir so mit Herz und Hand unserem Volke dienen, glauben wir auch Gott zu dienen, der die Völker geschaffen und uns in unser Volk gestellt hat. Damit wird uns unser Arbeitsdienst im tiefsten Sinne auch zum Gottesdienst.“15 Und die Angehörigen seiner Organisation priesen gleichzeitig in einem Lied jeden Spatenstich als „Gebet für Deutschland“.16 Das sakrale Vokabular wurde auf eine rein innerweltliche Tätigkeit bezogen, und zugleich handelte es sich nicht lediglich um einen Sprechakt einer kleinen politischen Elite. Organisationen wie der RAD sorgten dafür, dass solche Vorstellungen durch Fahnenappelle, Lieder und vieles andere mehr von Millionen von Deutschen täglich in gesellschaftliche Praxis überführt wurden.17 Während der Bezug zur ‚Volksgemeinschaft‘ vordergründig vor allem ein Inklusionsangebot des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs darstellte, sollte man die ihm verbundenen, rassistisch-deterministischen und weiteren Formen der Ausgrenzung nicht unterschätzen. Neben dem Bezug auf die ,Volksgemeinschaft‘ handelte es sich um die zweite prägende Tendenz im Nationalsozialismus. Der oben zitierte Eintrag in Meyers Lexikon kritisierte scharf die „jüd. Ethik“; Materialismus und Judentum galten gleichermaßen als Gegenbegriffe zum eigenen Arbeitsverständnis. In einer grundlegenden Rede hatte Hitler bereits 1920 und später erneut in „Mein Kampf “ behauptet, dass Juden „Parasiten“ seien, die auf Kosten der aus Idealismus arbeitenden „Arier“ lebten. Kapitalgeschäfte und die daraus resultierenden Profite bildeten für die Nationalsozialisten ein griffiges Beispiel, um angeblich ,jüdische Arbeit‘ der ‚deutschen‘ gegenüberzustellen.18 Wenngleich der nationalsozialistische Antisemitismus bekanntlich besonders radikal und rabiat war, bildete er zugleich nur einen Teil eines umfassenderen, völkisch-rassistischen Weltbildes. Arbeit wurde allgemein in eine positive und eine negative Unterkategorie aufgespalten, und die 14 Konstantin Hierl: Die Zukunft des Arbeitsdienstes. In: Arbeitgeber, 23, 1933. S. 414 f., hier: S. 414. 15 Ders.: Schriften. Bd. 2, S. 380–382, hier: 381; ähnlich z. B. auch Mitteldeutsche National-Zeitung 9.9.1938. 16 Reichsarbeitsdienst (Hg.): Reichsarbeitsdienst. Nürnberg-Feier. Reichsparteitag 8. September 1937. O. O. O. J. [1937], S. 8. 17 Was gerade nicht heißen soll, dass die Bevölkerung die Ideologie einfach reproduzierte; eher handelte es sich – im wertneutralen Sinne – um einen Akt produktiver Aneignung; vgl. dazu etwa Peter Fritzsche: Germans into Nazis. London 1998. 18 Hitler: Mein Kampf (wie Anm. 10). S. 325–335, 482 f.; zur Rede von 1920 Joan Campbell: Joy in Work, German Work. The National Debate, 1800–1945. Princeton 1989. S. 314.
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Zuordnung von Individuen und ganzen Völkern erfolgte jeweils nach rassistischen Kriterien. Selbstverständlich standen demnach die ‚Arier‘ und ihr Arbeitsverständnis an oberster, die Juden an unterster Stelle. Ausgeschlossen, diskriminiert und verfolgt wurden aber auch andere Gruppen wie Sinti und Roma. In einer programmatischen Schrift des Arbeitsdienstes von 1933 war dementsprechend zu lesen, Arbeit sei „das große Auslesemittel, in dem die Schwachen von den Starken gesondert werden“; sie bilde so das „Kampfgesetz des Menschen“.19 Der vulgäre Sozialdarwinismus solcher Aussagen verdeutlicht, dass das Arbeitsverständnis des NS-Regimes antisemitisch, letztlich aber auch allgemein rassistisch aufgeladen war.20 Zur biologistisch-deterministischen Dimension trat eine voluntaristische, ohne dass diese beiden sich klar ganz voneinander trennen ließen. Fest stand nur: Selbst derjenige, der rassistischen Kriterien genügte, sich aber dem nationalsozialistischen Arbeitsethos verweigerte, wurde aus der ‚Volksgemeinschaft‘ verstoßen. Insofern wurde in der NS-Zeit in besonderem Maße Arbeit zur Instanz, die über Zugehörigkeit zu den Kategorien ‚Volksgenossen‘ oder ‚Gemeinschaftsfremde‘ entschied.21 Die dritte Tendenz, die sich am Begriff ‚Arbeit‘ im Nationalsozialismus und ganz besonders am Arbeitsdienst beobachten lässt, war die Militarisierung des Arbeitsverständnisses. Darunter wird hier sowohl der Gebrauch militärischer Begriffe und Metaphern als auch die geistige Vorbereitung auf einen Krieg über die Verbindung des Konzepts von ‚Arbeit‘ mit dem von ‚Krieg‘ verstanden. Beiden Tendenzen leistete besonders der Erfahrungshintergrund des Ersten Weltkriegs Vorschub. In der Zeitschrift „Arbeitertum“, dem Organ der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation, zitierte etwa Bernhard Köhler, Leiter der Kommission für Wirtschaftspolitik in der Reichsleitung der NSDAP, im Sommer 1933 den Anfang des Nibelungenliedes. Wenn dort von „helden lobebæren, von grôzer arebeit“ die Rede sei, so Köhler, sei das folgendermaßen zu deuten: „Arbeit und Krieg sind die zwei Formen, in denen sich der Kampf des einzelnen wie des Volkes um das Leben abspielt. Im Grunde sind Arbeit und Krieg dasselbe, kommen aus demselben Urgesetz des Lebens und haben den gleichen ewigen Sinn. Arbeiter und Krieger sind eins: Volksgenossen im Kampf.“22 Die semantische Fusion von Arbeit und Krieg gewann im Verlauf des ‚Dritten Reiches‘ immer weiter an Bedeutung. Im RAD etwa wurden seit 1934 Arbeitsdienst19 Will Decker: Der deutsche Weg. Ein Leitfaden zur staatspolitischen Erziehung der deutschen Jugend im Arbeitsdienst. Leipzig 1933. 20 Vgl. als Beispiel für die Tendenz der jüngeren Forschung, Antisemitismus und Holocaust eher im Kontext der Verbrechen des Nationalsozialismus an anderen Gruppen zu sehen: Mark Mazower: Hitler’s Empire: How the Nazis Ruled Europe. New York 2008; zu dieser Dimension der NS-Sprachpolitik vgl. auch Hachtmann: Vom „Geist der Volksgemeinschaft durchpulst“ (wie Anm. 7). 21 Vgl. ausführlich Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 129–159. 22 Bernhard Köhler: Vom Sinn der Arbeit. In: Arbeitertum, 3, 1933. S. 13 f., hier: S. 13.
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leistende als „Soldaten der Arbeit“ bezeichnet.23 Nun könnte man die Militarisierung des Arbeitsverständnisses als eine Trivialisierung des Krieges verstehen. Tätigkeiten an der Werkbank, am Schreibtisch oder auf dem Acker mit Begriffen wie ‚Kampf ‘ oder ‚Selbstaufopferung‘ zusammenzubringen, verharmloste den Krieg. Es wäre aber zu einfach, die militaristische Sprache als operettenhaften Zug des NS-Regimes zu werten. Denn für das ‚Dritte Reich‘ sollte die Sprache des Krieges nie nur ein linguistisches Referenzsystem sein, sondern vielmehr auf eine Zukunft hinführen, in der sich die meisten Deutschen bald wiederfinden würden. Der Bezug zum Krieg legitimierte jede Form von ‚arischer Arbeit‘ in einer Gesellschaft, die sich mit maximaler Anstrengung auf einen militärischen Konflikt vorbereitete. Betrachtet man die verschiedenen Bestandteile des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs einzeln, so erweist sich daran vergleichsweise wenig als wirklich originell. Der Gemeinschaftsbezug von Arbeit hatte in Deutschland und Europa seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen; seit den ‚Ökonomisten‘ von Adam Smith bis Friedrich List hatte sich eine Denktradition der ‚nationalen Arbeit‘ herausgebildet. Der viktorianische Schriftsteller Thomas Carlyle brachte verschiedene Denkstränge zusammen, wenn er im 19. Jahrhundert ‚arbeiten‘ und ‚beten‘ gleichsetzte und außerdem betonte, dass auch niedrigste Arbeiten wertvoll zur Konstituierung des Selbst und einer Gemeinschaft sein konnten.24 Der Naturalist Detlev von Liliencron hatte 1887 ein Drama mit dem Titel „Arbeit adelt“ geschrieben und damit ein Motto popularisiert, das 50 Jahre später auf die Dolche des RAD eingraviert wurde. Der Begriff ‚Arbeitertum‘ ging auf den antisemitischen Nationalökonomen Eugen Dühring und die späten 1880er Jahre zurück. In der Weimarer Republik hatten sich auch zahlreiche andere Gruppen neben den Nationalsozialisten auf die ‚Volksgemeinschaft‘ bezogen und ihr Arbeitsverständnis davon abgeleitet – was zugleich heißt, dass bis 1933 der Begriff je nach politischem Lager andere Konnotationen hatte.25 Auch Rassismus und Antisemitismus waren keineswegs neu. Bereits in den 1860er Jahren hatte zum Beispiel Wilhelm Heinrich Riehl festgehalten, dass ein „scharfer Unterschied in der Idee der Arbeitsehre und Arbeitssittlichkeit […] den Semiten vom Arier trennt“.26 Um 1900 sah das Kaiserreich eine intensive Debatte über „deutsche Arbeit“ voll von 23 Hierl: Schriften (wie Anm. 8). Bd. 2. S. 163. 24 Vgl. Werner Conze: Art. Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck: Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 154–215; Alf Lüdtke: The „Honor of Labor“. Industrial Workers and the Power of Symbols under National Socialism. In: David F. Crew (Hg.): Nazism and German Society, 1933–1934. London 1994. S. 67–109. 25 Vgl. z. B. Christian Illian: Der Evangelische Arbeitsdienst. Krisenprojekt zwischen Weimarer Demokratie und NS-Diktatur. Gütersloh 2005, S. 64–81. 26 Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit. Stuttgart 1862. S. 63.
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antisemitischen und xenophoben Stereotypen.27 Während bereits vor dem Ersten Weltkrieg vom Krieg als Arbeit die Rede gewesen war, radikalisierten sich solche Vorstellungen und Praktiken nach 1914 weiter. Die Militarisierung von Arbeit fand zum Beispiel im Vaterländischen Hilfsdienst von 1916 ihren Ausdruck und setzte sich in den Freikorps fort, etwa wenn der Gründer des Jungdeutschen Ordens, Artur Mahraun, 1924 einen „Freiheitskrieg der Arbeit“ forderte.28 Zusammengefasst stand das ‚Dritte Reich‘ auf semantischer Ebene somit sowohl für Bruch als auch für Kontinuität als auch für Verschiebungen: Einerseits wurden wichtige Debattenstränge abgeschnitten und unterdrückt, die Arbeit etwa aus utilitaristischer, liberal-bürgerlicher oder sozialistischer Sicht verstanden. Wer radikal andere Vorstellungen als die Nationalsozialisten vertrat, musste fortan mit Repressionen rechnen. Zugleich gab es deutliche Kontinuitäten zu gewissen Debatten aus der Zeit vor 1933 – diese längeren Linien konnte nicht einmal die zum Neuaufbruch, teilweise sogar zur Revolution hochstilisierte Machtübertragung überdecken. So hatten viele Einzelelemente des Arbeitsverständnisses, viele Ideen und Formeln eine lange Vorgeschichte. Neu aber waren primär die spezifische Verknüpfung und Verdichtung der Elemente sowie die Form und die Radikalität, mit der gesellschaftliche Praxis während der NS-Zeit mit dieser Vorstellungswelt korrelierte. Das Regime schuf mehrere Pflichtorganisationen wie den RAD, die das NS-Arbeitsverständnis verkörperten und performativ umsetzten, und die Nationalsozialisten nahmen massive Eingriffe in Arbeitsmarkt und Wirtschaftsgeschehen vor. Insofern handelte es sich um keine Höhenkammdebatte. Die semantischen Verschiebungen ließen sich vielmehr an den Schwielen auf den Händen angehender Akademiker, die sich nun für einige Monate beim Spateneinsatz wiederfanden, ebenso ablesen wie am Ausschluss aller ‚Gemeinschaftsfremden‘ von derartigem ‚Ehrendienst‘.29 Denn nicht nur ‚Ehrendienst‘ und Handarbeit, sondern auch Berufsverbote, ‚Arisierung‘ sowie in späteren Jahren Vertreibung und Vernichtung gehörten zu dieser gesellschaftlichen Praxis. Dabei sollte man Folgendes jedoch nicht übersehen: Immer wieder kam es dazu, dass auf der Ebene der konkreten Arbeitsprojekte keineswegs nur ‚Volksgenossen‘ den sogenannten ‚Ehrendienst‘ leisteten. Im Emsland zum Beispiel taten wenige Kilometer weiter Häftlinge unter extremen, viel härteren Bedingungen die grundsätzlich gleiche Arbeit wie Hierls Männer. Diese offensichtliche Inkonsistenz wurde durch die 27 Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München 2006. 28 Zit. nach: Peter Dudek: Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und Freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935. Opladen 1988. S. 64. 29 Vgl. zu wichtigen Aspekten der Praxis von Arbeit im Nationalsozialismus im Überblick Detlev Humann: „Arbeitsschlacht”. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NSZeit 1933–1939. Göttingen 2011.
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semantischen Verschiebungen im Arbeitsbegriff einerseits erst kreiert; zum anderen sollte Propaganda sie überdecken, ohne sie jedoch jemals auflösen zu können.30
2 Arbeit als Job? Der New Deal Selbst wenn der Nationalsozialismus kein in sich geschlossenes semantisches Gebäude rund um den Begriff der Arbeit errichtete, lassen sich für das Deutschland der 1930er Jahre leichter übergreifende Tendenzen identifizieren als für die USA. Die Vereinigten Staaten waren eine Demokratie mit einem deutlich vielfältigeren und nuancenreicheren Deutungsfeld. Auch die Äußerungen Präsident Roosevelts und seiner Administration lassen sich kaum auf einen begrifflichen Nenner bringen – zu sehr war der New Deal von inneren Widersprüchen, dem Willen zum Experiment (und damit der Revision von Ansätzen im Fall des Scheiterns) sowie von institutionalisiertem Pluralismus geprägt.31 Wenngleich Begriffe wie work oder labor teilweise mit neuer Bedeutung gefüllt wurden, waren sie doch weniger theoretisch aufgeladen und weniger explizit definiert als im NS-Deutschland. Außerdem blieb das politische Vokabular des New Deal fest verankert in den moralisch-religiösen Traditionen früherer US-amerikanischer Reformbewegungen.32 Trotz dieser Einschränkungen lässt sich festhalten, dass auch im New Deal ‚Arbeit‘ semantischen Verschiebungen unterlag. Gewisse Formen des Individualismus gerieten massiv in die Kritik. Roosevelt selbst prangerte ab 1933 wiederholt die ruinösen Praktiken des Finanzkapitals an, die wesentlich zur Weltwirtschaftskrise beigetragen hätten. In biblischer Sprache wetterte er etwa gegen die „practices of unscrupulous money changers“,33 die ihre egoistischen Interessen über alles andere stellten. Hugh Johnson, Direktor der einflussreichen National Recovery Administration, ging sogar so weit, sich öffentlich gegen „the murderous doctrine of savage and wolfish competition and rugged individualism“ auszusprechen.34 „Rugged individualism“, der heute als Kernbegriff im amerikanischen Wertekosmos erscheinen mag, hatte Roosevelts Vorgänger als Präsident, Herbert Hoover, popularisiert, und insofern stellte Johnsons 30 Vgl. Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 341–351. 31 Vgl. als Forschungsüberblick jüngst etwa William D. Pederson (Hg.): A Companion to Franklin D. Roosevelt. Oxford 2011. 32 Vgl. z. B. bereits James MacGregor Burns: Roosevelt. The Lion and the Fox, 1882– 1945. New York 1956; Ronald Isetti: The Moneychangers of the Temple. FDR, American Civil Religion, and the New Deal. In: Presidential Studies Quarterly, 26, 1996. S. 678–693. 33 Inaugural Address, 4.3.1933. In: Samuel I. Rosenman (Hg.): The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt. Bd. 2. New York 1938. S. 11–16, hier: S. 12. 34 Hugh S. Johnson: The Blue Eagle. From Egg to Earth. Garden City 1935. S. 169.
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Verdikt nicht zuletzt eine Kampfansage an die Republikaner dar. Zugleich stellte Johnson dem Individualismus nicht so sehr die eine Vorstellung einer national definierten Gemeinschaft entgegen als vielmehr Begriffe wie „balance“ und „coöperation“ [sic!], das heißt des Ausgleichs der verschiedenen im Arbeitsprozess beteiligten Kräfte, vor allem der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Johnsons Blue Eagle-Kampagne vom Herbst 1933 – laut der lediglich jene Unternehmen, die sich der neuen Industriepolitik anschlossen, das Symbol des Blauen Adlers auf ihren Produkten führen sollten – lässt sich ähnlich deuten. Das Motto der Kampagne lautete „We do our part“, was sich selbstverständlich als Beitrag zu einer nationalen Kraftanstrengung lesen ließ.35 Was diese Gemeinschaft jedoch genau darstellte, wurde deutlich weniger durchbuchstabiert als in Deutschland; arbeits- und wirtschaftspolitische Vorstellungen wurden in viel geringerem Maß an übergreifende gesellschaftspolitische Ansätze rückgebunden als im Nationalsozialismus. Einerseits findet sich zwar auch bei Roosevelt eine Anerkennung jeder Art von Arbeit, etwa wenn der Präsident im September 1936 festhielt: We refuse to regard those who work with hand or brain as different from or inferior to those who live from their property. We insist that labor is entitled to as much respect as property. […] There is no cleavage between white collar workers and manual workers, between artists and artisans, musicians and mechanics, lawyers and accountants and architects and miners.36
Wenngleich die Rhetorik des New Deal somit durchaus gewisse korporatistische Züge aufwies, ging sie darin andererseits nie so weit wie das ‚Dritte Reich‘, wo die Anerkennung der Arbeiterschaft und jeder Form von Tätigkeit zugleich immer an die ‚Volksgemeinschaft‘ zurückgebunden blieb. So fällt auf, dass der amerikanische Arbeitsdienst, das CCC, nicht als Nukleus eines neuen Gemeinschaftsverständnisses verstanden wurde. Abweichler wie der deutsche Exilant und Historiker Eugen Rosenstock-Huessy, der das Corps als Schule staatsbürgerlicher Erziehung und zur Gemeinschaftsbildung einsetzen wollte, gerieten schnell zur Zielscheibe öffentlicher Kritik. Ein von Rosenstock inspiriertes experimentelles CCC-Lager bei Sharon, Vermont, galt als so verdächtig, dass sich ein eigens eingesetzter Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses damit befasste und das Lager schließlich aufgelöst wurde.37 35 Vgl. z. B. Johnson: The Blue Eagle (wie Anm. 34). S. 158–171; vgl. auch, bes. zu „cooperation“, Donald R. Richberg: The Rainbow. Garden City 1936. S. 1–23. 36 The First „Fireside Chat” of 1936. In: Rosenman (Hg.): Public Papers (wie Anm. 33). Bd. 5. New York 1938. S. 331–339, hier: S. 339. 37 Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 175 f.; ausführlich dazu Jack J. Preiss: Camp William James. Norwich 1978.
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Dementsprechend blieben staatliche Arbeitsprogramme viel stärker ökonomischem Legitimationsdruck ausgesetzt als im ‚Dritten Reich‘. Kritik an wirtschaftlich sinnlosen Projekten, manchmal ironisierend als ,Pyramidenbau‘ bezeichnet, kursierte in NS-Deutschland vor allem im Untergrund, gelegentlich auch in behördeninternen Stellungnahmen.38 Dagegen sahen sich die Programme des New Deal stets mit massiver öffentlicher Kritik konfrontiert. Mitunter führte dies sogar zu sprachlichen Innovationen, etwa wenn die „New York Times“ 1935 den Begriff „boondoggling“ zur Charakterisierung öffentlich finanzierter, ökonomisch sinnloser Programme erfand.39 Das soll zugleich nicht heißen, dass Arbeit im New Deal lediglich auf technische und ökonomische Zusammenhänge reduziert wurde. Überhöhung und Glorifizierung finden sich auch hier; stolz berichtete etwa das CCC in seinen Jahresberichten über jeden Baum, den es zum Wohle der Gemeinschaft gepflanzt und über jede Brücke, die es errichtet hatte.40 Allerdings ist bezeichnend, dass es darüber hinaus in den Reden und Veröffentlichungen des CCC kaum Überlegungen zum Begriff der Arbeit und seiner Wertung gab. Vielmehr standen die konkreten Vorhaben im Mittelpunkt, und die Arbeit der Freiwilligen wurde nicht zu einem Projekt nationaler Gemeinschaftsbildung stilisiert, sondern in ihrem praktischen Nutzen für die Nation begrüßt. Wichtiger noch: Arbeitsdienst galt nicht als ‚Ehrendienst‘, sondern er stand unter dem Leitthema „We can take it“. Das Motto wies die Zeit im Corps als eine Probe aus, der sich jeder der Männer einzeln zu unterziehen und in der er sich zu bewähren habe. Arbeit kreiste so um individuelle Leistung und um schwere, körperliche Arbeit – und wenn der Einsatz von Maschinen diese gelegentlich erleichterte, so reflektierte der Arbeitsbegriff das nicht.41 Anders als in Deutschland hatte das Leistungsdenken keinen explizit rassistischen Bezug. Das Gesetz, auf dem das CCC fußte, hielt ausdrücklich fest, dass „no discrimination shall be made on account of race, color, or creed“.42 De facto finden sich im Corps rassistische Praktiken, vor allem die Diskriminierung und Segregation 38 Als Beispiel für die Kritik im Untergrund: Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1934–1940. Bd. 1: 1934. Frankfurt a. M. 1980. S. 214– 224; als Beispiel für die behördeninterne Kritik etwa Bundesarchiv Berlin, R 36/1915, Denkschrift Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, ohne Datum [Anfang 1934]. 39 New York Times, 4. April 1935. Der Begriff leitet sich von den sinnentleerten Handwerkskursen ab, die in New-Deal-Agenturen angeblich zur Beschäftigung von Arbeitslosen angeboten wurden. 40 Vgl. z. B. Civilian Conservation Corps: Annual Report of the Director of the Civilian Conservation Corps. Fiscal Year Ended June 30, 1938. Washington 1938. 41 Dazu besonders aussagekräftig: Ray Hoyt: „We Can Take It.“ A Short Story of the C.C.C. New York 1935. 42 Abgedruckt in Emergency Conservation Work: First Report of the Director of Emergency Conservation Work. For the Period April 5, 1933 to September 30, 1933.
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von African Americans. Konkret war diese Bevölkerungsgruppe im CCC deutlich unterrepräsentiert, und schwarze CCC-Männer wurden in vielen Regionen der USA in getrennten Lagern untergebracht. Angesichts des Rassismus, der die Vereinigten Staaten zu der Zeit prägte, wäre alles andere überraschend gewesen; verantwortlich für solche Praktiken waren primär die lokalen Rekrutierungsbehörden. Das CCC schloss African Americans jedoch nicht grundsätzlich aus, und die New Dealer in Washington bemühten sich, das Ausmaß derartiger Diskriminierung zu reduzieren. Rassismus wurde also nicht ideologisch erklärt oder über den Arbeitsbegriff abgeleitet, sondern entweder stillschweigend toleriert oder öffentlich kritisiert.43 Gab es vor diesem Hintergrund ein Äquivalent zur nationalsozialistischen Überhöhung von Arbeit? Explizit sakralisiert wurden die Tätigkeiten nicht, wenngleich sie aus der puritanischen Konzeption des sich auf Erden bewährenden Individuums schöpften. Das Verhältnis zwischen Arbeitsverständnis und Gemeinschaft brachte Ray Hoyt, der Herausgeber der halboffiziellen Zeitung des CCC, mit dem Titel „Happy Days“ auf den Punkt, wenn er erklärte: Earlier trails had been built and other lands had been cleared of fire hazards by men to whom the labor was nothing but toil, at so much per hour. But there has been something personal in the work of the C.C.C. men; something of themselves has been laid with each mile of new road and each acre of timber saved from fire or blight. There has grown up among the men of this new forest army from the towns and cities a spirit that is new. […] It is a patriotism that involves trees and hillsides and streams, and is fused with one’s interest in one’s family and one’s own future, and too, one’s feeling of gratitude toward a government that has given rather than taken away.44
Hoyt definierte Patriotismus als eine naturromantisch eingefärbte Reflexion des CCC-Mannes über seine Person, die eigene Zukunft und die seiner Familie. Die herausragende Stellung, die der Propaganda-Experte der Wirkung auf den Einzelnen und sein unmittelbares Umfeld beimaß, spiegelte den in der politischen Kultur der USA stark ausgeprägten Individualismus wider. Erst danach nannte Hoyt die Dankbarkeit gegenüber der Regierung. Der Freiwillige sollte unmittelbar gegenüber Roosevelt und seiner Administration Loyalität empfinden, die Bindung an den Staat war demgegenüber nachrangig. So war das Corps immer auch Ausdruck eines paternalistischen Verständnisses von Wohlfahrtsstaatlichkeit und ein Wahlkampfinstrument Roosevelts Washington 1934. S. 13. Der offizielle Name des CCC war zunächst Emergency Conservation Work; seit 1933 wurde es jedoch Civilian Conservation Corps genannt. 43 Vgl. dazu ausführlich Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 171–188, S. 287– 292. 44 Hoyt: „We Can Take It“ (wie Anm. 41). S. 3.
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und der Demokraten. Zugleich äußerte sich hieran das ebenfalls tief in der politischen Kultur der USA verankerte Misstrauen gegenüber ‚dem Staat‘. Über das CCC hinaus rechtfertigte Präsident Roosevelt die massiven Arbeitsbeschaffungsprogramme des New Deal durch das Vorhandensein von „families who need actual subsistance“. Hilfe sei unabdingbar, und man müsse lediglich entscheiden, ob man den schlimmsten Opfern der Krise eher Arbeitslosengeld oder aber Arbeit gebe. Laut Roosevelt zögen die Betroffenen selbst Letzteres vor, and „they are one thousand percent right“.45 Nicht die Nation, sondern der lokale Kontext und die Familie traten hier auch in den Vordergrund zur Begründung von Hilfsmaßnahmen. Hoyt und Roosevelt wollten Arbeit nicht nur als bezahlte Leistung verstanden wissen, sondern auch als Hilfe zur Selbsthilfe. Das zeigt sich besonders an Profil und Ziel der Berufsausbildung, die das Corps als Teil seines Programms unternahm.46 Hier ging es darum, die Arbeitslosen fit zu machen für einen kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkt. Ein wirtschaftsliberal unterlegtes Credo, laut dem sich die künftigen Perspektiven vor allem aus dem eigenen Leistungswillen erklärten, stand jedoch in einem Spannungsverhältnis zur tatsächlichen Lage der Jugendlichen, die auf dem Arbeitsmarkt fast chancenlos waren. Noch weniger vertrug sich diese Einstellung mit der staatsinterventionistischen Politik des New Deal, die gerade nicht auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und das Individuum setzte, sondern massive staatliche Eingriffe für notwendig hielt. Letztlich brachte sich der New Deal so in die paradoxe Lage, dass er mit staatsinterventionistischen Mitteln jungen Arbeitslosen half, ihnen zugleich aber ein wirtschaftsliberales Arbeitsideal vermittelte. Ergänzt – nicht aber aufgelöst – wurde dieses Spannungsverhältnis durch eine Militarisierung der Arbeit. Das lässt sich am CCC besonders gut zeigen, das auf den ersten Blick militärischer war als der RAD: In Amerika war es die U. S. Army selbst, die einen wesentlichen Beitrag zur Organisation des Corps schulterte. Der Grund dafür lag jedoch nicht darin, dass das CCC eine paramilitärische Organisation werden sollte, ganz im Gegenteil. Jedem derartigen Verdacht stellten sich Roosevelt und die Leitungsebene des Corps entschieden entgegen. Für den Einfluss des Militärs im CCC gab es vielmehr vor allem institutionelle Gründe: Im ‚schlanken‘ Staat der Vereinigten Staaten hatte von allen nationalen Institutionen allein das Militär die institutionellen Ressourcen und die Kapazität, das heißt das Personal und das Knowhow, die Verwaltungsstrukturen und das Material, um die Organisation und Leitung 45 First „Fireside Chat“ of 1936. In: Rosenman (Hg.): Public Papers (wie Anm. 33). Bd. 5. S. 331–339, hier: S. 332. 46 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Begriffsgeschichten für den New Deal zu success bei Rosemary F. Carroll: The Impact of the Great Depression on American Attitudes Towards Success. Rutgers University 1968. Bes. S. 139–146; und zu liberty bei Eric Foner: The Story of American Freedom. New York 1998. S. 195–218.
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der CCC-Lager zu übernehmen.47 Zugleich musste 1933, als das Corps gegründet wurde, auf Bestehendes zurückgegriffen werden, da Roosevelt die Einrichtung binnen weniger Monate aus dem Boden stampfen wollte. Ein gänzlicher Neuanfang wäre angesichts des Zeitdrucks zum Scheitern verurteilt gewesen. Der prägende Anteil des U. S. Army an der Organisation des CCC erklärt auch, warum es in der Öffentlichkeit häufig in die Nähe des Militärs gerückt wurde. Die Einrichtung wurde häufig als „Roosevelt’s Tree Army“, als „Labor Army“ oder als „army of conservation“ bezeichnet und die CCC-Männer als „soil soldiers“.48 Das war mehr als eine Laune des Feuilletons. Denn wie William E. Leuchtenburg in einem längst zum Klassiker gewordenen Aufsatz gezeigt hat, spielten die Sprache des Militärs und der Bezug zum Krieg im New Deal allgemein eine zentrale Rolle. „The analogue of war“ stellte eines der wichtigsten Deutungsmuster dar, mit dem die Vereinigten Staaten die Große Depression zu bekämpfen suchten. Seit 1929 interpretierten viele Amerikaner die Krise als eine kriegsähnliche Bedrohung, die wie ein äußerer Feind niedergerungen werden musste. Zumeist wurde eine direkte Analogie zum Ersten Weltkrieg hergestellt, ohne jedoch den Krieg selbst mit Arbeit gleichzusetzen, wie dies etwa Ernst Jünger in Deutschland tat. Der Krieg hatte ein bis dahin ungekanntes Maß an Staatsinterventionismus mit sich gebracht, auf das man nun rekurrierte.49 Die Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus der 1920er Jahre und die Rückbesinnung zum Interventionismus der Kriegszeit war die Bedingung für die Möglichkeit, um Institutionen wie das CCC einzurichten. Für dessen Arbeitsverständnis war jedoch die metaphorische Ebene noch wichtiger. Das Corps wurde als Sturmtruppe im Kampf gegen die Depression verklärt. Die Mobilisierung zehntausender junger Männer und die Rolle der Armee bei der Organisation des Corps legten solche Parallelen vordergründig nahe. Zugleich wurde die Krise durch die Gleichsetzung mit einem äußeren Feind externalisiert und zu einem Problem erklärt, das durch einen nationalen Kraftakt gelöst werden könnte. Ihren Ausdruck fand die Metaphorik zum Beispiel in einem Artikel über das CCC, der mit den Worten begann: „America has a new army and has sent it to war.“50 47 Vgl. Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 159–171; diese Deutung des CCC lehnt sich an Überlegungen von Finegold und Skocpol an: Kenneth Finegold/Theda Skocpol: State and Party in America’s New Deal. Madison 1995. 48 Z. B. Chicago Daily Tribune, 27.3.1933; Literary Digest, 15.4.1933; Leslie Alexander Lacy: The Soil Soldiers. The Civilian Conservation Corps in the Great Depression. Chilton 1976, der den Begriff „soil soldiers“ besonders popularisierte. 49 Vgl. William E. Leuchtenburg: The New Deal and the Analogue of War. In: John Braeman u. a. (Hg.): Change and Continuity in Twentieth Century America. Athens 1964. S. 81–143. 50 Harrison Doty: Our Forest Army at War. In: Review of Reviews and World’s Work, 88, 1933. S. 31–34, hier: S. 31.
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Daneben gab es eine zivilere Variante der Analogiebildung. Häufig bildete hier der in Harvard lehrende Philosoph und Pazifist William James den Bezugspunkt. Schon 1910 hatte James die Hoffnung geäußert, Krieg durch ein moralisches Äquivalent abschaffen zu können. Der Arbeitsdienst sollte die durch militärische Auseinandersetzungen geförderten Prozesse der Disziplinierung und der Herausbildung von Männlichkeit kompensatorisch übernehmen. Auch wenn Roosevelt, der in Harvard bei James studiert hatte, dessen Einfluss auf die Entstehungsgeschichte des Corps stets abstritt, wurde das Arbeitserlebnis im CCC in der Öffentlichkeit immer wieder vor dem Hintergrund der Ausführungen von James gedeutet.51 Die Militarisierung des Arbeitsbegriffes im CCC war somit entweder in ein größeres Konzept eingebettet, das den Kampf gegen die Wirtschaftskrise als eine Herausforderung verstand, die dem Ersten Weltkrieg gleiche. In diesem Fall war der Bezug zum Krieg primär retrospektiv, vor allem aber metaphorisch im Sinne eines Analogon. Bei der zweiten Möglichkeit stand eine kompensatorische pazifistische Überlegung Pate. Dass die Militarisierung des Begriffs lange Zeit keine ausgeprägt aggressive, prospektive Seite hatte, korrelierte mit der Vermeidung jeglicher militärähnlichen Aktivität im Corps bis Ende der 1930er Jahre und steht in deutlichem Gegensatz zum RAD. Erst 1940/41, als der Kriegseintritt der USA immer wahrscheinlicher wurde und die Diskussion um ein paramilitärisches Training für das CCC ihren Höhepunkt erreichte, änderten sich die Vorzeichen der militärischen Dimension des Arbeitsverständnisses. Künftig handelte es sich auch in Amerika um die Vorbereitung auf einen künftigen Konflikt. Parallel dazu wurde der Bezug zwischen den Projekten und den Bedürfnissen der Nation und ihrer Verteidigung stärker betont. Nunmehr hieß es, dass die Arbeit „contributes to the Nation’s strength and to its defense“.52 Systematisch für den Kriegseinsatz umgebaut wurde das CCC daraufhin jedoch nicht. Vielmehr entschied man sich 1942, die Einrichtung aufzulösen, was wiederum ihren grundsätzlich zivilen Charakter als Instrument im Kampf gegen die Wirtschaftskrise unterstreicht. Insgesamt war ‚Arbeit‘ im CCC vergleichsweise wenig ideologisch aufgeladen, und die Militarisierung des Begriffs hatte lange Zeit einen grundlegend anderen Charakter als in Deutschland. Was hier exemplarisch für das Corps gezeigt wurde, gilt cum grano salis auch für andere Teile des New Deal. In den USA hielt sich die 51 Vgl. William James: The Moral Equivalent of War. New York 1910. Moley, einer der wichtigsten Berater Roosevelts in dessen Anfangszeit als Präsident, wies auf James’ Einfluss für das CCC hin; vgl. dazu National Archives and Record Administration/Hyde Park, OF 268, Box 2, Notiz Keller, 11.11.1934; ebd. Box 11, bes. Robinson an FDR, 17.2.1939. In der öffentlichen Diskussion um das CCC wurde auf James Bezug genommen z. B. in Time, 6.2.1939. S. 10–12. 52 Federal Security Agency/Civilian Conservation Corps: Contributing to the National Defense of the Nation. Washington 1941 [unpaginiert].
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Bundesadministration kaum mit Besinnungsaufsätzen zum Wert und Verständnis von Arbeit auf. Der pragmatischen Einstellung zu den Tätigkeiten entsprach auch, dass diese nicht so sehr glorifiziert wurden, dass sich daraus ein Ausschließlichkeitsanspruch ergeben hätte. Das CCC zum Beispiel betonte zwar stets, dass Häftlinge und auf Bewährung Entlassene keinen Platz in seinen Reihen hätten.53 Dennoch wurde nie behauptet, dass die Arbeiten des Corps so ehrenwert seien, dass sie nicht auch von Häftlingen übernommen werden könnten. Damit ersparte sich das CCC die ideologischen Inkonsistenzen der nationalsozialistischen Arbeits(dienst)propaganda. Das verweist auf einen weiteren, dramatischen Unterschied zwischen RAD und CCC sowie darüber hinaus zwischen NS-Deutschland und dem New Deal im Allgemeinen. Seit 1933 wurde Arbeitsdienst für immer größere Teile der deutschen männlichen Jugend zum Pflichtdienst; seit 1935 galt im Reich die Arbeitsdienstpflicht. Das CCC dagegen blieb immer freiwillig, und insgesamt setzte der New Deal auf deutlich weniger Zwangselemente als der NS-Staat. So gab es etwa kein amerikanisches Äquivalent zu jener Einschränkung der freien Arbeitsplatzwahl, die das NS-Regime 1934 einführte, oder zur Quasi-Zwangsmitgliedschaft in Berufsvereinigungen. Zugleich zeigte man in Amerika für CCC-Männer, die den Ansprüchen nicht genügten, kein Verständnis. Sie wurden in Zeitschriften wie dem „Christian Century“ als „disturbers“ oder als „goldbrickers“ gebrandmarkt. Das Individuum hatte arbeitswillig und leistungsfähig zu sein, damit ihm etwa im CCC und ganz allgemein in der Berufswelt Erfolg beschieden sei.54 Über den Ausschluss aus staatlichen Hilfsmaßnahmen hinaus gab es bei Regelverstoß jedoch wenige direkte Sanktionen – man entzog solchen Personen die staatliche Hilfe, während der Verfolgungsapparat und der Strafkatalog nie ein Ausmaß wie in Deutschland annahmen. In ihrem Arbeitsverständnis bezogen sich die Verfechter des New Deal darüber hinaus in vielen Fragen auf die amerikanische civil religion, vor allem auf Vorstellungen und Begriffe der Progressive Era. Anders als oft – und zeitgenössisch auch in Deutschland – unterstellt, handelte es sich insgesamt um keine rein utilitaristische Arbeitsauffassung, wenngleich der Bezug zum Staat äußerst nachrangig und zur Nation häufig ziemlich abstrakt blieb. Dennoch war auch hier Arbeit ein Dienst am Ganzen, bezogen vor allem auf das Individuum als Keimzelle jeder Gemeinschaft und in zweiter Linie auf die imaginierte Gemeinschaft der Nation. Auf konzeptioneller Ebene ergab sich dabei die Aporie, dass ein nach wirtschaftsliberalem Ideal geformter homo oeconomicus über staatsinterventionistische Programme restituiert werden sollte. Dieses konzeptionelle Spannungsverhältnis fiel jedoch vergleichsweise wenig ins Gewicht, da sich der New Deal kaum mit Grundsatzerörterungen zum Arbeitsbegriff aufhielt. In Deutschland dagegen kreisten viele der wichtigsten ideologischen Versatzstücke des 53 Patel: Soldaten der Arbeit (wie Anm. 4). S. 179 f. 54 Vgl. J. H. Darling: The CCC Makes Good! In: Christian Century, 25.10.1933.
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Nationalsozialismus um die Vorstellung von Arbeit. Die Zentrierung dieser Debatten auf Staat und Nation hatten, wie bereits gezeigt, eine lange Vorgeschichte, und sie wurde nach 1933 weiter radikalisiert.
3 Schluss Sowohl der Nationalsozialismus als auch der New Deal setzten neue Akzente bezüglich der Semantik von ‚Arbeit‘ – begriffliche Verschiebung und Verdichtung finden sich hier wie da. Auf beiden Seiten des Atlantiks erteilte die politische Führung ab 1933 einem rein utilitaristisch und rein egoistisch definierten Verständnis von Arbeit eine klare Absage. Jeweils kam es zu einer Überhöhung von Arbeit und einer Anlehnung an das Militärische, und jeweils stand der Staat nicht im Mittelpunkt der Debatten. Dennoch überwiegen bei genauerer Analyse die Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften. Zur gewaltsamen Marginalisierung alternativer Sichtweisen auf den Arbeitsbegriff im ‚Dritten Reich‘ gab es keine Entsprechung in den USA; ferner war ‚das Ganze‘, auf das sich Arbeit fortan zu beziehen habe, in Deutschland vollständig auf die ‚Volksgemeinschaft‘ bezogen, während es in Amerika stärker um das Individuum kreiste. Schließlich meinte Militarisierung ganz unterschiedliche Dinge auf beiden Seiten des Atlantiks. Zugleich inszenierte sich das NS-Regime als radikalen Bruch zum Arbeitsverständnis der Weimarer Republik, bezog sich aber gleichzeitig dennoch auf viele bereits vorhandene Deutungsmuster wie etwa den Antiliberalismus, manche Vorstellungen der Arbeiterbewegung, die Idee der Überhöhung von Arbeit unter den Vorzeichen der ,Volksgemeinschaft‘, sowie den Antisemitismus und die Militarisierung des Arbeitsbegriffs. Demgegenüber zeichnete sich die Arbeitssemantik der RooseveltAdministration durch eine Zeitstruktur aus, die den Anschein des allzu Neuen eher vermied. Wenn Roosevelt etwa 1933 konstatierte, dass die „money changers from the temple“ geflohen seien, dann verband er dies nicht mit der Forderung nach einem völligen Neuaufbruch, sondern plädierte: „We may now restore that temple to the ancient truths.“55 Eine hochmoderne Gesellschaft griff so auf ein zyklisches Zeitmodell zurück, das häufig mit der Vormoderne assoziiert wird; und eine der größten Umwälzungen in der Geschichte des amerikanischen Staatsverständnisses legitimierte sich selbst als Rückkehr zur guten alten Ordnung.56 55 Inaugural Address. In: Rosenman (Hg.): Public Papers (wie Anm. 33). Bd. 2. S. 11–16, hier: S. 12; vgl. dazu auch Ronald Isetti: Moneychangers (wie Anm. 32). 56 Vgl. Zu der Problematik etwa Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000; Trude Ehlert (Hg.): Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrungen, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne. Paderborn 1997;
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Vieles, was in den 1930er Jahren diskutiert wurde, mag uns heute fremd erscheinen. In Deutschland spielen völkisch-rassistische Begriffe wie ‚Volksgemeinschaft‘ keine Rolle mehr für gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Das begriffliche Feld der Arbeit hat sich um zahlreiche Anglizismen ergänzt, etwa wenn staatliche Behörden „Jobcenter“ heißen und „Jobbörsen“ in die Welt setzen.57 Mit Dienst an der Nation dürften heute viele Deutsche eher die Nationalelf als die Bundeswehr oder die Tätigkeit eines beliebigen Arbeitnehmers assoziieren; die Bundeswehr wirbt auf ihrer Website mit dem Begriff der „Karriere“ für sich, nicht mit dem des „Dienstes“.58 Gewisse Begriffe, die nach 1945 phasenweise als nationalsozialistisch kontaminiert galten – wie etwa ‚Einsatz‘, ‚Auftrag‘, ‚leistungsmäßig‘ oder ‚Sektor‘ – sind in den Normalwortschatz zurückgekehrt.59 In den USA forderte Präsident Obama demgegenüber 2009 in seiner Antrittsrede mehr „duty“ der Bürger gegenüber dem Gemeinwohl. Wörtlich meinte er: „What is required of us now is a new era of responsibility – a recognition on the part of every American that we have duties to ourselves, our nation and the world; duties that we do not grudgingly accept, but rather seize gladly.“60 Ist Deutschland also amerikanischer und Amerika deutscher geworden? Eine derartige These wäre sicherlich zu einfach und leicht anfechtbar. Sie verweist jedoch auf das Desiderat, den Veränderungen in der Semantik von ‚Arbeit‘ seit 1945 dies- und jenseits des Atlantiks weiter nachzugehen.
57 58 59
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Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt a. M. 1989. Vgl. Jobcenter-Informationen der Bundesagentur für Arbeit http://www.jobcenter-ge. de/; Jobbörse. Bundesagentur für Arbeit. http://jobboerse.arbeitsagentur.de/ (zuletzt eingesehen am 7.5.2014). Vgl. Karriere-Portal der Bundeswehr. http://www.bundeswehr-karriere.de/portal/a/ bwkarriere (zuletzt eingesehen am 7.5.2014). Vgl. die verschiedenen Auflagen (mit variierenden Begriffen) von Dolf Sternberger/ Gerhard Storz/Wilhelm E. Süskind (Hg.): Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. 3. Aufl. Hamburg 1968; ferner Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947; als Analyse dazu jüngst Martin Geyer: War over Words. The Search for a Public Language in West Germany. In: Steinmetz (Hg.): Political Languages (wie Anm. 3). S. 293–330. Vgl. President Barack Obama’s Inaugural Address. The White House Blog. http:// www.whitehouse.gov/blog/inaugural-address (zuletzt eingesehen am 7.5.2014).
