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German Pages 166 [168] Year 2021
Von formaler zu materialer Gleichheit
Von formaler zu materialer Gleichheit Vergleichende Perspektiven aus Geschichte, Kranz der Disziplinen und Theorie herausgegeben von
Stefan Grundmann und Jan Thiessen
Mohr Siebeck
Stefan Grundmann, geboren 1958, Dr. iur., Dr. phil., LL. M. (Berkeley), ist Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2013–2018 beurlaubt für eine Professur für Transnationales Recht am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, seitdem dort part-time. Seine Hauptwerke gelten dem Europäischen Vertragsrecht, dem Vertragsrecht allgemein, dem Europäischen Gesellschaftsrecht, dem Bankrecht, dem Internationalen Recht in seinen verschiedenen Facetten und der Privatrechtstheorie. Er ist Präsident der Society of European Contract Law, der European Law School (Berlin/London/Paris/ Rom/Amsterdam) und geschäftsführender Herausgeber der European Review of Contract Law sowie der (deutschen und englischen) Lehr- und Handbuchreihe Ius Communitatis. Jan Thiessen, geboren 1969, Dr. iur., ist Professor für Bürgerliches Recht, Juristische Zeitgeschichte und Wirtschaftsrechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine wesentlichen Forschungsinteressen betreffen die neuere Wirtschaftsrechtsgeschichte insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts und die Juristische Zeitgeschichte seit dem Ersten Weltkrieg, das Recht der Unternehmensnachfolge sowie das Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht mit seinen insolvenzrechtlichen Implikationen.
ISBN 978-3-16-161140-7 / eISBN 978-3-16-161141-4 DOI 10.1628/978-3-16-161141-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Der Band vereint die Vorträge, die in der Arbeitssitzung der Fachgruppe Grundlagen der Gesellschaft für Rechtsvergleichung auf deren 37. Tagung am 20. September 2019 in Greifwald gehalten wurden. Ein Vortrag ist in der Einleitung resümiert. Wie bereits in den bisherigen Sammelbänden – namentlich denjenigen zur Marburger Tagung 2013 (Grundmann/Thiessen [Hrsg.], Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich – Law in the Context of Disciplines, Mohr Siebeck 2015) und zur Bayreuther Tagung 2015 (Grundmann/Thiessen [Hrsg.], Religiose Werte im Recht – Tradition, Rezeption, Transformation, Mohr Siebeck 2017) – stehen hier erneut Rechtsgeschichte und Rechtstheorie nebeneinander. Das Thema „Von formaler zu materialer Gleichheit“ durchlief einerseits eine jahrtausendalte Entwicklung – mit einigen sehr markanten Weggabelungen – und bildet andererseits den komplexen Gegenstand theoretischer Reflexion. Die Sitzung versammelte je drei Referate mit rechtshistorischem bzw. rechtstheoretischem Akzent, wobei insbesondere mit den geistes-geschichtlich angelegten Themen auch eine enge Verschränkung beider Stränge angelegt war. Dies galt einerseits für die beiden ersten Themen, mit denen die Geschichte von Gleichheitskonzepten aus primär privatrechtlicher (Marietta Auer) und primär verfassungsrechtlicher Perspektive (Olivier Jouanjan) seit der französischen Revolution beleuchtet wurde, namentlich auch ihre zeitliche Kontingenz und inhaltliche Entwicklung – hin zur Materialisierung. Das zeichnete dann jedoch auch das primär politologisch-philosophisch ausgerichtete Referat von Muriel Fabre-Magnan im zweiten Teil der Tagung aus. Zeitlich am weitesten zurück reichte der Vortrag von Tilman Repgen, der sich die Geburt des Gleichheitsgedankens in der frühen Moderne, der Menschen wirklich unterscheidungslos erfasst, zum Thema nahm, namentlich seine Entwicklung im Umgang der sog. Schule von Salamanca (der Menschen- und Völkerrechtsbegründer) mit Fragen der Conquista Südamerikas. Anschließend beleuchteten drei Referate die Fortentwicklung eines formalen Gleichheitskonzepts hin zu einem stärker an die tatsächlichen Grundlagen anknüpfenden, d. h. stärker materialisierenden Gleichheitskonzept aus der Perspektive verschiedener Gesellschaftswissenschaften. In diesem zweiten Teil der Tagung traten deutliche Unterschiede hervor. Das politologisch-philosophisch inspirierte Referat von Murial
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Fabre-Magnan ging über die genannte Dichotomie hinaus und sah die Materialisierung stärker zugespitzt, nach dem Zweiten Weltkrieg spezifisch auf die Menschenwürde zugeschnitten, jedenfalls den Gleichheitssatz als absolut konstituierend. Umgekehrt zeigte das rechtsökonomisch ausgerichtete Referat von Andreas Engert deutliche Spannungen zwischen ökonomischem Anreiz- und Effizienzmodell (mit Maximierung von Gesamtwohlfahrt) und Gleichheitssatz auf. Das Referat von Dan Wielsch schließlich führte nicht nur von der persönlichen Ebene von Gleichbehandlungsgeboten auf die Ebene systemischer Diskriminierungsanlagen, sondern weiter auch in die digitale Welt, in welcher der Gleichheitsgedanken möglicherweise mit nochmals weitergehenden Herausforderungen konfrontiert ist. Auf systemtheoretischer Grundlage wurden die Wechselwirkungen zwischen Gleichheitsgedanken in Gesellschaft und Recht theoretisch beleuchtet. Einmal mehr ist der Gesellschaft für Rechtsvergleichung herzlich dafür zu danken, dass sie die Fachgruppensitzung ermöglichte und die Publikation unterstützte, ebenso wie dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Matthias Spitzner, für die umsichtige Betreuung bei der Drucklegung. Berlin/Florenz im Sommer 2021
Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Stefan Grundmann Von formaler zu materialer Gleichheit. Kernlinien historisch und multidisziplinär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Tilman Repgen Die gleiche Menschennatur. Einige Annäherungen an die Gleichheit im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Marietta Auer Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Muriel Fabre-Magnan L’égale dignité des êtres humains. Les fondements philosophiques et méthodologiques du droit privé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Andreas Engert Gleichheit zwischen Effizienz und Verteilung. Rechtsökonomische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Dan Wielsch Gleichheitsdimensionen im Privatrecht. Übersetzungen zwischen Recht, Gesellschaft und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Von formaler zu materialer Gleichheit Kernlinien historisch und multidisziplinär Stefan Grundmann I. Hinführung zu Gleichheit, Geschichte und Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . 1 II. Geschichtliche Etappen der Materialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Rahmen und Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Gleichheit als Mensch – frühe Neuzeit (Repgen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3. Gleichheit vor dem Gesetz – zwei Jahrhunderte Gleichheitskonzept der Gegenwart (Auer, Jouanjan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 III. Materialisierung von Gleichheit und Gesellschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Materialisierung – Annäherung auf dem Wege der Dogmatik . . . . . . . . . . 14 2. Materialisierung – von Gleichheit, von Freiheit (Auer) . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Materialisierung durch Ausweitung unverbrüchlicher allgemeiner Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Theorie und Idee der Gerechtigkeit (Rawls, Sen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 b) Gleiche Menschenwürde („L’égale dignité des êtres humains“, Fabre-Magnan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4. Materialisierung durch Analyse gesellschaftlicher Auswirkungen . . . . . . . 23 a) Soziologisch-systemtheoretische Theorie der Gleichheit – Übergang von der Akteurs- zur Systembetrachtung, namentlich im digitalen Zeitalter (MacKinnon, Wielsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) Ökonomische Theorie der Gleichheit – Gesamtwohlfahrtsverluste durch pauschale Ungleichbehandlung? (Becker, Engert) . . . . . . . . . . . . . 26 IV. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
I. Hinführung zu Gleichheit, Geschichte und Gesellschaftstheorie Gleichheit – der Gleichheitssatz, die Gleichheitssätze – wirken im Recht in mindestens drei Ausprägungen: gleichzeitig als Rechtsnorm (etwa Art. 3 GG, Titel III. [Art. 20–26] EU Grundrechte-Charta) wie auch – entsprechend
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dem Verständnis von Grundrechten – als überwölbendes Rechtsprinzip1 und nicht zuletzt über gut zwei Jahrtausende sogar als ultimative ratio und Ziel selbst des Rechts – wenn man denn mit Aristoteles Gleichheit als die Essenz von Gerechtigkeit sieht.2 Trotz dieser vielschichtig-umfassenden 1 Wohl am prominentesten mit globaler Wirkung für die Unterscheidung zwischen Rechtsnormen („rules“) und Rechtsprinzipien („principles“), beide mit rechtlich bindendem Charakter, die Prinzipien jedoch grundlegender die Werte selbst bestimmend und offener ausgelegt, auch stärker als Wertungen internalisiert und damit Leitprinzipien bei der Rechtsanwendung, doch auch bei der weiteren Rechtsetzung: Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, bes. S. 81–130 et passim; im deutschen Schrifttum früh und vor allem Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956 (4. Aufl. 1990); heute etwa Möllers, ERCL 2018, 101, zu Prinzipien am Beispiel von Privatautonomie und Vertragsfreiheit; zu Grundrechten als Rechtsprinzipien vor allem Prinzipientheorie – als Alternative zum Konzept der praktischen Konkordanz des BVerfG – vgl. (teils als Kritik): Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt 1985, bes. S. 77–87 (auf der Grundlage der Dworkin’schen Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln, Konkretisierung erst in der Kollision und daher allenfalls bedingte Vorrangrelation und prima facie Ergebnisse); Poscher, Theorie eines Phantoms – die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, ReWiss 2010, 349; Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt – Robert Alexys Prinzipientheorie aus der Sicht der Grundrechtsdogmatik, JZ 2008, 756. 2 Zum Konzept des Artistoteles von Gerechtigkeit als Verwirklichung von Gleichheit vgl. näher Röhl, Die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles aus der Sicht sozialpsychologischer Gerechtigkeitsforschung, 1992, S. 11 f. Hier zentral die Nikomachische Ethik, insbes. 1129–1133. Zum Konzept der Gerechtigkeit (und jedenfalls dem Streben nach ihr) als zentraler Zielbestimmung für Recht über Jahrtausende hinweg vgl. Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, 11. Aufl. 2020, § 9 (S. 214–257); exemplarisch zum Gleichheitssatz als Gerechtigkeitssatz auch BVerfGE 3, 58 (135): „Dieser [der Gleichheitssatz, Anm.] bedeutet für den Gesetzgeber die allgemeine Weisung bei steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken‚ Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln“. Bei Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 163 findet sich eine Liste aller Entscheidungen des BVerfG (bis Bd. 48), die sich auf Gerechtigkeit berufen. Am prominentesten nach dem NS-Unrechtsregime und bei seiner Aufarbeitung: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 („Radbruch’sche Formel“) (Recht, das nicht einmal nach Gleichheit strebt, verliert Rechtscharakter). Eher nur von nebensächlicher Bedeutung ist im vorliegenden Kontext die Frage, ob nicht insoweit konsequentialistische Theorien und Zielbestimmungen für Recht seit den 1960er Jahren eine Verschiebung gebracht haben. Zu konsequentialistischen Konzepten von Recht vgl. immer noch lesenswert Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995; sowie Kirchner, Zur konsequentialistischen Interpretationsmethode, Der Beitrag der Rechtswissenschaft zur reziproken methodischen Annäherung von Ökonomik und Rechtswissenschaft, Festschrift für H.-B. Schäfer 2008, S. 37; Mathis, Consequentialism in Law, in Mathis (Hrsg.), Efficiency, Sustainability and Justice to Future Generations, 2011, S. 3 ff. (und auch das ganze Buch).
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Bedeutung von Gleichheit – dem Gleichheitssatz, den Gleichheitssätzen – im und für das Recht und dem gleichsam überwölbenden Charakter des Konzepts bedeuten und bedeuteten Gleichheit und Gleichheitssätze radikal Unterschiedliches zu verschiedenen Zeitpunkten in der geschichtlichen Entwicklung (vgl. nur unten II.) und werden sie auch im Kranz der Disziplinen sehr unterschiedlich gesehen (vgl. paradigmatisch unten III.). Wohl kein anderes allgemeines Rechtskonzept – oder allenfalls noch die Freiheit – hat die Geschichte des Guten und des Richtigen in der Gesellschaft vergleichbar und ähnlich kontrovers bewegt wie Gleichheit und Gleichheitssatz bzw. -sätze. Schon die Brüderlichkeit (Fraternité) – später Solidarité und im 20. Jahrhundert die Social Justice – hat und haben, soweit man die christliche, grundsätzlich nicht verrechtlichte Barmherzigkeit nicht als weitgehend wesensgleiche Vorläuferin verstehen will,3 eine viel jüngere Geschichte. Als gelebtes politisches und rechtliches Postulat wirkt die Solidarité vergleichbar machtvoll erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vollends gar erst im 20. Jahrhundert.4 Gleichheit und Freiheit, als die beiden großen – 3 So die heute wohl ganz überwiegende Sicht, vgl. etwa Habermas, Why The Necessary
Cooperation Does Not Happen: Introduction To A Conversation Between Emmanuel Macron and Sigmar Gabriel on Europe’s Future (3/2017): „Solidarity is not the same thing as charity.“ (erhältlich unter https://www.socialeurope.eu/pulling-cart-mire-renewed-ca se-european-solidarity). 4 Zu Solidarität als gesellschaftliches und als Rechtskonzept, besonders in Frankreich und Deutschland, etwa Bayertz (Hrsg.), Solidarität: Begriff und Problem, 3. Aufl. 2020 (1. Aufl. 1998); Bude, Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee, 2019; Carigiet, Gesellschaftliche Solidarität: Prinzipien, Perspektiven und Weiterentwicklung der sozialen Sicherheit, 2001; Gerhards/Leng feld/Ignácz/Kley/Priem, How strong is European Solidarity? Working Paper No. 37 (2018) FU Institut für Soziologie (Kriterienbildung und empirische Erhebung); Hondrich/Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, 1992; Lahusen/Grasso (Hrsg.), Solidarity in Europe – Citizens’ Responses in Times of Crisis, 2018; Reisz, Solidarität in Deutschland und Frankreich: Eine politische Deutungsanalyse; Politische Vierteljahresschrift 47, 704–705 (2006). Zu Social Justice als gesellschaftliches und als Rechtskonzept bahnbrechend Pound, Social Justice and Legal Justice (Social Justice and Legal Justice (address before the Allegheny County Bar Ass’n at Pittsburg, April 5, 1912), 75 Central Law Journal 455 (1912); und heute etwa: Atkinson, Social Justice and Public Policy, 1983; Damjanovic, The EU market rules as social market rules: why the EU can be a social market economy, CMLR 50 (2013) 1685; Droel, What is Social Justice, 2011; Frederking, Reconstructing Social Justice, 2014; Pérez-Garzón, What is social justice? A new history of its meaning in the transnational legal discourse, (2019) 43 Revista Derecho del Estado 67; und aus der jüngeren EU-Rechtssetzungsagenda namentlich: Communication from the Commission – Europe 2020, COM(2010) 2020 final; Communication from the Commission [on] social enterprises …, COM(2011) 682 final; EU Commission, The European Pillar of Social Rights Action Plan, 12/2020; EU-Richtlinien-Vorschlag zu Mindestlöhnen, COM(2020) 682 endg.; aber auch Art. 3 Abs. 3 EUV
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frühen – Postulate der beiden wegweisenden Menschenrechtsdeklarationen am Beginn der Gegenwart verkündet, stehen zweifelsohne in einem Spannungsverhältnis zueinander und werden daher auch im Folgenden und in vielen der Beiträge punktuell oder breiter zusammengedacht.5 Wenn festgestellt wurde, dass wohl kein anderes allgemeines Rechtskonzept (außer vielleicht die Freiheit) die Geschichte des Guten und des Richtigen in der Gesellschaft vergleichbar bewegt habe wie Gleichheit und Gleichheitssätze, so sei hierfür einerseits auf den Kern zentraler Disziplinen verwiesen, andererseits auf die erschütternde Wahrheit und Rohheit der Geschichte. Bezogen auf die philosophisch-ethische Grundlegung als die eine Kerndisziplin stellt sich die große Frage, wie zwei – aus heutiger Sicht – so fundamental unterschiedliche Standpunkte zusammenkommen konnten: dass einerseits am Anfang der Ethik und Betrachtung von Gerechtigkeit – bei Aristoteles – ein Verständnis von Gerechtigkeit als der Verwirklichung der Gleichheit steht, also das Verständnis, dass sich jede Gerechtigkeit in der Gleichheit der Mitglieder einer Rechte- und Pflichtengemeinschaft zu manifestieren habe (unten II.1.), dass andererseits jedoch in Sklaverei, Entrechtung der Frau und auch jedes Fremden nicht einmal ansatzweise ein ethisches oder Gerechtigkeitsproblem gesehen wurde (unten II.2.). Ähnlich spannungs-, ja konfliktbeladen wie in diesem philosophischen Strang als dem herausragenden Strang zur Normativität des moralisch Guten (jedenfalls in annähernd den ersten beiden Jahrtausenden) stellt sich das Verhältnis zur Gleichheit auch in der Ökonomik dar. Und dies ist immerhin derjenige gesellschaftswissenschaftliche Strang, den viele Beobachter heute als den dominanten in der Betrachtung von Lebenswirklichkeit sehen. Denn nicht Gleichbehandlung, sondern Maximierung der Gesamtwohlfahrt als Effizienzziel wird herkömmlich und (trotz kritischer oder differenzierender Stimmen) überwiegend auch heute als letztgültiger Maßstab gesehen.6 In und Titel IV der EU-Grundrechte Charta („Solidarität“); Gesamtüberblicke (namentlich auch zur zeitlichen Verortung) etwa bei: Mückenberger, Eine europäische Sozialverfassung?, EuR 2014, 369. 5 Wohl am stärksten scheint dieses Spannungsverhältnis auf in den Beiträgen: Auer, Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit, unten S. 67; Engert, Gleichheit zwischen Effizienz und Verteilung – rechtsökonomische Perspektiven, unten S. 101. 6 Für die klassische Ausrichtung von Ökonomik, namentlich von Marktbeziehungen, an der Zielvorgabe Gesamtwohlfahrt (total welfare) und möglichst effizienter Verfolgung derselben, vgl. etwa Kronman/Posner, The Economics of Contract Law, 1979, Einleitung S. 1–2 (oberster Bewertungsmaßstab: „wealth of society“); Posner, Wealth Maximization Revisited, 2(1) Notre Dame Journal of Law, Ethics & Public Policy 85 (1985). Entscheidend
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der Ökonomik wird zwar versucht, beide Ziele als (teils) gleichlaufend zu verstehen. In der letzten Konsequenz wird jedoch ein Vorrang des Gesamtwohlfahrtsziels postuliert (und erscheinen Überlegungen, mit denen ein Gleichlauf beider Ziele dargetan werden soll, zum Teil doch eher „konstruiert“, um eine allzu offene Fundamentaldiskrepanz zu gesellschaftlich stark konsentierten Entwicklungen in Fragen von Gleichheitskonzepten zu vermeiden). Zwei Leitdisziplinen hatten also sehr lange oder haben ihre Schwierigkeiten mit einer Gleichheit, wie sie heute in westlichen rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaften als normatives Leitbild gesehen wird. Fast noch eindringlicher stellen sich die Wahrheit und die Rohheit der Geschichte dar. Fast ist man geneigt zu konstatieren, dass der Fundamentalverstoß gegen Gleichheitsprinzipien über Jahrtausende hinweg geradezu die dunkelsten Seiten der Geschichte kennzeichnet: (i) Sklaverei, später Leibeigenschaft; (ii) mehr oder weniger weitreichende Entrechtung oder „nur“ Benachteiligung eines ganzen Geschlechts, weit verbreitet offen und direkt, in anderen Fällen auch „nur“ subtil-systemisch vermittelt; und (iii) die Bekämpfung bis hin zur Ausrottung des Fremden (von Ausländern bis hin zu anderen Ethnien, bezeichnet als Rassen, häufig verknüpft mit dem Kriterium der anderen Religion). Dies sind drei Eingriffe in den Gedanken der Gleichheit und Gerechtigkeit, die tiefer kaum ausfallen konnten und Jahrhunderte und Jahrtausende der Geschichte prägten, mit weltweiten Kriegen, mit Völkermord und von täglicher Grausamkeit durchzogen. Kaum ein anderes ethisches Postulat war so massenhaftem, systematischem und teils sogar von Überzeugung getragenem Verstoß ausgesetzt wie Gleichheit und Gleichheitssatz. Wohl kein anderes allgemeines Rechtskonzept hat daher – wie gesagt – die Geschichte des Guten und des Richtigen in der Gesellschaft vergleichbar bewegt wie Gleichheit und Gleichheitssatz. Und gleiches gilt für wahre Kerndisziplinen ihrer Betrachtung – vielleicht weniger unmittelbar erschütternd, jedoch nicht weniger wichtig für den wissenschaftlichen, auch rechtswissenschaftlichen Diskurs. ist vor allem, dass Umverteilung als unerheblich für diese Gleichung gesehen wird, etwa: Hirshleifer, Price Theory and Applications, 1976, S. 287; Williamson, Peak-load pricing and optimal capacity under indivisibility constraints, 56 American Economic Review 810, bes. 813 (1966) („society is indifferent to the income redistribution“); ausführlich etwa Gómez-Pomar, European Contract Law and Economic Welfare: A View from Law and Economics, in Grundmann (Hrsg.), Constitutional Values and European Contract Law, 2008, S. 215, bes. 228–236; sowie – besonders pointiert – Kaplow/Shavell, Why the Legal System Is Less Efficient than the Income Tax in Redistributing Income, 23 The Journal of Legal Studies 667 (1994); Diskussion bei Grundmann, in Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory – a Pluralist Approach, 2021, chapter 11.
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Aus diesem Grunde liegt es nahe, sich zentraler Determinanten in der geschichtlichen Entwicklung und in der disziplinären Umschau zu versichern, stark kondensiert und verknappt. Dies ist Ziel des vorliegenden Bandes und der Einführung zu den Kernlinien – historisch und multidisziplinär, weil es unangemessen wäre, das Konzept nur von einer oder auch zwei Disziplinen her zu sehen.7 Dabei ist – trotz der Breite im Kranz der konsultierten Disziplinen, deren Vergleich zudem noch mit einem Vergleich über die historischen Etappen hinweg kombiniert wird – eine Form von Beschränkung unverkennbar: Man kann (auch) für den Gleichheitssatz Gesellschaftstheorie oder Rechtsgeschichte mit der Dogmatik ins Verhältnis setzen und wird dabei konstatieren, wie radikal verschieden die Bruchlinien verlaufen.8 Das ist auch für die Konkretisierung, die Frage nach der Tauglichkeit im praktischen Fall unverzichtbar und wichtig. Vorliegend ist dennoch die Dogmatik recht weitgehend auszublenden und – gleichsam komplementär – eine Skizze zu den Kernentwicklungen über die Jahrtausende – primär einige zentrale Umbruchsmomente – aus der Vogelflugperspektive zu entwerfen, dies kombiniert mit dem, was Gesellschaft insgesamt – im Spiegel ihrer zentralen wissenschaftlichen Disziplinen – von Gleichheit denkt. All dies wird – wie in einem Brennglas – bezogen auf die zentrale Frage: Ist Gleichheit nur formal oder stärker material verbürgt? Dabei wird „materiale“ Gleichheit – in Abgrenzung zu „formaler“ Gleichheit – verstanden als weitergehende tatsächliche Realisierung von Gleichheit (zwischen als gleich Eingeordnetem). Mit einem Abstellen auf dieses Kernkriterium wird dem wohl allgemeinen Verständnis gefolgt,9 namentlich im deutschen Schrifttum, wo diese Unterscheidung besonders intensiv entwickelt wurde.10 Zu meinem Verständnis von einer modernen (pluralistischen) Rechtstheorie, die in einem reichen Kranz von Disziplinen gründet – und aus heuristischen, normativen und ontologischen Gründen in solch einem reichen Kranz von Disziplinen zwingend gründen muss –, ausführlicher Grundmann/Micklitz/Renner, Privatrechtstheorie 2015 (bes. Einleitung), und noch zugespitzter: Grundmann/Micklitz/Renner (vorige Fn., ebenfalls bes. Einleitung); Grundmann, Pluralistische Privatrechtstheorie – Prolegomena zu einer pluralistisch-gesellschaftswissenschaftlichen Rechtstheorie als normatives Desiderat („normativer Pluralismus“), RabelsZ 85 (2022) im Erscheinen. 8 Grundmann, Gleichheit zwischen Dogmatik und Sozialtheorie, Festschrift für Singer 2021, im Erscheinen. Wichtige Erkenntnisse und Passagen zu diesem Spannungsverhältnis aus diesem Beitrag sind im vorliegenden Text unter anderem Vorzeichen integriert. 9 Etwa in diesem Band: Auer, S. 67 (68–71 – mit Kritik); allgemeiner die Nachweise nächste Fn. zu Canaris, Grünberger und Renner. 10 Wirkmächtige Erzählungen bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit – unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 3. Aufl. 2016 (1. Aufl. 1967), S. 586 ff.; Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materia 7
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II. Geschichtliche Etappen der Materialisierung 1. Rahmen und Ausgangspunkt Der kurze Abriss zur Geschichte der Gleichheit kann nach dem Gesagten nur in Form einer Vogelflugperspektive auf ein paar Kernmomente erfolgen – im Buch, und erst recht in der Einführung. Der Fokus liegt dabei jeweils auf der Frage danach, wo Übergänge von einem stärker formalen und zugleich engeren Verständnis von Gleichheit zu konstatieren sind zu einer stärker materialen Verbürgung – oder auch umgekehrt. Die Kernmomente sind aus dieser Perspektive folgende drei. Der erste ist vor allem implizit angesprochen, als Annäherung in der Darstellung zur „gleichen Menschnatur“ (Repgen) und als Basis bzw. Hintergrund in den stark geistesgeschichtlich, teils philosophisch angelegten Beiträgen zu (den letzten) „zwei Jahrhunderten Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit“ (Auer) und zur „Gleichheit in der Menschenwürde“ („Égale dignité des êtres humains“, Fabre-Magnan). Gemeint ist die Entwicklung des ersten wegweisenden Konzepts von Gleichheit bei Aristoteles, das Antike und Mittelalter prägte wie kein Zweites und auch heute noch sehr einflussreich erscheint. Während Aristoteles nämlich Gerechtigkeit – bezogen auf die Person – zwar als eine individuelle Tugend verstand, sah er doch in der Sache das Streben nach Gleichbehandlung und ihrer Verwirklichung als den Kern von Gerechtigkeit und setzte beide – objektiviert und jedenfalls im Grundsatz – einander gleich.11 Dabei prägte bereits er die Formel – für den allgemeinen Gleichheitssatz, bei ihm jedoch ohnehin allgemein formuliert –, dass Gleiches gleich zu behandeln sei, Ungleiches hingegen ungleich. Für Aristoteles liegt dabei der Maßstab für Gleichheit und Ungleichheit im (Maß des) Verdienst(es) um die Gesellschaft (geometrische bzw. proportionale Gleichheit). Im vorliegenden Zusammenhang (Buch wie Einführung) steht die Gleichheits- und Gerechtigkeitslehre Aristoteles aus zwei Gründen nicht im Vordergrund und muss sie mit ihren – wichtigen – weiteren Unlisierung“, AcP 200 (2000) 273; kritisch zu beiden Rückert, in: Historisch-Kritischer Kommentar-BGB, Band 1, 2003, vor § 1: Das BGB und seine Prinzipien, Rn. 93 ff., 105; heute im Kern wie die Erstgenannten: Grünberger, Personale Gleichheit – der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht, 2013, bes. S. 52–57, 106–115; und in diesem Band: Auer, S. 67 (68–71 und 78–81); zum größeren gesellschaftstheoretischen Kontext etwa Renner, in Grundmann/Micklitz/Renner (oben Fn. 7), Kapitel 10; aus philosophisch-soziologischer Sicht prägnante These und Zusammenfassung bei: Habermas, Paradigms of Law, Cardozo Law Review 1995–1996, 771. 11 Hierzu und zum Folgenden vgl. die Nachweise oben Fn. 2 zu Aristoteles und seiner Gleichheits- und Gerechtigkeitsphilosophie.
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terscheidungen nicht weiter vertieft werden. Zum einen hat – wie Repgen aufzeigt – Aristoteles (und allgemeiner: die Antike) zur Gleichheit im Status, die über die jüngsten Jahrhunderte hinweg im Zentrum der politischen und rechtlichen Entwicklung zum Gleichheitssatz stehen sollte, gerade nichts oder wenig beigetragen – namentlich eine Entrechtung von Sklaven, Frauen und auch Fremden als im Einklang mit seinem Gleichheitskonzept gesehen, weil sämtlich im Verdienst ungleich zu Männern der eigenen Polis oder des eigenen Königreichs.12 Zum anderen – und mit dem Ersten zusammenhängend – erscheint bei ihm die Problematik nicht zentral, dass Gleichheitssätze teils nur formal wirken, für die Lebenswirklichkeit also zu konstatieren ist, dass diese hinter einer tatsächlichen Gleichbehandlung zurückbleibt und dass deswegen eine Materialisierung diskutiert werden sollte – namentlich mit möglichen Mitteln zu einer stärkeren auch tatsächlichen Verbürgung von Gleichheit. Letzteres bildet jedoch das Leitthema der vorliegenden Abhandlung und Sammlung (dazu auch noch unter III.1. und 2.). Die wohl wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte des Gleichheitssatzes über Aristoteles hinaus betreffen dann einerseits in der Tat die „personale Gleichheit“ (Grünberger) oder – wohl inhaltsgleich – die „Gleichheit im Status“ (Repgen) und andererseits das Ringen um die Legitimationsquelle für den Gleichheitssatz als Rechtssatz und Grundrecht – nicht nur Tugend- und Moralsatz (wie bei Aristoteles): namentlich die Verortung dieser Wirkung als Rechtssatz in der Natur, namentlich Menschnatur, oder aber im Gesetz. Beide Entwicklungen fallen einerseits in die Zeit der beginnenden Neuzeit (die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, unten 2.) und andererseits in die Zeit der beginnenden Gegenwart, in den Jahren um 1800, die Koselleck plastisch als die Sattelzeit der Menschheitsgeschichte bezeichnete (u. a. mit US‑amerikanischer Unabhängigkeitserklärung und Verfassung und französischer Menschenrechtserklärung)13 (unten 3.). 12 Vgl.
hierzu zentral die Nikomachische Ethik, insbes. 1129–1133; kritisch hierzu etwa MacKinnon, KritV 1994, 363, 364 f. Zu den angesprochenen sonstigen – wichtigen – Unterscheidungen in Aristoteles Gleichheits- und Gerechtigkeitskonzept vgl. Nachweise oben Fn. 2. 13 Die Kernüberlegung geht dahin, dass die drei oder vier Dekaden vor und um 1800 begrifflich (aber auch in den gesellschaftlichen Entwicklungen, namentlich auch der politischen Philosophie) so grundlegende Neuorientierungen sahen, dass sie – und nicht ein einzelner Zeitpunkt – den Eintritt in die Gegenwart markierten: vgl. Koselleck, Einleitung, in Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 1972 ff., Bd. 1, S. XIII–XXIII; Koselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, 1979; dazu etwa G. Motzkin, On the notion of historical (dis)continuity: Reinhart Kosellecks construction of the Sattelzeit,
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2. Gleichheit als Mensch – frühe Neuzeit (Repgen) Dramatischer könnte die Gleichheits- und nach heutiger Sicht auch Gerechtigkeitslücke beim Vater von Ethik, Gerechtigkeits- und Gleichheitsdenken, Aristoteles, nach dem Gesagten kaum ausfallen – als bei der personalen Gleichheit, der Gleichheit im Status oder (wohl am präzisesten) der Gleichheit aufgrund Menschseins. Das Postulat, dass Menschen auch im personalen Status – kraft ihres Menschseins – gleich zu behandeln seien, hat nämlich eine gänzlich andere, viel jüngere Wurzel und Geschichte als Aristoteles’ Ethik – und hier geht der Anfang der Neuzeit um Lichtjahre über selbst die aufgeklärteste attisch-hellenische Ethik und Philosophie hinaus: Während schon im Urchristentum, bei Paulus, Anlagen zur Gleichbehandlung auch im Status zu finden sind (Gleichbehandlung und „Bruderschaft“ im Glauben, noch nicht im staatsbürgerlichen und zivilen Leben), wird Gleichheit im personalen Status – gegründet in dem von allen geteilten Charakter als Mensch, dem Menschsein – erstmals als politisches und als Rechtspostulat wirklich begründet und verfochten in der Schule von Salamanca, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Gegründet ist das Postulat hier dann in einem christlich motivierten menschbezogenen Gleichheitsbild, entwickelt vor allem in den Predigten und Schriften von Antón Montesino und Francisco de Vitoria.14 Dies ist eine vielleicht überraschende, jedoch sehr weitgehend ausgebildete Frühform und damit letztlich sogar die Grundlage des modernen Antidiskriminierungsrechts. Als Gegenstand zielt die Argumentationslinie im konkreten Falle primär auf die Fremdheit, Ausländereigenschaft oder Ethnie (in der Geschichte allzu häufig als Rasse [fehl-]definiert). Sie ließe sich freilich unschwer auf Geschlecht und – natürlich – auf Leibeigenschaft und Sklaverei übertragen. Im Falle der süd- und mittelamerikanischen Bevölkerung kommen Letztere de facto im gelebten sog. Encomienda-System ohnehin hinzu (trotz gegenteiliger zugrundeliegender Rhetorik). So offensichtlich diese Entwicklung im Rückblick im modernen Antidiskriminierungsrecht mündet – und nicht erst im Naturrecht und AufContributions to the History of Concepts 145 (2005). Jedenfalls in der Frage des Wirkgrundes des Gleichheitssatzes kann solch eine fundamentale Neubewertung in der Tat konstatiert werden (unten 3.). 14 Vgl. grundlegend Repgen, Die gleiche Menschnatur – einige Annäherungen an die Gleichheit im Recht, unten S. 31 (mit scharfer Gegenüberstellung einerseits der christlich inspirierten Argumentationslinien aus der Gottgleichheit aller Menschen, auch ihrer Entwicklung hin zu einer Rechtsnorm, und andererseits derjenigen – etwa im usus modernus –, die antik inspiriert blieben); Kernidee ist, dass die „Person [nicht mehr] zur bloßen Sache erniedrigt“ wird; primär ideengeschichtlich Siedentop, Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, 2015.
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klärungsgedankengut ihren Anfang nimmt, wie Repgen herausarbeitet –, so wichtig sind doch auch zentrale Unterschiede zum modernen Verständnis einer Gleichheit im Status. Dabei erscheint es weniger wichtig, dass die Legitimationsgrundlage biblisch ist – die Gottgleichheit des Menschen, aller Menschen –, denn – wie Repgen ebenfalls herausarbeitet – aus dieser Überlegung wird ein Rechtssatz und zwar einer, der auch rechtlich sanktioniert wird. Diskriminierung indigener Urbevölkerung (vor allem Enteignung, Entrechtung und Versklavung) wird als Todsünde und weltliches Unrecht verstanden, und – weil Todsünde nach der spätscholastischen Restitutionslehre nur durch tätige Reue getilgt werden kann – erwachsen aus dem Verstoß in der Rechtsfolge auch rechtliche Restitutionspflichten und ‑ansprüche hinsichtlich der Güter, die ursprünglich in indigenem Eigentum standen. So wichtig diese Konstruktion, so hat sie doch eine zentrale Beschränkung – als m. E. besonders wichtigen Unterschied gerade aus Sicht des 20. Jahrhunderts: Diese Beschränkung ergibt sich daraus, dass in dieser Argumentationslinie die Menschnatur der indigenen Bevölkerung positiv bewiesen werden musste, namentlich damit, dass die fragliche Kreatur nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen sei, also die Person Gesellschaft schaffen und ihre Umwelt sinnvoll gestalten können müsse (was in den südamerikanischen Reichen wie dem der Azteken oder der Inkas offensichtlich der Fall war). Und dahin gingen Argumentations- und Beweisansatz in den Predigten und Schriften von Antón Montesino und Francisco de Vitoria. Folglich ist in diesem Konzept die Menschnatur nicht allein durch die menschliche Abstammung dargelegt (das Konzept war auch ohne diesen noch weiteren Schritt schon revolutionär genug und wurde ja auch nur auf einen besonders krassen Fall angewandt – noch mehr wäre wohl kaum denkbar gewesen). Ein Punkt ist immerhin noch wichtig: Christlicher Glaube wurde gerade nicht gefordert, d. h. nicht als konstituierend für das Menschsein postuliert. Während mit diesem Argumentationsansatz jüdisches Leben in der NS-Zeit durchaus und offensichtlich als diskriminierungsresistent hätte verstanden werden können (also unschwer unter Montesinos und de Vitorias Verdikt zu fassen), wäre das bei sog. lebensunwerten (menschlichen) Leben, das ebenfalls massenweise ausgelöscht wurde, nicht so selbstverständlich gewesen. Zudem wäre bei weniger offensichtlicher vollständiger Entrechtung – etwa im Verhältnis der Geschlechter zueinander – nicht notwendig dahin argumentiert worden, dass hier eine Kreatur nicht gemäß ihrem Wesen – geschaffen nach dem Ebenbilde Gottes – als „gleich“ behandelt werde. Insoweit geht das moderne Antidiskriminierungsrecht – in der universellen Annahme des Menschseins als Grundlage der Gleichheit im Status, aber wohl auch in der
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Schwelle, ab der Diskriminierung sanktioniert wird – noch über die – wahrhaft bahnbrechenden – Überlegungen eines Montesino und eines de Vitoria signifikant hinaus. Dies gilt vor allem für die konzeptionelle Grundlegung, namentlich die Gründung allein in der menschlichen Abstammung, die wohl erst seit Rousseau schon als solche das Anrecht auf Gleichbehandlung verbürgt.15 Auch wurde der Gedanke, dass mit diesem Argumentationsansatz auch eine Diskriminierung zwischen den Geschlechtern inkompatibel erscheint, über Jahrhunderte nicht aufgegriffen. Die Frage, inwieweit in dieser Entwicklung auch eine Tendenz zur Materialisierung des Gleichheitssatzes zu sehen ist, wird noch aufzugreifen sein – sie erscheint in der Tat in jüngerer Zeit heftig umstritten (unten III.2.). 3. Gleichheit vor dem Gesetz – zwei Jahrhunderte Gleichheitskonzept der Gegenwart (Auer, Jouanjan) So wichtig und bahnbrechend in der Konzeptbildung die Schule von Salamanca und die Frage nach der Behandlung der indigenen Urbevölkerung Süd- und Mittelamerikas waren, so sehr handelt es sich doch nur noch um vereinzelte Aufrufe. Die Massen erfasst das Postulat der Gleichheit im Status – und zwar als Rechtlich-Politisches – erst zweieinhalb Jahrhunderte später. Erst mit den Menschenrechtsdeklarationen in der US-amerikanischen Verfassung von 1786 und vor allem – besonders klar und unbedingt – in der französischen Menschenrechtsdeklaration von 1789 wird es breit zum gelebten Postulat einer neuen Zeit, also (in der Sattelzeit) am Beginn der Gegenwart. Der Entwicklung von zwei Jahrhunderten seit diesem – auch rechtlich breit gelebten und durchgesetzten – Auftakt waren zwei weitere historische Referate gewidmet, eines stärker aus verfassungsrechtlicher, das andere aus privatrechtlicher und stark geistesgeschichtlich-philosophischer Sicht.
Rousseau stellt dem Naturzustand denjenigen Vergesellschaftung gegenüber – die natürliche Gleichheit des Menschen ist keine rechtliche Kategorie, da das Recht erst mit der Vergesellschaftung eine Rolle spielt, sondern vielmehr symmetrische Unabhängigkeit, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755; schließlich kann die rechtliche Gleichheit, die durch Gesellschaftsvertrag zu begründen ist, auch die natürliche geistige und physische Ungleichheit zwischen Menschen beheben, Du Contrat Social, 1762 (insbes. Kapitel IX). Die zeitliche Nähe der wirkmächtigen Texte legt einen Einfluss auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nahe, die noch heute formell Teil der französischen Verfassung ist und deren erster Artikel lautet: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Les distinctions sociales ne peuvent être fondées que sur l’utilité commune.“ – dazu sogleich noch im Text. 15
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Jouanjan fokussierte – nach eigenen Aussagen – seinen Beitrag allein auf den staatsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatz.16 Dessen Formulierung erscheint freilich in den für Jouanjan maßgeblichen Rechtsakten zentral von dem Anliegen getrieben, gerade die Gleichheit im Status zu verbürgen (herkömmlich mit dem Schwerpunkt bei den sog. besonderen Gleichheitssätzen). Insofern betreffen die Überlegungen doch allgemeinen Gleichheitssatz und besondere Gleichheitssätze gleichermaßen. Im Kern der Erörterungen stand der Übergang von einem Konzept, in dem der Gleichheitssatz aus der Menschnatur abgeleitet wurde, zu einem, in dem die Gleichheit vor dem Gesetz und die Verleihung durch das Gesetz im Vordergrund steht. Während bei Montesino und de Vitoria das Wort der Bibel die letztverbindliche Legitimationsgrundlage bildete, blieb – auch ohne diese religiöse Grundlegung – im Ansatz von Aufklärung und Naturrecht doch die Schaffung als Mensch zentral. Dies gilt bis hin zu den Menschenrechtsdeklarationen in den USA und in Frankreich, besonders klar Art. 1 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom August 1789, nach dem die Menschen frei und gleich geboren werden und bleiben („Les hommes naissent et demeurent libres et égaux“; in der Einzelaufzählung Art. 2 wohl nur aufgrund redaktioneller Missverständnisse nicht nochmals aufgeführt). Die Kreation als Mensch – hier nun offenbar unabhängig von einem Test, ob er fähig ist zur Selbstgestaltung von Gesellschaft und sozialen Strukturen – bildet schon für sich genommen den maßgeblichen Legitimationsgrund.17 Schon in den unmittelbaren Nachfolgerechtsakten sieht Jouanjan den Umbruch hin zu einem Verständnis, nach dem das Gesetz – auch der Verfassungsrechtsakt – Gleichheitsrechte, Gleichheit also „vor dem Gesetz“, nicht kraft Natur, einräume. Dies sei so in den Verfassungen in den deutschen Ländern 16 Der schriftliche Beitrag blieb leider aus. In seinem Schrifttum zum Gleichheitssatz vor allem: Jouanjan, Zur Geschichte und Aktualität des Gleichheitssatzes in Frankreich, Europäische Grundrechte Zeitschrift 2002, 314; ders., Gleichheitssatz und Nicht-Diskriminierung in Frankreich, in: Wolfrum (Hg.), Gleichheit und Nicht-Diskriminierung im nationalen und internationalen Menschenrechtsschutz, 2003, S. 59; ders., Logiques de l’égalité, in: Conseil constitutionnel (Hg.), Titre VII, n° 4, 2020; ders., Conclusions, in: Courvoisier/Charlot (Hg.), Actualité politique et juridique de l’égalité, Editions universitaires de Dijon, 2003, S. 245. 17 Das Prinzip der natürlichen Gleichheit durch Geburt findet sich auch in Section 1 der Virginia Declaration of Rights von 1776: „That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.“
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(1814–1820), und in der Paulskirchen-Verfassung (1848) erschienen die Gehalte des Gleichheitssatzes – ähnlich „gesetzt“ – als historisch gegründete Rechte. Es folgten gar Verfassungen – der dritten französischen Republik ebenso wie auch der Weimarer Republik – ohne Grundrechtsverbürgungen oder mit Grundrechtsverbürgungen, die vielfach als bloße Programmsätze verstanden wurden; zu Unrecht wie man heute meint. Soweit darin zeit genössisch eine sukzessive Abschwächung zu sehen ist – sicherlich im Pathos der Legitimation –, zuerst der Verweis auf den staatlichen (Verfassungs-) Gesetzgeber, dann gar ohne zwingende Bindung des Gesetzgebers, widerspricht dies jedenfalls jeglichem Narrativ, das eine in der Gesellschaft kontinuierlich zunehmende Durchsetzung des Gleichheitssatzes, insbesondere auch der Gleichheit im Status, über die Jahrhunderte annehmen wollte. Da es in dieser Entwicklung um die vorgesetzliche Natur bzw. um die Bindungskraft des Gleichheitssatzes gegenüber dem Gesetzgeber geht, betrifft diese Entwicklung nur indirekt auch die Frage danach, ob und wann sich denn der Gleichheitssatz (oder die Gleichheitssätze) von einer stärker formalen zu einer stärker materialen Ausgestaltung fortentwickelt hat (habe) und aus welchem Grunde. Diese Frage steht demgegenüber ganz im Fokus des Beitrages von Auer, der zwar ebenfalls historisch angelegt ist, jedoch aufgrund seiner konzeptionellen Ausrichtung – rechtstheoretisch-ideengeschichtlich – noch schlüssiger als Ausgangspunkt der Überlegungen zur Gesellschaftstheorie des Gleichheitssatzes zu erörtern ist (unten III.).