Shingo Shimada
Arbeitsbegriffe in der japanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts
1 Was heißt Arbeit auf Japanisch? Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass die ‚Arbeit‘ in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft einen der zentralen Werte darstellt. Wenn man sich mit einem der vielen Angestellten in einem Tokyoter Geschäftsviertel über seinen Alltag unterhält, wird man feststellen, dass er gern lange über die Tätigkeit in seiner Firma spricht. Wenn man dann nach seinem Lebenslauf fragt, wird die Zugehörigkeit zu seiner Firma einen zentralen Bezugspunkt darstellen. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass man von Europa aus den Fleiß der japanischen Angestellten mit Be- oder Verwunderung betrachtet. Zumindest vermutet man darin eine der Ursachen der japanischen Wirtschaftserfolge der letzten 50 Jahre. Doch wenn man nach dem Konzept der Arbeit in der japanischen Gesellschaft fragt, sind die Sachverhalte gar nicht so eindeutig. Was heißt ‚Arbeit‘ auf Japanisch? Auf lexikalischer Ebene ist zuerst das Wort rôdô 労働 zu nennen, das auf der abstrakten Ebene viele semantische Bereiche des Arbeitsbegriffs abdeckt. So wird dieses Wort als Arbeitsbegriff im formellen und offiziellen Sprachgebrauch wie in Gesetzen, Zeitungen oder behördlichen Mitteilungen verwendet. Aber zugleich spricht man stets von shigoto 仕事, wenn es sich beispielsweise um die eigene Arbeit handelt. Dieses Wort steht für die konkrete Arbeitstätigkeit und ihre Ergebnisse. So benutzt man shigoto, wenn man jemanden für seine gelungene Arbeit loben will. Auch für die alltagssprachliche Formulierung wie ‚zur Arbeit gehen‘ würde man mit diesem Ausdruck shigoto ni iku sagen. Schließlich ist hier noch das Verb hataraku 働く zu erwähnen, das zum Teil dasselbe semantische Feld wie shigoto besetzt, aber im Sinne des (Be-)Wirkens eine weit allgemeinere semantische Breite aufweist.1 Die Analyse der Verwendungsweisen dieser drei Ausdrücke in der japanischen Sprache gibt Aufschluss über das Verständnis der Arbeit in der japanischen Gesellschaft. Sie würde aufzeigen, 1
Shinji Nobehiro weist darauf hin, dass das Schriftzeichen für dieses Wort anders als die meisten anderen Schriftzeichen, die aus dem Chinesischen stammen, im Japan des 15. Jahrhunderts generiert wurde. Shinji Nobehiro: Edo no yutori (Yutori in Edo). In: Wataru Mori (Hg.): Yutori. Tokyo. Tokyo 1989. S. 115–134, hier: S. 116.
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wie das Konzept der Arbeit je nach dem gesellschaftlichen Kontext situativ unterschiedlich variiert, womit sich auch die Grenze zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit diesem Umstand entsprechend verschiebt. Um eine solche Analyse zu ermöglichen, ist es notwendig, sich mit einem der genannten Ausdrücke intensiv auseinanderzusetzen, bevor man das größere semantische Feld erschließen kann. Daher entwerfe ich im vorliegenden Text eine erste vorläufige Skizze zum historischen Wandel des Arbeitsbegriffs im Sinne des rôdô in der japanischen Gesellschaft. Dieses Wort ist für diese Analyse prädestiniert, da es eine Übersetzung der westlichen Arbeitsbegriffe, vor allem des englischen Begiffs labour und des deutschen Begriffs ‚Arbeit‘ darstellt und somit allgemein als Äquivalent für den europäischen Arbeitsbegriff erachtet wird. Dieser Ausdruck ist daher mit der Vorstellung der Moderne eng verbunden, die aus japanischer Perspektive in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von außen in die Gesellschaft eindrang. Um eine moderne, nationalstaatlich verfasste Gesellschaft aufbauen zu können, war es notwendig, auch moderne Schlüsselkonzepte aus dem Westen zu übernehmen. Das Wort rôdô etablierte sich vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in der japanischen Sprache durch die Übersetzungen der englisch- und deutschsprachigen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Werke z. B. von Adam Smith und John Stuart Mill und einige Zeit später von Karl Marx, dessen Werke einen sehr nachhaltigen Einfluss auf die japanische Gesellschaft ausübten.
2 Übersetzung des Arbeitsbegriffs ins Japanische Die politische Situation der japanischen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert war überaus komplex. Zum einen wurde eine nationalstaatlich verfasste Gesellschaft überwiegend von Angehörigen der Fürstentümer Chôshû und Satsuma aufgebaut, die die Meiji-Restauration 1868 aktiv initiiert und durchgeführt hatten. Es wurden zum anderen die wissenschaftlichen Werke aus dem westeuropäischen Kontext übersetzt, die das ideelle Gerüst des neuen Staates bilden sollten. Weitere Übersetzungen folgten, um die neue gesellschaftliche Situation zu verstehen.2 In der Frühphase der Modernisierung wurden zunächst die englisch- und französischsprachigen Werke für wichtig erachtet, da diese Gesellschaften einen zivilisatorischen Vorsprung zu haben schienen. Daher wurden zunächst die englischsprachigen Werke ins Japanische übersetzt, die eine liberale Wirtschaftsvorstellung vermittelten. „On Liberty“ von Mill wurde 1871 von Nakamura Masanao (1832–1891) mit dem Titel „Jiyû no ri“ und Adam Smiths „The Wealth of Naitons“ von Ishikawa Eisaku (1858–1886) als „Fukokuron“ (1884) übersetzt. 1879 wurde die erste japanischsprachige Fachzeitschrift für Wirtschaft 2
Vgl. Shingo Shimada: Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und nationale Identitätskonstruktion. Frankfurt a. M./New York 2007.
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mit dem Titel „Tokyô keizai zasshi“ (Tokyoter Wirtschaftszeitschrift) von Taguchi Ukichi (1855–1905) gegründet, der stark von Adam Smith, Ricardo, Mill und Spencer beeinflusst war. In den 30 Jahren zwischen 1867 und 1897 wurden nach Honjô Eitarô (1946) insgesamt 274 Werke zur Ökonomie ins Japanische übersetzt, darunter 152 englischsprachige, 40 deutschsprachige und 37 französischsprachige. In diesem historischen Zusammenhang wurde der Begriff ‚Arbeit‘ wohl als rôdô übersetzt und verbreitete sich allmählich.3 Einige Zeit später, zwischen 1920 und 1921, übersetzte Takabatake Motoyuki (1856–1928) den ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx, und damit begann ein langwieriger Diskurs um Marx’ Werke. Den Höhepunkt dieses Diskurses bildete der Disput um den japanischen Kapitalismus (Nihon shihonshugi ronsô) zwischen 1933 und 1937, in dem heftig um die Interpretation der Meiji-Restauration gestritten wurde. Dieser Disput, in dem die Frage thematisiert wurde, ob die Meiji-Restauration als eine bürgerliche Revolution angesehen werden könne, zeigt, dass die japanischen Intellektuellen die Attraktivität der Schriften von Marx darin sahen, die komplexe Situation der kapitalistischen Modernisierung Japans erklären zu können. Daher wurden die Schriften von Marx zu den wichtigsten Grundlagen der japanischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Vorkriegszeit und damit verbreitete sich der Arbeitsbegriff rôdô zumindest im wissenschaftlichen Kontext. Auf der Ebene des Bewusstseins der Bevölkerung spielte der Begriff rôdô hingegen wohl kaum eine Rolle. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Takeda Haruhito beschreibt, herrschte zu dieser Zeit das Ethos der eher vormodernen Handwerker vor, das weder die kapitalistische Effektivität noch arbeitszeitliche Regelkonformität kannte und somit dem modernen marktwirtschaftlich orientierten Arbeitsbegriff widersprach.4 Die Handwerker brachten ihre differenzierten technischen Fertigkeiten in die neu eingeführten Institutionen der modernen Fabriken und bewahrten damit als technische Spezialisten ihre Selbständigkeit gegenüber der Unternehmensleitung.5 Dies ermöglichte ihnen, ihr Ethos zu erhalten. Insofern wurde mit den Worten von E. P. Thompson die „aufgabenbezogene Zeiteinteilung“ gegenüber der kapitalistischen bevorzugt.6 Es bedurfte offensichtlich eines lang währenden Prozesses, der zur 3
Für die Analyse des Übernahmeprozesses des Arbeitsbegriffs in die japanische Gesellschaft ist eine ausgedehnte Literaturarbeit in den Bibliotheken und Archiven in Japan notwendig, was hier nicht geleistet werden kann. 4 Haruto Takeda: Nihonjin no keizaikan-nen. Rekishi ni miru itan to fuhen (Wirtschaftsverständnis der Japaner. Heterodoxie und Orthodoxie in der Geschichte). Tokyo 2008. S. 191 ff. 5 Ebd. 6 Edward P. Thompson: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus. In: Rudolf Braun u. a. (Hg.): Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973. S. 81–112, hier: S. 84.
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Annahme des Konzeptes der Arbeitszeit führte. Denn die vom Westen übernommenen Zeitlichkeitsregelungen wie die Siebentagewoche oder der gregorianische Kalender waren neu, und in Japan existierten mehrere Zeitrechnungssysteme wie temporale und äquinoktiale Stunden oder Lunar- und Sonnenkalender nebeneinander.7 Insofern blieb das Konzept der ‚Arbeit‘ im Sinn von rôdô zu abstrakt, um eine konkrete Auswirkung auf die Alltagswelt der Werktätigen zu entfalten. Äußerlich wurden moderne Institutionen wie Fabriken, Unternehmen oder Verwaltungen eingeführt. In ihrem Inneren wurden die Tätigkeiten zunächst nach dem herkömmlichen Verständnis ausgeführt, für die das neue Konzept der Arbeit noch keine Relevanz besaß. Dies änderte sich allmählich. Durch die Etablierung des Schul- und Militärwesens im Kontext der Nationalstaatsbildung drang das moderne Zeitbewusstsein immer stärker in die Gesellschaft ein.8 Die Zeitdisziplin wurde als eine wichtige Eigenschaft der Person anerkannt, während sich die Form der abhängigen Beschäftigung und das dazugehörige Konzept der Arbeit verbreiteten. Doch von einem einheitlichen Verständnis der Arbeit in der Gesellschaft kann sicherlich nicht gesprochen werden. Denn zum einen war das Verständnis unter der Bevölkerung nach wie vor durchaus vom ständischen Denken geprägt. Zum anderen waren die Lebensformen der Gesellschaftsmitglieder in einer Weise heterogen, dass kaum von einem standardisierten Lebenslauf gesprochen werden kann, in dem die Phase der Berufstätigkeit den Mittelpunkt darstellte. Diesem Umstand entsprechend kann in dieser Phase von keinem einheitlichen Begriff der Arbeit ausgegangen werden.
3 Der Arbeitsbegriff im Japanischen nach 1945 Im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 etablierte sich der Begriff rôdô im allgemein-gesellschaftlichen Kontext vor allem durch Gesetze. Vor allem das Arbeitsstandardgesetz 1947 (rôdô kijunhô), das die allgemeinen Arbeitsbedingungen regelte, machte der Bevölkerung die Relevanz dieses Begriffs für ihr Alltagsleben zum ersten Mal deutlich. Zudem schuf der in den späten 1950er Jahren einsetzende Wirtschaftsaufschwung immer mehr abhängige Beschäftigungsverhältnisse, so dass sich der Geltungsbereich des Gesetzes verbreiterte. Es etablierte sich langsam eine 7
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Vgl. Jun Suzuki: Futatsu no jikoku, mittsu no rôdô jikan (Zwei Zeitrechnungen, drei Arbeitszeiten). In: Takehiko Hashimoto (Hg.): Chikoku no tanjô. Kindai nihon niokeru jikan ishiki no keisei (Geburt des Zu-Spät-Seins. Entstehung des modernen Zeitbewusstseins im modernen Japan). Tokyo 2001. S. 99–122. Vgl. Ikuko Nishimoto: Kodomo ni jikan genshu wo oshieru. Shôgakkô no uchi to soto (Den Kindern die Zeitdisziplin beibringen. Innerhalb und außerhalb der Elementarschule). In: Hashimoto (Hg.): Chikoku no tanjô (wie Anm. 7). S. 157–188.
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Sozialstruktur, in der die Arbeit im betrieblichen Zusammenhang eine zentrale Rolle einnahm. Damit einhergehend verbreitete sich auch ein standardisierter dreiphasiger Lebenslauf. Eine Besonderheit der japanischen Gesellschaft kann darin gesehen werden, dass dies mit einem besonders hohen Grad von Homogenisierung vonstatten ging. Es bildete sich eine feste Vorstellung vom idealen Lebenslauf, in der Institutionen wie Schule, Universität und Betrieb eine zentrale Rolle spielten. Diese Homogenisierung wurde zugleich von einer geschlechtlichen Arbeitsteilung begleitet, so dass Männern und Frauen unterschiedliche Lebenswege vorgezeichnet wurden – für Männer war das abhängige Beschäftigungsverhältnis vorgesehen, während den Frauen die häuslichen Aufgaben und die Kindererziehung auferlegt wurden. Damit entstand ein Beschäftigungssystem, das auch im Ausland als die japanische Betriebsführung bekannt wurde. Im Mittelpunkt des Systems stand der männliche Festangestellte, für den die lebenslange Beschäftigung, das Senioritätsprinzip und die innerbetriebliche Gewerkschaft zu den Rahmenbedingungen seiner Arbeit wurden. Damit erfuhr die Vorstellung der Arbeit im Sinne der rôdô eine gewisse Vereinheitlichung. Denn nun war die Arbeit stark an den männlichen Festangestellten der Großbetriebe orientiert. So entstand zumindest auf der Vorstellungsebene eine auf Arbeit konzentrierte homogene Gesellschaft, die auch zur Schaffung einer imagined community im Sinne von Benedict Anderson beitrug.9 In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass auf der begrifflichen Ebene im Japanischen im Verhältnis zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit – in der Bedeutung von ‚Freizeit‘, – ein Ungleichgewicht besteht. Während für den Begriff der Arbeit zumindest auf der lexikalischen Ebene das Wort rôdô steht, herrscht auf der Seite der Nicht-Arbeit eine gewisse Unbestimmtheit. Zwar existiert mit dem Wort jiyûjikan ein wörtlich übersetztes Äquivalent zu ‚Freizeit‘ doch ist dieser Begriff kaum gebräuchlich. Ein anderes Wort, das in diesem Kontext Verwendung findet, ist yoka. Doch hat yoka die Konnotation der ‚Restzeit‘, so dass es nicht unbedingt als eine Opposition zur Arbeitszeit gedacht werden muss. Eher enthält dieser Ausdruck die Konnotation des Nichtstuns. Ein im Alltagsleben häufig gebrauchtes Wort ist rejâ – eine Entlehnung aus dem englischen leisure – das aber mehr für Freizeittätigkeiten verwendet wird. In den 1980er Jahren gewann der Begriff yutori gesellschaftliche Beachtung. Dieses Wort mit seiner sehr breiten Semantik wurde damals zu einem Modewort, weil das Erziehungsministerium im Schulkontext das Schlagwort yutori kyôiku (Erziehung ohne Hektik) einführte. Die Semantik dieses Wortes ist mit der des deutschen Wortes ‚Spielraum‘ im übertragenen Sinne vergleichbar, womit aber intentional auch eine Entschleunigung im Sinne von Muße mitgedacht wird. Der grundlegende Gedanke ist: Indem man sich innerhalb einer bestimmten Zeit inhaltlich 9
Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/New York 1988.
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weniger vornimmt, gewinnt man zeitlichen Spielraum, in dem subjektive Wünsche und Intentionen besser entfaltet werden können. Insofern kann dieses Wort auch nicht als Oppositionsbegriff zu ‚Arbeit‘ verstanden werden, denn eine Arbeit kann durchaus mit yutori durchgeführt werden.10 Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass es in der japanischen Sprache kein eindeutiges Äquivalent für ‚Freizeit‘ gibt, so dass das Verhältnis zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit sprachlich nicht so eindeutig zum Ausdruck gebracht werden kann. Ein anderes Konzept im Zusammenhang mit der Entstehung der Arbeitsgesellschaft, die später in den 1990er Jahren vor allem von feministischer Seite als ‚firmenzentrierte Gesellschaft‘ (kigyô chûshin shakai) zunehmend in Kritik geriet, ist die Verbreitung des Wortes arubaito – eine Entlehnung des deutschen Wortes ‚Arbeit‘. Dieses bereits in der Vorkriegszeit von Studenten, die die deutsche Sprache als Fremdsprache lernten, ins Japanische eingeführte Wort stand für Teilzeitjobs zunächst von Studenten, und später wurde es auch auf Hausfrauen erweitert. Die Verbreitung dieses Wortes zeigt, dass zwischen der regulären Arbeit der Festangestellten und der Teilzeitarbeit der Jugend und Hausfrauen klar unterschieden wurde. Insgesamt entstand in der Phase des starken Wirtschaftsaufschwungs eine Gesellschaftsstruktur, in der das weitgehend homogene Konzept der regulären Arbeit eine zentrale Rolle spielte. Der Begriff der Arbeit im Sinne von rôdô gelangte daher auch vor diesem Hintergrund in den 1980er Jahren durch die zunehmende Problematisierung der Arbeitszeit (rôdô jikan) ins Bewusstsein der Bevölkerung. In dieser Phase kam in der international-vergleichenden Arbeitsforschung der Verdacht auf, dass die japanische Wirtschaft durch verlängerte Arbeitszeiten insgeheim eine Art Dumping betreibe. Die japanische Regierung und auch die Öffentlichkeit reagierten darauf empfindlich. Die Regierung machte die Arbeitszeitverkürzung in ihrem „Fünfjahreswirtschaftsplan“ 1988 zur Chefsache, und allgemein entstand ein breiter Diskurs über die Arbeitszeit, in dem immer wieder die japanische Situation mit den Arbeitsbedingungen der westlichen Industriegesellschaften verglichen wurde.11 Diese Thematisierung verbreitete den Arbeitsbegriff rôdô so weit wie nie zuvor in der Öffentlichkeit.
10 Zum Konzept yutori vgl. Shingo Shimada: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Frankfurt a. M./New York 1994. S. 113 f. 11 Vgl. Kazuo Sugano: Rôdô seikatsu to yutori. Rôdôjikan to yoka no mondai wo chûshin toshite (Arbeitsleben und yutori. Von der Problematik der Arbeitszeit und Freizeit ausgehend). In: Mori (Hg.): Yutori (wie Anm. 1). S. 161–184; Christoph Deutschmann: Arbeitszeit in Japan. Organisatorische und organisationskulturelle Aspekte der ‚Rundumnutzung‘ der Arbeitskraft. Frankfurt a. M./New York 1987.
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4 Ende der Arbeitsgesellschaft? Stabile Beschäftigungsverhältnisse jedoch, die bis dahin den Kern der Sozialstruktur gebildet hatten, waren nach dem Platzen der Bubble-Economy am Anfang der 1990er Jahre nicht mehr selbstverständlich. In dieser Phase verbreitete und etablierte sich ein neuer Ausdruck für Arbeit. Die neue Bezeichnung frîtâ, die das englische free mit dem deutschen ‚Arbeiter‘ in der Form Freeter verbindet, bezeichnet junge Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit verschiedenen Jobs verdienen, ohne in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis überzugehen.12 Wenn man den Entstehungszusammenhang dieser Bezeichnung näher betrachtet, ist ihre Bedeutung durchaus ambivalent. Offensichtlich kam sie noch in der Phase der Bubble-Economy auf, in der noch relativ gute Beschäftigungsverhältnisse auch für junge Menschen vorherrschten. Entscheidend ist, dass Freeter in dieser Frühphase vor allem als Selbstbezeichnung gebraucht wurde und daher eine positive Konnotation besaß, in die eine individualistisch-freie Lebensstilvorstellung einging. Gerade in der Hochphase der Bubble-Economy, in der sehr viele gut bezahlte Jobs angeboten wurden, schien ein neuer Lebensstil möglich zu werden, in dem die individuelle Selbstverwirklichung im Mittelpunkt stand. Diese Vorstellung wurde allerdings nach dem Ende der Bubble-Economy vom Strukturwandel des Arbeitsmarktes eingeholt. Die Zahl stabiler Beschäftigungsverhältnisse sank, und immer mehr junge Menschen verblieben – zum Teil ungewollt, zum Teil durchaus freiwillig – im Bereich der irregulären Arbeitsverhältnisse. In diesem Moment kehrte sich die Selbstbezeichnung in eine Fremdbezeichnung um – mit der negativen Konnotation aus der Perspektive der älteren Bevölkerung, dass den jungen Menschen die Bereitschaft für eine reguläre Arbeit fehlen würde, unabhängig davon, warum jemand sich in dieser Situation befand. So formulierte das Arbeits- und Gesundheitsministerium 1991 die bisher am häufigsten zitierte Definition für Freeter: „Menschen zwischen dem 15. und 34. Lebensjahr, die keine Bildungseinrichtung besuchen und entweder Teilzeitbeschäftigungen (arubaito) nachgehen oder sich dies wünschen.“13 Diese Entwicklung ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits zeigt sie einen zum Teil von den Betroffenen intendierten Bruch mit dem standardisierten Ideallebenslauf. Die positive Konnotation der (Selbst-)Bezeichnung Freeter liegt in der Vorstellung, eigenen Interessen nachzugehen, während man den Lebensunterhalt durch Teilzeitjobs verdient. Die Arbeit war hier kein prägender Wertbegriff mehr, sondern Bezeichnung einer Lebensphase und man strebte nicht mehr nach einer lebenslangen Festanstellung unmittelbar nach der Ausbildungsphase. Andererseits 12 Vgl. zum Phänomen Freeter: Reiko Kosugi: Escape from Work. Freelancing Youth and the Challenge to Corporate Japan. Melbourne 2008. 13 Ministry of Labour: Rôdô hakusho (Weißbuch der Arbeit). Tokyo 1991.
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weist sie auf den Wandel hin, in dem das Konzept der Arbeit heterogener wird. Als ‚Arbeit‘ gilt nun nicht mehr allein die Tätigkeit der männlichen Festangestellten, die sich mit ihrem Unternehmen identifizieren, sondern mit den neuen Bezeichnungen arubaito und frîtâ tritt die Vielfalt der Tätigkeiten und der sie ausführenden Personen in Erscheinung. Die Heterogenisierung des Arbeitskonzeptes wird zeitgleich von einem anderen Prozess begleitet, der durchaus große Schnittmengen mit dem Phänomen der Freeter aufweist. Dies ist das Phänomen der Arbeitsentsendung. Diese Arbeitsform – auf Japanisch haken rôdô – wurde in der japanischen Gesellschaft ab dem Jahr 1986 möglich, nachdem ein Jahr zuvor das Arbeitsentsendungsgesetz (rôdôsha haken hô) verabschiedet worden war.14 Damit wurde es Unternehmen ermöglicht, Personal je nach Wirtschaftslage kostengünstiger und flexibel einzustellen, ohne ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis anzubieten. Diese neue Beschäftigungsform bringt es mit sich, dass die Zugehörigkeit zum Unternehmen, die für das oben beschriebene japanische Beschäftigungssystem die zentrale Rolle spielte, nicht mehr von allen Beschäftigten gleichermaßen erwartet werden kann. Somit entstehen zwei unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf die Arbeit innerhalb eines Unternehmens. Die Festangestellten sind im Rahmen des herkömmlichen Arbeitskonzeptes beschäftigt, während die entsandten Mitarbeiter ihre Arbeit möglicherweise ohne starke Identifikation mit dem Unternehmen verrichten. Damit ist ein Riss innerhalb der bis dahin als Einheit betrachteten Betriebsgemeinschaft entstanden, was für das Selbstverständnis des japanischen Beschäftigungssystems tiefgreifende Konsequenzen mit sich gebracht hat und weiter bringen wird.
5 Schluss Es wurde in sehr groben Zügen die Bedeutungsverschiebung und Ausfächerung des Arbeitsbegriffs in der japanischen Gesellschaft dargestellt, der im nächsten Schritt von verwandten Begriffen wie Beruf (shokugyô), Arbeitstätigkeit (sagyô) oder Karriere (kyaria) genauer abzugrenzen wäre. Diese Begriffe konnten im vorliegenden Aufsatz nicht weiter untersucht werden. Das gesamte Bedeutungsspektrum des Arbeitsbegriffes im Sinne von rôdô würde erst dann sichtbar werden, wenn man ihn in Zusammenhang mit diesen verwandten Begriffen untersuchte. Doch erlauben die obigen Ausführungen erste Hypothesen dazu, welchen Wandel der Begriff der Arbeit in der japanischen Gesellschaft durchgemacht hat. Erst 14 Vgl. Kazumichi Goka: Haken rôdô (Arbeitsentsendung). In: Ryôtarô Ishihata/Tomio Makino (Hg.): Yokuwakaru shakaiseisaku (Leicht verständliche Sozialpolitik), Tokyo 2009. S. 92–93.
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musste er als ein Übersetzungswort in die Gesellschaft eingeführt werden, wobei er auf der Alltagsebene lange keine Rolle spielte. Im intellektuellen Diskurs um die Wirtschaft im nationalstaatlichen Kontext hingegen war er von großer Bedeutung. In der Nachkriegsgesellschaft etablierte sich mit der Zeit eine Gesellschaftsstruktur, in der die abhängige Arbeit zentral wurde. Hier erst kann man wohl davon sprechen, dass der Arbeitsbegriff (im Sinne von rôdô) auch unter der Bevölkerung an Relevanz gewann. Erst in dieser Phase wurde er mit seiner weitgehend homogenen Bedeutung für die Bevölkerung relevant. Doch diese Arbeitssituation löste sich parallel zur Wirtschaftsentwicklung seit der Mitte der 1980er Jahre allmählich auf, so dass man heute immer stärker von heterogenen Vorstellungen von Arbeit und einer entsprechenden Vervielfältigung des semantischen Felds ausgehen muss. Dies bestätigen auch die neuesten Entwicklungen in der japanischen Gesellschaft, welche sich sowohl im Wandel der Gesellschaftsstruktur als auch im gesellschaftlichen Diskurs zeigen. Einerseits ist dies der Diskurs um die work-life balance – auf Japanisch wâku raifu baransu –, der im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aufkam. Den Hintergrund dazu bildet der demographische Wandel, der eine veränderte Einstellung zur Arbeit und zum Privatleben notwendig macht. Da eine Ursache der sehr niedrigen Geburtenrate in den problematischen Arbeitsbedingungen für Frauen gesehen wird, entwickelte sich das Konzept der work-life balance seit 2007 zu einem Schlagwort der Politik und Wirtschaft. Die andere Entwicklung ist das Phänomen der working poor – auf Japanisch wâkingu pua –, das ebenfalls seit etwa 2005 als soziales Problem auftaucht. Dahinter steht die Verbreitung des Niedriglohnsektors und der irregulären Beschäftigungsverhältnisse. Das Auseinanderklaffen der sozialen Schichten wird sichtbar, wobei für diejenigen, die aus dem Arbeitsmarkt herausfallen, in der Regel keine Mindestsicherung wie in vielen europäischen Ländern angeboten wird. Bemerkenswert in beiden Entwicklungen ist, dass hier die englischen Ausdrücke als Lehnwörter direkt übernommen werden, ohne sie anhand der chinesischen Schriftzeichen zu übersetzen. Diese Entwicklungen zeigen auch, dass die Heterogenisierung des Arbeitsbegriffs in der japanischen Gesellschaft weiter voranschreitet. Hierbei bleibt zu klären, was die zunehmende direkte Übernahme der englischen Ausdrücke als Lehnwörter für Sprache und Gesellschaft bedeutet. Zumindest drücken diese Lehnwörter aus, dass die bezeichneten Phänomene neu in der Gesellschaft sind und sie vor allem die jungen Menschen betreffen. Es gilt ebenso zu beobachten, wohin dieser Prozess die japanische Gesellschaft führen wird. Denn es ist unverkennbar, dass das Konzept der Arbeit, das sich in der Phase des Wirtschaftsaufschwungs etabliert hatte, für lange Zeit die Identifikationsgrundlage für einen großen Teil der Bevölkerung anbot. Was passiert nun, wenn diese Grundlage der Identifikation sich allmählich auflöst? Das ist eine Frage, die die existenzielle Grundlage der japanischen Gesellschaft berührt. Daher bleibt es spannend zu beobachten, wie sich der Begriff der Arbeit dort weiter entwickelt.
Jörg Neuheiser
Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten? Werteforschung, neue Arbeitssemantiken und betriebliche Praxis in den 1970er Jahren
„Welche Stunden sind Ihnen ganz allgemein die liebsten – die Stunden während der Arbeit oder die Stunden, während Sie nicht arbeiten, oder mögen Sie beides gern? Glauben Sie, es wäre am schönsten zu leben, ohne arbeiten zu müssen? Würden Sie sagen, dass Sie Ihre jetzige Arbeit voll und ganz befriedigt oder nur zum Teil oder gar nicht? Soll man Kinder dazu erziehen, ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft zu tun?“ Das sind einige der Fragen aus einem umfangreichen Katalog, mit denen das Allensbacher Institut für Demoskopie in den sechziger und siebziger Jahren Einstellungen zur Arbeit und die Bedeutung von Arbeit im Leben der Bundesbürger ermitteln wollte.1 Auffällig ist dabei zunächst die semantische Unbestimmtheit der Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚Nicht-Arbeit‘. Die Befragten mussten selber entscheiden, was sie jeweils mit den vorgeschlagenen Alternativen verbanden. Ob sie ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis oder eine selbständige Erwerbstätigkeit vor Augen hatten, ob sie Hausarbeit in ihre Arbeitsvorstellung einschlossen, ob Arbeit eher mit körperlicher Anstrengung oder geistiger Tätigkeit verbunden wurde, was schließlich in den Stunden, in denen man nicht arbeitete, passierte – all das blieb offen und folglich den Befragern verborgen. Dennoch wurden aus dem Vergleich solcher Befragungen weitreichende Schlussfolgerungen zum Arbeitsverständnis der Bundesbürger gezogen. In einem bekannten Beitrag in der Wochenzeitung „Die Zeit“ stellte Elisabeth Noelle-Neumann, die Leiterin des Allensbacher Instituts, im Juni 1975 fest, dass sich bürgerliche Kreise in ihren Wertvorstellungen proletarischen Schichten anpassten.2 Besonders bedrohlich sei, 1
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Institut für Demoskopie Allensbach: Berufstätige Arbeiter. Veränderungen von Einstellungen und Interessen. Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 2030, Tabellen 17–19. Zit. nach: Elisabeth Noelle-Neumann: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft. Zürich 1978. S. 17. Dies.: Werden wir alle Proletarier? In: Die Zeit, 13.6.1975. Der zweite Teil des Artikels erschien unter dem Titel „Reformen in neuer Richtung“ in der folgenden Ausgabe am 20.6.1975.
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dass „charakteristische bürgerliche Werte“ dramatisch an Bedeutung verloren hätten. Dazu zählte sie etwa den „hohen Wert von Arbeit, von Leistung; die Überzeugung, dass sich Anstrengung lohnt“, und „den Glauben an Aufstieg und die Gerechtigkeit dieses Aufstiegs“. Nur noch eine Minderheit, so die Autorin, sehe Arbeit als zentralen Lebensinhalt. „Arbeitsunlust, Ausweichen vor Anstrengung, auch der Anstrengung des Risikos“ – mit diesen Worten charakterisierte sie die Einstellung einer wachsenden Zahl von Bundesbürgern zur Arbeit. Insgesamt sei das Verhältnis zur Arbeit distanzierter geworden, die Leistungsbereitschaft im Beruf habe deutlich nachgelassen und der Respekt vor Eigentum und traditionellen Erziehungszielen wie Anpassung an die Gesellschaft und Ordnungsliebe schwinde.3 In anderen Zusammenhängen brachte Noelle-Neumann diese Entwicklung auf den Begriff des ‚Verfalls‘, der das traditionelle bürgerliche Arbeitsethos einschloss, und löste damit umfangreiche Debatten über die Wertvorstellungen der Westdeutschen aus.4 Wissenschaftlich gehören die Befragungen des Allensbacher Instituts in den Kontext der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung, die seit Ende der sechziger Jahre vor allem vom amerikanischen Politologen Ronald Inglehart vorangetrieben wurde. Das Institut für Demoskopie hatte im Rahmen einer von ihm geleiteten vergleichenden Untersuchung in sechs westeuropäischen Ländern die Befragung in Deutschland übernommen, auf deren Grundlage Inglehart am Beginn der siebziger Jahre den Begriff der silent revolution prägte.5 Innerhalb weniger Jahre, also in kürzester Zeit, hätten sich die Wertvorstellungen in zahlreichen westlichen Gesellschaften dramatisch verändert. Ein früher dominantes ‚materialistisches Wertmuster‘ sei insbesondere bei jüngeren Generationen durch ‚postmaterialistische Werte‘ ersetzt worden, die weiter an Zustimmung gewönnen. Unter ‚postmaterialistischen Werten‘ verstand er Leitvorstellungen wie Emanzipation, Lebensqualität, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Ihnen gegenüber standen ‚materialistische‘ Wertvorstellungen wie das Streben nach sozialem Aufstieg und ökonomischer Sicherheit, Leistung und Prestige.6 Die These von der silent revolution führte in der Folge zu einem regelrechten Boom der Werteforschung: Bis heute wird weltweit regelmäßig nach der Entwicklung der Werthaltungen gefragt. Für Deutschland, Westeuropa und insgesamt die ‚westli-
3 Ebd. 4 Vgl. dies.: Werden wir alle Proletarier? (wie Anm. 1). Bes. S. 59–71. 5 Vgl. Ronald Inglehart: The Silent Revolution in Europe. Intergenerational Change in Post-Industrial Societies. In: American Political Science Review, 65, 1971. S. 991– 1017, hier: S. 994. 6 Vgl. ebd. und Ingleharts zentrale Publikation in diesem Zusammenhang: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton 1977.
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che Welt‘ wurden und werden dabei grundsätzlich ähnliche Ergebnisse festgestellt.7 Obwohl demoskopische Daten aus den neunziger Jahren typische Erklärungsmuster und Verlaufslinien in Frage stellten und zu breiten Diskussionen über die langfristigen Trends des Wertewandels führten, beharren prominente Wertewandelsforscher bis heute darauf, dass sich die Entwicklung nach wie vor als kontinuierlicher Wandel hin zu postmaterialistischen Werten verstehen lässt.8 Mit Blick auf die sich wandelnde Semantik von ‚Arbeit‘ und ‚Nicht-Arbeit‘ ist in diesem Zusammenhang entscheidend, dass mit der sozialwissenschaftlichen Diskussion der Umfrageergebnisse und ihrer breiten Rezeption in Politik und Öffentlichkeit in den siebziger Jahren eine neue Form der Beschreibung von ‚Arbeit‘ Prominenz gewann. Dabei ging es weniger um die Prägung eines neuen Begriffs oder Schlagworts – dafür setzten sich ‚Postmaterialismus‘ oder ‚postmaterialistisches Arbeiten‘ im allgemeinen Sprachgebrauch zu wenig fest, nicht zuletzt weil andere Wertewandelsforscher, etwa Helmut Klages, ähnliche Ergebnisse in anderer Diktion beschrieben.9 Typisch aber wurde die Beschreibung einer veränderten Dominanz bestimmter Arbeitsvorstel7
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Für einen Überblick über die Entwicklung der Wertewandelsforschung vgl. Karl-Heinz Hillmann: Zur Wertewandelsforschung. Einführung, Überblick und Ausblick. In: Georg W. Oesterdiekhoff/Norbert Jegelka (Hg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften. Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften. Opladen 2001. S. 15–39, und Helmut Thome: Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung. In: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 386–443. Als Beispiele für eine breite Diskussion in Bezug auf Deutschland vgl. etwa Markus Klein/Dieter Ohr: Ändert der Wertewandel seine Richtung? Die Entwicklung gesellschaftlicher Wertorientierungen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1980 und 2000. In: Rüdiger Schmitt-Beck/Martina Wasmer/Achim Koch (Hg.): Sozialer und politischer Wandel in Deutschland. Analysen mit ALLBUS-Daten aus zwei Jahrzehnten. Wiesbaden 2004. S. 153–178, und die Beiträge in Edeltraud Roller (Hg.): Jugend und Politik: „Voll normal!“. Der Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung. Wiesbaden 2006. Für jüngere Bekräftigungen der Thesen Ingleharts vgl. Martin Kroh: Wertewandel: Immer mehr Ost- und Westdeutsche ticken postmaterialistisch. In: DIW-Wochenbericht, 75, 2008, Ausgabe 34. S. 480–486, und Ronald Inglehart: Changing Values among Western Publics from 1970 to 2006. In: West European Politics, 31, 2008. S. 130–146. Klages, der neben Noelle-Neumann im Kontext der Wertewandelsdiskussion bekannteste deutsche Sozialwissenschaftler, sprach abweichend von einem Wandel von traditionellen ‚Pflicht- und Akzeptanzwerten‘ zu neuen ‚Selbstentfaltungswerten‘ und schuf im Rahmen einer Typologie Bezeichnungen wie ‚Konventionalisten‘ oder ‚Idealisten‘ für die Vertreter beider Wertesets. Im Kern verweisen seine Begriffe auf dieselben Typen wie Ingleharts ‚Materialisten‘ und ‚Postmaterialisten‘; typisch für die stärker differenzierende Beschreibung des Wertewandels bei Klages ist, dass er neben den beiden genannten Typen mit den ‚Realisten‘ und ‚Resignierten‘ auch noch Vertreter von
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lungen, die einherging mit der Klage über die zunehmend mangelnde Leistungsbereitschaft insbesondere innerhalb der jüngeren Generation. Beispielhaft lässt sich das an einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ belegen, der im August 1975 Umfrageergebnisse von Elisabeth Noelle-Neumann referierte und in Verbindung zur freizügigen Sommermode junger Frauen in der Bonner Innenstadt setzte. Die „raffiniert bedeckte Schaustellung von Nudität“ – beschrieben wurden Frauen, die offensichtlich keinen BH unter dem T-Shirt trugen – lasse sich als Ausdruck eines „Reprivatisierungsprozesses“ deuten, in dem die Jugendrevolte der späten sechziger Jahre sich nun in neuen Werthaltungen niederschlage, insbesondere dem Niedergang des „hohen Rang[s] von Leistung und Arbeit“. Nicht zuletzt junge Frauen hätten „in den letzten Jahren gelernt, die sexuelle Anziehungskraft des Mannes noch vor der Tüchtigkeit im Beruf hochzuachten, während ihre Wertschätzung für Fleiß, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Treue deutlich nachgelassen“ habe. Ausdruck des Wandels seien zudem das „vehemente Verlangen nach einem individuellen Freiheitsraum in der Arbeitswelt, das Bedürfnis sinnvoll tätig zu sein“.10 Die neuen ‚Postmaterialisten‘ schienen, so zumindest die Wahrnehmung in Forschung und Presse, anders arbeiten zu wollen als ihre ‚materialistischen‘ Vorgänger oder Gegenüber. Arbeit sei für sie nicht mehr ein Mittel zur sinnstiftenden Daseinssicherung, das sich in erster Linie mit Pflichtbewusstsein und Leistungsbereitschaft verbinde und gleichzeitig ‚Erfüllung‘ im Arbeiten selbst ermögliche. Allenfalls sähen sie in der Arbeit einen Baustein für eine insgesamt auf Emanzipation und Selbstentfaltung angelegte Lebensweise. Arbeit könne aus ihrer Sicht zu diesen Zielen beitragen, wenn sie Partizipation, Kreativität sowie individuelle Weiterentwicklung ermögliche, aber sie werde nicht länger als Wert an sich und zentrales Moment individueller Sinnstiftung verstanden. Ihr Stellenwert im individuellen Leben sinke gegenüber dem Bereich der ‚Freizeit‘, besonders wenn Arbeit hierarchisch gegliedert blieb, strengen Regeln und Abläufen unterworfen war und wenig Spielraum für individuelle Freiräume bot: Dann nehme die Leistungsbereitschaft ab und die Bedeutung von Arbeit für das eigene Leben werde äußerst gering eingeschätzt – Arbeit erscheine als reines Mittel zum Zweck.11 ‚Mischformen‘ beider Wertesets unterscheidet. Vgl. Helmut Klages: Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. Frankfurt am Main 1984. 10 Art.: Jugendrevolution – ganz privat. In: Die Welt, 7.8.1975. Vgl. auch: Die stille Revolution der Elisabeth Noelle-Neumann. In: Stuttgarter Zeitung, 18.2.1976; Deutsche keine Arbeitstiere mehr. In: Express, 18.2.1976; Deutsche wollen ihr Leben genießen. In: Bonner Generalanzeiger, 18.3.1976. Auch Artikel, die sich kritisch mit der These des ‚Verfalls des Arbeitsethos‘ auseinandersetzten, beschrieben grundsätzlich ähnliche Veränderungen. Vgl. etwa Karl Otto Hondrich: Machen soziale Reformen glücklich? In: Die Zeit, 18.7.1975. 11 Entsprechende Veränderungen im deutschen Diskurs wurden Anfang der achtziger Jahre auch im Ausland wahrgenommen. Vgl. die Art.: Prospects. In: New York Times,
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Es sind nicht zuletzt solche – zunächst publizistisch suggerierten – semantischen Verschiebungen, die den Befunden der Wertewandelsforschung auf den ersten Blick eine hohe Plausibilität verleihen. Ungeachtet jüngster Diskussionen über den Wert zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und Deutungskonzepte für die zeithistorische Analyse haben deutsche Historiker die Ergebnisse der Wertewandelsforschung entsprechend nahezu vollständig akzeptiert.12 Fast alle Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik beschreiben mit Hinweis auf die Ergebnisse Ingleharts, Noelle-Neumanns und Klages’ für die Zeit um 1970 einen „Prozess der Entnormativierung“ (Conze) und der Individualisierung von Wertvorstellungen, der im engen Zusammenhang mit dem ökonomischen Strukturwandel hin zur postindustriellen Gesellschaft angeführt wird, um einschneidende Veränderungen der politischen Kultur in Westdeutschland, aber auch strukturelle Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter, des Familienlebens und der Arbeitswelt zu erklären.13 Ganz selbstverständlich verweist auch Andreas Wirsching auf die soziologische Werteforschung als Beleg für seine These, dass „Konsum statt Arbeit“ seit den siebziger Jahren die zentrale identitätsstiftende Funktion in individuellen Lebensentwürfen übernommen habe: Nach dem Wertewandel fungiere Arbeit besonders für Jugendliche „vor allem als Mittel zum Erwerbszweck, der die Individualitätskonstruktion im Konsum- und Freizeitbereich materiell überhaupt erst ermöglicht“.14 12.10.1980; For Greens It’s Make Waves Not War. In: ebd., 3.10.1982; und Germany: Enter the Leisure Ethic. In: The Times (London), 15.5.1984. 12 Vgl. die Bemerkungen zum Doppelcharakter soziologischer Studien als Quelle und Literatur in Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970. Göttingen 2008. S. 75 ff. Daneben Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59, 2011. S. 479–508, und Bernhard Dietz/Christopher Neumaier: Vom Nutzen der Sozialwissenschaft für die Zeitgeschichte. Wert und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60, 2012. S. 293–304. 13 Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009. S. 554–560, das Zitat dort S. 554. Vgl. auch: Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR, 1949–1990. München 2008. S. 291 f.; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006. S. 253–260; und Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999. S. 620 f. 14 Andreas Wirsching: Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 57, 2009. S. 171–199, hier: S. 193 f. Nur wenig differenzierter: Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014. S. 910f.
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Gerade für die industriellen Beziehungen und die Arbeitswelt nach dem ‚Strukturbruch‘ – gemeint sind etwa der in Deutschland ab den frühen siebziger Jahren diskutierte Bedeutungsverlust klassischer Industriearbeit gegenüber dem Dienstleistungssektor, aber auch die technologische Veränderung von Produktions- und Arbeitsformen durch den zunehmenden Einsatz von Mikroelektronik und Computern sowie die schnell zunehmende Internationalisierung von Wirtschaftsbeziehungen – scheint die neue postmaterialistische Semantik der Arbeit dabei die Tiefe des Bruchs zu unterstreichen. So haben Winfried und Dietmar Süß aus anderer Perspektive kürzlich auf die breiten Debatten um eine Neubestimmung des Arbeitsbegriffs seit Mitte der siebziger Jahre hingewiesen, die zum einen um den neuen Begriff der ‚Flexibilisierung‘ kreisten und sich zum anderen in unterschiedlichen Versuchen widerspiegelten, Antworten auf neue ‚postindustrielle‘ Wertvorstellungen und alternative Ansprüche an Arbeit zu geben.15 Konkret führen sie etwa die Auseinandersetzungen um die ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘, die theologische Neubestimmung der Haltung der Katholischen Kirche zur Arbeit durch die Enzyklika „Laborans exercens“ und die vielfältigen Versuche zur Verwirklichung eines alternativen, im engeren Sinne ‚postmaterialistischen‘ Ideals von Arbeit im Kontext der neuen sozialen Bewegungen und des neuen alternativen Milieus an. Perspektivisch scheint in den neuen Arbeitssemantiken dabei das Bindeglied auf, mit dem sich die langfristige Herausbildung neuer Formen entgrenzter Arbeit erklären lassen, die von Arbeitssoziologen heute über Begriffe wie ‚Arbeitskraftunternehmer‘, das neue ‚unternehmerische Selbst‘ oder den ‚neuen Geist des Kapitalismus‘ analysiert werden.16 Denn gerade die Auflösung traditioneller Arbeitsvorstellungen durch die individualisierende Kapitalismuskritik der Jahre nach 1968 habe in den folgenden Jahrzehnten der Entwicklung besonders belastender Formen der Arbeitsorganisation, der Verschärfung des Leistungsdrucks und des wachsenden Zwangs zur Selbstvermarktung bei Arbeitnehmern Vorschub geleistet.17 15 Winfried Süß/Dietmar Süß: Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven. In: Knud Andresen/ Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten. Bonn 2011. S. 345–368, bes. S. 351–354. Vgl. auch den Beitrag von Dietmar Süß in diesem Band. 16 Vgl. Günter Voss/Hans Jürgen Pongartz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 1998. S. 131–158; Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. 2007; und Luc Boltanski/ Eve Chiapello: Le nouvel esprit du capitalisme. Paris 1999. Vgl. auch den Beitrag von Ulrich Bröckling in diesem Band. 17 Diese Argumentation findet sich besonders bei Boltanski und Chiapello; für Deutschland wurde sie von Arndt Neumann: Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management. Hamburg 2008, vertreten.
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Im Folgenden soll in zwei Schritten gezeigt werden, dass gegenüber diesem Erklärungsmodell, das den Wandel der Einstellungen zur Arbeit in den siebziger Jahren einseitig betont, grundlegende Zweifel angebracht sind. Zunächst wird betrachtet, welche Bedeutung ‚Arbeit‘ und ‚Nicht-Arbeit‘ in der unmittelbaren Diskussion um den Wertewandel in den siebziger Jahren gespielt haben. Lassen sich neue Begriffe und die Ergebnisse der Wertewandelsforschung so unproblematisch aufeinander beziehen, wie das die gängige Darstellungspraxis von Zeithistorikern nahelegt? Welche Rolle spielte die Rezeption der Wertewandelsforschung für die gesellschaftliche Debatte über Arbeit? Wir wirkten sich Wechselwirkungen zwischen Politik und Wissenschaft aus? Vor dem Hintergrund einer Problematisierung der Ergebnisse der Wertewandelsforschung erfolgt in einem zweiten Schritt ein Blick auf die Rolle neuer Arbeitssemantiken in der betrieblichen Praxis. Als Fallbeispiel dient hier das DaimlerBenz-Werk Untertürkheim, in dessen innerbetrieblichen Auseinandersetzungen ‚postmaterialistische‘ Begriffe während der siebziger Jahre eine wichtige Rolle spielten.
1 Wissenschaft, Politik und die neue Semantik von ‚Arbeit‘ und ‚Nicht-Arbeit‘ in den Debatten um den Wertewandel Wie die unmittelbare Übernahme von Umfrageergebnissen in zeithistorische Darstellungen zeigt, sind repräsentative Umfragen und die demoskopische Forschung insgesamt eine verführerische Quelle für Historiker, weil sie einen verlässlichen, mit wissenschaftlichen Standards ermittelten Zugriff auf ‚tatsächliche‘ Vorstellungen bei Menschen aller Schichten und Milieus zu ermöglichen scheinen. Dass innerhalb der Sozialwissenschaften schon früh fundamentale Kritik an den Methoden und impliziten Annahmen der Demoskopie geübt wurde, findet dabei ebenso wenig Beachtung wie die inzwischen weit fortgeschrittene Untersuchung der gesellschaftlichen Einbettung der empirischen Sozialforschung und speziell der Meinungsforschung in der Bundesrepublik.18 Obwohl dadurch die komplexen personellen wie finanziellen Verbindungen zwischen Regierungsinstitutionen und Parteien, Kirchen und gesellschaftlichen Verbänden sowie Unternehmen und Medien auf der einen, Meinungsforschungsinstituten und wissenschaftlichen Einrichtungen auf der anderen Seite weitgehend bekannt 18 Vgl. etwa Pierre Bourdieu: Die öffentliche Meinung gibt es nicht. In: ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993 (französische Erstausgabe 1973). S. 212–223; Christoph Weischer: Das Unternehmen „Empirische Sozialforschung“. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland. München 2004; Anja Kruke: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990. Düsseldorf 2007; Benjamin Ziemann: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975. Göttingen 2007.
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sind, wird die Frage nach der Bedeutung solcher Verbindungen für die Interpretation konkreter Umfrageergebnisse oder die historische Deutung von durch demoskopische Studien entscheidend beeinflussten gesellschaftlichen Debatten nur selten gestellt. Gerade für die Wahrnehmung von Arbeit und das sich wandelnde Verhältnis von Arbeit und Freizeit in den siebziger Jahren war die Rezeption der Ergebnisse der Wertewandelsforschung jedoch von herausragender Bedeutung. Nahezu unverzüglich nach der Veröffentlichung des eingangs zitierten Artikels von Elisabeth Noelle-Neumann prägte sich eine ideologisch aufgeladene Debatte aus, in der Konservative und Vertreter des sozialliberalen Lagers darüber stritten, ob die gemessenen Werte zur Leistungsbereitschaft als ‚Verfall des Arbeitsethos‘ oder als Chance für den gesellschaftlichen Fortschritt gewertet werden sollten. Für das konservative Lager lag die Einordnung auf der Hand. Noch vor der Publikation ihres Artikels in „Die Zeit“ hatte Elisabeth Noelle-Neumann im Mai 1975 ihre Ergebnisse auf der jährlichen Geschäftsführerkonferenz der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände referiert.19 Hier schien der ‚Werteverfall‘ scheinbar schlüssig Probleme von Unternehmen zu erklären, die Anfang der siebziger Jahre intensiv diskutiert worden waren, etwa das Phänomen der ‚inneren Kündigung‘ von Mitarbeitern, die Zunahme von Fehlzeiten aufgrund von Krankheit oder der Rückgang der Arbeitsmotivation. Zudem passte die Darstellung in einen historischen Kontext, in dem Finanzkrisen und Ölpreisschock gerade die Gewissheiten der Wirtschaftspolitik und kollektiven Fortschrittserwartungen erschüttert hatten und man unter dem Stichwort ‚postindustrielle Gesellschaft‘ begann, grundlegende strukturelle Verschiebungen zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren intensiver wahrzunehmen.20 Der ‚Werteverfall‘ erschien hier als einleuchtendes Narrativ zur genaueren Erklärung der Krise. Mit scharfer Kritik an den Vertretern der neomarxistischen Kritischen Theorie sowie deren Einfluss auf Studenten und die junge Generation lieferte Noelle-Neumann zugleich die Schuldigen und bot indirekt eine Lösung, nämlich die Stärkung traditioneller Werte zur Wahrung der Arbeitsmoral.21 Darüber hinaus brachte sie einen wichtigen Begriff in Stellung, der auch für die Gegenseite von zentraler Bedeutung war: ‚Freiheit‘. Noelle-Neumann argumentierte nachdrücklich, dass Leistungsbereitschaft und Arbeitszufriedenheit mit den Entscheidungsspielräumen am Arbeitsplatz zusammenhingen und beklagte eine seit langem 19 Vgl. Jahresbericht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 1975. Bergisch-Gladbach 1975. S. 2–3. 20 Vgl. den Überblick bei Martin Geyer: Rahmenbedingungen: Unsicherheit als Normalität. In: ders. (Hg.): 1974–1982. Bundesrepublik Deutschland: Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten. (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6). Baden-Baden 2008. S. 1–109, hier: S. 47–87. 21 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Thomas Petersen: Zeitenwende. Der Wertewandel 30 Jahre später. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29, 2001. S. 15–22, hier: S. 17.
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bestehende verhängnisvolle Verknüpfung der Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘. Es gehe darum, den Menschen aller sozialen Schichten in allen Bereichen mehr Freiraum für persönliche Entscheidungen zu schaffen – gerade auch am Arbeitsplatz.22 Diese Spitze richtete sich gegen das von der sozialliberalen Koalition und den Gewerkschaften angestrebte Mitbestimmungsgesetz, das 1975 in Parlament und Öffentlichkeit heftig diskutiert wurde. Solche Reformen führten aus Sicht von Noelle-Neumann in die falsche Richtung, weil sie auf eine Stärkung der Arbeiter und Angestellten im Kollektiv setzten, nicht auf steigende individuelle Selbstbestimmung am Arbeitsplatz.23 Zugleich deutete sie damit eine Argumentationsfigur an, die in den folgenden Jahren bei Arbeitgeberverbänden und innerhalb der CDU eine wichtige Rolle spielen sollte: Forderungen nach betrieblichen Effizienzsteigerungen durch Hierarchieverflachung, die Selbstorganisation kleiner betrieblicher Einheiten oder die Flexibilisierung von Arbeitszeiten ließen sich über Werte wie Freiheit und Individualität rechtfertigen. Dass die Allensbacher Meinungsforscher in ihren Deutungen des Wertewandels ausgesprochen nah an die programmatischen Formulierungen rückten, mit denen die oppositionellen Unionsparteien ab Mitte der siebziger Jahre politische Kontroversen mit der SPD zuspitzen wollten, nämlich ‚Freiheit statt Gleichheit‘, war alles andere als ein Zufall.24 Die Verknüpfung von Wahlkampfstrategie, politischer Sprache und sozialwissenschaftlichen Forschungen wurde von der Planungsgruppe beim CDUBundesvorstand zentral vorbereitet und gesteuert. Besonders Warnfried Dettling, damals Leiter der Planungsabteilung in der CDU-Bundesgeschäftsstelle, speiste in enger Absprache mit den Generalsekretären Kurt Biedenkopf (1973–1977) und Heiner Geißler (1977–1989) sowie der Konrad-Adenauer-Stiftung immer wieder Hintergrundpapiere, Fakten und konservative Deutungen von Wertewandelsstudien in die Partei und das christdemokratische Milieu ein.25 Das Ziel war es, schrieb ein
22 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Reformen in neuer Richtung. In: Die Zeit, 20.6.1975. 23 Zur Auseinandersetzung um das Mitbestimmungsgesetz vgl. Knut Wolfgang Nörr: Die Burg brennen, aber nicht zerstören. Rechtsentwicklung und Gewerkschaftspolitik am Beispiel der 1970er und 1980er Jahre. In: Zeitschrift für Arbeitsrecht, 37, 2006. S. 117–171, hier: S. 138–150. 24 Zur Programmatik der CDU in den siebziger Jahren vgl. allgemein Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU. Stuttgart 2002. S. 29–44; sowie Geyer, Rahmenbedingungen (wie Anm. 20). S. 23–38. 25 Vgl. das Strategiepapier Dettlings zur Arbeit der im August 1973 geschaffenen Planungsgruppe vom 17.7.1974, im Archiv für christlich-demokratische Politik (AcdP), 07-001-11490; sowie die Sammlung von Reden, Artikeln und Papieren Dettlings aus den Jahren 1973–1980 zum Thema Werte/Wertewandel in den Akten der Planungsgruppe, AcdP 07-001-17031.
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enger Mitarbeiter Biedenkopfs 1975, „unsere Politik mit Wissenschaft in Verbindung“ zu bringen.26 Dazu gehörten auch gute Beziehungen zu nahestehenden Meinungsforschungsinstituten, allen voran dem Institut aus Allensbach, das bereits seit den fünfziger Jahren regelmäßige Kontakte mit der CDU-Parteiführung unterhalten und zahlreiche Aufträge von Parteigremien der CDU oder CDU-geführten Regierungsinstanzen übernommen hatte.27 Vor allem Kurt Biedenkopf stand seit seiner Wahl zum Bundesgeschäftsführer in einer auffällig engen Verbindung mit Elisabeth Noelle-Neumann; beide telefonierten regelmäßig, besuchten sich in etwas größeren Abständen und diskutierten Fragen der politischen Semantik sowie der innerparteilichen Machtverhältnisse.28 Besonders intensiv erscheinen die Kontakte dabei 1974, also kurz vor den einschlägigen Veröffentlichungen zum Werteverfall, als Biedenkopf sich nach Absprache mit Noelle-Neumann nachdrücklich um die private Finanzierung von Umfragen des Allensbacher Instituts für die CDU durch Spenden von Unternehmern bemühte und für die Benennung fester Ansprechpartner Noelle-Neumanns in der CDU-Bundesgeschäftsstelle sorgte. Im konservativen Lager stand man mit solchen Bemühungen freilich nicht alleine da; auch auf Seiten der SPD wurde versucht, demoskopische Studien und politische Semantik Hand in Hand laufen zu lassen. Dazu diente hier die enge Zusammenarbeit mit den Meinungsforschungsinstituten Infas und Infratest. Vor allem das Münchner Institut Infratest operierte in den siebziger Jahren gezielt mit Methoden und Ideen der Markt- und Konsumforschung, um Parteivorstand und Präsidium über den „Wählermarkt“ zu informieren. Regelmäßig wurden in enger Abstimmung mit der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit Untersuchungen durchgeführt, die einerseits die Diskussion politischer Strategien oder die Festlegung von Wahlkampfslogans vor dem Hintergrund von Meinungsumfragen ermöglichen und andererseits plausible Daten zur Untermauerung der scheinbar objektiven Richtigkeit eingeschlagener Linien in der Öffentlichkeit bereitstellen sollten.29 Die gesellschaftlichen Debatten um den Wertewandel waren folglich alles andere als ein Streit um die richtige Interpretation ‚neutraler‘ wissenschaftlicher Erkenntnisse. Seit den sechziger Jahren hatten sich, etwa im Bereich der Forschungsfinanzierung und der gegenseitigen personellen Verflech26 Persönlicher Vermerk Meinhard Miegel für Kurt Biedenkopf, 4.8.1975, AcdP 07-00111490. 27 Vgl. Kruke: Demoskopie (wie Anm. 18), bes. S. 61 ff. 28 Vgl. Schriftwechsel Biedenkopf-Noelle-Neumann aus dem Jahr 1974, AcdP 07-00111038. 29 Vgl. Kruke: Demoskopie (wie Anm. 18). Bes. Kap. 3, hier: S. 272–311, sowie dies.: Der Kampf um die politische Deutungshoheit. Meinungsforschung als Instrument von Parteien und Medien in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte, 44, 2004. S. 293–326 (Zitat: S. 298).
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tungen, strukturelle Überschneidungen zwischen Politik, sozialwissenschaftlichen Hochschulinstituten und scheinbar unabhängigen Meinungsforschungsagenturen ausgeprägt, ohne die die breit angelegten Surveys zum Wertewandel nicht möglich gewesen wären. Schon die ersten Werte-Studien Ronald Ingleharts waren vom Informationsbüro der Europäischen Gemeinschaft finanziert worden; sein Leiter Jacques-René Rabier verfolgte das Ziel, über regelmäßige Umfragen in allen Mitgliedsländern der EG die Entstehung einer breiten europäischen Öffentlichkeit zu fördern.30 Ende der sechziger Jahre galt sein Interesse angesichts der 68er-Bewegung in Deutschland, Frankreich und Italien besonders Einstellungsveränderungen bei der jungen Generation im Hinblick auf den europäischen Gedanken – der Begriff des ‚Wertewandels‘ ging entsprechend aus einer Studie mit dem Titel „Changing Value Priorities and European Integration“ hervor.31 Neben dem Wunsch nach einem besseren Verständnis der rebellierenden Jugend stand von Anfang an das Bestreben, durch geschickte Kommunikation der Ergebnisse zur Verbreitung des europäischen Gedankens, aber sicher auch ganz konkret zur Unterstützung der amtierenden Europäischen Kommission beizutragen. Mit den Befragungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten wurden jeweils nationale Institute beauftragt, die ihrerseits wiederum in einem engen Verhältnis zu nationalen Regierungen und Parteien standen, weil diese in der Regel als Auftraggeber für Meinungsumfragen zum Wahlverhalten und zu allgemeinen politischen Präferenzen fungierten. In der Bundesrepublik hatte sich um 1970 auf diesem Weg eine Gruppe von Forschungsinstituten herausgebildet, die jeweils klare Parteipräferenzen hatten und in enger Abstimmung mit Regierungs- und Parteizentralen operierten.32 Zwar erhielten grundsätzlich alle Institute aus allen politischen Lagern gelegentlich Aufträge, aber ein Zusammenhang zwischen den politischen Neigungen der Institutsgründer bzw. ihrer Mitarbeiter und den von ihnen erstellten Umfrageergebnissen ist relativ leicht zu erkennen. Nicht zufällig änderte deshalb zum Beispiel der Regierungswechsel von 1969 grundlegend die Auftragsvergabe durch die Bundesregierung und das 30 Zur Rolle von Rabier vgl. Anja Kruke: Mit Umfragen zur europäischen Öffentlichkeit? Meinungsforschung, Parteien und Öffentlichkeit in Europa nach 1945. In: Jürgen Mittag (Hg.): Politische Parteien und europäische Integration. Entwicklung und Perspektiven transnationaler Parteienkooperation in Europa. Essen 2006. S. 331–357, hier: S. 343–346; dies.: Aufmerksamkeit für Europa. Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die europäische Kommission, 1958–1979. In: Comparativ, 21, Heft 4, 2011. S. 62–80, hier: S. 69–74. 31 Vgl. ebd. sowie die Hinweise bei Inglehart: Silent Revolution in Europe (wie Anm. 5). S. 993. Die zitierte Studie erschien 1971: Ronald Inglehart: Changing Value Priorities and European Integration. In: Journal of Common Market Studies, 10, 1971. S. 1–36. 32 Vgl. Kruke: Demoskopie (wie Anm. 18); dies.: Kampf um die politische Deutungshoheit (wie Anm. 29).
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Bundespresseamt. Insbesondere das Allensbacher Institut erhielt Anfang der siebziger Jahre deutlich weniger und geringer dotierte Umfrageaufträge als die SPD-nahen Institute Infas und Infratest, die in der gesamten sozialliberalen Ära wesentlich häufiger angefragt und beauftragt wurden.33 Gerade mit Bezug auf den Wertewandel und seine Erforschung ab Mitte der siebziger Jahre war die öffentliche Hand im weitesten Sinne der größte Auftraggeber von entsprechenden Studien, aber auch die politischen Parteien, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften mit den ihnen nahestehenden Stiftungen und Forschungsinstitutionen spielten eine wichtige Rolle.34 Vor allem die beiden Letzteren beauftragten häufig gezielte Studien zu Einstellungen im Bereich der Arbeitswelt. Zwischen Parteien und Verbänden, Meinungsforschungsinstituten und Ministerien fand zudem ein reger Wechsel von Mitarbeitern statt, so dass insgesamt ein dicht verflochtenes Netzwerk entstand, in dem Parteien und Interessenverbände als Auftraggeber bis in die kleinste Ausgestaltung der Fragestrategien Einfluss nahmen und insbesondere auch die Veröffentlichung von Ergebnissen steuern konnten.35 Das wird deutlich, wenn man die Reaktionen auf die konservative Interpretation des angeblichen Werteverfalls und der Rede vom Niedergang des Arbeitsethos auf sozialdemokratischer Seite betrachtet. Die Beiträge von Noelle-Neumann im Sommer 1975 sorgten im SPD-geführten Kanzleramt für Aufregung und führten umgehend zu einem längeren Gutachten zu den Artikeln und den in ihnen zitierten Umfragen, das die damalige Infratest-Projektleiterin im Bereich „Politische Einstellungen“, Sybille Picot, erstellte.36 Bereits Ende Juni 1975 gab Picots Text die Linien vor, entlang derer sich Sozialdemokraten und Gewerkschaften in den kommenden Jahren zum ‚Wertewandel‘ und zum ‚Verfall der Arbeitsmoral‘ zu Wort meldeten. Neben methodischer Kritik an der Zusammenstellung der Daten für den Artikel schlug sie insbesondere eine andere Bewertung der von Noelle-Neumann beklagten Entwicklungen vor: Die verfallenden bürgerlichen Werte seien nämlich „ausschließlich Werte, die auf das 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. zur Finanzierung der empirischen Sozialforschung allgemein Weischer: Unternehmen empirische Sozialforschung (wie Anm. 18). S. 292–302, 316–336; zur Werteforschung ab 1980: Michael Böckler (u. a.): Wertewandel und Werteforschung in den 80er Jahren. Forschungs- und Literaturdokumentation. Bonn 1991. 35 In den Akten des SPD-Parteivorstands finden sich häufige Belege für entsprechende Absprachen zur Veröffentlichung von Ergebnissen, zur Gestaltung von Fragebögen und zu einzelnen Fragen. Für Beispiele vgl. etwa die Unterlagen des Leiters der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Albrecht Müller, über seine Kontakte mit Infratest in den Jahren 1971–1972, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), SPD–PV 14402. 36 Vgl. Stellungnahme und Analyse Frau Picot vom 24.6.1975: Gutachten zu zwei „Zeit“Artikeln von Elisabeth Noelle-Neumann, Akten des Bundeskanzleramts, Bundesarchiv Koblenz, B 136/19902, Me 2, „Meinungsforschung Allensbach“, Bd. V.
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Erlernen eines konformen und angepassten Verhaltens abzielen“ (S. 6); es handle sich also eigentlich nicht um eine Revolution der Werte oder gar einen problematischen Verfall, sondern um eine „überfällige Anpassung an eine veränderte Realität“ (S. 8), deren Anforderungen, etwa „[d]emokratische Kontrolle und Ausübung demokratischer Rechte in allen Lebensbereichen“ (S. 8), also einschließlich der Unternehmen, klassisch sozialdemokratisch definiert wurden. Eine solche Umdeutung des ‚Werteverfalls‘ in ein angemessenes ‚Lernen‘ seitens der Bevölkerung – ein häufig benutzter Begriff, der sich leicht mit ‚Fortschritt‘ verbinden ließ – konnte zu einer emphatischen Bejahung des Wertewandels führen. Zumindest aber erhofften sich die Sozialdemokraten angesichts der neuen Haltungen zu Arbeit und Freizeit Rückenwind für die sozialliberalen Reformen und die konkreten Verbesserungen im Arbeitsalltag, die in den siebziger Jahren zunehmend unter dem bereits erwähnten Stichwort ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ propagiert wurden.37 Spätestens seit Ende der siebziger Jahre sahen sich Sozialdemokraten und Gewerkschaften angesichts wachsender Finanzierungsschwierigkeiten im Bereich der Sozialpolitik und der stark zunehmenden Arbeitslosigkeit in einem Abwehrkampf gegen konservative Angriffe auf sozialpolitische Errungenschaften, die mit Stichworten wie ‚Flexibilisierung‘ und ‚Deregulierung‘ einer scheinbar ‚überregulierten Arbeitswelt‘ verknüpft waren. Solche Angriffe integrierten die konservative Deutung des Wertewandels als ‚Zerfall des Arbeitsethos‘ und ‚Schwinden der Leistungsbereitschaft‘ und führten zu Beschreibungen des ‚sozialen Netzes‘ als ‚soziale Hängematte‘, zu Angriffen auf eine ‚Nullbockgeneration‘ und eine ‚Versorgungsmentalität‘, gegen die von linker Seite vor allem die Verteidigung des ‚Normalarbeitsverhältnisses‘ als zentrale Errungenschaft historischer Kämpfe der Arbeiterbewegung gesetzt wurde.38 Konkret brachten die Sozialdemokraten gegen den Verfallsdiskurs auch eine „Kritik des herkömmlichen Leistungsbegriffs“ in Stellung: Schon 1975 hatte die SPD etwa in ihrem programmatischen „Ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985“ angesichts eines in „zahlreichen meinungsbildenden Medien“ verbreiteten falschen Leistungsbegriffs ein Verständnis von Leistung gefordert, das „(s)chöpferische Phantasie, Eigeninitiative, soziales Verantwortungsgefühl und die Fähigkeit zur Kooperation“ als Voraussetzung wirklich produktiver Leistung einbe-
37 Vgl. Dieter Sauer: Von der „Humanisierung der Arbeit“ zur „Guten Arbeit“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15, 2011. S. 18–24; Anne Seibring: Die Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Knut Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hg.): Nach dem Strukturbruch (wie Anm. 15). S. 102–126. 38 Vgl. Frank Oschmiansky: Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 06–07, 2003. S. 10–16.
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ziehe.39 In diesem Zusammenhang wurden Gewerkschaften und SPD nicht müde, auf die konkreten ‚materiellen Grundlagen‘ zu verweisen, aus denen erst die Spielräume für eine von ‚immateriellen Wertvorstellungen‘ geprägte Arbeitspolitik entstünden. Sie beriefen sich dabei auf alternative wissenschaftliche Deutungen des Wertewandels, die diesen nicht auf das Stichwort ‚Verfall‘ brachten, sondern eine „sinnvolle ,Wertsynthese‘“ erkannten bzw. eine notwendige Anpassung an eine sich dramatisch ändernde Arbeitswelt feststellten, also Deutungen, wie sie etwa der Speyrer Sozialwissenschaftler Helmut Klages vorlegte.40 Auch diese Studien waren freilich aus einem engen Verbindungsgeflecht zwischen Parteien, Bundesregierung und Meinungsforschungsinstituten entstanden, hier allerdings unter sozialdemokratischen Vorzeichen. In den frühen siebziger Jahren suchten die SPD und die ihr nahestehenden Institute ganz grundsätzlich nach einer moderneren Form von Wahlumfragen, um die Wahlkampfplanungen auf eine neue Grundlage stellen zu können. Dazu entwickelte Infratest in Absprache mit dem Parteivorstand ein größeres Umfrageprojekt unter dem Titel „Politische Psychologie“, das im Umfeld der ersten Veröffentlichungen zum ‚Wertewandel‘ forciert und zunächst vom Kanzleramt finanziert wurde.41 Zwischen Kanzleramt und Parteivorstand gab es in diesem Zusammenhang intensive Beratungen, die sich einerseits um möglichst geringe Kosten, andererseits um das Ziel drehten, dass die gesammelten Daten nur der eigenen Seite zur Verfügung stehen sollten.42 Während das ursprünglich geplante Projekt in dieser Form am Ende nicht verwirklicht werden konnte, begann die Bundesregierung ab Mitte der siebziger Jahre, verstärkt Studien zum Wertewandel zu finanzieren. Dazu gehörte auch die erste Studie von Helmut Klages bzw. einem seiner Mitarbeiter zum Wertewandel in Deutschland. Sie entstand im Auftrag der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel, die 1971 unter der Regierung Brandt als Beratungsgremium von Wissenschaftlern, Arbeitgebern und Gewerkschaften eingesetzt worden war, um ein umfangreiches Gutachten zur gesellschaftlichen Entwicklung 39 Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen für die Jahre 1975–1985, abgedruckt in: Theo Stammen u. a. (Hg.): Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. München 1984. Bd. 2. S. 333–397, hier: Abschnitte 1.7 und 4.3.5 ( Zitate auf S. 337 und 385). 40 Vgl. ebd. und – besonders ausgeprägt – bei Mario Helfert: Wertewandel, Arbeit, technischer Fortschritt, Wachstum. Köln 1986, hier: S. 14–42 und S. 109–124. 41 Zur Finanzierung des Programms vgl. die Unterlagen des SPD-Bundesgeschäftsführers Holger Börner zum Projekt, AdsD, 2/PVC0000194, SPD-PV, BGF Holger Börner, BT-Wahl ’76. Zu den Hintergründen und zur Entstehung des Projekts vgl. auch Kruke, Demoskopie (wie Anm. 18). S. 268 ff. 42 Schreiben Börner an Willy Brandt 18.6.1976, AdsD, 2/PVC0000194, SPD-PV, BGF Holger Börner, BT-Wahl ’76.
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vorzulegen, das die Regierung bei der Zukunftsplanung unterstützen sollte.43 Die Kommission ging aus einem älteren Arbeitskreis „Automation“ hervor, der spezifischer nach technischen Veränderungen und ihren sozialen Folgen gefragt hatte; im Rahmen ihrer Arbeit gab sie rund 140 wissenschaftliche Einzelstudien in Auftrag. Das Gutachten zum Wertewandel wurde von der Kommission im Sommer 1974 als eines der letzten auf den Weg gebracht. Der Kontakt zwischen Helmuth Klages und der Kommission kam dabei durch einen Hinweis aus dem SPD-geführten Arbeitsministerium zustande, konkret durch Ministerialrat Gerhard Betz, der angesichts von Ergebnissen von Allensbacher Umfragen für das Ministerium einen Bedarf an weiteren Studien ins Spiel brachte.44 Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, das gerade diese Studie, eine Sekundäranalyse von Daten insbesondere des Instituts für Demoskopie Allensbach, der Kommission berichtete, dass nicht „von einer ‚revolutionären‘ Umwälzung bzw. einem totalen Zerfall des kulturellen Systems ausgegangen werden kann“.45 Die differenzierte Haltung von Klages zum Wertewandel, die in den nächsten Jahren zur dominanten wissenschaftlichen Einschätzung in Deutschland wurde, war folglich maßgeblich von der SPD und der sozialliberalen Bundesregierung beeinflusst worden. Angesichts solcher Verbindungen zwischen Politik und Werteforschung, kurzfristigen Interessen und gezielten Versuchen zur Steuerung der öffentlichen Debatte über Arbeit mit Hilfe wissenschaftlicher Studien ist das große Vertrauen, das Historiker den Ergebnissen der Meinungsforscher und ihrem Deutungsangebot des ‚Wertewandels‘ bisher entgegengebracht haben, mehr als fragwürdig. Wohlgemerkt: Es geht bei den aufgezeigten Verbindungslinien nicht um die Manipulation von Umfrageergebnissen oder die gezielt falsche Erhebung von Sozialdaten. Es ist durchaus denkbar, dass – wie etwa die Politologin Juliana Raupp vermutet – Demoskopie als Methode unparteilich, einzelne Meinungsforscher aber parteilich seien.46 Daraus aber wie sie zu folgern, dass die ‚reinen Daten‘ einen unverfälschten Blick in die Köpfe der Befragten ermöglichen, greift zu kurz: Wie Befragungen angelegt werden, hat unmittelbar sowohl mit der engen Beziehung von demoskopischer Sozialwissenschaft und Politik allgemein zu tun als auch mit der spezifischen Beziehung zwischen den jeweiligen Auftraggebern 43 Vgl. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Wirtschaftlicher und sozialer Wandel in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Göttingen 1977. S. 4–6. 44 Vgl. Schreiben des Sekretärs der Kommission, Latzelberger, an Gerhard Betz vom 27.11.1974. In: Bundesarchiv Koblenz, B 149/17271. 45 Peter Kmieciak: Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland. Grundlagen einer interdisziplinären empirischen Wertforschung mit einer Sekundäranalyse von Umfragedaten. Göttingen 1976. S. 462. 46 Vgl. Juliana Raupp: Politische Meinungsforschung. Die Verwendung von Umfragen in der politischen Kommunikation. Konstanz 2007. S. 181 ff.
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und den beauftragten Instituten. Grundsätzlich folgen Fragestrategien, auch die nach langfristigen Veränderungen, kurzfristigen Interessen. Die Umfrageergebnisse zum Wertewandel, zu neuen postmaterialistischen Einstellungen und den damit verbundenen neuen Perspektiven auf Arbeit und Freizeit reflektierten Mitte der siebziger Jahre ein breites Bedürfnis nach Antworten auf Fragen, die sich aus schon vor den Untersuchungen wahrgenommenen Einstellungsveränderungen ergaben. Zugleich beeinflussten ihre Ergebnisse und ihre Rezeption ihrerseits die Debatten um Werte jenseits der Wissenschaft und wirkten so meinungsbildend. Sie veränderten dadurch die Wertewandelsprozesse selber und erzeugten zugleich neue Fragen nach Aspekten des Wandels, die wiederum durch weitere Forschungen zu beantworten waren. Die Umfragen selber führten folglich nicht zu einem besseren Verständnis der Prozesse, die sie beschreiben sollten. Sie waren vielmehr ein Teil davon und täuschten nicht selten einen Wandel vor, der in dieser Form nicht stattgefunden hatte.
2 Der Fall Daimler-Benz-Werk Untertürkheim: Postmaterialistische Semantik, betriebliche Konflikte um die Arbeitsgestaltung und das Ideal ‚guter Arbeit‘ Ein wesentlicher Effekt der Wertewandelsforschung und ihres vermeintlichen wissenschaftlichen Nachweises einer fundamentalen Einstellungsveränderung war, dass neue Begrifflichkeiten in den Debatten um die Zukunft der Arbeit unmittelbar auf mutmaßlich neue Erwartungen und Anforderungen an Erwerbsleben und Freizeit bezogen wurden. Das Aufkommen der Semantik der ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ und die neuen Forderungen nach einer Arbeitszeitflexibilisierung etwa beschrieben sozialdemokratische und gewerkschaftliche Akteure schon in den späten siebziger Jahren als Teil einer politischen Strategie, die klassische Forderungen durch eine gezielte Anpassung der eigenen Programmatik an neue ‚postmaterialistische‘ Vorstellungen von Arbeit mit neuer Attraktivität versehen sollte. Wertewandel und die Ablösung des bürgerlichen Arbeitsethos galten dabei als unzweifelhafte Tatbestände, wenn nicht gar als spezifischer Ausdruck einer ‚spätkapitalistischen Industriegesellschaft‘; entsprechend deutlich forderten gewerkschaftsnahe Intellektuelle wie Oskar Negt politische Antworten, die den gewandelten gesellschaftlichen Leitbildern Rechnung tragen sollten, und prägten entsprechende Begriffe.47 Zeithistoriker neigen dazu, die wie selbstverständlich erscheinende Verbindung zwischen zeitgenössischer Rezeption der Ergebnisse der Werteforschung und dem Auftreten neuer Begrifflichkeiten zu übernehmen – semantische Verschiebungen und demoskopische Ergebnisse lassen sich dann gegenseitig belegen und verstärken 47 Vgl. Süß/Süß: Zeitgeschichte der Arbeit (wie Anm. 15). S. 351 f.
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so den Eindruck eines weitreichenden Bruchs in den Vorstellungen von Arbeit und Freizeit am Beginn der siebziger Jahre. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen über die Verbindungen zwischen demoskopischer Werteforschung und politischen Akteuren ist es aber vorschnell, die häufig gezielte Prägung neuer Begriffe im politischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs als Ausdruck grundlegender Mentalitätsveränderungen in weiten Kreisen der Bevölkerung zu werten. Gerade mit Blick auf Vorstellungen von Arbeit und Nicht-Arbeit ist es problematisch, begriffsgeschichtliche Überlegungen auf die Höhenkammdiskussionen politischer und wissenschaftlicher Akteure und ihre Veröffentlichungen in gehobenen publizistischen Quellen zu beschränken; neue Begriffe konkurrieren hier in besonderer Weise mit den Vorstellungen und Sinnstrukturen, die sich etwa mit der täglichen Erfahrung des eigenen Arbeitens, dem spezifischen Berufsbild arbeitender Akteure oder ihrer Wahrnehmung unterschiedlicher Formen von Arbeit verbinden. Selbst wenn neue Begriffe und Komposita in die Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz und die tägliche Arbeitskommunikation eindringen, können sich in der sozialen Praxis des Arbeitens völlig andere Sinndeutungen und Konnotationen ergeben oder ältere Vorstellungen von Arbeit gegenüber neuen Deutungsangeboten behaupten. Das soll im Folgenden anhand eines Fallbeispiels aus dem Daimler-Benz-Werk in Stuttgart-Untertürkheim gezeigt werden. Anfang der siebziger Jahre kam es in dem damals rund 30.000 Beschäftigte umfassenden Stammwerk der Daimler-Benz AG zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen einer linken Oppositionsgruppe innerhalb der IG Metall und der betrieblichen Gewerkschaftsführung, die über das Werk hinaus bundesweit Aufsehen erregte und in der ‚postmaterialistische‘ Wertvorstellungen eine wichtige Rolle spielten.48 Anlass für die Konflikte war die schon 1968 erhobene Forderung nach einer Neuregelung der Aufstellung der Betriebsratskandidaten und der sogenannten ‚Vertrauensleute‘ der IG Metall, die für die Gewerkschaft in den einzelnen Werksabteilungen den Kontakt zu den Beschäftigten sicherstellen sollten. Während üblicherweise die Gewerkschaftsführung in enger Abstimmung zwischen betrieblicher Leitung und den Funktionären der IG Metall-Verwaltungsstelle Stuttgart für beide Ämter Listen vorschlug, die auf Mitgliederversammlungen lediglich bestätigt wurden, forderten nun 233 Arbeiter aus dem Werk in Untertürkheim direkte Wahlen in den Abteilungen.49 Der Kon48 Bisher fehlen unabhängige Darstellungen des Konflikts. Zum grundsätzlichen Verlauf vgl. Horst Sackstetter: Wahlbetrug und Neuwahlen bei Daimler-Benz, Untertürkheim. In: Otto Jacobi u. a. (Hg.): Arbeiterinteressen gegen Sozialpartnerschaft. Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1978/79. Berlin 1979. S. 96–107. 49 Vgl. Flugblatt: Zur Betriebsratswahl: Wählt IG Metall (Frühjahr 1968). Abgedruckt in: Peter Grohmann/Horst Sackstetter (Hg.): plakat. 10 Jahre Betriebsratsarbeit bei Daimler-Benz. Berlin 1979. S. 24 f.
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flikt eskalierte, als drei Mitglieder der Gruppe im Jahr 1972 entschieden, mit einer eigenen Betriebsratsliste gegen die Kandidaten der IG Metall anzutreten, und auf Anhieb 27 Prozent der Stimmen der Belegschaft sowie 8 Sitze im Betriebsrat des Werks gewannen.50 Die Gewerkschaftsleitung reagierte mit scharfen Sanktionen gegen die neu gewählten Betriebsräte und geriet darüber in eine langjährige Debatte über das Demokratieverständnis der Organisation, in der sich etwa der Schriftsteller Heinrich Böll, der Journalist Günter Wallraff und der Liedermacher Wolf Biermann für die Mitglieder der inzwischen nach einer alternativen Betriebszeitung „plakat“ genannten Gruppe einsetzten und ihre Forderungen nach radikaler Demokratisierung in Gewerkschaft und Gesellschaft unterstützten.51 Das Auftreten der „plakat“-Gruppe stand in engem Zusammenhang mit den 68erProtesten und der Aufbruchstimmung einer bundesrepublikanischen Neuen Linken in den Jahren um 1970. Die Gruppe war aus einer kommunistischen Betriebszelle um den Schweißer Willi Hoss und den Maschinenschlosser Hermann Mühleisen hervorgegangen, nachdem die beiden im Zuge der studentischen Proteste 1969 endgültig mit dem orthodoxen Marxismus der westdeutschen Parteikommunisten gebrochen und enge Kontakte zu linken Studentenkreisen im Stuttgarter Raum geknüpft hatten.52 Zum wichtigsten Aktionsfeld der Mitglieder wurde die Herausgabe der bereits erwähnten „plakat“-Zeitung, die sie ab dem Frühjahr 1969 mehrmals im Jahr im Werk in Untertürkheim verteilten. Die Zeitung sollte die Funktion einer betrieblichen Lokalzeitung übernehmen und sowohl eine breite Öffentlichkeit für innerbetriebliche Angelegenheiten herstellen, als auch eine kritische Stellungnahme der Belegschaft zu Problemen einzelner Abteilungen oder den Diskussionen auf Betriebsversammlungen ermöglichen. Wichtige Themen waren deshalb etwa die zunehmende Leistungsverdichtung an den Fließbändern und der steigende Arbeitsdruck im Betrieb in Folge von Rationalisierungsmaßnahmen, daneben die aus Sicht der Gruppe zu zögerliche, sozialpartnerschaftliche Haltung der IG Metall gegenüber dem Arbeitgeber.53 Behandelt wurden aber auch der Bürgerkrieg in Nigeria und der 50 Da nur drei Kandidaten auf der Liste standen, konnten fünf gewonnene Sitze nicht besetzt werden. 51 Vgl. den offenen Brief von Heinrich Böll, Günter Wallraff und 33 anderen Schriftstellern an den IG-Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer, Oktober 1973. Abgedruckt in: plakat (undatiert, Herbst 1973), daneben Interview mit Wolf Biermann: Mehr Demokratie. In: Die Zeit, 22.9.1978. 52 Willi Hoss war später an der Gründung der Partei Die Grünen beteiligt und von 1983 bis 1985 sowie von 1987 bis 1990 Mitglied des deutschen Bundestags. Zur Entstehung von „plakat“ vgl. Willi Hoss: Komm ins Offene, Freund. Autobiographie. Münster 2004. S. 83–110. 53 Die Zeitung „plakat“ erschien zunächst etwa vier Mal im Jahr mit jeweils 2 bis 4 großformatigen Seiten; neben der Zeitung gab die Gruppe unregelmäßig Flugschriften
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Palästinakonflikt sowie Arbeitskämpfe in anderen Industrienationen.54 Typisch war der Versuch, internationale Fragen mit betrieblichen Aspekten zu verknüpfen – so stellte man einen Hinweis auf wilde Streiks gegen Akkordbedingungen in schwedischen Bergwerken neben einen längeren Artikel über das Verhältnis von Lohnerhöhungen und Bemühungen um Leistungsverdichtung bei Daimler-Benz.55 Von besonderer Bedeutung für die Macher der Zeitung waren Forderungen nach Demokratisierung, Partizipation und Mitbestimmung, die aus einer betrieblichen Perspektive sehr umfassend verstanden wurden: „plakat“ ging in den frühen siebziger Jahren weit über die Mitbestimmungsforderungen der Gewerkschaften hinaus und orientierte sich am Ideal der individuellen Mitbestimmung des einzelnen Arbeiters in seiner Abteilung oder an seinem Band. In mancher Hinsicht lassen sich das Auftreten der Gruppe und ihre Erfolge bei Betriebsratswahlen – 1975 konnte „plakat“ fünf Sitze im Betriebsrat besetzen, 1978 gewann sie nach einem Betrug im ersten Wahlgang bei den Neuwahlen über 40 Prozent der Stimmen der Belegschaft56 – als deutliche Hinweise auf den Wertewandel und die zunehmend explizite Artikulation von ‚postmaterialistischen Idealen‘ oder ‚Selbstentfaltungswerten‘ auch auf untersten Ebenen und in der unmittelbaren betrieblichen Praxis verstehen. Mit ihrem zentralen Thema der Demokratisierung, einer eher antikollektiv-individuellen Vorstellung von gewerkschaftlicher Partizipation und betrieblicher Mitbestimmung sowie der scharfen Kritik an entmenschlichender Fließbandarbeit und der zunehmenden zeitlichen Verdichtung der Betriebsabläufe fügt sich die erfolgreiche Agitation der „plakat“-Gruppe auf den ersten Blick nahtlos in das Bild eines fundamentalen Einstellungswandels hin zu Werten wie Solidarität und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz sowie einer neuen Infragestellung von Autorität, Arbeitsdisziplin und bedingungsloser Leistungsbereitschaft ein. Gleichzeitig erlauben die lange Dauer des Konflikts zwischen der IG Metall und der „plakat“-Gruppe, die zahlreichen Versuche der Mobilisierung der Belegschaft durch beide Seiten sowie die Beteiligung beider Organisationen an Auseinandersetzungen mit der Betriebsleitung jedoch auch einen tieferen Einblick in die innerbetriebliche Kommunikation bei Daimler-Benz in Untertürkheim. Dabei wird deutlich, dass die Erfolge der „plakat“Gruppe nicht ohne weiteres als Hinweis auf ein neues ‚postmaterialistisches Arbeitsethos‘ bei größeren Teilen der Belegschaft gewertet werden können. und Flugblätter heraus. Nicht alle Ausgaben sind zweifelsfrei datierbar; nur die ersten Zeitungen erschienen mit Nummernangaben. Die Darstellung hier und im Folgenden beruht auf einer Durchsicht aller erhaltenen Ausgaben von 1969 bis 1990 und bezieht sich zunächst vor allem auf die Ausgaben der siebziger Jahre. 54 Vgl. plakat, Nr. 5, 1970 [Frühjahr], und Nr. 6, 1970 [Sommer]. 55 Vgl. Art.: Bericht aus Schweden; Art.: Mitarbeiter ... Beide in: plakat, Nr. 6, 1970 [Sommer]. 56 Vgl. Sackstetter: Wahlbetrug (wie Anm. 49).