III. Materialisierung von Gleichheit und Gesellschaftstheorie Die skizzierten Entwicklungen mit der Herausbildung der Gleichheit im Status aus einer zunächst christlichen Werteordnung, aber schon dort als Rechtssatz und Rechtsprinzip verstanden, dann der allgemeineren Verankerung im Menschsein – philosophisch-naturrechtlich konzipiert – und zuletzt als positives, „gesetztes“ Recht verstanden, sind in einem zweiten Schritt mit der Gesellschaftstheorie und mit ihrem breiten Kranz an Disziplinen zu vergleichen – Letzterer gleichsam als Ausdruck einer politischen und gesellschaftlichen volonté générale. Dabei ist an dieser Stelle vorab ein kurzer Seitenblick auf dogmatische Grundstrukturen zu werfen, die den Blick schärfen (unten 1.), bevor nacheinander über das Konzept der Materialisierung zu diskutieren sein wird (unten 2.) sowie inhaltlich über Beiträge aus politischer Philosophie und Verfassungstheorie (unten 3.), Soziologie/Systemtheorie und Ökonomik (unten 4.) (teils selbst wiederum mit ideengeschichtlichem Hintergrund).
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1. Materialisierung – Annäherung auf dem Wege der Dogmatik Dies ist kein Beitrag (oder Buch) der Privatrechtsvergleichung zum Gleichheitssatz oder den Gleichheitssätzen.18 Dogmatische Entwicklungen – paradigmatisch die deutsche Privatrechtrechtsdogmatik auf der Grundlage der europäisierten Privatrechtsdogmatik (namentlich zu den besonderen Gleichheitssätzen) – können freilich wichtige Fragestellungen aufzeigen, gerade für die breite Umschau in der Gesellschaftstheorie und den wichtigsten Disziplinen hierzu. In der deutschen Privatrechtsdogmatik werden allgemeiner Gleichheitssatz und besondere Gleichheitssätze wohl von den meisten Autoren als ein Rechtsprinzip mit einheitlichem Urgrund verstanden.19 Dafür spricht schon die Begrifflichkeit (epistemologisch), weil in der Rechtsterminologie mit dem Terminus „besonders“ regelmäßig diejenigen Normen und Prinzipien umschrieben werden, die nur (Einzel-)Ausprägungen der allgemeineren Norm bzw. des allgemeineren Prinzips bilden. Dafür spricht auch – systematisch – die Einstellung in eine einzige Norm im ranghöchsten Rechtsakt (Art. 3 GG).20 Privatrechtsdogmatisch entspricht dieser Sicht auch, dass grundsätzlich der gleiche Prüfungsaufbau gewählt wird und erst in Einzelpunkten des Tatbestandes unterschieden wird, freilich teils signifikant,21 und vor allem, dass grundsätzlich von derselben Handlungsperspektive ausgegangen wird: einem durchweg individualistischen Handlungskonzept, das Normfolgen, etwa Sanktionen, als Folge individuellen Handlungsunrechts versteht.22 18 Vgl. – parallel zum vorliegenden Werk – Gebauer/Huber (Hrsg.), Freiheit und Gleichheit im Privatrecht (im Erscheinen). 19 Ausführlicher Grundmann, Gleichheit zwischen Dogmatik und Sozialtheorie, Festschrift für Singer 2021, im Erscheinen. Wichtige Erkenntnisse und Passagen aus diesem Beitrag sind im vorliegenden Text vor allem unter III. integriert. Ähnlich auch etwa so unterschiedliche Autoren wie Auer, Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit, unten S. 67; und Grünberger, Personale Gleichheit (oben Fn. 10), bes. S. 52–57, 774–791; vgl. außerdem Narrative vom gemeinsamen Urgrund der Gleichheitssätze etwa in Nußberger, in Sachs (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 1 ff. 20 Dazu, dass Art. 3 Abs. 2 GG nach überwiegender Ansicht bei Einfügung dieses (damals rechtspolitisch höchst umstrittenen) Absatzes nur als besondere Ausprägung des Art. 3 Abs. 1 GG (lex specialis zu diesem) gesehen wurde: Langenfeld, in Maunz/Düring (Begr.), Grundgesetz – Kommentar, 93. EL. Oktober 2020, Art. 3 Abs. 2 Rn. 14. 21 Auflistung und kurze Erörterung der wichtigsten Unterschiede bei Grundmann, Gleichheit zwischen Dogmatik und Sozialtheorie, Festschrift für Singer 2021, im Erscheinen. 22 Näher und mit weiteren Nachweisen Grundmann (vorige Fn.), im Erscheinen; dies ist auch der Ansatz jeder verhaltenssteuernden Interpretation des Rechts, dazu umfassend Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität, 2017, insbesondere S. 210 ff.; zuletzt auch
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Die Umschau in den verschiedenen Disziplinen legt dann nahe, dass die signifikanten Unterschiede in den Einzeltatbestandsmerkmalen möglicherweise praktisch und theoretisch viel wichtiger sind als dies das einheitliche Prüfungsschema suggeriert, Grundlagenunterschiede und sogar die entscheidenden Bruchlinien also hinter dem Einheitsbild zu verwischen drohen. Schon der Blick auf die (wenigen angesprochenen Kernmomente der) geschichtliche(n) Entwicklung belegt, wie sehr die Rechtspraxis über Jahrtausende – im Mehrheitsdenken, vor allem jedoch in der gelebten (Un-) Rechtspraxis – solch einer Einheitssicht fundamental widersprach – und im usus modernus explizit auch die Rechtswissenschaft, etwa in dem führenden Handbuch von Struve von 1670 (Jurisprudentia Romano-Germanica Forensis). Auch in der Ökonomik als derjenigen Nachbarwissenschaft, die die Privatrechtsauslegung und -fortbildung stark beeinflusst, in den USA wohl sogar dominiert, wird man – theoretisch und bei Methodenehrlichkeit – auch heute wohl nicht behaupten können, dass sich die besonderen Gleichheitssätze vergleichbar schlüssig begründen lassen wie durchaus der allgemeine Gleichheitssatz. Für die vorliegenden Überlegungen, in denen diese zweitgenannte Überlegung noch bei der Erörterung des Kranzes der Disziplinen aufgenommen wird (unten 4. unter b)), kann die Frage noch weiter zugespitzt werden – namentlich auf die Frage nach der formalen oder hingegen einer stärker materialen Konzeption der Gleichheit und der Gleichheitssätze. Bedeutet es insbesondere nicht doch eine deutliche Steigerung tatsächlicher Gleichheitsverbürgung, wenn (möglicherweise auch nur für die Antidiskriminierungsregeln) nicht mehr von einem individualistischen Handlungskonzept ausgegangen wird, sondern auf systemische Strukturen abgehoben wird und diese als Objekt von Regulierung gesehen werden – so, wie das ja im Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit seinem Denken in Marktstrukturen und allgemeiner bei wirtschaftsrechtlicher Regulierung selbstverständlich ist und seit vielen Jahrzehnten gesehen wird? Besonders deutlich wird dies anhand eines der bekanntesten Fälle aus der EuGH-Rechtsprechung zum Antidiskriminierungsrecht (hier wegen Ausländereigenschaft oder Ethnie), dem Fall Feryn. In diesem Fall stellte sich die Frage, ob eine auf Sicherheitsanlagen spezialisierte Aktiengesellschaft (Feryn NV ) selbst bereits diskriminierend handelte, wenn ihre Kunden eine Heranziehung von Personal bestimmter Ethnien beim Einbau von Sicherheitstüren ablehnten und ihr Vorstand in einem Interview dazu stand, dass dieser Kundenwunsch ihr Latzel, Verhaltenssteuerung, Recht und Privatautonomie, 2020, S. 49 ff., mit starkem Bezug zur Privatautonomie S. 283 ff.
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Handeln beeinflusst habe, namentlich die Aktiengesellschaft solches Personal beim Einbau von Sicherheitstüren tatsächlich nicht eingesetzt habe („gar nicht habe können“).23 2. Materialisierung – von Gleichheit, von Freiheit (Auer) Die rechtsgeschichtliche Entwicklung, die mit dem Stichwort einer „Gleichheit als Mensch“ angesprochen wurde (oben II. unter 2.), verweist zugleich auf eine allgemeinere Problematik, die in der Unterscheidung zwischen formaler Gleichheit – formaler Durchsetzung des oder der Gleichheitssätze – und Materialisierung des oder der Gleichheitssätze gesehen werden kann. Diese greift Auer auf.24 Sie geht einerseits davon aus, dass allein das Postulat der Freiheit – im Privatrecht der Privatautonomie – unbedingt und nicht zeitlich kontingent verstanden werden könne (und daher im Privatrecht als vorrangig zu sehen sei),25 das der Gleichheit hingegen stets zeitlich kontingent und ausfüllungsbedürftig zu denken sei – denn das Kriterium, nach dem Konstellationen für gleich oder ungleich erklärt werden, das distinktive oder aber inkriminierte Kriterium, muss/müsse stets gesellschaftlich, politisch, rechtlich (Gesetzgeber oder Richter) durch positive Setzung festgelegt werden. In der Binnenstruktur geht sie andererseits – hiermit zusammenhängend und vorliegend noch wichtiger – auch davon aus, dass das Konzept einer Materialisierung des Grundrechts oder überwölbenden Prinzips deswegen zwar für die Freiheit stimmig sei, auch für sie – namentlich die Privatautonomie – entwickelt wurde,26 jedoch eine Übertragung auf das Grundrecht oder überwölbende Prinzip der Gleichheit – des oder der Gleichheitssätze – 23 EuGH Centrum voor gelijkheid v Firma Feryn NV, Rs. C-54/07, Slg. 2008 I-5187; dazu
schöne Besprechung bei Renner, in Grundmann/Micklitz/Renner (oben Fn. 7), Kapitel 14. 24 Auer, Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit, unten S. 67. 25 Letzteres vorliegend nicht so zentral, zu dieser – durchaus klassischen – Sicht vgl. etwa grundlegend Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, Festschrift Deutscher Juristentag 1960, S. 135 (141 ff.); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2: Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 1 ff.; Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts, 1967, S. 123 (126–131); und in diesem Band Auer, unten S. 67 (71–75). 26 Dazu grundlegend Canaris (oben Fn. 10), AcP 200 (2000) 273; dann etwa Tamm, Verbraucherschutzrecht – Europäisierung und Materialisierung des deutschen Zivilrechts und die Herausbildung eines Verbraucherschutzprinzips, 2011; Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – was bleibt von der Privatautonomie?, in Blaurock/Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 2010, S. 3.
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problematisch sei. Insoweit wirkten sich die genannten wesentlichen Strukturunterschiede zwischen Freiheit und Gleichheit aus. Sie sieht denn auch die Diskriminierungsverbote – die besonderen Gleichheitssätze – nicht als Beispiele einer Materialisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes, sondern als (erstmalige) flächendeckende Durchsetzung formaler Gleichheit auch im Status.27 Sieht sie in der zunehmenden Verankerung und Durchsetzung von Diskriminierungsverboten schon keinen Fall einer Materialisierung des Gleichheitssatzes, so überrascht es wenig, dass sie auch allgemein – für den allgemeinen Gleichheitssatz – solch eine Tendenz verneint und sich damit diametral der These Grünbergers entgegenstellt, der nicht nur im Vordringen der besonderen Gleichheitssätze solch eine Tendenz erkennt, sondern auch für den allgemeinen Gleichheitssatz daraus einen wahren Paradigmenwechsel ableitet (nochmals nachträglich verstärkt durch den Stadionverbots-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts):28 Jede Ungleichbehandlung unterliege einem Rechtfertigungszwang, und sachliche Gründe seien zudem grundsätzlich – und je nach Betroffenheit der Öffentlichkeit in steigendem Maße – am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen. Noch zentraler für die vorliegende Sammlung ist Auers These. Erscheint es im Ausgangspunkt auch logisch, dass mit Gleichstellung im Status zuerst einmal nur formal Gleichstellung vor dem Gesetz erreicht werde, so erscheinen doch, wenn man zusätzlich die Überlegung fortdenkt, dass das distinktive oder aber inkriminierte Kriterium stets gesellschaftlich, politisch, rechtlich durch positive Setzung bestimmt werden müsse, durchaus auch zwei Sichten denkbar. Sieht man als distinktives Merkmal für das Menschsein und damit für den Gleichheitsschutz – mit de Vitoria – die Fähigkeit des Menschen, Gesellschaft selbstbestimmt zu gestalten, so wird damit ja durchaus direkt auf das Wesensmerkmal abgestellt, das (etwa in puncto Intelligenz) Menschen von einer hochentwickelten nichtmenschlichen Spezies abhebt. Es gibt jedoch Menschen, die weniger klug sind als andere oder gar als Schimpansen. In solch einem Fall ist es m. E. eher Wertungsfrage als Frage der Logik, ob Auer, in diesem Band unten S. 67; dezidiert anders Grünberger, Personale Gleichheit (oben Fn. 10), bes. S. 52–57, 536–559 et passim. 28 Ausführlich einerseits Auer, in diesem Band unten S. 67 (78–81); und andererseits Grünberger, Personale Gleichheit (oben Fn. 10), bes. S. 52–57 (allerdings nur „ein Anspruch auf Begründung der Ungleichbehandlung“), 870–1037 et passim. BVerfG NJW 2018, 1667 (Stadionverbot); zu der hiermit wieder stärker in den Mittelpunkt gerückten Diskussion um eine (zumindest situativ) unmittelbare Drittwirkung: etwa Hellgardt, Wer hat Angst vor der unmittelbaren Drittwirkung? Die Konsequenzen der Stadionverbot-Entscheidung des BVerfG für die deutsche Grundrechtsdogmatik, JZ 2018, 901; Michl, Situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure – zugleich Besprechung von BVerfG, Beschluss vom 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, JZ 2018, 910. 27
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man in dem nächsten – zunächst naturrechtlich begründeten – Schritt, allein auf die Abstammung von Menschen abzustellen, eine Vervollständigung der formalen Gleichheit im Status sieht („jegliches Menschsein als solches“), oder nicht doch eher eine tatsächliche Verstärkung der Durchsetzung. Diese würde dann darin liegen, Gleichbehandlung im Menschsein auch dann zuzusagen, wenn im konkreten Falle die Intelligenzausstattung von der eines Schimpansen nicht abweichen mag – u. a. auch, weil mit solch einem Test/ Kriterium Missbrauch betrieben und Gleichbehandlung immer wieder auch willkürlich verweigert werden könnte, oder, weil man die menschliche Gruppe als soziale Ganzheit sieht und Abkömmlinge daraus nicht ausklammern will. M. E. ist bei der Analyse, ob von einer Materialisierung der Rechtsverbürgung zu sprechen sei, eine gesellschaftliche Sicht von Gewicht, weil Recht und gerade auch der Gleichheitssatz stark gesellschaftsbezogen sind. Und dass diese Diskussion auch heute nicht irrelevant ist, zeigt sich etwa an kontroversen Fragestellungen – in der Ökonomik – dahingehend, welche normativen Auswirkungen es habe, wenn Tests zu Intelligenzquotienten bei verschiedenen Ethnien Unterschiede ergeben.29 Weitere Materialisierung – funktional: als bessere Durchsetzungschance in der kontingenten Lebenswirklichkeit – geht dann mit – gedacht – formaler Gleichbehandlung einher. Sie stellen nichts anderes als zwei Seiten derselben Medaille dar – die eine ein Axiom verwirklichend, nach dem alle als Menschen zu denken sind, oder die andere – funktional – Lebenswirklichkeit in den Fokus nehmend. Und für die zweite Sicht spricht (jedenfalls gleichberechtigt neben der Ersten) der Umstand, dass das Kriterium der Gleichheit oder Ungleichheit Ergebnis einer Setzung ist – sei es durch naturrechtliches Postulat oder (wie heute wohl im Grundsatz einhellig gesehen) durch Rechtsbefehl, sei er auch verfassungsrechtlicher Art und ggf. gar mit der Ewigkeitsverbürgung eines Art. 79 Abs. 3 GG und mit sog. Abwägungsresistenz ausgestattet, wie das teils bei den Diskriminierungsverboten angenommen wird (als Teil der Menschwürde).30 Jedenfalls wird mit der Immunisierung gegenüber jeglichem Gegeneinwand (etwa durch Abstellen auf statistisch höhere Krankheitskosten bei einem Geschlecht, sicherlich als solches ein sachlicher Grund)31 auch die faktische Durchsetzung des Gleichheitspostulats erhöht. 29 Sehr
kontrovers in dieser Hinsicht etwa Lynn/Vanhanen, IQ and the Wealth of Nations, 2002; schon zur Methodik vorsichtig Ram, Economics Letters 94 (2007), 7 (11). 30 Siehe hierzu etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 93. EL Oktober 2020, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 49: „So ist jede Diskriminierung aus Gründen der Rasse eine Würdeverletzung, ohne dass es auf die Schwere der Folgen ankommt.“. 31 So etwa im Falle EuGH Urt. v. 1. 3. 2011 – Rs. C-236/09 Association Belge des Consommateurs Test-Achats ASBL, ECLI:EU:C:2011:100.
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Es mag ähnlich diskutabel sein, wenn Grünberger auch beim allgemeinen Gleichheitssatz im Privatrecht annimmt, Materialisierung sei stets anzunehmen, also jeder Vertragsschluss unter Anlegung eines gleichheitswidrigen Kriteriums sei rechtfertigungsbedürftig (sollte dies tatsächlich für die Wahl eines präferierten Geschlechts beim Eheschluss ebenfalls gelten?), wie es diskutabel sein mag, wenn Auer jegliche Entwicklung im Antidiskriminierungsrecht (im „besonderen“ Gleichheitssatz) als bloße (Rest-)Durchsetzung einer formalen Gleichheit im Status sieht. Für das Folgende mag es weniger voraussetzungsreich sein, wenn man das Konzept einer „Materialisierung“ dahingehend zuspitzt, dass diejenigen Fälle ihren Kern bilden sollen, in denen die Berufung auf ein Gleichheitskriterium signifikant tatsächlich erleichtert und befördert wird, in denen ein Differenzierungskriterium gegen den Einwand einer sachlichen Rechtfertigung immunisiert wird – etwa dagegen, dass Diskriminierung im Konkreten damit gerechtfertigt wird, sie sei sachlich begründet und Ausdruck einer effizienten Risiko- und Kostenallokation (vgl. dagegen etwa oben EuGH in Sachen Test Achats). 3. Materialisierung durch Ausweitung unverbrüchlicher allgemeiner Gleichheitsrechte Sieht man in der weiterreichenden tatsächlichen Verbürgung von Gleichheit in der jeweiligen Rechtsposition eine Tendenz zur Materialisierung, so sind zentrale Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg in der Verfassungsrechtsentwicklung und in der politischen Philosophie durchaus auch als Beispiele solch einer Materialisierung zu verstehen. Entsprechend der Anlage dieses Werkes, in dem historische Entwicklung und vergleichende Gesellschaftstheorie im Vordergrund stehen, sei von zwei der wichtigsten Werke der politischen Philosophie seit dem Zweiten Weltkrieg – jedenfalls global wohl sogar den am breitesten Diskutierten – ausgegangen. a) Theorie und Idee der Gerechtigkeit (Rawls, Sen) In der politischen Philosophie stechen für inhaltsfokussierte Ansätze zu gerechter Ordnung im 20. und 21. Jahrhundert die Theory of Justice von John Rawls32 und die – schon vom Titel her darauf antwortende – Idea of Justice eines Amartya Sen heraus. Sieht man (wie viele Autoren) den oder 32 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 1971, bes. chapter III (The Original Position); Kontextualisierung, Entwicklung und Einführung bei Grundmann, in Grundmann/Micklitz/ Renner (oben Fn. 7), Kapitel 6.
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einen zentralen Fortschritt in der Theory of Justice – über den Kant’schen kategorischen Imperativ hinaus – darin, dass ein Mechanismus erdacht wird, der unvoreingenommene Entscheidung durch alle rationalen und wohlwollenden Entscheider (hypothetisch) möglich macht, so erscheint der Bezug zur Gleichheit offensichtlich. Der berühmte Schleier der Unwissenheit – der ja nicht Unwissenheit von der Gesellschaft und ihren Mechanismen als solcher verbürgen soll, sondern Unwissenheit vom Status, den man selbst in der Gesellschaft innehat – dient dem großen Ziel, Gleichheit verlässlicher durchzusetzen. Alle sollen – in voller Rationalität, doch unter gesicherter Ausblendung des Eigennutzes – an der Entscheidung über Gesellschaft teilhaben, die Grundentscheidungen über die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit werden sogar nach Rawls’ Konzept einstimmig getroffen. Solchermaßen wird wieder – offensichtlich – der allgemeine Gleichheitssatz von den Besonderen geschieden. Denn der Schleier der Unwissenheit wird natürlich vor allem – oder sogar ausschließlich – für Letztere gespannt. Zentral sind im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht nur diese prozeduralen Aspekte, mit denen im Wege des rationalen Konsenses nach mehr tatsächlicher Gleichheitsdurchsetzung gestrebt wird, sondern ebenso die inhaltlichen Ausgestaltungen und Schlussfolgerungen. Inhaltlich unterscheidet Rawls in seinen zwei Prinzipien der Gerechtigkeit. Er optiert für vollständige Gleichheit bei den politischen Partizipations- und Grundrechten – d. h. über Mitsprache-, Argumentations- und Gestaltungsmacht für die Rahmenordnung in der Gesellschaft sollen alle in gleicher Form verfügen (Erstes Prinzip der Gerechtigkeit). Es gilt hier für einen Teilausschnitt ein allgemeiner Gleichheitssatz, der abweichungs- und abwägungsresistent ist (keine Rechtfertigung durch sachliche Gründe), nicht nur im Bereich der besonderen Gleichheitssätze. Mit anderen Worten: Für zentrale Bereiche des Status gilt – in den besonderen Gleichheitssätzen – ein grundsätzlich unverbrüchlicher Gleichheitssatz (ohne Abweichungsmöglichkeit aufgrund sachlicher Gründe und ggf. unter Verstärkung durch Beweisregeln). Gleiches findet sich jedoch mit dem Ersten Prinzip der Gerechtigkeit auch im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes, für alle Menschen, nicht nur eine Gruppe (Geschlecht, Ethnie, Staatsangehörigkeit, Religionszugehörigkeit etc.). Diese Insel eines absoluten Gleichheitsgebots im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes entspricht natürlich der Praxis in heutigen rechtsstaatlich verfassten Demokratien, bei Rawls wird jedoch die Besonderheit (Abwägungsresistenz) und auch die Begründung hierfür deutlich: Hierbei handelt es sich um die Instrumente (einer Teilhabe in) ständiger Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Ordnung, nicht nur um einzelne Zuteilungen. Hierin liegt also der Schlüssel für alles andere. Die Zuteilungsfragen, namentlich
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die wirtschaftlichen Betätigungsrechte, betrifft dann das Zweite Prinzip der Gerechtigkeit, das sog. Differenzprinzip. Gleiche Berechtigung ist in diesem Bereich kein Postulat von Gerechtigkeit, es darf differenziert werden, freilich unter der (zwar einzigen, jedoch durchaus signifikanten) Voraussetzung, dass von jeder inhaltlichen Differenz auch die Schwächsten in der Gesellschaft hinreichend partizipieren („Maximin rule“). Den Bereich absoluter Gleichheit auch im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes weitet Sen (jedenfalls potentiell) in seiner Antwort auf Rawls erheblich aus. Er plädiert für eine absolute Gleichstellung auch in der materiellen Ausstattung jedenfalls bis zu dem Niveau, auf dem eine eigenverantwortliche Partizipation an Gesellschaft und ihren Chancen tatsächlich möglich ist.33 Andernfalls wäre die politische Partizipationsmöglichkeit illusorisch, aber auch das sinnvolle Menschsein als solches. Der Bereich eines unbedingten Gleichheitssatzes – im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes – wächst und ragt hier nun auch in den Bereich der Zuteilungen von materiellen Gütern hinein. Das ist revolutionär – immerhin folgte ihm unlängst allerdings auch das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz. b) Gleiche Menschenwürde („L’égale dignité des êtres humains“, Fabre-Magnan) Ein weiterer Bereich unverbrüchlicher Gleichheit besteht mit der Verbürgung und Unantastbarkeit der Menschwürde, welche – wie Fabre-Magnan herausarbeitet – zugleich auch absolute Gleichheit in der Verbürgung der Menschenwürde für jeden Menschen bedeuten.34 Dieser Bereich ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch abwägungs33 Vgl.
Sen, Idea of Justice, 2009 (= Die Idee der Gerechtigkeit, 2010); Kontextualisierung, Entwicklung und Einführung wiederum bei: Grundmann, in Grundmann/ Micklitz/Renner (oben Fn. 7), Kapitel 6. Zu Ansätzen in diese Richtung bereits im sog. „capabilities approach“, aufgrund dessen Sen 1998 den Nobelpreis gewann: Sen, Commodities and Capabilities, 1985; schöne Zusammenfassung etwa bei Sen, Development as Capability Expansion, in Fukuda-Parr u. a. (Hrsg.), Readings in Human Development, 2003, S. 41 (bestmögliche Ausweitung der tatsächlichen Handlungs- und Verwirklichungsmöglichkeiten der Gesamtheit der Mitglieder der Gesellschaft als Kernziel eines „Effizienz“-Denkens). In der deutschen verfassungsrechtlichen Praxis nicht unähnlich die Harz-IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – worauf Fabre-Magnan in diesem Band eingeht: BVerfGE 152, 68. 34 Vgl. Fabre-Magnan, L’égale dignité des êtres humains – Les fondements philosophiques et méthodologiques du droit privé, unten S. 89; grundlegend zu ihr im deutschen Verfassungsrecht jüngst (u. a. mit der Verankerung im Kant’schen Menschen- und Autonomiekonzept): Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte: Grundfragen, Entstehung und Rechtsprechung, 2019, passim. Für eine deutsch-Europäische Perspektive
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resistent35 – sachliche Gründe rechtfertigen also keine Abweichung, etwa Folter zur Lebensrettung – und nach Art. 79 Abs. 3 GG ist dieser Bereich zudem unantastbar durch Grundgesetzänderung. Fabre-Magnan betont in der Tat, dass die Grundlage heute – im Sinne der Entwicklung im frühen 19. Jahrhundert – positivistisch, aus gesetzgeberischer Setzung zu erklären ist, allerdings parallel auch (philosophisch) aus der Logik, weil Fabre-Magnan ein nach Gerechtigkeit strebendes Privatrecht ohne Verbindung der Autonomie mit der Achtung von Menschenwürde für undenkbar hält, und auch als Erkenntnis („Wissen“) aus der Geschichte. Bemerkenswert wird für manchen Privatrechtler die Selbstverständlichkeit sein, mit der sie die gleiche Menschenwürde als Grundlage des gesamten Privatrechts versteht. Fabre-Magnan verweist zum einen auf die lange Tradition, die das Prinzip in Frankreich bereits seit dem 19. Jahrhundert – namentlich in Verbindung mit der endgültigen Abschaffung und kategorischen Ächtung der Sklaverei (1848) – hat. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere die Einordnung unter den Gleichheitssatz bemerkenswert und zwar als abwägungsresistenter, also keiner Differenzierung aus angenommenen Sachgründen zugänglicher Bereich innerhalb des allgemeinen Gleichheitssatzes.
vgl. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, 2016, passim. 35 Aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikatur: „Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“; BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten sind Mörder: „So muß die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet. Dieser für die Kunstfreiheit ausgesprochene Grundsatz beansprucht auch für die Meinungsfreiheit Geltung, denn die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“; BVerfGE 107, 275 (283 f.) – Schockwerbung II: „Die Menschenwürde setzt [...] eine absolute Grenze“; „Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“; wohl auch BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz: „Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt“; ferner BVerfGK, NJW 2001, 2957 (2959): „nicht abwägungsfähig“. Aus der Literatur etwa Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 1 I, Rn. 130; Hufen, Die Menschenwürde, Art. 1 GG, JuS 2010, S. 1 (9); Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: FS Starek, 2007, S. 371 (374). Differenzierend etwa Bäcker, Begrenzte Abwägung, Der Staat 2016, 433 ff. („Relativ ist das Menschenwürdeprinzip, absolut die Unantastbarkeitsregel. Diese Annahme der Doppelstruktur der Menschenwürdegarantie, zeigt auf, warum die Menschenwürde trotz der Unantastbarkeitsklausel der Abwägung zugänglich sein kann“).
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Der konkrete Anlass der erstmaligen so dezidierten gesetzgeberischen Setzung – bei Abschaffung der Sklaverei – zeigt freilich – wie bei Rawls –, wie Inseln von abwägungsresistenten Einzelbereichen auch für den allgemeinen Gleichheitssatz im Zusammenhang mit einer Sachfrage entstehen, die dem Bereich der besonderen Gleichheitssätze zuzuordnen ist. Denn natürlich ist die Geschichte des Grundrechts auf absolute Achtung der Menschenwürde in Deutschland auf das Engste mit dem Holocaust (bezogen auf eine Volksgruppe / Ethnie) und in Frankreich mit der Abschaffung der Sklaverei verbunden. Sie reicht jedoch auch darüber hinaus, weil beispielsweise zu den erschütterndsten Eingriffen in die Menschenwürde, auf die Art. 1 GG antwortet, auch etwa die Verfolgung und Ausrottung politisch Andersdenkender im Nationalsozialismus zählt – kein Status, jedenfalls nicht im genuinen Sinne. 4. Materialisierung durch Analyse gesellschaftlicher Auswirkungen Eine weitere Form der Materialisierung erscheint denkbar, wenn von der Handlungsperspektive individueller Akteure als zentralem Betrachtungsgegenstand übergegangen wird zu einer Analyse der gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Das erste ist herkömmlich die Perspektive in der Dogmatik des Privatrechts,36 namentlich des Vertragsrechts, für das die zentralen Regeln personaler Gleichheit überwiegend, auf EU-Ebene praktisch ausschließlich konzipiert sind.37 Die gesellschaftlichen Auswirkungen – genauer: systemisch bedingte Diskriminierung und entsprechend systemisch ausgerichtete Antworten einer Regulierung – nimmt ungleich stärker, sehr direkt und offensichtlich in den Blick ein soziologisch-systemtheoretisches Verständnis, das dann – wegen der Hauptstoßrichtung – verbreitet auch mit dem Begriff der feministischen Rechtstheorie umschrieben wird. Dieses ana36 Vgl.
Nachweise oben Fn. 20. Die Europäischen Vorgaben in Richtlinien 2004/113/EG und 2000/43/EG (Gleichbehandlung Vertragsrecht) und 2000/78/EG und 2006/54/EG (Gleichbehandlung Arbeitsrecht) zeigen das bereits deutlich (soweit man Arbeitsvertragsrecht in diesen Bereich einbezieht). Vgl. breiter Neuner, Das BVerfG im Labyrinth der Drittwirkung, NJW 2020, 1851 (1854 f.) (auch zur Kritik, in diesen Fällen werde keine Gleichbehandlung, sondern eine Leistung in Form eines [zwangsweisen] Vertragsschlusses begehrt). Damit soll die viel weiterreichende Wirkung des Gleichheitssatzes in Art. 3 GG im Privatrecht freilich nicht relativiert werden, die im deutschen Recht beispielsweise die Fundamentalreform des Internationalen Familienrechts auslöste, mit der auf das BVerfG-Verdikt zur gleichheitswidrigen Anknüpfung von Personalstatuten an die Staatsangehörigkeit des Mannes/ Vaters reagiert wurde (BVerfGE 31, 58 – „Spanierbeschluß“). 37
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lysiert für den vorliegenden Band Wielsch und entwickelt es fort,38 namentlich auch für den Kontext der Digitalisierung. Freilich richtet sich auch in der ökonomischen Theorie zu Fragen der Gleichheit – wenig überraschend angesichts des Kernziels der Maximierung der Gesamtwohlfahrt –39 der Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Verstößen gegen den Gleichheitssatz. Engert begründete – nach den grundlegenden Arbeiten von Gary Becker – schon früh Antidiskriminierungsregeln und sonstige zwingende Standards zur Gleichheit damit, dass die Verstöße zwar nach individuellem Nutzenkalkül effizient sein mögen, gesamtgesellschaftlich („total welfare“) jedoch (höhere) Wohlfahrtsverluste herbeiführen.40 Er wendet sich vorliegend und in Paralleluntersuchungen41 Überlegungen zu, nach denen diese Wirkungen auch nur indirekt (etwa über Informations- oder Verhandlungsprobleme vermittelt) eintreten mögen. a) Soziologisch-systemtheoretische Theorie der Gleichheit – Übergang von der Akteurs- zur Systembetrachtung, namentlich im digitalen Zeitalter (MacKinnon, Wielsch) Den wohl grundlegendsten, zugleich auch bekanntesten und sichtbarsten Beitrag zur Diskussion der Gleichheitssätze leistete aus dem Kranz der benachbarten Disziplinen die soziologisch (und auch spezifisch systemtheoretisch) gegründete feministische Rechtstheorie.42 Im Kern gehen die Überlegungen dahin, dass nicht allein auf individuelle – diskriminierende – Fehlhandlungen abzustellen sei (sog. sex differences approach), um das „secret design“ jahrhundertealter Diskriminierungen von Personen nach Status zu erkennen und ihm zu begegnen. Als ebenso wichtig wie eine Be Vgl. früher bereits: Wielsch, Grundrechte als Rechtfertigungsgebote, AcP 213 (2013), 718; ders., Relationales Urheberrecht, ZGE 2013, 274; ders., Iustitia mediatrix: Zur Methode einer soziologischen Jurisprudenz, FS Teubner, 2009, 395; ders., in: Fischer-Lescano/ Franzki/Horst (Hrsg.), Gegenrechte – Recht jenseits des Subjekts, 2018, 141. 39 Vgl. Engert, Allied by Surprise? The Economic Case For an Anti-Discrimination Statute, German Law Journal 4 (2003) 685 (689 ff., 693 ff.). 40 Vgl. Engert, Gleichbehandlungsgebote als Vertragshilfe, Festschrift für Windbichler 2020, S. 51. 41 Vgl. Nachweise oben Fn. 6. 42 Grundlegend MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women. A Case of Sex Discrimination, 1979, bes. S. 106–127; Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, 1990; Weinbach, Systemtheorie und Gender – Das Geschlecht im Netz der Systeme, 2004; Kontextualisierung, interdisziplinäre Theoriesichtung und zum Folgenden: Renner, in Grundmann/Micklitz/Renner (oben Fn. 7), Kapitel 14 (Diskussion zugleich des Falles Feryn). 38
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trachtung der individuellen Handlungs-Logik wurde die Betrachtung der Strukturen von Gesellschaft erkannt (sog. sex inequality approach), und die Begegnung von Diskriminierungsstrukturen in ihr. Der Fall Feryn löst sich auf der Grundlage dieser Sicht „ohne Rest“: Zwar mag es sein, dass die Feryn NV den Kundenwünschen unterworfen ist. Wenn diesen freilich flächendeckend nicht mehr „nachgegeben“ wird, sondern alle Wettbewerber darauf verpflichtet werden, nur nach individueller Eignung einzustellen, nicht nach Ethnie auszuschließen, wird dreierlei erreicht: es wird wahrscheinlicher, dass ein Aufklärungseffekt – auch etwa für die Kunden – eingeleitet wird; es wird kein – unter Menschenwürdeaspekten problematisches – Signal an Mitglieder der Ethnie ausgesandt; und es kann jedenfalls nicht mehr ohne Gefahr den Kundenwünschen nachgegeben werden. Ähnlich ist die Bewertung des Umstandes, dass nur über vergangene Praktiken gesprochen wurde –43 systemisch wirkt solch eine Stellungnahme nämlich dennoch diskriminierungsfördernd – bis hin zur „Selbstbestätigung“, es sei doch gut nachvollziehbar, wie der Vorstand handelte. Nicht zuletzt ist Denken solchermaßen in Systemen auch ungleich leichter in Übereinstimmung mit einem verfassungsrechtlichen Denken in praktischen Konkordanzen zu bringen. Menschenwürde, die breit angegriffen wird (irgendwo im System, nicht nötig in der einzelnen Vertragsbeziehung), kann Belangen der Berufsfreiheit direkt gegenübergestellt werden – und eine mögliche Hierarchisierung der Werte tritt deutlicher in den Blick.44 Dann wäre auch zwingend Stellung zu
43 Mit diesem Argument versucht Rieble, FAZ v. 19./20. Juli 2008, Beil. „Beruf und Chance“, C 2, zu belegen, dass der EuGH hier Grundsätze der deutschen Privatrechtsdogmatik (individuelle Handlungsperspektive und Kausalitätserfordernis) verletzt habe („neue und absurde Sanktionsverschärfung“, weil nur „öffentliche[s] Bekenntnis zur Diskriminierung“). Mit diesem Argument wird freilich einerseits ein Vorrang des EU-Rechts a limine übergangen (nicht einmal problematisiert) und andererseits fällt die Frage nach dem Auslegungsziel im Antidiskriminierungsrecht von vorneherein aus. Rieble steht mit dieser Grundsatzkritik – oder auch Grundsatzverweigerung, ggf. abweichende Denkansätze zu erwägen – allerdings keineswegs alleine. Vgl. etwa während des Gesetzgebungsprozesses, der zur Verabschiedung des AGG führte: Säcker, „Vernunft statt Freiheit!“ – Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner – Referentenentwurf eines privatrechtlichen Diskriminierungsgesetzes, ZRP 2002, 286 (= zum Regierungsentwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Drs. 15(12)440N – unter I.); in der Sache vergleichbar Picker, Antidiskriminierungsprogramme im freiheitlichen Privatrecht, in Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 2005, S. 7–115. 44 Vgl. nur Baer, „Ende der Privatautonomie“ oder grundrechtlich fundierte Rechtsetzung? – Die deutsche Debatte um das Antidiskriminierungsrecht, ZRP 2002, 290.
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beziehen zur Position des Bundesverfassungsgerichts, dass das Grundrecht der Menschenwürde abwägungsresistent sei. Diese Überlegungen bilden den Hintergrund der Ausführungen von Wielsch, der die Lage im digitalen Raum nochmals verschärft sieht.45 Er konstatiert zuerst, dass der Gleichheitssatz nur von der Gesellschaft, nicht allein vom Einzelnen her verstanden werden könne, jedenfalls nicht unter Abstellen auf eines von mindestens zwei Individuen in der Beziehung („relationale Reformulierung des Gleichheitssatzes“ mit einem Zuschnitt, der für die Belange aller Betroffenen schon im Ausgangspunkt gleich responsiv ist – Leitsatz 1). Eine individuelle Handlungsperspektive des Akteurs der Diskriminierung könne diesem Anspruch schon im Ausgangspunkt nicht gerecht werden. Auch Wielsch verweist hierfür auf die Logik der praktischen Konkordanz zwischen Grundrechten. Hinzu käme freilich ein zweiter Leitsatz im digitalen Raum. Hier müsse gesehen werden, dass nur eine Gestaltung, die für alle Transparenz des eingesetzten Algorithmus erlaube, auch nur im Ansatz (noch ohne inhaltliche Bewertung des Algorithmus) das oben genannte Desiderat erfüllen könne, dass jede anzustrebende inhaltliche Lösung für die Belange aller Betroffenen schon im Ausgangspunkt gleich responsiv sein muss. Erst mit Einräumung von Möglichkeiten, die Rechtsförmigkeit überprüfen zu lassen, werde überhaupt eine Diskussion über die materielle Rechtmäßigkeit der Inhalte – etwa die Realisierung von Diskriminierungswirkungen – ermöglicht. Wielsch versteht hier – ebenso wie in seinem allgemeinen Anwendungsbereich – das Gleichheitsgebot als „Konstitutionalisierungs-Anker“, besonders wichtig in Bereichen wie dem digitalen Raum, die er als noch weitgehend frei von Konstitutionalisierung sieht.46 b) Ökonomische Theorie der Gleichheit – Gesamtwohlfahrtsverluste durch pauschale Ungleichbehandlung? (Becker, Engert) Die Ökonomik tut sich schwer mit der Gleichheit – vielleicht abgesehen vom Sonderfall des Gesellschaftsrechts, wo Gleichbehandlungsgebote als Mittel gesehen werden, das Ziehen von Sondervorteilen zu vermeiden.47 45 Wielsch,
Gleichheitsdimensionen im Privatrecht: Übersetzungen zwischen Recht, Gesellschaft und Technik, unten S. 123. 46 Wohl anders (optimistischer) – sein akademischer Lehrer – Teubner, Societal constitutionalism: alternatives to state-centred constitutional theory?, in Joerges/Sand/Teubner (Hrsg.), Transnational Governance and Constitutionalism, 2004, S. 3. 47 Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 77 ff.; und in diesem Band Engert, S. 101; anders aber im Ausgangspunkt allerdings:
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Gleichheit wird im Kern wohl sogar als im Konflikt mit dem ultimativen Leitziel, der (Gesamt-)Wohlfahrtsmaximierung, gesehen. Denn im Kern liegt jedem Marktmechanismus ein Streben nach freier Wahl (normativer Individualismus) und Freiheit zum Diskriminieren, ggf. auch fehlerbehaftetem (d. h. ineffizientem Diskriminieren) zugrunde. Zwar wird in den frühen ökonomischen Ansätzen, die Antidiskriminierungssätze verteidigen, betont, dass diskriminierende Auswahl den Akteur selbst schädigen kann (Wohlfahrt mindert).48 Dieser Ansatz freilich bildet Diskriminierungssätze unvollständig ab, weil sie es zum einen (entgegen Leitprinzipien des normativen Individualismus in der Ökonomik) verbieten, dass der Akteur diesen Nachteil in Kauf nimmt (und ggf. dafür durch Verdrängung vom Markt bestraft wird) – jedenfalls in vielen Konstellationen. Zum anderen werden ja auch ggf. gut (durch Effizienzüberlegungen) begründete Unterscheidungen (wie im Falle Test Achat) nicht einmal für eine Überprüfung zugelassen, also a limine abgelehnt, ohne dass zu überprüfen wäre, ob sie unter Effizienzgesichtspunkten überzeugend sein mögen. Der allgemeine Gleichheitssatz – mit Gestattung sachbegründeter Differenzierungen – wäre zwar vielleicht ebenfalls dem Einwand ausgesetzt, die freie Wahl würde beschränkt – das Effizienzziel gebiete eine unbeschränkte Freiheit des Experimentierens (normativer Individualismus) –, doch könnte die Zulässigkeit sachbegründeter Differenzierungen idR mit Effizienzüberlegungen modelliert werden. Problematisch ist von der Zielvorstellung Gesamtwohlfahrt und Effizienz her also vor allem die strikte Postulierung der Gleichheit im personalen Status, d. h. der Bereich der Antidiskriminierungssätze. Für die ökonomische Theorie ist der Schnitt zwischen allgemeinem und besonderen Gleichheitssatz gänzlich zentral und radikal. Gerade Engert hat freilich versucht, auch Antidiskriminierungssätze stärker mit Gesamtwohlfahrtsüberlegungen (statt individueller Nutzenmaximierung) zu erklären, namentlich mit Informationsproblemen und als second-best-Lösungen. Im Kern geht das Argument dahin, dass DiskrimiEuGH Urt. v. 15. 10. 2009 Rs. C-101/08 – Audiolux Slg. I 2009, 9864; dazu etwa Basedow, General Principles of European Private Law and Interest Analysis – Some Reflections in the light of Mangold and Audiolux, ERPL 24 (2016) 331. 48 Hierzu, in vielen Fällen freilich unter dem Hinweis, der Markt werde ineffiziente Diskriminierung ohnehin hinreichend „bestrafen“: grundlegend: Becker, The Economics of Discrimination, 1957; zur Idee, „Taste for discrimination“ zahle selbst den Preis: Friedman, Capitalism and Freedom, 1962, bes. S. 108 ff; bes. dezidiert Epstein, Forbidden Grounds: The case against Employment Discrimination Laws, 1992. Für eine zwingende Antidiskriminierungsregelung (mit ökonomisch-liberalem Hintergrund) hingegen: Sunstein, Why markets don’t stop discrimination, 1997.