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Untersucht man die Semantik der Auseinandersetzungen zwischen IG Metall und „plakat“ auf der einen Seite, den beiden gewerkschaftlichen Gruppen und der Geschäftsleitung auf der anderen Seite auf Hinweise nach einer betrieblichen Ebene der Debatten um die Humanisierung der Arbeitswelt, die Frage der Flexibilisierung und die Leistungsbereitschaft der Arbeitenden, wird man schnell fündig. Auffällig ist zunächst die starke Zunahme der expliziten Thematisierung von ‚Leistung‘ im Betrieb in einer Zeit, in der im politischen Diskurs zunehmend über die Frage der Arbeitshaltung breiter Teile der Bevölkerung gestritten wurde. Neben eher klassische gewerkschaftliche Versuche, die Rolle der ‚Leistung‘ der Arbeitnehmer gegenüber dem Beitrag der Unternehmer zum Betriebsertrag aufzuwerten und damit höhere Löhne und eine Beteiligung am Gewinn einzufordern57, traten in den siebziger Jahren zunehmend neue Aspekte wie die Leistungsverdichtung, die immer genauere Leistungskontrolle und damit verbunden die grundsätzliche Leistungsfähigkeit von Beschäftigten in industriellen Produktionsverhältnissen. Willi Hoss hatte schon 1968 als Delegierter auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall argumentiert, dass Rationalisierung und voranschreitende Automation nicht nur zum von der Gewerkschaft befürchteten Abbau von Arbeitsplätzen, sondern auch zu einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen insbesondere bei Fließband- und Akkordarbeitern führten.58 In „plakat“ wurden das Tempo am Band und die Kritik an einer Arbeitsleistung, die auf Dauer nicht zu erbringen sei und die menschliche „Normalleistung“ erheblich überschreite, zu ständigen Themen, in der Regel verbunden mit Vorwürfen gegen einen zu zaghaften Betriebsrat, der häufig Akkordaufnahmen akzeptiere, die von den Bandarbeitern abgelehnt würden.59 Auch die IG Metall und der von ihr dominierte Betriebsrat kämpften freilich gegen steigendes Arbeitstempo aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen, wachsenden Arbeitsdruck durch die Einführung neuer, EDV-gestützter Methoden zur Arbeitsbewertung sowie generell gegen Leistungsanforderungen, welche die
57 Vgl. etwa Art.: Unser Geld wird verpulvert. In: plakat, Nr. 1, Juli 1969; Art.: Geschäftsleitung: An alle Mitarbeiter. In: plakat, 8.7.1973. 58 Auszüge der Rede druckte die „plakat“-Gruppe 1974 in einer Flugschrift ab. Vgl. Willi Hoss/Hermann Mühleisen/Mario D’Andrea (Hg.): Vorschlag zu den Betriebsratswahlen 1975. Stuttgart 1974. S. 10–12. 59 Art.: Produktionsausfall soll nachgeholt werden! In: plakat Nr. 13, Januar 1972 (dort das Zitat). Vgl. auch Art.: Morgens, mittags, abends – das Band läuft und läuft und läuft. In: plakat, Nr. 1, Juli 1969; Art.: Vorschläge eines Bandarbeiters. In: plakat, Nr. 3, Herbst 1969; Art.: Akkorddrücker. In: plakat, 20.7.1973; sowie die Broschüre zur Betriebsratswahl 1978: Liste Hoss/Mühleisen (Hg.): Was der Betriebsrat anders machen kann. Stuttgart 1978.
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gesundheitliche Belastbarkeit der Arbeiter auf längere Sicht überschritten.60 Schon 1973 etwa spielte das Werk in Untertürkheim eine wichtige Rolle in einem der bekannteren westdeutschen Arbeitskämpfe, in dem die IG Metall unter Führung des damaligen IG-Metall-Bezirksleiters Franz Steinkühler im Tarifbezirk NordbadenWürttemberg nicht vordringlich Lohnforderungen durchsetzen wollte, sondern für bessere Arbeitsbedingungen streikte.61 Der im Oktober 1973 abgeschlossene Lohnrahmentarifvertrag II schuf im Ergebnis stündliche Erholungspausen etwa für Bandarbeiter (‚Steinkühler-Pause‘), legte detaillierte Richtlinien für Fließbänder, Mindesttaktzeiten und Datenermittlung sowie eine Ausweitung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats fest und machte bei Daimler-Benz eine große Zahl von zusätzlichen Betriebsvereinbarungen zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat notwendig, bei denen Fragen der Leistung breit thematisiert wurden.62 Entsprechend wurde die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der eigenen Beschäftigten Anfang der siebziger Jahre auch zu einem wichtigen Thema für die Geschäftsleitung. Im Einklang mit bundesweit erhobenen Klagen der Arbeitgeberverbände stellte die Daimler-Führung in den eigenen Werken wachsende Krankenstände und hohe Fehlquoten innerhalb der Arbeiterschaft fest, die sich zum einen deutlich von den entsprechenden Werten bei den Angestellten unterschieden, zum anderen einen klaren Zusammenhang zur Konjunkturlage erkennen ließen – je geringer die Angst vor Entlassung, desto größer wurden die Fehlzeiten.63 Allerdings kam 1976 eine betriebsinterne Studie zu Fehlzeiten insgesamt zum Ergebnis, dass nicht etwa Leistungsverweigerung oder ein Rückgang der Arbeitsmoral für diese Entwicklung verantwortlich seien, sondern Probleme der Arbeitsabläufe. Da die Fehlquoten besonders bei älteren Arbeitern und Geringqualifizierten mit wenig Gestaltungsspielraum 60 Vgl. etwa die interne Ausarbeitung von Manfred Leiss zur Einführung des „Informationssystems Arbeitseinsatz und Arbeitsplatzplanung in der Daimler Benz AG“ vom 6. 6. 1978 oder die Stellungnahmen von Betriebsrat und IG Metall zur Umgestaltung des Motorenprüffelds „Die IG Metall informiert“, 5. 4. 1979, beide gesammelt in: AdsD 5/ IGMC000488 (Akten der IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart, Unterlagen Betriebsrat Daimler-Benz AG). 61 Zum Hintergrund des Streiks und zur Öffnung der IG Metall für Fragen der humanen Gestaltung von Arbeitsplätzen vgl. Franz Steinkühler: Kommentar zum neuartigen Charakter des Arbeitskampfes 1973. In: Der Gewerkschafter, 11, 1973. S. 419 ff. 62 Zur Bedeutung des Lohnrahmentarifvertrags II vgl. H. Schauer: Tarifvertrag zur Verbesserung industrieller Arbeitsbedingungen. Arbeitspolitik am Beispiel des Lohnrahmentarifvertrags II. Frankfurt a. M./New York 1984; zu den innerbetrieblichen Folgen vgl. Richard Osswald: Lebendige Arbeitswelt. Die Sozialgeschichte der Daimler-Benz AG von 1945–1985. Stuttgart 1986. S. 124 f., 274 ff. 63 Vgl. Analyse der Fehlzeiten bei Daimler-Untertürkheim 1975, 6.9.1976. AdsD 5/ IGMC000474 (Akten der IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart, Unterlagen Betriebsrat Daimler-Benz AG).
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in der eigenen Tätigkeit stiegen, müssten Gegenmaßnahmen bei der Arbeitsorganisation und der Herstellung eines positiven Arbeitsumfelds einsetzen.64 Der Tenor der Studie stand dabei durchaus in Einklang mit der generellen Bereitschaft der Geschäftsführung, auf Forderungen nach einer humaneren Gestaltung der eigenen Arbeitsplätze einzugehen. Bereits im Herbst 1972 hatte Daimler-Benz einen Arbeitskreis „Gestaltung der menschlichen Arbeit“ eingerichtet, auf dessen Sitzungen Vertreter der technischen Planung, der Produktionsleitung, des Personalbereichs mit dem Werkärztlichen Dienst und des Arbeitsschutzes nicht nur Ergebnisse überregionaler Gremien innerhalb der Arbeitgeberverbände oder arbeitswissenschaftlicher Kongresse berieten, sondern unter Einbeziehung des Gesamtbetriebsrats auch die systematische Erfassung von Problemen innerhalb der eigenen Werke und deren Lösung diskutierten.65 Die Schaffung des Arbeitskreises war zunächst eine Reaktion auf die Initiativen der Bundesregierung zur Humanisierung der Arbeitswelt und entsprechende Bestimmungen im 1972 verabschiedeten Betriebsverfassungsgesetz; die Bestimmungen des Lohnrahmentarifvertrags II vergrößerten die Bedeutung des Arbeitskreises dann deutlich.66 Gerade angesichts der mit einigem Aufwand vorangetriebenen Regierungsinitiative und der grundsätzlichen innergewerkschaftlichen Diskussion des Themas Humanisierung unter dem Stichwort ‚Zukunft der Arbeit‘ scheinen die in Untertürkheim verhandelten Fragen zunächst allerdings häufig eher banal.67 Anfang der siebziger Jahre setzte sich „plakat“ etwa für die Verbesserung des Waschwassers ein, da den Arbeitern in den Werkshallen anders als den Angestellten im Bürohaus kein Trinkwasser zum Waschen zur Verfügung stand, sondern lediglich aufbereitetes Neckarwasser.68 Daneben wurden immer wieder die starke sommerliche Hitzeentwicklung und die schlechte Belüftung in einzelnen Werksteilen beklagt; als problematisch konnten aber selbst Umwege aufgrund von fehlenden Unterführungen auf dem Werksgelände oder der Einsatz zu kurzer Züge im morgendlichen Berufsverkehr eingeschätzt werden.69 64 Ebd. Bes. S. 25 ff. und S. 31 ff. 65 Vgl. etwa das Protokoll des Arbeitskreis „Gestaltung der menschlichen Arbeit“ vom 25.4.1974, AdsD 5/IGMA170580 (IG Metall Vorstand, Abt.: Betriebsräte – Vertrauensleute: Einzelbetriebe: Gesamtbetriebsrat Daimler Benz). 66 Vgl. Osswald: Lebendige Arbeitswelt (wie Anm. 62). Bes. S. 75 und S. 124 f. 67 Vgl. die in Anm. 37 zitierte Literatur. Die IG Metall diskutierte auf ihrer vierten internationalen Arbeitstagung vom 11. bis zum 14. April 1972 unter dem Motto „Aufgabe Zukunft – Verbesserung der Lebensqualität“ sehr grundsätzlich über Fragen der Technikentwicklung und einer notwendigen Humanisierungspolitik. Vgl. Günther Friedrichs (Hg.): Aufgabe Zukunft – Qualität des Lebens. 10 Bde. Frankfurt a. M. 1972. 68 Vgl. Interview: Wir lassen uns nicht den Mund verbieten. In: plakat, 3.5.1972. 69 Vgl. Flugblatt plakat, Sommer 1971: Hitze, Arbeit, Krankheit; Art.: Kleiner Erfolg für plakat. In: plakat, 15.5.1973; Leserbrief: Eine Schweinerei. In: plakat, 20.6.1973.
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Auch die IG Metall machte sich ähnliche Beschwerden der Belegschaft zu eigen und stellte im Juni 1979 eine mehrseitige Liste über „Probleme am Arbeitsplatz und im Sozialbereich“ zusammen, in der Klagen über ungerechte Lohndifferenzen unmittelbar neben Kritik am Plastikbesteck in den Kantinen oder fehlendem Trockenpapier und unangemessenen Handwaschmitteln aufgeführt waren.70 Ungeachtet des Klein-Kleins mancher Sorgen um die ‚Gestaltung der menschlichen Arbeit‘ entwickelte sich der Begriff der ‚Humanisierung‘ im betrieblichen Sprachgebrauch von „plakat“ und IG Metall im Laufe der siebziger Jahre jedoch immer mehr zum Schlagwort gegen Rationalisierung und Leistungsverdichtung. Um 1980 häuften sich die kritischen Notizen gegenüber Versuchen der Geschäftsführung, betriebliche Innovationen als ‚human‘ darzustellen. So führte die Aufstellung eines Schaubilds mit der Überschrift „Humanisierung der Arbeitswelt“ am Beispiel der Erneuerung der Kurbelwellenfertigung im Herbst 1981 zu scharfen Protesten der „plakat“-Gruppe, die darauf hinwies, dass entgegen der Firmendarstellung von einer „Befreiung von körperlicher Arbeit“ und einer „Aufhebung der engen Bindung an eine Maschine“ keine Rede sein könne. Stattdessen sei die körperliche Arbeit schwerer, die Maschinenbindung enger geworden; vor allem aber sei die Möglichkeit der freien Zeiteinteilung für die Arbeiter verschwunden.71 Die wütenden Tiraden gegen das „Märchen von der Humanisierung“ standen im engen Zusammenhang mit dem schon seit längerem erhobenen Vorwurf der Gruppe, dass die zunehmend zu beobachtende Zerstückelung des Arbeitsprozesses sowie die Reduktion des Arbeitens auf die Wiederholung einfacher Handgriffe in kurzen Taktzeiten zur Dequalifizierung der Mitarbeiter und regelmäßig zu Leistungsabfall führe. Die wachsende Monotonie der Arbeit erzeuge Frustration beim Arbeiter, der Verlust über die Kontrolle des eigenen Arbeitsprozesses und die Unmöglichkeit zum Ausüben der eigenen Fähigkeiten gingen bei hohem Arbeitstempo mit schnellerem gesundheitlichen Verschleiß und erheblich höherem psychischen Druck einher.72 Für die Frage nach dem Wandel der Einstellungen zur Arbeit ist dabei entscheidend, dass sich mit dem vermeintlich postmaterialistischen Sprachgebrauch der „plakat“-Gruppe kein gewandeltes Arbeitsethos verband, das Leistung und Fleiß grundsätzlich neu auffasste oder gar von einer Abwertung der Rolle der Arbeit für 70 Vgl. Schreiben Otto Gotschlich (IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart) an Dr. Hirschbrunn (Kaufmännische Werksleitung der Daimler Benz AG), 21.6.1979, AdsD 5/ IGMC000472 (Akten der IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart, Unterlagen Betriebsrat Daimler-Benz AG). 71 Art.: Humanisierung des Arbeitsplatzes. In: plakat, Dezember 1981 (hier auch das folgende Zitat). Vgl. auch Art.: Der Abgruppierungsvertrag. In: plakat, 26.4.1979. 72 Vgl. Hoss/Mühleisen/D’Andrea (Hg.): Vorschlag zu den Betriebsratswahlen 1975 (wie Anm. 58); Liste Hoss/Mühleisen: Was der Betriebsrat besser machen kann (wie Anm. 59).
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das menschliche Leben und die individuelle Identitätskonstruktion der Akteure im Betrieb gekennzeichnet war. Im Streit um die Humanisierung der Arbeitswelt und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um betriebliche Rationalisierung und Flexibilisierung stößt man im Gegenteil durchweg auf eher traditionelle Aspekte einer Vorstellung von Arbeit, die stark von Begriffen wie der ‚Würde des Arbeitenden‘, der Anerkennung seiner erlernten Fähigkeiten und der Qualität der von ihm erbrachten Leistung geprägt wurde.73 Im Mittelpunkt standen dabei das Verhältnis von Mensch und Maschine sowie das Bestreben, dem einzelnen Arbeiter einerseits zumindest einen Rest Kontrolle über den eigenen Arbeitsprozess und das gefertigte Produkt zu erhalten, ihm andererseits ein kollegiales Miteinander ohne disziplinierende Überwachung durch die Firmenleitung oder die vollständige Einbindung in einen immer stärker rationalisierten und maschinisierten Produktionsablauf zu ermöglichen. Am ehesten handelt es sich bei den hier aufscheinenden Arbeitsvorstellungen um etwas wie ein ‚Facharbeiterethos‘, das sich – gerade weil es von durchweg klassischen Momenten der Diskussion um die Qualität von Arbeit unter den Bedingungen der industriellen Moderne bestimmt wurde – leicht mit altbekannten gewerkschaftlichen Forderungen nach höheren Löhnen und einer Verkürzung der Arbeitszeit verbinden ließ. Mit seiner Artikulation auf betrieblicher Ebene war folglich keine Verringerung des Werts der Arbeit verbunden, sondern geradezu eine Bekräftigung der Bedeutung eines ‚guten Arbeitens‘ für das Leben des einzelnen Beschäftigten, dem durch die seit Ende der sechziger Jahre abermals erfolgte Verschlechterung der Arbeitsbedingungen aus Sicht der gewerkschaftlichen Akteure im Betrieb nicht zuletzt der Stolz auf die eigene Arbeit als zentralem Moment seiner Existenz genommen wurde. Dazu passen zwei weitere Beobachtungen, die sich eng mit den Aktivitäten der „plakat“-Gruppe und ihrer Wahrnehmung der eigenen Rolle im Betrieb verbinden. Zum einen finden sich in allen Rückblicken ehemaliger „plakat“-Aktivisten auf ihre Tätigkeit bei Daimler Hinweise darauf, dass ihre Erfolge bei den Kollegen nicht zuletzt auf fachlicher Anerkennung beruhten. Zwar beschreiben sich etwa sowohl Willi Hoss als auch Hermann Mühleisen und Mario D’Andrea – die Kandidaten auf der ersten Betriebsratsliste der Gruppe – in erster Linie als trotzige Kämpfer, die in kritischen Situationen den Mund aufgemacht haben, für ihre Kollegen einstanden und sich weder von Disziplinarmaßnahmen noch von Drohungen abschrecken ließen. Gleichzeitig betonen sie aber übereinstimmend, dass sie darüber hinaus gute Arbeiter waren und aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten die Achtung ihrer Kollegen gewannen. Am ausgeprägtesten ist dieses Motiv vielleicht in der Autobiographie von Willi Hoss, der explizit darauf verweist, dass seine besonderen und mehrmals durch 73 Vgl. ebd. Explizite Hinweise auf die „Würde“ des Arbeitenden finden sich etwa im Art.: Der Firma vertrauen … In: plakat, Oktober 1981; und im Art.: Maschinen werden besser behandelt. In: plakat, Februar 1982.
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„fachlich weitergehende Prüfungen“ erworbenen Kenntnisse als Schweißer ihm einen Nimbus verschafften, der sich „auch politisch niederschlug“ und ihm etwa früh die Wahl zum gewerkschaftlichen Vertrauensmann ermöglichte.74 Ähnlich klingt noch in den eigentlich eher frustrierten Berichten des italienischen Gastarbeiters D’Andrea und seines deutschen Kollegen Hermann Mühleisen, der 1969 nach einem Konflikt mit einem Vorgesetzten an einen Fließbandarbeitsplatz strafversetzt worden war, der Stolz auf das Geleistete sowie die Belastbarkeit der eigenen Fähigkeiten an – trotz ihrer scharfen Kritik an unmenschlichen Arbeitsbedingungen.75 Eine besondere Rolle spielten fachliche Fähigkeiten schließlich bei den Mitgliedern der Gruppe, die als studentische Aktivisten in den siebziger Jahren den Weg vom Hörsaal an die Werkbank oder das Fließband bei Daimler gefunden hatten und sich sowohl bei Daimler als auch bei den anderen Aktivisten der „plakat“-Gruppe in ungewohnter Umgebung behaupten mussten.76 In den Selbstbeschreibungen der „plakat“-Aktiven zeigt sich also kein neues Arbeitsverständnis: Ganz im Gegenteil bildeten ein traditionelles Berufsethos und die Einbindung in die Kollegialität am Arbeitsplatz die unverzichtbare Voraussetzung für ein politisch-gewerkschaftliches Agieren im Betrieb. Zum anderen stieß die „plakat“-Gruppe immer dann auf Skepsis und Unverständnis bei den Kollegen, wenn sie den relativ engen Rahmen des traditionellen Facharbeiterethos verließ und sich neuen Themen wie Ökologie, Friedenspolitik und der Rolle von Daimler-Benz als Arbeitgeber in der Dritten Welt zuwandte. Schon innerhalb der Gruppe war die Beschäftigung mit solchen im engeren Sinne mit einem ‚postmaterialistischen Weltbild‘ verbundenen Fragen umstritten. Ein größerer Teil der Aktiven hatte insbesondere bei Umweltschutzthemen Bedenken, zumal sich mit der Frage nach den ökologischen Folgen der industriellen Produktion unmittelbar Kritik am klassischen Daimler-Produkt Automobil verband; viele „plakat“-Mitglieder verstanden sich eher als klassische Gewerkschafter und Betriebsräte und wollten auch weiterhin die unmittelbaren Interessen der Daimler-Beschäftigten im eigenen
74 Hoss: Komme ins Offene (wie Anm. 52). S. 66 f. 75 Vgl. Mario D’Andrea: Aufzeichnungen eines italienischen Daimler-Benz-Arbeiters (1961–1977). In: Grohmann/Sackstetter: plakat (wie Anm. 49). S. 37–63; Hermann Mühleisen: Ich habe angefangen zu widersprechen und zu schimpfen. In: Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Hg.): Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen Reich“. Nördlingen 1987. S. 608–618. 76 Vgl. Helmuth Bauer: Von hier aus wird ein Stern aufgehen … In: Stiftung für Sozialgeschichte (Hg.): Daimler-Benz-Buch (wie Anm. 75). S. 594–602. Zur Rolle von Studenten in der „plakat“-Gruppe und in der Belegschaft vgl. auch Hoss: Komm ins Offene (wie Anm. 52). S. 107–110; und Kurt Randecker: … geschrieben und hergestellt von Kollegen der Werksteile Untertürkheim, Mettingen, Hedelfingen, Brühl. In: Grohmann/Sackstetter (Hg.): plakat (wie Anm. 49). S. 78–92.
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Werk vertreten.77 Dennoch publizierte „plakat“ etwa von Beginn der achtziger Jahre an immer häufiger Artikel zum Waldsterben und zur Rolle des motorisierten Individualverkehrs, protestierte scharf gegen die bei Daimler erfolgende Rüstungsproduktion und solidarisierte sich mit Daimler-Arbeitern in Südafrika und Brasilien.78 Entsprechende Vorstöße auf Betriebsversammlungen stießen aber nicht nur bei der Geschäftsführung auf Unverständnis, sondern trugen den Rednern auch Vorwürfe aus der Belegschaft ein, insbesondere dann, wenn die Forderungen von „plakat“ mit den Sorgen der Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz kollidierten.79 In der Folge sanken in den achtziger Jahren die Stimmanteile der Gruppe bei Betriebsratswahlen.80 1987 beklagte etwa Gerd Rathgeb, zu diesem Zeitpunkt als Betriebsrat einer der Wortführer der Gruppe, dass vielen Kollegen das international-ökologisch vernetzte Denken der eigenen Mitglieder nicht zu vermitteln war und nahm sehr deutlich „Grenzen der betrieblichen Interessenvertretung“ wahr.81 Während die Mitarbeiter im Werk sich vornehmlich um Akkordaufnahmen, Werksverlagerungen und lokale Rationalisierungsmaßnahmen sorgten, beteiligten sich die „plakat“-Betriebsräte zum Beispiel an Protesten gegen den Bau einer neuen Daimler-Teststrecke in einem Naturschutzgebiet bei Boxberg und sahen sich einer „großen Koalition von Werksleitung und BetriebsratsMehrheit gegenüber“. Der „fast kindliche Glaube an die Worte der Manager“ bei den Kollegen erzeugte bei Rathgeb Resignation und Hoffnungslosigkeit, weil er sich damit konfrontiert sah, „wie schnell heutzutage die ‚Pragmatiker‘ sich durchsetzen und die ‚Träumer‘ eine Niederlage nach der anderen einzustecken haben“.82 In der zugespitzten Gegenüberstellung von „Pragmatikern“ und „Träumern“ werden die ‚materialistischen Grenzen‘ einer postmaterialistischen Betriebsratsarbeit besonders deutlich. Rathgebs Bericht jedenfalls passt in ein Bild, in dem bis weit in die achtziger Jahre hinein nicht etwa neue Einstellungen zur Arbeit die betrieblichen Konflikte und das Handeln der Belegschaft bei Daimler-Benz in Untertürkheim kennzeichneten, sondern eher im Gegenteil ein hartnäckiges Beharren auf traditionellen Vorstellungen von Arbeit, ihrer Würde und der mit ihr verbundenen Herstellung 77 Vgl. Hoss: Komm ins Offene (wie Anm. 52). S. 118 f. 78 Vgl. etwa folgende Artikel aus plakat: Umweltfeind Nr. 1 – oder Maulkorb für den Minister (Dezember 1981); Meinungsfreiheit (Februar 1982); Daimler Benz Do Brasil entlässt 2900 Arbeiter! (März 1983); Der Weg in den Krieg (April 1983); Fortschritt wohin? ( Juni 1983). 79 Vgl. Art.: Der Firma vertrauen … In: plakat, Oktober 1981. 80 Vgl. Rainer Fattmann: 125 Jahre Arbeit und Leben in den Werken von Daimler und Benz. Die Geschichte der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung. Ludwigsburg 2011. S. 167 f. 81 Gerd Rathgeb: Die Grenzen der betrieblichen Interessenvertretung. In: Stiftung für Sozialgeschichte (Hg.): Daimler-Benz-Buch (wie Anm. 75). S. 682–689. 82 Ebd. Zitate auf S. 685, 687, 689.
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von Qualität. Alle diese Elemente lassen sich durchaus mit einem ganz traditionellen Arbeitsethos verbinden, das Leistung, Fleiß und Streben nach sozialem Aufstieg mit dem Ideal der Selbständigkeit und der Vorstellung, dass Anstrengung sich lohnen solle, umfasst. So kann man im Untertürkheimer Werk beobachten, wie unterhalb einer postmaterialistischen Semantik, die um Begriffe wie Demokratisierung und Partizipation, Solidarität und Humanisierung kreiste, ältere Vorstellungen von Arbeit nicht nur stabil und relevant blieben, sondern bis auf die unterste Ebene der Beschäftigten unmittelbar handlungsleitend und mobilisierend wirkten. Offensichtlich handelte es sich dabei um langfristig wirksame Überzeugungen, die im betrieblichen Alltag oder bei Konflikten nicht explizit betont oder propagiert werden mussten, sondern so selbstverständlich akzeptiert waren, dass sie auch dann relevant blieben, wenn soziale Eliten innerhalb der Belegschaft neue Begriffe ins Spiel brachten. Zumindest finden sich keine semantischen Indikatoren für einen Wertewandel, der im negativen Sinne als Verfall eines bürgerlichen Arbeitsethos zu interpretieren wäre, oder positiv gewendet, für moderne Vorstellungen von Arbeit, Freizeit und selbstbestimmtem Leben stünde, die es nahelegen könnten, von neuen Liberalisierungs- und Demokratisierungsschüben in spätkapitalistischen Gesellschaften zu sprechen. Vielmehr zeigt sich, wie der Wandel in Arbeitsabläufen und die allmähliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Zuge von Automatisierungs- und Rationalisierungsprozessen traditionelle Einstellungen zur Arbeit herausforderten und im Gegenzug zu ihrer demonstrativen Bekräftigung durch die Belegschaft führten – bisweilen auch über die Köpfe von Gewerkschaften und linken Oppositionsgruppen hinweg.
3 Fazit Welchen Stellenwert haben die Ergebnisse einer einzelnen Fallstudie aus der Automobilindustrie für die Einschätzung des Wandels der Semantik von Arbeit und Nicht-Arbeit in Westdeutschland? Gewiss sollte man die Beobachtungen aus dem Daimler-Werk in Untertürkheim nicht überbewerten und auf ihrer Grundlage ein neues Erklärungsmodell entwickeln, das gegenüber der bisherigen Betonung eines tiefen Einschnitts am Beginn der siebziger Jahre nun die ungebrochene Kontinuität traditioneller Formen des Arbeitsethos hervorhebt oder völlig neue Periodisierungen zum Wandel der Einstellungen zur Arbeit vorschlägt. In Verbindung mit den Ausführungen zur Verflechtung von sozialwissenschaftlichen und politischen Akteuren sowie deren Bedeutung für die Semantik von Arbeit im Kontext der Wertewandelsdebatten verdeutlicht das Beispiel aber immerhin, dass mit dem Auftreten einer postmaterialistischen Arbeitssemantik in der wissenschaftlichen und publizistischen Debatte nicht unbedingt eine ‚stille Revolution‘ in den Einstellungen zur Arbeit bei den Arbeitenden selbst einhergehen muss. Semantische Verschiebungen, die sich auf den Höhenkäm-
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men der Debatten über Arbeit bemerkbar machen, können in der unmittelbar mit der sozialen Praxis des Arbeitens verbundenen betrieblichen Kommunikation ganz andere Bedeutungen haben, ja sogar völlig gegenteilige Entwicklungen anzeigen. Eine unreflektierte Übernahme sozialwissenschaftlicher Umfrageergebnisse und der auf ihnen beruhenden Deutungsangebote in historische Darstellungen scheint angesichts dieses Ergebnisses mehr als fragwürdig. Entsprechend liegt es nahe, weitere Fallstudien einzufordern, die Aspekte der Semantik von Arbeit und Nicht-Arbeit gezielt in anderen Feldern der sozialen Praxis des Arbeitens untersuchen. Wichtig erscheint etwa, neben Beispielen aus dem Kontext der klassischen Industriearbeit auch die Arbeitseinstellungen von Angestellten und Bürobeschäftigten in den Blick zu nehmen, um zu fragen, wie sich wandelnde Arbeitsbedingungen und neue Begriffsangebote auf ihr Arbeitsethos auswirkten. Von besonderem Interesse dürfte zudem eine Untersuchung der sich wandelnden Wahrnehmung von Arbeit und Freizeit im alternativen Milieu sein, das mit seinen experimentellen Versuchen, in Arbeitsprojekten, Kommunen und Genossenschaften völlig neue Mischungsformen von Arbeiten und Leben zu schaffen, in gewisser Hinsicht die eigentliche Verkörperung postmaterialistischer Wertvorstellungen im Bereich der Arbeit darstellt. Betrachtet man etwa die internen Debatten über die Zukunft vieler Projekte, die nach hoffnungsvollem Beginn recht schnell in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten und um ihr Überleben kämpfen mussten, lassen sich zumindest Hinweise darauf finden, dass auch hier selbstbestimmtes Arbeiten und die Notwendigkeit zur Erbringung von Leistung und qualitativ angemessener Arbeitsergebnisse in anderer Weise diskutiert wurden, als es die Vorstellung eines radikal neuen, postmaterialistischen Arbeitsverständnisses nahelegt.83 In den betrieblichen Auseinandersetzungen bei Daimler-Benz in Untertürkheim finden sich in den siebziger Jahren jedenfalls keine Hinweise auf einen fundamentalen Wertewandel und eine dramatische Veränderung in den Einstellungen der Belegschaft zur Arbeit. Weder lässt sich ein Verfall eines traditionellen Arbeitsethos beobachten noch eine Abwertung der Bedeutung von Arbeit für die Konstruktion individueller Lebensentwürfe zugunsten der Wahrnehmung von neuen Konsummöglichkeiten oder der Selbstbestimmung über Lebensstile. Stattdessen konnte sich eine Vorstellung von Arbeit behaupten, die um Qualität und Fachkenntnisse kreiste, stark an die tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten gebunden war und sich mit Vorstellungen von der Würde der eigenen Arbeit, dem Stolz auf die erbrachte Leistung und die Möglichkeit zur Entwicklung der eigenen Fähigkeiten in der Arbeit verknüpfte – ein Ideal des ‚guten Arbeitens‘, das den Demoskopen der Meinungsforschungsinstitute verborgen blieb.
83 Vgl. Neumann: Kleine geile Firmen (wie Anm. 17). S. 19–37.
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Autonomie und Ausbeutung Semantiken von Arbeit und Nicht-Arbeit in der Alternativbewegung der 1980er Jahre
1 Gegenökonomien Alternative Arbeit: das schien für Martin Walser Mitte der siebziger Jahre die „neueste Stimmung im Westen“ zu sein.1 Zu dieser Stimmung zählte die Konjunktur alternativer „Projekte“2, von Landkommunen, selbstverwalteten Betrieben, Handwerkskooperationen, Druckereien oder neuen Medien. ‚Autonomie‘ und ‚Authentizität‘3 waren die Deutungsvokabeln alternativer Lebensführung, in deren Mittelpunkt die Suche nach einem anderen, einem neuen Verständnis von Arbeit und Nicht-Arbeit stand. Dabei berührte die Auseinandersetzung um die Lebensfähigkeit des Kapitalismus, die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge und fordistischer Produktion einen sensiblen Nerv subkultureller Kritik der ‚herrschenden Verhältnisse‘. Die Suche nach einer antikapitalistischen Gegenökonomie wäre, wie einer ihrer führenden Vertreter 1975 schrieb, wenige Jahre davor von den orthodox-marxistischen Studentenbewegungszirkeln noch als „kleinbürgerliche Scheiße“ 4 beschimpft worden. Nachdem sich der Kapitalismus aber als zäh erwiesen hatte und die Versuche zu dessen Enteignung vertagt werden mussten, entstanden zunächst lokal, dann bundesweit vernetzt erste Initiativen der ‚Eigenökonomie‘: Wohnkooperativen, die ihre subkulturelle Lebensform durch eigene Formen der Produktion und der Selbsthilfe erweitern und durch nachbarschaftliche Hilfe eine ‚Ökonomie der Konsumption‘ schaffen wollten.
1 2 3 4
Zit. nach: Rolf Schwendter: Notate zur neuesten Geschichte der alternativen Ökonomie. In: ders. (Hg.): Die Mühen der Ebene. Grundlegungen zur alternativen Ökonomie, Teil 2. München 1986. S. 60–79, hier: S. 60. Zum Begriff vgl. Ulrich Bröckling: Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform. In: Leviathan 33, 2005. S. 364–383. Dazu jetzt ausführlich und zentral: Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Frankfurt a. M. 2014. Bes. mit Blick auf die Alternativökonomie S. 319–350. Schwendter: Notate zur neuesten Geschichte (wie Anm. 1). S. 61.
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„Eigenökonomie“5 oder, wie es auch hieß, „Alternativökonomie“ zielte deshalb auf eine alternative Reproduktionsbasis und sollte damit eine erste Etappe auf dem Weg zu einer anderen Wirtschaftsordnung sein. Was an dieser Wirtschaftsordnung indes alternativ sein sollte, worin der gegenkulturelle Akzent und die Transformation bestehender Vorstellungen von Arbeit bestanden, blieb umstritten – und genau darum soll es in diesem Beitrag gehen. Im Mittelpunkt steht die These einer semantischen Pluralisierung des Arbeitsbegriffs seit den 1970er Jahren6, die wichtige Impulse durch die Debatten der Alternativbewegung erhielt.7 Die Wirkung ging weit über das Milieu hinaus und prägte die Debatte um die Ära „nach dem Boom“8 wesentlich mit, so dass selbst ein etabliertes Wirtschaftslexikon 1987 erstmals einen Eintrag zum Stichwort „Alternative Betriebe“ aufnahm. Damit, so die Definition, seien „selbstverwaltete Betriebe, die mit ökologisch orientierten Produkten in Marktlücken vorzustoßen versuchen“, gemeint, die „neue Formen des Arbeitens, Zusammenlebens und Wirtschaftens“ erprobten.9 Gemeinsam war diesen neuen Formen der Versuch, den Warencharakter der Arbeit und damit die kapitalistische Produktionsweise zu durchbrechen.10 Den unterschiedlichen Tätigkeiten sollte neuer Sinn verliehen werden, indem ‚ganzheitlich‘ produziert und die dominierende Form der klassen- und geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung durchbrochen würde. Die Kritik zielte auf die Folgen fordistischer Massenproduktion, jene industrielle Ordnung, die sich seit dem Ersten Weltkrieg in den kapitalistischen Gesellschaften durchgesetzt hatte und ganz auf standardisierte Massenproduktion, Fließbandfertigung und Konsumption der (pazifizierten) Arbeiter setzte.11 Die neuen, ‚herrschaftsfreien‘ Organisationen waren eingebunden 5
Materialien zur Alternativen Ökonomie 1, WG-COOP München: Eigenökonomie. Berlin 1978. S. 61 ff. 6 Dazu Dietmar Süß/Winfried Süß: Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven. In: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hg.): „Nach dem Strukturbruch“ – Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren. Bonn 2011. S. 345–368. 7 Dazu Silke Mende: Von der „Anti-Parteien-Partei“ zur „ökologischen Reformpartei“. Die Grünen und der Wandel des Politischen. In: Archiv für Sozialgeschichte, 52, 2012. S. 273–316. 8 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. 9 Arthur Woll: Wirtschaftslexikon. München/Wien 1987. S. 24. 10 Einen ersten Beitrag zur Historisierung liefert Arndt Neumann: Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management. Hamburg 2008; auch Reichardt: Authentizität (wie Anm. 3). S. 347–350. 11 Vgl. dazu Rüdiger Hachtmann/Adelheid von Saldern: Das fordistische Jahrhundert. Eine Einleitung. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 6, 2009. S. 174–185.
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in das weite Spektrum alternativer Lebensformen und dienten dazu, die notwendigen materiellen Ressourcen der neuen sozialen Bewegungen zu schaffen, bewegungseigene Güter und Dienstleistungen zu produzieren und den täglichen Beweis dafür zu liefern, dass ein ‚neues Leben‘ im Hier und Jetzt und damit eine ‚konkrete Utopie‘ möglich sei.12 Unterschiedliche Debatten liefen dabei zusammen. Eine Renaissance erfuhren die genossenschaftlichen Experimente der alten Arbeiterbewegung, deren Dilemma auch für die neuen Betriebsgründungen, die Bauernhöfe, Kooperativen und Stadtteilzeitungen galt: Wie sollte man den Kapitalismus durch Produktionsgenossenschaften bekämpfen, die doch den Keim der Selbstausbeutung und Entfremdung in sich trugen und sich entweder durch den Trend zur Profitorientierung selbst zum ausbeuterischen Unternehmen entwickelten oder sich am Ende selbst auflösten? Als mögliche Vorbilder galten weniger die inzwischen molochartigen Massenbauunternehmen der gewerkschaftseigenen und krisengeschüttelten „Neuen Heimat“13, sondern eher Unternehmen wie Willi Münzenbergs kommunistisches Presseimperium der Weimarer Republik oder die israelische Kibbuz-Bewegung.14 Ein zweiter Debattenstrang führte in die industriesoziologischen Auseinandersetzungen um neue Arbeitsorganisationsformen, die in den USA schon seit den 1930er Jahren, in der Bundesrepublik unter dem Stichwort ‚Betriebsklima‘ seit den 1950er Jahren geführt wurden.15 Im Mittelpunkt standen die human relations und die psychologischen Folgen von Produktion, Rationalisierung und Herrschaft16, deren ‚Humanisierung‘ die Gewerkschaften und Sozialdemokraten im Zuge der Mitbestimmungsdiskussion seit Ende der 1960er Jahre zum politischen Programm erhoben.17 12 Ausführlich dazu: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983. Göttingen 2010. 13 Vgl. dazu Peter Kramper: Das Ende der Gemeinwirtschaft. Krisen und Skandale gewerkschaftseigener Unternehmen in den 1980er Jahren. In: Archiv für Sozialgeschichte, 52, 2012. S. 111–138. 14 Materialien zur Alternativen Ökonomie 1, Der Münzenbergkonzern. Berlin 1978. S. 31–44. 15 Theodor W. Adorno/Walter Dirks (Hg.): Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet. Frankfurter Beiträge zur Soziologie 3. Frankfurt a. M. 1955. 16 Dazu jetzt auch: Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert. Bielefeld 2014. 17 Stefan Remeke: Gewerkschaften und Sozialgesetzgebung. DGB und Arbeitnehmerschutz in der Reformphase der sozialliberalen Koalition. Essen 2005; ausführlich dazu Winfried Süß: Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder in der Reformära. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs. Baden-Baden 2006. S. 157–221.
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Ein drittes Bezugsfeld bildeten die Debatten über die „Krise der Arbeitsgesellschaft“18, die der Bamberger Soziologentag 1982 noch mit einem Fragezeichen versehen hatte. Die Arbeitslosenzahl war inzwischen auf 2,4 Millionen angestiegen, und immer deutlicher schien es, dass Innovationen, Rationalisierung und internationaler Konkurrenzdruck das ‚Modell Deutschland‘, den deutschen Sozialstaat, gefährden würden und einem (nachwachsenden) Teil der Erwerbsbevölkerung den Zutritt auf den Arbeitsmarkt unmöglich machten. Zu Ende gegangen schien der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz)19 – und damit wesentliche Erfolgsbedingungen der bundesrepublikanischen Nachkriegsordnung. Die Debatten des Soziologentages begriffen Arbeit zumeist als erwerbstätige Lohnarbeit. Drei wesentliche Verschiebungen des Arbeitsbegriffs waren jedoch erkennbar20: Erstens beobachteten die industriesoziologischen Experten den Bedeutungsanstieg des Dienstleistungssektors, der sich den klassischen Formen von Macht und Herrschaft im Betrieb entzog und neue Arbeitsfelder mit neuen Anforderungsprofilen entstehen ließ; zweitens schien der Faktor Arbeit als gesellschaftliches Strukturprinzip an Bedeutung zu verlieren. „Diskontinuität der Arbeitsbiographie und schrumpfender Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit dürften“, wie es Claus Offe prognostizierte, „gemeinsam darauf hinauslaufen, die Arbeit zu einer Angelegenheit ‚neben anderen‘ zu machen und ihre Orientierungsfunktion für den Aufbau personaler und sozialer Identität zu relativieren.“21 Drittens schließlich nahm die Kritik an einem Arbeitsbegriff zu, dessen Reichweite auf Erwerbsarbeit konzentriert blieb und der gesellschaftlich nicht anerkannte Tätigkeiten semantisch ausschloss. Dazu gehöre informelle Arbeit, auch die Hausarbeit, die einem immer steigenden Druck durch die Ausgabenreduzierung der öffentlichen Hand ausgeliefert sei. Die Krise der Staatsfinanzen werde zusehends zu einem Problem der Frauen, weil diese es seien, die die staatlichen Kürzungen (in Bildung und Gesundheit) auffangen müssten. Dass hinter der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ noch ein Fragezeichen stand, lag nicht zuletzt an der Hoffnung, dass die freigesetzten industriell Erwerbstätigen durch den wachsenden Dienstleistungssektor aufgefangen werden könnten. Gleichzeitig war der Wandel der Erwerbsgesellschaft keineswegs nur eine Verlustgeschichte; 18 Joachim Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982. Frankfurt a. M./New York 1983. 19 Burkart Lutz: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./ New York 1989. 20 Nach Bettina-Johanna Krings: Wandel der Arbeit. Die Krise der Arbeitsgesellschaft. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, 2, 2007. S. 4–12, hier: bes. S. 4 f. 21 Claus Offe: Arbeit als gesellschaftliche Schlüsselkategorie? In: Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft? (wie Anm. 18). S. 52.
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denn mit der Kategorie der „Lebenswelt“ ( Jürgen Habermas) gab es ein begriffliches Instrumentarium, das half, alternative gesellschaftliche Konzepte zur Erwerbsgesellschaft mitzudenken – und genau dazu gehörten die Vorstellungen von Eigenarbeit, Selbsthilfe oder den neuen Selbstständigen – jener Gruppe alternativer Dienstleister, die schon als mögliche Träger einer neuen dezentralen, entbürokratisierten, gemeinschaftlich und regional organisierten Sekundärwirtschaft gefeiert wurden.22 Diese „neuen Selbstständigen“ galten als Gegentypus zum Aussteiger, wenngleich sie zum gleichen Milieu gehörten. Sie waren Träger einer, wie es die frühe Arbeitssoziologie beobachtete, neuen Werthaltung und galten als die Avantgarde der postindustriellen Gesellschaft: Sie suchten sich neue Arbeitsfelder, zumindest im Bereich Kultur, Freizeit oder Sozialarbeit, sie befanden sich im Grenzbereich zwischen informeller und herkömmlicher Ökonomie, sie organisierten ihre Arbeit anders als herkömmliche Beschäftigte, freier, individueller und weniger formalisiert. Ihre Handlungsstrategien passten sie den bestehenden Marktlücken an, ihre Arbeitsverhältnisse waren ungesichert und sie trugen durch ihre Eigeninitiative und Kreativität zu einer Verwandlung der Arbeitsgesellschaft bei. Mochten sie auch nicht allen hehren Zielen der Alternativökonomie entsprechen, so galten die „neuen Selbstständigen“ doch durch ihr anderes Arbeitsverständnis als wichtige Protagonisten einer neuen Zeit.