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nierung zwar individuell effizient sein mag (weil die diskriminierte Gruppe tatsächlich, etwa statistisch, insgesamt weniger hohe Leistung erbringe und die generelle Ausschließung Informationskosten sparen könne), jedoch gesamtgesellschaftlich der Schaden höher sein möge, wenn die gesamte Gruppe deswegen keinen Anreiz mehr habe, die eigenen Kapazitäten zu heben.49 Diese Erklärung mag Antidiskriminierungsregeln schon weitergehend rechtfertigen. Unerheblich bleibt dabei freilich der Kern: dass es bei Gleichheit im Status zentral um Menschenwürde, einen höheren Wert als Effizienz, geht. Auch muss die Theorie schon sehr mit dynamischen Entwicklungen spekulieren, dass eines Tages tatsächlich gesamtgesellschaftlich Effizienzvorteile erzielt werden, wenn heute eine strikte Antidiskriminierungsphilosophie durchgesetzt wird. Es zeigt sich: Ökonomische Theorie kann häufig auch begründen, indem sie das Effizienzziel nur dynamisch und spekulativ entsprechend erweitert.50 Gerade wenn man den Aspekt der Menschenwürde hinzunimmt und die Entscheider hinter dem Rawls’schen Schleier der Unwissenheit verortet sehen will, überzeugt freilich die Engert’sche Sicht in hohem Maße. Es liegt nahe, dass rationale Entscheider tatsächlich die zukünftig möglichen Zuwächse an Bildungskapazitäten in einer minder privilegierten Gruppe über den derzeitigen „Effizienzgewinn“ des individuellen Entscheiders stellen würden, der Informationskosten sparen will und deswegen das genannte Gruppenpotential hintanstellt.
IV. Schlussfolgerungen Die Entwicklungslinien laufen bei einem primär sachbezogenen Gleichheitssatz und einem im Kern auf den Status bezogenen Gleichheitssatz („personale Gleichheit“) erstaunlich verschieden. Was im ersten Bereich überragend wichtiges, zentrales Gerechtigkeitspostulat schon in der Antike war, wird es im zweiten Bereich erst in der Neuzeit. Dabei ist markant, dass es der (christlichen) Werteorientierung bedurfte für die Durchsetzung einer „Gleichheit im Menschsein“, das Denken in Vernunftkategorien diesen Übergang nur noch bestätigte, also gleichsam „nachzog“. Mit der Trennung der beiden Bereiche (und Gleichheitssätze) hängt das Konzept einer nur formalen oder aber auch materialen Gleichheitsverbür Vgl. Engert, Allied by Surprise? – fortentwickelt heute auch in Festschrift für Windbichler 2020, S. 51 – Nachweise für beide Beiträge oben Fn. 39 und 40. 50 Vgl. nur Fukuyama, Identity – Identity Politics and the Struggle for Recognition, 2018, S. 13. 49
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gung zusammen. Allerdings sind die genauen Abgrenzungen Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Wenn es im Kern darum geht, dass mit einem stärker materialen Verständnis von Gleichheit vor allem eine größere tatsächliche Realisierungschance angestrebt wird, wird man dreierlei konstatieren können: Ob dann bereits die – über Jahrhunderte so schleppende und konfliktbeladene – Durchsetzung der „Gleichheit im Menschsein“ eine Materialisierung des Gleichheitssatzes bedeutet, kann – und wird – unterschiedlich gesehen werden. Hingegen müsste es jenseits von Zweifel stehen, dass ein wichtiger Beitrag zur Materialisierung des Gleichheitssatzes in all denjenigen Fällen zu sehen ist, in denen Kriterien, die jenseits des direkten Statusbezuges, also im Bereich des allgemeinen, sachbezogenen Gleichheitssatzes wirken, als abwägungsresistent eingeordnet werden (politische Partizipationsrechte, gleicher Anspruch auf ein Existenzminimum, das Selbstverwirklichung erlaubt, und allgemeiner: gleiche Menschenwürde). Die Ausbildung von Kriterien als (weitergehend) abwägungsresistent ist nämlich ansonsten charakteristisch für das statusbezogene, personale Gleichheitspostulat („besondere Gleichheitssätze“). Schließlich, drittens, kann Materialisierung des Gleichheitssatzes auch das Resultat eines Umdenkens sein, namentlich eines Abgehens von einer individuellen Handlungslogik hin zu einer Logik, die System und Beziehungen zwischen Personen als ihren Analysefokus wählt, namentlich in soziologisch fundierten Gleichheitskonzeptionen. Dies betrifft auch und sogar deutlich zentraler das statusbezogene, personale Gleichheitspostulat („besondere Gleichheitssätze“). Vielleicht hilft diese Sicht der Entwicklungen und Fragen auch zu einer Versachlichung in der Problematik, ob im modernen allgemeinen Gleichbehandlungsrecht (AGG) ein Robespierre und seine „Tugendrepublik“ fortwirkt oder sich die einzig gegenwartsadäquate Gesellschaftstheorie manifestiert. Es geht im Kern um eine Abwägung von Freiheitspositionen, die mit Interessen an materialer Gleichheit in praktische Konkordanz zu bringen sind.
Die gleiche Menschennatur. Einige Annäherungen an die Gleichheit im Recht Tilman Repgen I. Verschiedene Annäherungen an die Gleichheit im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Gleichheit als Gerechtigkeitsfrage – erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Eine hoffnungsvolle Begegnung – zweite Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Die Welt des Ancien Régime – dritte Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Die Idee der Gleichheit im Privatrecht – vierte Annäherung . . . . . . . . . . . . 36 II. Gleichheit als rechtliches Argument in der Spätscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Die Predigten Antón Montesinos im Jahr 1511 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. De Indis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Sublimis Deus, 2. Juni 1537 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. Novas Leyes vom 20. November 1542 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5. Die gleiche Menschennatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
I. Verschiedene Annäherungen an die Gleichheit im Recht 1. Gleichheit als Gerechtigkeitsfrage – erste Annäherung Wenn man über „Gleichheit“ nachdenkt, gerät man fast unweigerlich in die Spuren des Aristoteles, der zwischen Ähnlichkeit, bezogen auf eine Qualität, und Gleichheit, bezogen auf eine Quantität, unterschieden hat.1 Die Gleichheit wiederum war für seine Gerechtigkeitslehre ein Zentralbegriff,2 Dietrich Schlüter, Art. Gleichheit II, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1979, Sp. 672 mit Hinweis auf Aristoteles, Metaphysik V, 15, 1021a, 9 ff., hier zitiert nach Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übersetzt und hrsg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1970, S. 139. 2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 5 ff.; hier und im Folgenden wird, soweit nichts Anderes angegeben, die Ausgabe von Günther Bien auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes, 4. Aufl. Hamburg 1985, verwendet. Überblick zur Gerechtigkeitslehre des Aristoteles bei Eckart Schütrumpf, Gerechtigkeit, in Aristoteles-Handbuch. Leben – 1
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insbesondere für seine Auffassung von einer arithmetischen Gleichheit in der iustitia commutativa.3 „Das Gerechte bei Transaktionen ist […] eine Art des Gleichen und das Ungerechte des Ungleichen, […] nach der arithmetischen Proportion.“4
Mich interessiert hier aber eher die Gleichheit im status, den man, der aristotelischen Systematik folgend, eher bei der iustitia distributiva verorten müsste, wenn nicht gar bei Gerechtigkeit im allgemeinen Sinne. Eine Gleichheit im status akzeptierte Aristoteles jedoch nicht. 2. Eine hoffnungsvolle Begegnung – zweite Annäherung In der Sklaverei manifestiert sich die denkbar größte rechtliche Ungleichheit. Dort wird einzelnen oder einer Gruppe von Menschen die rechtliche Personalität schlichtweg abgesprochen und die Person zur bloßen Sache erniedrigt. Der Mensch sinkt rechtlich auf den status einer Sache herab. Das darin liegende Gerechtigkeitsproblem betrifft die Ungleichbehandlung eigentlich als gleich qualifizierter Angehöriger der Spezies Mensch. Dafür ist man schon in der Antike, insbesondere im Christentum sensibel, ohne freilich rechtliche Folgerungen daraus zu ziehen. Im Brief des Apostels Paulus an Philemon ist von Onesimus, einem (vielleicht entlaufenen5) Haussklaven, die Rede. Paulus schickt ihn zu seinem Herrn, dem Adressaten des Briefes zurück. Onesimus komme aber zu Philemon aufgrund der Taufe als Bruder zurück, so schreibt Paulus: „Ich bitte dich sehr für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin. […] Ich schicke ihn zu dir zurück, das bedeutet mein eigenes Herz […] Vielleicht wurde er nur deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst, nicht mehr als Sklaven, sondern weit mehr: als geliebten Bruder“.6 Werk – Wirkung, hrsg. von Christof Rapp und Klaus Corcilius, Stuttgart/Weimar 2011, S. 226–231. 3 Cf. Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 2), V, 5, 1131a und deutlich in V, 7, 1132 a, b. 4 Übersetzung nach Dorothea Frede, in Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Dorothea Frede. Erster Halbband: Übersetzung und Einleitung. Zweiter Halbband: Kommentar, Berlin/Boston 2020, S. 85. 5 Im Unterschied zur älteren Exegese wird neuerdings bezweifelt, dass Onesimus entlaufen war, sondern angenommen, er habe sich an Paulus wegen der Vermittlung in einer Konfliktsituation gewendet, dazu mit Nachweisen Horst Balz, Art. Philemonbrief, in Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller, Bd. 26, Berlin/New York 1996, S. 487–492, hier S. 489. 6 Phlm 10–16.
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Zivilrechtlich blieb Onesimus Sklave, absolut ungleich gegenüber Philemon, aber aufgrund der Taufe war ihm Onesimus zum „Bruder“ geworden. Onesimus war in seiner Eigenschaft als Mitglied der christlichen Gemeinschaft (κοινωνία) gleichgestellt.7 Herr und Sklave traten sich nun im Glauben als Gleiche gegenüber. Mit Recht wird betont, dass Christus kein Sozialrevolutionär war, kein Spartakus, „kein Befreiungskämpfer wie Barabbas oder Bar-Kochba“.8 Christus hatte eine Hoffnung gebracht, die sich auf die „Begegnung mit dem Herrn aller Herren“, auf die Begegnung mit Gott selbst bezog, die aber nicht Vertröstung auf das Jenseits war, sondern eine neue, geistliche Gesellschaft, die Kirche, meinte.9 Das Christentum ist es gewesen, das mit seiner Botschaft die Wurzel einer Idee der Gleichheit gelegt hat – gewiss, auch vorher gab es Ideen, die in diese Richtung wiesen, aber vom Christentum her hat sich die moralische Forderung individueller Freiheit und Gleichheit nach und nach durchgesetzt – allerdings eben nicht als politisches Programm, sondern als Konsequenz einer bestimmten Auffassung von der gleichen Menschennatur vor Gott.10 Erst in der Neuzeit wurde daraus auch ein rechtliches Programm, allerdings nicht erst im Gefolge von Aufklärung und französischer Revolution, sondern schon, wie zu zeigen sein wird, in der Spätscholastik, die das Recht in eigener Weise aus einer moralischen Perspektive betrachtet hat. 3. Die Welt des Ancien Régime – dritte Annäherung In einer dritten Annäherung möchte ich den Blick auf die Rechtswelt des Ancien Régime lenken. Im feudal geprägten Staat der frühen Neuzeit springt die rechtliche Ungleichheit geradezu ins Auge. Gewohnt ist der Blick auf die politische Ungleichheit der Stände Adel, Klerus und Bürger bzw. Bauern. Aber auch das Privatrecht bildete die rechtliche Ungleichheit ab. Dazu mag uns als Quelle das Standardlehrbuch des Usus modernus, die Jurisprudentia Romano-Germanica Forensis des Georg Adam Struve dienen.11 Zum Titel 7 Dazu
Christoph Kähler, Art. Sklaverei II. Neues Testament, in Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller, Bd. 31, Berlin/New York 2000, S. 373–377, hier S. 375. 8 Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi vom 30. November 2007, n. 4 (http://w2.vatican. va/content/benedict-xvi/de/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20071130_spe-salvi. html) – dort auch der theologische Zusammenhang zur Geschichte des Onesimus. 9 Wie Fn. 8. 10 Die geschichtliche Entwicklung im Überblick bietet Larry Siedentop, Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, Stuttgart 2015. 11 Georg Adam Struve, Jurisprudentia Romano-Germanica forensis: Olim in Academia Jenensi praelecta & explanata, nunc revisa & aucta. Adiectus est index Rerum et Ver-
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De Jure personarum seu Statu hominum (Über das Personenrecht oder den Status der Menschen) führt Struve aus, dass man einen natürlichen und einen zivilrechtlichen Status unterscheide. Juxta statum naturalem distinguuntur homines (1) ratione sexus […] (2) Alii sunt jam nati, alii nascituri seu in utero[…]12
Gemäß dem natürlichen Stand werden die Menschen erstens nach dem Geschlecht unterschieden. […] Zweitens sind manche schon geboren, andere sind erst im Begriff, geboren zu werden oder noch im Mutterleib.
Für unseren Zusammenhang der Gleichheit ist jedoch jenseits der Betrachtung eines „natürlichen Stands“ die zivilrechtliche Akzeptanz der Ungleichheit im Usus modernus pandectarum viel wichtiger. Dazu schrieb Struve:
borum, Jena 1670. Eine nützliche Bibliographie der insgesamt 31 Auflagen bis 1771 findet man bei Jan Finzel, Georg Adam Struve (1619–1692) als Zivilrechtler, Frankfurt am Main 2003, S. 144–153. Im Folgenden wird die Ausgabe Jena 1701 zitiert. Hier interessieren vor allem die Ausführungen zu lib. I, tit. 3 und 4, S. 11–16. Weiterführend ist: Georg Adam Struve, Syntagma iurisprudentiae secundum ordinem pandectarum, Jena 1655–63, in vierter Auflage Jena 1668 (enthält nur den Text des Struve und die Register, gut greifbar auch als Nachdruck Frankfurt am Main 2018 [= Ius commune, Bd. 331]). Hier wird die um die Anmerkungen von Peter Müller ergänzte Ausgabe verwendet: Georg Adam Struve, Syntagma Jurisprudentiæ, Secundum Ordinem Pandectarum Concinnatum, Quo Solida Juris Fundamenta Traduntur, Digestorum, Et Affines Codicis, Novellarum Ac Juris Canonici Tituli Methodice Explicantur, Controversiæ Nervose Resolvuntur, Et Quid In Foro Usum Habeat, Monetur; Cum Additionibus Petri Mülleri, editio tertia, Frankfurt/Leipzig 1738; diese letzte Ausgabe des Syntagma ist aufgrund des reichen Anmerkungsapparates die beste. Sie ist als Digitalisat im Münchener Digitalisierungszentrum verfügbar unter: Pars 1, [1] (Exerc. 1–8 [mit den Seiten 1–516 der pars 1] sowie ca. 400 S. Indices): https:// reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10519853.html; Pars 1, [2] (mit den Exerc. 9–25 [mit den Seiten 517–1767 der pars 1]): https://reader. digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10519854.html; Pars 2 (Exerc. 26–38): https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb105198 55.html; Pars 3 (Exerc. 39–50): https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb105198 56.html. Ein Nachdruck der Ausgabe von 1738 ist in Frankfurt am Main 2016 in drei Bänden erschienen, wobei die Indices in diesem Nachdruck zweimal abgedruckt sind, allerdings nicht in Band 1, sondern jeweils angebunden in Band 2 und 3. Relevant ist hier vor allem Exerc. 3, ad lib. 1, tit. 5, S. 97–110, dessen genauere Analyse einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben muss. Zu Struve jetzt: Tilman Repgen, Der Rechtslehrer Georg Adam Struve (1619–1692), ZEuP 2020, S. 74–94. 12 Struve, Jurisprudentia (Fn. 11), lib. I, tit. III, § 2, S.. 11–12.
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Juxta jus propter diversum statum et conditionem civilem summa et absoluta seu generalis ac prima divisio de Jure personarum haec est, quod omnes homines aut liberi sunt (1) qui habent naturalem facultatem ejus, quod cuique facere libet, nisi si quid vi aut jure prohibetur, § 2 I. de jur. pers. L. 4 pr. de stat. hom.
Nach dem Recht bezüglich der unterschiedlichen status und bürgerlichen Zustände ist diese die oberste, absolute, allgemeine und erste Einteilung im Personenrecht, dass alle Menschen entweder frei sind – d. h., sie haben die natürliche Möglichkeit zu handeln, wie es ihnen beliebt, solange sie nicht durch Gewalt oder von Rechts wegen daran gehindert werden, wie Inst. 1.3.2 und D. 1.5.4 pr.
[2] aut servi, qui dominio alieno sunt subjecti, et juribus Civilibus non fruuntur l. 4. § 1. de stat. hom.13
Oder es sind Sklaven, die fremdem dominium (Herrschaft) unterworfen sind und keine zivilen Rechte genießen, wie D. 1.5.4.1.
Struve paraphrasierte hier die von ihm zitierten Vorschriften des römischen Rechts. Danach herrscht im Naturrecht Gleichheit, im Zivilrecht aber nicht, weil dort Freie und Unfreie bzw. Sklaven unterschieden werden. Sklaven „gehören“ einem anderen, fallen in das Eigentumsrecht ihres jeweiligen Herrn. Aber auch bei den Freien unterschied Struve: Liberi homines rursus distinguuntur in ingenuos et libertinos.
Die freien Menschen werden wiederum unterschieden in freigeborene und freigelassene.
Illi sunt, qui a liberis parentibus liberi nati sunt; hi vero sunt, qui ex justa servitute manumissi sunt. Tot. Tit. I de libertin.14
Erstere sind von freien Eltern als Freie geboren worden. Letztere aber sind aus einer rechtmäßigen Sklaverei entlassen worden, wie der ganze Titel Inst. 1.5.
Die diesbezüglichen Statusunterschiede müssen hier nicht weiter interessieren. Wichtig ist, dass Struve auch am Ende des 17. Jahrhunderts die Sklaverei für einen rechtmäßigen Zustand hielt. Er beeilte sich jedoch, diesen Befund einzuschränken: Quamvis vero hodie inter Christianos ejusmodi homines servi non habeantur, nisi quod a Turcis aliisque barbaricis gentibus capti pro servis inter Christianos censeantur, eo quod istae etiam nationes Christianos captivos pro servis habeant. 13 Struve,
Allerdings gibt es heute unter Christen keine Sklaven, außer, dass sie von Türken oder anderen Barbarenvölkern gefangen und unter den Christen als Sklaven eingeschätzt werden, wie auch diese Nationen die gefangenen Christen als Sklaven halten.
Jurisprudentia (Fn. 11), lib. I, tit. III, § 4, S. 13. Struve, Jurisprudentia (Fn. 11), lib. I, tit. III, § 5, S. 13.
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Sunt tamen in quibusdam locis homines proprii, eigene Leute, qui affinitatem cum servis habent, de quibus commodius cap. seq. agetur. Subjungatur text. Instit. Lib. I. Tit. III. de Jure personarum et seqq. usque ad Tit. IIX.15
Dennoch gibt es in bestimmten Gegenden homines proprii, Eigenleute, die eine Ähnlichkeit mit den Sklaven haben, von denen vollständiger das folgende Kapitel handelt. Hinzugefügt werden die Vorschriften in Inst. 1.3 bis 1.8.
Struve räumte also ein, dass es auch bei den christlichen Völkern echte Sklaverei aufgrund von Kriegsgefangenschaft gebe. Das römische Recht sah nur die Versklavung fremder Völker als zulässig an, was das ius commune übernommen hatte.16 Mit gutem Grund rückte Struve die im System von Grund- und Gutsherrschaft verbreitete Leibeigenschaft17 in die Nähe der Sklaverei. Im Usus modernus kann insofern von Menschenrechten oder gar einer Gleichberechtigung keine Rede sein. Der hier nur ganz kursorisch erhobene Befund zum Usus modernus ist wichtig als Hintergrund für die späteren Beobachtungen der Diskussion bei Vitoria. 4. Die Idee der Gleichheit im Privatrecht – vierte Annäherung Nimmt man das BGB selbst in den Blick, so stellt sich die Situation genau gegensätzlich zum Usus modernus dar. Eines der führenden Lehrbücher zum BGB aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb Ludwig Enneccerus, ein Mitglied der zweiten BGB-Kommission. Die vom BGB vorausgesetzte allgemeine und das heißt vor allem auch gleiche Rechtsfähigkeit aller Menschen war für ihn wie für die sonstige damalige Rechtswissenschaft eine Selbstverständlichkeit. Er schrieb dazu: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen ist im BG entsprechend dem Bewußtsein der Kulturnationen der Gegenwart als selbstverständlich vorausgesetzt und daher nicht besonders ausgesprochen, da die Grundsätze am festesten stehen, die einer äußeren Beglaubigung nicht mehr bedürfen. Die allgemeine Freiheit und Rechtsfähigkeit gilt als ethische Notwendigkeit […]“18 Struve, Jurisprudentia (Fn. 11), lib. I, tit. III, § 6, S. 13–14. Thomas Rüfner, Die Rezeption des römischen Sklavenrechts im Gelehrten Recht des Mittelalters, in Sklaverei und Freilassung im römischen Recht. Symposion für Hans Josef Wieling zum 70. Geburtstag, hrsg. von Thomas Finkenauer, Berlin 2006, S. 201–221, hier insbesondere S. 219. 17 Dazu eingehend Struve, Syntagma (Fn. 11), Exerc. 3, lib. 1, tit. 5, §§ 23, 24, S. 108–110 mit reichen Nachweisen aus der zeitgenössischen Literatur. 18 Ludwig Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1/1, Einleitung, Allgemeiner Teil, 6. Bearbeitung Marburg 1913, S. 193. 15 16
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Sinngleich hatten schon die Motive formuliert: „Die Rechtsordnung erfüllt, in dem sie die Rechtsfähigkeit des Menschen ohne Rücksicht auf seine Individualität und ohne Rücksicht auf seinen Willen anerkennt, ein Gebot der Vernunft und der Ethik.“19
Rudolf von Jhering hatte davon gesprochen, die Anerkennung der Rechtsfähigkeit sei ein Anspruch, „den jedes menschliche Wesen auf seiner Stirn trägt.“20
Was in der Entstehungszeit des BGB also selbstverständlich war, ist ein Gedanke, der auf den ersten Blick den mittelalterlichen Herrschaftssystemen und dem frühneuzeitlichen Staat in Europa völlig fremd zu sein scheint, deren Gesellschaft doch geradezu durch status-Unterschiede gekennzeichnet war. Daher ist die Selbstverständlichkeit bemerkenswert, mit der das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert die allgemeine Rechtsfähigkeit – also eine wesentliche Ausprägung der Gleichheit – anerkannt hat. Die allgemeine und damit gleiche Rechtsfähigkeit ist letztlich aus dem Wesen des Menschen abgeleitet. Hier soll es darum gehen, einen wesentlich älteren Ansatz für diese Idee aus dem 16. Jahrhundert aufzuzeigen.21
19 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Bd. 1: Allgemeiner Theil, Berlin/Leipzig 1888, S. 25 (zum 1. Abschnitt: „Personen“). Sehr ähnlich formuliert Staudinger/Bernd Kannowski (2018), Vorbem. zu § 1 BGB, Rn. 15: „Die Begriffe ‚Person‘ und ‚Rechtsfähigkeit‘ gehören dem positiven Recht an; Rechtsfähigkeit und Personenqualität beruhen auf der Zuerkennung durch die geltende Rechtsordnung. Diese erfüllt aber, wenn sie allen Menschen Rechtsfähigkeit zuspricht, ein sozialethisches, naturrechtliches Postulat, denn die Rechtsfähigkeit aller Menschen anzuerkennen, ist eine elementare Forderung des natürlichen Rechts.“ (Hervorhebungen im Original). 20 Rudolf von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. III/2, Leipzig 1871, S. 322. 21 Man könnte hier auch an den berühmten Traktat „Über die Unfreiheit“ des Eike von Repgow in Sachsenspiegel Ldr. III 42 denken, der ein besonders frühes Zeugnis dafür ist, dass Sklaverei kein Rechtszustand, sondern Unrecht ist. Dazu eingehend Tilman Repgen, Unfreiheit ist wider die Menschenwürde – eine rechtshistorische Miniatur, in Der Appell des Humanen. Zum Streit um Naturrecht, hrsg. von Hans Thomas, Johannes Hattler, Heusenstamm 2010, S. 125–152. Ergänzend: ders., Eike von Repgow and the Christian Character of his Sachsenspiegel, in Great Christian Jurists, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Tübingen 2020, S. 13–25, hier S. 21–23.
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II. Gleichheit als rechtliches Argument in der Spätscholastik Die spanische Eroberungspolitik in Lateinamerika war bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Spanien starker Kritik ausgesetzt. Diese zeitgenössische Kritik bezog sich auf die Frage, ob den „Indios“, wie man die Ureinwohner nannte, nicht durch ihre sklavenähnliche Behandlung massiv Unrecht geschehe. Das führte sofort in sehr komplexe Überlegungen über die Legitimität der Herrschaft, des dominium, der Spanier in den Kolonien. Damit befand man sich mitten im juristischen Diskurs über den vielschichtigen Begriff des dominium, der vor allem in der Moraltheologie des Mittelalters relevant geworden war, der Sache nach aber zunächst einmal dem Privatrecht zugeordnet ist. Wie sich zeigen wird, ist es der Gerechtigkeitsanspruch der Gleichheit im Recht, der den Spaniern Schwierigkeiten gemacht hat. 1. Die Predigten Antón Montesinos im Jahr 1511 In zwei aufsehenerregenden Predigten am 21. und 28. Dezember 1511 in Santo Domingo prangerte der Dominikanerpater Antón Montesino vor den versammelten Encomenderos und Conquistadores das von den Spaniern eingeführte Encomienda-System in den neuen spanischen Besitzungen als sündhaftes Unrecht an.22 Diesen Predigten war eine gemeinsame Beratung der Dominikaner im Konvent in Santo Domingo (auf der Insel Hispaniola [heute Dominikanische Republik]) über die Praktiken der Spanier in den noch jungen Kolonien vorausgegangen. Montesino wurde als derjenige, der am besten zu predigen verstand, ausgewählt, um die Predigt zu halten. Die erste der beiden Predigten ist damals schriftlich abgefasst und von allen Mitgliedern des Konvents unterschrieben worden, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht um eine Einzelmeinung eines Mönchs handele, 22 Eingehend beschrieben und mit wörtlichen Zitaten aus der Predigt Montesinos bei Bartolomé de Las Casas, Geschichte Westindiens [= Übersetzung der Historia de las Indias], in ders., Werkauswahl, Bd. 2: Historische und ethnographische Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1995, S. 161–324, hier cap. III, 3–5, S. 219–231. Horst Pietschmann, Die iberische Expansion im Atlantik und die kastilisch-spanische Entdeckung und Eroberung Amerikas, in Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 1: Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760, hrsg. von Walther Bernecker, Raymond Th. Buve, John R. Fisher, Horst Pietschmann und Hans Werner Tobler, Stuttgart 1994, S. 207–274, hier S. 224 f., hat daran erinnert, dass schon Heinrich der Seefahrer im 15. Jahrhundert bei der portugiesischen Kolonisation unbesiedelter Inseln ein ans mittelalterliche Lehnsrecht erinnerndes Modell angewandt hat, während Portugal in den besiedelten Ländern Handelskolonien errichtete. Kastilien erprobte auf den bewohnten Kanarischen Inseln hingegen eine Herrschaftsorganisation lehnsrechtlicher Natur (l.c., S. 227 f.).
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sondern um die Überzeugung aller im Kloster.23 Montensino verurteilte in seiner Predigt am 21. Dezember 1511 das Verhalten der Spanier als sündhaft. Für unseren Zusammenhang ist bedeutsam, dass hinter dieser theologischen Einschätzung eine rechtliche Wertung steckte. In seiner Predigt hieß es: „Ihr seid alle in Todsünde und lebt und sterbt in ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die ihr gegen jene unschuldigen Völker gebraucht. Sagt, mit welchem Recht (derecho) und mit welcher Gerechtigkeit (justicia) haltet ihr jene Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft (servidumbre)? Mit welcher Vollmacht (auctoridad) habt ihr so verabscheuungswürdige Kriege gegen diese Menschen geführt, die ruhig und friedlich ihr Land bewohnten, von denen ihr unzählige mit Tod und unerhörten Verwüstungen ausgelöscht habt? Wie könnt ihr sie so unterdrücken und plagen, ohne ihnen zu essen zu geben, noch sie in ihren Krankheiten zu pflegen, die sie sich durch das Übermaß an Arbeit, die ihr ihnen auferlegt, zuziehen, und sie dahinsterben lassen, oder deutlicher gesagt, die ihr tötet, um täglich Gold zu graben und zu erlangen? Und welche Sorgfalt wendet ihr auf, sie zu lehren, daß sie Gott ihren Schöpfer erkennen, getauft werden, Messe hören und die Sonn- und Feiertage halten? Sind dies denn keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten Seelen (ánimas racionales)? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? Versteht ihr das nicht? Fühlt ihr das nicht? Was für ein tiefer Schlaf, welche Lethargie hält euch umfangen? Seid sicher, daß ihr in dem Zustand, in dem ihr euch befindet, genausowenig das Heil erlangen werdet wie Mauren oder Türken, die nicht an Jesus Christus glauben und es auch nicht wollen.“24 23 Michael Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie. Antonio de Montesinos Predigt (1511) und ihre Folgen, in Conquista und Evangelisation, hrsg. von Michael Sievernich u. a., Mainz 1992, S. 77–98, hier S. 86. Zweifel an der schriftlichen Abfassung und damit dem Bericht von Las Casas bei Antonio García y García, La ética de la Conquista en el pensamiento español anterior a 1534, in Iglesia, Sociedad y Derecho, hrsg. von Antonio García y García, Salamanca 1985, S. 341–371 (Nachdruck der Ausgabe in V Centenario del Descubriminento de América. Actas del I Simposio sobre la ética en la conquista de América [1492–1573], Salamanca 1984, S. 77–104), hier S. 343–345. Aber auch García y García meint, Montesino habe die Missstände der Sklaverei in der Karibik angeprangert, l.c. S. 345. Zwingende Argumente gegen die Richtigkeit des Berichts von Las Casas hat García y García nicht vorgebracht. Dass Montesino eine aufsehenerregende Predigt gehalten hat, ist unstreitig. Ein wichtiger Grund zum Zweifel ist für García y García, dass Predigten normalerweise nicht schriftlich abgefasst würden und Montesino doch gerade wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten ausgewählt worden sei. Las Casas hat aber auch nicht behauptet, dass die Schriftlichkeit der Normalfall gewesen sei, sondern hat die schriftliche Abfassung und Unterzeichnung als eine Ausnahme geschildert, die wegen des brisanten Inhalts gemacht worden sei, und diese Ausnahme plausibel mit der Gefahr für den Prediger motiviert. 24 Zitiert nach Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 87; vgl. auch – mit etwas abweichender Übersetzung: Theo Engl, Die Adventspredigt des Antón Montesinos, in Der Aufbau der Kolonialreiche. Dokumente zur Geschichte der europäischen
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Natürlich sind die Fragen rein rhetorisch gemeint. Zwei Punkte sind aber bereits festzuhalten: (1) Die Verknüpfung von Sündhaftigkeit und Rechtswidrigkeit. Wer Unrecht tut, begeht damit zugleich eine Sünde, in diesem Fall sogar eine schwere Sünde, die zum Verlust des Seelenheils führt. Das ist eine für heutiges juristisches Denken ungewohnte Perspektive, erscheint das Recht doch in erster Linie als ein staatliches System der Gesellschaftsordnung, strikt getrennt von der Moral. Aber dass Rechtsnormen auch im Gewissen Verbindlichkeit erzeugen und damit eine moralische Dimension haben, ist auch unserem Denken nicht wirklich fremd. (2) Der zweite wichtige Gesichtspunkt in dem zitierten Abschnitt der Predigt betrifft unmittelbar unser Rahmenthema: die Gleichheit. Das zentrale Argument von Montesino zur Begründung der Ungerechtigkeit des Verhaltens der Spanier ist, die Indios seien genauso Menschen wie die Spanier, d. h. gleich und daher Träger eigener Rechte und Pflichten. Möchte man diese Rechte der Eingeborenen beschneiden, so benötigt man dazu – wie bei allen subjektiven Rechten – einen Rechtfertigungsgrund, einen iustus titulus. – Und genau an diesem Punkt der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung der Indios setzte die Diskussion an. Unter den Zuhörern Montesinos war Bartolomé de Las Casas, damals selbst noch Encomendero. Bewegt durch die Predigten Montesinos und unter dem Eindruck eines Massakers an Indios in Caonao 1512 auf Kuba, rückte Las Casas jedoch vom Encomienda-System ab.25 Königin Isabella I. von Kastilien hatte durch ein Gesetz von 1503 die spanischen Kolonien in Amerika zum Zwecke der Verwaltung in grundherrschaftliche Strukturen eingeteilt. Sogenannten Conquistadores wurden diese Encomiendas „anvertraut“ (= encomendar), um dort im Auftrag der spanischen Krone zu herrschen. Der Auftrag bezog sich konkret in Anlehnung an die Bullen Inter cetera vom 3. und 4. Mai 1493 und Piis fidelium vom 25. Juni 1493 von Papst Alexander VI. auf die Missionierung und den Schutz der einheimischen Bevölkerung26 – die Praxis bedeutete jedoch in aller Regel rigorose Ausbeutung der Indios durch Zwangsarbeit und Abgaben,27 kurz Expansion, hrsg. von Eberhard Schmitt, Bd. 3, München 1986, S. 489–497, hier S. 494; ebenfalls mit leichter Abweichung in den Formulierungen in Bartolomé de Las Casas, Geschichte Westindiens (Fn. 22), S. 226. 25 Vgl. nur Norbert Brieskorn, Die Kritik von Bartolomé de Las Casas an der Relectio de Indis, in Francisco de Vitorias „De Indis“ in interdisziplinärer Perspektive, hrsg. von Norbert Brieskorn und Gideon Stiening, Stuttgart/Bad Cannstatt 2011, S. 219–249, hier S. 219. 26 Zu „Inter cetera“ Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium, 3. Aufl. Trier 1972, S. 212–216. 27 Faktenreicher Überblick zur Geschichte der europäischen Expansion nach Amerika
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Sklaverei. Man hat das Encomienda-System passend als eine „angepaßte Form der europäischen Grundherrschaft“ bezeichnet.28 Allerdings hatte die spanische Krone schon sehr früh daran erinnert, dass „die Indianer keine Sklaven, sondern freie Leute seien“.29 1508 erhielt die Krone zusätzlich das Patronatsrecht über die Kirche in seinen Kolonien, also eine Organisationshoheit einschließlich der Bischofsernennung.30 Michael Sievernich hat mit Recht bemerkt, die Kirche habe hier ihre Eigenständigkeit verloren und sei von der Krone abhängig geworden.31 Die wirtschaftliche Verbindung politischer und kirchlicher Interessen erklärt die Reaktion der Zuhörer Montesinos nach der ersten Predigt 1511:32 bei Pietschmann, Die iberische Expansion im Atlantik (Fn. 22), S. 207–274 mit umfangreicher Bibliographie S. 889–910, dort S. 207–211 auch eine historiographische Einordnung; handlicher ders., Das spanische Kolonialsystem, in Amerika, eine Hoffnung, zwei Visionen, hrsg. von Hans Thomas, Herford/Stuttgart/Hamburg 1991, S. 59–75; nützlich ist auch der, im Abschnitt „Einwanderung und Zusammensetzung der Bevölkerung“ allerdings (zu) sehr vom Zeitgeist der 1930er und 1940er-Jahre geprägte, Überblick bei Richard Konetzke, Das spanische Weltreich, in Historia Mundi, hrsg. von Fritz Valjavec, Bd. 8, Bern 1959, S. 319–373, insbes. S. 365–370; zu den geistesgeschichtlichen Fragen und Diskussionen grundlegend Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), dort S. 173–188 zur Geschichte der Eroberungen; zur geistig-moralischen Einordnung aus geschichtlicher Perspektive vgl. auch Alain Milhou, Die neue Welt als geistiges und moralisches Problem (1492–1609), in Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. 1 (wie zuvor), S. 274–296 mit Bibliographie S. 910–912. 28 Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 181. Überblick zum encomienda-System und mit zahlreichen Literaturhinweisen Thomas Eeggensperger OP, Die encomienda – Dreh- und Angelpunkt der Kritik des Las Casas an der Kolonisierung Westindiens, in Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/2: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1997, S. 67–81; s. auch Susan E. Ramírez, Encomienda, in Encyclopedia of Latin America History and Culture, hrsg. von Barbara A. Tenenbaum, Bd. 2, New York 1996, S. 492 –493. 29 Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 182 mit Bezug auf das Dekret Isabellas: Real Cédula para que los vecinos de la Española sirvan á los cristianos en la labranza é granxeria é les ayuden á sacar oro, pagandoles sus xornales, Medina del Campo, 20. 12. 1503, in Col. de Doc. Inéd., Bd. 31, Madrid 1879, S. 209 ff. – Schon in Reaktion auf den Versuch von Christoph Columbus, 1495 gefangene Indios in Sevilla als Sklaven zu verkaufen, hatte Königin Isabella Rat eingeholt und die Freilassung und Rückführung der Gefangenen angeordnet, vgl. Anthony Pagden, The fall of natural man. The American Indian and the origins of comparative ethnology, Cambridge 1982, S. 31. 30 Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 78. 31 Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 79. 32 Das folgende nach dem Bericht von Bartolomé de Las Casas, Historia de las Indias, lib. III, cap. III–V (Bibliotheca de Autores españoles, vol. 96), Madrid 1957, S. 174–179, deutsche Übersetzung von Theo Engl, in Der Aufbau der Kolonialreiche (Fn. 24), S. 494– 497; ebenfalls in Bartolomé de Las Casas, Geschichte Westindiens (Fn. 22), S. 222–231.