2 Krise der Arbeitsgesellschaft? Das war jedenfalls die Hoffnung derer, die als sozialwissenschaftliche Experten bisweilen selbst innerhalb der ‚alternativen Produktion‘ aktiv wurden und damit empirische Diagnose und kollektive Selbstbeschreibung miteinander verbanden. Darüber, wie groß dieses Phänomen tatsächlich zu Beginn der 1980er Jahre war, gingen die Schätzungen weit auseinander: Von 3000 bis zu 12.000 Betrieben war die Rede und von 2500 bis zu 100.000 Beschäftigten bis Mitte der 1980er Jahre – wobei weder die Definitionen präzise waren, wann genau ein Betrieb als ‚alternativ‘ galt, noch empirisch verlässliche Berechnungen über die tatsächliche Zahl der Beschäftigten verfügbar waren.23 22 Gerd Vonderach: Die „neuen Selbständigen“. 10 Thesen zur Soziologie eines unvermuteten Phänomens. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2, 1980. S. 153–169, hier: S. 169. 23 Vgl. Frank Heider/Beate Hock/Hans-Werner Seitz (Hg.): Kontinuität oder Transformation? Zur Entwicklung selbstverwalteter Betriebe. Eine empirische Studie. Gießen 1997. S. 19; dazu auch Johannes Berger u. a. (Hg.): Selbstverwaltete Betriebe in der Marktwirtschaft. Bielefeld 1986; Wolfgang Beywl u. a. (Hg.): Selbstverwaltete Betriebe in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse einer empirischen Bestandsaufnahme. Bottrop 1988; Frank Heider/Margareth Mevissen: Selbstverwaltete Betriebe in Hessen. Gießen 1991; zu den Zahlenangaben auch Reichardt: Authentizität (wie Anm. 3). S. 325 ff.
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Der Kampf um die Deutungshoheit alternativer Produktion begann gleichsam im Moment ihrer Gründung.24 Denn schon der Begriff der Alternativökonomie schien manchen als zu eng, weil er sich vor allem auf „subkulturelle Formen der Arbeit innerhalb der Alternativszene“ beschränke und damit beispielsweise „weibliche Reproduktionsarbeit“ oder auch Formen nachbarschaftlicher Solidarität ausklammere.25 ‚Gegenökonomie‘ klang für einige zu empathisch und ‚Eigenökonomie‘ zu selbstbezogen.26 Angebrachter schien es, von einem autonomen oder informellen Sektor zu sprechen, um damit die unterschiedlichen Tätigkeiten in selbstverwalteten Druckereien ebenso zu fassen wie das Engagement in Bürgerinitiativen, Kirchen und Verbänden. Zentraler Unterschied zur klassischen Erwerbsarbeit, aber auch zum Staatssektor sei vor allem, dass die produzierten Güter und Dienstleistungen eben nicht dem Prinzip der Profitmaximierung oder symbolischen Gratifikation folgten, sondern am Bedarf orientiert und damit Teil einer Kultur des Gebrauchswerts seien. Die Arbeiten seien besonders intensiv und sie dienten dazu, eine eigene „bedarfsgerechte Versorgungsstruktur“ zu schaffen, die Raum für Selbstverwirklichung und eigenverantwortliche Tätigkeiten ließ.27 Diese neuen Produktionsformen galten als Antwort auf eine umfassende gesellschaftliche und ökonomische Krise.28 Massenarbeitslosigkeit, Rationalisierungsfolgen, Rezession, Spaltung der Beschäftigten in Privilegierte und Randgruppen, die ‚Aussonderung der Alten‘ und die fehlenden Chancen der Jungen und Migranten: all dies galt zusammen mit einem umfassenden Staats- und Marktversagen als Indiz für das Ende der wachstumsbasierten fordistischen Ökonomie mit ihrem hohen Zentralisierungsgrad und der sinkenden Effizienz öffentlicher Leistungen. Arbeit – das war in dieser Hinsicht ein anderer Begriff für die Sinnkrise der industriellen Gesellschaft; seine Bedeutung erodierte und er stand für das Ende einer Epoche, die neue Unsicherheiten produzierte. Bei der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ handelte es sich keineswegs nur um eine kurzfristige Rezession, sondern, so die Annahme, um eine Strukturkrise der westlichen 24 Ausführlich Schwendter: Notate zur neuesten Geschichte (wie Anm. 1). S. 61 ff. 25 Rolf G. Heinze/Thomas Olk: Eigenarbeit, Selbsthilfe, Alternativökonomie: Entwicklungstendenzen des informellen Sektors. In: Schwendter (Hg.): Mühen der Ebene (wie Anm. 1). S. 113–126, hier: S. 114 f. 26 Rolf Schwendter: Notate zu den Mühen der Berge. In: ders. (Hg.): Die Mühen der Berge, Grundlegungen zur alternativen Ökonomie, Teil 1. München 1986. S. 286–292. 27 Heinze/Olk: Eigenarbeit (wie Anm. 25). S. 115. 28 Zum Krisenbegriff für die Geschichte der 1980er Jahre vgl. vor allem Martin Geyer: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 6: Die Bundesrepublik 1974 bis 1982: Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten. Baden-Baden 2008. Bes. Kapitel I: Rahmenbedingungen: Unsicherheit als Normalität. S. 1–107; Kapitel IV: Gesamtbetrachtungen: Die Logik sozialpolitischer Reformen. S. 883–913.
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Industriegesellschaften, an deren Ende für eine wachsende Zahl der Beschäftigten die Arbeit ausgehen würde. Gründe dafür gab es unterschiedliche: den demographischen Wandel, die internationale Konkurrenz der Schwellenländer, die Rationalisierungspraktiken der Unternehmen.29 Erwerbsarbeit werde zu einem knappen Gut, das seine dominante Rolle als Vergesellschaftungsinstanz einbüßen werde. Der Arbeitsplatz verliere in diesem Prozess an Bedeutung zugunsten alternativer Bezugssysteme.30 Zudem, so der Bielefelder Sozialwissenschaftler Johannes Berger in der taz im Sommer 198131, verändere sich der Charakter der vorhandenen Arbeit – sie sei durch die fortschreitende Taylorisierung von einer wachsenden Sinnentleerung und Monotonie, durch langweilige Routinisierung und wachsende Spezialisierung bedroht: „Die Bildung einer persönlichen Identität in und durch die Ausübung eines Berufs wird auf allen Rängen der Arbeitsorganisation fraglich.“ Schließlich veränderten sich dadurch die Wertbezüge der Arbeit: Nicht mehr Pflichterfüllung und Gewinnstreben, sondern Autonomie und Partizipation stünden im Mittelpunkt einer neuen Arbeitsethik. Diese Diagnose galt zu Beginn der achtziger Jahre unter Arbeitssoziologen und Gewerkschaftern weithin als Gemeingut. Doch die Antwort, die Berger formulierte, war eine radikale Kritik an der Ideologie der Vollbeschäftigung, der Vorstellung nämlich, dass die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ mit den herkömmlichen keynesianischen Instrumenten der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik behoben und die strukturelle Arbeitslosigkeit auf Dauer beseitigt werden könne. Damit stand er Seite an Seite mit den neoliberalen Kritikern des Sozialstaates und der konservativen Forderung nach einem Ausbau subsidiärer gesellschaftlicher Systeme gegenüber dem Staat. Berger war sich dieser Nähe durchaus bewusst und formulierte in Abgrenzung gegenüber den traditionellen sozialdemokratischen und liberalen Positionen die „Alternative zum Vollbeschäftigungskapitalismus“: eine Politik der „Sicherung eines materiellen Grundbedarfs für alle bei mehr freier Zeit und größerer soziale[r] Gerechtigkeit unter der Nebenbedingung Schutz der natürlichen Umwelt“. Wirtschaftswachstum führe, so die Annahme, zu einer wachsenden Zerstörung der natürlichen und kulturellen Ressourcen. Vollbeschäftigung im sozialdemokratischgewerkschaftlichen Sinne sei angesichts der strukturellen Umbrüche weder erreichbar noch wünschenswert. Was Berger kritisierte, war eine aus seiner Sicht gefährliche Vorstellung von Wachstum und Fortschritt, die die eigenen Lebensgrundlagen zer29 Zur sozialstaatlichen Krisensemantik vgl. auch Geyer: Sozialpolitik (wie Anm. 28). S. 96. 30 Vgl. dazu die Diskussion auf dem Bamberger Soziologentag. Ralf Dahrendorf: Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. In: Matthes (Hg.): Krise (wie Anm. 18). S. 25–37. 31 Johannes Berger: Lieber etwas weniger. In: die tageszeitung, 7.9.1981, dort die folgenden Zitate.
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störe, sozial ungerecht sei und den Bedürfnissen der Menschen zuwiderliefe. „Die herrschende Wirtschaftsweise erlaubt die Befriedung von Grundbedürfnissen der unterprivilegierten Armen nur bei Ausdehnung von Luxuskonsum und Überfluss der Gutverdienenden.“ Seine Botschaft lautete stattdessen: „Lieber etwas weniger“, womit er den Verzicht auf extensive Konsumorientierung ebenso meinte wie die Forderung nach einer systematischen Reduzierung der Arbeitszeit. „Dualwirtschaft“ war sein Credo, eine Wirtschaftsweise, die die „reproduktionsrelevanten Tätigkeiten“ außerhalb des traditionellen Arbeitsmarktes stärkte und die formellen, in Fabriken und Verwaltungen organisierten Arbeiten einzuschränken versuchte. „Ein Zurückdrängen der Wirtschaftstätigkeit im formellen Sektor ist möglich und nötig, weil die Produktivität weit genug entwickelt ist, die Deckung des Grundbedarfs für alle sicher zu stellen, weil eine Ausdehnung des Konsums in vieler Hinsicht ökologisch und entwicklungspolitisch nicht mehr vertretbar ist, weil das Beschäftigungsproblem durch Wachstum nicht gelöst werden kann, weil kulturelle Werte in Mitleidenschaft gezogen werden, und weil der formelle Sektor weniger Selbstentfaltung in der Arbeit zulässt.“ Für diese Verlagerung hatte Berger vor allem den Sozial- und Gesundheitsbereich im Blick, den er stärker in die Hände der Selbsthilfebewegung und weniger bei den Ämtern und Sozialversicherungsinstitutionen wissen wollte. Am Ende sollten Heilung und Pflege vermehrt zurück in die „kleinen Netze des Familienverbandes, der Freundschaft und Nachbarschaft“ gelegt werden – und Kranke nicht nur bessere Heilungschancen haben, sondern auch der „Zwang zum Wachstum“, der durch die Sozialleistungssysteme auferlegt worden sei, durchbrochen werden. Die Dualwirtschaft und die Stärkung des informellen Sektors zielten darauf ab, eine Erwerbszentrierung der Arbeitsgesellschaft zu durchbrechen, Lohnarbeit angesichts der Rationalisierungsfolgen auf ein Mindestmaß zu reduzieren und damit nicht nur die Spirale eines gewalttätigen Wachstums zu durchbrechen, sondern auch die Verfügbarkeit über den Faktor Zeit zu stärken.
3 Die Suche nach alternativer Arbeit Neben der Kritik an der arbeitsteiligen Produktion war es vor allem die Forderung nach einem Ende der fordistischen Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit, um die es in den alternativen Debatten seit den späten 1970er Jahren ging. Arbeit und Leben waren darin eben nicht mehr getrennte Bereiche. Stattdessen versuchten die Vertreter verschiedener Formen von Eigenökonomie, den Arbeitsplatz als sozialen Ort, als Wohn- und Kommunikationszentrum neu zu denken. In einem ersten knappen Rückblick beschrieb einer der Mitinitiatoren einer Landkommune Ende 1978 seine Vorstellungen von ‚alternativer Arbeit‘ und die ersten Erfahrungen mit der landwirtschaftlichen Praxis:
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Bevor wir her kamen, war alles vergleichsweise klar. Wir wollten, dass auf dem Hof möglichst jeder selbstbestimmt und lustvoll arbeiten kann, so um die sechs Stunden am Tag. Auch wie wir die Arbeit würden organisieren müssen, um das zu erreichen, war uns klar. Insbesondere hatten wir im Sinn, Hand- und Kopfarbeit zu verbinden. […] Unsere Hoffnung war, dass die Reflexion über Prozesse, bei denen wir selbst Akteure sind und die wir innerhalb bestimmter Grenzen selbst strukturieren, andere sein würden als die, die wir bisher fast ausschließlich angestellt hatten: über gesellschaftliche Zusammenhänge nachzudenken und Theorie zu machen, die uns in erster Linie aus der Literatur vertraut war. Wobei wir weder vorhatten, das eine durch das andere zu ersetzen, noch da eine Wertung vorzunehmen, etwa so, dass nur die Schwielen an den Händen das Recht geben, über Handarbeit zu denken und zu reden. Aber unsere Basis, die Arbeit, die uns allen gemeinsam wäre und in der wir vor allem kollektiv Erfahrungen machen würden, würde die Arbeit auf dem Land und mit den Tieren sein und die Instandsetzung und der Ausbau der Gebäude. Die würden wir gemeinsam organisieren und egalitär und in rotierender Arbeitsteilung durchführen. Keine Arbeit sollte als wertvoller gelten als eine andere und sie sollte von jedem Mitglied der Gruppe gemacht werden. Unseren Lebensunterhalt würden wir dadurch, vor allem in den ersten Jahren, nur zum Teil sichern, aber über das gemeinsame Arbeiten würde sich wesentlich der soziale Zusammenhang der Gruppe herstellen. Anders als bei den Wohngemeinschaften in der Stadt, in denen sich der Zusammenhang vor allem über Reden herstellt, und wo die, die schneller und besser reden und den massiven moralischen Druck ausüben können, leicht die Oberhand gewinnen. Wir meinten, dass in einem gemeinsamen Arbeitszusammenhang, vor allen in einem, wo alle für die anfallenden Arbeiten gleich schlecht qualifiziert sind, die Gefahr geringer würde, dass Reden sich verselbständigt, intellektuelle Kompetenz und die Fähigkeit, psychischen Druck auszuüben, zu den beherrschenden Determinanten. Kopf- und Handarbeit zu verbinden begriffen wir als wichtigstes Moment, um die Zerstückelung und Hierarchisierung von Arbeit aufzuheben. Das zweite, wichtige Moment sahen wir in der Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Wir gingen davon aus, dass ein Bauernhof gute Voraussetzungen bietet, sie abzuschaffen, weil es sich um einen sehr überschaubaren Zusammenhang handelt, innerhalb dessen die wichtigste Arbeit die Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln und anderer Güter des täglichen Bedarfs sein würde, wo also Arbeiten im Haushalt, traditionelle weibliche Tätigkeiten, einen breiten und in unserem Selbstverständnis zentralen Raum einnehmen würden.32
32 Zit. nach Wolfgang Kraushaar/Peter Brückner (Hg.): Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung. Frankfurt a. M. 1978. S. 97 ff.
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Nicht der im Arbeitsalltag bald aufreibende Widerspruch zwischen Theorie und Praxis33 macht diesen Versuch zur Beschreibung alternativer Ökonomien so bemerkenswert, sondern die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs von Arbeit, die sich in Teilen der alternativen Subkultur durchgesetzt hatten: die Suche nach einer vorkapitalistischen Produktionsorganisation, die Hoffnung auf den vergemeinschaftenden und solidarischen Charakter des neuen Arbeitsortes, Konsumkritik, die Aufwertung körperlicher Arbeit gegen die Theorielastigkeit der Wohngemeinschaftskulturen. Das Reden über Arbeit markierte die Sollbruchstelle zwischen Gesellschaftskritik und Utopie; denn Arbeit war nicht nur Ausdruck einer wachsenden Entfremdung der Menschen, sie war auch der Schlüssel zu einer Rückkehr zu sich und damit Hoffnungsfunke einer anderen Gesellschaft. Worin sich die kommunitäre von der bäuerlichen Arbeit vor allem unterschied, war die Verfügbarkeit über die Ressource Zeit; Zeit, miteinander zu reden und zu diskutieren, zu planen, zu leben und zu streiten. Die Gruppe entschied im Kollektiv über die Prioritäten von individuellen Bedürfnissen und Arbeitsabläufen, über Arbeitseinsätze – und damit auch über die Zwänge des Arbeitsprozesses und die Verteilung der Ressourcen. Wann musste Holz gehackt, wann das Dach repariert und das Feld gepflügt werden und wann wurde aus kollektiver Sinnsuche Selbstausbeutung?34 Zeit galt als stärkstes Kapital im Vergleich zur herkömmlichen bäuerlichen Produktionsweise. Dabei war es nicht nur der Wunsch nach einer Begrenzung der reinen Arbeitszeit, die die neue Freiheit ausmachte, sondern der Arbeitsprozess selbst, der als Lern- und Kommunikationsraum galt und mindestens ebenso große Bedeutung erhielt wie die traditionelle Freizeit – schließlich brauchte es in der mehrwertfreien Gebrauchswirtschaft keine Lohnabhängigen-Kompensationsleistung. Die Verfügungsgewalt über die eigene Zeit meinte etwas anderes als die zeitgleich laufenden Debatten um eine Verkürzung der Wochen- oder Lebensarbeitszeit. So sahen es jedenfalls die der Bewegung verbundenen Ökonomen in ihrer Analyse kollektiver Betriebe Mitte 1980: „Wie graue Männchen in ‚Momo‘ werden immer intensivere Arbeitseinsätze mit immer größeren Pauschal-Freizeitblöcken entlohnt. Die Beschäftigten können fasziniert das Anwachsen ihres Freizeitkontos beobachten, freilich in immer erschöpfterem Zustand. Demgegenüber weigert man sich im Alternativbetrieb schlicht, die Arbeitszeit zu quantifizieren. Nicht nur Ignoranz, nicht nur Stolz steckt dahinter. Es geht auch darum, das ‚präindustrielle‘ Zeitarrangement wieder herzustellen. Da laufen Arbeitszeit und Lebenszeit nebeneinander her. Man trinkt Kaffee, empfängt Besuch, darunter Kind und Freund, schwätzt, repariert sein
33 Vgl. zum Scheitern vieler Projekte Reichardt: Authentizität (wie Anm. 3). S. 334–345. 34 Vgl. auch Reichardt: Authentizität (wie Anm. 3). S. 329–334.
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Auto. Daß die arbeitsgebundene Zeit dabei nicht abnimmt, wird in Kauf genommen.“35 Arbeit und Nicht-Arbeit sollten entkoppelt werden und die Beschäftigten selbst die Verfügungsgewalt über die Dauer des Arbeitstages und die Intensität der Beschäftigung erhalten; all das zusammen galt als die Voraussetzung einer flexiblen Lebensplanung, die den individuellen Bedürfnissen angepasst war. Die Semantik der Flexibilisierung, die Neuvermessung des Verhältnisses von Arbeit und Zeit standen damit im Mittelpunkt sehr unterschiedlicher Debatten um einen neuen Arbeitsbegriff. Ein zentraler Konfliktgegenstand war die Frage der Arbeitszeitverkürzung. Arbeitszeitpolitik war von jeher immer mehr als die Regelung von Betriebsabläufen. Sie bestimmte die Konsumzeiten ebenso wie die Familienstruktur, das Verhältnis der Geschlechter oder Formen individuellen Engagements. Der Verhandlungserfolg der Gewerkschaften und ihre Attraktivität nach 1945 bestanden vor allem darin, dass diese in der Lage waren, betriebliche Anforderungen an das Leistungsprofil der Beschäftigten durch die Normierung von Arbeitszeiten und Entgeltstrukturen zu regulieren – und damit den Preis der Arbeit teuer zu verkaufen.36 Gleichzeitig vermochten sie den gewerkschaftlichen Einfluss auf die betriebliche Gestaltung der Arbeitsbeziehungen wesentlich zu erweitern und den in der frühen Bundesrepublik spürbaren Formen der Verbetrieblichung industrieller Beziehungen entgegenzuwirken. Das war damit einer der Wesenskerne des westdeutschen Systems industrieller Beziehungen: die gewerkschaftliche Mitsprache und Mitbestimmung bei der Ausgestaltung von betrieblichen Leistungsnormen einerseits, andererseits die Sicherheit der Arbeitgeber, auf dieser Basis die Rationalisierung der Massenproduktionsstrukturen weitgehend konfliktfrei vorantreiben zu können. Doch mit der ökonomischen Krise seit Mitte der siebziger Jahre erhielt die Frage der Arbeitszeitverkürzung eine neue gesellschaftspolitische Qualität.37 Es waren die Überlegungen des französischen Soziologen André Gorz, die die Debatten um ein neues Verständnis von Arbeit und Nicht-Arbeit in den 1980er Jahren bestimmten sollten: Künftig, so lautete seine Prognose, gehe es nicht darum, zwischen Arbeit einerseits und Freizeit
35 Brigitte Heimannsberg/Richard Herding: Arbeit im Alternativbetrieb als antiproduktivistische Veranstaltung. In: Stiftung für Kommunikationsforschung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hg.): Arbeit. Führung. Leben. Ein Streitgespräch über Alternativen in Wirtschaft und Gesellschaft. Bonn 1987. S. 19–21, hier: S. 20. 36 Hansjörg Weitbrecht: Effektivität und Legitimität der Tarifautonomie. Eine soziologische Untersuchung am Beispiel der deutschen Metallindustrie. Berlin 1969. 37 Helga Grebing: Gewerkschaften. Bewegung oder Dienstleistungsorganisation – 1955 bis 1965. In: Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz (Hg.): Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute. Köln 1990. S. 149–182.
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als Erholung von der Arbeit andererseits zu unterscheiden.38 Freizeit sei vielmehr Teil einer neuen Kulturgesellschaft, in der es um die Produktion gemeinschaftlicher Werte, um einen Raum für Kreativität und damit um eine Neuverteilung von Zeit gehe. Dahinter stand das Narrativ von der ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ und damit die Annahme, dass den westlichen Ökonomien die Arbeit ausgehe. Gorz’ Kritik richtete sich zunächst an die politische Linke und die Gewerkschaften39, diejenigen, die bisher die Hauptnutznießer der fordistischen Verteilungszuwächse gewesen waren und deren Mitglieder die Folgekosten der wirtschaftlichen Veränderungen keineswegs am heftigsten trafen. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit war dabei nur ein Teil der Antwort auf die vielfach beschworene Krise; der andere Teil zielte darauf, das Verhältnis von Arbeit und Lebenswelt neu zu gestalten. Und das hieß konkret: die nicht ökonomischen Formen der Arbeit, Hausarbeit und, wie Gorz es formulierte, „autonome“ Tätigkeiten der Selbstproduktion aufzuwerten. Die Krise der Arbeitsgesellschaft war in seinem Sinne auch eine Krise der „Arbeitsideologie“, also der Annahme, dass es, erstens, allen besser gehen würde, je mehr man arbeite, dass, zweitens, diejenigen, die wenig arbeiteten, der Gemeinschaft schadeten, und schließlich, drittens, dass nur derjenige in der Gesellschaft erfolgreich sei, der tüchtig arbeite.40 Doch die „mikroelektronische Revolution“41, die Automatisierungs- und Rationalisierungsprozesse trugen seiner Einschätzung nach dazu bei, dass ein ‚Mehr‘ an Produktion durch ein ‚Weniger‘ an Arbeitsmengen hergestellt werden könnte und damit „der gesellschaftliche Produktionsprozess gar nicht mehr darauf angewiesen“ sei, „dass jede[r] einer Vollzeitbeschäftigung“42 nachgehe. Gorz’ Kritik zielte auf ein Wesensmerkmal des Arbeitsbegriffs: die, wie er meinte, „Verwechslung zwischen ‚Arbeit‘ und ‚Erwerbsarbeit‘“43. Er unterschied deshalb drei Typen von Arbeit44: erstens die „ökonomisch zweckbestimmte Arbeit“, bei der das Geld der Hauptzweck der Beschäftigung war und der Lebensunterhalt garantiert werden sollte. Ein zweiter, vor allem durch seine geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung geprägter Typ von Arbeit war die Haus- und Eigenarbeit. Diese Arbeit zielte nicht auf Erwerb, sondern diente zur Reproduktion, allen voran der häuslichen Gütergemeinschaft; eine Arbeit, die primär weiblich bestimmt war. Davon unterschied Gorz schließlich einen dritten Typ von Arbeit, den er als „autonome Tätigkeit“ beschrieb 38 André Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft. Berlin 1989 (zit. hier nach der Neuauflage Zürich 2010). 39 Damit bezog sich Gorz auf seine frühere, in der politischen Linken intensiv debattierte Studie: Abschied vom Proletariat – Jenseits des Sozialismus. Frankfurt a. M. 1980. 40 Gorz: Kritik (wie Anm. 38). S. 328. 41 Ebd. S. 329. 42 Ebd. 43 Ebd. S. 330. 44 Ebd. S. 330 ff.
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und als dessen Wesensmerkmal sein „Selbstzweck“, seine individuelle Bereicherung galt. Dazu zählte Erziehung ebenso wie die Pflege persönlicher Beziehungen oder die Selbstbildung: Tätigkeiten, die ihren Sinn in sich selbst trugen. Die Transformation des Kapitalismus bedeutete für Gorz das „Ende der Utopie“45 und den Abschied von der Vorstellung, alle Tätigkeiten dem Primat der industriekapitalistischen Lohnarbeit unterwerfen zu müssen. Stattdessen sei die Gegenwart durch die „konkrete Möglichkeit“ bestimmt, den „Zwang zur Erwerbsarbeit“ zu überwinden und sich von der ökonomischen Rationalität zu emanzipieren. Und das bedeutete: Die Gewerkschaften sollten auf den Schrumpfungsprozess ihrer klassischen Klientel durch eine Umgestaltung ihrer Zielgruppenarbeit reagieren, stärker als Kulturorganisation arbeiten und sich für das Projekt einer „Gesellschaft der befreiten Zeit“ engagieren. Am Ende, so Gorz’ Vision, stand ein schrittweiser Rückgang der Arbeitszeit auf etwa 1000 Stunden pro Jahr, maximal 20 Stunden in der Woche.46 Diese Nichterwerbstätigkeit diente damit nicht mehr der Erholung von der Mühsal, sie war keine Kompensationsleistung, sondern Teil einer neuen, nichtökonomischen Sphäre solidarischer Vergemeinschaftung und individuellen Glücksstrebens. Diese Form der Arbeit war auch keineswegs Teil einer alternativen Ökonomie, sondern entsprach einer Rückeroberung von Zeit und Selbstbestimmung. Die von Gorz gestellten „Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft“47 spiegelten mithin die wesentlichen Debatten über die Neuformulierung des Arbeitsbegriffs. Seine „Kritik der ökonomischen Vernunft“ lehnte sich an Karl Marx und den Untertitel des „Kapitals“ an. Sein Entwurf einer radikalen Arbeitszeitverkürzung zielte denn auch nicht etwa darauf, die Massenarbeitslosigkeit durch ein „Mehr“ an Arbeit im ökologischen Bereich zu reformieren; seine Kritik zielte auf das ‚Reich der Freiheit‘, das es neu zu denken gelte – und das gerade in der Befreiung von der Arbeit selbst lag. Freiheit gab es in seinem Sinne nur jenseits des Produktionsprozesses – und es war diese Freiheit, um die eine emanzipatorische Linke kämpfen sollte; eine Forderung, die sich schließlich auch in den sozialdemokratischen Programmdebatten durchsetzen sollte. Gorz beobachtete dabei eine neue, pervertierte Form der Freisetzung von Arbeit, den Trend zu einer modernen Dienstbotengesellschaft. Diese neuen Dienstboten seien es, die bis zum Umfallen arbeiteten und Überstunden machten, während an den Rändern der Erwerbsgesellschaft neue Zonen der Unsicherheit und der Erwerbstätigkeit entstanden, in denen globale Wanderarbeiter in der Pflege oder den expandierenden Dienstleistungen arbeiteten und mit ihrer Arbeit kaum mehr zur eigenen Subsistenz beitrugen.48 45 46 47 48
Ebd. S. 333; Folgendes nach ebd. Ebd. S. 340. So der Untertitel des Buches von Gorz: Kritik (wie Anm. 38). Gorz: Kritik (wie Anm. 38). S. 338.
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Eine Arbeitszeitverkürzung, wie sie Gorz vorschwebte, hatte aber nicht viel gemein mit dem Versuch gewerkschaftlicher Umverteilungspolitik, und sie sollte auch keine Antwort auf die gestiegenen Belastungen am Arbeitsplatz sein. Ihr Fluchtpunkt bildete die Annahme, dass der Produktionsprozess in einer historisch (und vor allem technologisch) einmaligen Situation einen Raum geschaffen habe, individuelle Zeiträume zu erkämpfen, die bis dahin undenkbar gewesen waren. Autonomie – das hieß in diesem Sinne: der Kampf um ein menschenwürdiges Leben, in dem der Ausbruch aus dem Produktionsrhythmus vor allem ein Kampf um Zeit war, weniger um die Demokratisierung des Arbeitsplatzes oder die Kollektivierung gesellschaftlicher Güter. Erwerbsarbeit als Teil der Existenzsicherung blieb damit die Grundlage, nicht dagegen die Idee eines staatlichen Grundeinkommens, das, wie Gorz argumentierte, die gesellschaftliche Spaltung in Arbeitende und Nicht-Arbeitende eher zementierte als auflöse und auch die bestehende Arbeitsteilung der Geschlechter wohl weiter verfestige. Der Kampf um Arbeitsplätze müsse deshalb auch der Fluchtpunkt der politischen Linken bleiben, damit künftig alle Menschen arbeiten könnten – nur eben weniger. Radikale Arbeitszeitverkürzung schaffe die Voraussetzung dafür, dass die Existenzsicherung aller gewährleistet sei. Arbeitszeitverkürzung als emanzipatorisches Projekt – das war es, wovon gewerkschaftsnahe Intellektuelle träumten und damit ungewollt auf ein zentrales gewerkschaftliches Problem der modernen Industriegesellschaft hinwiesen: dass nämlich die „Starrheit der herrschenden Zeitordnung, die strenge Zeitökonomie und das bürgerliche Arbeitsethos“ langsam zusammenbrächen und deshalb eine Doppelbewegung nötig sei49, die Verkürzung der fordistischen Stunde im Produktionsalltag und gleichzeitig die Neugewichtung der Nicht-Arbeit als Ausdruck und Folge eines gesellschaftlichen Wertewandels. Die neue Zeitsouveränität der Arbeiter erschien in dieser Sicht als Folge der Ablösung eines bürgerlichen Arbeitsethos: Nicht mehr pures Pflichtgefühl, Sparsamkeit, Disziplin und Pünktlichkeit galten als moralischer Imperativ, sondern das neue Lebensgefühl der Selbstverwirklichung, der temporalen Selbstaneignung – ein neues Wertekorsett, von dem auch die Mitglieder der Gewerkschaften und das Gros der insbesondere jüngeren Erwerbstätigen beseelt zu sein schienen. Der Befund, den die zeitgenössische sozialwissenschaftliche Forschung Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre lieferte, war indes keineswegs eindeutig: Denn mit der Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit, dem Ende des bürgerlichen Familienmusters, werde die berufliche Arbeit als Orientierungs- und Identifikationsinstanz zunehmen; gleichzeitig war die Arbeitszeitpolitik getragen von der Hoffnung auf eine neue Lebensqualität, für die die Gewerkschaften ebenfalls stritten. Diese neue Lebensqualität bedeutete: die weitestgehende Möglichkeit, Arbeit und Freizeit voneinander zu trennen – und 49 Thomas Olk/H.-Willy Hohn/Karl Hinrichs/Rolf G. Heinze: Lohnarbeit und Arbeitszeit. In: Leviathan, 7, 1979. S. 151–173 (Teil 1), S. 376–407 (Teil 2), hier: S. 377.
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stand damit ganz im Sinne industrieller Zeitökonomie und meinte das glatte Gegenteil zur alternativen Ökonomie. Die Reduzierung der Arbeitszeit galt als logische Fortsetzung all der großen Hoffnungen, die sich mit der Humanisierung der Arbeit verbanden und die vor allem in den Niederlanden und in Skandinavien von der Erwartung einer gerechteren Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen getragen waren. Und doch waren mindestens zwei Probleme neu: der wachsende ökonomische Druck auf die Belegschaften und der Beginn der Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger Jahre, aber eben auch der neue Akzent, der im Begriff der ‚Lebensqualität‘ steckte: die Vorstellung, dass Arbeitszeitflexibilisierung eine Chance individueller ‚zeitlicher Souveränität‘ sei. Diese neue Arbeitszeitpolitik50 nahm für sich sowohl einen betriebswirtschaftlichen als auch einen emanzipatorischen Impuls in Anspruch, ging es doch darum, dass der Einzelne wieder Autonomie über die Gestaltung seines Lebenslaufes und die Intensität seiner Beschäftigung gewinnen sollte. Konkret ging es um die Individualisierung bisher kollektiv geregelter Tages- und Wochenarbeitszeiten und auch um die Arbeitsmenge insgesamt. Für diese ‚neue Arbeitszeitpolitik‘, die Ende der siebziger Jahre in gewerkschafts- und SPD-nahen Organen diskutiert wurde, spielte die Frage nach der Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit zunächst noch keine entscheidende Rolle. Das Argument der ‚Flexibilisierung‘ galt damit noch nicht als gleichsam solidarischer Akt der Umverteilung einer knapper werdenden Arbeitsmenge, sondern schien Ausdruck eines neuen liberalen Lebensgefühls.51 Der in den Jahren 1983/84 ausgetragene Konflikt um die von den Gewerkschaften geforderte Einführung der 35-Stunden-Woche war für den Charakter der späten Bundesrepublik deshalb so zentral, weil er auch ein Grundsatzkonflikt um die Logik des westdeutschen Arbeitszeitregimes war: Denn bis dahin richtete sich die Politik der Arbeitszeitverkürzung auf die – ganz im Sinne der Arbeiterbewegung liegende – Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche bedeutete indes mehr als nur die schrittweise Reduzierung der 50 Vgl. dazu u. a. Bernhard Teriet: Möglichkeiten der Arbeitszeitverteilung und der Arbeitszeitflexibilität. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 25, 1974. S. 412–423; ders.: Arbeitszeitflexibilisierung: Freiheit zurückgeben. In: Bundesarbeitsblatt, 6, 1981. S. 20; Andreas Hoff: Job-sharing als arbeitsmarktpolitisches Instrument: Wirkungspotential und arbeitsrechtliche Gestaltung. In: Wissenschaftszentrum Berlin. Discussion Papers IIM/LMP. Berlin 1981. S. 52; ders.: Verteilungskampf am Arbeitsplatz. In: Die Zeit 49 (27.11.1981). S. 36. 51 Bernhard Teriet: Die Wiedergewinnung der Zeitsouveränität. In: Freimut Duve (Hg.): Technologie und Politik. Bd. 8. Reinbek 1977. S. 75–111; ausführlich dazu Dietmar Süß: Stempeln, Stechen, Zeiterfassen. Überlegungen zu einer Sozial- und Ideengeschichte der Flexibilisierung. In: Archiv für Sozialgeschichte, 52, 2012. S. 139–162.
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Wochenarbeitszeit; er war auch Teil eines soziokulturell geprägten Lebensmodells der Industriegesellschaft, zu der wesentlich die Trennung von Arbeit und Freizeit gehörte. Die Forderung nach der Einführung der 35-Stunden-Woche bewegte sich zwar auf den ersten Blick in die gleiche Richtung, doch hatten sich die ökonomischen Bedingungen und damit auch die innere Logik der Arbeitszeitpolitik radikal verändert. Denn nun sollte, wie es beispielsweise auch der IG-Metall-Bezirksleiter für Baden-Württemberg, Franz Steinkühler, forderte, mit der 35-Stunden-Woche ein dreifaches Ziel erreicht werden: eine ‚Humanisierung der Arbeit‘, die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer und die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit. Aber gerade diese Mischung war keineswegs widerspruchsfrei – und vor allem konnte die Arbeitgeberseite unter dem Stichwort ‚Flexibilisierung‘ und ‚Kostenersparnis‘ neue Akzente setzen.52 Und so konnte die Semantik der Flexibilisierung zum Zauberwort sehr unterschiedlicher Logiken industrieller Arbeitszeitregime seit den siebziger Jahren werden: als Teil einer neuen Arbeitszeitkultur der ‚individualisierten Massengesellschaft‘ und als Anpassung an die Bedingungen einer beschleunigten fordistischen Produktionsweise, für die die Aushöhlung geregelter Arbeitszeit die Norm bildete.
4 Gewerkschaften und Sozialdemokratie und die Suche nach dem Sinn der Arbeit Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Arbeit und Zeit, von Arbeit und Nicht-Arbeit bildete eine zentrale Sollbruchstelle zwischen alter und neuer sozialer Bewegung und ihrer – gemeinsam geteilten – Diagnose der ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘. Denn während die Gewerkschaften gerade darum kämpften, durch die Verkürzung von Arbeitszeiten neue industrielle Arbeitsplätze zu schaffen und die Trennlinie zwischen Betrieb und Beschäftigten weiter zu ziehen, zielte die Alternativökonomie auf die Verschmelzung von Arbeit und Nicht-Arbeit – und damit auf ein neues oder besser: altes, präfordistisches Lebensmodell, in dessen Zentrum nicht Arbeitnehmer, sondern die ‚neuen Selbstständigen‘ standen, für die tarifvertraglich fixierte Arbeitszeiten wenig Charme besaßen. Innerhalb der Gewerkschaften galt ein solches Arbeitsmodell der Alternativökonomie als „naiv“, wie es Wolfgang Elsner in einer Generalabrechnung in den
52 Für die Argumente der Arbeitgeberseite vgl. Walter H. Schusser: Flexibilisierung der Arbeitszeit. Plädoyer für das Machbare. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bd. 117/118. Köln 1983. S. 17 f.
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DGB-eigenen WSI-Mitteilungen formulierte.53 Diese alternative Gegenwartsdiagnose basiere auf falschen Prämissen und sei getragen von einer apokalyptischen Grundhaltung. „Spektakuläre Negativvisionen statt Systemanalyse“54 – das machte aus seiner Sicht den Unterschied zwischen den neuen und alten sozialen Bewegungen aus. Der Arbeitsmarkt und überhaupt die Leistungen des Sozialstaates würden als Ausdruck eines „totalen Dienstleistungs- und Verwahrungsstaates“ und „Horrorvision“ denunziert und damit gerade der Staat zur zentralen Zielscheibe alternativer Kritik.55 Tatsächlich zielte ein Teil der Alternativen auf den ‚Moloch‘ Staat und sprach von einem „Archipel Gulag der Schulen, Krankenhäuser, Altersheime, Erziehungsheime, geschlossenen Anstalten und Gefängnisse“, getragen von der Kooperation zwischen Polizei, Lehrern, Sozialarbeitern und Ärzten.56 Elsner (und andere) störten sich an der Heroisierung der alternativen Akteure und ihren unterschiedlichen Projektionen einer vermeintlich heilenden Kraft der Marginalisierten. Die alternativen Ökonomien seien von einer antiinstitutionellen Emphase bestimmt; niemand spreche dort mehr über Verteilungskämpfe, und die generelle Verteufelung des Wachstums führe dazu, die Bedeutung von Profiten und Investitionsentscheidungen aus dem Blick zu verlieren. Im Übrigen, notierte Elsner im Ton gewerkschaftlichen Großmuts, seien doch die wichtigsten Überlegungen der Alternativökonomie allesamt durch die Klassiker der alten Arbeiterbewegung vorweggenommen worden: Dezentralisierung, Demokratisierung, Autonomie, alles könne man dort nachlesen. Gleichwohl gab es auch innerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften intensive Debatten über eine neue Moralökonomie, die allerdings nicht den Betrieb zum neuen Lebensmittelpunkt machen wollte, sondern stattdessen die Ethik der Arbeit selbst zum Gegenstand der Kritik machte – und damit Arbeit auch noch einmal neu zu denken versuchte. Ansätze dazu hatte bereits 1975 Erhard Eppler in seinem Buch „Ende oder Wende“ benannt, als er den dominierenden sozialdemokratischen Fortschrittsoptimismus in Frage stellte. Eine neue „Qualität des Lebens“, wie sie Eppler vorschwebte und wie sie 1977 die SPD-Grundwertekommission formulierte57, meinte nicht nur eine neue Politik sozialstaatlicher Umverteilung der Lasten. 53 Wolfram Elsner: Die Alternativen der Alternativbewegung. Bemerkungen zu einigen Denkfehlern einiger Theoretiker der alternativen Ökonomie. In: Schwendter (Hg.): Mühen der Ebene (wie Anm. 1). S. 239–252. 54 Ebd. S. 239 f.; folgende Zit. nach ebd. 55 Zur Schärfe der Auseinandersetzung vgl. die Diskussion: Johannes Berger/Ulrich Briefs: Wege zur ökologischen Wirtschaftsordnung (Ein Streitgespräch). In: Schwendter (Hg.): Mühen der Ebene (wie Anm. 1). S. 141–146. 56 Joseph Huber: Wer soll das alles ändern. Die Alternativen der Alternativbewegung. Berlin 1981. S. 62. 57 Erhard Eppler (Hg.): Grundwerte für ein neues Godesberger Programm. Die Texte der Grundwerte-Kommission der SPD. Reinbeck 1984. S. 25.
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Sie verstand sich auch als Versuch, eine neue Definition des „Rechts auf Arbeit und der Solidarität“ zu formulieren. Denn: Vollbeschäftigung werde es auf absehbare Zeit nicht mehr geben, so dass, unabhängig von der Kürzung der Arbeitszeit, eine Mehrheit auf Reallohneinkommen verzichten müsse, damit eine Minderheit eine größere Arbeitschance erhalte. Das war tatsächlich für die Facharbeiter-SPD ein tiefer Einschnitt in ihrem Verhältnis zur industriellen Moderne, wenngleich Epplers Position noch keine Mehrheitsmeinung darstellte.58 Doch was konnten die Alternativen sein? Zunächst jedenfalls konnte es nicht den Abschied von der Vollbeschäftigung bedeuten. ‚Anders arbeiten‘ meinte dagegen eher, ‚anders (zu) produzieren‘, und damit eine ethische Alternative zur moralisch zweifelhaften Produktion des Kapitalismus. „Rüstungskonversion“ lautete das zentrale Stichwort, das unterschiedliche Ziele miteinander verbinden sollte: die Umstellung der Produktion von militärischen auf zivile, sozial und ökologisch „nützliche“ Güter, die Sicherung von Arbeitsplätzen sowie die Nutzung der spezifischen Technikkompetenz der Beschäftigten, deren produktionsspezifisches Wissen nur allzu oft durch die Unternehmensführung vernachlässigt würde.59 Seit Mitte/Ende der siebziger Jahre, mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, erhielt die Debatte Schwung. 1976 hatten einige Betriebsratsvorsitzende aus Rüstungsbetrieben für eine Lockerung der Exportbeschränkungen für Wehrtechnik in Krisengebiete plädiert, um in schwierigen Zeiten Arbeitsplätze zu sichern. Hieran entzündeten sich intensive Debatten um die Bedeutung der Rüstungsindustrie für das ‚Modell Deutschland‘. Vor diesem Hintergrund entstand beim IG-Metall-Vorstand ein „Gesprächskreis für Wehrtechnik und Arbeitsplätze“, an dem Betriebsräte der wichtigsten Rüstungsunternehmen beteiligt waren und der Anregungen dafür geben sollte, wie auf betrieblicher Ebene eine ‚aktive Friedenspolitik‘ der Gewerkschaften auch in ethisch ‚belasteten‘ Unternehmen aussehen konnte; Debatten, die sich nicht nur mit der ethischen Dimension ‚alternativer Arbeit‘ beschäftigten, sondern zudem mit der Frage, ob Konversion, die Umwandlung von Rüstungs- in zivile Produktion, auch zur Sicherung von Arbeitsplätzen beitragen könnte. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen bedeuteten die Initiativen zur Rüstungskonversion eine mögliche Antwort auf den industriellen Strukturwandel.
58 Zur Diskussion in der SPD vgl. Anna Neuenfeld: Oskar Lafontaine, die SPD und die Debatte über die Zukunft der Arbeit in den achtziger Jahren. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Friedrich-Schiller-Universität Jena 2009. 59 IG Metall Vorstand (Hg.): Protokoll des 10. ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall 1971. Bd. II. Frankfurt a. M. 1971. Die Zitate dort S. 190. Folgendes nach Stefan Strutz: Der fremde Freund. IG-Metall und Friedensbewegung vom NATO-Doppelbeschluss bis zum Bosnienkrieg. Frankfurt a. M. 1997. S. 34–43.