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Aufgebracht verlangten sie unter Führung des königlichen Statthalters, Don Diego Colón, nach der Messe am 21. Dezember 1511 von dem Prediger den öffentlichen Widerruf seiner Lehre. Er habe gegen den König und seine Herrschaft „gehetzt“ und so der Krone einen schlechten Dienst erwiesen. Montesino antwortete, er habe nur die Wahrheit gepredigt, dazu sei er berufen und darin liege keineswegs ein Schaden für König und Königreich. Man einigte sich schließlich darauf, dass Montesino am folgenden Sonntag, dem 28. Dezember 1511, „über das Gepredigte sage, was ihm angebracht scheine, und sich nach Möglichkeit bemühe, sie zufriedenzustellen und das Gesagte zu erläutern“.33 Ausgehend von einem Satz aus dem Buch Hjob „Repetam scientiam meam a prinicipio et sermones sine mendatio esse probabo“34 sprach Montesino zu den Gläubigen. Bei dieser Gelegenheit widerrief Montesino jedoch mitnichten seine Ermahnungen, sondern vertiefte – nach dem Bericht von Las Casas – die Argumente der letzten Woche und steigerte die Schlüsse, indem er den Encomenderos ankündigte, sie müssten in ihren Todsünden sterben, wenn sie keine Restitution an die Indios leisteten, denn erst dann könnten sie auf eine Absolution ihrer Sünden hoffen. Die Mönche würden ihnen die Beichte sonst nicht mehr abnehmen.35 Die von Montesino aufgeworfene Frage nach der Legitimation der spanischen Herrschaftspraxis fand – kaum verwunderlich – in Spanien ein lebhaftes Echo. Wenigstens die kurzfristigen wirtschaftlichen Ziele schienen durchkreuzt, wenn man den Indios ihre Freiheit und ihren Besitz zurückgegeben hätte. Die Encomenderos wendeten sich – durch den Franziskaneroberen Alfonso de Espinal36 – empört an den spanischen König Ferdinand, der schon am 15. März 1512 Diego Colón antwortete, meinend, die „skandalöse Predigt“ habe „kein gutes Fundament in der Theologie sowie im Kirchen- und Zivilrecht“ gehabt, da Zwangsarbeit nach göttlichem und menschlichem Recht erlaubt sei und hier auf einem königlichen Befehl beruhe.37 33 Bartolomé
de Las Casas, Historia de la Indias (Fn. 32), deutsche Übersetzung von Engl, in Der Aufbau der Kolonialreiche (Fn. 24), S. 496. 34 „Ich wiederhole meine ursprüngliche Erkenntnis und beweise, dass meine Worte keine Verbesserung benötigen.“ So gibt Las Casas (Fn. 32) Hjob 36, 3 in leichter Abwandlung der Formulierung in der Vulgata wieder, wo es heißt: „repetam scientiam meam a principio et operatorem meum probabo iustum“ – Ich wiederhole mein Wissen von Anfang an und beweise, dass mein Schöpfer gerecht ist. 35 Las Casas, Historia de la Indias (Fn. 33), lib. III, cap. III–V, S. 174–179, deutsche Übersetzung in Der Aufbau der Kolonialreiche (Fn. 24), S. 497 und in ders., Geschichte Westindiens (Fn. 22), S. 229–230. 36 Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 193. 37 Zitiert nach Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 90. – Bereits
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Auch wenn sich der Provinzial der Dominikaner in Spanien, Alonso Loaysa, dieser Sicht anschloss und weitere Predigten in der Sache untersagte, war die Debatte nicht mehr aufzuhalten.38 Beide Seiten schickten ihre Vertreter nach Spanien. Die Auseinandersetzungen mündeten in neue gesetzgeberische Bemühungen, zunächst die Leyes de Burgos von 1512, die immerhin eine Grundsicherung der Indios anstrebten.39 Das muss hier nicht geschildert werden. Sievernich fasste die Entwicklung so zusammen: „Der These von der juridischen Rechtfertigung der Repartimientos steht die These von der theologischen Qualifizierung eben dieser Institution als schwer sündhaft gegenüber; die eine legitimiert die bestehende Ordnung, während die andere auf der Notwendigkeit einer neuen Ordnung besteht und die Pflicht zur Restitution in solidum einschärft.“40
Auch wenn der Antrieb an der Kritik der Kolonialpraxis religiös motiviert war – es ging Montesino und seinen Mitbrüdern in erster Linie um das Seelenheil der Spanier und der Indios –, so ruhte die Kritik letztlich auf einer rechtlichen Überlegung. Schon Montesino hatte nach der Feststellung, die Kolonisten lebten im Zustand der Todsünde, die rhetorische Frage gestellt: ¿con qué derecho y con qué justicia tenéis en tan cruel y horrible servidumbre aquestos indios?41
Mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr jene Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft?42
Das entscheidende Kriterium für die Bewertung als Sünde war also ein rechtliches. Brieskorn meinte treffend: „Wer gegen die Sünde vorgehen wollte, mußte damit also auch das ‚Recht‘ angreifen“,43 nämlich das vermeintliche Recht der Spanier gegenüber den Indios. Es stand hier also bei Licht 1504 hatte sich König Ferdinand durch eine junta abgesichert, dass die Indios den Spaniern nach menschlichem und göttlichem Recht unterworfen seien, vgl. Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 28 f. 38 Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 90 f.; Silvio Zavala, Introducción, in De las Islas del mar Oceano por Juán López de Palacios Rubios, Del dominio de los Reyes de España sobre los indios por Matías de Paz, Mexico 1954, S. VII–CXXX, hier S. XI–XII. 39 Vgl. die Darstellung der einzelnen Schritte bei Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 93–96; Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 194 f. 40 Sievernich, Anfänge prophetischer Theologie (Fn. 23), S. 92. 41 Las Casas, Historia de las Indias (Fn. 32), S. 176. 42 Übersetzung Engl, in Der Aufbau der Kolonialreiche (Fn. 24), S. 494. 43 Norbert Brieskorn SJ, Las Casas und das römische Recht, in Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1996, S. 13–32, hier S. 14.
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betrachtet nicht ein theologisches Argument gegen ein rechtliches, sondern es war die Rechtsfrage zu klären, ob die Spanier in legitimer Weise ihre Herrschaft ausübten. War diese Frage zu verneinen – und in diesem Sinne beurteilten Montesino und die übrigen Dominikanermönche in Santo Domingo die Sache –, so waren die Spanier zur Restitution verpflichtet. Damit aber befinden wir uns mitten in einem Diskurs, der bei Augustinus seinen Anfang genommen und im Hochmittelalter bereits eine intensive Vertiefung gefunden hatte.44 An dieser Stelle müssen wenige Hinweise zum Hintergrund genügen.45 Es war Anselm von Canterbury, der die christliche Erlösungslehre dahin interpretiert hatte, dass die Erlösung die Mitwirkung des Einzelnen erfordere. In dieser Sichtweise bekam ein Satz des Augustinus neue Relevanz. Im Brief an Macedonius hatte Augustinus gesagt: Si enim res aliena, propter quam peccatum est, cum reddi possit, non redditur, non agitur poenitentia, sed fingitur: si autem veraciter agitur, non remittetur peccatum, nisi restituatur ablatum; sed, ut dixi, cum restitui potest.46
Wenn nämlich eine fremde Sache, deretwegen jemand gesündigt hat, zurückgegeben werden kann und nicht zurückgegeben wird, wird keine Buße getan, sondern geheuchelt: Auch wenn er wirklich Buße tut, wird die Sünde nicht nachgelassen, wenn nicht restituiert wird. Aber, wie gesagt, wenn die Rückgabe möglich ist.
Nahezu wortgleich hatte diese Überlegung Eingang ins Decretum Gratiani gefunden.47 Und im Liber Sextus hieß es knapp: Zur Restitutionslehre vgl. vor allem Nils Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs, Tübingen 2013; außerdem Tilman Repgen, De restitutione – eine kommentierende Einführung, in Francisco de Vitoria, De Iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil 2, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, S. XVII–LVII; ders., De restitutione – Fortsetzung der kommentierenden Einführung, in Francisco de Vitoria, De Iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil 3, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020, S. XVII–LVI. 45 Eingehend Repgen, De restitutione – eine kommentierende Einführung (Fn. 44), S. XXII–XXXIV. 46 Augustinus, Epistola CLIII (ad Macedonium), cap. 6, n. 20, in Opera omnia Augustini Hipponensis, Patrologia Latina, hrsg. von Jacques Paul Migne, Bd. 33, Paris: Migne 1865, Sp. 662. 47 Decretum Gratiani C. 14 q. 6 c. 1: „Si res aliena, propter quam peccatum est, cum reddi possit, non redditur, […]“. 44
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Peccatum non dimittitur, nisi restituatur Eine Sünde wird nicht nachgelassen, ablatum.48 wenn das Weggenommene nicht restituiert wird.
An dieser Stelle hat die Debatte gewissermaßen ihren rechtlichen Anknüpfungspunkt: Waren die Spanier restitutionspflichtig oder nicht? Hier ist nicht der Ort, die Restitutionslehre des Mittelalters zu entfalten. Die Idee der Gleichheit, die schon in der Frage Montesinos anklingt, ¿Estos, no son hombres? ¿No tienen ánimas racionales?,49 ob nicht auch die Indios Menschen seien, entfaltete im Zusammenspiel mit der von ihm geforderten Restitution der Güter und der Freiheit der Indios eine Sprengkraft, die juristischer Analyse bedurfte, aber auch zugänglich war. 2. De Indis Eine solche Analyse hat der Dominikanermönch und Theologieprofessor in Salamanca Francisco de Vitoria mit seiner Relectio De Indis50 um den Jahreswechsel 1538/39 vorgelegt. Obwohl man hätte annehmen sollen, mehr als 40 Jahre nach Beginn der spanischen Eroberungen in Lateinamerika und mehr als 25 Jahre nach den berühmten Adventspredigten Montesinos seien die VI 5.12, reg. iur. 4. Casas, Historia de las Indias (Fn. 32), S. 176. 50 Francisco de Vitoria, [Relectio] De Indis, in ders., Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerd Justenhoven und Joachim Stüben. Lateinisch-deutscher Text, Einführung, Übersetzung und Anmerkungen von Joachim Stüben, Stuttgart 1997, S. 370–541. Der lateinische Text folgt dabei der Ausgabe von Luciano Pereña und J. M. Perez Prendes im Corpus Hispanorum de Pace, Bd. 5, Madrid 1967. Zur Textgeschichte Joachim Stüben, Vorbemerkungen zum zweiten Band der Lateinisch-deutschen Gesamtausgabe, (wie zuvor), S. 13–35, hier S. 18–25, zur Überlieferung des Gesamtwerks von Vitoria Heinz-Gerhard Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, Köln 1991, S. 10–12. Justenhoven hat die Vorlesung De Indis in den Mittelpunkt seiner Dissertation gestellt. Ihm geht es um eine Rekonstruktion der Lehre vom gerechten Krieg bei Vitoria. Nützlich auch Daniel Deckers, Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitslehre des Francisco de Vitoria (1483–1546), Freiburg (Schweiz) 1991, S. 229–241. Zur Einordnung der Relectio De Indis vor allem Ulrich Horst, Leben und Werke Francisco de Vitorias, in Vorlesungen I (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerd Justenhoven und Joachim Stüben, Stuttgart 1995, S. 13–99, hier S. 84–98; eine gute Inhaltsübersicht bietet Brieskorn, Die Kritik von Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 228–244. Der Begriff „Relectio“ meint die systematische Wiederaufnahme von Fragen, die sich im Lauf des Studienjahres in den regulären Vorlesungen ergeben haben, Justenhoven, Francisco de Vitoria (l.c.), S. 10. 48
49 Las
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Argumente sämtlich ausgetauscht gewesen, griff Vitoria die von Montesino aufgeworfene Frage ¿con qué derecho?51 auf, mit welchem Recht die Spanier gehandelt hätten und ob nicht eine Restitution geschuldet sei. Die Relectio De Indis ist in drei Teile (partes) gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Frage, ob die spanische Herrschaft über die Indios selbst gerechtfertigt ist,52 im zweiten um die aus dieser Rechtslage folgenden Befugnisse der spanischen Herrscher und im dritten um die Befugnisse der Kirche gegenüber den Indios. Insbesondere im ersten Teil spielt nun, wie wir sehen werden, die rechtliche Gleichheit der Menschen eine entscheidende Rolle. Wie stets in den Texten der Spätscholastiker ist die Ausgangsfrage diejenige nach dem Seelenheil der Menschen. Wer in der Todsünde lebt, verfehlt sein ewiges Ziel. Montesino hatte es den Kolonisten in aller Deutlichkeit gesagt. Allerdings gab es nun einmal auch Gegenstimmen – nicht zuletzt diejenige der spanischen Könige –, die das Handeln der Kolonialherren rechtfertigten. Somit gab es einen echten „Zweifelsfall“. In dieser Situation, so lehrte Vitoria in Übereinstimmung mit dem in der damaligen Moraltheologie vorherrschenden „Probabilismus“,53 sündige auch der, der sich nicht informiert und berät.54 Das Gewissen müsse sich nach dem wahrscheinlich Richtigen und Wahren richten.55 In den Fragen nach dem Umgang mit den „Barbaren“ gebe es nun einmal nicht ein evidenter iniustum […] nec rursus ita evidenter Las Casas, Historia de las Indias (Fn. 32), S. 176. pars prima ist wiederum in eine Einleitung (praeludium) und drei sectiones (Abteilungen [1: Waren die Barbaren vor der Ankunft der Spanier echte Herren?, 2: Über die – sieben – illegitimen Herrschaftstitel, 3: Über die – sieben – legitimen Herrschaftstitel]) gegliedert. Einleitung und Abteilungen sind in nummerierte Abschnitte aufgeteilt. 53 Dazu Tilman Repgen, Naturrecht in action. Rechtliche Argumentation in foro conscientiae anhand von Beispielen aus Vitorias Summenkommentar, in Von der Allegorie zur Empirie. Natur im Rechtsdenken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Susanne Lepsius, Friedrich Vollhardt und Oliver Bach, Berlin 2018, S. 63–84, hier S. 82 mit Hinweis auf Rudolf Schüßler, Moral im Zweifel. Bd. 1: Die scholastische Theorie des Entscheidens unter moralischer Unsicherheit, Paderborn 2003 und Bd. 2: Die Herausforderung des Probabilismus, Paderborn 2006; ders., Probability in Medieval and Renaissance Philosophy, in The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2015 Edition), hrsg. von Edward N. Zalta, http://plato.stanford.edu/archives/spr2015/entries/ probability-medieval-renaissance/; einen guten Überblick gibt bereits: Gerhard Otte, Der Probabilismus. Eine Theorie auf der Grenze zwischen Theologie und Jurisprudenz, in La Seconda Scolastica nella Formazione del Diritto Privato Moderno. Incontro di studio, hrsg. von Paolo Grossi, Mailand 1973, S. 283–302. 54 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I prael., 2: si iste non consuluit sapientes in re dubia, excusari non potest. – Wenn sich jemand in einem Zweifelsfall nicht mit den Weisen berät, kann er nicht entschuldigt werden. 55 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I prael., 3. 51
52 Die
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iustum,56 nicht offensichtlich Unrecht und auch nicht umgekehrt offensichtlich Recht. Vitoria möchte zur Klärung der Zweifelsfrage beitragen. Voraussetzungsreich stellt Vitoria die Grundfrage: Waren die Barbaren echte Herren (domini) oder waren sie von Anfang an Sklaven? Wenn sie Sklaven waren, hatten sie nichts zu eigen (arg. Inst. 2.9.3. und D. 29.2.79) und die Spanier haben ihnen daher nichts weggenommen, was nun der Restitution bedürftig wäre.57 Gerade das aber erschien zweifelhaft. In scholastischer Art und Weise beginnt Vitoria mit der Antithese, nämlich einer Sklaverei von Natur aus, wie sie Aristoteles in seiner Politik beschrieben hat.58 Es gebe, so lehrte Aristoteles, nämlich Menschen, die in so geringem Umfang vernünftig seien, dass sie sich kaum von Tieren unterscheiden. Der Körperbau ist für Aristoteles dabei ein Indiz. Der Lehre des Aristoteles setzt Vitoria mit Bezug auf die Indios eine Beobachtung mit der Wirkung einer Beweislastumkehr entgegen: Illi erant in pacifica possessione rerum et publice et privatim.
Jene Leute aber waren in ungestörtem Besitz ihrer Güter im öffentlichen wie im privaten Bereich.
Ergo omnino, nisi contrarium constet, habendi sunt pro dominis.59
Also muss man sie, sofern das Gegenteil nicht feststeht, unbedingt als Herren betrachten.60
Vitoria, De Indis (Fn. 50), I prael., 7. De Indis (Fn. 50), I 1, 1. – Vitoria hatte diese Frage bereits in seiner Relectio de potestate ecclesiae, prior, (qu. 1, n. 8), in De potestate ecclesiae I/Erste Vorlesung über die Gewalt der Kirche, in Francisco de Vitoria, Vorlesungen (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben, Bd. 1, Stuttgart 1995, S. 162–277, hier S. 178, bejaht mit dem Argument, dass die Christen in der Antike ihren heidnischen Autoritäten Untertan gewesen seien. Das gelte, solange diese Herrscher nicht Unrecht begehen. Dazu und zur parallelen Argumentation bei Las Casas vgl. Brieskorn, Die Kritik des Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 229. 58 Aristoteles, Politik, I 4 u. 5 (1254a–1255a). Einen immer noch nützlichen, quellengestützten Überblick zur Position des Aristoteles bietet Friedrich Schaub, Studien zur Geschichte der Sklaverei im früheren Mittelalter, Berlin 1913, hier S. 5–8; ferner Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 41–48. Für eine knappe Einordnung siehe auch Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2. Aufl. München 2013, S. 110–113; Aristoteles sieht die Menschen als von Natur aus ungleich an. „Natur“ versteht er dabei in einem biologischen Sinn, nicht normativ. Flashar weist mit Recht auf eine gewisse Inkonsequenz bei Aristoteles hin, der sich nicht dazu durchringt, die rechtlich Freien, die aber nicht entsprechend zur Souveränität begabt sind, dann eben auch dem Sklavenstand zuzuordnen. 59 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 1. 60 Übersetzung Stüben, Vorlesungen II (Fn. 50), S. 387. 56
57 Vitoria,
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Bis zur Ankunft der Spanier lebten die Indios nicht als Sklaven, sondern als ihre eigenen Herren und waren insofern den Spaniern gleichgestellt. Wenn die Spanier sie jetzt als Sklaven behandeln wollten, benötigten sie einen rechtfertigenden Grund. Aristoteles hatte in den Augen mancher wie Juán Gines Sepúlveda einen solchen Grund geliefert.61 Der Hintergrund der aristotelischen Differenzierung liegt darin, dass das gute Leben, nach dem der Mensch zu streben habe, nicht durch die Anwendung abstrakter Regeln gefunden wird, sondern durch Erfahrung und weisen Ratschluss.62 Dann aber sollten die weiseren Menschen die übrigen anleiten. Hierin liegt für Aristoteles der innere Grund für die „natürliche Sklaverei“. Wessen intellektuelle Fähigkeiten nicht zur Führung eines solchen guten Lebens ausreichen, der sollte sich besser, so meinte Aristoteles, einem anderen anvertrauen. Dieser aber soll auch für seinen Sklaven das Beste erstreben.63 Aristoteles’ Auffassung von einer natürlichen Sklaverei wurde bis ins 16. Jahrhundert hinein von vielen geteilt. John Mair (1467–1550) hatte sie umstandslos auf die Einwohner der Antillen übertragen.64 Es war für Vitoria also kein geringer Sprung,65 als er das aristotelische Konzept natürlicher 61 Zu Sepúlveda vgl. Christian Schäfer, Einleitung, in Juan Ginés Sepúlveda, Demcrates Secundus – Zweiter Demokrates, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Christian Schäfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018, S. XIII–LXXIV; Horst Pietschmann, Aristotelischer Humanismus und Inhumanität? Sepúlveda und die amerikanischen Ureinwohner, in Humanismus und Neue Welt, hrsg. von Wolfgang Reinhard, Weinheim 1987, S. 143–166; Pagden, The fall of natural man (Fn. 58 [erstmalige Nennung in Fn. 29]), S. 109–118. 62 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 2), VI, 9, 1142a, 14. 63 Zum Ganzen Claus Dierksmeier, Globalization Ethics in the Sixteenth Century? Why We Should Re-Read Francisco de Vitoria, in Bartolomé de las Casas, O. P. History, Philosophy, and Theology in the Age of European Expansion, hrsg. von David Thomas Orique, O. P. and Rad Roldán-Figueroa, Leiden/Boston 2019, S. 197–217, hier insbes. S. 198–201. 64 Johannes Major, In secundum librum sententiarum, Paris 1519, fol. clxxxvij v. 65 Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 15–24, hat mit Recht an die im Mittelalter prominent vertretene, von Aristoteles geprägte Weltsicht hingewiesen, wonach die „Barbaren“ außerhalb der Polis, d. h. letztlich außerhalb „zivilisierter“ Rechtsordnungen leben, es aber allererst das politische Gemeinwesen ist, in dem sich eine humane Beziehung von Mensch zu Mensch verwirklicht. Zwischen „Barbaren“ und natürlichen Sklaven bestand für Aristoteles kein Unterschied, vgl. Aristoteles, Politik I, 2 (1252 b). Mit dieser vorgefassten Erwartung kamen die Europäer nach Amerika (das sie zunächst für Indien hielten). So war es dann nicht überraschend, dass die Spanier die Indios als „Barbaren“ identifizierten, die von Leidenschaften, nicht aber von Vernunft geprägt seien; so argumentierten etwa Bernardo de Mesa und Gil Gregorio bei der junta von Burgos 1512 (in Reaktion auf die Predigten Montesinos), Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 48 mit wörtlichem Zitat aus der handschriftlichen Kopie der Stellungnahme von Gregorio in Real Academia
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Sklaverei zurückwies und an dessen Stelle in rechtlicher Hinsicht auf die gleiche Menschennatur aller abstellte. Ein mögliches theologisches Gegenargument räumte Vitoria sogleich aus dem Weg: Nach der Lehre des John Wicliff (1330–1384)66 beruhte jedes dominium auf der Gnade Gottes. Wer nicht im Stand der Gnade lebte, konnte nach dieser Lehre auch kein dominium haben. Übertragen auf die Situation der ungetauften Indios würde dies bedeuten, dass ihnen der Gnadenstand fehlte und sie demnach keine domini sein könnten.67 Bereits das Konzil von Konstanz (1415) hatte diese Lehren Wicliffs lange vor der Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus verworfen,68 was auch Vitoria betonte.69 Richtig sei zwar, so fuhr Vitoria fort, dass jedes dominium von Gott abgeleitet werde. Apparet, quod dominium fundetur in imagine Dei.70
Es ist offenkundig, dass das dominium in der Gottesebenbildlichkeit gründet.
Entscheidend ist dann, wem die Gottesebenbildlichkeit zukommt, von der die Genesis spricht, wie Vitoria erinnerte.71 In der Genesis heißt es: Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn.72 de la Historia (Madrid) 9–17–93688, 33 in Anm. 90 f. sowie S. 49 f. mit Zitaten aus dem Bericht von Las Casas über die Position von Bernardo de Mesa; vgl. auch Tomás de Mercado, Summa de tratos y contratos, Sevilla 1571, lib. II, cap. XXI, fol. 108r. 66 Zu diesem eingehend Alessandro Conti, Art. John Wyclif, in Standford Encyclopedia of Philosophy 2017, online: https://plato.standford.edu/archives/spr2017/entries/wyclif/. 67 Vgl. auch Conti, John Wyclif (Fn. 66), n. 5.2 mit Bezug auf John Wicliff, De civili dominio, Bd. 1, S. 1. Vitoria hatte schon in seiner 1528 gehaltenen Relectio De potestate civili festgestellt, dass die politischen Organisationsrechte nicht vom Gnadenstand und auch nicht vom kulturellen Niveau abhängig seien, vgl. Brieskorn, Die Kritik von Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 220, mit Hinweis darauf, dass Vitoria die Eroberung Perus für in keiner Weise gerechtfertigt gehalten habe. 68 Conti, John Wyclif (Fn. 66), n. 1.1. 69 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 2. 70 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 2. 71 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 2. Zur Argumentation mit der Gottesebenbildlichkeit s. auch Aniceto Masferrer, Human dignity in the early sixteenth century Spanish scholasticism. Francisco de Vitoria and Fray Bartolomé de las Casas, in De rebus divinis et humanis. Essays in honour of Jan Hallebeek, hrsg. von Harry Dondorp, Martin Josef Schermaier, Boudewijn Sirks, Göttingen 2019, S. 203–213, hier S. 208–211. 72 Gen 1, 26 f.
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Auch eine Todsünde ändere, so argumentierte Vitoria, nichts an der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und dem damit verbundenen dominium, quia non perdit dominium super proprios actus et super propria membra.73
denn [der Sünder] verliert nicht die Herrschaft über seine Handlungen und sich selbst.
Seit Thomas von Aquin war die Fähigkeit, seine eigenen Handlungen zu beherrschen, das wesentliche Merkmal des dominium.74 Thomas sah in der vernunft- und willensmäßig gesteuerten Selbstherrschaft des Menschen das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zum Tier: Ad secundum dicendum quod ex hoc contingit quod homo est dominus sui actus, quod habet deliberationem de suis actibus, ex hoc enim quod ratio deliberans se habet ad opposita, voluntas in utrumque potest.
Zum Zweiten muss gesagt werden, was dies betrifft, dass der Mensch Herr seiner Handlung ist, weil er seine Handlungen reflektieren kann. Denn da die Vernunft nachdenklich (auch) dem Gegenteil gegenübersteht, kann sich der Wille auf beides richten.
Sed secundum hoc voluntarium non est Aber dieses Wollen gibt es nicht bei den in brutis animalibus, ut dictum est.75 Tieren, wie oben gesagt ist.
Das Fragment ist zunächst einmal interessant im Hinblick auf die Handlungstheorie. Thomas kombiniert nämlich voluntaristische und rationalistische Elemente derart, dass sich eine strikte Zuordnung zu einem der beiden Lager nicht empfiehlt.76 Für unsere Fragestellung kommt es darauf jedoch nicht an. Entscheidend ist hier vielmehr, dass sowohl die Gottesebenbildlichkeit als auch das dominium suorum actuum an die Eigenschaft der Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch“ geknüpft wird – und zwar allein an diese Eigenschaft. Konsequent betonte Vitoria: Dominium fundatur in imagine Dei.
Dominium gründet in der Gottesebenbildlichkeit.
Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 3. zur Entwicklung des dominium vor allem Martin Josef Schermaier, Dominus actuum suorum. Die willenstheoretische Begründung des Eigentums und das römische Recht, in ZRG Rom. Abt. 134 (2017), S. 49–105, vor allem S. 57 f. 75 Thomas von Aquin, Summa theologiae (STh) I–II, q. 6, art. 2, ad 2; hier und im Folgenden stammen Zitate aus der STh aus der Leonina (Rom 1891), leicht greifbar in www.corpusthomisticum.org. 76 In diesem Sinne auch überzeugend mit eingehender Argumentation Stefan Schweighöfer, Die Begründung der normativen Kraft von Gesetzen bei Francisco Suárez, Münster 2018, S. 55–57, 85–101. 73
74 Eingehend
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Sed homo est imago Dei per naturam, scilicet per potentias naturales.
Aber der Mensch ist Ebenbild Gottes kraft [seiner] Natur, nämlich kraft seiner natürlichen Anlagen.
Ergo non perditur per peccatum morale.77
Also verliert man das dominium nicht durch eine Todsünde.
Zur Bekräftigung erinnerte Vitoria daran, dass die alttestamentlichen Könige Saul und David eindeutig Sünder waren, dennoch aber auch rechtmäßig Herrschaft ausübten.78 Die zeitlichen Güter seien von Gott allen Menschen ohne Rücksicht auf ihren Gnadenstand gegeben.79 Ungläubigkeit ändere nichts am dominium80 und im Buch Tobit werde die Restitution von Diebesgut an Heiden angeordnet.81 Das erscheint auch konsequent, weil das dominium auf natürlichem Recht beruht. Niemand dürfe, so Vitoria, einem „Sarazenen“ oder Juden eine Sache wegnehmen, weil sie ungläubig seien, sed est furtum vel rapina non minus quam a Christianis.82
vielmehr handelt es sich dann um Diebstahl und Raub, nicht weniger, als wenn man Christen etwas wegnähme.83
Es wird deutlich, dass die Religion in Bezug auf das dominium für Vitoria kein rechtlich relevantes Unterscheidungskriterium ist. Damit ist ein zentraler Aspekt rechtlicher Gleichheit angesprochen. Diese, letztlich ja religiös in der Gottesebenbildlichkeit begründete Gleichheit abstrahiert vielmehr vom Glauben und damit auch vom Wahrheitsanspruch des Glaubens. Als Zwischenergebnis hielt Vitoria dann fest: Ex ominbus his sequitur conclusio, quod barbari nec propter peccata alia mortalia nec propter peccatum infidelitatis non impediuntur, quin sint veri domini tam publice quam privatim nec hoc titulo possunt a Christianis occupari bona terrae illorum.84
Aus alledem ergibt sich der Schluss, dass die Barbaren weder wegen sonstiger Todsünden noch wegen der Sünde des Unglaubens daran gehindert werden, echte Herren im öffentlichen wie im privaten Bereich zu sein, und die Güter ihres Landes von den Christen auf dieser
Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 3. Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 3. 79 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 3. 80 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 4 mit Bezug auf STh II–II, q. 10, a. 12 resp., wo Thomas ausführt, dass die Kinder der Heiden nicht gegen den Willen ihrer Eltern getauft werden dürften. 81 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 4 mit Bezug auf Tob 2, 13. 82 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 4. 83 Übersetzung bei Stüben, Vorlesungen II (Fn. 50), S. 393. 84 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 10. 77 78
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Rechtsgrundlage nicht in Besitz genommen werden können.85
Als weiterer möglicher Einwand gegen ein echtes dominium der „Barbaren“ wurde die Vernunftbegabung diskutiert, da unvernünftige Geschöpfe keine Rechtsträger sein könnten,86 was der erwähnten aristotelischen Position entsprach.87 Thomas von Aquin hatte erklärt: Sola creatura rationalis habet dominium Nur ein vernunftbegabtes Geschöpf ist sui actus.88 Herr seiner Handlungen.
Und Vitoria fügte hinzu: Per hoc aliquis est dominus suorum ac- Denn derjenige ist Herr seiner Handtuum, quia potest hoc vel illud eligere.89 lungen, der dies oder jenes selbst wählen kann. 85 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 10 mit Bezug auf Thomas de Vio (Cajetan), ComSTh II–II, q. 66, a. 8, in Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia, iussu impensaque Leonis XIII, Bd. IX, Roma 1897, S. 94 f. (online: http://archive.org/stream/operaomniaiussui09thom#page/ii/ mode/2up); Übersetzung Stüben, S. 399. – Zu dem für die Rechtstiteldiskussion im Spanien des 16. Jahrhunderts überragend wichtigen Thomas-Kommentar von Cajetan in diesem Zusammenhang vgl. Mariano Delgado, Glaubenstradition im Kontext. Voraussetzungen, Verdienste und Versäumnisse lascasianischer Missionstheologie, in Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 1: Missionstheologische Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1994, S. 35–58, hier S. 41 f. und Daniel Deckers, Restitution – Das Beichthandbuch und die Schultheologie im 16. Jahrhundert, in Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1996, S. 128–136, hier S. 134 f. Zum Text des Vitoria auch Deckers, Gerechtigkeit (Fn. 50), S. 231, dort S. 220 und 234 auch zum Thomas-Kommentar von Cajetan. 86 Vgl. STh I–II, q. 1, a. 1 resp.: „Est autem homo dominus suorum actuum per rationem et voluntatem, unde et liberum arbitrium esse dicitur facultas voluntatis et rationis.“ – Der Mensch ist aufgrund seiner Vernunft und seines Willens Herr seiner Handlungen, und deshalb nennt man die Entscheidungsfreiheit ein Vermögen des Willens und der Vernunft. STh I–II, q. 1, a. 2 resp.: „Illa ergo quae rationem habent, seipsa movent ad finem, quia habent dominium suorum actuum per liberum arbitrium, quod est facultas voluntatis et rationis.“ – Diejenigen aber, die Vernunft besitzen, bewegen sich auf [ihr] Ziel hin, weil sie aufgrund der Entscheidungsfreiheit, die ein Vermögen des Willens und der Vernunft ist, Herren ihrer Handlungen sind. 87 Vgl. oben bei Fn. 58. Sepúlveda hatte mit einem Mangel an Vernunft die Herrenlosigkeit der Indios begründen wollen, s. Brieskorn, Die Kritik des Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 230. 88 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, lib. III, c. 111 (www.corpusthomisticum. org). 89 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 12 unter Bezugnahme auf STh I, q. 82, a. 1, ad 3: „Ad tertium dicendum quod sumus domini nostrorum actuum secundum quod possumus hoc
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Die potestas eligendi kommt nur Vernunftwesen zu. Nur sehr kurz betonte Vitoria, dass bereits Kinder eigene Rechte haben können, die lediglich durch einen Vormund wahrgenommen werden müssen.90 Man könne auch nicht bestreiten, dass Kinder nach dem Ebenbild Gottes geschaffen seien.91 Mit dieser Einlassung wies Vitoria die Auffassung zurück, die Indios seien als „Barbaren“ ohne Verstand und deshalb wie Kinder zu behandeln. Das Privatrecht gab auf diese Idee bereits mit dem Institut der väterlichen Gewalt bzw. der Vormundschaft92 die passende Antwort, ist doch das Kind selbst durch Eltern oder Vormund rechtlich handlungsfähig. Den Barbaren könne man schließlich, so fuhr Vitoria fort, die Vernünftigkeit nicht schlechthin absprechen, wie sich an der Existenz einer politischen Ordnung, eines Rechtssystems und eines religiösen Kultes erweise.93 Dass es aber überall auch weniger vernunftbegabte Menschen gebe, sei eine Tatsache, die auch in Spanien bekannt sei.94 In einem einigermaßen gewagten Manöver bemühte sich Vitoria zum Abschluss dieses Kapitels seiner Vorlesung darum, einen Schulterschluss mit Aristoteles zu finden, dessen Lehre der Gleichheitsidee entgegensteht. Aristoteles, so erklärte Vitoria, kenne auch keine Sklaverei von Natur aus, sondern halte die schwach begabten Menschen nur für führungsbedürftig analog zur Situation der Vormundschaft.95 Sicherlich wird man bei unbevel illud eligere.“ – Drittens muss man sagen, dass wir Herren unserer Handlungen sind, weil wir dies oder jenes selbst wählen können. 90 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 13. Das Problem, wie mit amentes – Wahnsinnigen – zu verfahren sei, überlässt Vitoria den Rechtsgelehrten. 91 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 13. 92 Dazu: Tilman Repgen, §§ 1773–1895 – Vormundschaft über Minderjährige, in Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. IV: Familienrecht, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Tübingen 2018, S. 1346–1505. 93 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 15. – In anderem Zusammenhang betont Vitoria, dass es entscheidend auf die grundsätzliche Vernunftbegabung, also die Potenzialität, ankomme, die nun einmal bei allen Menschen von gleicher Art sei, vgl. Francisco de Vitoria, De eo, ad quod tenetur homo, cum primum venit ad usum rationis, n. 8, in ders., Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrsg. von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben, Stuttgart u. a. 1997, S. 112 f. Dazu auch Kirstin Bunge, Gleichheit und Gleichmaß. Zur Rechtsphilosophie Francisco de Vitorias, Stuttgart-Bad Cannstatt 2017, S. 61–63. 94 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I, 15. 95 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 16. – Dieselbe Idee klingt später noch einmal bei Vitoria in I 3, 17 an, wenn er erwägt, ob die Barbaren eine Fremdherrschaft im Sinne einer Vormundschaft dulden müssten, wozu Vitoria mit Zweifeln tendiert, was Las Casas zum Vorwurf der Widersprüchlichkeit gebracht hat, weil Vitoria in der sectio prima [nämlich an der hier zitierten Stelle] die Indios als veri domini bezeichnet hat, s. Brieskorn, Die Kritik
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fangener Lektüre Aristoteles auch anders verstehen dürfen, aber für unseren Zusammenhang ist nicht das bedeutsam, sondern das Bemühen des Vitoria, die aus der Gottesebenbildlichkeit begründete Idee der Gleichheit aufrechtzuerhalten. Restat ergo conclusio certa, quod antequam Hispani ad illos venissent, illi erant veri domini et publice et privatim.96
Also bleibt es bei dem sicheren Schluss, dass vor der Ankunft der Spanier jene [Barbaren] echte Herren waren, sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich.
Damit ist der erste Abschnitt, der prima pars der Relectio De Indis, beendet. Für Vitoria stand – gegen die mittelalterlichen Vorstellungen eines päpstlichen Universalismus97 – fest, dass die Indios wie alle anderen Menschen dominium an ihren Gütern haben und dass die Spanier insofern sich weder die Güter aneignen noch die Indios versklaven durften. Man könnte sagen, die Indios waren aufgrund ihrer angeborenen gleichen Gottesebenbildlichkeit und damit Würde gleichermaßen frei und souverän.98 Die Ausführungen Vitorias zur aristotelischen Lehre von der Sklaverei deuteten bereits darauf hin, dass Vitoria noch andere Rechtfertigungsgründe als eine – von ihm unter Hinweis auf die gleiche Menschennatur abgelehnte – natürliche Sklaverei erwog. Zu solchen potentiellen Gründen zählte etwa die Behauptung einer Art humanitärer Intervention, da bei den Indios Kannibalismus und Inzest betrieben würden.99 Würde dies einen des Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 242. – Zu Vitoria, De Indis (Fn. 50), I, 1, 16 auch Bunge, Gleichheit (Fn. 93), S. 151. 96 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 1, 16. In diesem Sinne hat sich Vitoria auch unmissverständlich klar in seiner regulären Vorlesung zur Summa theologiae geäußert, vgl. Vitoria, De iustitia II (Fn. 44), ComSTh II–II q. 62, a. 1 n. 28, S. 42 f., dazu auch Deckers, Gerechtigkeit (Fn. 50), S. 228 f., der mit Recht bemerkt, De Indis sei im Grunde eine Ausarbeitung des in ComSTh II–II q. 62, a. 1 n. 28 vorgetragenen Gedankensgangs. 97 Dazu etwa Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 9–41, 209–232, 264–303. 98 Auch wenn die Vernunftrechtler andere Begründungslinien gesucht haben, sind die Ergebnisse nicht weit voneinander entfernt, wenn etwa Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, schreibt: „Die angeborne Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehreren von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein … alle diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit, und sind wirklich von ihr nicht … unterschieden“ (Akademie Ausgabe, Bd. VI, 2. Aufl. Berlin 1914, S. 237 f. = https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa06/237.html); zu Kant Gerhard Luf, Freiheit und Gleichheit, Wien 1978, S. 60. 99 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 2, 21. – Zum Hintergrund des Arguments der Barbarei und Kulturlosigkeit als Grund für Sklaverei vgl. Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 233– 242 sowie die oben Fn. 65 referierte Position von Pagden. Zur Diskussion über Vitorias
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Krieg gegen die Indios legitimieren, so gelangte man auch in der Sicht des Vitoria zu einem Rechtfertigungsgrund für die Versklavung, weil es Vitoria in Übereinstimmung mit der rechtlichen Tradition des Mittelalters gemäß ius gentium für erlaubt hielt, Kriegsgefangene zu versklaven.100 Allerdings lehnte Vitoria eine solche Rechtfertigung im konkreten Fall der Indios ab. Er erinnerte daran, dass die Christen nicht zum Richter berufen seien.101 Auch fehle ein Unterscheidungskriterium, da auch in christlichen Reichen dauernd Sünden begangen würden und niemand auf die Idee komme, die Reiche zu vertauschen.102 Insofern läuft die Argumentation auch hier auf ein Gleichheitsargument hinaus. Ein Gleichheitsargument begegnet auch bei solchen Titeln, die nach der Auffassung des Vitoria zwar den Aufenthalt der Spanier in den Gebieten der Indios rechtfertigen könnten, nicht aber die Art und Weise der Herrschaftsausübung.103 So gibt es nach Vitoria ein ius communicationis aufgrund einer „natürlichen Gesellschaft und Gemeinschaft“ der Menschen. Daraus folge ein Reise- und Aufenthaltsrecht,104 solange man niemandem Schaden zufüge, denn: Position Georg Cavallar, The Rights of Strangers. Theories of International Hospitality, the Global Community, and Political Justice since Vitoria, Aldershot 2002, S. 98–107. 100 Vgl. Francisco de Vitoria, ComSTh II–II q. 57, art. 3, n. 5, in ders., De iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil 1, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben, Stuttgart – Bad Cannstatt 2013, S. 40 f. – Ungelöst bleibt im Übrigen das Spannungsverhältnis dieser Aussage Vitorias zu einer Bemerkung von ihm am Rande der Diskussion der Zulässigkeit des Privateigentums in ComSTh II–II q. 62, art. 1, n. 20, wo er unwidersprochen sagt: „ut libertas dicitur esse de iure naturali, quia stando in solo iure naturali nulla est libertas, quae admittat secum servitutem“ – Die Freiheit kommt vom natürlichen Recht her, weil es vom Standpunkt des bloßen natürlichen Rechts aus keine Freiheit gibt, die gleichzeitig die Sklaverei zulässt, in Francisco de Vitoria, De iustitia – Über die Gerechtigkeit, Teil 2, hrsg., eingeleitet und ins Deutsche übersetzt von Joachim Stüben, Stuttgart – Bad Cannstatt 2017, S. 32 f. Berücksichtigt man die auch von Vitoria geteilte Auffassung, dass das ius gentium nicht im Widerspruch zum Naturrecht stehen darf, so müsste Vitoria die in ComSTh II–II q. 57, art. 3, n. 5 berichtete Position des ius gentium ablehnen. 101 Diese Überlegung ist in der Auseinandersetzung mit Juan Gínes de Sepúlveda für Las Casas ein wichtiges Argument, vgl. Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 239 mit Nachweisen. 102 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 2, 22. 103 Zu diesem durchaus auch sehr kritisch betrachteten Teil der Relectio vgl. Brieskorn, Die Kritik des Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 232–244 mit Hinweis auch auf Ramón Hernández, Derechos humanos en Francisco de Vitoria, Salamanca 1984, S. 345–381. 104 Vgl. dazu auch Justenhoven, Francisco de Vitoria (Fn. 50), S. 96–108; Cavallar, The Rights of Strangers (Fn. 99), S. 107–112.
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Omnem hominem proximum esse.105
Jeder Mensch ist ein Nächster.
Und so bestehe auch ein Recht auf das Handeltreiben. Non enim ‚homini homo lupus est‘.106
Denn der ‚Mensch ist nicht dem Menschen ein Wolf ‘,
sondern eben ein gleichberechtigter Mensch. Niemals sind aber Maßnahmen erlaubt, die nicht auch in einem Krieg gegen Christen erlaubt wären: Non licet ultra progredi, quam si bellum Es ist nicht zulässig über das hinaussusciperetur contra Christianos.107 zugehen, was im Krieg gegen Christen annehmbar wäre.