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Es war vor allem die IG Metall, die diese neue Debatte um ‚alternative Produktion‘ und die Kritik an den Rüstungsausgaben mit der Forderung nach ‚humaner‘ und ‚neuer‘ Arbeit verband. Schließlich, so lautete das Argument gewerkschaftsnaher Industrieforschung, schaffe die Rüstungsindustrie in Zeiten stotternder Konjunktur nicht etwa Arbeitsplätze, sondern ihre Produktionsmethoden würden angesichts der Rationalisierungspolitik gesicherte Beschäftigungsverhältnisse aufs Spiel setzen. Zudem hätten Rüstungsausgaben keineswegs positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen. Die staatlichen Subventionen für militärische Forschung behinderten die Entwicklung eines ‚humanen‘ Fortschritts, weil die Ressourcen nicht in drängendere Probleme wie Umweltschutz, Ernährung oder die Energieversorgung investiert würden. Rüstung gefährde ein qualitatives Wachstum, beschleunige die Inflation und verhindere die Entwicklung innovativer Technologien.60 Das Thema erhielt 1979 erstmals Platz auf der Titelseite des „Gewerkschafter“, der Funktionärszeitschrift der IG Metall61; dort konnten nicht nur Experten ihre Berechnungen zur Arbeitsplatzgestaltung präsentieren. Auch liefen die ersten Erfahrungsberichte aus den Rüstungsbetrieben (wie dem Luft- und Raumfahrtkonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm) ein, die über Vorschläge zur Umgestaltung ‚ihrer‘ Konzerne und der damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der unmittelbaren Umsetzung im Betriebsalltag berichteten. In Großunternehmen wie dem Schiffbauer Blohm+Voss in Hamburg waren – gegen anfängliche Bedenken der Arbeitgeber – eigene „Arbeitskreise alternativer Fertigung“ entstanden, um neue, zivile Produkte zu entwickeln und zugleich nach neuen Absatzmärkten Ausschau zu halten. In etwa einem Dutzend Unternehmen gab es solche betrieblichen Gruppen, die das Thema Konversion und Friedenspolitik auf ihren unmittelbaren Arbeitsalltag bezogen und beispielsweise durchrechneten, wie viele tatsächliche Kosten durch den Bau von Fregatten an die Türkei entstanden – und was diese durch staatliche Quersubventionen finanzierten Aufträge hätten bewirken können, wenn stattdessen zivile Schiffe gebaut oder die Produktionsanlagen modernisiert worden wären.62 Zentraler Referenzpunkt für die Debatten um ‚alternative Produktion‘ waren die Erfahrungen der Beschäftigten der britischen Luftfahrtindustrie. Bei Lucas Aerospace hatten Ingenieure und Arbeiter in einer spektakulären Rebellion gegen das eigene Management neue, zivile Produkte und Produktionsweisen entworfen, die nicht nur eine friedliche Alternative zur Rüstungsindustrie sein, sondern zugleich dem Unter60 Armin Wöhrle: Gewerkschaften und Friedensbewegung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12, 1981. S. 1447–1460, hier: S. 1448 ff. 61 Mörderische Aufrüstung. Sicherheit durch alternative Produktion. In: Der Gewerkschafter, 9, 1979. S. 18–19. 62 Klaus Mehrens: Alternative Produktion – warum und wie? In: Der Gewerkschafter, 1, 1984. S. 16 f.; und Johann G. Taschenberger: Doppelter Nutzen. In: ebd. S. 22 f.
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nehmen neue Märkte erschließen sollten.63 Scharenweise pilgerten amerikanische, schwedische und italienische Gewerkschafter seit Mitte der siebziger Jahre nach England, um sich von Mike Cooley, dem Vorsitzenden der Techniker-Gewerkschaft TASS und seinen Kollegen die Pläne zur Konversion erklären zu lassen, zu denen vor allem gehörte, dass die Beschäftigten selbst Vorschläge für die Konversion machten und mit den Ingenieuren zusammen an deren Umsetzung arbeiteten. Auch in Deutschland sorgten die Initiativen der Beschäftigten für erhebliches Aufsehen, schienen sie doch eine Antwort nicht nur auf die ökonomische Krise einzelner Betriebe der Rüstungs- und Metallindustrie Ende der siebziger Jahre zu bieten, sondern auch eine Antwort auf das ethische Dilemma ‚unmoralischer‘ Güterproduktion im Zeichen der Massenarbeitslosigkeit. Zugleich war die Debatte um Lucas Aerospace auch getragen von einem wachsenden Gefühl der Unsicherheit gegenüber den neuen rationalisierten und computergestützten Arbeitsbedingungen, die den Wert menschlicher Arbeit zunehmend minderten. „Auf der Ebene der Individuen“, prognostizierte Cooley, werde die „Totalität, die den Menschen erst ausmacht, rücksichtslos auseinandergerissen, die einzelnen Teile dieser Totalität gegeneinander ausgespielt. Vom Individuum als Produzenten wird die Verrichtung entfremdeter Arbeit verlangt, aus der Wegwerfprodukte hervorgehen, die dasselbe Individuum als Konsumenten ausbeuten sollen.“64 Eine Kritik der hergestellten Güter war also verbunden mit der Art und Weise, wie diese hergestellt wurden, und die neuen Arbeitsinstrumente, Roboter und Computer galten als neue Ausbeutungsinstrumente der Industriegesellschaft – allerdings nur so lange, bis sich die Arbeiter ihrer selbst bedienten und sie zu einem humanen Zweck einsetzten. Es war also keineswegs eine generelle Technikfeindlichkeit65, sondern die Ambivalenz des Fortschritts und der neuen Arbeitsformen, die Cooley beklagte.
5 Arbeit und Anerkennung Das, was also Arbeit, gar humane Arbeit sei, war im Lauf der achtziger Jahre zu einem neuen gesellschaftlichen Konflikt geworden – und das noch in anderer Hinsicht: Denn vor allem aus Teilen der Frauenbewegung regte sich massive Kritik nicht nur an der sozialen Praxis weiterhin bestehender geschlechtsspezifischer Ungleichheiten 63 Mike Cooley: Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod. Arbeitnehmerstrategien für eine andere Produktion. Das Beispiel Lucas Aerospace. Reinbek 1982. 64 Ebd. S. 93. 65 Vgl. dazu Andreas Wirsching: Durchbruch des Fortschritts? Die Diskussion über die Computerisierung in der Bundesrepublik. In: Martin Sabrow (Hg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009. Göttingen 2010. S. 207–218.
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innerhalb der alternativen Betriebe, sondern auch an der linken Lesart der ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘. Denn diese ging, wie Gisela Bock und Pieke Biermann 1977 argumentierten, an dem eigentlichen Problem vorbei – und dieses Problem hieß: Hausarbeit.66 Der Staat solle, so die Forderung, Hausarbeit künftig angemessen bezahlen. Denn nur so könne die Schwäche und Abhängigkeit, die patriarchale Ausbeutung überwunden werden, wenn die familiäre Leistung nicht mehr als ein Akt der Liebe unentgeltlich erfolge, sondern als Lohn anerkannt würde. Lohn für Hausarbeit war damit eine Machtfrage – und das in mehrfacher Hinsicht: Lohn für Hausarbeit war eine Reaktion auf den familiären Wandel. Denn die Geldleistungen machten nicht nur die Ehepartner zu gleichberechtigten Lohnempfängern, sondern dienten auch dazu, der steigenden Zahl alleinerziehender Frauen ein Grundeinkommen zu sichern und ihre Leistung zu würdigen. Frauen wollten damit, und das war das zweite Argument, nicht mehr die billige Reservearmee der kapitalistischen Industriegesellschaft sein. Das System basiere auf der Ausbeutung der Frauen, ihrer Hausarbeit und der damit verbundenen Reproduktionsmöglichkeit der Männer in den Betrieben und Verwaltungen. Nur wenn dieses Gesetz der kostenlosen Hausarbeit durchschlagen werde, könne auch die „Hausfrauisierung“67 der globalen Ökonomie durchbrochen werden. Hausarbeit war in dieser Hinsicht mehr als Putzen und Kochen; weibliche Arbeit sei auch, wenn Frauen psychischen Beistand leisteten oder ihre Kinder erzögen. Und warum sollten Tagesmütter für ihre Arbeit bezahlt werden – Hausfrauen aber nicht? Schließlich sorge die Bezahlung auch für eine wirkliche Neujustierung der Geschlechterbeziehungen. Denn solange nur die Männer Geld verdienten und Frauen die unbezahlte Hausarbeit taten, blieben die sexuellen Ausbeutungsverhältnisse weiter bestehen. Die Wirtschaftskrise seit Mitte der siebziger Jahre betreffe die Frauen und die Hausarbeit besonders: Viele verlören ihren Lohnerwerb, würden aber nicht arbeitslos, weil sie – nun ohne Gehalt – in den Familien weiterarbeiteten und viele der Aufgaben übernähmen, die sich der Staat nun im Sozial- oder Familienbereich nicht mehr leisten wolle und so auf die Frauen abschieben könne. Genau dieser Mechanismus, das kostenlose Fortbestehen der Frauenarbeit, sei eine der gegenwärtigen Krisenlösungsstrategien. Innerhalb der Frauenbewegung war die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit indes umstritten. Alice Schwarzer hatte die Berliner Kampagne harsch kritisiert und vor allem betont, dass es primär Erwerbstätigkeit sei, die mit zur Befreiung und Unabhängigkeit führe, nicht aber eine weitere Tätigkeit zu Hause. Dagegen kritisierten die Berliner Frauen um die Historikerin Gisela Bock, dass dies lediglich 66 Pieke Biermann/Gisela Bock: Lohn für Hausarbeit vom Staat für alle Frauen. In: Courage: Berliner Frauenzeitung, 3, 1977. S. 16–21, dort die folgenden Zitate. 67 Claudia v. Werlhof: Die Krise. Hausfrauisierung der Arbeit. In: Courage. Berliner Frauenzeitung, 3, 1982. S. 34–43, bes. S. 38 ff.
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die Antwort der „männerbeherrschten Linken“ und ihres Credos „Ab in die Produktion“ sei.68 „Hausarbeit bleibt nicht Hausarbeit, wenn sie bezahlt wird. Sie ist dann nicht mehr unsichtbar, nicht ‚Liebe‘, nicht ‚Natur‘ oder ‚Schicksal‘ der Frauen.“ Erst wenn Hausarbeit bezahlt würde, könne sie auch für Männer attraktiv werden und erst dann verschwinde die unselige bürgerliche Idee der „Arbeit aus Liebe“. In Abgrenzung zu den Debatten innerhalb der Union und der SPD um Erziehungsgeld oder „Hausfrauenlohn“ ging es der Kampagne „Lohn für Hausarbeit“ darum, von „Hausarbeitslohn“ zu sprechen – und damit auch sprachlich die weibliche Arbeitstätigkeit von der Hausarbeit zu entkoppeln. Die Forderung nach einer Entlohnung zielte zugleich auf eine Debatte, die auch im Umfeld der alternativen Ökonomie geführt wurde: Wer für seine Arbeit Geld bekomme, habe auch das Recht, „Nein“ zu sagen und sich auch zeitlich vom innerfamiliären Druck zu befreien. Individuelle Zeit und damit die Möglichkeit, sich zu engagieren und sich selbst zu verwirklichen, gehörten damit auch zu den Argumenten, die im Sinne der Kampagne für die Einführung eines Hausarbeitslohnes sprachen.69 Zunächst in den USA und in Großbritannien, dann seit Mitte der siebziger Jahre auch in Italien und der Bundesrepublik hatte die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit eine breite Kontroverse innerhalb der Frauenbewegung angestoßen.70 Dabei richtete sich die Kritik primär auf die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten der Arbeitsteilung und die verdeckten Formen nicht entlohnter Arbeit, wodurch die Auseinandersetzung um einen neuen Arbeitsbegriff wichtige Impulse erhielt. Es ging ebenfalls um Autonomie und Authentizität, nun aber unter anderen Vorzeichen. Denn die Voraussetzungen dafür sahen die Aktivistinnen gerade im Faktor Geld oder genauer: in der Anerkennung ihrer Arbeit als Erwerbsarbeit – und eben nicht als unbezahlten Liebesdienst. Während es in den alternativen Kontroversen ja vor allem um die Verschmelzung von Arbeit und Nicht-Arbeit ging, hatte die internationale „Kampagne für Hausarbeit“ ein anderes Ziel: Es ging gerade nicht um den vielfach in den alternativen Projekten beschworenen neuen Sinn der Arbeit außerhalb der Erwerbsarbeit, sondern um eine – im marxistischen Sinne – Anerkennung des Reproduktionsbereiches als Arbeit – und damit auch als Form der Lohnarbeit.
68 Lohn für Hausarbeit. Offener Brief an Alice. In: Courage. Berliner Frauenzeitung, 8, 1977. S. 38–40, dort auch die folgenden Zitate. 69 Vgl. mit regionalem Fallbeispiel Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er in München. München 2011. S. 215–227. 70 Vgl. Ute Gerhardt: Frauenbewegung. In: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg).: Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt a. M./New York 2008. S. 187–217, bes. S. 203–207.
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6 Schluss Konservative Kritiker wie die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann sahen in den Debatten der achtziger Jahre um die ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ ein Indiz für die Erosion des bürgerlichen Tugendkatalogs.71 Arbeit als Form der Selbstverwirklichung stieß keineswegs überall auf Zustimmung72, und auch manche Sozialdemokraten und Gewerkschafter konnten nur wenig mit diesen neuen Tönen anfangen. Arbeit als Subjektwerdung war eine der diskursiven Erweiterungen, die, wenngleich an ältere Traditionen der Arbeiterbewegung anknüpfend, durch die neuen sozialen Bewegungen erhebliche Impulse erhielten. Mit Axel Honneth wird man diesen Prozess der Pluralisierung auch als einen neuen „Kampf um Anerkennung“ 73 darüber verstehen können, was als Arbeit gesellschaftlich akzeptiert und was damit materiell und kulturell honoriert wurde. Die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung und Flexibilisierung waren in dieser Hinsicht Konflikte, in denen es um Phänomene sozialer Entrechtung, ihre semantische Kodifizierung und marktkonforme Vermittlung ging. Die neuen sozialen Bewegungen debattierten nicht nur über alternative Arbeit und Produktionsweisen, sondern auch darüber, wie das Verhältnis von Arbeit und Zeit, von Arbeit und Lebenswelt neu organisiert werden konnte – und ihre Antworten fielen deutlich anders aus als die der alten sozialen Bewegungen. Denn den Gewerkschaften ging es vor allem darum, die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit durch die Verkürzung der Arbeitszeiten weiter zu ziehen, während die neuen alternativen Betriebe zwar ebenfalls auf reduzierte Arbeitszeiten setzten, aber ‚anders arbeiten und leben‘ als ein ganzheitliches politisches Programm verstanden, das gerade keinen radikalen Schnitt zum Arbeitsprozess kannte. Die „neuen Selbstständigen“ waren diejenigen, die sich nicht in das Zwangskorsett von Tarifverträgen pressen ließen, ihre Arbeit als ‚Projekt‘ verstanden und zwischen Beschäftigung und Ruhephasen angesichts des politisch-sozialen Sinns nicht mehr zwingend unterschieden. Womöglich führt eine der Spuren dieser begrifflichen Wandlungen, die Mischung aus anti-etatistischer Emphase und Individualismus, dann mitten ins Zentrum der in den neunziger Jahren dominant werdenden Flexibilisierungssemantiken und zum neuen „unternehmerischen Selbst“.74 71 Geyer: Sozialpolitik (wie Anm. 28). S. 71 ff. Vgl. auch den Beitrag von Jörg Neuheiser in diesem Band. 72 Vgl. beispielsweise die Diskussion in: Anton Rauscher (Hg.): Alternative Ökonomie? Mönchengladbacher Gespräche. Bd. 4. Köln 1982. 73 Vgl. Axel Honneth: Arbeit und Anerkennung. Versuch einer Neubestimmung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 3, 2008. S. 327–341. 74 Siehe den Beitrag von Ulrich Bröckling in diesem Band. In diese Richtung auch Luc Boltanski/Ève Chiapollo: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003. S. 147 ff.; anders argumentiert Reichardt: Authentizität (wie Anm. 3). S. 349 f., der u. a. die mangelnde Effizienz der Alternativökonomien betont.
Ulrich Bröckling
Vermarktlichung, Entgrenzung, Subjektivierung Die Arbeit des unternehmerischen Selbst
Hätte man in den 1950er oder 1960er Jahren nach einer Figur gesucht, in der sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von Arbeit exemplarisch verdichten, so wäre einem vermutlich ein Facharbeiter etwa aus der Automobilindustrie, ein Angestellter im Großraumbüro und vielleicht noch ein Manager in den Sinn gekommen, kaum wohl aber ein Unternehmer.1 Nicht dass man, selbst auf Seiten der Linken, Unternehmern pauschal abgesprochen hätte, dass sie selbst arbeiten, aber man sah sie doch vor allem als Arbeitgeber, deren Tätigkeit eben darin bestand, andere – die Arbeitnehmer – gegen Bezahlung für sich arbeiten zu lassen. In der Gegenüberstellung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer klang, korporatistisch gezähmt, sozialstaatlich abgefedert und seiner klassenkämpferischen Konnotationen entledigt, noch der Antagonismus von Kapital und Arbeit nach. Arbeit war die eine Seite einer fundamentalen gesellschaftlichen Differenz; wer ‚Arbeit‘ sagte, meinte in der Regel Lohnarbeit. Ebenso selbstverständlich wie der Gegensatz von Arbeit und Kapital war die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Arbeit war das, was im Betrieb oder Büro stattfand und was entsprechend mit dem Feierabend ein Ende hatte. Wenn die Gewerkschaften für eine Reduzierung der Arbeitszeit stritten, dann ging es um das quantitative Verhältnis von Arbeit und Freizeit – weniger Arbeit bedeutete mehr Freizeit –, nicht um das Prinzip der Aufteilung selbst. Zeitlich und räumlich gehörten Arbeit und Nichtarbeit unterschiedlichen Sphären mit unterschiedlichen Regeln an. In der Arbeitswelt herrschte weithin unangefochten ein Disziplinarregime: Den Anweisungen der Vorgesetzten war Folge zu leisten, die Leistungsnormen waren einzuhalten; der Takt der Maschinen und die komplexen Entscheidungsketten bürokratischer Großorganisationen ließen für Eigeninitiative und Selbstbestimmung wenig Platz. Gefragt war Anpassung an Normen und Normalitätsstandards; Individualität und jede Form von Nonkonformismus störten dagegen den reibungslosen Betriebsablauf. Wo Rationalisierung auf der Tagesordnung stand, hatten Emotionen und Selbstverwirklichungsansprüche nichts verloren. Die Arbeit sicherte das Auskommen und, 1
Der folgende Beitrag stützt sich auf Überlegungen, die ich bereits an anderer Stelle veröffentlicht habe: Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M. 2007.
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wenn es gut ging, einen gewissen Wohlstand, sie sorgte darüber hinaus für soziale Anerkennung und gesellschaftlichen Status, aber das Reich der Freiheit begann erst nach Schichtende oder Dienstschluss. Zur Aufteilung in Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit kam eine dritte Dichotomie, die sich auf die gesellschaftliche Organisation der Arbeit bezog: Unternehmen agierten in ihren Außenbeziehungen als Marktakteure, die den Regeln des Wettbewerbs folgten; nach innen hin waren sie dagegen hierarchisch organisiert. Beim Abschluss eines Arbeitsvertrags standen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer als formal freie und gleichberechtigte Kontraktpartner gegenüber. Die Arbeitskraft war eine Ware, die den gleichen Schwankungen von Angebot und Nachfrage unterlag wie andere Waren auch. Mit der Unterschrift unter den Arbeitsvertrag unterwarf sich der Arbeitnehmer für die vereinbarte Arbeitszeit jedoch der Kommandogewalt des Arbeitgebers; der Lohn bildete die materielle Entschädigung für dieses temporäre Abtreten individueller Freiheit. Um die gekaufte Arbeitskraft dann in tatsächlich geleistete Arbeit zu transformieren, setzte man in den Unternehmen nicht auf marktförmige Regulation, sondern auf die bereits erwähnten Disziplinarmechanismen. Die Produktivität und damit die Wettbewerbsfähigkeit auf den externen Märkten sollten sich, so der fraglose Common Sense, am effizientesten dadurch steigern lassen, dass man intern ein Regime des command and control installierte und die Arbeitsabläufe entsprechend den Regeln wissenschaftlicher Betriebsführung rationalisierte. Selbst die Human-Relations-Bewegung, wie sie ausgehend von den Hawthorne-Studien aus den 1920er Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch Einzug in deutsche Unternehmen gehalten hatte, markierte keinen Bruch, sondern eine psychologische Verfeinerung der disziplinierenden Gehorsamsproduktion. Die gesellschaftliche Semantik, aber eben auch die gesellschaftliche Organisation der Arbeit waren durchzogen von begrifflichen Oppositionen und institutionellen Grenzziehungen: Kapital versus Arbeit, Arbeitszeit versus Freizeit, Fremdbestimmung versus Selbstbestimmung, Märkte versus Hierarchien usw. Die Gleichzeitigkeit dieser gegenläufigen Rationalitäten bildete das historische Apriori des Denkens und Handelns über politische Fraktionierungen und soziale Positionen hinweg. Die fraglose Plausibilität dieser, hier in großer Simplifizierung skizzierten Ordnung erodierte in den 1970er Jahren, und spätestens in den 1980er Jahren begann sich das durchzusetzen, was die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello den „neuen Geist des Kapitalismus“2 und andere Forscher im Anschluss an Michel Foucaults Vorlesungen zur Geschichte des Regierungsdenkens die „neoliberale Gouvernementalität“3 genannt haben, ein Regime, in dessen Zentrum die durchgängige Orientierung am 2 3
Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003. Vgl. zum Überblick Thomas Lemke/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.):
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Modell unternehmerischen Handelns und die Leitfigur des unternehmerischen Selbst stehen. Der folgende Beitrag stellt zunächst einige Analysen vor, die nach den Gründen für diesen Umbruch fragen, und skizziert im Weiteren dann die Ratio der Enterprise Culture anhand von drei miteinander eng verbundenen Dynamiken: der Vermarktlichung, der Entgrenzung und der Subjektivierung von Arbeit.
1 Der Aufstieg der Enterprise Culture Im Dezember 1984 veröffentlichte der französische Publizist und Herausgeber der Zeitschrift „Esprit“, Paul Thibaud, einen Aufsatz unter dem Titel „The Triumph of the Entrepreneur“, in dem er einen „change in political values“ diagnostizierte: „The ideological ground itself is in motion“, schrieb er, „it is the things themselves that instruct us, not just material events (irrepressible unemployment and its results), but mental drifts, unforeseen conclusions to which we are led, previously self-evident claims which suddenly can no longer be advocated: that the economy, for instance, is just a set of means at the service of society.“4 Thibaud stellte diesen Wertewandel in den Zusammenhang einer Krise des sozialdemokratischen Zeitalters. Dieses habe im Bann der Vorstellung gestanden, die Ökonomie ihrer verelendenden und ausbeuterischen Momente entkleiden und als Garant eines universellen Rechts auf Arbeit in den Dienst nehmen zu können. Der Vorsorgestaat versprach soziale Sicherheit um den Preis sozialer Disziplinierung und Normalisierung. Die Gesellschaft erschien als ein Arrangement von Rechten, die Bildungswege, Freizeit, Lohn usw. der Individuen definierten. Welche Ziele die Einzelnen verfolgten, an welchen Werten sie sich orientierten, das blieb in dem so definierten Rahmen ihnen selbst überlassen. Nachdem die gesellschaftssanitären Verheißungen spätestens 1968 in die Kritik geraten waren, war vom sozialdemokratischen Projekt wenig mehr geblieben als ein Individualismus, der sich darin erschöpfte, dass die Menschen im Rahmen der wohlfahrtsstaatlich angebotenen Möglichkeiten ihren bescheidenen privaten Hedonismus pflegten. Das Comeback des Unternehmergeists deutete Thibaud als eine mittelbare Folge dieses Erosionsprozesses: Der hedonistische Individualismus verlor, nachdem er den Kampf gegen die puritanische Sozialmoral gewonnen hatte, seine revolutionären, romantischen und exaltierten Züge und verlegte sich auf die Kunst des Möglichen. Für Thibaud war das zugleich eine Umlenkung von Energien, welche die Bewegung
4
Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M. 2000. S. 7–40. Paul Thibaud: Le triomphe de l’entrepreneur. In: Esprit, Dez. 1984. S. 101–110; hier und im Folgenden zit. nach der englischen Übersetzung: The Triumph of the Entrepreneur. In: Telos, 64, 1985. S. 134–140, hier: S. 134.
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von 1968 noch in messianischen politischen Ideologien gebunden hatte: „Hedonism, which could no longer be seduced by grandiose promises, had to settle for calculating and developing the many opportunities it could find in society as it is.“5 Das individuelle Streben nach Glück verlagerte sich auf die Sphäre des Konsums, und dieser versprach nicht länger die serielle Befriedigung normierter Bedürfnisse im Rahmen fordistischer Massenkultur, sondern lockte mit Abenteuer und Selbstverwirklichung und ließ materielle Ungleichheiten im Lobpreis der Differenz verschwinden. Konsumistischer und unternehmerischer Imperativ fielen zusammen: Als Konsument sollte der Einzelne sein Genusskapital akkumulieren und hatte sich zu diesem Zwecke so innovativ, risikobereit und entscheidungsfreudig zu erweisen, als müsse er ein Unternehmen zum Markterfolg führen. Dabei konnte er jene Verhaltensdispositionen einüben, die ihm auch in anderen Lebensbereichen zugute kamen. In den Worten Thibauds: From an entrepreneur of one’s own pleasure, one can become an entrepreneur as such. This disproves, at least in part, Bell’s thesis concerning the contradiction of capitalist culture: that it is puritanical and disciplinarian on the side of production, pleasure-seeking and seductive on the side of consumption. Between pleasure-seeking individualism and enterprising individualism, there will henceforth be less contradiction than solidarity; and the passage from one attitude to the other is smooth. So this individualism, denounced as impractible, ends up by finding in itself a kind of salvation, instilling civic prudence and a spirit of initiative.6
Zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und dem nach wirtschaftlichem Erfolg klaffte nicht länger ein unversöhnlicher Gegensatz, beide verstärkten sich vielmehr wechselseitig. Diesen Verschiebungen der Wertehorizonte und Verhaltensorientierungen korrespondierten, so Thibaud weiter, veränderte Formen der Produktion, die ebenfalls eine Renaissance des Unternehmergeistes beförderten. Der Mythos des vom Tellerwäscher zum Millionär aufgestiegenen Selfmademans feiere fröhliche Urständ: As needs and life-styles are differentiated, production becomes more diversified and mobile. The sense of commerce, of sale, of conception – especially the anticipation of new needs – the fact of being attuned to a nascent social mood become opportunities as much as technology and organization. […] [E]very day we are told the story of someone who, ‚starting with nothing‘, had the genius to discover in his contemporaries the ‚latent need‘ of an object or a service which, in our routineness, we would not have imagined.7 5 Ebd. S. 137. 6 Ebd. 7 Ebd. S. 138.
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Thibaud betonte, dass die Kultur der Entrepreneurship keineswegs das Ende staatlicher Interventionen bedeutete, und skizzierte damit avant la lettre den Übergang vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Staat: „The new relations between economy and society will not be defined – as certain demagogues claim – by returning to wildcat capitalism, but rather by developing policies that integrate society into economy, policies of mobilization, integration, negotiation, which increasingly involve non-management groups in the functioning of the economy.“8 Die Ökonomie erschien nicht länger als ein Instrument im Dienste der Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen, fortan sollten vielmehr die Gesellschaft und ihre politischen Institutionen den Imperativen der Ökonomie gehorchen. Thibaud beschloss seinen Aufriss mit einem Blick auf die prekären Effekte dieser Umbrüche: Mit dem Primat der Ökonomie kehrte, so sein Fazit, als moralisches Problem zurück, was das sozialdemokratische Zeitalter durch rechtliche Regulierung beziehungsweise mithilfe der Sozialversicherung zu lösen versucht hatte: „[…] those who are marginalized, i. e., all kinds of persons who are declared useless, whom the hard-pressed welfare state leaves in the dirt and for whom other policies must be conceived.“9 Bemerkenswert ist Thibauds Essay vor allem, weil er den Siegeszug der Enterprise Culture zu einem Zeitpunkt erkannte und gegenwartsdiagnostisch einzuordnen verstand, als sich deren Umrisse gerade erst abzuzeichnen begannen. Die Übernahmen der Regierungsgeschäfte durch Margaret Thatcher in Großbritannien (1979) und Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten (1981) hatten auf politischer Ebene den Bruch mit den keynesianischen Programmen der Nachkriegszeit markiert, jenen Grundkonsens, den Thibaud unter dem Rubrum der sozialdemokratischen Ära fasste. Dass jeder zum Unternehmer des eigenen Lebens werden solle, lag in der Logik von Thatcherism und Reagonomics, die bei allen Differenzen im Detail miteinander das Programm einer Entstaatlichung von oben teilten. Sie setzten die individuelle Selbstverantwortung an die oberste Stelle der politischen Agenda und flankierten mit diesem Postulat den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme. Konservative Think Tanks in Großbritannien und den USA hatten die marktradikale Wende bereits seit den 1970er Jahren eingefordert. Sie postulierten nicht den Rückzug des Staates, sondern die durchgängige Ausrichtung seiner Interventionen auf die Förderung unternehmerischer Initiative – ein aktivistisches Programm, das keinen Lebensbereich aussparen sollte. In Deutschland, wo der Abschied vom sozialdemokratischen Projekt erst später und weniger abrupt erfolgte – Kohl war eben nicht das deutsche Pendant zu Reagan und Thatcher –, tauchte die Figur des „unternehmerischen Selbst“ erstmals 1984 auf, und zwar im Kontext einer Analyse über die subjektiven Bewältigungsstrategien von Massenarbeitslosigkeit: Neben einer „mimetisch-defensiven Angstreaktion“ und einem 8 Ebd. S. 140. 9 Ebd.
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„taktischen Realismus am Arbeitsmarkt“ identifizierten die Soziologen Wolfgang Bonß, Heiner Keupp und Elmar Koenen eine weitere Reaktionsweise: Die Mobilisierung von Aktivitätsreserven, die gerade in der chaotischen Arbeitsmarktsituation eine spezifische Chance sieht, den Anbieter zum ‚Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft‘ zu machen. Diese praktisch folgenreiche Fiktion besteht darin, sich selbst als Bezugspunkt der Logik des Arbeitsmarktes vorzustellen, d. h. sich virtuell zum Subjekt einer eigenen Rationalität zu machen, die den Arbeitsmarkt als Feld der Mittel für eigene Zwecke nutzt. Dieser ‚Unternehmer‘ besitzt zwar prinzipiell auch nichts anderes als seine Arbeitskraft, er bietet aber teils künstlich differenzierte Kompetenzen an, und zwar vor allem unter Rückgriff auf Grund-, Neben- und Generalistenqualifikationen (z. B. Führerschein, berufliche Erfahrung, soziale Kompetenzen wie ‚sicheres Auftreten‘, ‚Führungsqualitäten‘ und juristische Vorkenntnisse, kaufmännische Lehre, Verwaltungserfahrung, Beherrschung von Fremdsprachen sowie nicht zuletzt Steno und Schreibmaschine, Textund Datenverarbeitung).10
Die Imagination seiner selbst als Unternehmer, so die Diagnose, wendete die Ohnmachtserfahrung tatsächlicher oder drohender Arbeitslosigkeit in den Aktivismus desjenigen, der sich auf eigene Rechnung auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten sucht. Hellsichtig erscheint im Rückblick insbesondere Bonß’, Keupps und Koenens Bemerkung über den gleichermaßen fiktionalen wie folgenreichen Charakter dieser Selbstmobilisierung, in der Simulation und Stimulation bis zur Ununterscheidbarkeit verschmolzen. Sich als handlungsmächtig zu begreifen, statt sich den Kräften des Marktes wehrlos ausgeliefert zu fühlen, war gleichbedeutend damit, sich konsequent als Marktsubjekt zu verhalten. In den deutschen Sozialwissenschaften wurde die Diskussion um die Verallgemeinerung unternehmerischer Verhaltensmodelle im Weiteren vor allem aus arbeits- und industriesoziologischer Perspektive geführt. Eine kritische Zuspitzung erfuhr sie mit der Arbeitskraftunternehmer-These von Günther G. Voß und Hans J. Pongratz. In der idealtypischen Gestalt des „Arbeitskraftunternehmers“ identifizierten die beiden „eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft“, die den bisher vorherrschenden „verberuflichten Massenarbeitnehmer des Fordismus“ wenn nicht ablöste, so ihm doch zur Seite trat und „als Leittyp für die künftige Arbeitswelt“ die „fortgeschrittenste
10 Wolfgang Bonß/Heiner Keupp/Elmar Koenen: Das Ende des Belastungsdiskurses? Zur subjektiven und gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeitslosigkeit. In: Wolfgang Bonß/Rolf G. Heinze (Hg.): Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1984. S. 143–188, hier: S. 182 f.
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Form subjektiver Produktivkraft“ verkörperte.11 Maßgeblich für das Vordringen dieses Typus waren, so Voß und Pongratz, erstens die erweiterte Selbstorganisation und -kontrolle der Arbeitstätigkeit durch die Arbeitenden, zweitens der Zwang zur verstärkten Ökonomisierung der eigenen Arbeitsfähigkeiten und -leistungen und drittens die zunehmende Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung.12 Die Tendenz zu gesteigerter Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung, die den Arbeitskraftunternehmer kennzeichnete, ließ sich insbesondere in zukunftsträchtigen Erwerbsfeldern wie der Informations- und Kommunikationstechnologiebranche, im Weiterbildungs- und Beratungssektor und den Unternehmen der New Economy nachweisen. In anderen Segmenten des Arbeitsmarktes herrschte dagegen, so das Ergebnis branchenbezogener Studien, in denen Voß und Pongratz ihre These empirisch überprüften, weiterhin der Typus des verberuflichten Arbeitnehmers vor. Die prekäre Variante des Arbeitskraftunternehmers bildete das wachsende Heer der Kleinstselbständigen, die sich als arbeitsagenturgeförderte Ich-AGs oder ohne diese staatliche Anschubfinanzierung durchzuschlagen versuchten, ohne große Aussicht, damit irgendwann zu jenem Wohlstand zu gelangen, den man einmal mit der Gestalt des Unternehmers assoziierte. Ähnlich wie Voß und Pongratz konturierte auch der Mailänder Soziologe Sergio Bologna, in den 1970er Jahren Aktivist der linksradikalen operaistischen Bewegung, die von ihm unter dem Rubrum „neue Selbständige“ gefassten unternehmerischen Arbeits- und Existenzformen gegen den Typus des fordistischen Massenarbeiters. War dieser in ein hierarchisches Fabrikregime eingebunden, das auch seine internen wie externen Kooperationen regelte, so müssen die neuen Selbständigen ihre Geschäftsbeziehungen selbst organisieren. Kommunikationsarbeit wird damit zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit. Arbeits- und Privatsphäre, für den Lohnarbeiter strikt getrennt, verschwimmen. Wohnraum und Arbeitsplatz, Freizeit und Arbeitszeit gehen ineinander über, wobei die durchschnittliche Arbeitsbelastung die Vierzig-Stunden-Woche deutlich überschreitet. Während die angestellten Arbeiter den Markt verlassen, sobald sie die Fabrik betreten, befinden sich die Selbständigen fortwährend auf dem Markt. Das Mehr an Selbstbestimmung erkaufen sie mit einem Weniger an sozialer Absicherung: Sie können lange Zeit ohne Einkünfte bleiben und leben von ständig zu schaffenden Rücklagen, um den ‚Leerzeiten‘ in der Arbeit zu begegnen. Der Begriff ‚Risiko‘ ist der Mentalität der unabhängigen Arbeit eingeschrieben, weshalb die Leistung immer auch 11 G. Günter Voß/Hans J. Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 1998. S. 131–158. 12 Ebd. S. 140 ff.
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einen Werbeaspekt enthält, über den die unabhängig Arbeitenden entweder die Fortsetzung des geschäftlichen Verhältnisses zum Auftraggeber oder die Erschließung neuer Geschäftsbeziehungen zu gewährleisten versuchen. […] Die Angst vor der ‚Leere‘ hindert die selbständig Arbeitenden daran, die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.“13
Bologna betonte, dass in den 1970er und 1980er Jahren der Weg in die Selbständigkeit vielfach nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus freien Stücken gewählt wurde, um dem Disziplinarzwang der Fabrikordnung zu entkommen, den die Operaisten ins Zentrum ihrer Kapitalismuskritik gestellt hatten. Im Rückblick betrachtet erweisen sich die verschiedenen Ausfaltungen der Gegenkultur nach 1968 trotz ihrer antikapitalistischen Stoßrichtung als Labors unternehmerischer Verhaltensorientierung. Die Versöhnung von Leben und Arbeiten, welche die Alternativbewegung proklamierte, realisiert sich für die neuen Selbständigen als Ausgreifen der Arbeit in alle Lebensbereiche. Wichtig für die Genealogie der Enterprise Culture ist der Hinweis auf ihre gegenkulturellen Wurzeln. Zu einer hegemonialen Gestalt konnte das unternehmerische Selbst nur werden, weil sie an ein kollektives Begehren nach Autonomie, Selbstverwirklichung und nichtentfremdeter Arbeit anschloss. Ohne die utopischen Energien und die praktischen Kämpfe der neuen sozialen Bewegungen, ohne ihre Experimente mit nichthierarchischen Organisationsformen, ohne massenhafte Weigerung, das eigene Leben in den vorgespurten Bahnen einer fordistischen Normalbiografie zu führen, hätte diese Rollenmodell niemals eine solche Anziehungskraft entfalten können. Ein Schlüsseldokument für die deutsche Diskussion ist der Abschlussbericht der „Kommission für Zukunftsfragen Bayern – Sachsen“ aus dem Jahre 1997, an dem maßgeblich auch Ulrich Beck, der Soziologe der „Risikogesellschaft“ mitgearbeitet hatte. Der Bericht erhob die Figur des unternehmerischen Selbst dezidiert in den Rang einer politischen Zielvorgabe und nahm in seinem Grundtenor vieles von dem vorweg, was seither in Reformagenden gegossen wurde. „Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge“, heißt es da. „Diese Einsicht muß geweckt, Eigeninitiative und Selbstverantwortung, also das Unternehmerische in der Gesellschaft, müssen stärker entfaltet werden.“14 In der „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ des 21. Jahrhunderts seien nicht mehr „die perfekten Kopisten vorgegebener Blaupausen“ gefragt, wie sie die „arbeitnehmerzentrierte Industriegesellschaft“ des 20. Jahrhunderts benötigt und hervorgebracht habe. 13 Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit (1997). Graz/Wien 2006. S. 38. 14 Kommission für Zukunftsfragen Bayern – Sachsen (Hg.): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn 1997. S. 36.
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Wirtschaft und Gesellschaft seien vielmehr angewiesen auf „schöpferische, unternehmerisch handelnde Menschen, die in höherem Maße als bisher bereit und in der Lage sind, in allen Fragen für sich selbst und andere Verantwortung zu übernehmen“. Aufgabe des Staates sei es, bei diesem Übergang Hilfestellung zu leisten; die Politik müsse „wieder einen ordnenden Rahmen setzen und die Gesellschaft wertorientiert steuern“. Jene Maßnahmen, die ein „Mehr an unternehmerischer Betätigung und Verantwortung“ stimulieren sollten, führten dabei „geradewegs zu einem Weniger an Sozialstaat“, was indes „keineswegs nur Verlust, sondern gleichzeitig auch Gewinn für den Einzelnen und die Gesellschaft“ bedeute. Dieser Einsicht verschlössen sich allerdings große Teile der Bevölkerung noch immer. Neben der Politik müssten daher auch Wissenschaft und Medien den Willen der Bevölkerung stärken, mit dem Wandel Schritt zu halten. Der imperativische Ton, gekoppelt mit der Drohung, der in Deutschland „im internationalen Vergleich fast einzigartige materielle Wohlstand gepaart mit sozialem Frieden, einem hohen Maß an innerer wie äußerer Sicherheit, viel Freizeit u. a. m.“ könnten „wie ein Kartenhaus zusammenfallen“, wenn „individuelle Sicht- und Verhaltensweisen sowie kollektive Leitbilder“ nicht auf unternehmerisches Handeln hin ausgerichtet würden,15 machte den Bericht selbst zu einem Bestandteil jenes Kraftfelds, das er evozieren wollte.
2 Vermarktlichung Was bedeutet es, Arbeit nach Maßgabe unternehmerischen Handelns zu modellieren? In ökonomischer Perspektive sind Unternehmer „nicht Menschen, wie man ihnen im Leben und in der Geschichte begegnet, sondern die Verkörperung von Funktionen im Ablauf der Marktvorgänge“.16 Unternehmer gibt es nur, wo es Märkte gibt; unternehmerisches Handeln ist Handeln unter Wettbewerbsbedingungen. Die Diagnose, dass Individuen heute in einer Vielzahl von Lebensbezügen als Unternehmer ihrer selbst adressiert werden und sich verhalten, impliziert deshalb zugleich, dass ebendiese Lebensbezüge durch Marktmechanismen reguliert werden beziehungsweise reguliert werden sollen. Arbeit stellt in dieser Perspektive ebenso wie alles übrige Handeln auch eine Investition dar. Folgt man der ökonomischen Theorie des Humankapitals, welche die neoliberale Ratio unternehmerischen Handelns am deutlichsten ausbuchstabiert, so erscheint das Individuum als eine ökonomische Institution, deren Bestand von seinen Wahlhandlungen abhängt. Was auch immer jemand tut, er könnte es auch unterlassen oder in derselben Zeit etwas anderes tun. Deshalb ist es sinnvoll davon auszugehen, 15 Ebd. S. 44, S. 40, S. 37 f., S. 35. 16 Ludwig von Mises: Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940). München 1980. S. 245.
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dass er seine Ressourcen, insbesondere den knappen Faktor Zeit, so einsetzt, dass ein Höchstmaß an Befriedigung herausspringt. Der Mensch der Humankapitaltheorie ist vor allem ein Mensch, der sich unentwegt entscheidet. Die entscheidende theoretische Umstellung liegt darin, dass die Humankapitaltheorie auch den Konsum als unternehmerische Aktivität auffasst. Diese Ökonomisierung nicht nur der Arbeits-, sondern auch der Konsumzeit ist der entscheidende Hebel, mit dem es der Humankapitaltheorie gelingt, das gesamte Spektrum menschlicher Aktivitäten in ihre Analysen einzubeziehen. Jede Tätigkeit wird als eine Investitionsentscheidung modelliert, die sich im Wettbewerb bewähren muss. In der Anthropologie des nutzenmaximierenden Rational-Choice-Akteurs sind die Differenzen zwischen Produktion und Konsumtion, Arbeit und Nicht-Arbeit eingeebnet. Wenn die Menschen ihren Vorteil verfolgen, handeln sie weder willkürlich noch funktionieren sie wie Rechenmaschinen, die schematisch die immer gleichen Regeln anwenden. Sie treffen ihre Entscheidungen vielmehr auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung stehenden (freilich stets unvollständigen) Informationen und passen sie an veränderte Umweltbedingungen an. Weil sie zum Zwecke der Maximierung ihres Nutzens lernen, kann man ihr Verhalten systematisch beeinflussen, indem man Anreize schafft oder beseitigt.17 Der wirksamste Mechanismus, um die Lernfähigkeit der Menschen und auf diesem Wege auch ihren Nutzen zu steigern, so ein zweites Axiom neoliberalen Denkens, ist der Markt. Er bildet ein ideales Konditionierungsinstrument, weil er nicht gegen die individuelle Vorteilssuche operiert, sondern durch diese hindurch. Es sind die Wahlhandlungen der einzelnen Akteure, die, vermittelt über die Preise, die soziale Synthesis herstellen. Der Wettbewerb verbindet universelle Vergleichbarkeit und den Zwang zur Differenz; er totalisiert und individualisiert zugleich: Jeder Einzelne muss sich in der Verfolgung seines Nutzens mit allen anderen messen, und er kann seinen Nutzen nur in dem Maße steigern, in dem er sich von seinen Mitbewerbern abhebt und für sich beziehungsweise für das, was er in den verallgemeinerten Tauschprozess einbringt, ein Alleinstellungsmerkmal geltend machen kann. Seine stimulierende Wirkung soll der Wettbewerb wiederum nur dann entfalten können, wenn er nicht durch konkurrenzverhindernde oder -verzerrende Eingriffe außer Kraft gesetzt wird. Für ihn gilt deshalb das Gleiche wie für die individuelle Nutzenmaximierung: Beide sind nicht etwas ein für allemal Gegebenes, sondern müssen fortwährend hergestellt, abgesichert und optimiert werden. Dabei greift wiederum ein zirkulärer Konditionierungsmechanismus: Je mehr Wettbewerb herrscht, desto mehr Gelegenheit haben die Akteure, ihr Handeln auf Wettbewerbsfähigkeit hin auszu17 Vgl. Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 2000. S. 17 f.