Es ist nun nicht zu leugnen, und Vitoria ist dafür schon zeitgenössisch zum Beispiel von Las Casas kritisiert worden, dass er in seiner Relectio De Indis verschiedene Gründe angeführt hat, die die Kriegsführung der Spanier gegen die Indios legitimieren könnten.108 Hierher gehört das Recht auf Einsetzung eines christlichen Herrschers, wenn eine große Zahl von Indios den christlichen Glauben angenommen habe, da sonst die Gefahr einer Abkehr vom Glauben bestehe.109 Eine ausführliche Kritik der Kriegslegitimationen, die Vitoria in der sectio tertia der prima pars seiner Relectio vorgelegt hat, ist hier nicht erforderlich, da es um die Begründung der Gleichheitsidee und nicht um die Geschichte der spanischen Kolonien geht.110 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 3, 1. De Indis (Fn. 50), I, 3, 2. 107 Vitoria, De Indis (Fn. 50), II, 11. 108 Insofern unvollständig Bunge, Gleichheit (Fn. 93), S. 254 Fn. 274, die dort nur die für Vitoria auch potentiell ungeeigneten Kriegsgründe erwähnt. – Justenhoven, Francisco de Vitoria (Fn. 50), S. 98, betont mit Recht, dass es Vitoria nicht um eine Apologie der Spanier zu tun war, sondern um eine Klärung der Rechtslage, so dass er eben auch mögliche legitime Kriegsgründe erörtert hat. 109 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I, 3, 13. 110 Dazu Brieskorn, Die Kritik des Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 232–244 mit Hinweis auch auf Ramón Hernández, Derechos humanos en Francisco de Vitoria, Salamanca 1984, S. 345–381; Raymond Marcus, Las Casas admirateur critique de Vitoria, in Revue d’éthique et de théologie morale (1987), S. 67–72, der daran erinnert, dass Vitoria bereits 1534 klar auf eine Anfrage brieflich geantwortet hat, er erkenne keinen gerechten Grund für den Krieg der Spanier in der Neuen Welt, l.c. S. 68. Auch Las Casas habe, so betont Marcus, gesehen, dass Vitoria im Konditionalis gesprochen habe, l. c. S. 71. – Das mittelalterliche ius commune kannte durchaus – aufbauend auf den antiken Texten des römischen Rechts – die Sklaverei und hielt sie – insbesondere als Folge von Kriegsgefangenschaft – für legitim. Dazu (mit einem Ausblick auf Jean Bodin) Rüfner, Die Rezeption des römischen Sklavenrechts (Fn. 16), S. 201–221. Da es innerhalb des – weit gefassten – populus Romanus, dessen Herr der Kaiser war, keinen legitimen Kriegszustand 105
106 Vitoria,
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Vitorias Überlegung ist in doppelter Weise problematisch: Einerseits hat auch Vitoria daran festgehalten, dass die Bekehrungen zum Glauben stets freiwillig sein mussten, woran oft begründeter Zweifel bestand. Insofern ist allerdings auch zu sagen, dass Vitoria diesen Kriegsgrund als nur hypothetisch behandelt.111 Gewichtiger ist andererseits, dass Vitoria auch keinen Grund zur Bevorzugung der christlichen Herrschaft gegenüber anderen Herrschern gesehen hat, weshalb der aus einer Verletzung des Missionsrechts abgeleitete Rechtstitel für die Eroberung widersprüchlich erscheint.112 Dieser Rechtfertigungsversuch spanischer Eroberung ändert jedoch nichts daran, dass Vitoria das Gleichheitsargument deutlich artikuliert und begründet hat. Man kann resümieren: Die aus der Sicht von Vitoria entscheidende Ungerechtigkeit der Spanier gegenüber den Indianern lag in der Ungleichbehandlung, die sich in der Missachtung der Rechte (dominium) der Indianer niederschlug.113 3. Sublimis Deus, 2. Juni 1537 Die spanischen Diskussionen über die Rechtmäßigkeit der Eroberungen in Amerika und den Umgang mit den Indios gingen nicht spurlos an der Gesetzgebung vorüber. Am deutlichsten wurde der kirchliche Gesetzgeber: In der päpstlichen Bulle Sublimis Deus vom 2. Juni 1537 erklärte Papst Paul III.114 zu der Frage nach dem Umgang mit den Indios, es dürften weder die Indios noch sonst irgendwelche von Christen „entdeckten“ Völker ihrer Freiheit und ihres Besitzes beraubt werden, unabhängig davon, ob sie den Glauben an Christus annehmen oder nicht. Sie dürften auf keinen Fall vergeben sollte, erschien eine Versklavung von Christen aufgrund von Kriegsgefangenschaft rechtlich gesehen ausgeschlossen (Rüfner, l.c., S. 218). 111 Vitoria, De Indis (Fn. 50), I 3, 13: „Alius titulus potest esse [...]“ – Ein anderer Rechtsgrund kann sein … (Hervorhebung von TR). 112 Vgl. etwa bei Fn. 107; zum Missionsrecht als Kriegsgrund auch Justenhoven, Francisco de Vitoria (Fn. 50), S. 103–108; Deckers, Gerechtigkeit (Fn. 50), S. 238–240. 113 So auch mit Recht Justenhoven, Francisco de Vitoria (Fn. 50), S. 101 f. mit Hinweis auf Vitoria, ComSTh II–II q. 66, a. 1 n. 2., in ders., Comentarios a la Secunda secundae des Santo Tomás, hrsg. von Vicente Beltrán de Heredia, tom. III, Salamanca 1934, S. 323. Dort betont Vitoria, dass die Bodenschätze demjenigen gehören, der sie zuerst entdeckt und in Besitz genommen hat. Die spanischen Könige könnten sich diese Schätze also nicht „sine causa rationabili“, ohne vernünftigen, d. h. rechtmäßigen, Grund aneignen. 114 Zu diesem Klaus Ganzer, Art. Paul III., in Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller u. a., Bd. 26, Berlin 1996, S. 118–121, am 13. 10. 1534 zum Papst gewählt. In sein Pontifikat fällt die Eröffnung des Trienter Konzils am 13. 12. 1545.
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sklavt werden.115 Das päpstliche Dokument ist insofern in unserem Zusammenhang besonders bemerkenswert, als es (kirchen-)rechtliche Verbindlichkeit für sich beanspruchen konnte. Mit dem Breve Pastorale officium vom 29. Mai 1537 hatte der Papst den Erzbischof von Toledo ermächtigt, diejenigen, die Indios wie Sklaven behandelten, zu exkommunizieren.116 4. Novas Leyes vom 20. November 1542 In den „Neuen Gesetzen“ vom 20. November 1542 hat Karl V. die rechtlichen Konsequenzen aus der Kritik eines Las Casas, aber auch eines Vitorias und anderer gezogen: „Wir ordnen an und befehlen, dass von jetzt an unter keinerlei Vorwand, weder nach Kriegsrecht noch aus sonst einem Grund […] irgendein Indianer versklavt werden darf.“117
Dass sich mit einer gesetzlichen Regelung nicht unbedingt die Realität ändert, bestätigte sich leider auch hier. Der König fügte sich der Ablehnung dieser „Neuen Gesetze“ und hob sie 1545 wieder auf.118
Paul III., Bulle „Sublimis Deus“ vom 2. Juni 1537, in Conquista und Evangelisation, hrsg. von Michael Sievernich, Mainz 1992, S. 475–476 [deutsche Übersetzung]. Zum Ganzen: Horst Gründer, Conquista und Mission, in ders., Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Franz-Joseph Post, Thomas Küster und Clemens Sorgenfrey, Münster 2004, S. 23–46, zunächst in Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (1992), Nr. 37, S. 3–15. 116 Paul III., Breve „Pastorale officium“ an den Erzbischof von Toledo vom 29. Mai 1537, in Heinrich Denzinger, Enchiridion Symbolorum et Definitionum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. von Peter Hünermann, 44. Aufl. Freiburg i. Br. 2014, Nr. 1495, S. 459, mit Hinweis darauf, dass die Strafbestimmung durch ein Breve vom 19. Juni 1538 (Non indecens videtur) wieder aufgehoben worden ist. Vgl. auch Brieskorn, Die Kritik von Bartolomé de Las Casas (Fn. 25), S. 221. – Es ist nicht zu übersehen, dass die in Sublimis Deus 1537 gewonnene Erkenntnis nicht konsequent umgesetzt worden ist, vgl. dazu als Überblick José Andrés-Gallego/Jesús María García Añoveros, La iglesia y la esclavitud de los negros, Pamplona 2002. Horst Gründer, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992, Kap. XV, S. 503–518, 679–682, hier S. 505 erinnert daran, dass im 17. und 18. Jahrhundert in Lateinamerika viele Sklaven in kirchlichem „Besitz“ waren. Das ist hier nicht weiter zu verfolgen, weil das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags nicht auf die Geschichte der Sklaverei, sondern auf die Begründung der Gleichheitsidee im Recht abzielt. 117 Zitiert nach Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 204. 118 Vgl. Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 108. 115
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5. Die gleiche Menschennatur In den hier vorgestellten Überlegungen des Francisco de Vitoria fällt das klare Bekenntnis dazu auf, dass die Indios veri domini seien, also ihre eigenen Herren, wahres dominium haben und daher niemandes Sklaven sind. Wichtiger noch als das Bekenntnis erscheint mir die Begründung, nämlich die Ableitung dieser Erkenntnis aus der gleichen Menschennatur, deren wesentliches Merkmal in der Gottesebenbildlichkeit liegt. Vitoria verwendete in diesem Zusammenhang freilich nicht den Begriff der Gleichheit oder aequalitas, aber der Sache nach führte der Gedankengang genau dorthin, da hier ein Regelungsproblem angesprochen war, das man später mit dem Begriff rechtlicher Gleichheit adressiert hat. Auch wenn wir gesehen haben, dass schon Montesino diese Idee vor Augen hatte, als er im Advent 1511 in Santo Domingo seine Predigten hielt, so ist doch zugleich festzustellen, dass sich die Zeitgenossen mit diesem Argument schwertaten. So hatte etwa Matías de Paz, damals Professor in Valladolid und ebenfalls Dominikanerpater, 1512 an der Junta von Burgos119 teilgenommen, um über die von Montesino beklagte Ungerechtigkeit der Conquista zu beraten. Seine Ideen hat er damals in einem Traktat De dominio regum Hispaniae super Indos niedergeschrieben, das als Manuskript überliefert ist.120 De Paz entlehnte aus Jesus Sirach 10, 8 und Mt 21, 43 ein theologisches Argument für die Übertragung der Herrschaft auf die Spanier121 und vertrat die Meinung, der spanische König habe zurecht Krieg führen dürfen.122 Die Herrschaft der Indios sei hingegen illegitim gewesen. Nur dürfe der König nicht tyrannisch regieren und die Eingeborenen zu Sklaven machen.
Kritisch zur realpolitischen Bedeutung solcher Kommissionen Pagden, The fall of natural man (Fn. 29 ), S. 27–28, der ihnen mehr eine Legitimations- als Entscheidungsrolle zugemessen hat. Hinsichtlich der ad hoc-Bedeutung mag man dem zustimmen, aber man darf nicht übersehen, dass die Legitimationsfragen für die dauerhafte Tragfähigkeit politischer Entscheidungen in den Augen fast aller Akteure der damaligen Zeit sub specie aeternitatis größte Bedeutung hatten. Es ging um das eigene Seelenheil. Aus dieser Perspektive gewann die Legitimationsfrage höchste Relevanz. Hieraus bezog die Diskussion ihren Ernst. 120 Matías de Paz, De dominio regum Hispaniae super Indos, auszugsweise in Vicente Beltrán de Heredia, El padre Matias de Paz OP, y su tradado „De dominio regum Hispaniae super Indos“, in La Ciencia Tomista 40 (1929), S. 173–190. Beltrán de Heredia äußert sich zur Entstehung des Traktats und gibt eine Inhaltsbeschreibung; dazu auch Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 216–218. 121 Beltrán de Heredia, El padre Matias de Paz (Fn. 120), S. 183. 122 Beltrán de Heredia, El padre Matias de Paz (Fn. 120), S. 187. 119
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Im Unterschied zu den meisten Zeitgenossen kam es für Vitoria bei der Bewertung der Conquista nicht darauf an, ob die Indios den christlichen Glauben annahmen. Anders urteilte de Paz: Unde sic victi non statim efficiuntur sclavi ipso jure, donec pertinaciter nolint supradicto principi obedire, aut se jugo suavissimo Salvatoris subjicere.123
Und daher werden die Besiegten nicht automatisch zu Sklaven, solange sie nicht hartnäckig den Gehorsam gegen den übergeordneten Herrscher verweigern und das süßeste Joch des Erlösers abweisen.
Getaufte, so de Paz, durften, wie es dem mittelalterlichen Verständnis des römischen Rechts entsprach,124 überhaupt nicht versklavt werden.125 Hier zeigte sich eine wichtige Differenz gegenüber dem Text von Vitoria. Vitoria nämlich lehnte im Hinblick auf das dominium klar eine Differenzierung nach dem Glauben ab und stellte auf die gleiche Menschennatur ab, die in der Gottesebenbildlichkeit und dem damit verbundenen Vermögen des Menschen ruht, seine Handlungen willentlich und vernunftgeleitet zu beherrschen.126 Das unterschied sich auch deutlich von den theokratischen Vorstellungen Juan López de Palacios Rubios127 – und wies in die Richtung 123 Beltrán de Heredia, El padre Matias de Paz (Fn. 120), Secunda conclusio, Primum corollarium, S. 182, auch zitiert bei Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 218. 124 Vgl. oben Fn. 16. 125 Beltrán de Heredia, El padre Matias de Paz (Fn. 120), S. 188. De Paz berief sich für seine Position auf die universalistischen Lehren Heinrich von Segusia (Hostiensis) über den orbis christianus, vgl. Beltrán de Heredia, S. 183, 186; Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 216, Anm. 34; weiterführend zu De Paz Zavala, Introducción (Fn. 38), S. XXVII– LXXXVII, XCVI–CXXX; García y García, La ética (Fn. 23), S. 346–353. 126 Ähnlich etwa auch Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt (De imperatoria vel de regia potestate), in ders., Werkauswahl, Bd. 3/2: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrsg. von Mariano Delgado, Paderborn 1997, S. 191–248, hier S. 197 (§ 1 n. 1): „Was die Menschen angeht, so wird bewiesen, daß sie aufgrund ihrer vernunftbegabten Natur ursprünglich frei geboren wurden, so Digesta (De iustitia et iure: l. manumissiones [D. 1.1.4]). Denn aufgrund dieser Natur machte Gott den einen nicht zum Diener des anderen, sondern er hat allen freien Willen geschenkt. Der Grund dafür liegt laut Thomas von Aquin (In II Sententiarum d. 44, q. 1., a. 3) darin, daß die vernunftbegabte Natur an sich nicht auf etwas anderes als Ziel hingeordnet ist, so auch nicht ein Mensch auf einen anderen Menschen. Die Freiheit ist nämlich ein den Menschen notwendig und per se vom Anfang der vernunftbegabten Natur an angestammtes Recht.“ (Übersetzung Thomas Eggensperger OP) – Aber auch selbst Las Casas hielt eine akzidentielle Sklaverei des Menschen für mit dem Freiheitsrecht vereinbar, vgl. l. c. § 1 n. 2. 127 Zu diesem Christiane Birr, Dominium in the Indies. Juan López de Palacios Rubios’ Libellus de insulis oceanis quas vulgus indias appelat (1512–1516), in Rg 26 (2018), S. 264– 283, Birr bietet eine übersichtliche Zusammenfassung zur Überlieferungsgeschichte und
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allgemeiner Gleichberechtigung. Sie wurzelt bei Vitoria in einem letztlich durch die christliche Eschatologie bestimmten Menschenbild, wie es in besonderer Klarheit Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae entfaltet hat.128 Dieses Menschenbild prägt geradezu die Struktur des Leittextes der Spätscholastiker (Exitus-reditus-Schema). Danach nimmt jeder Mensch – ohne Ansehen seines Standes – seinen Ursprung von Gott und ist dazu berufen, zu Gott zurückzukehren. Zwar ist der Mensch auch Teil einer menschlichen Gemeinschaft und Mitglied eines öffentlichen Gemeinwesens, des Staates also, aber er ist nicht dessen Teil, er „gehört“ nicht dem Staat, wie im folgenden Fragment aus der Summa theologiae zu sehen ist: Ad tertium dicendum quod homo non ordinatur ad communitatem politicam secundum se totum, et secundum omnia sua, et ideo non oportet quod quilibet actus eius sit meritorius vel demeritorius per ordinem ad communitatem politicam. Sed totum quod homo est, et quod potest et habet, ordinandum est ad Deum, et ideo omnis actus hominis bonus vel malus habet rationem meriti vel demeriti apud Deum, quantum est ex ipsa ratione actus.129
Zum dritten Punkt ist zu sagen, dass der Mensch nicht insgesamt dem politischen Gemeinwesen und nach allem, was er besitzt, untergeordnet ist. Und deshalb darf man seine Handlungen nicht als verdienstvoller oder weniger wertvoll nach der Ordnung des politischen Gemeinwesens beurteilen. Vielmehr muss alles, was den Menschen ausmacht, was er kann und was er besitzt, auf Gott hingeordnet sein. Und von daher ist jede Handlung des Menschen gut oder schlecht im Sinne
dem Inhalt des Libellus, der auf eine juristische Rechtfertigung der spanischen Herrschaft in der Neuen Welt hinauslief und dabei um eine Ableitung aus der Tradition bemüht war; s. a. Zavala, Introducción (Fn. 38), S. XIII–XXVII, XXXII–LXXXVII; Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 219. Höffner, S. 225, meint und begründet, dass die meisten der damaligen spanischen Hofjuristen die spanischen Eroberungen für gerechtfertigt gehalten hätten. – Der Streit der Spanier betraf in erster Linie die Rechtfertigung der politischen Herrschaft. Das ist freilich eine etwas andere Perspektive, als sie hier von mir verfolgt wird. Allerdings ist auch zu betonen, dass Juan López de Palacios Rubios, De las Islas del Mar Océano (Libellus de Insulis Oceanis) [geschrieben zwischen 1512 und 1516]. Introducción, texto crítico y traducción de Paulino Castañeda, Pamplona 2013, cap. 3, S. 126, 130, die Ungläubigen wie die Gläubigen als vernunftbegabte Geschöpfe für ihre eigenen Herren hielt, denen man nicht ohne gerechten Grund ihr Eigentum wegnehmen dürfe. In diesem Kontext berief er sich (cap. 3, S. 122 Fn. g) übrigens auch schon auf Genesis 1, 26, ohne freilich den Gedanken der Gottesebenbildkeit zu explizieren, wie es dann später Vitoria tat. Palacios Rubios (l.c., cap. 4, S. 280) befürwortete auch Solidaritäts- und Hilfspflichten gegenüber den Indios „ratione humanitatis, cum sint nostrae naturae participes“ (aufgrund ihres Menschseins, weil sie an unserer Natur teilhaben). Vgl. auch García y García, La ética (Fn. 23), S. 353–357, insbes. S. 355; Pagden, The fall of natural man (Fn. 29), S. 50–55; Birr, Dominium (l.c.), S. 270–272. 128 Weiterführend dazu Repgen, De restitutione (Fn. 44), 2017, S. XXI–XXXII. 129 Thomas von Aquin, STh I–II, q. 21, a. 4, ad. 3. Dazu auch Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 265 f.
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von verdienstvoll oder wertlos vor Gott, wie es sich aus ihrem Wesen selbst ergibt.
Der Mensch ist danach nicht mit Rücksicht auf das Gemeinwesen zu bewerten, sondern vielmehr Selbstzweck. So drückte es Thomas von Aquin auch in seiner Summa contra gentiles aus: Primum igitur, ipsa conditio intellectualis naturae, secundum quam est domina sui actus, providentiae curam requirit qua sibi propter se provideatur: aliorum vero conditio, quae non habent dominium sui actus, hoc indicat, quod eis non propter ipsa cura impendatur, sed velut ad alia ordinatis. […] Disponuntur igitur a Deo intellectuales creaturae quasi propter se procuratae, creaturae vero aliae quasi ad rationales creaturas ordinatae.130
Erstens erfordert die Situation des vernunftbegabten Wesens, derzufolge es Herr seines Handelns ist, die Sorge der Vorsehung, mit der sie um seiner selbst willen vorsorgt. Die Situation der anderen (Geschöpfe), die nicht die Herrschaft über ihr Handeln haben, besagt, dass die Sorge für sie nicht um ihrer selbst willen, sondern in Hinordnung auf anderes erfolgt. […] Die vernunftbegabten Geschöpfe (i. e. der Mensch) sind um ihrer selbst willen (propter se) geschaffen, alle anderen Geschöpfe hingegen auf diese hingeordnet.
Es lag also bereits in der scholastischen Theologie eine Argumentation vor, die eine solide Basis für die Idee der Gleichheit im Recht war. Vitoria hat diese Idee in wirkungsvoller Weise auf die Fragen der rechtlichen Legitimation der Herrschaft der Spanier in Amerika angewendet.
III. Erträge Georg Friedrich Hegel meinte 1817 in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften: „[…] der geläufige Satz, daß alle Menschen von Natur gleich sind, [enthält] den Mißverstand, das Natürliche mit dem Begriffe zu verwechseln; es muß gesagt werden, daß von Natur die Menschen vielmehr nur ungleich sind […] Daß die Bürger vor dem Gesetz gleich sind, enthält […] so ausgedrückt eine Tautologie; denn es ist damit nur der gesetzliche Zustand überhaupt, daß die Gesetze herrschen, ausgesprochen. […] Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, lib. 3 cap. 112 n. 1 (www.corpusthom isticum.org). Übersetzung in Anlehnung an Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Dritter Band, Teil 2, Buch III, Kapitel 84–163, hrsg. und übersetzt von Karl Allgaier, 4. Aufl. Darmstadt 2013, S. 155. Das zitierte Fragment wird auch bei Höffner, Kolonialismus (Fn. 26), S. 266, erwähnt. 130
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Die Gesetze […] setzen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die daraus hervorgehenden ungleichen rechtlichen Zuständigkeiten und Pflichten.“131
Für Hegel wie überhaupt für seine Zeit ist Gleichheit in erster Linie eine Frage der Gleichberechtigung, der Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Gleichheit folgt für Hegel nicht aus dem Begriff der Natur, sondern aus dem des bürgerlichen Gesetzes. Die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz oder genauer: vor dem Recht ist freilich ein jahrtausendealter Topos, immer und immer wieder in Diskussionen um Gerechtigkeit erwähnt und Grundlage der Forderung, dass die Richter ohne Ansehen der Person zu urteilen hätten.132 In unseren Quellen aus der Spätscholastik tritt uns hingegen eine Begründung für die Gleichheit vor Augen, die eben doch an die Natur des Menschen anknüpft, freilich nicht an die empirisch erfahrbare, sondern an die geistige Natur, die in der Beziehung des Menschen zu Gott ihren Ausdruck findet. In dieser Beziehung sind die Menschen gleich. Sie alle sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und daher auch wahre domini, Herren ihrer selbst, niemandem von Natur aus unterworfen, wie Vitoria nachdrücklich lehrte.133 Die Annahme einer gleichen Menschennatur war als solche nicht neu. Schon Aristoteles berichtete in seiner „Politik“ von der bei manchen Vorsokratikern vertretenen Auffassung, nach der die Unterscheidung von Freien und Sklaven Gewalt und unrechter Zwang sei, da sich beide von Natur aus nicht unterschieden.134 Alkidamas (436–338) soll in seiner ebenfalls von Aristoteles erwähnten Rede zur Freilassung der messenischen Gefangenen gesagt haben: „Der Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt.“135 131 Georg
Friedrich Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, unter Mitarbeit von Udo Rameil hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992 (Gesammelte Werke, Bd. 20), § 539, S. 510; ähnlich ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Klaus Grotsch, Hamburg 2017, § 200, S. 199–200. 132 Hier genügt ein Hinweis auf Deuteronomium 1, 16–17 und Levitikus 19, 15. 133 Vgl. insbesondere das Zitat oben bei Fn. 77. 134 Aristoteles, Politik I 3 (1253b); dazu auch Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung: Erster Teil, Zweite Abteilung: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, zweite Hälfte, Leipzig 1920 [ND Hildesheim 1963], S. 1400. 135 Zitiert nach Otto A. Baumhauer, Art. Alkidamas, in Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 503; vgl. auch Wolfgang Waldstein, Zum Menschsein von Sklaven, in Fünfzig Jahre Forschungen zur antiken Sklaverei an der Mainzer Akademie, hrsg. von Heinz Bellen und Heinz Heinen, Stuttgart 2001, S. 31–49, hier S. 34 mit Nachweisen zum Text.
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Dieselben Vorsokratiker relativierten ihren Standpunkt aber durch eine radikale Subjektivität, die normative Inhalte vom Willen des Handelnden abhängig macht, metaphysische Rückbindung aber ablehnt.136 Zu erinnern ist auch an die Stoa,137 die die Gemeinsamkeit der Menschheit betont hat und deren Ideal gerade die Unterschiede verneinte, sich gleichzeitig aber doch mit der römischen Realität der Sklaverei arrangierte.138 Im von der Stoa beeinflussten römischen Recht wurde entsprechend die Gleichheit aller Menschen behauptet, aber rechtlich nicht durchgeführt. Ulpian lehrte: Quod attinet ad ius civile, servi pro nullis habentur; non tamen et iure naturali, quia, quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt.139
Was das ius civile betrifft, gelten die Sklaven als nichts [i. e.: sind nicht rechtsfähig]. Nicht aber nach dem Naturrecht, weil, was das Naturrecht betrifft, alle Menschen gleich sind.
Wie selbstverständlich blieb die Sklaverei eine feste Institution aufgrund der Abstammung von einem Sklaven, als Folge einer Kriegsgefangenschaft oder als Strafe.140 Bei den Kirchenvätern erhielt die Gleichheitsidee nun eine christliche Grundierung. Basilius der Große (330–379) erklärte, dass es bei den Menschen die Sklaverei nicht von Natur aus gebe.141 Noch deutlicher wurde sein 136 Vgl.
Zeller, Die Philosophie der Griechen (Fn. 134), S. 1403, 1410. Z. B. L. Annaeus Seneca, De beneficiis lib. III, cap. 28, § 1, in ders., Philosophische Schriften, Lateinisch und Deutsch, Bd. 5, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 260–263: „Eadem omnibus principia eademque origo; nemo altero nobilior, nisi cui rectius ingenium et artibus bonis aptibus“ – Dieselben Anfänge haben alle Menschen, denselben Ursprung; niemand ist vornehmer als ein anderer, außer wenn er eine geradere und durch gute Charaktereigenschaften bessere Gesinnung hat (Übersetzung Rosenbach). Zu Seneca ausführlich Waldstein, Zum Menschsein von Sklaven (Fn. 135), S. 36–49. Weitere Nachweise zu anderen Schriften der Stoa bei Schaub, Studien (Fn. 58), S. 9–14, speziell zu Seneca S. 12–13. 138 Vgl. die quellennahe Beschreibung bei Schaub, Studien (Fn. 58), S. 9–17. Bemerkenswert etwa die These, Sklaven seien geistig sui iuris, also rechtlich frei und selbständig: Seneca, De beneficiis (Fn. 137), lib. III, cap. 20, § 1, S. 248–251: „Errat, si quis existimat servitutem in totum hominem descendere. Pars melior eius excepta est: corpora obnoxia sunt et adscripta dominis, mens quidem sui iuris […]“ – Es irrt, wenn einer meint, das Sklaventum dringe in den Menschen völlig ein. Sein besserer Teil ist davon ausgenommen: der Körper ist unterworfen und zugeschrieben den Herren, der Geist freilich ist von eigenem Recht, […] (Übersetzung Rosenbach). Vgl. Waldstein, Zum Menschsein von Sklaven (Fn. 135), S. 41, 48. 139 Ulp. D. 50.17.32. 140 Einzelheiten bei Max Kaser/Rolf Knütel/Sebastian Lohsse, Römisches Privatrecht, 21. Auflage München 2017, Rn. 15.15 ff. 141 Basilius, Liber de Spiritu sancto, cap. 20, n. 51, in Migne, Patrologia Graeca, Bd. 32, 137
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Bruder Gregor von Nyssa (335–394). Für ihn war die Sklaverei ein Verstoß gegen göttliches Recht. In Anspielung auf den Schöpfungsbericht der Genesis erinnerte Gregor daran, nur die Tiere sollten dem Menschen untertan sein.142 Gregor von Nazianz (329–390) schließlich betonte, dass die Menschen anfänglich sämtlich frei gewesen seien und erklärte die Sklaverei als eine Folge des Sündenfalls.143 Aber auch die Kirchenväter verwarfen nicht die Sklaverei als Zustand des Unrechts.144 Die klare Empfehlung des Apostels Paulus aus 1 Kor 7, 21145 wirkte hier nach. Das Christentum adressierte nicht unmittelbar die soziale Umwelt, sondern die individuelle Beziehung des Menschen zu Gott. Die Sklaven hatten aber bereits von Anfang an die Möglichkeit, zur Kirche zu gehören.146 Freie und Sklaven wurden dort gleichbehandelt. Das entsprach auch den Gerechtigkeitsvorstellungen bei Lucius Caecilius Firmianus (Lactanz) (ca. 250 bis ca. 320), der die Gleichheit aller Menschen als Forderung der Gerechtigkeit betrachtet hatte.147 Passend hat Friedrich Schaub die Haltung der spätantiken christlichen Autoren bis zu Augustinus so zusammengefasst: „Allgemein herrscht der Grundsatz, dass Gott den Menschen frei geschaffen hat, dass von Natur aus alle Menschen gleich sind. […] Dem Satze Ulpians: ‚Quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt‘, entspricht ein: ‚omnes namque homines natura aequales sumus‘ Gregors des Grossen.“148 Paris 1886, Sp. 160 D, vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 33. Zu Basilius und den beiden folgenden Kirchenvätern vgl. Richard Klein, Die Haltung der kappadokischen Bischöfe Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa zur Sklaverei, Stuttgart 2000, dazu ausführliche Rezension von Volker Henning Drecoll, in Jahrbuch für Antike und Christentum 45 (2002), S. 220–222. 142 Gregor von Nyssa, In Ecclesiasten, homilia IV, in Migne, Patrologia Graeca, Bd. 44, Paris 1863, Sp. 664 f. C-A, vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 34 Fn. 1. 143 Gregor von Nazianz, Oratio XIV, De pauperum amore, cap. 25, in Migne, Patrologia Graeca, Bd. 35, Paris 1886, Sp. 892 A, vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 36. In diesem Sinne auch Cyrill von Alexandrien, De adoratione in spiritu et veritate, lib. VIII, in Migne, Patrologia Graeca, Bd. 68, Paris 1864, Sp. 552 B, vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 43. 144 Vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 37–40 mit ausführlichen Belegen aus dem Werk des Johannes Chrysostomus. 145 1 Kor 7, 21: „Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave.“ 146 Schaub, Studien (Fn. 58), S. 49–51; Benedikt XVI., Enzyklika (Fn. 8), n. 4. 147 Lactanz, Institutiones Divinae, lib. V, 14: „Ubi enim non sunt universi pares, aequitas non est, et excludit inaequalitas ipsa iustitiam.“ – Wo nämlich nicht alle gleich sind, herrscht keine aequitas, und diese Ungleichheit selbst schließt die Gerechtigkeit aus. Zum Ganzen mit Nachweisen aus den Quellen Schaub, Studien (Fn. 58), S. 52–56, hier S. 54. 148 Schaub, Studien (Fn. 58), S. 67.
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Wenn ich es richtig sehe, ist Papst Leo der Große im fünften Jahrhundert der erste, der die Idee der Gleichheit mit dem Gedanken der Gottesebenbildlichkeit begründet hat. Er erklärte, dass die Gläubigen mit denen, die das Evangelium noch nicht angenommen hätten, dieselbe Natur hätten. Simul enim et cum istis habemus, quod ad imaginem Dei conditi sumus, nec carnali origine a nobis, nec spirituali nativitate divisi sunt.149
Dieselbe [Natur] nämlich haben wir mit diesen [Ungläubigen], weil wir nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Und wir sind weder nach der fleischlichen Herkunft noch von der geistlichen Geburt her getrennt.
Das blieb jedoch in der gesellschaftlichen Realität irrelevant, wenn man einmal vom Mönchstum absieht, das die Gleichheit der Menschen auch innerhalb der Orden praktisch umsetzte.150 Otto Dann hat die Entwicklung rechtlicher Gleichheit im Wesentlichen als ein Produkt vernunftrechtlicher Theorien der Aufklärungszeit angesehen.151 In der Tat findet man dort manches, was diese Idee repräsentiert. Dennoch scheint mir bereits die Spätscholastik die Gleichheit des Menschen als Rechtsposition, nicht nur als moralische Forderung zu begreifen. Die Relectio De Indis von Vitoria ist dafür nur ein Beleg, allerdings ein bemerkenswerter, weil Vitoria nicht nur eine rechtliche Forderung aufgestellt hat, sondern diese mit einer Begründung für die Gleichheit der Menschennatur untermauert hat. Der Schlüsselbegriff ist dabei das dominium, jene subjektive Rechtsposition, die aus der Souveränität eines jeden Menschen über die eigenen Handlungen folgt. Diese Souveränität gründet für Vitoria in der Gottesebenbildlichkeit.152 Letztere kennzeichnet die Natur jedes Menschen und ist daher der Grund für die Gleichheit im Recht. Schon vor den vernunftrechtlichen Theorieansätzen ist damit eine Begründung für die „gleiche Menschennatur“ gefunden, die rechtliche Qualität besitzt.
149 Leo der Große, Sermo XLI (De Quadragesima III), in Migne, Patrologia Latina, Bd. 54, Paris 1846, cap. III, Sp. 274A-B (http://gateway.proquest.com/openurl?url_ver= Z39.88-2004&res_dat=xri:pld&rft_dat=xri:pld:ft:all:Z500042152); vgl. Schaub, Studien (Fn. 58), S. 67 Fn. 2. 150 Schaub, Studien (Fn. 58), S. 112–114 mit Nachweisen insbesondere aus der Regula S. Benedicti. 151 Otto Dann, Art. Gleichheit, in Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 997–1046, hier insbesondere S. 1008–1010. 152 Vgl. oben bei Fn. 77.
Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit Marietta Auer I. Konzeptionelle Grundlagen: Formale sowie materiale Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Vernunftrechtliche Grundlegung des Privatrechts - Angeborene gleiche Freiheit und Primat der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Formale Rechtsgleichheit als erste Ebene des privatrechtlichen Gleichheitsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 IV. Spezielle Gleichheitssätze und Antidiskriminierungsrecht als zweite Ebene des privatrechtlichen Gleichheitsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 V. Von speziellen Gleichheitssätzen zum allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Zwei Jahrhunderte Privatrechtstheorie zu formaler und materialer Gleichheit:1 Ein so formulierter Titel legt eine bestimmte Sichtweise der Entwicklung von Gleichheitsbegriffen im modernen Privatrechtsdenken nahe. Das an Franz Wieacker angelehnte Narrativ suggeriert eine optimistische Entwicklungsgeschichte, die von formaler Gleichheit kontinuierlich in die Richtung immer weiterer materialer Gleichheit führt und sich entlang dieser Linie auch künftig fortsetzen lässt, bis ein rechtlicher Zustand tatsächlicher Gleichstellung und Diskriminierungsfreiheit im Privatrecht erreicht ist.2 Im Folgenden soll die Tragfähigkeit dieses Narrativs auf den Prüfstand gestellt werden. Dazu ist einerseits die tatsächlich partiell in die Richtung einer solchen Teleologie weisende Entwicklungsgeschichte des privatrechtlichen Gleichheitsgedankens anhand der Privatrechtstheorie der vergange1 Ich danke den Herausgebern für den Titelvorschlag. Die Vortragsfassung wurde sprachlich überarbeitet. Die eingefügten Nachweise beschränken sich auf ein Minimum. 2 Franz Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953, S. 18; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 543 ff.; ders., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 24.
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nen zwei Jahrhunderte bis zum gegenwärtigen Stand nachzuvollziehen. Zum anderen scheint aber gerade derzeit ein Wendepunkt und möglicherweise eine Scheidelinie erreicht zu sein, an der sich namentlich der Trend zu konstitutionalisiertem Gleichheitsdenken im Privatrecht nicht mehr fortsetzen lässt, ohne mit grundlegenden normativen und dogmatischen Strukturen des Privatrechts in Widerspruch zu geraten. Im Folgenden werden zunächst die Begriffe der formalen und materialen Freiheit, Gleichheit sowie Gerechtigkeit definiert und erläutert (I.). Auf dieser Grundlage lässt sich das ursprüngliche vernunftrechtliche Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im Privatrecht entfalten (II.). Es folgt ein dritter Abschnitt zur Herstellung formaler Rechtsgleichheit als erste Schicht des privatrechtlichen Gleichheitsdenkens (III.). Davon abzugrenzen ist die zweite Schicht spezieller Gleichbehandlungsgrundsätze und des in jüngerer Zeit entstandenen privatrechtlichen Antidiskriminierungsrechts (IV.). Abschließend stellt sich die Frage, ob man auf der Grundlage der letztgenannten Entwicklungen von einem allgemeinen Prinzip privatrechtlicher Gleichbehandlung sprechen kann, welches nicht mehr die begründungsbedürftige Ausnahme, sondern vielmehr auch in freiheitlich gestalteten Privatrechtsverhältnissen die Regel bildet (V.).
I. Konzeptionelle Grundlagen: Formale sowie materiale Freiheit und Gleichheit Um sich der letztgenannten Frage zu nähern, bedarf es zunächst der Klarheit über die konzeptionellen Grundlagen privatrechtlichen Gleichheitsdenkens. Dazu ist es erhellend, die Unterscheidung zwischen einer formalen und einer materialen Sichtweise, die aus der Debatte über Vertragsfreiheit geläufig ist, auch auf die Bedeutungsvarianten von Gleichheit im Privatrecht zu übertragen. Während das formale Paradigma der Vertragsfreiheit eine rein rechtliche Freiheit ohne Ansehung der Person bezeichnet, berücksichtigt ein materiales Verständnis die tatsächlichen Realisierungschancen privatrechtlicher Freiheit, versteht Freiheit also in Ansehung der Person als tatsächliche Entscheidungsfreiheit mit entsprechenden rechtlichen Konsequenzen, die etwa im Fall gravierend ungleicher Verhandlungsmacht deren Angleichung durch Herstellung von „Vertragsparität“ verlangen.3 Entsprechend lässt sich 3 Zur Terminologie Claus-Wilhelm Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000) 273, 277 ff.; vgl. auch Marietta Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 23 ff. sowie kritisch Ger-
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auch zwischen einem formalen Paradigma der privatrechtlichen Gleichheit im Sinne formaler Rechtsgleichheit in Privatrechtsverhältnissen und einem materialen Gleichheitsverständnis als Bedingung der Möglichkeit tatsächlicher Gleichheit mit entsprechend ausgestalteten tatsächlichen Realisierungsansprüchen privatrechtlicher Gleichbehandlung differenzieren.4 Anschaulich lässt sich mit Michael Grünberger insoweit auch von einem ersten und einem zweiten Freiheits- bzw. Gleichheitsproblem im Privatrecht sprechen. Während das erste Freiheits- und Gleichheitsproblem den Beginn des egalitaristischen Rechtsverständnisses der Neuzeit markiert, bei dem es um die Abschaffung feudalen Statusrechts und die Herstellung allgemeiner, für jede Person qua Personeneigenschaft geltender Rechtsfähigkeit geht, tritt das zweite Freiheits- und Gleichheitsproblem erst zutage, wenn diese erste Stufe gemeistert ist und erkennbar wird, dass aus formal gleicher Freiheit mitnichten tatsächlich gleiche Realisierungschancen individueller Freiheits- und Gleichheitsansprüche resultieren, sondern dass es eines Mehr an Realisierungsaufwand und Realisierungsansprüchen bedarf, um tatsächliche Freiheit ebenso wie tatsächliche Gleichheit zu verwirklichen.5 In Letzterem steckt indessen bereits eine Erkenntnis, die im Folgenden immer mitbedacht werden sollte. Freiheit und Gleichheit sind nicht um ihrer selbst willen erstrebenswert, sondern wegen des ihnen jeweils innewohnenden Gerechtigkeitsgehalts. Letztlich zielen alle Überlegungen zur formalen oder materialen Freiheit respektive Gleichheit im Privatrecht auf eine bestimmte Konzeption privatrechtlicher Gerechtigkeit und insbesondere Vertragsgerechtigkeit, die sich ebenfalls wieder entweder formal, material oder prozedural deuten lässt.6 Unter formaler Gerechtigkeit ist dabei wiederum Gerechtigkeit im Sinne strikter Gleichbehandlung ohne Ansehung der Person zu verstehen, während materiale Gerechtigkeit tatsächliche Ergebnisgleichheit in Ansehung der Person erstrebt. Der dazwischen liegende prozedurale Gerechtigkeitsbegriff bedeutet im privatrechtlichen Legitimationsdiskurs, dass sich eine Chance auf materiale Vertragsgerechtigkeit oder – mit Walter Schmidt-Rimpler – eine hinreichende „Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus“ bereits prozedural ohne inhaltliche Eingriffe in die Vertragssubstanz und damit freiheitsschonend begründen lässt, wenn man auf der vorgelagerten Ebene der Vertragsfreiheit mittels geeigneter materialer hard Wagner, Materialisierung des Schuldrechts unter dem Einfluss von Verfassungsrecht und Europarecht – Was bleibt von der Privatautonomie?, in Uwe Blaurock/Günter Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 2010, S. 13, 18 ff. 4 Michael Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 34 f., 57 ff. 5 Grünberger (Fn. 4), S. 110 ff. 6 Canaris, AcP 200 (2000) 273, 282 ff.
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Eingriffe zur Herstellung von Vertragsparität für angemessene Realisierungschancen material gerechten Kontrahierens sorgt.7 Kurz: Aus materialer Vertragsfreiheit folgt unter Überwindung der formal/material-Dichotomie prozedurale Vertragsgerechtigkeit. Dieser Zusammenhang wird etwa in der Bürgschaftsentscheidung des BVerfG eingehend ausgeführt.8 Ist dieser konzeptionelle Rahmen auch dann noch tragfähig, wenn man ihn auf die Gleichheit erstreckt? Bereits an dieser Stelle seien zwei Fragezeichen angebracht. Zum einen lässt sich die bisher entworfene Unterscheidung zwischen einer formalen und einer materialen Lesart schon im Rahmen der Debatte über Vertragsfreiheit kaum fruchtbar durchführen. Aus dem soeben Ausgeführten zu den materialen Voraussetzungen prozeduraler Gerechtigkeit folgt nämlich, dass es entgegen der scheinbar klaren dichotomischen Abgrenzung keine rein formale Konzeption privatrechtlicher Freiheit geben kann, die nicht immer schon einen unveräußerlichen Kern an struktureller Parität bzw. substantieller Fähigkeit zum gleichen Freiheitsgebrauch voraussetzt und damit doch immer schon im Ansatz materialisiert ist.9 Damit fällt die Unterscheidung zwischen einer solchen notwendigen, scheinbar „neutralen“ Materialisierung zum Zweck der Herstellung von Parität einerseits und allen darüber hinausgehenden distributiv oder paternalistisch motivierten Einschränkungen der Vertragsfreiheit andererseits aber in sich zusammen und wird konzeptionell unmöglich.10 Zum anderen – und dies bildet mit Blick auf das Gleichheitsproblem den noch gravierenderen Einwand – täuschen semantische Parallelisierungen wie diejenigen zwischen formaler sowie materialer Freiheit und Gleichheit sowie zwischen einem ersten und zweiten Freiheits- und Gleichheitsproblem darüber hinweg, dass Freiheit und Gleichheit als juristische und ethische Bedingungen von Gerechtigkeit gerade nicht parallel strukturiert sind. Freiheit wirkt ihrer Struktur nach durch eine formale, inhaltlich unbestimmte Definition selbstlegitimierend. Darin liegt der Kern aller Gerechtigkeitskonzeptionen, die von einem Primat der Freiheit vor der Gleichheit ausgehen. Gleichheit ist dagegen anders strukturiert. Gleichheit erfordert anders als Freiheit immer eine qualitative, inhaltliche Ausfüllung am Maßstab der Gleichbehandlung von wesentlich Gleichem, was charakteristischerweise dazu führt, dass die möglichen Vergleichsansprüche diesseits vollständiger 7 Walter Schmidt-Rimpler, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 (1941) 130, 152 ff.; ders., Zum Vertragsproblem, in Festschrift für Ludwig Raiser, 1974, S. 3 ff.; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000) 273, 284 f.; Wagner (Fn. 3), S. 19 f. 8 BVerfGE 89, 214, 231 ff. 9 Kritisch auch Wagner (Fn. 3), S. 18 ff. 10 Näher Auer (Fn. 3), S. 28 ff. m. w. N.
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und niemals erreichbarer völliger Gleichheit aller Individuen, um die es bei rechtlichen Gleichbehandlungsansprüche paradoxerweise gar nicht gehen darf und soll, uferlos und letztlich nie erfüllbar sind. Es ist kein Geheimnis, dass darin eine Achillesferse des modernen Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsrechts gerade in solchen Gesellschaften liegt, in denen egalitäre Prinzipien bereits sehr weitgehend verwirklicht sind.11
II. Vernunftrechtliche Grundlegung des Privatrechts – Angeborene gleiche Freiheit und Primat der Privatautonomie Das asymmetrische Verhältnis von Freiheit und Gleichheit tritt noch deutlicher zutage, wenn man die vernunftrechtlichen Grundlagen des Gleichheitsgedankens im Privatrecht betrachtet. Diese Grundlagen sind schnell referiert und leicht zu verstehen.12 So basiert das neuzeitliche Vernunftrecht auf dem im Kern privatrechtlichen Grundgedanken des Kontraktualismus, wonach nur ein zwischen freien Gleichen geschlossener Vertrag geeignet ist, legitime staatliche Institutionen mit normativ gültiger Rechtssetzungsund Rechtsdurchsetzungsmacht zu begründen.13 Was im Großen gilt, gilt ebenso auch im Kleinen: Der freiverantwortlich geschlossene Vertrag wirkt nicht nur als Gesellschaftsvertrag, sondern auch als freiverantwortliche Willensübereinkunft zwischen Privaten unabhängig vom inhaltlich Gewollten selbstlegitimierend, wenn und weil er zwischen freiverantwortlich handelnden Gleichen geschlossen wurde.14 Das Vertragsprinzip erwächst damit sowohl auf der staatsrechtlichen Makroebene als auch auf der pri So weisen egalitäre Gesellschaften paradoxerweise stärkere Geschlechterdifferenzen bei der Studien- und Berufswahl auf. Zu dieser international nachweisbaren „Paradoxie der Gleichberechtigung“ Gijsbert Stoet/David C. Geary, The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education, Psychological Science, 14. Februar 2018, https://doi.org/10.1177/0956797617741719; dies., Corrigendum: The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education, Psychological Science, 6. Dezember 2019, https://doi.org/10.1177/0956797619892892. Vgl. auch Marietta Auer, Was ist eine Frau? Zur Rechtsperson als Vehikel der Geschlechtergerechtigkeit, ZIG 14 (2020), 139 ff. 12 Eingehend Grünberger (Fn. 4), S. 71 ff. m. w. N. 13 Statt aller Wolfgang Kersting, Zur Logik des kontraktualistischen Arguments, in Volker Gerhardt (Hrsg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, 1990, S. 216 ff. 14 Grundlegend Werner Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. 1, 1960, S. 135, 141 ff.; ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2: Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, S. 1 ff. 11
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vatrechtlichen Mikroebene zum wohl wirkmächtigsten modernen Rechtsprinzip schlechthin, und das gilt selbst unter Berücksichtigung des seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts international dominierenden und das Privatrecht als rechtswissenschaftliche Leitdisziplin zunehmend verdrängenden Konstitutionalismus grundsätzlich auch noch für den gegenwärtigen privatrechtlichen Diskurs. Dieser basiert trotz seiner zunehmenden grundrechtlichen Überformung nach wie vor auf dem selbstlegitimierenden Legitimationsmodell von Privatautonomie und Vertragsfreiheit – wie tragfähig diese dogmatische Grundstruktur künftig mit Blick auf privatrechtliche Gleichbehandlungsansprüche noch sein wird, bleibt zu diskutieren.15 Grundlage der universellen Legitimationskraft des Vertragsprinzips ist, wie sich schon bei Immanuel Kant nachlesen lässt, die Maxime volenti non fit iniuria: Dem Zustimmenden geschieht unabhängig vom Inhalt der Zustimmung kein Unrecht, weil und soweit er zustimmt.16 Die bloße Form der Zustimmung ersetzt durch den Mechanismus der Freiverantwortlichkeit also die inhaltliche Bewertung des Zustimmungsinhalts. Entsprechendes drückt die Maxime stat pro ratione voluntas aus, wonach die reine Form des Willens an die Stelle der inhaltlichen Vernünftigkeit des Gewollten tritt.17 Dieser Legitimationsmechanismus ist dabei strukturnotwendig so beschaffen, dass unter Freiheit grundsätzlich formale Freiheit, also die Präsumtion einer allen vernunftfähigen Subjekten gleichermaßen zukommenden, material uneingeschränkten Freiheit zur Zustimmung zu verstehen ist. Grundlage dieses Willensprinzips ist der normative Grundgedanke der Aufklärung, dass ausschließlich die menschliche Vernunft als Quelle interpersonal gültiger Normen in Betracht kommt. Denn nur diese Vernunft kommt als im westlichen Weltbild vorausgesetzte metaphysische Universalie allen vernunftbegabten Wesen gleichermaßen zu. Unter Gleichheit im Sinne des Vernunftrechts ist infolgedessen nicht irgendeine Gleichheit, sondern spezifisch Gleichheit in der Fähigkeit zum Vernunft- und Freiheitsgebrauch zu verstehen; genau diese kommt nämlich allen vernunftfähigen Menschen gleichermaßen zu. Hier stattdessen zu differenzieren und die Freiheit von vornherein durch den Vorbehalt einzuschränken, dass manche Vernunftsubjekte trotz der Grundannahme universell gleicher Vernunftfähigkeit nur eingeschränkt 15 Näher
Marietta Auer, Selbstreflexion der Privatrechtswissenschaft: Formation, Herausforderungen, Perspektiven, in Eric Hilgendorf/Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2021, S. 301 ff. 16 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten: Rechtslehre, in Kants Werke. AkademieTextausgabe, Bd. 6, 1907, § 46, S. 203, 313. 17 Flume, in FS 100 Jahre DJT, Bd. 1, 1960, S. 141; ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (Fn. 14), S. 6.
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in der Lage sind, von ihrer Freiheit zu freiverantwortlichem privatrechtlichen Handeln tatsächlichen Gebrauch zu machen, bedeutet damit nichts weniger, als das legitimierende Grundprinzip des gesamten vernunftrechtlichen Universums in einen inneren Widerspruch zu führen. Eine Vernunft, die nur gleichermaßen zwischen allen Vernunftwesen als rechtfertigendes Prinzip in Betracht kommen kann, dann aber genau in dieser Universalität im Grundsätzlichen – also nicht nur in marginalen Ausnahmefällen wie Geschäftsunfähigkeit oder Minderjährigkeit – relativiert und durch das Gegenteil eingeschränkt wird, verliert aufgrund innerer Widersprüchlichkeit ihre legitimierende Kraft und steht damit, kantisch gesprochen, auch nicht mehr als Bedingung der Möglichkeit eines auf Vernunft gegründeten Privatrechts zur Verfügung. Vernunft als Legitimationsprinzip drängt also immer auf möglichst abstrakte, formale Universalisierung, und an dieser Stelle kommt wiederum die oben definierte Gleichheit ins Spiel, die die notwendige Bedingung für diese Universalisierung bildet. Dazu ist wiederum ein a priori formales Gleichheitsverständnis nötig. Denn relevant ist der Gedanke allgemeiner angeborener Gleichheit wie erwähnt nur hinsichtlich der einzigen für den vernunftrechtlichen Legitimationsmechanismus relevanten menschlichen Eigenschaft, nämlich der universellen Vernunftfähigkeit, die zugleich die Würde des Menschen als moralische Person und seine universell gleiche Rechtsfähigkeit und Rechtsträgereigenschaft begründet.18 Vom Standpunkt des Vernunftrechts ist es damit gerade irrelevant, dass sich Menschen in ihren zufälligen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten und sogar in diskriminierungsaffinen Gruppencharakteristika wie Geschlecht, Abstammung usw. unterscheiden. Denn diese Unterscheidungsmerkmale sind, genau wie die empirischen Unterschiede in den individuellen Fähigkeiten zum Freiheitsgebrauch, definitionsgemäß unerheblich, weil es für die Teilhabe am vernunftrechtlichen Legitimationsmechanismus nur auf die Gleichheit aller Menschen als rechtsgleiche Personen ankommt. Und mit alle Menschen sind tatsächlich alle Menschen gemeint, und zwar durchaus unabhängig davon, dass es den Begründern dieser Ideen vor dreihundert Jahren selbstverständlich nicht in den Sinn gekommen wäre, etwa Frauen oder Sklaven die gleiche bürgerliche Rechtsfähigkeit zuzuerkennen wie weißen Männern europäischer Abstammung. Die epochale Kraft des vernunftrechtlichen Legitimationsmechanismus zeigt sich gerade darin, dass er seit seiner erst18 Dazu Marietta Auer, Die Substanz der Freiheit: Pufendorfs Begriff der moralischen Person, in Rolf Gröschner/Stephan Kirste/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Person und Rechtsperson, 2015, S. 81 ff.
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maligen Formulierung aus sich selbst heraus eine unaufhaltsame historischnormative Eigendynamik, gewissermaßen einen Drall in die Richtung immer weiterer Realisierung des ihm eingeschriebenen Universalisierungsanspruchs entfaltet hat. In dessen Folge wurde der Anspruch auf gleiche Rechtsfähigkeit kraft gleicher Personenwürde nach und nach von immer mehr Gruppen in Anspruch genommen: Zuerst (in dieser Reihenfolge) von Männern nichteuropäischer Abstammung, dann von Frauen, und künftig gleich nach den Frauen möglicherweise auch noch von weiteren konstruktiv als Rechtsträger geeigneten Entitäten.19 Richtig ist es auf dieser Grundlage daher, in einem – allerdings genau zu qualifizierenden – Sinne von einem Primat der Freiheit vor der Gleichheit zu sprechen.20 Denn zwar setzt der vernunftrechtliche Legitimationsmechanismus Gleichheit im Sinne von angeborener Vernunftfähigkeit immer schon voraus. Freiverantwortliche Verträge gelten aber nicht schon deshalb, weil sie von Gleichen geschlossen wurden, sondern vielmehr nur dann und deswegen, weil diese Gleichen sie freiverantwortlich geschlossen haben. Der Legitimationsmechanismus liegt immer in der Freiheit und nicht in der Gleichheit. Vernunftrechtlich gerecht ist etwas nie schon deswegen, weil alle gleich behandelt werden. Entscheidend ist vielmehr immer der normative Anspruch der Aufklärung, alle heteronomen Zuteilungs- und Zuweisungssysteme gerechter Anteile an dieser Gesellschaft – seien sie auf Gott oder die Natur oder die Feudalordnung gegründet – einer Vernunftkritik zu unterziehen und sie durch das einzige Legitimationsprinzip zu ersetzen, das in der modernen Gesellschaft unhintergehbar ist: das Prinzip individueller Autonomie. Zwar ist auch dabei die Gleichheit aller Vernunftsubjekte immer schon vorausgesetzt, aber das eigentliche Movens vernunftbasierter Gerechtigkeit bleibt – um es nochmals zu wiederholen – in jedem Fall die Freiheit. Dasselbe gilt für ein Privatrechtsverständnis, das die vernunftrechtliche Autonomie als Privatautonomie rekonstruiert. Auch Privatautonomie muss vor dem Hintergrund ihrer vernunftrechtlichen Legitimationsstruktur grund19 Hierher gehören zeitgenössische Debatten über Tierrechte und rechtsfähige künstliche Intelligenzen; vgl. einerseits etwa Anne Peters, Rights of Human and Nonhuman Animals: Complementing the Universal Declaration of Human Rights, in AJIL Unbound 112 (2018), 355 ff.; andererseits Gunther Teubner, Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, AcP 218 (2018) 155 ff. Zur Dialektik der daraus resultierenden Ausdehnung gleicher Rechtsträgereigenschaft klarsichtig Paul B. Preciado, Ein Apartment auf dem Uranus, 2020, S. 114 ff.: Feminismus sei kein Humanismus, sondern ein „Animalismus“. 20 Bzw. „Präponderanz der Freiheit vor der Gleichheit“; so Grünberger (Fn. 4), S. 35, 312, 749, 810 ff. und passim.
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sätzlich formal verstanden werden, weil sie sich auch im geltenden Recht auf die immer schon vorausgesetzte formale Gleichheit im Vernunftgebrauch stützt, die durch die Annahme gleicher Rechtsfähigkeit aller Rechtssubjekte in § 1 BGB abgebildet wird.21
III. Formale Rechtsgleichheit als erste Ebene des privatrechtlichen Gleichheitsproblems Die tatsächliche Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte privatrechtlichen Gleichheitsdenkens ist bei alledem aber noch nicht einmal angeschnitten, geschweige denn auserzählt. Zweifelsohne besteht ein erheblicher Unterschied zwischen den soeben dargestellten theoretischen Voraussetzungen vernunftrechtlicher Freiheit und Gleichheit im Privatrecht und deren tatsächlicher historischer Durchsetzung seit Anbruch der Moderne. Im Folgenden soll indessen wie erwähnt keine weitere Entwicklungsgeschichte vom formalen hin zu immer mehr materialem Gleichheitsdenken im Wieackerschen Sinne erzählt werden. Zu vermeiden ist eine solche Rekonstruktion zum einen deshalb, weil die Wieackersche Transformationslegende von der angeblich formalen Freiheitsethik des neunzehnten Jahrhunderts hin zur materialen Ethik sozialer Verantwortung des zwanzigsten Jahrhunderts bereits die Entwicklung des privatrechtlichen Freiheitsbegriffs verzeichnet, den es in der vorausgesetzten Formalität schon im neunzehnten Jahrhundert so nicht gab.22 Entsprechendes gilt, wie im Folgenden zu zeigen ist, erst recht für das privatrechtliche Gleichheitsdenken. Zum anderen liegen Freiheitsund Gleichheitsprinzipien in der vernunftrechtlichen Theorie ebenso wie in der historischen Privatrechtsentwicklung wie ausgeführt nicht auf einer Ebene, so dass eine Parallelisierung durch dieselbe lineare Transformationserzählung insoweit nicht nur vergröbernd und verzeichnend, sondern irreführend und falsch wäre. Es ist in diesem Zusammenhang erneut wichtig, sich die strukturellen Unterschiede zwischen der Ideengeschichte des Freiheits- und des Gleichheitsgedankens vor Augen zu halten. Anders als das Prinzip privatrechtlicher Freiheit, das sowohl als formales als auch als materiales Prinzip von Anfang an in verschiedenen Amalgamierungen verwirklicht war, so dass sich letztlich seit dem neunzehnten Jahrhundert nur immer wieder dieselbe 21 Klassisch Ludwig Raiser, Der Gleichheitsgrundsatz im Privatrecht, ZHR 111 (1948) 75, 78; dazu Grünberger (Fn. 4), S. 32, 82 ff., 224 ff. 22 Näher Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 1 ff., 135 ff.
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Frage stellt, wie sich die formalen und materialen Aspekte ohne Systembruch miteinander vereinigen lassen, stellt sich die Lage beim Gleichheitsdenken insoweit anders dar, als es dort erst einmal des fundamentalen Kampfes um die Verwirklichung formaler Rechtsgleichheit, also der elementaren Gleichstellung ausgeschlossener Gruppen wie nichtweißer Männer und Frauen bedurfte, bevor das Thema materialer, tatsächlicher Gleichheit in seiner letztlich nie erfüllbaren Anspruchsstruktur adressiert werden konnte. Es ist also zwar eine mögliche Problembeschreibung, mit Michael Grünberger von einem ersten und zweiten Freiheitsproblem in der Privatrechtstheorie ebenso wie von einem ersten und zweiten Gleichheitsproblem zu sprechen und beides Mal den Unterschied zwischen einer formalen, rein rechtlichen und einer materialen, tatsächlichen Verwirklichung des jeweiligen Prinzips zu meinen.23 Dabei handelt es sich aber jeweils um ein unterschiedliches Problemverhältnis zwischen beiden Seiten des Dualismus. Denn dem Postulat des Primats formaler Freiheit ist immer schon die Frage gleichursprünglich, inwieweit sie ihrem letztlich prozeduralen Gerechtigkeitsanspruch gerecht werden kann, während um formale Gleichheit erst jahrhundertelang gekämpft werden musste, bevor überhaupt das Plateau des formalen vernunftrechtlichen Universalismus betreten werden konnte. Dagegen betrifft alles, was seitdem im Sinne eines „Mehr“ an qualifizierter Gleichstellung bzw. Nichtdiskriminierung erreicht wurde, eine ganz andere normative Frageebene, die zudem anders strukturierte Personenkreise umfasst, nämlich durchaus auch solche, die aus der formalen Rechtsgleichheit nach ihrer primären Identifikationsmöglichkeit nie ausgeschlossen waren.24 Sichtbar wird das etwa am Beispiel der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. So stand die Gleichbehandlung homosexueller und heterosexueller weißer Männer im Hinblick auf die Freiheit, eine verschiedengeschlechtliche Ehe mit allen Vorrechten gegenüber der Ehefrau zu schließen, niemals in Frage.25 Insgesamt stellen sich zwei Jahrhunderte Gleichbehandlungsdiskurs im Privatrechtsdenken vor diesem Hintergrund wie folgt dar: Betrachtet man Vgl. vorstehend bei Fn. 5. Eingehend zur strukturellen Unterscheidung zwischen allgemeinem Gleichbehandlungs- und speziellem Nichtdiskriminierungsrecht Grünberger (Fn. 4), S. 527 ff., insbes. 550 ff. 25 Eine ähnliche Argumentationsstruktur liegt noch der Entscheidung des BVerfG zum Lebenspartnerschaftsgesetz aus dem Jahr 2002 zugrunde, die in der separaten Gewährleistung von gleichgeschlechtlicher Ehe und verschiedengeschlechtlicher Lebenspartnerschaft vor Einführung der „Ehe für alle“ im Jahr 2017 keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, 3 GG erkennen konnte, da das LPartG nicht an das Geschlecht, sondern an die „Geschlechtskombination“ einer Personenverbindung anknüpfe; vgl. BVerfGE 105, 313, 351. 23 24
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zunächst die erste Problemebene der Herstellung formaler Rechtsgleichheit, so liegen die Meilensteine der vergangenen zweihundert Jahre zum einen in der Einbeziehung der Frauen und zum anderen in der mühsam erkämpften Beseitigung formaler Entrechtung aufgrund von Diskriminierung nach Herkunft, Religion, Abstammung oder „Rasse“.26 Betrachtet man diese gravierenden Fälle formaler Entrechtung ganzer Bevölkerungsgruppen, so liegen die Hauptprobleme indessen meist jenseits des Privatrechts in öffentlich-rechtlichen Statusfragen wie Zugang zur Staatsangehörigkeit, Freizügigkeit, Wahlrecht, Sozialversicherung, Meinungs-, Berufs- und Ausbildungsfreiheit.27 Im Privatrecht wurden gravierende Verkürzungen der allgemeinen Rechtsgleichheit dementsprechend nicht zufällig meist gerade dort relevant, wo privatrechtliche Verhältnisse am ehesten öffentlich-rechtlichen Statusverhältnissen entsprechen und deswegen bis heute gelegentlich als „Keimzelle des Staates“ tituliert werden, nämlich im Familien- und Personenstandsrecht. So ist es Gemeingut, dass das Familienrecht bei Inkrafttreten des BGB von zahlreichen Vorrechten des Ehemannes gegenüber der Ehefrau durchsetzt war, deren Abbau bis in die jüngste Zeit hinein dauerte und nur durch den Nachdruck zahlreicher Interventionen des BVerfG möglich wurde.28 Es ist weiter kein Zufall, dass die fundamentale Entrechtung von Juden während der nationalsozialistischen Diktatur, die sich im Privatrecht ebenfalls gerade im Familienrecht manifestierte und Regelwerke wie das „Blutschutzgesetz“ sowie das „Erbgesundheitsgesetz“ hervorbrachte, wiederum mit weiteren Diskriminierungen namentlich von Homosexuellen sowie erneut mit der Zurückdrängung der Frau aus einem sich damals schon abzeichnenden – und letztlich nicht mehr umkehrbaren – egalitären Rollenverständnis koinzidierte.29 Daraus kann man erstens lernen: Nie wieder! Und zweitens, dass der oben entfaltete Gerechtigkeitsanspruch des Vernunftrechts mit seinem Beharren auf der Universalität formaler Gleichheit und Freiheit aller Personen tatsächlich einen wesentlichen Kern dessen erfasst, was man sinnvollerweise unter rechtsstaatlicher Gerechtigkeit verstehen kann und sollte. Zur Problematik des Begriffs „Rasse“ als Differenzierungsmerkmal Grünberger (Fn. 4), S. 561 ff. 27 Exemplarisch zu den statusrechtlichen Auswirkungen der historischen Rassendiskriminierung in den USA ibid., S. 116 ff. 28 Ausführlich ibid., S. 88 ff. 29 Zur Ambivalenz der Frauenrolle im Nationalsozialismus, in der Opfer- und Täterstatus wie so oft koinzidierten, aber etwa Kathrin Kompisch, Täterinnen: Frauen im Nationalsozialismus, 2008. 26
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Diese Lesart wird durch die zweite Teilformel der von Gustav Radbruch vor dem Hintergrund des NS-Unrechts im Jahr 1946 formulierten Radbruchschen Formel bestätigt. Diese zweite sogenannte „Verleugnungsformel“ geht über die bekanntere, vorangehende „Unerträglichkeitsformel“ insoweit hinaus, als sie nicht nur den Geltungsverlust von unerträglich unrichtigem Recht postuliert, sondern dort, „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde“,30 selbstbewusst vom Verlust der Rechtsqualität derart gleichheitswidrigen Rechts ausgeht. Ein solches Gesetz sei „nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“31 Gerechtigkeit bedeutet essentiell Gleichheit.32
IV. Spezielle Gleichheitssätze und Antidiskriminierungsrecht als zweite Ebene des privatrechtlichen Gleichheitsproblems Gerade die scharfe Rechtsfolge der Verleugnungsformel, die gleichheitswidrigem Recht den Rechtscharakter überhaupt abspricht, zeigt aber, dass die im Folgenden zu erörternde zweite Ebene des Gleichheitsproblems im Privatrecht anderen Regeln folgt, ja folgen muss, und es mithin ein schiefes Bild vermittelt, wenn man das erste und zweite Gleichheitsproblem im Privatrecht als ein Kontinuum stetig steigender Gerechtigkeitsgewähr mit dem Übergang von rechtlicher zu immer weiter verwirklichter tatsächlicher Gleichheit beschreibt. Dass letztere nicht das Ziel der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihres Rechts, insbesondere ihres Privatrechts sein kann, zeigt sich bereits anhand der Aporie, dass die Gewährleistung formaler Gleichheit auf der Ebene der bürgerlichen Grundfreiheiten die faktischen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft erst recht zementiert, indem sie diese zum einen voraussetzt und zum anderen gerade durch die Gewährleistung des allgemeinen 30 Gustav
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Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105,
Ibid.
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32 Nur welche? Die Frage „Equality of what?“ stellt auch Amartya Sen, Inequality Reexa-
mined, 1995, S. 10 f.; dazu Grünberger (Fn. 4), S. 871. Zur tautologischen – da wieder auf die Frage nach dem richtigen Maßstab juristischer oder philosophischer Gleichbehandlungsansprüche zurückverweisenden – Antwort ausführlich ibid., S. 902 ff.
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gleichen Freiheitgebrauchs freiheitsrechtlich legitimiert.33 Die bürgerliche Gesellschaft schafft sich, wie man deshalb zuspitzend formulieren könnte, ihren eigenen Feudalismus im Gewande privatrechtlicher Betätigungsfreiheit. Aus dieser Aporie der bürgerlichen Gesellschaft – deswegen handelt es sich um eine solche – gibt es keinen einfachen Ausweg. Denn die allen Bürgern gleichermaßen gewährte allgemeine gleiche Freiheit lässt sich nicht als bloße Ideologie abtun. Sie wird vielmehr bewusst und gezielt im Interesse von jedermann gewährt, weil individuelle Unterschiede wie die Ausprägung unterschiedlicher Begabungen, die Realisierung unterschiedlicher Lebensentwürfe sowie überhaupt jede Form von wettbewerblicher Weiterentwicklung individueller und sozialer Ziele in einer individualistisch-pluralistischen Gesellschaft grundsätzlich sozial erwünscht sind.34 Man verwickelt sich also – gleich welcher Art von individualistischer Ethik man folgt, ob utilitaristisch, kantianisch oder rawlsianisch – in Widersprüche, wenn man einerseits die Vorteile von Individualisierung und Pluralisierung genießen, andererseits aber deren Preis nicht zahlen will, der nun einmal in der Akzeptanz und dynamischen Selbstverstärkung individueller und gruppenspezifischer Unterschiede besteht. Die Frage verschiebt sich also dahin, welche Ungleichheiten in einer pluralistischen, aber ihrem Selbstverständnis nach dennoch egalitären Gesellschaft derart normativ unerwünscht sind, dass sie als korrekturbedürftig empfunden werden, und zwar auch und gerade dann – und darin liegt eine weitere Schwierigkeit –, wenn sie sich innerhalb des spezifischen normativen Sektors der bürgerlichen Gesellschaft abspielen, der sich als Privatrecht oder noch suggestiver als „Privatrechtsgesellschaft“ bezeichnen lässt.35 Dabei handelt es nicht nur um ein einfaches, sondern um ein doppeltes normatives Strukturproblem. Das ohnehin schon spannungsreiche Verhältnis zwischen Gleichheit und individualistischer Betätigungsfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft kollidiert gerade im Bereich des Privatrechts mit der zugespitzten Bedeutung der dort begriffsdefinierenden Freiheit zur Selbstgestaltung von Rechtsverhältnissen. Das Problem der Geltung von 33 Klassisch Karl Marx, Zur Judenfrage, in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1981, S. 347, 368 ff.; grundlegend aus neuerer Zeit Franz Böhm, Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft, ORDO 17 (1966) S. 75, 121 ff.; vgl. auch Grünberger (Fn. 4), S. 51 f., 111 ff. 34 Böhm, ORDO 17 (1966) S. 75, 89 ff.; dem folgend etwa Claus-Wilhelm Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 873, 875 ff. 35 Grundlegend Böhm, ORDO 17 (1966) S. 75 ff.; aus jüngerer Zeit etwa Karl Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft: Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 2007; dazu Grünberger (Fn. 4), S. 32, 254 ff., 899 ff., 975 ff.
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Gleichheitsansprüchen im Privatrecht läuft letztlich auf die Interferenz zweier gleichermaßen sozial wirksamer normativer Strukturen der individualistischen Gesellschaft hinaus – hier erwünschter Egalitarismus als gesamtgesellschaftliches Desiderat, dort erwünschte Eigeninitiative als spezifischer Privatrechtszweck –, die sich nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung auflösen lässt. Vor diesem Hintergrund rückt nicht nur der Leerformelcharakter des allgemeinen Gleichheitssatzes ins Blickfeld, sondern es sollte strukturell intuitiv nachvollziehbar werden, warum die dogmatische Handhabung von Gleichbehandlungsgrundsätzen im deutschen Privatrecht jedenfalls bis vor kurzem immer von äußerster normativer Zurückhaltung geprägt war. Bisher, und das heißt bis zur Stadionverbot-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2018,36 war weithin anerkannt, dass ein freiheitliches Privatrechtsverständnis auf der Grundlage von Privatautonomie mit der Anerkennung eines allgemeinen privatwirksamen Gleichheitsgrundsatzes, gar noch auf verfassungsrechtlicher Basis, unvereinbar wäre.37 Nicht ausgeschlossen war damit freilich schon bisher die Entwicklung zahlreicher sektorspezifischer Gleichbehandlungsgrundsätze in privatrechtlichen Teilgebieten wie Arbeitsrecht, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, Wettbewerbs- und Kartellrecht, ferner im Recht der Schuldner- und Gläubigermehrheiten sowie im Bereich des allgemeinen Kontrahierungszwangs.38 Für die Anerkennung solcher bereichsspezifischer Gleichbehandlungsgrundsätze galt aber stets, dass sie nicht aus einer unmittelbaren oder mittelbaren Geltung von Art. 3 GG abgeleitet werden konnten, sondern jeweils der sektorspezifischen Legitimation aus genuin privatrechtlichen Erwägungen bedurften. Für den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz wurden solche Erwägungen etwa schon seit den 1930er Jahren aus der Treue- und Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, dem betrieblichen Gemeinschaftsverhältnis, dem Vollzug selbstgesetzter betrieblicher Normen, der strukturellen Übermacht oder einseitigen Gestaltungsmacht des Arbeitgebers sowie dem Billigkeitsgebot des § 315 BGB hergeleitet,39 während Art. 3 Abs. 1 GG – so Götz Hueck feinsinnig dialektisch im Jahr 1958 – zwar „die grundsätzliche Geltung und Rechtsverbindlichkeit des Gleichbehandlungsprinzips“ begründe, jedoch nicht als „die eigentliche Rechtsgrundlage der Gleichbehandlung im Privatrecht“ zur Verfügung stehe.40 36 Beschluss
vom 11. 4. 2018, 1 BvR 3080/09; BVerfGE 148, 267. Dazu eingehend Grünberger (Fn. 4), S. 267 ff., 311 ff. m. w. N. 38 Ibid., S. 315 ff. 39 Ibid., S. 320 ff. 40 Götz Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, 1958, S. 97 f.; dazu Grünberger (Fn. 4), S. 247 ff., 325 f. 37
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Hinzuzufügen ist, dass über einen langen Zeitraum, der bis in die 1950er Jahre zurückreicht, jedenfalls außerhalb des Familienrechts gerade nicht von einer Entwicklungsdynamik in die Richtung immer weitergehender Verwirklichung privatrechtlicher Gleichbehandlung die Rede sein konnte. Die bereichsspezifischen Gleichbehandlungsgebote im Wirtschaftsrecht blieben vielmehr diskret und in ihren verschiedenen Kontexten zweckgebunden. Aus diesem Grund ist es teleologisch irreführend, sie mit der Entwicklung des modernen Antidiskriminierungsrechts in ein kontinuierliches Narrativ einzubetten. Das tut indessen Grünberger, der in dem im Jahr 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und dem zugrundeliegenden europäischen Nichtdiskriminierungsrecht einen „Paradigmenwechsel“ hin zur Anerkennung eines allgemeinen privatrechtlichen Grundsatzes der Nichtdiskriminierung erkennen will.41 Einen Konflikt zwischen Gleichbehandlung und Privatautonomie, verbunden mit einem allgemeinen Verlust an Freiheit, erkennt Grünberger darin nicht. Vielmehr beschreibt er die Einschränkung der freien Wahl des Vertragspartners durch Diskriminierungsverbote als bloße Ausgestaltung der Privatautonomie durch Zugangsregeln, die im Ergebnis zu einer bloßen Umverteilung der Freiheit zur Wahl des Vertragspartners auf andere Akteure, nämlich auf bisher ausgeschlossene Gruppen und damit insgesamt sogar zu einem Mehr an Freiheit führen.42 Letztere Argumentationslinie kann man namentlich bis in das Familienrecht hinein verlängern und dabei auf das 2001 in Kraft getretene Lebenspartnerschaftsgesetz sowie die in Deutschland 2017 abgeschlossene Dynamik hin zur „Ehe für alle“ verweisen.
V. Von speziellen Gleichheitssätzen zum allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch? Was folgt nun aber aus alledem? Michael Grünberger hat in seiner monumentalen Studie zum Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht bereits 2013 die These vertreten, dass die klassische Sichtweise vom Primat der Freiheit vor der Gleichheit vor dem Hintergrund des gegenwärtig erreichten 41 Grünberger
(Fn. 4), S. 54. Ibid., S. 894 ff., 962 ff. auf der Grundlage von Dan Wielsch, Zugangsregeln, 2008. Zu einem ähnlichen Versuch, das privatrechtstypische Problem mehrpoliger Grundrechtskollisionen durch simples Herausdefinieren der „Ausgestaltung“ aus dem „Eingriff “ scheinbar privatrechtskompatibel zu lösen, vgl. Alexander Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 280; ders., Wer hat Angst vor der unmittelbaren Drittwirkung?, JZ 2018, 901, 906 ff. 42
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Stands des privatrechtlichen Gleichbehandlungsrechts nicht mehr zeitgemäß sei. Demgegenüber vertritt er die These, dass das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit im Privatrecht nicht zugunsten der Freiheit, sondern umgekehrt zugunsten der Gleichheit aufzulösen sei.43 Die herkömmliche Auffassung, wonach Freiheit der Grundsatz, Gleichbehandlung hingegen die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme ist, wäre danach vor dem Hintergrund eines zeitgemäßen Gesellschafts- und Rechtsverständnisses normativ überholt. Und in der Tat trifft Grünberger vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen über Sexismus, Rassismus und die kolonialen Erblasten des westlichen Denkens einen wunden Punkt der klassischen Lehre, die teilweise ausdrücklich die „Freiheit zu diskriminieren“ als Wertungskern der Privatautonomie hervorhebt.44 Dagegen lässt sich in der Tat argumentieren, dass eine Privatrechtsgesellschaft, die sich emphatisch zum Wert der Diskriminierung bekennt, kaum eine zukunftsträchtige und lebenswerte Gesellschaft sein dürfte – ganz zu schweigen von der Zeitgemäßheit einer Privatrechtswissenschaft, die dies im Ton der Kaiserzeit sogar noch bekräftigt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses seinerseits zeitgeistgebundene normative Missbehagen ausreicht, um die behauptete Annahme eines allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu rechtfertigen. Grünberger konzipiert diesen Grundsatz als Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit auf der Ebene der Begründungslast.45 Konzeptionell hat dies zur Folge, dass auch unter Privaten künftig jede Ungleichbehandlung prinzipiell rechtfertigungsbedürftig sein soll, während die Ausübung von Freiheitsrechten zwar immerhin, aber auch nur noch den „theoretisch und praktisch wichtigsten Rechtfertigungsgrund“ für Ungleichbehandlungen Privater durch Private bildet.46 Es verwundert nicht, dass Grünberger die rechtsdogmatische Rechtfertigung für einen derartigen rechtsethischen Erdrutsch ebenfalls von ganz unten nach ganz oben durchreichen und seine Grundlage nicht nur in der Verfassung statt in privatrechtsautonomen Wertungen, sondern darüber hinaus gleich im direkten Bekenntnis zu einer unmittelbaren Horizontalwirkung von Art. 3 Grünberger (Fn. 4), S. 54 ff., 749 ff. und passim. Karl Riesenhuber, Privatautonomie – Rechtsprinzip oder mystifizierendes Leuchtfeuer?, ZfPW 2018, 352, 366; zuvor bereits ders., Privatautonomie und Diskriminierungsverbote – Grundlagen im deutschen Recht und europäische Regulierung, in Karl Riesenhuber/ Yuko Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie?, 2007, S. 20, 25; dazu Grünberger (Fn. 4), S. 39. 45 Grünberger (Fn. 4), S. 61, 809, 823 ff., 864 ff. und passim. 46 Ibid., S. 804. 43
44 Repräsentativ
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Abs. 1 GG in sämtlichen Privatrechtsverhältnissen erblicken will.47 Die Flumesche Maxime stat pro ratione voluntas kann, wenn dies zutrifft, also nicht mehr richtig sein, besagt diese Maxime doch ausdrücklich, dass der Kern privatautonomen Handelns gerade in seiner Nichtrechtfertigungsbedürftigkeit gegenüber potentiellen Vertragspartnern oder der Gesamtgesellschaft liegt. „Die privatautonome Gestaltung von Rechtsverhältnissen bedarf “, so Flume ausdrücklich, „keiner anderen Rechtfertigung, als daß der einzelne sie will.“48 Ein allgemeiner privatrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz liefe demgegenüber auf ein universelles, diskursethisch eingefärbtes „Recht auf Rechtfertigung“ im Privatrechtsverkehr hinaus.49 Grünberger verkennt bei alledem nicht, dass in der Auferlegung einer solchen allgemeinen öffentlichkeitswirksamen Pflicht zur Rechtfertigung in jedem Fall eine Freiheitseinschränkung des Rechtfertigungspflichtigen liegt.50 Dass indessen gerade diese Neukonzeption privatrechtlichen Gleichheitsdenkens offenbar den Nerv der Zeit trifft, zeigt nun die Debatte um die erwähnte Stadionverbot-Entscheidung des BVerfG.51 In dieser Entscheidung geht das Gericht bei auf privatrechtliches Hausrecht gestützten Ausschlüssen Einzelner von privaten Veranstaltungen, die „einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden“ – im konkreten Fall ging es um ein Ibid., S. 1004 ff., insbes. 1018 ff. Insgesamt scheint das Bewusstsein für die grundlegende Problematik unmittelbarer verfassungsrechtlicher Durchgriffe auf das Privatrecht abzunehmen. Repräsentativ für die Tendenz, die unmittelbare Grundrechtsdrittwirkung im Privatrecht nicht nur nicht mehr in Frage zu stellen, sondern sogar ausdrücklich zu begrüßen, auch Hellgardt, Regulierung (Fn. 42), S. 265 ff.; ders., JZ 2018, 901 ff. Zu einem anspruchsvollen Gegenentwurf Florian Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S. 363 ff. 48 Flume, in FS 100 Jahre DJT, 1960, Bd. 1, S. 141; ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (Fn. 14), S. 6; dazu kritisch Grünberger (Fn. 4), S. 931 ff. 49 Grünberger (Fn. 4), S. 55, 550, 768, 918 f. und passim. 50 Ibid., S. 934. 51 BVerfGE 148, 267 sowie zuvor bereits BVerfGE 81, 242; 89, 241; 128, 226; 138, 377; BVerfG NJW 2015, 2485. Hinsichtlich der Tendenz zur unmittelbaren Drittwirkung befürwortend etwa Hellgardt, JZ 2018, 901 ff.; Simon Jobst, Konsequenzen einer unmittelbaren Grundrechtsbindung Privater, NJW 2020, 11 ff.; differenzierend oder kritisch Fabian Michl, Situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure, JZ 2018, 910 ff.; Christoph Smets, Die Stadionverbotsentscheidung des BVerfG und die Umwälzung der Grundrechtssicherung auf Private, NVwZ 2019, 34 ff.; Matthias Ruffert, Privatrechtswirkung der Grundrechte: Von Lüth zum Stadionverbot – und darüber hinaus?, JuS 2020, 1 ff.; Jörg Neuner, Das BVerfG im Labyrinth der Drittwirkung, NJW 2020, 1851 ff.; Anna-Bettina Kaiser, Privatautonomie: Von der unmittelbaren zur mittelbaren Drittwirkung und zurück?, in Matthias Jestaedt/Hidemi Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung III, 2021, S. 3 ff.; Auer (Fn. 15), S. 319 ff. 47
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bundesweites Stadionverbot bei Fußballspielen – kraft praktischer Konkordanz vom Vorrang des Art. 3 Abs. 1 GG gegenüber der privatrechtlichen Betätigungsfreiheit des Veranstalters aus, „wenn der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet.“52 Operationalisierbar werden soll der Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht durch verfahrensrechtliche Anforderungen an die Willkürfreiheit privatrechtlicher Ausschlussentscheidungen wie vor den Zivilgerichten justiziablen Anhörungs- und Begründungspflichten der Hausrechtsinhaber.53 All dies wird in der Entscheidung ostentativ in die seit der Lüth-Entscheidung hergebrachte Dogmatik der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht gekleidet und kommt daher auf den ersten Blick als bloße verharmlosende Wiederholung dieser altehrwürdigen dogmatischen Figur daher.54 Auf den zweiten Blick realisiert die Entscheidung indessen genau das von Grünberger vorgedachte Modell eines umfassenden, verfassungsunmittelbaren, prozeduralen Gleichbehandlungsanspruchs im Privatrecht und besitzt damit das Potential, einen dogmatischen Erdrutsch hin zur universellen unmittelbaren Geltung der Grundrechte innerhalb privatrechtlicher Rechtsbeziehungen auszulösen.55 Aus Raumgründen muss an dieser Stelle eine Auseinandersetzung mit den verfassungsdogmatischen Problemen der Drittwirkung von Grundrechten zwischen Privaten, die durch diese Entscheidung in grelles Licht getaucht werden, unterbleiben. Stattdessen muss es für die vorliegenden Zwecke einer privatrechtstheoretischen Kritik eines aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes genügen, den Blick nochmals auf die übergeordnete Schlüssigkeit der damit vorgestellten und bei Grünberger paradigmatisch entfalteten Gesamtkonzeption des Verhältnisses von privatrechtlicher Freiheit und Gleichheit zu richten. Grünbergers konkrete Ausführungen dazu, wie Freiheit und Gleichheit im Privatrecht jenseits des glatt lösbaren ersten formalen Freiheits- und Gleichheitsproblems interagieren, beginnen mit der Darstellung 52 BVerfGE
148, 267, 284 (Ls. 2 und Rn. 41; dort „Teilnahme“). BVerfGE 148, 267, 285 f. (Rn. 45 ff.). 54 Ähnlich Michl, JZ 2018, 910, 911. 55 Strukturell beruht das auf der unterschiedslos erforderlichen Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechtspositionen im Wege praktischer Konkordanz, die kein Herausdifferenzieren der theoretisch geringeren Überprüfungsdichte bei Grundrechtskollisionen zwischen Privaten mehr erlaubt; so ausdrücklich Mattias Kumm, Who is Afraid of the Total Constitution? Constitutional Rights as Principles and the Constitutionalization of Private Law, 7 German Law Journal 341, 352 ff.; zustimmend Grünberger (Fn. 4), S. 1019 f.; kritisch dagegen Wagner (Fn. 3), S. 64 ff., insbes. 76; Auer (Fn. 15), S. 319 ff. 53
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dreier alternativer Lösungsmodelle, zu denen erstens das „Vorrangmodell“ zählt, das auf den klassischen Vorrang der Freiheit vor der Gleichheit hinausläuft.56 Davon unterscheidet er zweitens ein dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis bereits partiell umkehrendes „Tatbestandsmodell“, das vom prinzipiellen Gleichrang von Freiheit und Gleichheit ausgeht, der Ausübung von Freiheitsrechten gegenüber der Gleichheit aber tatbestandsausschließende Wirkung nach einem im Ja/Nein-Modus operierenden Regelschema zuerkennt.57 Das dritte Modell ist schließlich das von Grünberger favorisierte „Rechtfertigungsmodell“, in dem die Ausübung von Freiheitsrechten erst auf der Rechtfertigungsebene des vorrangigen allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsanspruchs zum Tragen kommt und insoweit ein „Rechtfertigungskontinuum“ eröffnet, das vom bloßen „Verweis auf die Ausübung von Freiheitsrechten“ bis zum „strikten Ausschluss jeder Differenzierungsmöglichkeit“ reicht.58 Ausschlaggebend für die Kontrolldichte ist dabei nach Grünberger stets der Kontext der konkreten Gleichbehandlungsfrage, wobei die Begründungslast Privater – anders als nunmehr in der StadionverbotEntscheidung insinuiert – grundsätzlich milder als die staatlicher Stellen anzusetzen sei, sich aber mit steigender Öffentlichkeitsbezogenheit des privaten Handelns – insoweit wieder ganz im Sinne der Stadionverbot-Entscheidung – stetig steigere.59 Folgerichtig wäre es auf dieser Grundlage also – und auch dies kann man als im Sinne der Stadionverbot-Entscheidung ansehen –, künftig das gesamte dogmatische Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit im Privatrecht als abwägungsgeleitetes Nebeneinander kraft praktischer Konkordanz mit prinzipieller Prärogative eines verfassungsunmittelbaren allgemeinen prozeduralen Gleichbehandlungsgrundsatzes zwischen Privaten zu deuten. Interessanterweise zieht Grünberger diesen Schluss jedoch gerade nicht. Vielmehr betont er „die Vielfalt der Regelungsansätze im geltenden Recht“, das keinen der drei Ansätze „in Reinform“ verwirkliche, sondern „im Regelfall (…) mindestens zwei Ansätze“ miteinander kombiniere.60 Mit Blick auf das Ziel eines allgemeinen privatrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes erscheint diese Flucht in den Regulierungspluralismus allerdings Grünberger (Fn. 4), S. 810 ff. S. 816 ff. auf der Grundlage von Gregor Bachmann, Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Kapitalmarktrecht, ZHR 170 (2006) 159 ff. 58 Grünberger (Fn. 4), S. 823 ff. 59 Ibid., S. 824 ff. Dabei bleibt das Postulat geringerer Rechtfertigungslasten Privater allerdings aus den oben Fn. 55 erläuterten Gründen struktureller Nichtdifferenzierbarkeit ohne Begründung. 60 Ibid., S. 808 f. 56
57 Ibid.,
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überraschend, wenn nicht gar widersprüchlich: Ging es nicht gerade darum, alle Fälle, also auch die eines im Ergebnis nicht rechtfertigungsbedürftigen Gebrauchs von Privatautonomie als nunmehr gerechtfertigte Ausnahmefälle innerhalb eines neuen, allgemeinen privatrechtstheoretischen Modells auf der Grundlage von in dubio pro aequalitate zu rekonstruieren? Sollte sich nicht gerade darin die rechtstheoretische Überlegenheit des Rechtfertigungsmodells erweisen? Es liegt also nahe, das Rechtfertigungsmodell so zu lesen, dass es doch als künftig einzig richtiges dogmatisches Modell des Verhältnisses von privatrechtlicher Freiheit und Gleichheit gemeint ist. Blickt man dann aber auf die Anforderungen, die an die Rechtfertigungslast potentiell diskriminierenden privaten Freiheitsgebrauchs zu stellen sind, wiederholt sich nochmals dasselbe Bild: Eine allgemeine Regel wird nicht erkennbar, stattdessen ist man erneut mit einem Pluralismus von Einzelfällen mit mal strenger, mal auf Null reduzierter Rechtfertigungslast konfrontiert, die keiner anderen Regel folgen, als dass es, wie Grünberger zu Recht betont, auf die jeweiligen „Kontexte der Gleichheit“ ankomme.61 Man sucht also nach Allgemeinem und findet doch immer wieder nur Besonderes. Spätestens an dieser Stelle sollte sich die Frage stellen, ob nicht schon in der Grundannahme, dass aus all den Einzelfällen tatsächlich der beanspruchte allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz folgen müsse, ein konzeptioneller Fehlschluss steckt.62 Und in der Tat lässt sich die Frage nach der normativen Relevanz von Gleichbehandlungsproblemen strukturnotwendig immer nur kontextabhängig im Hinblick auf ein konkretes Merkmal gemessen an einer konkreten Vergleichsgruppe stellen. Dass Grünberger genau zu diesem Ergebnis kommt, ist also keineswegs verwunderlich, sondern strukturell zutreffend. Und dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass das Freiheitsprinzip ebenfalls immer eine nur durch Einzelfälle des Freiheitsgebrauchs ausfüllungsbedürftige Leerformel sei.63 Denn freiheitsrechtlich geschützt sind gerade nicht nur kontextabhängige Einzelfreiheiten, sondern vielmehr auch und gerade die abstrakt-unbestimmte Freiheit mit dem Ziel künftiger neuer Freiheitserfindungen. Und darin liegt wiederum ein wesentlicher Unterschied zur Gleichheit. Denn geschützt sind unter dem allgemeinen Gleichheitssatz und den speziellen Diskriminierungsverboten gerade nicht beliebige künftige neue Gleichheitserfindungen. Zwar ermöglicht es der allgemeine Gleichheitssatz, neue Gleichheitsprobleme zu identifizieren und zu adressieren. Es ist jedoch Ibid., S. 828. Frage stellt Grünberger selbst; vgl. ibid., S. 809. 63 Ibid., S. 812. 61
62 Die
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gerade nicht ausgemacht, dass alle neuen und möglicherweise künftig noch zu diskutierenden Gleichbehandlungsansprüche immer auch einen präsumtiven gerechtigkeitstheoretischen Mehrwert in sich tragen.64 Und dem lässt sich wiederum nicht entgegenhalten, dass dasselbe gleichermaßen auch für die Reichweite künftiger Freiheiten gelte. Denn, um nochmal zum Anfang zurückzukehren, und in dieser Einsicht steckt letztlich der gesamte Hintergrund von zweihundert Jahren Ideengeschichte zu Freiheit und Gleichheit: Freiheit trägt – im Gegensatz zur Gleichheit – ein Legitimationsprinzip in sich. Das Pathos der Freiheit und nur der Freiheit besteht darin, den in ihrer Vernunftfähigkeit formal gleichen Personen die Entscheidung über ihre normativen Ziele selbst anzuvertrauen und sie davon freizusetzen, dass Gott, Natur oder der wohlmeinende Staat darüber befinden, wie sie ihr Leben zu leben haben. Die Leerstelle der Freiheit ist ein Legitimationsprinzip. Die Leerstelle der Gleichheit ist dagegen nur eine Leerstelle.