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richten. Only competition makes competitive. Der Markt erscheint in dieser Perspektive nicht als Ort des Interessenausgleichs mittels Tausch, sondern als unübersichtliche, endlose Abfolge sich auftuender und wieder schließender Lücken. Sie zu erkennen und auszunutzen, zeichnet den Unternehmer aus. Wenn neoliberales Regieren seine Bestimmung darin findet, den Wettbewerbsmechanismus zu generalisieren und den Markt als universales Modell der Vergesellschaftung zu etablieren, dann wird die Gestalt des Unternehmers zum allgemeinen Leitbild. Dieses role model stellt gleichermaßen eine Wiederkehr wie eine radikale Inversion des homo oeconomicus dar: Die Reaktivierung dieser Gestalt besteht darin, menschliches Handeln grundsätzlich als Wahlhandeln zu bestimmen und das Prinzip der Nutzenmaximierung als anthropologische Gegebenheit zu unterstellen. Während jedoch klassische Liberale wie Adam Smith überzeugt waren, dass die Individuen ihrer Natur folgen und als rationale Wirtschaftssubjekte agieren würden, wenn nur die politischen Instanzen sie nicht daran hinderten, sind für die Neoliberalen weder der Markt noch die Marktakteure natürliche Gegebenheiten, die lediglich freigelegt werden müssten. Vielmehr komme es darauf an, sie fortwährend neu zu schaffen und zu stimulieren. Making markets und making entrepreneurial selves fallen dabei zusammen. Dass der Lohnarbeiter, der seine Arbeitskraft zu Markte trägt und sie möglichst teuer zu verkaufen sucht, als Unternehmer in eigener Sache handelt, ist für sich genommen kein neuer Gedanke. Die Humankapitaltheorie radikalisiert hier den urliberalen Gedanken, dass jeder Eigentümer seiner selbst und für die Akkumulation seines Lebenskapitals selbst verantwortlich sei. Wenn jeder Kapitalist seines eigenen Lebens ist, gibt es nur noch Unterschiede in Geschick und Fortune, aber keinen Antagonismus von Kapital und Arbeit mehr. Klassenkonflikte, und sei es in der gezähmten Variante eines Interessengegensatzes von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, verschwinden hinter den verallgemeinerten Mechanismen des Marktes, der als „eine Art von ständigem ökonomischen Tribunal“ fungiert und über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.18 Neu ist zum einen diese Generalisierung, die nicht nur den Verkauf der eigenen Arbeitskraft, sondern auch alle übrigen Aktivitäten als unternehmerisches Kalkül interpretiert. Neu ist zum anderen die konsequente Übertragung dieser Sicht auf die Arbeitsorganisation. Der Arbeitnehmer soll demnach nicht nur im Akt des Verkaufs seiner Arbeitskraft selbst als Unternehmer agieren, sondern man verlangt von ihm, auch in der veräußerten Arbeitszeit selbst unternehmerische Initiative und Verantwortung zu zeigen. Um auf dem Markt zu bestehen, sollen Unternehmen, so das Credo der neueren Managementliteratur, auch intern durch Marktmechanismen gesteuert werden. Jede Abteilung, schließlich jeder einzelne Mitarbeiter ist als Kunde der vor18 Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Frankfurt a. M. 2004. S. 342.
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gelagerten und als Lieferant der nächstfolgenden Phase in der Wertschöpfungskette anzusehen. Als interne Kunden haben sie das Recht (und die betriebswirtschaftliche Pflicht), ihren Zulieferern gegenüber auf uneingeschränkter Erfüllung der Termine und Qualitätsansprüche zu bestehen; als interne Lieferanten sind sie gehalten, ihre Produkte oder Dienstleistungen den Bedürfnissen der Abnehmer anzupassen. Aus konformistischen Lohn- und Befehlsempfängern sollen so „Intrapreneure“19 werden, die ihre Arbeitsbereiche entsprechend der internen wie externen Kundenbedürfnisse selbständig organisieren und optimieren. Es liegt auf der Hand, dass einer konsequenten Übertragung des Programms der Intrapreneurship Grenzen gesetzt sind. Sie setzte voraus, dass die internen Lieferanten und Kunden sich auch tatsächlich als Verkäufer und Käufer – und nicht als Mitarbeiter desselben Unternehmens – gegenüberstünden. Während die einen sich dem Wettbewerb mit externen Konkurrenten stellen müssten, müssten die anderen bei Unzufriedenheit die benötigten Leistungen auch von Anbietern außer Haus beziehen können, was trotz Outsourcing und Profit-Center-Konzepten eher die Ausnahme darstellt. So dient das Modell in erster Linie dazu, eine veränderte Unternehmenskultur zu etablieren, konkret: die Mitarbeiter aller Ebenen auf unternehmerisches Handeln zu verpflichten. Unternehmen steigern ihre Wirtschaftlichkeit, so lautet die Botschaft, wenn sie sich in eine Vielzahl von „Unternehmen im Unternehmen“ verwandeln. In dieselbe Richtung zielt auch das in Unternehmen (wie auch in Universitäten) populäre Konzept der Führung durch Zielvereinbarung, das die Beziehungen zwischen Leitung und Mitarbeitern nach dem Muster eines Kaufvertrags gestaltet. Hier wird suggeriert, dass sich beide Seiten als gleichberechtigte Geschäftspartner gegenüberstehen und verbindliche Leistungen und Lieferfristen aushandeln. Die diskursive Verwandlung von Vorgesetzten und Untergebenen in interne Kunden und Lieferanten überführt so die Asymmetrie innerbetrieblicher Machtrelationen (und erst recht die antagonistische Rhetorik des Klassenkampfs) in eine Win-win-Situation gleichgerichteter Interessen. Produktions- und Zirkulationssphäre sollen also auf die gleiche Weise funktionieren und auch die Fabrik nicht länger mittels Autorität und Disziplin, sondern allein durch die Selbststeuerungsmechanismen des Marktes ‚regiert‘ werden. Statt Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit avanciert der Dienst am Kunden zur obersten Tugend, wird die Abrichtung der Produzenten identisch mit ihrer Ausrichtung am Konsumenten. Hatte der Disziplinardiskurs feste Gussformen bereitgestellt, die dem Einzelnen als Modell dienten und in die er sich selbst einpassen sollte, so erzeugt der Mobilisierungsdiskurs der Enterprise Culture einen Sog, der den Einzelnen mitreißen soll, den Bewegungen der Kundenwünsche zu folgen. Dem entsprechen zwei unterschiedliche 19 Vgl. für eine frühe Verwendung dieses Begriffs Erik G. Rule/Donald W. Irwin: Fostering Intrapreneurship: The New Competitive Edge. In: Journal of Business Strategy, 3,1988. S. 44–47.
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Modi der Unabschließbarkeit: Bei der Arbeit der (Selbst-)Disziplinierung hatte man nie aufgehört anzufangen, beim generalisierten Wettbewerb um die Kunden dagegen wird man nie mit etwas fertig.
3 Entgrenzung Die ökonomische Theorie unterscheidet vier Grundfunktionen unternehmerischen Handelns: Erstens ist der Unternehmer ein Neuerer – Schumpeters „schöpferischer Zerstörer“ –, der die Produktionsstruktur reformiert oder revolutioniert. Zweitens ist er ein findiger Nutzer von Gewinnchancen, der billig kauft, um teuer zu verkaufen. Ein Unternehmer zeichnet sich drittens dadurch aus, dass er unter Bedingungen reiner, das heißt nicht in kalkulierbare Risiken zu überführender Ungewissheit agiert. Jede seiner Investitionen stellt eine Wette auf die Zukunft dar. Er ist ein Dezisionist, der handelt, auch wenn die Gründe, so und nicht anders zu handeln, niemals hinreichend sind. Ein Unternehmer trägt viertens nicht nur das Geschäftsrisiko, sondern auch die Verantwortung. Er ist ein Koordinator, der den Produktionsprozess steuert, die Arbeitskräfte disponiert und das Betriebskapital auftreibt, und er ist vor allem derjenige, der die strategischen Entscheidungen trifft, kurzum: Er verkörpert für das Unternehmen das, was der Souverän für den Staat bedeutet.20 Gemeinsam ist diesen vier Kardinaltugenden ihre Unabschließbarkeit. Das unternehmerische Selbst lebt im Komparativ: Es reicht nicht aus, einfach nur kreativ, findig, risikobereit und entscheidungsfreudig zu sein, man muss kreativer, findiger, risikobereiter und entscheidungsfreudiger sein als die Konkurrenz und darf daher nicht in der Anstrengung nachlassen, seine Kreativität, Findigkeit, Risikobereitschaft und Entscheidungskraft zu steigern. Die Einsicht, dass es ein Genug nicht geben kann, erzeugt den Sog zum permanenten Mehr. Weil die Anforderungen keine Grenzen kennen, bleiben die Einzelnen stets hinter ihnen zurück. Dem Plus ultra – immer weiter –, das Schumpeter als Maxime des Entrepreneurs identifiziert,21 entspricht das konstitutive Ungenügen eines jeden, der sein Leben nach dieser Maxime auszurichten versucht. Neu ist daran nicht das Prinzip der Unabschließbarkeit, sondern dass dieses auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird. Die unternehmerische Anrufung verbindet 20 Vgl. Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. München/Leipzig 1926; von Mises: Nationalökonomie (wie Anm. 16); Israel M. Kirzner: Wettbewerb und Unternehmertum. Tübingen 1978; ders.: Unternehmer und Marktdynamik. München/Wien 1988; Frank H. Knight: Risk, Uncertainty, and Profit (1921). New York 1964; Mark Casson: The Entrepreneur. An Economic Theory. Oxford 1982; ders.: Enterprise and Leadership. Cheltenham 2000. 21 Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (wie Anm. 20). S. 137.
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ein Versprechen mit einer Drohung, eine Ermutigung mit einer Demütigung, eine Freiheitsdeklaration mit einem unabweisbaren Schuldspruch. Wenn sie damit lockt, dass jeder seines Glückes Schmied sei, erklärt sie im gleichen Zug, an seinem Unglück sei jeder selbst schuld. Auf der einen Seite ist ihr Anspruch totalitär. Nichts soll dem Gebot der kontinuierlichen Verbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte. Auf der anderen Seite bleibt die Produktion unternehmerischer Individuen gemessen an ihrem Anspruch stets eine failing operation. Einen hundertprozentigen Unternehmer gibt es so wenig wie einen reinen Markt. Die entrepreneuriale Anrufung konfrontiert die Individuen deshalb mit einer doppelten Unmöglichkeit: mit der, tatsächlich ein unternehmerisches Selbst zu werden, wie mit jener, die Forderung zu ignorieren, eines werden zu sollen. Niemand muss und kann dem Ruf unentwegt folgen, aber ein jeder hat doch beständig jene Stimme im Ohr, die sagt, es wäre besser, wenn man ihm folgte. Der Sog zieht noch in den sublimsten Bereichen des Alltags, und er bezieht seine Kraft gerade daraus, dass keine Zielmarke existiert, bei der man halt machen könnte. So wenig es ein Entkommen gibt, so wenig gibt es ein Ankommen. Anders ausgedrückt: Unternehmer ist man immer nur à venir – stets im Modus des Werdens, nie des Seins. Das unternehmerische Kraftfeld mag ungeahnte Potentiale freisetzen, aber es führt auch zu permanenter Überforderung. Weil der kategorische Komparativ des Marktes einen permanenten Ausscheidungswettkampf in Gang setzt, läuft der Einzelne fortwährend Gefahr, unterzugehen oder jedenfalls aus der prekären Zone permanenter Absturzgefahr nicht herauszukommen. Nicht alle sind in der Lage, diesem Druck standzuhalten, und niemand ist es immer. Obendrein sind die Chancen höchst ungleich verteilt: Auch die Gesellschaft der Entrepreneure ist eine Klassengesellschaft, aber der Begriff der Klasse verbindet sich nicht mehr mit dem Antagonismus von Kapital und Arbeit, sondern ruft die Semantik des Sports auf. Zwar stehen alle im Wettbewerb, doch es spielen nicht alle in der gleichen Liga. Ein Abstieg aus den höheren Klassen mag erniedrigend sein, weiter unten geht es im Extrem ums schiere Überleben.
4 Subjektivierung Der Markt ‚verarbeitet‘ unentwegt Alteritäten, indem er sie entweder als Alleinstellungsmerkmale privilegiert oder sie als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausschließt. Mit bloßer Nachahmung und durchschnittlichen Leistungen kann man dort nicht reüssieren. Für genormte und normalisierte Disziplinarsubjekte ist in der verallgemeinerten Wettbewerbsgesellschaft kein Platz, gefordert sind Artisten des Alltags, die Exzentrik mit Effizienz verbinden. Im unternehmerischen Selbst kehrt der
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romantische Traum vom Leben als Kunstwerk wieder. Die Alternative lautet: „Seien Sie besonders […] oder sie werden ausgesondert!“22, eine brutale Mahnung, die dem legendären „Sei spontan“ an Paradoxie in nichts nachsteht und gerade wegen ihrer Uneinlösbarkeit als Individualisierungsmotor funktioniert. In geradezu penetranter Weise ergeht der Ruf, sich dem paradoxen Imperativ einer Selbstoptimierung zu unterwerfen, welche die Abweichung von der Norm selbst zur Norm erhebt. „Obligation to dissent“, heißt das bei McKinsey´s.23 Nur in dem Maße, in dem der Einzelne sich selbst als unverwechselbare Marke ‚Ich‘ kreiert, soll er sich von der Masse abheben und die Wettbewerber ausstechen können. Subjektivierung von Arbeit meint zunächst einmal diese Nötigung zur Arbeit an sich selbst. Die Ratgeberliteratur, die dazu die Bauanleitungen liefert, schlägt vor, sich dabei wiederum am Modell des Unternehmens zu orientieren: „Definieren Sie sich eindeutig als ein Produkt, und stellen sie dann eine umfassende Marktforschung an. […] Dazu müssen Sie sich als wirtschaftlich unabhängige Einheit betrachten, nicht als Teilstück, das ein Ganzes sucht, um darin zu funktionieren. Deshalb ist es enorm wichtig, daß Sie sich von einem Markt umgeben sehen, selbst wenn Sie Angestellter eines Unternehmens sind.“24 Mit der Identifikation seiner selbst als Ware ist es freilich nicht getan; die Parallelisierung von Individuum und Unternehmen soll noch weiter reichen. Das unternehmerische Selbst soll nicht nur Produkt und Produzent, Chef und Untergebener, sondern auch Lieferant und Kunde in Personalunion sein. Seine unternehmerischen Tugenden soll der Einzelne nur dann voll entfalten können, wenn er das Prinzip der Intrapreneurship auf sich selbst anwendet und sich entsprechend aufspaltet: Als „Kunde seiner selbst“ ist er sein eigener König, ein Wesen mit Bedürfnissen, die vom „Lieferanten seiner selbst“ erkannt und befriedigt werden wollen. Ignoriert dieser die Ansprüche seines internen Geschäftspartners, wird ihn jener mit Antriebslosigkeit, Erschöpfung oder anderen Formen des Energieentzugs strafen. Funktioniert dagegen der Austausch, profitieren beide. Die Exploration der eigenen Wünsche ist deshalb ebenso wichtig wie die der Stärken und Schwächen. Der bereits zitierte Ratgeber empfiehlt, das Unternehmen Ich & Co. regelmäßig einem Qualitäts-Check zu unterziehen: Sind alle Ihre Persönlichkeitsteile voll im Einsatz? Arbeitet jeder Teil an der Stelle, wo er seinen Fähigkeiten entsprechend optimale Ergebnisse erzielen kann? Arbeiten die Teile 22 Tom Peters: TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die ICH AG. München 2001. S. 8. 23 „Knowledge-Unternehmer ihrer eigenen Fähigkeiten“. Interview mit Jürgen Kluge, Office Manager McKinsey Germany. In: high potential, 4, 2001. S. 23. 24 William Bridges: Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet. Hamburg 1996. S. 138 f.
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alle gut zusammen, oder gibt es Konkurrenz und Kompetenzgerangel? Müssen Sie befürchten, daß einige Teile am Ende gar die ‚innere Kündigung‘ vollzogen haben? Kennen sich überhaupt alle Teile untereinander, oder fühlen Sie sich eher als das Opfer zusammenhangloser Einzelteile? Sind alle mit Freude bei der Arbeit, sind alle gesund? Fühlen sich alle ausreichend respektiert und gewürdigt?“25
Die Fragen enthalten schon die Antwort: „Ziele werden nicht aufgrund innerer Kraftproben oder durch Selbstüberwindung erreicht, sondern durch die Dynamik eines in sich stimmigen, reibungslos aufeinander abgestimmten Persönlichkeitssystems“.26 Um „Erfolgsblockaden“, etwa aufgrund eines Streits zwischen „Karriere-“ und „Lebensfreudeteil“, zu beseitigen, empfiehlt es sich daher, eine interne Konferenz einzuberufen, den „Kreativen Teil“ als Moderator hinzuzuziehen und am Runden Tisch nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Zusammenarbeit zu suchen. Identität ist in diesem Persönlichkeitsmodell Corporate Identity: die „Gewißheit, eine starke Mannschaft von vielen ‚wahren Ichs‘ in sich zu haben“.27 Ob die widerstreitenden Seelen in der eigenen Brust sich auf diese Weise versöhnen lassen, darf bezweifelt werden. Wer sich zwischen Karriere und Lebensfreude hin- und hergerissen fühlt, bleibt aber zumindest in Bewegung. Der Katalog von Schlüsselqualifikationen, wie ihn die Ratgeberliteratur gleichermaßen postuliert und zu vermitteln verspricht, muss selbst den ehrgeizigsten Selbstoptimierer vor unlösbare Aufgaben stellen. Die strukturelle Überforderung ist gewollt, erzeugt sie doch jene fortwährende Anspannung, die den Einzelnen niemals zur Ruhe kommen lässt, weil er jeden Fortschritt in der einen Richtung durch entsprechende Anstrengungen in der Gegenrichtung ausgleichen muss. Gefordert sind zugleich rückhaltloser Einsatz für die Firma wie auch ein achtsamer Umgang mit den eigenen Kräften, auf der einen Seite soll man ein rechenhafter Betriebswirt des eigenen Lebens sein, auf der anderen Seite ein kreatives Motivationsgenie, das unablässig ein Feuerwerk an Ideen abbrennt. Gesucht wird – in einer schönen Formulierung von Manfred Moldaschl und Dieter Sauer – „der durchsetzungsstarke Teamplayer bzw. der teamfähige Einzelkämpfer; der kundenorientierte Glattling mit Ecken und Kanten […]; der begnadete Selbstvermarkter, der die Sache in den Vordergrund stellt; der einfühlsame Moderator mit dem feinen Gespür für Situationen, aus denen sich Kapital schlagen läßt; und der zweckrationale Nutzenmaximierer mit Einsicht in die Erfordernisse des Ganzen“.28 Trotz phrasenhafter Beschwörung der Work-Life-Balance zielen die Programme nicht 25 26 27 28
Ebd. S. 130. Ebd. S. 16. Ebd. S. 132. Manfred Moldaschl/Dieter Sauer: Internalisierung des Marktes – Zur neuen Dialektik von Kooperation und Herrschaft. In: Heiner Minssen (Hg.): Begrenzte Entgren-
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auf ein wohltariertes Gleichgewicht zwischen den gegensätzlichen Anforderungen, sondern auf die Kopräsenz der Extreme. Übergangslos springen die Programme zwischen einer „Grammatik der Härte“ und einer „Grammatik der Sorge“29 hin und her. Welches Register der Unternehmer seiner selbst jeweils zieht, bleibt seinem taktischen Kalkül oder seiner Intuition überlassen, entscheidend ist, dass er auf beiden zu spielen vermag. Ökonomischer Erfolg und Selbstverwirklichung bilden bei der ‚Arbeit an sich‘ keinen Widerspruch, sondern sollen einander bedingen und verstärken. Beide folgen dem Imperativ eines unabschließbaren Wachstums. Die Individuen sollen ihre Macht über sich selbst, ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein und ihre Gesundheit ebenso maximieren wie ihre Arbeitsleistung und ihren Wohlstand, sie sollen das umso besser können, je aktiver und selbstverantwortlicher sie ihr Leben in die Hand nehmen – und sie sollen professionelle Hilfe suchen, wenn sie mit all dem überfordert sind. So gegensätzlich das Ethos unternehmerischen Handelns und die Werte der Therapiekultur, wie sie sich insbesondere in den Konzepten der humanistischen Psychologie finden, auf den ersten Blick zu sein scheinen, sie treffen sich in einem Regime des Selbst, das den Einzelnen antreibt, für sein Personal Growth ebenso zu arbeiten wie für die Akkumulation des eigenen Humankapitals. Im allgegenwärtigen Coaching haben Unternehmens- und Therapiekultur inzwischen auch praktisch zusammengefunden.
5 Fluchtlinien der Nichtarbeit So sehr die Anrufung des unternehmerischen Selbst die Kongruenz von individueller Selbstverwirklichung und ökonomischem Erfolg, von Wollen und Sollen beschwört, so sehr sie sich von herkömmlichen Strategien der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung unterscheidet, wie diese ist sie im Kern ein Verfleißigungsprogramm.30 Worauf der Eifer sich richten, in welcher Weise der Einzelne sein Arbeitsvermögen einsetzen, wie er sich selbst gegenüber seine Mühen rechtfertigen und auf wessen Kommando er hören soll, all das hat sich entschieden verändert. Geblieben ist das Ethos gesteigerter zungen – Wandlungen von Organisation und Arbeit. Berlin 2000. S. 205–224, hier: S. 221. 29 Vgl. Wolfgang Fach: Staatskörperkultur. Ein Traktat über den ‚schlanken Staat‘. In: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart (wie Anm. 3). S. 110–130. 30 Vgl. zu den historischen Politiken der Verfleißigung und dem Kampf gegen die Faulheit Rudolf Helmstetter: Austreibung der Faulheit, Regulierung des Müßiggangs. Arbeit und Freizeit seit der Industrialisierung. In: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen 2002. S. 259–279.
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Produktivität. Nutzenmaximierung und Nichtstun vertragen sich schlecht. Müssten deshalb diejenigen, die es leid sind, als Unternehmer ihrer selbst regiert zu werden und sich selbst zu regieren, nicht das Lob der Faulheit anstimmen – und faul sein? Ist das „Ne travaillez jamais!“, das der Situationist Guy Debord ehedem an eine Pariser Mauer pinselte,31 ein angemessener Wahlspruch für die Partisanen des Widerstands gegen die Enterprise Culture? Ist der fröhliche Müßiggänger das Vorbild für diejenigen, die sich dem Sog unternehmerischer (Selbst-)Mobilisierung zu entwinden suchen? Dafür spricht die Provokation, die eine sich Die Glücklichen Arbeitslosen nennende Gruppe Ende der 1990er Jahre mit ihren „Faulheitspapieren“ und Aktionen auslöste.32 Die „Müßiggängster“, so der Titel ihres Zirkulars, kündigten den Common Sense auf, dass Arbeitslose mit ihrem Los haderten beziehungsweise zu hadern hätten. „Wenn der Arbeitslose unglücklich ist“, heißt es in einer ihrer Erklärungen, „so liegt das nicht daran, daß er keine Arbeit hat, sondern daß er kein Geld hat. Also sollten wir nicht mehr von ‚arbeitslos‘, sondern von ‚geldlos‘, nicht mehr von ‚Arbeitssuchenden‘, sondern von ‚Geldsuchenden‘ reden, um die Dinge klarer zu stellen.“33 Folglich forderten sie die unbefristete Entlohnung der Nicht-Arbeit ohne Kontrollen und so genannte „Wiedereingliederungsmaßnahmen“. Der gesellschaftliche Nutzen des Nichtstuns sei schließlich unbezweifelbar: „Was passiert, wenn ein Konzern ankündigt, daß er so und so viele Arbeitsplätze vernichtet? Alle Börsenspekulanten loben seine Sanierungsstrategie, die Aktien steigen, und bald darauf wird die Bilanz die entsprechenden Gewinne aufweisen. Auf diese Weise schaffen die Arbeitslosen mehr Profit als ihre Ex-Kollegen. Logischerweise müßte man dem Arbeitslosen dafür danken, daß er wie kein anderer das Wachstum fördert.“34 An den Debatten um Existenzgeld und staatlich gesichertes Grundeinkommen mochten sie sich indes nicht beteiligen; „vorgefertigte Denkgebäude, in denen sich die Menschen erwartungsgemäß wohl oder übel niederlassen werden“,35 lagen ihnen ebenso fern wie fundamentale „Systemkritik“ oder die Rhetorik des Klassenkampfs. Stattdessen begaben sie sich auf die „Suche nach unklaren Ressourcen“, kreierten „Ohnemich-AGs“, „Bündnisse für Simulation“ („Ihr tut so, als ob ihr Arbeitsplätze schafft, wir tun so, als ob wir arbeiten“), postulierten
31 Vgl. Situationistische Internationale: 1958–1969. Gesammelte Ausgabe des Organs der Situationistischen Internationale. Bd. 2. Hamburg 1977. S. 51, S. 341. 32 Einige Texte der Gruppe sind versammelt in Guillaume Paoli (Hg.): Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche. Aufrufe, Manifeste und Faulheitspapiere der Glücklichen Arbeitslosen. Berlin 2002. 33 Auf der Suche nach unklaren Ressourcen. In: Paoli (Hg.): Mehr Zuckerbrot (wie Anm. 32). S. 30–45, hier: S. 35. 34 Ebd. 35 Guillaume Paoli: Wer hat Angst vor der freien Zeit. In: ebd. S. 172–182, hier: S. 173.
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„kreative Passivität“ und verlegten sich im Übrigen auf „Propaganda durch Tat, Untat und vor allem Nicht-Tat“.36 Sieht man davon ab, dass ihre Pamphlete und Flugblätter bisweilen in einem Anflug kommunitaristischer Sozialromantik das „von vorkapitalistischen Traditionen unterstützte, intensive soziale Leben“ nichtwestlicher Kulturen und deren „Ökonomie der Gegenseitigkeit“ verklären,37 so praktizierten Die Glücklichen Arbeitslosen eine experimentelle Kritik im Handgemenge, die sich der unternehmerischen Ratio, insbesondere ihrem Arbeitsethos, widersetzte, ohne sich um großformatige Gegenmodelle und politische Realisierbarkeiten zu scheren oder utopische Entwürfe auszumalen. Vorbilder – „und sei es nur metaphorisch“ – fanden sie in fernöstlichen Kampfarten wie dem Neija, das „ausschließlich auf zwei Prinzipien ruht: dem Nicht-Tun und dem Ausnutzen der Fehler des Gegners“ oder dem Aikido mit seinem Prinzip „Ausweichen und ausweichen, bis der Angreifer in die Position gerät, in der sein Gleichgewicht mit minimalem Aufwand geschickt gebrochen wird“.38 Oder sie bekannten sich zum „gesunden Opportunismus“ der „Segelflug-Taktik“: „Statt sich verkrampft auf einen Schwerpunkt zu fixieren, werden je nach Gelegenheit beliebige soziale Aufwinde gesucht. Entscheidend ist dabei nicht der Gegenstand der Aktivität (es können also gleichwohl Festessen, Tauschringe, Gruppensex, Gesprächssalons, Krawalle oder Gartenpflege sein), sondern ob dadurch ein Gewinn an Kommunikation ermöglicht wird oder nicht.“39 Ihr fröhlicher Hedonismus hob Die Glücklichen Arbeitslosen gleichermaßen ab von der spröden Langeweile sozialwissenschaftlicher Abhandlungen wie auch von der Mobilmachungsrhetorik neoliberaler Marktapologeten, vom sozialarbeiterischen Empowermentjargon ebenso wie von spätmarxistischen Welterklärungsformeln. Als skurrile Variante zeitgenössischer Spaßkultur wollten sie sich allerdings ebenfalls nicht verbuchen lassen und konterkarierten immer wieder entsprechende Avancen des Medienbetriebs. Am Ende dadurch, dass sie – auch darin ganz Taktiker – ihre öffentlichen Interventionen wieder einstellten. Ein Widerstandsprogramm gegen die Ökonomisierung des Individuums lässt sich aus dem passiven Aktivismus der Müßiggängster freilich nicht destillieren. Zum Gegenbild des unternehmerischen Selbst taugt der Glückliche Arbeitslose nicht. Den Protagonisten des geschäftigen Nichtstuns waren der historische Ort („1995 ließ es sich 36 Vgl. Auf der Suche nach unklaren Ressourcen (wie Anm. 33); Ohnemich-AG. In: ebd. S. 62–71; Bündnis für Simulation. In: ebd. S. 49 f.; Für die Ausdehnung des Sommerlochs! Für die kreative Passivität! In: ebd. S. 83–85; Guillaume Paoli: Aussteigen für Einsteiger. Eine Einführung. In: ebd. S. 7–27, Zitat: S. 21. 37 Auf der Suche nach unklaren Ressourcen (wie Anm. 33). S. 43 f. 38 Paoli: Aussteigen für Einsteiger (wie Anm. 36). S. 25 f. 39 Ebd. S. 25.
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in Berlin relativ einfach und gut ohne Arbeit leben“) und die begrenzte Lebensdauer dieser Gestalt, die ohnehin „eher als literarische Figur à la Candide gemeint [war] denn als reale Figur“, nur allzu bewusst: „Es ging darum, eine Abwesenheit sichtbar zu machen, ein Jenseits der Arbeitswelt flüchtig zu vergegenwärtigen“, heißt es in der Einleitung zu ihrer Textsammlung.40 „Da wird selbst Wiederholung zum Verhängnis. […] So viel zum Thema glückliche Arbeitslosigkeit läßt sich auch nicht sagen, und wir wollen nicht langweilig werden.“41 Flüchtige Vergegenwärtigung des Abwesenden, das erscheint wenig, wenn es um Störung des Kraftfelds der unternehmerischen Anrufung geht, und ist doch schwierig genug. Vielleicht besteht die Subversion des Spirit of Enterprise genau darin: rechtzeitig aufzuhören.
40 Paoli (Hg.): Mehr Zuckerbrot (wie Anm. 32). S. 8 f. 41 Paoli: Aussteigen für Einsteiger (wie Anm. 35). S. 21 f.
Thomas Sokoll
Alteuropäisches Erbe, moderne Ausprägung und postmoderne Verwerfungen im Arbeitsbegriff
Zwei Vorbemerkungen. 1. In den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes geht es nicht um Sachen oder Dinge, sondern um Worte über Dinge – allerdings nicht um Worte für sich genommen, sondern um Worte, die einen gedanklichen Verbund der Dinge stiften, um die ‚Ordnung der Dinge‘, soweit sie in der politisch-sozialen Sprache greifbar ist. Historische Semantik der Arbeit lautet das Programm. Dass dieses Programm nicht erschöpfend ausgefüllt wird, sondern durchaus lückenhaft ausfällt, darf niemanden verwundern. Ein Sammelband ist kein Handbuch. Er braucht sein Thema nicht in der ganzen Breite abzudecken, schon gar nicht, wenn dessen kritische Sondierung noch in den Kinderschuhen steckt.1 2. Ich bin Sozialhistoriker der Frühen Neuzeit und beschäftige mich aus dieser Perspektive seit fast drei Jahrzehnten mit der Geschichte der Arbeit im vorindustriellen Europa. Dabei versuche ich stets, aus der epochalen Not meines Amtes eine epochenübergreifende Tugend zu machen und so zu tun, als ließe sich die Frühe Neuzeit besonders gut als historischer Schlüssel handhaben, der sich sowohl rückwärts als auch vorwärts drehen lässt und den vergleichenden Blick sowohl auf die antiken und mittelalterlichen als auch auf die modernen Entwicklungen eröffnet. Wenn es zum Beispiel um Luthers Begriff der ‚Arbeit‘ geht, ermöglicht diese doppelte Schlüsseldrehung – zurück in die vorangegangene und nach vorn in die nachfolgende Begriffsentwicklung – eine Verschmelzung der begriffsgeschichtlichen Horizonte über die Epochen hinweg. So wird erkennbar, dass Luther in diesem Wort die altertümliche Vorstellung der Arbeit als Fluch wie eine schwere Last fortschleppt und es 1
Mein Eingangswortspiel mit Sachen, Dingen und Worten verweist auf Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966 (dt.: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971), um daran zu erinnern, dass dort schon wichtige Grundlagen für die historische Semantik gelegt worden sind – übrigens nicht zuletzt für den Begriff der ‚Arbeit‘ (ebd. S. 274–79, S. 307–22). – Ich nenne in den (bewusst sporadisch gehaltenen) Anmerkungen in erster Linie solche Titel, die in den übrigen Beiträgen dieses Bandes nicht auftauchen, mir aber für eine historische Semantik des modernen Arbeitsbegriffs unverzichtbar erscheinen. Auch bibliographische Neuigkeit ist dabei nicht intendiert – eher wichtiger sind mir ältere Arbeiten, die nichts von ihrer geistigen Frische verloren haben, auch wenn sie in der aktuellen Diskussion keine Rolle mehr spielen.
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zugleich durch seine leichtherzige Neuprägung des Berufsgedankens in eine moderne Richtung stößt.2 Für meine hier anstehende Aufgabe hilft dieses Verfahren allerdings kaum weiter, denn der Schwerpunkt des vorliegenden Sammelbandes liegt eher im 20. Jahrhundert. Wenn ich das ganze Unternehmen richtig verstanden habe, dann soll es dazu dienen, das Bedeutungsfeld des modernen Arbeitsbegriffs historisch-semantisch zu vermessen. Die Frühe Neuzeit als historischer Zauberschlüssel fällt damit weg. Zudem kann ich über das 20. Jahrhundert keine eigenständigen Forschungen vorweisen, besitze also gar nicht die fachhistorische Kompetenz, zu den betreffenden Beiträgen in den sachlichen Einzelheiten kritisch Stellung zu nehmen. Daher habe ich mich für einen anderen Weg entschieden. Neben einer kurzen semantischen Blütenlese möchte ich in meinem Kommentar vor allem versuchen, Querverbindungen und übergreifende Themenstränge aufzuzeigen, aber auch über den sachlichen Ertrag des Bandes hinausgehen und einige Lücken nennen, die mir besonders schmerzlich erscheinen.
1 Arbeit auf dem Felde und eingefahrene Ernte Moderner Arbeitsbegriff als analytische Drehscheibe. Abgesehen von der Einleitung und diesem Kommentar enthält dieser Sammelband fünfzehn thematische Beiträge. Davon kreisen die ersten drei um alteuropäische Ausgangsbestimmungen des Arbeitsbegriffs, ein weiterer bezieht ebenfalls vormoderne Befunde ein, um die Begrifflichkeit im arabisch-islamischen Raum zu klären. Alle übrigen Beiträge sind mit dem semantischen Feld des modernen Arbeitsbegriffs befasst, einschließlich der ‚postmodernen‘ 2
Ganz in diesem Sinne auch die bis heute mustergültige historisch-semantische Skizze zur Entstehung des modernen Berufsbegriffs bei Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1920. S. 17–206, hier: S. 63–83. Zur Sache Werner Conze: Art. Beruf. In: Geschichtliche Grundbegriffe (im Folgenden: GGB), hg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 490–507, hier: S. 493–496; Thomas Sokoll: Vom äußeren Zwang zur inneren Verpflichtung. Überlegungen zur historischen Semantik von „Arbeit“ und „Beruf “ in Max Webers Protestantischer Ethik. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 24, 2013. S. 198–220, hier: S. 203–207. Luthers leichtherzige Umprägung des Berufsgedankens bündig formuliert von Karl Holl: „Erst hieß es: allein das Mönchtum hat einen Beruf; Luther sagt umgekehrt: gerade das Mönchtum hat keinen Beruf “ (Die Geschichte des Worts Beruf [1924]. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 3. Der Westen. Tübingen 1928. S. 189–219, hier: S. 219). – Das schöne Bild des in zwei Richtungen drehbaren Schlüssels habe ich bei Ken Robinson aufgeschnappt (Out of Our Minds. Learning to Be Creative. Chichester 2011. S. 285).
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Grenzverschiebungen dieses Feldes, die seit etwa drei Jahrzehnten beobachtbar sind. Dabei ist leicht einzusehen, warum auch die angrenzenden Felder der ‚Nicht-Arbeit‘ mit einbezogen worden sind: Ein semantisches Feld zu bestimmen bedeutet, bestimmte Bedeutungen einzuhegen – und damit zugleich andere Bedeutungen auszugrenzen. Aber auch die Beiträge, die sich den vormodernen oder außereuropäischen Bedeutungsfeldern der ‚Arbeit‘ widmen, lassen sich ebenfalls der Zielvorgabe des modernen Arbeitsbegriffs zuordnen, weil ihre kontrastierenden Befunde dazu beitragen, dessen spezifische Prägung noch schärfer zu konturieren. Sie bekräftigen dadurch zugleich das methodische Dilemma, in das jede historisch-semantische Analyse des Arbeitsbegriffs unauflöslich verstrickt ist (und aus dem sie gleichwohl ihre analytische Kraft zehren kann). Erst in der westlichen Moderne ist ‚die‘ Arbeit (als Kollektivsingular) zu einer abstrakten ökonomischen Kategorie geronnen, die (tendenziell) alle Formen der Erwerbstätigkeit einschließt, unabhängig von ihrer ökonomischen Bedeutung (Subsistenzsicherung, Wertschöpfung, Profitbildung), sozialen Funktion (Ausbeutung, Fremdbestimmung, Selbstverwirklichung), physischen Gestalt (Art der Tätigkeit, Beruf, Arbeitsplatz) und institutionellen Einbindung (Rechtsform, Marktbezug, sozialpolitische Absicherung). Damit aber hat der Arbeitsbegriff (für uns als Kinder der Moderne) eine spezifische Färbung angenommen, die retrospektiv auch auf alle früheren Epochen ausstrahlt. So sehr wir bemüht sein müssen, diese Einfärbung in der historisch-semantischen Analyse früherer (und/oder kulturell anders strukturierter) Sprachräume methodisch zu kontrollieren, lässt sie sich doch niemals vollständig neutralisieren, da wir hinter den modernen Scheitelpunkt der begrifflichen Entwicklung nicht wieder zurückkönnen.3 Vormoderne Ausgangslage. Angesichts des abstrakten Zuschnitts des modernen Arbeitsbegriffs liegt das vielleicht überraschendste Ergebnis der alteuropäischen Beiträge darin, dass sie ebenfalls mit einer Reihe abstrakter Bestimmungen aufwarten. Auch wenn, wie Ludolf Kuchenbuch darlegt, die Benediktsregel aus dem 6. Jahrhundert zwischen körperlicher Anstrengung (labor) und handwerklicher Tätigkeit (opus) unterscheidet, 3
Auch diese Farbmetaphorik soll auf einen klassischen Text verweisen. Marx, der sozialgeschichtliche Zusammenhänge gern an begrifflichen Stolpersteinen veranschaulicht hat (Musterbeispiel: engl. mill, ‚Mühle‘, bezeichnet auch die moderne ‚Fabrik‘; Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1 [1867/90]. MEW 23. S. 368, Anm. 43), hat 1857/58 in den ‚Grundrissen‘ eine programmatische Plattform zur „Methode der politischen Ökonomie“ entworfen, die im Kern auch eine historische Semantik der ökonomischen Schlüsselbegriffe enthält, und dies bezeichnenderweise am Beispiel des Arbeitsbegriffs erläutert (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Rohentwurf ] 1857/58. Moskau 1939/41. Berlin/DDR 1974. S. 21–29, hier: S. 24–25 [auch MEW 42. S. 34–42, hier: S. 38–39]; die Farbmetapher im Text etwas später (S. 27 [S. 40]) und mit anderem Bezugspunkt, aber der gedankliche Zusammenhang ist derselbe).
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so lassen sich unter diese beiden Begriffe doch tendenziell alle Formen der Handarbeit subsumieren, die der Subsistenzsicherung dienen und dem leeren Nichtstun (Müßiggang/otiositas) wehren, ganz unabhängig davon, um welche konkrete Arbeit es sich handeln mag. Überdies kommt jeder herstellenden, schöpferischen Hand(werks) arbeit eine grundsätzliche ‚Werkheiligkeit‘ zu, weil Gott selbst als Handwerker und die gesamte Schöpfung als sein Werk (opus dei) gilt (bezeichnend ist, was hier nicht geht: undenkbar wäre es, von labor dei zu sprechen). Zwei weitere, ebenfalls abstrakte Bestimmungen ordnen alle Tätigkeiten nach dem sozialen Status der Betroffenen. Der Dienst (servitium) verweist auf die unfreie, knechtische (tendenziell sklavische) Arbeit, das Amt (officium) dagegen auf alle ‚höheren‘ Pflichten und Aufgaben. In den vielfältigen Texten zur Arbeit aus dem spanisch-portugiesischen Raum des 16. bis 18. Jahrhunderts, auf die sich Sven Korzilius bezieht, werden diese lateinischen Ausgangsbestimmungen fortgeschrieben (was angesichts der engen Sprachverwandtschaft nicht verwundert), aber auch verfestigt und erweitert. Die Mühsal der körperlichen Arbeit (span./port. labor/lavor) gemahnt nun zusätzlich an die Folter (trabajo/trabalho).4 Das Amt (officio/oficio oder ministerio) schließt als Gattungsbegriff nun auch die handwerklichen Berufe ein, was jedoch (das ergänze ich hier) nichts Besonderes ist, sondern ab dem Spätmittelalter zum gemeineuropäischen Standard gehört, ebenso wie die auf Ausbildung, Berufserfahrung und Hausstand fußende Statusgliederung der handwerklichen Beschäftigten in Meister und Gesellen sowie Hilfskräfte, Tagelöhner etc.5 Aus dem kolonialen Kontext erklärt sich, dass die Grenzen zwischen unfreier Arbeit und Sklaverei verschwimmen, aber auch freie Lohnarbeit und Sklaverei zusammenfallen können. Indem sich der alte Diskurs über den Müßiggang zum Diskurs über die unzulässige Armut verschiebt, werden panische Töne laut, die den Zwang zur Arbeit auch für alle freien Lohnarbeiter fordern. Demgegenüber beleuchten die von Josef Ehmer untersuchten Arbeitsdiskurse im deutschen Sprachraum des 15. und 16. Jahrhunderts eine zunehmend positive Wertschätzung der Arbeit als Erwerbsarbeit, die sich zunächst vor allem auf das Handwerk bezieht, von dort aus dann aber auch allgemein auf die Lohnarbeit ausstrahlt. Zugleich aber erschallt auch hier aus den ungezählten Bettel- und Armenordnungen der laute Ruf nach Arbeitszwang und Zwangsarbeit für alle „starken Bettler“, was
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Die französische Parallele (travail) ist seit langem bekannt. Vgl. Walter Bienert/Ludwig Bress/Claus D. Kernig: Art. Arbeit. In: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, hg. von Claus D. Kernig. 6 Bde. Freiburg 1966–72. Bd. 1. Sp. 246–276, hier: Sp. 247– 248. Werner Conze: Art. Arbeit. In: GGB (wie Anm. 2). Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 154–215, hier: S. 160–163; Thomas Sokoll: Art. Beruf. In: Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich Jaeger (im Folgenden: EdN). Bd. 2. Stuttgart 2005. Sp. 43–50, hier: Sp. 44–45.
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darauf hindeutet, dass der sozialpolitische Repressionskurs gegenüber der Lohnarbeit ein gesamteuropäisches Phänomen ist. Für den arabischen Raum weisen die Ausführungen von Reinhard Schulze auf erstaunliche Parallelen zur alteuropäischen Ausgangslage. Auch dort gibt es die Unterscheidung zwischen mühseliger Zwangsarbeit (kadd) und der handwerklichen Arbeit (ʽamal), wobei letztere durch die islamische Konnotation (ähnlich wie opus in der christlichen Tradition) eine moralisch-religiöse Aufwertung erfahren hat. Moderne Engführung. Die Beiträge zum späten 19. und 20. Jahrhundert beleuchten durch vielfältige Beispiele einerseits die für den modernen Arbeitsbegriff charakteristische ‚Erfindung‘ der reinen Arbeit durch Reduktion auf regelmäßige marktvermittelte Erwerbstätigkeit gegen Lohn oder Gehalt, wodurch der seit dem Spätmittelalter erkennbare langfristige Trend zur Durchsetzung der freien Lohnarbeit als der vorherrschenden Beschäftigungsform gleichsam zu seinen logischen Abschluss kommt. Andererseits aber verdeutlichen sie die Zwielichtigkeit dieser ökonomischen Abstraktion, weil dadurch zugleich andere Tätigkeiten rigoros ausklammert werden. Das gilt zunächst, woran Sigrid Wadauer erinnert, für alle ‚unqualifizierten‘ oder prekären Beschäftigungen und ‚Gelegenheitsarbeiten‘, denen das Statusmerkmal eines (erlernten) Berufs fehlt, die kein gesichertes Einkommen abwerfen, sondern nur ein klägliches ‚Auskommen‘ ermöglichen, und die, ebenso wie der häusliche Dienst, gern als vorindustrielle Überbleibsel missverstanden werden, während sie tatsächlich ein integraler Bestandteil (auch) des modernen Arbeitsmarktes sind. Ähnlich schroffe Ausgrenzungen gehen mit der von Bénédicte Zimmermann untersuchten ‚Entdeckung‘ und formalen Anerkennung der Arbeitslosigkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts einher. So werden in der französischen Arbeitslosenstatistik Heimarbeiter nicht mitgezählt, weil sie nicht als abhängig Beschäftigte angesehen werden, aber auch Tagelöhner nicht, weil sie ohnehin keine regelmäßige Beschäftigung haben. Vor allem aber ist, wie Laura Frader am Beispiel Frankreichs in der Zwischenkriegszeit zeigt, der moderne Arbeitsbegriff auf den weißen männlichen Fabrikarbeiter als Prototyp des Arbeiters ausgerichtet, woraus sich scharfe geschlechtsspezifische und ethnische Grenzziehungen ergeben. Frauenarbeit zählt nur dann als Arbeit, wenn sie sich außerhalb des privaten Haushalts abspielt, und zwar vor allem in solchen Berufen, für die junge (unverheiratete) Frauen wegen ihrer zarten und zugleich flinken Hände angeblich besonders gut geeignet sind (Paradebeispiele: Sekretärin und Telefonistin). Ähnliche Zuschreibungen, die ebenfalls als ‚wissenschaftlich‘ erwiesen gelten, bestehen für farbige Arbeitskräfte aus den afrikanischen Kolonien, die selbst dann, wenn sie männlich sind, als ‚verweichlicht‘ und daher nur für ‚leichte‘ Arbeiten einsetzbar gelten. Umgekehrt wiederum stellt man sich den weißen Arbeitsmann ausdrücklich als Familienvater vor, dessen harte Arbeit in der Fabrik ohne die Haushaltsführung
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seiner Frau undenkbar wäre – die aber als ‚natürliche‘ Verpflichtung gilt und eben deshalb nicht als Arbeit zählt. Es gibt aber auch andere Schattenseiten der modernen Arbeit. Für die belgische Kupferindustrie im kolonialen Kongo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert Julia Seibert daran, dass der moderne Kapitalismus aus einem Gewaltverhältnis erwachsen ist und die Durchsetzung der freien Lohnarbeit oft im Wechselspiel mit Sklaverei und Zwangsarbeit erfolgt. Die Sakralisierung und Militarisierung der Arbeit im Nationalsozialismus, bedingt auch im New Deal, auf die Kiran Klaus Patel hinweist, zeigt ebenfalls, wie stark das Bild der modernen Arbeit mit vormodernen Motiven durchsetzt ist. Schließlich gibt es noch zwei ganz anders gelagerte Kontrastfolien der modernen Arbeit. Thomas Welskopp zeigt, wie das alte Thema des ‚Müßiggangs‘, über die Jahrhunderte hinweg den „arbeitenden Klassen“ vorgehalten, im 19. Jahrhundert durch die deutsche Sozialdemokratie auf den Klassengegner zurückgespiegelt wird. Einer noch ganz vom handwerklichen Arbeitsstolz durchdrungenen Bewegung erscheint der Kapitalist geradezu zwangsläufig als soziales Gegenbild und Inbegriff des Schmarotzers – lebt er doch ohne jede eigene Anstrengung allein von den Zinserträgen seines Vermögens (noch schlimmer, wenn er es nicht einmal mehr als Sachvermögen einsetzt, sondern nur noch als reines Geldvermögen ansieht und an der Börse damit spekuliert). Im Bericht von Gerd Spittler über seine ethnologische Feldforschung bei den Tuareg begegnet uns schließlich der Hirte, der im ausgehenden 20. Jahrhundert immer noch derselben ewigen ‚Arbeit‘ nachgeht wie schon vor Urzeiten. Postmoderne Verschiebungen. Die übrigen Beiträge stehen im Zeichen der Veränderungen in der Arbeitssemantik, die sich seit den 1980er Jahren unter dem Eindruck des sozialökonomischen Strukturwandels und der Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt, aber auch im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen über angemessene Wege zur Neuausrichtung der Arbeitsmarkpolitik (Flexibilisierung) wie auch der Sozialpolitik (Umbau des Sozialstaats) ergeben haben. Notorische Leitstichworte wie der ‚Abschied vom Proletariat‘, die ‚Erosion des Normalarbeitsverhältnisses‘ oder das ‚Ende der Arbeitsgesellschaft‘ bilden den allgemeinen Kontext, in den sich die hier versammelten Fallstudien einfügen. Jörg Neuheiser stellt der in bürgerlich-konservativen Kreisen in den 1970er Jahren losgetretenen Wertedebatte über den allgemeinen Verfall der Arbeits- und Leistungsbereitschaft die in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften geführten Diskussionen zur Humanisierung der Arbeitswelt gegenüber. Vor allem im Rahmen konkreter betrieblicher Auseinandersetzungen über die Rationalisierung und Automatisierung der Produktion wird ein selbstbewusstes Facharbeiterethos sichtbar, das durchaus traditionell auf Würde der Arbeit und Qualität der Leistung sowie auf Arbeitsplatzautonomie und Kollegialität pocht. Fragen der Arbeitsautonomie
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behandelt auch Dietmar Süß, der die unterschiedlichen Debatten um Humanisierung der Arbeitswelt, Arbeitszeitverkürzung, Abbau der Arbeitslosigkeit oder Lohn für Hausarbeit als komplexes Bündel divergierender, von unterschiedlichen sozialen und politischen Bewegungen vertretener Zielvorstellungen beschreibt (traditionelle Linie der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, neue soziale Bewegungen, Feminismus). Ulrich Bröckling untersucht, wie im Rahmen des neoliberalen Diskurses, der die Versuche zum Umbau des Sozialstaats seit etwa 1980 begleitet, die alte Vorstellung, in einer vollendeten Marktgesellschaft herrsche die befreiende Gleichheit aller Marktteilnehmer, da schließlich jeder etwas zu vermarkten habe (im Fall des Arbeiters: seine Arbeitskraft), durch ihre Fixierung auf das Leitbild des Unternehmers eine Radikalisierung erfährt, die alle Unterschiede verwischt und selbst den Arbeiter zum Unternehmer seiner selbst macht. Die von Shingo Shimada mitgeteilten japanischen Befunde verweisen, ähnlich wie die arabischen, nochmals auf außereuropäische Parallelen zur Entwicklung in der westlichen (Post-)Moderne, die in diesem Fall, anders als im arabischen, allerdings direkt mit europäischen Einflüssen zusammenhängen. Dies gilt zum einen für den allgemeinen Arbeitsbegriff (rôdô), der aus der Übersetzung ökonomischer Klassiker (Adam Smith, Karl Marx) erwachsen ist und durch die nach dem Zweiten Weltkrieg verfestigte semantische Verknüpfung mit dem männlichen Arbeitnehmer im Großbetrieb offenbar dem modernen europäischen Standard entspricht; leider bleibt offen, ob sowohl Arbeiter als auch Angestellte gemeint sind. Noch deutlicher sind zum andern die Neologismen der letzten zwei Jahrzehnte mit postmodernen Verschiebungen in der europäischen Arbeitssemantik verknüpft, sind sie doch direkt aus europäischen Sprachen entlehnt: Wer sich mit einem prekären Teilzeitjob (arubeito, von dt. ‚Arbeit‘) über Wasser hält, ist ein frîtâ (engl. free umgebildet zu freeter), und die zu Niedriglöhnen oder unregelmäßig Beschäftigten sind ‚arbeitende Arme‘ (wâkingu pua, von engl. working poor).
2 Werkzeuge für die semantische Feldarbeit Methodisch decken die Beiträge ein breites Spektrum ab. Manche sind eher begriffsgeschichtlich, andere stärker diskursgeschichtlich orientiert.6 Diejenigen, die größere Zeiträume oder fremde Kulturen abdecken, zeichnen das semantische Feld der Arbeit ziemlich großflächig, lassen aber dadurch auch die langfristigen Bedeutungsverschiebungen – oder auch: konstanten Bedeutungsschichten – erkennen (Ehmer, Korzilius, Schulze, Wadauer, Shimada). Umgekehrt erschließen die zeitlich 6
Vgl. Hans-Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002.
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und räumlich mehr oder weniger eng begrenzten Fallstudien kleinere semantische Flächen und ermöglichen dadurch eine größere Detailgenauigkeit (Frader, Seibert, Welskopp, Zimmermann, Patel, Neuheiser, Süß, Bröckling), die sich durch korpuslinguistische und ethnographische Verfahren noch zusätzlich steigern lässt (Kuchenbuch, Spittler). Die beiden letztgenannten Beitrage markieren durch ihre besonderen Verfahren gewissermaßen die Eckpunkte eines breiten Spektrums: methodisch radikal die semantische Tiefenbohrung durch ein einziges Zeugnis aus dem 6. Jahrhundert, methodisch exotisch (jedenfalls für Historiker) die ethnographische Dokumentation konkreter Arbeitsvorgänge im 20. Jahrhunderts durch teilnehmende Beobachtung im ‚Feld‘. Ausgehend von diesen Extremen möchte ich auch im Hinblick auf die übrigen Beiträge eine methodische These wagen. Die historisch-semantische Analyse ist offenbar umso tragfähiger und trennschärfer, je kleiner der untersuchte Sprechakt, oder vielleicht besser: die untersuchte Sprechsituation ist, nicht nur im Hinblick auf die Schlüsselwörter, sondern vor allem auf den Kreis der beteiligten Sprecher. (a) Was Benedikt von Nursia im frühen 6. Jahrhundert in einem einzigen Text über die Handarbeit der Mönche im Zusammenhang ihrer übrigen Pflichten im eng begrenzten Rahmen der monastischen Gemeinschaft sagt, lässt sich genauer bestimmen als (b) die vielfältigen Auslassungen zur Arbeit auf den Plantagen oder in den Minen der riesigen iberischen Kolonialreiche oder auch im spanischen und portugiesischen Mutterland selbst, die vom 16. bis ins 18. Jahrhundert in zahllosen Traktaten, Predigten, Gesetzen und sonstigem Schrifttum zu finden sind. (c) Was ein paar Dutzend führende Statistiker in Deutschland und Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts umtreibt, die um eine möglichst trennscharfe numerische Erfassung der Arbeitslosigkeit ringen, lässt sich leichter greifen als (d) ein politisches Establishment, das in den 1970er und 1980er Jahren die eigenen Vorstellungen über den Wert von Arbeit und Leistungsbereitschaft, Emanzipation und Selbstbestimmung mit dem Geist des allgemeinen Publikums demoskopisch verknüpfen und diesen dadurch zugleich beeinflussen will. Hinzu kommt, dass bei der Wertedebatte (Fall d) die semantischen Einflusskanäle und Stellgrößen schwer zu bestimmen sind, weil die begriffliche Verhandlungsmasse ständig auf die umliegenden Reizwortfelder überschwappt, auf denen sich wiederum ganz andere Gruppen und Milieus tummeln. Da ringen sozialdemokratische Prominenz und gewerkschaftliche Funktionäre mit linksoppositionellen Gruppen und Querdenkern um die Humanisierung der Arbeitswelt, betriebliche Mitbestimmung, gleitende Arbeitszeiten oder Gruppenarbeit am Fließband, während in den neuen sozialen Bewegungen über alternative Produktions- und Betriebsformen diskutiert wird. Umgekehrt wäre aber auch bei den Statistikern (Fall c) wiederum zu bedenken, wie viel von dem, was dort im kleinen Kreis der Fachleute verhandelt worden ist, wann und über welche Kanäle in welche größeren öffentlichen Räume gedrungen
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oder durchgesickert ist und wie lange es gedauert hat, bis die Gesellschaft als ganze den Begriff der Arbeitslosigkeit angenommen hat. Auch die ‚Fallhöhe‘ der Sprecher ist zu bedenken. Was (im Fall d) im bürgerlichen Wertehimmel konservativer Kulturkritiker als Verfall der Arbeitsethik erscheint, stellt sich aus der konkreten Werksperspektive der Kollegen bei Daimler Benz in Untertürkheim genau umgekehrt dar. Hier sieht man, wie sich ein recht ‚abgehobener‘ Diskurs durch eine Fallstudie ‚von unten‘ trefflich konterkarieren (ich bin geneigt zu sagen: korrigieren) lässt. Wir stehen vor einem unlösbaren Dilemma, und mein Plädoyer für historischsemantische Fallstudien auf möglichst klar und eng begrenztem Raum beschreibt natürlich nur eine methodische Option. Denn je kleiner der Kreis der beteiligten Sprecher, umso dringlicher stellt sich anschließend die Frage, wer sie überhaupt hört, und wenn er sie hört: ob er sie versteht. Fallstudien lassen sich eben nicht gegen großflächige Untersuchungen ausspielen. Wir brauchen vielmehr kleine und große Untersuchungsfelder. Erst aus dem abwechselnden Blick sowohl durchs Mikroskop als auch durchs Teleskop kann sich ein zutreffendes Bild ergeben. Aber vielleicht sollten wir uns neben solchen optischen Instrumenten auch ganz einfach auf das gesunde Augenmaß verlassen – und uns noch viel häufiger auf Untersuchungsfelder mittlerer Reichweite begeben.7 Jedenfalls fällt auf, dass im vorliegenden Band eine Reihe gerade solcher Felder mittlerer Größenordnung, deren gründliche Bearbeitung für das Projekt einer historischen Semantik der Arbeit im 20. Jahrhundert eigentlich unverzichtbar ist, weitgehend brach gelassen worden sind. Ich nenne fünf solcher Felder, bei denen ich zugleich die Furchen zurück in die Vormoderne durchziehen kann: Arbeit und Zwang, Arbeit und Recht, Arbeit und Markt, Arbeit und Klasse, Arbeit und Beruf.
3 Brachliegende Felder Arbeit und Zwang. Wie mehrere Beiträge gezeigt haben, ist die erzwungene Arbeit eine Konstante der alteuropäischen Arbeitsgeschichte. Die antike Sklaverei gehört hierher, 7
Im soziologischen Methodengerangel der 1960er Jahre hat Robert Merton ein zeitlos gültiges Plädoyer für Theorien mittlerer Reichweite formuliert, um zwischen blindem Positivismus, der in den Einzelheiten ertrinkt, und theoretischen Universalentwürfen ohne empirische Bodenhaftung hindurchzusteuern. Vgl. Robert K. Merton: On Sociological Theories of the Middle Range. In: ders.: Social Theory and Social Structure. New York 1968. S. 39–72 (dt.: ders.: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin/New York 1995. S. 3–8 [gekürzt]).
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ebenso die mittelalterliche Hörigkeit, vor allem aber die für das spätere Mittelalter und die Frühe Neuzeit typische neue Vorstellung des Zwangs zur Arbeit auch für alle formal freien Lohnarbeiter, für jene „vogelfreien Proletarier“, deren marktbedingte Leidensgeschichte Marx unter dem Stichwort der „ursprünglichen Akkumulation“ kritisch verklärt hat.8 Das berühmte Statute of Labourers von 1351, das jeden kräftigen Tagelöhner zur Arbeit um jeden Preis anhält, ist hier zu nennen, ebenso wie die Armen- und Bettelordnungen, aber auch die Arbeits- und Zuchthäuser, die vom 16. bis 18. Jahrhundert überall in Europa errichtet wurden und im 19. Jahrhundert ihre ‚moderne‘ Wiedergeburt erlebten, und natürlich die moderne Sklaverei im kolonialen Kontext. Eine tiefe Blutspur – die sich dennoch geradezu harmlos ausnimmt im Vergleich zu den Arbeits- und Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts. Zur historischen Semantik gerade der modernen Arbeit im 20. Jahrhundert gehört auch das zynische Stichwort der „Vernichtung durch Arbeit“, gehören auch die millionenfachen Opfer, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und den stalinistischen Arbeitslagern zugrunde gerichtet worden sind.9 Arbeit und Recht. Fragen des Arbeitsrechts tauchen in diesem Band nur sporadisch auf,10 etwa im Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz (place) und der Weisungsberechtigung (direction) des Arbeitgebers (patron) als Ausgangspunkt für die Klassifikation potentieller Arbeitsloser in der französischen Volkszählung von 1896 oder bei der Frage, welche sozialen Rechte mit der beruflichen Erwerbstätigkeit einhergehen. Beides bezieht sich auf den individuellen Arbeitsvertrag, der aus dem Dienstvertrag im römischen Privatrecht erwachsen ist und daher wiederum in einer langen alteuropäischen Tradition steht.11 Dagegen haben wir die arbeitsrechtliche 8 9
Marx: Kapital. Bd. 1 (wie Anm. 3). S. 741–791. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a. M. 1993. S. 193–225; Manfred Hildermeier: Die Sowjetunion 1917–1991. München 2001. S. 43–45, S. 126–132. 10 Das ist allerdings insofern verständlich, als der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte sich bereits im Oktober 2010 auf einer eigenen Tagung mit dem Verhältnis von Arbeit und Recht beschäftigt und dabei u. a. auch historisch-semantische Fragen behandelt hat. Vgl. Joachim Rückert (Hg.): Arbeit und Recht seit 1800. Historisch und vergleichend, europäisch und global. Köln/Weimar/Wien 2014. 11 Eine besondere Fundgrube für die Geschichte des individuellen Arbeitsvertrags bietet die souveräne Darstellung von Joachim Rückert in zwei großen Kapiteln im Historisch-kritischen Kommentar zum BGB. Bd. 3: Schuldrecht. Besonderer Teil: §§ 433–853. Hg. von Mathias Schmoeckel/Joachim Rückert/Reinhard Zimmermann. Redaktion: Joachim Rückert und Frank L. Schäfer. Tübingen 2013. S. 700–822 (vor § 611. Die Regelungsprobleme und Lösungen seit Rom im Überblick), S. 823–1034 (§ 611. Dienstvertrag mit Arbeitsvertrag).
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Errungenschaft des 20. Jahrhunderts völlig ausgeblendet: das kollektive Arbeitsrecht, d. h. die Anerkennung der Gewerkschaften als legitime Vertretung aller Arbeiter eines Berufszweiges oder sogar einer ganzen Brache und als gleichberechtigte Tarifpartner der Arbeitgeberseite, sowie die Anerkennung des Streikrechts als legitimer Waffe der gesamten Belegschaft gegenüber dem Arbeitgeber.12 Zuvor galt stets die juristische Fiktion, dass durch eine kollektive Aktion der Belegschaft gegen den Arbeitgeber alle individuellen Arbeitsverträge mit diesem gebrochen werden, auf deren Grundlage dann jeder Einzelne auf Schadensersatz und/oder die Gesamtbelegschaft wegen Verschwörung verklagt werden konnten.13 Die Anbindung der Sozialversicherung an das Normalarbeitsverhältnis ist ebenfalls eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Allen früheren Epochen ist dieses Rechtsinstitut fremd, weshalb ihm in der Semantik der Arbeit im 20. Jahrhundert ein zentraler Stellenwert gebührt. Arbeit und Markt. Bereits in der Frühen Neuzeit waren weite Teile der Bevölkerung in der Stadt wie auf dem Land in zunehmendem Maße für die Subsistenzsicherung auf Lohnarbeit angewiesen und damit den Wechselfällen des Marktes und den Schwankungen der Konjunktur ausgesetzt. Saisonale, konjunkturelle und strukturelle Unterbeschäftigung war endemisch und schlug immer wieder in offene Arbeitslosigkeit um. Zugleich aber war die frühneuzeitliche Gesellschaft offenbar außerstande, Arbeitslosigkeit als solche, also als genuines Strukturproblem des Arbeitsmarktes, anzuerkennen.14 Sie wurde stattdessen den Betroffenen als moralisches Versagen angelastet, woraus sich der armutspolitische Überhang erklärt, der zum Beispiel noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die deutschen Diskussionen über die statistische Erfassung von Arbeitslosen überschattet. Auch dies weist wieder zurück auf eine alteuropäische 12 Nach wie vor hilfreich Thomas Blanke/Rainer Erd/Ulrich Mückenberger/Ulrich Stascheit: Kollektives Arbeitsrecht. Quellentexte zur Geschichte des Arbeitsrechts in Deutschland. Reinbek 1975; Volker Hentschel: Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880–1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht. Frankfurt a. M. 1985. Neuere Überblicke bei Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart. München 2005; Mathias Schmoeckel: Rechtsgeschichte der Wirtschaft. Tübingen 2008. S. 311–378. 13 Bezeichnend ist, dass selbst in England, dem Pionierland der modernen Industrie, noch bis ins späte 19. Jahrhundert die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern auch in der modernen Fabrik nach dem überkommenen Dienstrecht als individuelles Vertragsverhältnis zwischen ‚Herr‘ (master) und ‚Diener‘ (servant) geregelt wurden. Vgl. Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925). München 2002. S. 49–63, S. 97–105. 14 Reinhold Reith: Art. Lohnarbeit. In: EdN (wie Anm. 5). Bd. 7. Stuttgart 2008. Sp. 988– 998; Thomas Sokoll: Art. Arbeitslosigkeit. In: ebd. Bd. 1. Stuttgart 2005. Sp. 543–545; ders.: Art. Unterbeschäftigung. In: ebd. Bd. 13. Stuttgart 2011. Sp. 1057–1059.
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Traditionslinie. Ab dem 14. Jahrhundert wurde die alte Vorstellung, dass Armut und Arbeit zwei Seiten einer Medaille sind, weil jemand, der besitzlos ist und außer seiner eigenen Arbeit über keine anderen Mittel zur Subsistenzsicherung verfügt, nur arm sein könne, buchstäblich umgemünzt. Das Bettlerzeichen, das nun in vielen Städten eingeführt wurde und eben häufig aus Metall war, durften nur ‚würdige‘ Arme tragen, also Kranke, Alte und Gebrechliche oder auch Witwen mit Kindern, sprich: die nicht arbeitsfähigen Armen. Armut und Arbeit galten nun als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze: Arm durfte nur noch sein, wer nicht arbeitsfähig war; und umgekehrt: Wer arbeitsfähig war, durfte nicht arm sein. Das entscheidende Kriterium der Arbeitsfähigkeit wurzelte offenbar in der Vorstellung, der Arbeitsmarkt werfe immer genug Arbeit für alle ab, so dass jemand, der bei vollen Körperkräften und klarem Verstand sei, gar nicht arm sein könne (es sei denn, er wolle nicht arbeiten) und daher keinen Anspruch auf öffentliche Unterstützung habe.15 Dieser wechselseitige Gegensatz von Armut und Arbeit erfuhr ab dem 16. Jahrhundert eine charakteristische Zuspitzung durch die protestantische Arbeitsethik, die durch ihre kompromisslose Unbarmherzigkeit endgültig den Stab der Arbeit über die Armut gebrochen hat.16 Wie gesagt, im 20. Jahrhundert ist dieser Bann gebrochen und die Arbeitslosigkeit endlich als Strukturproblem des modernen Arbeitsmarktes anerkannt worden. Gleichwohl hat sich im Bedürftigkeitsgrundsatz des Sozialhilferechts der alte Würdigkeitsgesichtspunkt bis heute gehalten. Arbeit und Klasse. Das Englische besitzt den für unsere Fragestellung willkommenen Vorteil, dass es die alteuropäische Erbschaft im semantischen Feld der Arbeit länger bewahrt hat als das Deutsche. Die gesamte Frühe Neuzeit hindurch bis ins 20. Jahrhundert blieb die Spannung zwischen labour und work virulent, die im Deutschen durch die Bedeutungskonvergenz beider Begriffe zum Kollektivsingular ‚Arbeit‘ aufgehoben wurde. Labour stammt direkt vom lat. labor und verweist auf das alte negativ konnotierte Bedeutungsfeld der Mühsal und des Schmerzes (labour ist noch heute das umgangssprachliche Wort für die Geburtswehen der Frau). Work als Äqui15 Dazu noch immer grundlegend Volker Hunecke: Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa. In: Geschichte und Gesellschaft, 9, 1983. S. 488– 512; Otto Gerhard Oexle: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherung und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 1986. S. 73–100, hier: S. 85–95; ders.: Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter. In: Jürgen Kocka/Claus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. M./New York 2000. S. 67–79, hier: S. 76–79. 16 Hierzu noch immer anregend die brillante Skizze (1959) von Herbert Lüthy: Protestantismus, Kapitalismus und Barmherzigkeit. In: ders.: Werke. Bd. 3: Essays I. 1940– 1963. Zürich 2003. S. 341–356.
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valent zum lat. opus entspricht der positiven Wertschätzung der Handarbeit, die sich im Werkstück des Handwerkers verdinglicht. Für die Entwicklung des semantischen Feldes der Arbeit im Englischen ist es charakteristisch, dass die soziale Applikation der beiden Begriffe zunächst auf labour beschränkt blieb und erst dann auf work umschwenkte. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das wachsende Heer der ‚unterständischen‘ Massen, sprich: alle unterhalb der Bauern und Handwerker angesiedelten Kleinbauern, Landarbeiter, Gesellen und Tagelöhner, als labouring poor bezeichnet und damit die alte Einschätzung bekräftigt, dass die nackte Lohnarbeit bestenfalls zur notdürftigen Subsistenzsicherung ausreicht.17 Aus den labouring poor wurden dann die labouring classes (etwa bei Adam Smith), die sich ab dem frühen 19. Jahrhundert zu den working classes mauserten, die sich schließlich sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstbezeichnung zur einen working class verdichteten (während es eine labouring class im Singular nicht gibt). Die working class organisierte sich anschließend in der Arbeiterbewegung, deren politischer Arm sich am Ende des 19. Jahrhundert aber ausgerechnet als Labour Party konstituierte und damit gleichsam ihre mühselige alteuropäische Herkunft im kollektiven Gedächtnis gespeichert hat. Zur selben Zeit erwuchs aus der sozialen Wahrnehmung des Massenelends unter den ungelernten Tagelöhnern und Gelegenheitsarbeitern, also im Bodensatz der modernen Proletariats, der neue Begriff der casual poor, der es dann erlaubte, die alte Geißel der Arbeitslosigkeit aus einem moralischen in ein sozialpolitisches Problem zu verwandeln. Diese Verschiebung vom vormodernen zum modernen Arbeitsbegriff, von der diffusen Masse der labouring poor zur selbstbewussten working class, ist im Deutschen im Übergang von den ‚arbeitenden Klassen‘ zur ‚Arbeiterklasse‘ nicht so klar erkennbar, weil im Arbeitsbegriff die alteuropäische Mühsalskomponente bereits neutralisiert ist.18 17 Es war wiederum Marx, der als einer der Ersten auf den semantischen Kurzschluss im Begriff der labouring poor hingewiesen hat: Kapital (wie Anm. 3). S. 788, Anm. 248. Ein früher prominenter Beleg bei Daniel Defoe: Giving Alms No Charity (1704). In: ders.: The True-Born Englishman and Other Writings. Harmondsworth 1997. S. 229– 252, hier: S. 252. 18 Für die rasche Orientierung unersetzlich Raymond Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. London 1983. S. 60–69 (class), S. 176–179 (labour), S. 325–327 (unemployment), S. 334–337 (work). Ich nenne dieses vorzügliche Vademekum auch deshalb, weil es dem Projekt der Begriffsgeschichte, wie es Reinhard Koselleck vertreten hat, im Geiste so eng verwandt ist, auch wenn es als reines EinMann-Unternehmen nicht an das Format der GGB heranreicht (Koselleck hat es sicher gekannt, nennt Williams aber, soweit ich sehe, an keiner Stelle). – Zur Sache ansonsten Penelope J. Corfield: Class by Name and Number in Eighteenth-Century Britain. In: dies (Hg.): Language, History and Class. Oxford 1991. S. 101–130; Asa Briggs: The Language of ‘class’ in Nineteenth-Century England. In: ders./John Saville (Hg.): Essays in Labour History. London 1967. S. 43–73; Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class. Harmondsworth 1968; Gareth Stedman Jones: Outcast Lon-
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Arbeit und Beruf. Die Differenz zwischen labour und work hängt seit dem Aufschwung des städtischen Handwerks ab dem 11./12. Jahrhundert mit der Herausbildung spezifischer Berufe zusammen, die den Bereich der arbeitsteiligen Verkehrswirtschaft in ein immer breiteres Spektrum von spezialisierten Handfertigkeiten auffächerte. Schon im 15. Jahrhundert gab es in Frankfurt rund 340 verschiedene Berufe und in Köln allein im Schmiedehandwerk über 40 verschiedene Berufszweige. Parallel dazu vollzog sich die Herausbildung des sesshaften Kaufmanns sowie der freien Berufe und Ämter. Es entstand das Feld der bürgerlichen Berufe, deren Selbstbewusstsein, ähnlich wie beim Handwerk, auf Qualifikation und Leistung basierte – eine Haltung, die wiederum in der protestantischen Arbeitsethik ihren vollendeten Ausdruck fand, indem der Beruf nun von der göttlichen Berufung in den besonderen Heilsstand der monastischen Askese abgelöst und auf jede Form der alltäglichen unterhaltssichernden Tätigkeit übertragen wurde.19 Erst damit wurde die im Frühchristentum angelegte Aufwertung der Erwerbsarbeit (gegenüber der antiken Abscheu gegen den Schmutz aller gewerblichen Hantierungen) zum kulturellen Standard, der zwar zunächst nur die städtischen Mittelschichten einband, von dem aber auf lange Sicht alle Berufe und damit tendenziell die gesamte erwerbstätige Bevölkerung profitierten. Das Normalarbeitsverhältnis des 20. Jahrhunderts ist gewissermaßen der logische Schlusspunkt dieser Entwicklung. Es basiert auf der Ausbildung für einen bestimmten Beruf und dessen Ausübung über das gesamte Erwerbsleben hinweg, worauf wiederum die anschließende Versorgung im Ruhestand fußt.20 Daher gilt: keine Semantik der Arbeit im 20. Jahrhunderts ohne das angrenzende Bedeutungsfeld des Berufs. Die gewaltige berufliche Auffächerung der modernen Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert (die Statistik des Deutschen Reiches von 1895 kennt rund 10.000 Berufsbezeichnungen) berührt zwei weitere semantische Felder, die ich wiederum nur kurz don. A Study in the Relationships between Classes in Victorian Society. Oxford 1971. Zur deutschen Begrifflichkeit Werner Conze: Art. Arbeiter. In: GGB (wie Anm. 2). Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 216–242, hier: S. 218–228. 19 Vgl. Sokoll: Art. Beruf (wie Anm. 5). 20 Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlage, Kultur und Politik. Frankfurt a. M. 1984. S. 52–73, S. 96–103, S. 224–235; Ulrich Mückenberger: Zur Rolle des Normalarbeitsverhältnisses bei der sozialstaatlichen Umverteilung von Risiken. In: Probleme des Klassenkampfs, 64, 1986. S. 31–45; ders.: Normalarbeitsverhältnis: Lohnarbeit als normativer Horizont sozialer Sicherheit? In: Christoph Sachße/H. Tristram Engelhardt (Hg.): Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a. M. 1990. S. 158–178; Birgit Geissler: Normalarbeitsverhältnis und Sozialversicherungen – eine überholte Verbindung? In: Mittteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31, 1998. S. 550–557. Die geschlechterpolitische Schieflage, dass das Normalarbeitsverhältnis auf den männlichen Familienernährer geeicht ist, blende ich hier aus.
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nennen kann, weil jede nähere Erläuterung den gebotenen Rahmen sprengen würde. Sie lauten: Arbeitsplatz und Handarbeit. Arbeitsplatz. Mit der langfristigen Verschiebung der Erwerbsbevölkerung vom Produktions- in den Dienstleistungssektor und dem Anstieg des beruflichen Qualifikationsniveaus geht ein immer größerer Teil des Beschäftigungsvolumens von den ‚Arbeitern‘ zu den ‚Angestellten‘ über, wodurch sich die physische Gestalt der Arbeit nachhaltig verändert hat, ohne dass dadurch die ‚Arbeit‘ als Schlüsselmotiv im Selbstbild der modernen Gesellschaft in irgendeiner Weise an Bedeutung verloren hätte. Im Gegenteil: Heutzutage geht auch der Börsenmakler morgens zur ‚Arbeit‘, und das Büro des Bankdirektors ist sein ‚Arbeitsplatz‘. In den Beiträgen dieses Bandes tauchen die unterschiedlichsten Arbeitsplätze auf, etwa in den Kupferminen in Katanga in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts, in den Autofabriken von Citroën im Frankreich der Zwischenkriegszeit, am Hochofen im Ruhrgebiet in den 1950er Jahren oder bei Daimler-Benz in Untertürkheim in den 1970er Jahren. Auch ist zuweilen vom Fordismus oder Taylorismus die Rede, also von unterschiedlichen Strategien der Organisation der industriellen Produktion durch das Management, und damit über die Köpfe der Belegschaften hinweg. Doch im Grunde sind dies durchweg nur kurze Streiflichter. Um es hart zu sagen: Die meisten Beiträge dieses Bandes gehen auf weite Strecken über die Köpfe, oder besser: die Körper und Hände der Betroffenen hinweg. Worin die Arbeit denn nun konkret besteht und was genau am Arbeitsplatz passiert – darüber erfahren wir so gut wie Nichts.21 Natürlich mag man sagen, dass es in einem Projekt zum Bedeutungsfeld des Arbeitsbegriffs in der Moderne darum gar nicht geht, weil hier nicht die Dinge an sich, sondern die Worte über die Dinge zur Debatte stehen. Dennoch würde ich von einem vielleicht etwas altertümlichen Verständnis her, wonach die Bedeutung eines Wortes den Ausschnitt der ‚Wirklichkeit‘ betrifft, den es abdecken soll, daran festhalten, dass eine historische Semantik der modernen Arbeit das Reden über die Arbeit in der Moderne nur dann wirklich verstehen kann, wenn sie auch von der Arbeit selbst etwas versteht, also auch die konkreten Arbeitsabläufe vor Ort mit in den Blick nimmt. Handarbeit. Man muss darüber hinaus aber auch stets das gesamte Spektrum der Arbeiten im Blick haben, denn nur so lässt sich der Stellenwert einer konkreten Arbeit überhaupt ermessen. So war in Großbritannien, dem Mutterland der modernen Industrie, der fabrikindustrielle Ausbau der gewerblichen Produktion (und die Herausbildung einer stolzen Facharbeiterschaft) im 19. Jahrhundert zugleich von 21 Vorbildlich die (von der historischen Arbeitssemantik ausgehende) Darstellung bei Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich. 1871 bis 1914. Bonn 1992. S. 265–353. Atemberaubend das welthistorische Panorama der Arbeit bei Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. S. 958–1009.
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einer gigantischen Expansion der ‚rohen Handarbeit‘ (Osterhammel) begleitet, etwa im Bergbau, im Kanal- und Eisenbahnbau, im Baugewerbe oder im Transportwesen. Der Arbeitsplatz des Bergmanns wurde gerade nicht mechanisiert. Steine wurden mit dem Hammer zertrümmert, Erdbewegungen mit Schaufel und Schubkarre bewerkstelligt, Dachpfannen auf der Schulter die Leiter hochgetragen. Für den Massengütertransport über immer weitere Strecken wurden zunehmend dampfkraftbetriebene Schiffe und Güterzüge eingesetzt. Doch je mehr Güter auf diese Weise mechanisch transportiert wurden, umso mehr Handarbeit war nötig, um die Schiffe und Waggons zu beladen und zu löschen und die Güter in Säcken oder Bündeln auf dem Rücken oder in Schubkarren aus den Speichern oder in diese zurück zu bewegen.22 Im zeitgenössischen Diskurs über die Arbeit waren die Dockarbeiter im Londoner East End eine notorische Größe – nicht nur weil sie in den Sozialreportagen von Mayhew und Booth eine prominente literarische Rolle spielten, sondern auch wegen ihrer militanten Aktionen während des großen Streiks von 1889.23 Doch nicht nur im East End, sondern auch anderswo war, solange Dockarbeiter billiger waren als Kräne, Dockarbeit eine furchtbare Knochenarbeit.24 Für das 20. Jahrhundert gilt dasselbe. Pauschale Hinweise auf Fordismus oder Taylorismus helfen kaum weiter (oder führen sogar in die Irre), solange nicht konkret ausgemacht ist, welche Arbeitsprozesse dadurch auf welche Weise und vor allem in welchem Umfang betroffen gewesen sind und wie sich dabei das komplexe Wechselspiel von Qualifizierung und Dequalifizierung der Arbeit darstellt.25 Dies gilt umso 22 Vgl. Raphael Samuel: Workshop of the World. Steam Power and Hand Technology in Mid-Victorian Britain. In: History Workshop Journal, 3, 1977. S. 6–72 (nicht zufällig erschien dieser bahnbrechende Aufsatz gerade in dieser Zeitschrift, in der schon historisch-semantische Analysen zur Diskussion gestellt wurden, längst bevor auch nur irgendjemand vom linguistic turn in der Geschichtswissenschaft zu träumen begann); Osterhammel: Verwandlung der Welt (wie Anm. 21). S. 980–987. Zum bergmännischen Arbeitsplatz unter Tage: Klaus Tenfelde: Der bergmännische Arbeitsplatz während der Hochindustrialisierung (1890–1914). In: Werner Conze/Ulrich Engelhard (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Stuttgart 1979. S. 283–335; Franz-Josef Brüggemeier: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889–1919. München 1983. S. 92–141. 23 Stedman Jones: Outcast London (wie Anm. 18). S. 315–321. 24 Instruktive Studie zum Hamburger Parallelfall: Michael Grüttner: Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter 1886–1914. Göttingen 1984. S. 19–101. 25 Wie wenig sich tayloristische Managementphantasien etwa in der Stahlherstellung umsetzen lassen, zeigen zwei vorzügliche Fallstudien: Ulrich Zumdick: Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet. Die Belegschaft der Phoenix-Hütte in Duisburg-Laar 1853–1914. Stuttgart 1990. S. 141–190; Thomas Welskopp: Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen-
Alteuropäisches Erbe, moderne Ausprägung und postmoderne Verwerfungen
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mehr, als die Mechanisierung industrieller Produktionsprozesse im großen Stil meist nur bestimmte Kernbereiche erfasst, deren Wachstumsdynamik dann wiederum die flächendeckende Expansion ausgesprochen kleinbetrieblicher Werkstätten befeuert, in denen handwerklich ausgebildete Facharbeiter tätig sind (Musterbeispiel: die kleine Kfz-Werkstatt um die Ecke).26
4 Fazit Am Ende meines kritischen Durchgangs durch die in diesem Band versammelten Beiträge zur modernen Arbeitssemantik und durch angrenzende Bedeutungsfelder komme ich im Ergebnis zu einer zwiespältigen Bilanz. Der moderne Begriff der ‚Arbeit‘ ist einerseits das Ergebnis gewaltiger Rationalisierungs-, Abstraktions- und Generalisierungsschübe, in denen die vormodernen Normen der mühseligen Subsistenzsicherung, handwerklichen Leistungsfertigkeit und gewissenhaften Pflichterfüllung zu einem Emanzipationsprogramm universalisiert worden sind, das durch die freie, marktvermittelte Erwerbstätigkeit auf der Basis beruflicher Qualifikation nicht nur ein gesichertes Einkommen für alle, sondern auch die Möglichkeit verantwortungsethischer Selbstverwirklichung eröffnen soll. Andererseits ist diese Entwicklung stets von gegenläufigen Bewegungen durchkreuzt worden und durchzogen gewesen. So ist auch in der Moderne die Arbeit trotz des mächtigen Schubs zur immer höher qualifizierten Berufstätigkeit nach wie vor in den vormodernen Niederungen der einfachen Handarbeit verwurzelt, bis tief hinab zur schieren Knochenarbeit, für die es keine qualifizierten Berufe braucht, sondern nur Körperkraft und Ausdauer. Außerdem ist die Arbeit in der modernen Fabrik ebenso wie im modernen Büro grundsätzlich ständiger Kontrolle und scharfer Disziplinierung unterworfen. Und schließlich zeichnet sich gerade das 20. Jahrhundert auch durch Blütezeiten der brutalsten Zwangsarbeit aus, die von grausamen Eruptionen der physischen Gewalt und des systematischen Terrors bis hin zur „Vernichtung durch Arbeit“ begleitet gewesen sind. und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren. Bonn 1994 (durchweg mit anschaulichem Material zur Arbeitssemantik). 26 Die weiteren Stufen der Mechanisierung schaffen dann erst recht die Grundlagen (Benzin- und Elektromotor u. Ä.) für die Konsolidierung und Ausdehnung kleinster Betriebseinheiten bis hin zum Privathaushalt (elektrische Haushaltsgeräte). Grundlegend Siegfried Giedion: Mechanization Takes Command. Oxford 1948 (dt. Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt a. M. 1982); Michael J. Piore/Charles F. Sabel: The Second Industrial Divide. Possibilites for Prosperity. New York 1984 (dt. Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft. Berlin 1985).
Dank
Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind aus zwei Tagungen hervorgegangen: dem Workshop „Semantiken von ‚Arbeit‘ in diachroner und vergleichender Perspektive“, der vom 8. bis 9. Juli 2010 an der School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattfand, sowie dem Workshop „Semantiken von ‚Arbeit/Nicht-Arbeit‘: Das 20. Jahrhundert in vergleichender Perspektive“, der im Rahmen der Herbsttagung des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte vom 27. bis 29. Oktober 2011 in Bochum organisiert wurde. Für die Finanzierung beider Tagungen sind wir der FRIAS-School of History, der Fritz Thyssen Stiftung sowie als Gastgeber der Herbsttagung des Arbeitskreises dem Institut für Soziale Bewegungen in Bochum zu großem Dank verpflichtet. Ohne den großzügigen Druckkostenzuschuss des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin hätte der Band nicht in dieser Form erscheinen können. Allen Referenten und Kommentatoren der Tagungen, darunter besonders Kathleen Canning und Andreas Eckert, sowie allen Teilnehmern danken wir herzlich für intensive Diskussionen und konstruktive Kritik. Um das Hauptanliegen des Forschungsvorhabens, die diachrone und komparative Perspektive, noch stärker zu profilieren, haben wir im Anschluss an die beiden Tagungen weitere Beiträge in den Band aufgenommen, die zum Teil aus anderen Veranstaltungen des Arbeitskreises für Moderne Sozialgeschichte hervorgegangen sind. Für die Bereitschaft, unseren Band auf diese Weise sinnvoll zu ergänzen, danken wir Josef Ehmer, Reinhard Schulze, Dietmar Süß, Sigrid Wadauer sowie Thomas Welskopp. Freiburg und Bielefeld, im Januar 2016
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ulrich Bröckling
Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Prof. (em.) Dr. Josef Ehmer
Josef Ehmer ist emeritierter Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Prof. Dr. Laura Levine Frader
Laura Levine Frader ist Professor of History am College of Social Sciences and Humanities an der Northeastern University in Boston/USA. Dr. Sven Korzilius
Sven Korzilius ist DAAD-Fachlektor in der Abteilung für Internationales Recht und Rechtsvergleichung an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von São Paulo (FDUSP). Prof. (em.) Dr. Ludolf Kuchenbuch
Ludolf Kuchenbuch ist emeritierter Professor für Geschichte und Gegenwart Alteuropas am Historischen Institut der FernUniversität Hagen. Prof. Dr. Jörn Leonhard
Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Dr. Jörg Neuheiser
Jörg Neuheiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Neuere Geschichte der Universität Tübingen. Prof. Dr. Kiran Klaus Patel
Kiran Klaus Patel ist Jean-Monnet-Professor für europäische und globale Geschichte an der Universität Maastricht in den Niederlanden. Dr. Julia Seibert
Julia Seibert lehrte bis 2015 als Assistenzprofessorin für afrikanische Geschichte an der American University in Kairo. Seit 2015 arbeitet sie als Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit in Berlin.
Autorinnen und Autoren
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Prof. Dr. Reinhard Schulze
Reinhard Schulze ist Ordentlicher Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie und Direktor des Instituts für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern. Prof. Dr. Shingo Shimada
Shingo Shimada ist Lehrstuhlinhaber Modernes Japan II mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt der Universität Düsseldorf. Prof. Dr. Thomas Sokoll
Thomas Sokoll ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Institut der FernUniversität Hagen. Prof. (em.) Dr. Gerd Spittler
Gerd Spittler ist emeritierter Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Prof. Dr. Willibald Steinmetz
Willibald Steinmetz ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Politikforschung an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Dietmar Süß
Dietmar Süß ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Prof. Dr. Sigrid Wadauer
Sigrid Wadauer ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Prof. Dr. Thomas Welskopp
Thomas Welskopp ist Professor für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte moderner Gesellschaften und Direktor der Bielefeld Graduate School in History and Sociology an der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Bénédicte Zimmermann
Bénédicte Zimmermann ist Directrice d’études an der EHESS in Paris und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin.
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