Vgl. vorstehend Fn. 32.
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L’égale dignité des êtres humains Les fondements philosophiques et méthodologiques du droit privé Muriel Fabre-Magnan I. Une exigence de sens des mots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 II. Une condition logique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Une question de connaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Tous les mots de ce titre – choisi par les organisateurs de ces rencontres1 – peuvent sembler, sinon provocateurs, du moins très contestables : – Dire que le droit privé a un fondement. – Affirmer que c’est l’égale dignité des êtres humains qui en est au fondement. Je ne m’attarderai pas ici sur le premier point qui est en réalité évident : que le droit privé a un fondement (au sens d’une grundnorm) et même le droit en général. Il ne s’agit pas d’une posture jusnaturaliste et encore moins d’une conviction théologique, mais d’une nécessité structurale et logique. Tous les plus grands philosophes l’ont dit, au moins depuis Aristote. En droit, Kelsen l’a expliqué de façon mémorable : certes le juriste, dans une théorie pure du droit, ne doit pas se préoccuper de la grundnorm, mais un système juridique suppose nécessairement une telle hypothèse logico-transcendantale. Si chaque norme tire sa validité d’une norme qui lui est supérieure, il faut bien, à un moment, que les choses s’arrêtent par un énoncé dogmatique d’une autre nature que les normes posées. Il est vain de vouloir aller au-delà et de chercher à fonder le fondement, car le fondement est sans fondement. La recherche des raisons bute nécessairement sur un ultime pourquoi qui ne peut à son tour être fondé.2 1 A
short word to thank especially these organizers for allowing me to make my presentation, and then this text, in French. I acknowledge Stefan Grundmann’s open-mindedness and intellectual curiosity, whom I have appreciated for a long time, and I thank him warmly for inviting me to this conference, which has been particularly interesting and stimulating. 2 Pour davantage de développements, voir notre livre : L’institution de la liberté, PUF, 2018.
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Je me concentrerai ici sur la seconde question, ou plutôt sur la seconde affirmation, à savoir que c’est l’égale dignité des êtres humains qui est au fondement du droit privé. L’examen de cette question suppose d’admettre que, à rebours de ce que soutenait Kelsen, le juriste doit se préoccuper de la question du fondement. Il suppose aussi de reconnaître que ce fondement ne relève pas uniquement d’une place structurelle sur laquelle il n’y aurait rien à dire, mais qu’au contraire il faut y introduire de la substance. Le fondement ne peut pas être une simple place vide, une condition logico-transcendantale purement formelle, ou encore, comme l’énoncent parfois ceux qui s’intéressent à la dignité de la personne humaine,3 un simple « placeholder ».4 En d’autres termes, il faut dire quelque chose du contenu substantiel de la grundnorm. C’est au demeurant ce que font les textes juridiques en donnant expressément un nom au fondement des droits de l’homme – c’est-à-dire au cœur ou au noyau dur du droit privé – et en l’appelant la dignité de la personne humaine. En ce sens, loin d’être inspirée par une idéologie jusnaturaliste voire théologique, l’affirmation selon laquelle la dignité de la personne humaine est au fondement des droits de l’homme est donc, en premier lieu, un énoncé purement positiviste. La déclaration universelle des droits de l’homme de 1948 énonce ainsi que « la reconnaissance de la dignité inhérente à tous les membres de la famille humaine […] constitue le fondement de la liberté, de la justice et de la paix dans le monde » (« die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet »). La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne proclamée à Nice le 7 décembre 2000 consacre quant à elle tout son premier chapitre à la dignité et énonce, dans un article premier intitulé « Dignité humaine », que « La dignité humaine est inviolable. Elle doit être respectée et protégée ». Ici, la dignité semble, de prime abord, être simplement le premier des droits fondamentaux, c’est-à-dire aussi un droit fondamental : primus inter pares donc. Les explications annexées à la Charte précisent cependant que « la dignité de la personne humaine n’est pas seulement un droit fondamental en soi, mais constitue la base même des droits fondamentaux » (« bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte »), rétablissant ainsi le statut à part En particulier Ch. McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, The European Journal of International Law, Vol. 19, 2008, pp. 722 : « if these arguments are accepted, then from a substantive point of view, dignity is a placeholder ». 4 Terme de linguistique servant à désigner un mot, un signe, ou une autre marque tenant la place d’un contenu inconnu ou non identifié. 3
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de la dignité, premier des droits de l’homme mais ayant la particularité de fonder tous les autres. Il est enfin inutile de rappeler dans ce cénacle l’article 1er de la loi fondamentale allemande qui, après avoir affirmé que la dignité de l’être humain est intangible, en déduit, dans l’alinéa 2, que c’est « en conséquence » (« darum ») que « le peuple allemand reconnaît à l’être humain des droits inviolables et inaliénables ». On peut cependant aller plus loin, et soutenir que le principe de dignité n’a pas seulement une valeur par un décret du droit positif. Il répond à d’autres exigences plus profondes, et même à une nécessité.5 La dignité de la personne humaine répond à une exigence de sens des mots (I) ; elle est une condition logique (II); enfin on peut même dire qu’elle relève d’une question de connaissance (III).
I. Une exigence de sens des mots Les concepts renvoient nécessairement à quelque chose de substantiel, au sens basique d’un contenu et même, plus simplement encore, d’une définition. Le droit, comme tous les concepts et même comme tous les mots, a nécessairement une définition, et par là même un antonyme, qu’on le nomme l’arbitraire, la force brute ou, comme le dit très bien Olivier Jouanjan dans son magnifique dernier livre pour décrire le système nazi, « une domination sans forme ».6 Le droit doit ainsi avoir un minimum de forme pour pouvoir être qualifié tel, étant bien entendu que comme il le souligne à juste titre, « le problème de la forme juridique n’est pas de pure forme ».7 Certaines formulations de Kelsen pourraient être interprétées en ce sens. Dans un article de 1953 précisant sa pensée, le grand théoricien du 5 Voir
en ce sens V. Descombes, Le complément de sujet. Enquête sur le fait d’agir de soi-même, Gallimard, nrf essais, 2004, qui explique, p. 464, que la question du fondement doit répondre, ultimement, à une nécessité : « La réponse [à la question de l’autorité des normes] doit faire appel à une nécessité pratique (la nécessité qui s’attache à telle ou telle chose à faire) qui ne soit plus de type déontique. On peut justifier une norme particulière par une autre norme, l’existence d’un droit par l’existence d’un autre droit, mais on ne peut pas faire reposer l’ensemble des normes sur une norme fondamentale (qui serait forcément vide puisqu’elle dirait en somme : il y a une règle qui veut qu’il y ait des règles) ». 6 O. Jouanjan, Justifier l’injustifiable. L’ordre du discours juridique nazi, PUF, Léviathan, 2017, p. 290. 7 Jouanjan, ibid., p. 286.
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droit énonce en effet : « quant à l’interprétation des normes concrètes par la science du droit, la théorie pure du droit met en évidence l’ambiguïté presque toujours présente et plus ou moins importante du «matériel» à interpréter. Elle assigne à l’interprétation scientifique l’unique tâche de révéler les significations possibles d’une norme concrète et de laisser à l’organe chargé d’appliquer le droit le choix, déterminable uniquement en termes de considérations politiques, entre les différentes interprétations théoriquement possibles ». Et il ajoute : « Qu’une seule de celles-ci soit «juste» ne peut être soutenue du point de vue de la science du droit ».8 Le choix entre les différentes interprétations théoriquement possibles ou, a fortiori, de la norme «juste», relève effectivement d’un choix de nature politique, mais la théorie pure du droit permet en revanche d’exclure certaines significations : les significations impossibles d’une norme. On peut donc dire, par là même, que c’est par une interprétation scientifique que l’on peut exclure les sens impossibles des normes. Il faut pour cela nécessairement s’intéresser au contenu des normes. Les mots doivent avoir le sens minimum requis par la normativité du langage, si ce n’est par celle du droit. Wittgenstein l’a expliqué, dans un passage célèbre, pour les échecs. Le jeu d’échecs, comme tous les jeux, n’a pas de sens sans règles constitutives, c’està-dire sans quelques règles de base qui en donnent le sens.9 Comme le résume le philosophe Vincent Descombes, « les règles constitutives n’excluent pas des possibilités, mais uniquement des non-sens, c’est-à-dire en réalité des impossibilités logiques ».10 Or par définition même, le droit doit dire ce qui a de la valeur puisqu’il doit dire, non pas ce qui est, mais ce qui doit être. Il doit donc nécessairement définir l’axiologie donnant l’horizon de ce devoir-être. Castoriadis montre que l’idée était présente déjà chez Aristote. Dans l’Éthique à Nicomaque, ce dernier définit en effet la justice distributive comme une égalité de rapports qui doit se faire « selon la valeur (ek tou kat’ axian) ». Toute société pose ainsi toujours en fait une axia – c’est-à-dire, dit 8 Kelsen,
Qu’est-ce que la théorie pure du droit ?, Droit & Société, 22–1992, p. 559. Il s’agit de la traduction de l’article intitulé « Was ist die Reine Rechtslehre », paru initialement dans Demokratie und Rechtstaat. Festschrift für Zaccharia Giacometti, Zurich, 1953, pp. 143–161, souligné par nous. 9 L. Wittgenstein, Recherches philosophiques, éd. originale posthume 1953, Gallimard, coll. « Tel », 2004, sections 66 et s., ou encore la section 567 : « il faut bien que le jeu soit déterminé par les règles ! ». 10 V. Descombes, L’institution au sens large, in Les équivoques de l’institution : normes, individu et pouvoir, colloque organisé par l’Institut Villey, 31 mai 2018, qui décrit ces impossibilités logiques comme « des combinaisons de gestes (échecs) ou de signes (discours) qui ne font pas sens dans le système créé par l’institution ».
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Castoriadis, une « Proto-valeur » (une valeur première) – servant de base à l’établissement de cette proportionnalité. Que l’on traduise axia par valeur, dignité, ou mérite, on est donc obligé, poursuit Castoriadis, « de poser une valeur comme la valeur, un attribut des hommes comme l’attribut qui définira le „poids“ de chaque individu pour le partage ». Ainsi, « la distribution juste est relative à ce que chaque individu est/a déjà quant à une „valeur“ qui, elle, n’est pas „relative“ à quoi que ce soit, n’est pas quant à …, mais posée absolument, point d’origine de la justice, base de référence qui ne peut être référée à autre chose qu’elle-même ».11 En ce sens d’ailleurs, même un système juridique totalitaire ou fasciste exprime ce qui vaut par rapport à ses objectifs.12 En définitive, par définition même, le droit doit indiquer le minimum de substance nécessaire pour lui donner un sens et définir ce qui doit être, en particulier quelle doit être la clef de répartition proclamée comme juste. Si on en restait là, cela impliquerait cependant un relativisme des valeurs. On en resterait en effet à une sorte de nominalisme, mettant la dignité au centre mais avec des définitions variables, ou même imposant toute autre valeur choisie par le régime en place. Il faut alors aller plus loin.
II. Une condition logique Le principe de dignité signifie tout à la fois la valeur infinie de l’être humain et le devoir fondamental qui en résulte de respecter l’autre, et en particulier la place réservée à l’autre. Ce devoir est une condition logique, presque tautologique, de possibilité du droit privé. Il n’y a pas de droit privé s’il n’y a pas des sujets de droit autonomes et reconnus comme tels par tous et par chacun. Certes les rapports entre dignité et autonomie varient selon les cultures. Aux États-Unis ou en Allemagne, les deux termes sont souvent assimilés, la dignité de la personne humaine résidant dans sa liberté et son autonomie. C’est ainsi sur le fondement du droit à la dignité protégé par l’article 1er de la loi fondamentale allemande qu’est reconnu un droit général à l’autodéter11 C. Castoriadis,
Les carrefours du labyrinthe 1, Points Essais, 1978, pp. 372–374. Il est d’ailleurs intéressant de noter que, comme le montre très bien là encore Olivier Jouanjan dans son ouvrage précité à la note 6, contrairement à une idée reçue, les juristes nazis, loin d’être de purs positivistes, ont au contraire tenu à introduire de la substance dans le droit (voir en particulier p. 126). Cela ne peut bien sûr suffire à garantir un État de droit. 12
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mination (« Selbstbestimmung »), invoqué notamment dans les questions de fin de vie ou encore de gestation pour autrui. En France au contraire, les deux termes sont souvent perçus comme antagonistes, la dignité étant invoquée pour limiter la liberté des individus de faire des choses perçues comme indignes (limite à la liberté d’expression par exemple). En réalité, la dialectique entre ces deux concepts ne se laisse enfermer dans aucune de ces deux démarches opposées. La dignité est une condition préalable à la liberté et à l’autonomie des personnes. Elle en est même plus précisément une condition de possibilité. L’être humain ne peut pas agir librement, comme une personne autonome, s’il est traité par les autres comme une chose ou un animal. Le décret Schœlcher du 27 avril 1848 ayant aboli l’esclavage en France expliquait ainsi que si « l’esclavage est un attentat contre la dignité humaine » c’est parce qu’« en détruisant le libre arbitre de l’homme, il supprime le principe naturel du droit et du devoir ». L’être humain n’est pas libre non plus si ses besoins de base ne sont pas assouvis. Comme le disait Lord Chancellor Robert Henley dans la décision de la Cour Suprême américaine Verron v. Bethele de 1762 (la phrase fut reprise par Roosevelt au moment du New Deal), « necessitous men are not, truly speaking, free men ». Dans la lignée des travaux de Levinas, les philosophes comprennent en général mieux que les juristes que la reconnaissance absolue et inconditionnelle de l’autre est un préalable à sa liberté. Aujourd’hui au contraire, inspirée par la notion de privacy américaine, la Cour européenne des droits de l’homme déduit de l’article 8 de la Convention (droit au respect de la vie privée et familiale) un droit à l’autonomie personnelle interprété comme le droit de faire tous les choix pour soi-même, y compris ceux qui conduisent au fond à perdre sa liberté et son autonomie. Elle reconnaît ainsi un « droit d’opérer des choix concernant son propre corps » qui peut conduire la personne à consentir valablement à ce qu’autrui porte atteinte à son intégrité corporelle. En d’autres termes, le droit à l’autonomie personnelle pourrait conduire à admettre un droit de consentir à renoncer à ses droits et libertés fondamentales, ce qu’est par exemple le droit à l’intégrité corporelle. Il en résulte un retournement de la liberté, qui n’est plus un espace infranchissable protégé de l’empiètement d’autrui, mais le droit de consentir à cet empiètement. On ne peut pourtant demander au droit tout à la fois de garantir l’autonomie des personnes et de valider la possibilité pour ces mêmes personnes de perdre leur autonomie.13 13 Sur cette thèse et sur ce retournement de la liberté, voir notre livre : L’institution de la liberté, PUF, 2018.
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La dignité signifiant la valeur infinie de l’être humain, elle implique nécessairement l’égale dignité de tous les êtres humains et de chacun d’entre eux. Il n’est pas possible d’identifier par exemple un concept juridique d’humanité qui aurait une valeur supérieure aux individus, dès lors que la valeur de chacun d’entre eux est infinie. Il n’est pas question non plus de considérer que certains individus pourraient être sacrifiés pour sauver la vie d’autres individus. Comme l’a très bien jugé le Bundesverfassungsgericht dans sa décision du 15 février 2006 à propos de la loi sur la sécurité aérienne votée en 2004 à la suite des attentats survenus à New York le 11 septembre 2001, il est contraire au principe de dignité d’autoriser le ministre de la Défense allemand, même en dernier recours, à donner l’ordre à l’armée de l’air d’abattre un appareil détourné menaçant de s’écraser sur une zone urbaine ou une centrale nucléaire. C’est le même calcul d’utilité qu’on veut aujourd’hui inculquer avec les fameux «trolley cases» dont on voudrait faire un guide moral pour l’action, quand ces petits contes pervers conduisent en réalité à habituer les esprits à rompre avec l’égale dignité des êtres humains, puisqu’il faudrait apprendre (de surcroît par des petits jeux) quels êtres humains sacrifier pour sauver quels autres.14
III. Une question de connaissance On connaît la célèbre distinction exposée par Kelsen dans sa théorie pure du droit entre la causalité (scientifique) et l’imputation (juridique). Dans la causalité, si A est, alors B est : si l’on chauffe de l’eau au-delà d’une certaine température, elle se transforme en vapeur. Dans l’imputation, si A est, alors B doit être. La conséquence est imputée à la prémisse par le système juridique ; elle n’en découle pas naturellement, c’est-à-dire sans intervention humaine. On pourrait alors dire que, d’une certaine façon, la dignité de la personne humaine relève de la causalité scientifique ou, pour reprendre une autre distinction kelsenienne, elle relève de la connaissance. L’expérience a en effet montré ce qui se passait si l’être humain était traité de façon indigne. La démonstration de cette causalité scientifique peut être apportée par l’absurde, ou plus exactement par l’horreur et la barbarie. C’est ainsi que la Déclaration universelle des droits de l’homme de 1948 rappelle que « la méconnaissance et le mépris des droits de l’homme ont 14 Voir notre article : « La perversion des petits contes moraux : des tramways aux véhicules autonomes », in Concerter les civilisations. Mélanges en l’honneur d’Alain Supiot, Éditions du Seuil, 2020, pp. 153–167.
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conduit à des actes de barbarie ». Déjà la Déclaration française des droits de l’homme et du citoyen de 1789 énonçait : « Les Représentants du Peuple Français, constitués en Assemblée Nationale, considérant que l’ignorance, l’oubli ou le mépris des droits de l’Homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des Gouvernements, ont résolu d’exposer, dans une Déclaration solennelle, les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’Homme, afin que cette Déclaration, constamment présente à tous les Membres du corps social, leur rappelle sans cesse leurs droits et leurs devoirs ». C’est déjà le mot de dignité qui est invoqué dans le décret Schœlcher du 27 avril 1848 qui abolissait l’esclavage en France : le texte énonçait, dès ses premiers mots, « que l’esclavage est un attentat contre la dignité humaine ». Traiter dignement les êtres humains n’est pas un choix politique possible parmi d’autres, mais une condition « scientifique » – au sens d’une condition nécessaire – de leur humanité. Selon le mot célèbre d’Érasme, « les hommes ne naissent pas tels, ils le deviennent » (« finguntur »: ils sont fabriqués, ou façonnés tels15). En ce sens, le principe de dignité a à voir avec la vérité, au sens d’une vérité du droit et de la justice par opposition à la force brute :16 il y a en ce sens une forme de connaissabilité des valeurs et une forme de prévisibilité du droit. Un auteur avait parlé à propos de la dignité de théorie « apophatique »17 du droit,18 au sens où la dignité se voit surtout lorsqu’elle est bafouée. C’est sans doute un trait de caractère des êtres humains de ne comprendre la valeur de ce qu’ils avaient que lorsqu’ils en sont dépossédés. On commence ainsi seulement aujourd’hui – c’est-à-dire bien trop tardivement – à comprendre que le maintien d’un environnement sain est aussi une condition naturelle de l’existence humaine. Le préambule de la Charte 15 « At homines, mihi credi, non nascuntur, sed finguntur » (Traité de l’éducation des enfants de 1529 [31, 143]). 16 Voir A. Montaut, in P. Legendre (dir.), Tour du monde des concepts, Fayard, coll. « Poids et mesures du monde », préf. J.‑N. Robert, postface S. Sharma, p. 282, à propos du mot « Vérité » en hindi. Elle évoque le « satyãgraha », littéralement « saisie de la vérité », qui était le mot d’ordre de Gandhi pour substituer la force de la vérité à celle des armes. Elle rappelle que « s’agripper à la vérité donc et non à son gourdin ou à son fusil a représenté le contre-pouvoir le plus efficace à la domination coloniale dans le second quart du XXe siècle ». La devise de l’Inde est alors : « La vérité seule triomphe » (satyam eva jayate). 17 Selon le dictionnaire Larousse, « apophatique » (du grec apophatikos qui signifie « négatif »), « se dit d’une théologie qui approche de la connaissance de Dieu en partant de ce qu’il n’est pas plutôt que de ce qu’il est ». 18 M. Terestchenko, Le principe de dignité. Petite contribution à une théorie apophatique du droit, in L’institué, Bruylant, 2015, p. 67.
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de l’environnement adoptée en France en 2004 et qui a désormais valeur constitutionnelle dispose ainsi, ou plus exactement décrit de façon « scientifique »: « Que les ressources et les équilibres naturels ont conditionné l’émergence de l’humanité ; Que l’avenir et l’existence même de l’humanité sont indissociables de son milieu naturel ; Que l’environnement est le patrimoine commun des êtres humains ; Que l’homme exerce une influence croissante sur les conditions de la vie et sur sa propre évolution ; Que la diversité biologique, l’épanouissement de la personne et le progrès des sociétés humaines sont affectés par certains modes de consommation ou de production et par l’exploitation excessive des ressources naturelles ». Il y a bien là une description de conséquences causales, et non pas seulement imputées par le système juridique à certaines prémisses. Pour le dire autrement, il y a là un acte de connaissance, ou une connaissabilité de la valeur de l’environnement. Il ne s’agit cependant pas de déduire directement des normes de la nature des choses, comme le soutiennent les jusnaturalistes. Ce problème est un des plus classiques en théorie du droit, et fait référence en particulier à la fameuse loi de Hume selon laquelle un devoir-être ne pourrait être déduit d’un être. Il est possible cependant de concevoir un (juste) milieu entre la confusion des deux notions d’être et de devoir-être, et leur totale disjonction. Le philosophe Jean-Louis Gardies a ainsi proposé une voie médiane pour répondre à ce qu’il considérait comme l’« erreur de Hume ».19 Il y a certes une faille et une rupture entre les faits et les institutions disait-il, et qui est même « ce qu’il y a de moins contestable dans un certain positivisme » mais, en même temps, « la structure de l’institution elle-même dépend étroitement des conditions de la nature ». En d’autres termes, « on peut relever un défi ou ne pas le relever », et, ajoutait-il, « si on le relève, il y a plusieurs façons de le faire ; cependant, nous ne pouvons relever un défi que parce que ce défi nous est porté, et la manière dont il nous est porté conditionne dans une certaine mesure les diverses manières dont nous pouvons le relever ». Ainsi, contrairement à ce que soutiennent certains jusnaturalistes, la nature ne dicte aucune solution précise mais elle doit cependant être prise en considération pour l’élaboration des règles. Le droit s’adresse en effet à des êtres humains, et il ne peut pas ne pas prendre ce fait en compte. En d’autres termes, le devoir-être ne découle donc pas mécaniquement de l’être, mais il ne peut ignorer l’être auquel il s’adresse. Cela ne veut pas dire pour autant qu’on pourrait donner à la dignité un contenu précis et immuable. Un regard historique et géographique montre J.-L. Gardies L’erreur de Hume, PUF, 1987, pp. 118–119.
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que la définition de la dignité est variable selon les temps et les lieux.20 Il est possible cependant de définir un noyau dur de la dignité. S’il est facilement admis que la dignité requiert de ne pas traiter un être humain comme une chose ou un animal (ou encore comme un réservoir de matériaux biologiques ou de pièces de rechange), on voit moins que, à l’inverse, elle implique de ne pas oublier que l’être humain n’est pas un pur esprit, et donc qu’il a des besoins qui doivent être assouvis pour que la dignité soit respectée. C’est pourtant dans ce contexte que la dignité est apparue dans les textes internationaux au sortir de la seconde guerre mondiale, en particulier dans la Déclaration universelle des droits de l’homme de 1948.21 C’est d’ailleurs sans doute une fois de plus les Allemands qui en comprennent le mieux le sens. On peut citer en ce sens la célèbre décision Hartz 4 du 9 février 2010, qui pose le droit à un minimum vital conforme à la dignité humaine (« menschenwürdiges Existenzminimum »), et parle d’accorder à chaque être humain « les conditions matérielles indispensables à son existence physique et à sa participation minimale à la vie sociale, culturelle et politique ». Plus récemment encore, le Bundesverfassungsgericht a jugé, le 5 novembre 2019, que les sanctions infligées aux chômeurs de longue durée, et notamment les coupes dans leur allocation mensuelle, ne devaient pas excéder 30 % du minimum prévu sous peine d’être incompatibles avec le respect de leur dignité. On pourrait rappeler, pour conclure, que la question fondamentale du droit est celle de sa légitimité. Même chez Kelsen, la norme présupposée, bien que purement formelle, rend néanmoins compte aussi de cette nécessité de reconnaissance, par les justiciables, du caractère obligatoire des normes de la pyramide. Certes, dans des systèmes totalitaires, l’usage de la force pourra s’y substituer pour imposer l’obéissance aux lois, mais il est permis de penser que l’adhésion aux valeurs affirmées et mises en scène par le système juridique est une condition de sa pérennité. Quoi qu’il en soit, dans les sociétés démocratiques contemporaines, l’égale dignité des êtres humains participe de cette légitimité du droit. Certes elle n’a pas été de tous temps et en tous lieux reconnue et valorisée. Elle peut même Voir McCrudden, The European Journal of International Law, Vol. 19, 2008, p. 655
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et s.
21 En dehors du préambule et de l’article 1er où la dignité est invoquée dans un sens général, elle apparaît à deux reprises avec l’idée de besoins de base de l’être humain, une fois dans l’article 22 (Toute personne « est fondée à obtenir la satisfaction des droits économiques, sociaux et culturels indispensables à sa dignité ») et une fois dans l’article 23 (« Quiconque travaille a droit à une rémunération équitable et satisfaisante lui assurant ainsi qu’à sa famille une existence conforme à la dignité humaine »).
L’égale dignité des êtres humains
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être historiquement datée, car elle s’inscrit dans une pensée humaniste,22 où l’homme est valorisé23 et même, avec l’affaiblissement de la foi, mis au centre.24 Cette période aura au demeurant sans doute une fin, et c’est peut-être même la régression contemporaine la plus frappante de voir que, à nouveau, et sous des formes nouvelles (le mal ne revient jamais par là où on l’attendait), l’égale dignité des êtres humains n’est plus une évidence ni une nécessité absolue. Paradoxalement, c’est l’aspect inquiétant de l’omniprésence contemporaine de la notion de dignité : lorsqu’on en parle autant, c’est qu’elle ne va plus de soi puisqu’elle ne va plus sans dire. Faudra-t-il donc expérimenter à nouveau les conséquences dramatiques certaines auxquelles conduit le mépris des êtres humains ?
Voir E. Bloch, Droit naturel et dignité humaine, éd. originale, 1961, Suhrkamp Verlag, trad. franç., Payot, 1976. 23 Même si Michel Villey remarquait que « le respect de la personne humaine, non dans la lettre mais quant au fond, ne fut pas l’invention de Kant, ni même une invention chrétienne. Pas de vertu plus exaltée à Rome que l’humanitas qui est tout à la fois le devoir de parfaire en soi la nature humaine et de la respecter chez les autres »: Le droit et les droits de l’homme, PUF, 2ème éd. 1990, p. 87. 24 Rémi Brague rappelle en outre que, « dans l’Antiquité, l’adjectif „humain“, là où il n’était pas purement descriptif, renvoyait souvent à une faiblesse », et que ce n’est qu’avec la modernité qu’il est devenu une qualité : Le règne de l’homme. Genèse et échec du projet moderne, Gallimard, L’Esprit de la cité, 2015, p. 113. 22
Gleichheit zwischen Effizienz und Verteilung – rechtsökonomische Rekonstruktion eines Gerechtigkeitspostulats Andreas Engert I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II. Unterscheidung von Verteilung und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III. Gleichheit als Effizienzfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Gleichbehandlung als Anreizmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Grundgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Ausführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Gleichbehandlung als Investitionsanreiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Grundgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Ausführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Gleichheit als Verteilungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. De distributione est disputandum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Kriterien gerechter Verteilung – nochmals zur Trennung von Effizienz und Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
I. Einleitung Ein wesentlicher Reiz der Ökonomik – auch für viele Juristen – liegt in ihrem Reduktionismus. Ihren Reichtum schöpfen reduktionistische Theorien aus der Selbstbeschränkung, scheinbar Unterschiedliches auf einige wenige Anfangsgründe zurückzuführen, am liebsten auf ein einziges Prinzip. Soweit ein solcher Versuch gelingt, deckt er Gemeinsamkeiten zwischen vermeintlich Disparatem sowie verborgene Zusammenhänge und Bedingungen auf. Je häufiger der Versuch gelingt, umso mehr bewährt sich das zentrale Prinzip und eignet sich dann umgekehrt als Maßstab für die Kritik und Verbesserung des Bestehenden. Der reduktionistische Ansatz hat indes einen Preis. Vieles kann nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern muss mühevoll abgeleitet
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und erklärt werden. Das Thema der Gleichheit bietet dafür ein hervorragendes Beispiel. Für Juristen und Philosophen bildet sie ein evidentes, nicht weiter zu begründendes Gerechtigkeitsprinzip, das allenfalls noch mit dem Prinzip der Freiheit um den Vorrang streitet. In der normativen (Rechts‑) Ökonomik erscheint sie hingegen als Fremdkörper. Die Ursache dafür liegt nicht so sehr in inhaltlichen Widerständen, sondern eben darin, dass die Gleichheit nicht zu den Anfangsgründen der normativen Ökonomik gehört. Dies könnte zu dem Schluss verleiten, die Forderung nach formaler oder materialer Gleichheit habe für die Rechtsökonomik keine eigene Bedeutung. Diesem Eindruck soll im Folgenden entgegengetreten werden. Die verschiedenen Spielarten des Gleichheitsproblems müssen dafür im System der normativen Ökonomik zunächst verortet werden. Juristen und Philosophen ordnen die Gleichbehandlung traditionell vor allem der verteilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) zu.1 Es liegt deshalb nahe, Gleichheit auch ökonomisch als Verteilungsproblem aufzufassen. Indes wird sich zeigen, dass der ökonomische Verteilungsbegriff gegenüber dem herkömmlichen Verständnis der Verteilungsgerechtigkeit verengt ist, nämlich auf die gesellschaftliche Zuordnung von in Geld gemessenem Wohlstand.2 Viele Gleichheitsprobleme stellen sich deshalb in ökonomischer Betrachtung eigentlich als Fragen der Effizienz. Dort zeigt sich sodann die Leistungsfähigkeit des reduktionistischen Ansatzes: Die Rekonstruktion von Gleichbehandlungsgeboten aus dem Effizienzziel bietet eine ausgearbeitete Fundierung derartiger Pflichten und begründet damit zugleich ihre Auferlegung, aber auch Begrenzung. Am Beginn der Ausführungen steht die ökonomische Unterscheidung zwischen Effizienz- und Verteilungszielen. Sie ist alles andere als neu, soll aber als Grundlage der weiteren Überlegungen in Erinnerung gerufen werden (Abschnitt II.). Den Schwerpunkt bilden sodann Effizienzbegründungen für zwei Arten privatrechtlicher Gleichbehandlungsgebote.3 Für Juristen wie juristisch interessierte Ökonomen dürfte diese Rückführung konkreter Gleichbehandlungsgebote auf das Effizienzziel den größten Gewinn bieten 1 So etwa für den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 36. Aus philosophischer Perspektive Gosepath, Equality, in: Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2011, abrufbar unter https://plato.stanford.edu/archives/spr2011/entries/equality. 2 In umgekehrter Stoßrichtung sieht Rödl die ökonomische Effizienz als Ausfluss der verteilenden, nicht der ausgleichenden Gerechtigkeit, so für das Deliktsrecht Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S. 78, 84. 3 Die Herleitung einer dritten Gruppe von Gleichbehandlungsgeboten findet sich bei Engert, in: FS für Christine Windbichler, 2020, S. 51.
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(Abschnitt III.). Aufmerksamkeit verdient aber auch die Verteilungsfrage im ökonomischen Sinne, nicht zuletzt, weil man fragen kann, ob die normative Ökonomik sie im Vergleich mit traditionellen Auffassungen nicht doch zu eng fasst (Abschnitt IV.).
II. Unterscheidung von Verteilung und Effizienz Für das normative ökonomische Denken bleibt die Unterscheidung zwischen Allokation und Verteilung bis heute von grundlegende Bedeutung. Ihre unverminderte Anziehungskraft beruht auf dem Versuch, aus dem Begriff der Gerechtigkeit4 einen Fragenkreis auszusondern, über den sich – erstens – besser Einigkeit erzielen lässt und der – zweitens – unabhängig von den übrigen Gerechtigkeitsproblemen zu beantworten sein soll. Dieser herausgehobene Kreis von sowohl leichter als auch getrennt lösbaren Gerechtigkeitsfragen ist die Allokation. Auf ihn bezieht sich das in der Ökonomik im Grundsatz weithin anerkannte Effizienzziel. Für Fragen der gerechten Verteilung fehlen hingegen gleichermaßen anerkannte Gerechtigkeitsmaßstäbe.5 In ihrer Ausgangsfassung ist Effizienz als normative Zielsetzung in hohem Maße konsensfähig, weil sie die Konsensfähigkeit zum Prinzip erhebt: „Pareto-vorzugswürdig“ ist ein sozialer Zustand gegenüber einem anderen Zustand, wenn er mindestens eine Person nach ihrer eigenen Bewertung besser und keine andere Person schlechter stellt.6 Darauf aufbauend gilt ein Zustand als „Pareto-effizient“, wenn kein anderer gesellschaftlicher Zustand „Pareto-vorzugswürdig“ ist, also von mindestens einer Person vorgezogen und zugleich von niemandem für schlechter befunden wird. Die Pareto-Effizienz ist somit über die Konsensfähigkeit von Änderungen definiert. Indem alle zustimmen (können) müssen, beruht sie auf der formalen Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft. Ihr spezifischer Gerechtigkeitsgehalt liegt darin, nicht Konsens, sondern nur Konsensfähigkeit zu verlangen: Wenn einer individuell vorteilhaften Veränderung alle anderen Betroffenen zustimmen können, ohne einen Nachteil zu erleiden, lässt sich gegen sie kaum Entgegen einem verbreiteten Begriffsgebrauch ist die ökonomische Effizienzanalyse als eine (Teil‑)Theorie der Gerechtigkeit aufzufassen, vgl. Rödl (Fn. 2). Zum Gegenstandpunkt Miller, Justice, in: Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017, insbesondere Abschnitt 4, abrufbar unter https://plato.stanford.edu/archives/fall2017/ entries/justice. 5 Dazu unter IV. 6 Hierbei handelt es sich um die „schwache“ Pareto-Vorzugswürdigkeit (oder ParetoÜberlegenheit). 4
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ein begründeter Einwand denken; die Veränderung zu verhindern, erschiene als nicht zu rechtfertigende Schikane und Schädigung. Der paradigmatische Anwendungsfall der Pareto-Verbesserung ist der einvernehmliche Vertrag. Wenn sich A und B auf einen Tausch ihnen gehörender Güter einigen, sollte C sie daran nicht hindern können. Der Gerechtigkeitskern der Pareto-Effizienz ist die Ablehnung grundloser Blockade. Indes könnte C vielleicht doch einen nachvollziehbaren Grund haben, den Tausch zwischen A und B zu verhindern. Zwar erleidet er keine Einbuße. A und B aber erzielen bei ihrem Geschäft einen Tauschgewinn, so dass sich ihre wirtschaftliche Situation nicht nur gegenüber ihrem eigenen Status quo, sondern auch im Vergleich mit C verbessert. Damit stellt sich die Frage nach der Verteilung zumindest des hinzugewonnenen Wohlstands. Wenn C das Tauschgeschäft zwischen A und B verhindern könnte, läge darin für ihn ein Druckmittel, um eine Teilhabe am Gewinn von A und B durchzusetzen. Im modernen Privatrechtsverkehr mag man ein solches Vorgehen als Erpressung zurückweisen. Man findet sich aber sogleich in der geläufigen Verteilungsdiskussion wieder, wenn man sich C nicht als Einzelperson, sondern als Fiskus und damit als Repräsentanten aller Mitbürger von A und B denkt. Ob und in welchem Umfang C an den Gewinnen von A und B zu beteiligen ist und von welchen Umständen dies abhängen soll, ist erfahrungsgemäß weitaus strittiger als die Frage, ob der Pareto-verbessernde Tausch überhaupt stattfinden sollte. Ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt der normativen Ökonomik besteht darin, die beiden Fragen zu trennen. Am einfachsten lässt sich dies als zeitliche Abfolge denken: Die Gesellschaft einigt sich zunächst über die Verteilungsfrage, indem sie eine Anfangszuordnung der Güter bestimmt. Im zweiten Schritt werden Pareto-Verbesserungen durchgeführt, also insbesondere alle erreichbaren Kooperationsvorteile realisiert. Da die Verteilungsfrage zuvor abschließend behandelt war, gibt es nun keinen zulässigen Grund mehr, Pareto-Verbesserungen zu widersprechen.7 Ein solches Aushandlungsverfahren kann sich durchaus wiederholen: So mag eine Anfangsverteilung auf bestimmten Annahmen beruhen, welche Wohlstandsverteilung sich aufgrund der Pareto-Verbesserungen der zweiten Phase einstellt. Erweisen sich diese als falsch oder ändern sich die 7 Das hier skizzierte Argument ähnelt auf den ersten Blick dem zweiten Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik, wonach sich jeder Pareto-effiziente Zustand als ein Marktgleichgewicht mit staatlichen Transfers erreichen lässt. Während es im zweiten Hauptsatz allerdings um die Vereinbarkeit der Marktwirtschaft mit möglichen Verteilungszielen geht, steht hier der Gerechtigkeitsgehalt des Pareto-Kriteriums in Frage, den der zweite Hauptsatz voraussetzt.
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Verhältnisse, kann die Verteilungsfrage neu zu stellen und zu beantworten sein – ganz abgesehen davon, dass über die gerechte (Anfangs‑)Verteilung kaum je endgültige Einigkeit zu erzielen sein wird. Für die Trennbarkeit von Verteilung und Effizienz ist indes allein entscheidend, dass kein denkbarer Standpunkt in der Verteilungsfrage jemals einen Grund gibt, auf der Anfangsverteilung aufbauende Pareto-Verbesserungen zu verhindern: Wer die entstandene Endverteilung für ungerecht hält, mag die Anfangszuordnung in Frage stellen. Da diese Möglichkeit offensteht, rechtfertigt es die Verteilungsgerechtigkeit nicht, sich Pareto-Verbesserungen entgegenzustellen.8 Ein Einwand gegen die Abtrennung von Allokationsfragen liegt darin, der Pareto-Effizienz ließen sich keine nennenswerten Vorgaben für Rechtsregeln entnehmen. Tatsächlich dürften Pareto-Verbesserungen in juristischen oder rechtspolitischen Auseinandersetzungen kaum je ernsthaft umstritten sein;9 die Ungerechtigkeit wäre zu offenkundig. Praktische Tragweite hat das Effizienzkriterium darum nur in einer anspruchsvolleren, weniger selbstverständlichen Form, der Kaldor-Hicks-Effizienz.10 Der hypothetische Charakter des Konsenses wird dabei entscheidend verschärft: Eine Veränderung muss nun nicht mehr für alle Beteiligten wirklich ohne Nachteil sein. Stattdessen soll es genügen, wenn zwar Nachteile entstehen, die Gewinner der Veränderung aber hypothetisch (!) bereit wären, diese Nachteile finanziell vollständig auszugleichen, so dass unter Berücksichtigung dieser Kompensation eine Pareto-Verbesserung vorläge. Da die Verlierer tatsächlich nicht entschädigt werden, sind sie alles andere als gleichgültig gegenüber der Veränderung. Das Kaldor-Hicks-Kriterium verlangt indes nur, dass die Vorteile der Gewinner die Nachteile der Verlierer überwiegen. Die Rechtfertigung dieser Zumutung fällt naturgemäß schwerer als beim Pareto-Kriterium. Sie kann hier nur angedeutet werden: Zunächst einmal ist 8 Damit ist nur gesagt, dass eine Beschränkung von Pareto-Verbesserungen keine Gerechtigkeitsforderung sein kann. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob es gerechtfertigt sein kann, in tatsächlich geführten politisch-wirtschaftlichen Verteilungskämpfen Pareto-Verbesserungen zu verhindern oder dies anzudrohen, um eine (vermeintlich oder wirklich) gerechte Forderung durchzusetzen. 9 Vgl. R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 489 („Pareto-superiority is useless for most policy questions“); Polinsky, Q. J. Econ. 86 (1972), 407, 407 („crippling as a criterion for undertaking public policies“). Dies gilt auch für Eingriffe in die Vertragsfreiheit. Zwar mag zum Beispiel ein Mindestlohn eine (unbekannte) Anzahl an Arbeitsverhältnissen verhindern, weil der Reservationspreis des potentiellen Arbeitgebers unter dem Mindestlohn liegt. Dennoch wäre die Aufhebung des Mindestlohns keine Pareto-Verbesserung, weil damit all jene Arbeitnehmer schlechter stünden, die nur aufgrund dieses Eingriffs in die Vertragsfreiheit einen höheren Verdienst erzielen. 10 Kaldor, Econ. J. 49 (1939), 549, 550 f.; Hicks, Econ. J. 49 (1939), 696, 706.
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es nicht zwingend, eine Argumentationslast zugunsten eines bestimmten Besitzstandes anzunehmen. In diesem Sinne leitet das Kaldor-Hicks-Kriterium nicht Veränderungen von einem Status quo zu einem anderen Zustand an, sondern die Auswahl zwischen zwei gleichermaßen möglichen Zuständen, etwa der Zuordnung einer Rechtsposition zu einem von zwei Prätendenten. Formuliert man das Problem auf diese Weise symmetrisch, läuft das Kaldor-Hicks-Kriterium auf die Versteigerung des in Rede stehenden Vorteils oder Rechts an den Meistbietenden hinaus.11 Mit dieser Umformulierung entgeht das Kaldor-Hicks-Kriterium dem Vorwurf, entschädigungslos in bestehende Rechte einzugreifen – wem welche Rechte zustehen, steht erst zur Entscheidung. Zu leisten bleibt aber eine positive Begründung, weshalb Rechte gerade den Meistbietenden zugeordnet werden sollten. Ein Ansatz liegt darin, die Konsensfähigkeit nicht mehr auf die Zuweisung einzelner Vorteile und Rechte zu beziehen, sondern auf die generelle Anwendung des Kaldor-HicksKriteriums. Eine solche Bündelung verschiedener Rechtezuordnungen ist schon dem Pareto-Kriterium nicht fremd: Ein gewöhnlicher Austauschvertrag ist nur deshalb Pareto-vorzugswürdig, weil die gegenseitigen Pflichten nicht isoliert, sondern im Paket betrachtet werden; die Zahlungspflicht ist für den Käufer nur akzeptabel, wenn er im Gegenzug die Kaufsache fordern kann. Eine Begründung der Kaldor-Hicks-Effizienz kann deshalb darin liegen, dass ihre durchgehende Anwendung Pareto-vorzugswürdig gegenüber anderen Prinzipien, also konsensfähig, ist. Den erforderlichen Nachweis kann man auf verschiedene Weise zu führen versuchen. Der erste besteht in der These, eine umfassende Befolgung der Kaldor-Hicks-Effizienz führe selbst ohne besondere Ausgleichsmaßnahmen dazu, dass (nahezu) alle Mitglieder einer Gesellschaft besser oder jedenfalls nicht schlechter gestellt werden.12 Begründet wird dies mit der Vermutung, dass sich die unkompensierten Vor- und Nachteile zufällig und unsystematisch über die gesamte Bevölkerung verteilten; da die Gewinne per Definition die Verluste überstiegen, müsse statistisch auch für jeden Einzelnen ein Zuwachs zu erwarten sein. Diese Behauptung lässt sich empirisch kaum zuverlässig untermauern oder widerlegen. Selbst eine Plausibilitätseinschätzung fällt schwer, auch Zum grundsätzlichen Gleichlauf zwischen Kaldor-Hicks-Effizienz und einer Versteigerungsregel Coleman, Cal. L. Rev. 68 (1980), 221, 241 f.; entsprechend für eine „Reichtumsmaximierungsregel“ R. Posner, J. Legal Stud. 9 (1980), 243, 244. 12 Modelltheoretische Analyse und Plausibilisierung bei Polinsky, Q. J. Econ. 86 (1972), 407 („quasi-Paretian compensation criterion“); ferner Ng, Am. Econ. Rev. 74 (1984), 1033. Rechtsökonomische Rezeption bei R. Posner, Hofstra L. Rev. 8 (1980), 487, 491 ff.; kritischer Liscow, U. Chi. L. Rev. 85 (2018), 1649. 11
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weil man festlegen müsste, an welcher anderen möglichen Rechteverteilung die Kaldor-Hicks-Effizienz zu messen wäre, insbesondere da das geltende Recht nach Auffassung vieler Rechtsökonomen bereits in weiten Teilen die Forderungen der Kaldor-Hicks-Effizienz widerspiegelt.13 Diesen empirischen und konzeptionellen Schwierigkeiten entgeht man mit einer normativen Überlegung. Dazu ist auf die Verteilungsfrage zurückzukommen. Denn die vom Kaldor-Hicks-Kriterium ausgesparte „Kompensation“ der „Verlierer“ wäre nichts anderes als eine nachträgliche Umverteilung des durch eine „Veränderung“ erzielten gesellschaftlichen Gewinns. Nichts spricht dagegen, die hypothetischen Ausgleichszahlungen bei breiter Anwendung des Kaldor-Hicks-Kriteriums zunächst miteinander zu verrechnen und nur verbleibende Salden entrichten zu lassen, was über Steuern und Sozialleistungen geschehen kann.14 Genaue Salden aus konkreten Kaldor-Hicks-Veränderungen werden sich zwar praktisch nicht berechnen lassen. Wiederum liegt dies – neben Ungewissheiten im Tatsächlichen – wesentlich daran, dass sich kein bestimmter Status quo angeben lässt, für dessen „Veränderung“ eine Entschädigung zu leisten wäre. Auch ohne einen solchen Referenzpunkt kann die Verteilungsfrage aber eigenen Maßstäben unterworfen und damit von der Effizienz entkoppelt werden. Damit greift die oben zum Pareto-Kriterium entwickelte Trennungslogik. Eine praktische Leitlinie könnte darin bestehen, die relative Verteilung des wachsenden gesellschaftlichen Reichtums in der Bevölkerung stabil zu halten.15 Sofern die Verteilung des Wohlstands gesondert geregelt werden kann, gibt es keinen überzeugenden Gerechtigkeitsgrund mehr, sich gegen eine Mehrung der Verteilungsmasse zu wenden.16 Bekannt ist die These, das richterrechtliche common law bringe tendenziell effiziente Regeln hervor, zusammenfassend Zywicki/Stringham, Common Law and Economic Efficiency, in: Parisi (Hg.), Production of Legal Rules, Encyclopedia of Law and Economics, Band 7, 2. Aufl. 2011, hier zitiert nach Manuskriptfassung, https://dx.doi.org/10.2139/ ssrn.2088200 (zuletzt abgerufen 7. 10. 2021). 14 Näher zu dieser Umsetzung unter IV.2. 15 Also etwa den Gini-Koeffizienten der Einkommens- und Vermögensverteilung. Zur Umsetzung allein über das Steuer- und Sozial unten Fn. 53 und zugehöriger Text. 16 Dies gilt jedenfalls dann, wenn man Gerechtigkeit ohne Rücksicht auf ihre politische Durchsetzbarkeit entwirft, dazu bereits oben Fn. 8. Will man seine Zielsetzung hingegen so an die Machtverhältnisse anpassen, dass sie größere Chancen auf Verwirklichung hat, kann es erforderlich sein, Verteilungsziele auf ineffizienten Wegen zu verfolgen. Eine differenzierte Begründung dafür entwerfen Fennell/McAdams, Minn. L. Rev. 100 (2015), 1051, 1083 ff. (Trägheit und andere Defizite des Gesetzgebungsverfahrens im Steuerrecht als Argument für eine Berücksichtigung von Verteilungsfragen in anderen Rechtsgebieten). 13
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III. Gleichheit als Effizienzfrage Der Schwerpunkt der normativen (Rechts-)Ökonomik liegt in der Effizienzanalyse. Hier „spielt die Musik“ der ökonomischen Gerechtigkeitstheorie. Ihr Kompositionsprinzip besteht in dem erwähnten strengen Reduktionismus, der nur Ableitungen aus Effizienz als einziger Maxime gestattet, nachdem Verteilungsfragen in einen gesonderten Diskurs verwiesen sind. Anders als in der juristischen Dogmatik haben vorgefundene Regeln oder verbreitete Gerechtigkeitsvorstellungen kein eigenständiges Gewicht.17 Ein Reiz und möglicher Gewinn dieses verknappten Argumentationshaushaltes besteht darin, zu genauem und phantasievollem Nachdenken über Wirkungszusammenhänge anzuhalten. Gerade scheinbar selbstverständliche Gerechtigkeitspostulate – wie der Schutz von Eigentum gegen Diebstahl – bereiten dabei zum Teil erstaunliche Schwierigkeiten, deren Lösung dann aber auf andere Fragen befruchtend wirkt.18 Diese Vorgehensweise soll im Folgenden auf Gleichbehandlungsgebote angewandt werden. Dazu muss man sich von der Annahme lösen, Gleichheit – nach welchen Maßstäben auch immer – müsse sich auf ein Verteilungsproblem beziehen. Stattdessen sollen Gleichbehandlungsgebote als Ausfluss der Kaldor-Hicks-Effizienz erwiesen werden, also als Mittel zur Wertmaximierung über alle Mitglieder der Gesellschaft hinweg. Vorgeführt werden soll zum einen, dass Gleichbehandlungsgebote als Anreizmechanismen zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden können (Abschnitt 1.). Zum anderen soll eine Effizienzerklärung für Diskriminierungsverbote versucht werden, auch um das naheliegende Vorurteil zu erschüttern, die normative Ökonomik sei unempfänglich für diese besonders sensiblen, scheinbar „unökonomischen“ Gerechtigkeitsfragen (Abschnitt 2.). Weitere Gleichbehandlungsgebote im Vertrags-, Arbeits- und Kartellrecht sind Gegenstand eines gesonderten Beitrags.19 1. Gleichbehandlung als Anreizmechanismus Als Anreizmechanismus bezeichnen Ökonomen Regeln zur Verhaltenssteuerung. Schwierigkeiten bereitet dabei nur der Fall, dass sich das zu beeinflus17 Wohl
aber sollten sie als Heuristik dienen. Gerade alte rechtliche Regelbildungen dürften sich selten als ineffizient erweisen. 18 Zum „surprisingly complex case against theft“ Hasen/McAdams, Int. Rev. L. & Econ. 17 (1997), 367. 19 Engert, in: FS für Christine Windbichler, 2020, S. 51.
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sende Verhalten nicht direkt feststellen und belohnen oder bestrafen lässt, insbesondere weil wichtige Umstände nur der handelnden Person („Agentin“), nicht aber dem von den Auswirkungen Betroffenen („Prinzipal“) oder einer sanktionierenden Stelle (etwa einem Gericht) bekannt sind. Die zu begründende Hypothese lautet, dass bestimmte Gleichbehandlungsgebote als zwar unvollkommener, aber angesichts der Informationsasymmetrie bestmöglicher Anreizmechanismus dienen und deshalb ‑nicht wegen ihrer Verteilungswirkungen – in der Rechtsordnung anzutreffen sind.20 a) Grundgedanke Die Herleitung lässt sich auf den folgenden Grundgedanken zurückführen: Gleichbehandlungsgebote bewirken, dass die Entscheidung in einem Einzelfall auf andere, gleich gelagerte Fälle erstreckt werden muss. Wer zur Gleichbehandlung verpflichtet ist, muss sich auf eine allgemeine Handhabung festlegen. Dies ähnelt der Kantischen Probe, ob man die Maxime des eigenen Handelns als „allgemeines Gesetz“ wollen könne.21 Das Gleichbehandlungsgebot verwandelt dieses Gedankenexperiment in einen auf den Entscheidungsträger wirkenden Anreizmechanismus: Dieser wird gezwungen, eine Maxime tatsächlich zum Gesetz zu erheben und mit ihren Folgen zu leben. Von Bedeutung ist das insbesondere dann, wenn das Eigeninteresse der handelnden Person grundsätzlich auf effizientes Verhalten ausgerichtet ist, aber im Einzelfall eine Versuchung bestehen kann, die Wertmaximierung dem eigenen Sondervorteil zu opfern. Schon jetzt sei dem Leser als Anschauungsmaterial das gesellschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgebot empfohlen; nicht zufällig halten namhafte Juristen dessen Begründung aus der iustitia distributiva für brüchig.22 b) Ausführung Der Grundgedanke soll anhand einer einfachen Modellbetrachtung entfaltet werden. Der Adressat des Gleichbehandlungsgebots sei eine „Agentin“ A, der die Verwaltung einer gemeinschaftlichen Vermögensmasse G anvertraut Eine verwandte Effizienzbegründung für öffentlich-rechtliche Gleichheitssätze entwickelt von Randow, in: FS für Theodor Baums, 2017, S. 931. 21 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1786, S. 52 („handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“). 22 Siehe vor allem die Habilitationsschrift von Verse, Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Recht der Kapitalgesellschaften, 2006, S. 77 ff.; ferner Canaris, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, 1997, S. 36. 20
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ist. A ist an der Vermögensmasse mit einem Anteil von θ (mit 0 < θ < 1) beteiligt, zum Beispiel als Teilhaberin oder über eine erfolgsabhängige Vergütung. A hat für die Vermögensmasse Geschäfte zu tätigen. Gegenüber außenstehenden Dritten gibt ihre Beteiligung θ der A einen Anreiz, für G gewinnbringende Geschäfte abzuschließen. Gefährlich für G sind aber Interessenkonflikte von A, wenn sie für sich selbst Vorteile aus einem Geschäft ziehen kann. Ist A selbst Geschäftspartnerin,23 mag die Transaktion für A selbst zu einem Ertrag von π und für G zu einem entsprechenden Ergebnis γ führen. Effizient ist das Geschäft, wenn π + γ > 0; A wird es indes bereits dann tätigen, wenn π + θγ > 0. Der Interessenkonflikt kann zu Transaktionen mit einem Verlust für G und einer Effizienzeinbuße führen, wenn zum Beispiel A mit 10 % an G beteiligt ist (θ = 0,1), ihr unmittelbarer Vorteil aus der Transaktion 10 Geldeinheiten beträgt (π = 10) und G dabei 20 Geldeinheiten verliert (γ = −20).24 Diese Gefahr ließe sich leicht bannen, wenn die Rechtsordnung der A schlicht verbieten könnte, ineffiziente Geschäfte abzuschließen.25 Verglichen mit dieser Lösung scheint ein Gleichbehandlungsgebot umständlich und weniger zielsicher. Indes sprechen gute Gründe dagegen, die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit eines Vertrags zur Rechtsfrage zu machen.26 Gerichte können zwar wirtschaftliche Analysen anstellen. Die Unsicherheiten solcher Beurteilungen sind aber erheblich, so dass nicht selten erwünschte Geschäfte als Pflichtverletzung und schädliche Transaktionen als pflichtgemäß behandelt werden. Dies beschwört missbräuchliche Rechtsstreitigkeiten herauf und erschwert die Verhaltenssteuerung.27
23 Dieser einfache Interessenkonflikt sei hier zugrunde gelegt. Die Analyse ist aber leicht
auf den Fall zu übertragen, dass A eine Zuwendung von dem Geschäftspartner erhält oder sonst unter seinem Einfluss steht. 24 As Gesamtgewinn ist dann 10 + 0,1(−20) = 8, das gesamtwirtschaftliche Ergebnis hingegen 10 − 20 = −10. 25 Oder man könnte A (als Organwalterin) ausschließlich auf das Interesse von G verpflichten; dann dürfte sie nur Geschäfte mit positivem γ abschließen. Auch eine solche Regel würde A an ineffizienten Entscheidungen hindern. 26 Vgl. Myers, J. Fin. Econ. 5 (1977), 147, 157: „No sane lawyer attempts to write a contract requiring management to ‚abstain from suboptimal decisions‘.“ 27 Diese Nachteile sind aus der Geschäftsleiterhaftung bekannt und führen dort unter dem Stichwort der business judgment rule zur Einräumung eines Haftungsfreiraums für unternehmerische Entscheidungen. Rechtsökonomisch dazu Spamann, J. Legal Anal. 8 (2016), 337; Engert/Goldlücke, Rev. L. & Econ. 13 (2017), 1; Engert, Why manager liability fails at controlling systemic risk, in: Lomfeld/Somma/Zumbansen (Hg.), Reshaping Markets, 2016.
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Ein Gleichbehandlungsgebot kann unter Umständen weniger kostspielig und wirksamer sein. Bezogen auf das eben entwickelte Modell bestünde die Rechtsfolge eines Gleichbehandlungsgebots darin, dass A das Geschäft mit sich selbst nur tätigen darf, wenn sie es zugleich anderen potentiellen Vertragspartnern in gleicher Lage anbietet. Wie sich diese Regel auf As Anreize auswirkt, hängt von der Zahl der in Betracht kommenden weiteren Geschäftspartner und dem mit ihnen abzuschließenden Transaktionsvolumen ab. Der weitere Parameter λ > 1 soll erfassen, um welchen Faktor sich das Volumen des fraglichen Geschäfts vergrößert, wenn ein Gleichbehandlungsgebot A zwingt, die von ihr selbst genutzte Transaktionsgelegenheit weiteren Parteien zugänglich zu machen; vereinfacht gesagt geht es um die Zahl zusätzlicher, „gleich gelagerter“ Fälle zu dem eigenen Geschäftsabschluss von A. Damit verändern sich die Anreize für A: Während ihr Gesamtvorteil aus dem Abschluss des Geschäfts bislang π + θγ betrug, lautet der entsprechende Ausdruck nun π + λθγ. Die Auswirkungen auf G gewinnen ein um λ höheres Gewicht und können damit zu schwache Anreize aufgrund der weniger als vollständigen Teilhabe θ < 1 ganz oder teilweise ausgleichen. In dem oben gegebenen Beispiel würde A von dem schädlichen Geschäft Abstand nehmen, wenn λ größer als 5 wäre.28 Augenfällig wird diese Anreizwirkung, wenn man das Modell auf ein gesellschaftsrechtliches Beispiel bezieht, etwa die Zahlung einer Dividende. A könnte Gesellschafterin und θ ihr Anteil am Gesellschaftsvermögen sein. Sind die privaten Vorteile π des Geschäfts so erheblich und offenkundig, dass alle anderen Gesellschafter auf Gleichbehandlung bestehen und einen entsprechenden Geschäftsabschluss beanspruchen, so wäre λ = θ _1 . Das Ergebnis von A aus der Durchführung der Transaktion betrüge damit genau π + λθγ = π + θθ_ γ = π + γ. Effizient wäre die Transaktion, wenn λ(π + γ) > 0. Somit würde A das Geschäft dann und nur dann tätigen, wenn es effizient wäre. Die Dividendenzahlung veranschaulicht zudem, weshalb das Gleichbehandlungsgebot einer direkten Entscheidungsvorgabe überlegen sein kann: Effizient ist eine Ausschüttung an die Gesellschafter, wenn der Ausschüttungsbetrag in den Händen der Gesellschafter mehr wert ist als in den Händen der Gesellschaft, also gilt: λγ < λπ. Um einen direkten Rechtsbefehl zu effizientem Verhalten anzuwenden, müsste ein Gericht beurteilen, ob die Anlagemöglichkeiten der Gesellschaft vielversprechender sind als die ihrer Gesellschafter. Ein Gleichbehandlungsgebot bei Dividendenzahlungen
28 Mit λ = 6 würde der Gesamtgewinn von A nicht mehr 8 wie oben in Fn. 24 betragen, sondern 10 + 6 · 0,1 · (−20) = −2.
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erlaubt es der Rechtsordnung, diese Entscheidung unbesorgt der Gesellschaftermehrheit zu überlassen. Die Modellanalyse deckt aber zugleich eine Gefahr dieses Anreizmechanismus auf: Das Gleichbehandlungsgebot vergrößert die Effizienzfolgen der in einem Einzelfall getroffenen Entscheidung. Dies kann die Anreize zu ineffizientem Handeln neutralisieren, muss es aber nicht. Sind sowohl As Teilhabe θ an der Vermögensmasse als auch der Ausdehnungsfaktor λ zu klein, kann sich ein schädliches, eigennütziges Geschäft für A weiterhin lohnen.29 Das Gleichbehandlungsgebot nutzt dann nicht nur nichts, sondern vervielfacht die Effizienzeinbuße um den Faktor λ.30 Mancher mag dies unter den gegebenen Umständen für gerecht halten, weil die Gelegenheit zur Selbstbegünstigung nicht allein A vorbehalten bleibt. Effizient ist eine solche „Gleichbehandlung in der Wertzerstörung“ aber keinesfalls. Als ökonomischer Anreizmechanismus ist ein Gleichbehandlungsgebot darum nur zu begründen, solange die erstrebte Verhaltenssteuerung Erfolg verspricht. Besonders gefährlich sind Konstellationen mit hohen privaten Vorteilen π für den Regelungsadressaten und geringer Teilhabe θ. Der Ausdehnungsfaktor λ hat eine zwiespältige Wirkung: Er verstärkt den Effizienzanreiz, erhöht aber auch den möglichen Schaden, wenn die erstrebte Verhaltenssteuerung misslingt. Das Beispiel des Dividendenanspruchs bietet besonders günstige Bedingungen für die Anwendung eines Gleichbehandlungsgebots: Aus Sicht der Gesellschaft hängt der Wert des abfließenden Geldbetrags nicht vom Empfänger ab. Ebenso ist ein vereinnahmter Geldbetrag für verschiedene Gesellschafter annähernd gleich viel wert. γ und π unterscheiden sich damit so gut wie überhaupt nicht nach dem jeweiligen Transaktionspartner. Es ist offensichtlich, dass es sich um „wesentlich gleiche“ Fälle handelt. Die Einfachheit dieser Beurteilung ließ das Gleichbehandlungsgebot als günstigere Form der Verhaltenssteuerung erscheinen als ein unmittelbares Gebot effizienten Verhaltens. Häufig ist schwieriger zu entscheiden, welche Fälle hinreichend gleichartig sind. Mit der Anreizsteuerung als maßgeblichem Zweck kann die ökonomische Betrachtung immerhin Kriterien liefern, was als „wesentlich gleich“ zu behandeln ist – nämlich Geschäftsmöglichkeiten, die sich gleich oder ähnlich auf das zu schützende Interesse G auswirken. 29 Beispiel:
π = 10, θ = 0,01, γ = −20, λ = 10. Für A bleibt das Geschäft trotz Gleichbehandlungsgebots vorteilhaft: 10 + 0,01 · 10 · (−20) = 8. 30 Im Beispiel aus Fn. 29 verschlechtert sich das gesamtwirtschaftliche Ergebnis von 10 − 20 = −10 ohne Gleichbehandlungsgebot auf 10(10 − 20) = −100 mit Gleichbehandlungsgebot.
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2. Gleichbehandlung als Investitionsanreiz Bei gesellschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten mag vielen Juristen eine Effizienzbegründung noch nachvollziehbar sein. Demgegenüber scheint eine solche Erklärung bei anderen privatrechtlichen Gleichheitssätzen Regelungen fern zu liegen. Insbesondere die politisch umstrittenen Diskriminierungsverbote werden häufig auf höchste verfassungsrechtliche Prinzipien wie die Achtung der Menschenwürde gestützt. Auf den ersten Blick hat dies wenig mit einer Effizienzabwägung der gesellschaftlichen Vorund Nachteile gemein. Ökonomen haben es sich dennoch nicht nehmen lassen, seit vielen Jahrzehnten auch Diskriminierungsfragen mit ihrem analytischen Instrumentarium zu beleuchten.31 Ein guter Ansatzpunkt für eine Effizienzerklärung liegt dabei in Anreizen zu Investitionen,32 insbesondere in Humankapital.33 Der Gewinn einer ökonomischen Fundierung liegt erneut in einer differenzierteren Argumentation mit entsprechend differenzierteren Folgerungen. Zudem beruhen Effizienzgründe auf empirisch überprüfbaren oder zumindest plausibilisierbaren Annahmen über Wirkungszusammenhänge, etwa zu den Ursachen einer ungleichen Behandlung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Solche Differenzierung und die Rückbindung an empirische Voraussetzungen könnten einem Gerechtigkeitsdiskurs neue Perspektiven eröffnen, wohingegen etwa eine Berufung auf die Menschenwürde häufig kaum weiter substantiierbar und kritisierbar ist. a) Grundgedanke Die im Folgenden darzustellende Effizienzbegründung beruht auf der Gefahr eines gesellschaftlichen Gleichgewichtszustands, in dem menschliche Fähigkeiten und Begabungen brach liegen, statt zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beizutragen. Diskriminierung wird dabei nicht mit einem Widerwillen oder gar Hass gegen die benachteiligte Gruppe erklärt, sondern als rationales Informationsverhalten: Weil bestimmte Eigenschaften in der fraglichen Gruppe statistisch anders als in der Gesamtbevölkerung verteilt sind, wird aus der Gruppenzugehörigkeit auf eine geringere Eignung als Überblicke etwa bei Lang/Lehmann, J. Econ. Lit. 50 (2012) 959; Arrow, J. Econ. Persp. 12 (1998), 91. 32 Investitionsanreize lassen sich zwar in einem weiteren Sinne ebenfalls als Verhaltenssteuerung auffassen, nämlich eben zu effizienten Investitionsentscheidungen. Ökonomisch gelten sie aber als anderer Modellierungsansatz, weil die Investition von der späteren, von ihr ermöglichten Transaktion unterschieden wird. 33 Die folgenden Überlegungen finden sich ähnlich bereits in Engert, German L. J. 4 (2003), 685, 689 ff., 693 ff. 31
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Geschäftspartner geschlossen. Indem deshalb die Gruppenangehörigen für bestimmte Geschäfte weniger in Betracht gezogen werden, kann es zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung kommen: Da die erwünschten Eigenschaften die Marktchancen der betroffenen Personen weniger erhöhen, lohnt sich deren Ausbildung weniger als für die übrige Bevölkerung. Diskriminierungsverbote sollen dieses unheilvolle Gleichgewicht aufbrechen, indem sie den Angehörigen der betroffenen Gruppe gleiche Marktchancen und damit den Anreiz verschaffen, die gewünschten produktiven Fähigkeiten tatsächlich auszubilden. b) Ausführung Die Ökonomik hat verschiedene theoretische Erklärungen für die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen erarbeitet und empirisch untersucht.34 Die soeben angerissenen Begründung baut auf „statistischer Diskriminierung“ als Ursachendiagnose auf.35 Sie setzt an dem ökonomischen Grundproblem asymmetrischer Information an: Viele Märkte leiden darunter, dass wesentliche Eigenschaften einer Leistung oder eines Geschäftspartners für die jeweils andere Seite nicht erkennbar sind. Wird diese Informationsasymmetrie nicht verringert, kommt es zu einer Negativauslese: Schlechte Qualität verdrängt gute, in der Konsequenz bleiben wertvolle Kooperationschancen ungenutzt (lemon market). Mit statistischer Diskriminierung reagieren zum Beispiel Arbeitgeber oder Vermieter auf ihr Informationsdefizit, indem sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als Hinweis auf statistisch zu erwartende Eigenschaften des möglichen Geschäftspartners deuten. Solche „Vorurteile“ können für den einzelnen Marktteilnehmer rational sein. Denn zum einen können die fraglichen Merkmale – aus historischen oder sonstigen Gründen – in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich verbreitet sein. Dies macht die Gruppenzugehörigkeit zu einer zwar ungenauen, aber individuell nützlichen Information über die Eigenschaften des möglichen Geschäftspartners. Zum anderen lassen sich viele wichtige Charakteristika anders nicht feststellen: Bereits die fachliche Quali34 Die älteste erklärt Diskriminierung mit gegen die Gruppe gerichteten Präferenzen (taste-based discrimination), grundlegend Becker, The Economics of Discrimination, 1957, zumeist zitiert nach der 2. Aufl. 1971. Den Forschungsstand dieses Erklärungsansatzes auf dem Arbeitsmarkt fassen zusammen Lang/Lehmann, J. Econ. Lit. 50 (2012) 959, 970 ff. In jüngerer Zeit finden zum Beispiel systematische Verhaltensunterschiede betroffener Gruppen größere Aufmerksamkeit, etwa Geschlechtsunterschiede im Wettbewerbsverhalten, vgl. Gneezy/Leonard/List, Econometrica 77 (2009), 1637. 35 Grundlegend Phelps, Am. Econ. Rev. 62 (1972), 659; Arrow, The Theory of Discrimination, in: Aschenfelter/Rees (Hg.), Discrimination in Labor Markets, 1973, S. 3.
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fikation eines Bewerbers lässt sich aus Bildungsabschlüssen, Arbeitszeugnissen und ähnlichen Nachweisen nur unvollkommen ablesen. Noch sehr viel schwerer fällt es, die Kreditwürdigkeit und persönliche Eigenschaften wie moralische Integrität, Vertrauenswürdigkeit, Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt und berufliche Leistungsbereitschaft zu erkennen, auf die es Arbeitgebern oder Vermietern ankommen muss. Die Tragweite dieser Erklärung lässt sich an zwei empirischen Studien aus jüngerer Zeit illustrieren: Die erste betraf den beruflichen Erfolg weiblicher und männlicher Anwälte in US-amerikanischen Kanzleien während der 2000er Jahre. Sie erbrachte zunächst den erwarteten Befund eines deutlichen und hoch signifikanten Geschlechtsunterschieds bei Einkommen und Karriereerfolg. Der Abstand verringerte sich zwar, wenn man Bildungshintergrund, Berufserfahrung, familiäre Verpflichtungen und andere äußere Charakteristika berücksichtigte, blieb aber immer noch erheblich.36 Darüber hinaus konnte Untersuchung zusätzlich auf Daten über messbare Arbeitsleistungen und ‑erfolge der Anwälte für ihre jeweilige Kanzlei zurückgreifen, namentlich die Zahl der abrechenbaren Arbeitsstunden gegenüber Mandanten und das Volumen eingeworbener Umsätze. Wurden auch diese Daten berücksichtigt, verschwanden die statistisch signifikanten Unterschiede in Einkommen und Karriereerfolg.37 Gemessen an den für ihren Arbeitgeber erbrachten Leistungen wurden Frauen also nicht schlechter behandelt als Männer. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es vor allem auf ein zweites Ergebnis an: Auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den messbaren Leistungen verschwanden ihrerseits weitgehend, wenn man die Angaben der Befragten zur Stärke des eigenen Karrierewunsches einbezog.38 Dies deutet zum einen darauf hin, dass beruflicher Aufstiegswille einen starken Einfluss auf die Einsatzbereitschaft und – auf diesem Weg – auf Einkommens- und Karriereerfolg hat. Zum anderen scheint diese Triebfeder bei männlichen Juristen statistisch stärker ausgeprägt zu sein. Kanzleien können also aus dem Geschlecht grundsätzlich auf diese Eigenschaft zurückschließen.39 Die zweite Studie bezieht sich unmittelbar auf statistische Diskriminierung. Sie untersucht die Auswirkungen von gesetzlichen Verboten in den USA, mögliche Vorstrafen von Bewerbern bereits beim ersten Kontakt und nicht erst nach einem Bewerbungsgespräch abzufragen (ban-the-box 36 Azmat/Ferrer,
J. Pol. Econ. 125 (2017), 1306, 1345 ff. Azmat/Ferrer, J. Pol. Econ. 125 (2017), 1306, 1347 ff. 38 Azmat/Ferrer, J. Pol. Econ. 125 (2017), 1306, 1334 ff. 39 Ob dies zu statistischer Diskriminierung gegen weibliche Bewerber bei der Einstellung führte, war nicht Gegenstand der Untersuchung. 37
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policies). Vorstrafen deuten aus Sicht des Arbeitgebers auf unerwünschte Eigenschaften von fehlender Zuverlässigkeit bis hin zu möglicher Gewalttätigkeit hin. Der Versuch, Vorbestrafte mit den beschriebenen Regelung besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren, verschlechterte aber offenbar die Einstellungschancen von Schwarzen, unter denen der statistische Anteil an Vorbestraften deutlich höher ist.40 Dies ist ein sehr deutlicher Beleg für statistische Diskriminierung, also die Verwendung eines Gruppenmerkmals (Hautfarbe) als Indiz für verborgene, in diesem Fall hoch unerwünschte Eigenschaften (Vorstrafen). Statistische Diskriminierung kann schon für sich genommen eine Effizienzeinbuße hervorrufen.41 Besonders nachteilig kann es aber sein, wenn sie den Erwerb positiver, produktiver Eigenschaften für die benachteiligte Gruppe weniger attraktiv macht. Wenn statistische Diskriminierung die Aussicht auf einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung in guter Lage schmälert, dann verringert sie damit zugleich die Rendite von Investitionen in das dafür erforderliche Humankapital.42 Für Angehörige der betroffenen Gruppen lohnt es sich weniger, die von Arbeitgebern und Vermietern erwünschten Eigenschaften zu erwerben. Die geringere Karriereneigung weiblicher Rechtsanwälte in der oben wiedergegebenen Studie – vielleicht verbunden mit einer stärkeren Ausrichtung auf familiäre Aufgaben – könnte daher rühren, dass Kanzleien ihnen eben dies unterstellen und deshalb ihre Aufstiegsmöglichkeiten (bewusst oder unbewusst) beschränken.43 Dieser Gedanke einer selbsterfüllenden Prophezeiung harmoniert gut mit politischen oder sozialethischen Begründungen für Diskriminierungsverbote, wonach eine Schlechterstellung aufgrund unveränderlicher Attribute nicht nur die individuelle Chancengleichheit verletzt, sondern auch die betroffene Gruppe gesellschaftlich ausgrenzt. Damit ist ein Ansatz zu einer ökonomischen Begründung von Diskriminierungsverboten gefunden. Ein endgültiges Urteil steht aber noch aus: Ob statistische Diskriminierung effizient oder ineffizient ist, hängt unter anderem davon ab, welche Verluste einerseits die betroffene Gruppe aufgrund der Benachteiligung erleidet, andererseits die Marktgegenseite durch einen Verzicht auf die Diskriminierung hinnehmen müsste, wenn sie einem 40 Doleac/Hansen,
J. Labor Econ. 38 (2020), 321. Hierzu Engert, German L. J. 4 (2003), 685, 694 f. 42 Formales Modell bei Moro/Norman, J. Econ. Th. 114 (2004), 1. 43 Wie gesagt sprachen die empirischen Ergebnisse im konkreten Fall allerdings gegen statistische Diskriminierung, weil bereits die Berücksichtigung der messbar unterschiedlichen Arbeitsleistung die Einkommens- und Aufstiegsunterschiede weitgehend verschwinden ließ. 41
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höheren Anteil von weniger geeigneten Geschäftspartnern ausgesetzt wäre.44 Selbst wenn statistische Diskriminierung die betroffene Gruppe daran hindert, die vom Markt nachgefragte Eigenschaft stärker auszubilden, hängt das Effizienzergebnis von der Stärke der unterschiedlichen Effekte ab.45 Zu berücksichtigen wäre des Weiteren, wie gut (oder schlecht) Diskriminierungsverbote durchzusetzen sind. Wenn sich statistische Diskriminierung nur schwer nachweisen lässt, kann ein Verbot zu kostspieligen Rechtsstreitigkeiten führen, ohne die Lage der benachteiligten Gruppe nennenswert zu verbessern. Dieses bloße Zwischenergebnis einer Effizienzanalyse kann man enttäuschend finden. Für (Rechts‑)Ökonomen ist es ein Ansporn zur weiteren Erforschung oder wenigstens Plausibilisierung der maßgeblichen Größenordnungen, um Diskriminierungsverbote an einem genauer bestimmten Gerechtigkeitsziel messen zu können.
IV. Gleichheit als Verteilungsfrage Gleichbehandlungspflichten lassen sich also unter Umständen – vielleicht überraschenderweise – aus dem Ziel einer Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums ableiten. Nur beiläufig erwähnt wurde, dass bereits das Effizienzziel selbst auf einer formalen Gleichheitsannahme beruht: Ein Wertzuwachs hat gleiches Gewicht, unabhängig davon, bei wem er entsteht – „ein Euro ist ein Euro“. Bei dieser formalen Gleichheit und den daraus abzuleitenden, besonderen Gleichbehandlungsgeboten bleibt es aber nicht. Vielmehr spielen Gleichheitserwägungen zwangsläufig eine zentrale Rolle, wenn es um die gerechte Verteilung des mit Hilfe der Effizienzorientierung erwirtschafteten Wohlstands geht. Strittig ist insoweit aber, ob sich über die Verteilungsgerechtigkeit überhaupt ökonomisch begründbare Aussagen treffen lassen (Unterabschnitt 1.). Wenn man dies bejaht, fragt sich weiter, welche Gerechtigkeits- und Gleichheitskriterien dabei anzuwenden sind (Unterabschnitt 2.).
Grobe Skizze unter Ausblendung der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ bei Engert, German L. J. 4 (2003), 685, 694 f. 45 Eine vergleichsweise umfassende Modellanalyse wird angestellt von Norman, Rev. Econ. Stud. 70 (2003), 615. 44
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1. De distributione est disputandum Im Gegensatz zum klassischen Utilitarismus benthamscher Prägung herrschte in der Ökonomik seit spätestens der Mitte des letzten Jahrhunderts die Auffassung vor, Verteilungsfragen entzögen sich einer wissenschaftlichen Betrachtung und müssten politischer Dezision überlassen bleiben. Begründet wurde dies mit der Unmöglichkeit eines „interpersonalen Nutzenvergleichs“, also einer vergleichenden Bewertung individueller Zwecksetzungen. Während sich das Effizienzkriterium auf kommensurable Geldwerte bezieht, sollen sich die mit diesen Geldmitteln verfolgten individuellen Ziele einer normativen Bewertung nach wissenschaftlichen Ansprüchen entziehen. Ob ein Euro in der Hand eines Wohlhabenden oder Armen, eines Gebildeten oder Ungebildeten mehr wert sei, lasse sich nicht objektivieren. Den Respekt für die Autonomie des Einzelnen, aber auch für kulturelle Anschauungen belegt eindrucksvoll das Selbstzeugnis eines englischen Ökonomen aus den dreißiger Jahren: „I had the strongest bias in favour of utilitarian analysis. […] I was powerfully attracted by the proposition […] that recent developments of the theory of value could be invoked to demonstrate the desirability of the mitigation of inequality. When I look back on that frame of mind, I find it easy to understand the belief of Bentham and his followers that they had found the open sesame to problems of social policy. But, as time went on, things occurred which began to shake my belief […] I am not clear how these doubts first suggested themselves; but I well remember how they were brought to a head by my reading somewhere […] the story of how an Indian official had attempted to explain to a high caste Brahmin the sanctions of the Benthamite system. ‘But that,’ said the Brahmin, ‘cannot possibly be right. I am ten times as capable of happiness as that untouchable over there.’ I had no sympathy with the Brahmin. But I could not escape the conviction that […] the difference between us was not one which could be resolved by the same methods of demonstration as were available in other fields of social judgement.“46
In Verteilungsfragen keinen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch zu stellen, mag man für kluge Selbstbescheidung halten. Gesellschaftlich und politisch bleibt Verteilungsgerechtigkeit aber eine unabweisbare Forderung. Diese Aufgabe unbearbeitet zu lassen, steht einer (auch) normativen Sozialwissenschaft auf Dauer schlecht an. Für die Ökonomik kommt hinzu, dass sich Effizienz und Verteilung zwar analytisch trennen lassen, aber eine Umverteilung über Transferzahlungen auf die effiziente Allokation zurückwirkt. Augenfällig ist dieser Zusammenhang zunächst, weil das Kaldor-Hicks-Kri Robbins, Econ. J. 48 (1938), 635, 636.
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teriums von den Reservationspreisen für Güter und diese wiederum von individuellen Einkommen und Vermögen abhängen. Die effiziente Allokation fällt also in concreto unterschiedlich aus, wenn sich die Verteilung von finanziellem Wohlstand verändert. Diese Wechselwirkung erzwingt allerdings noch keine gemeinsame normative Betrachtung. Eine Effizienzanalyse kann eine politisch entschiedene Umverteilung als gegeben hinnehmen und auf dieser Grundlage ihren Maximierungsauftrag erfüllen.47 Ein echter Zielkonflikt und damit normativer Abstimmungsbedarf entsteht aber, weil Umverteilung nicht nur zu einer inhaltlich abweichenden Allokation führt, sondern den vorhandenen Reichtum in Summe verringert. Aus Effizienzsicht hängt der Wert von Geld zwar definitionsgemäß nicht von der Person des Eigentümers ab; eine Transferzahlung wirkt sich daher als solche nicht auf die Effizienz aus. Indes erschöpft sich Umverteilung nicht in dieser angestrebten Wirkung, sondern verursacht Kosten. Bedeutender als der Aufwand für die erforderliche staatliche Bürokratie ist, dass Umverteilungsregeln Anpassungsreaktionen der Betroffenen auslösen. Mit Zahlungspflichten belastete Aktivitäten (zum Beispiel die Erzielung von Einkommen) werden verringert, begünstigte Aktivitäten verstärkt.48 Um dem Begünstigten einen Euro zu verschaffen, muss dem Belasteten im wirtschaftlichen Ergebnis mehr als ein Euro genommen werden.49 Aus diesem Zielkonflikt zwischen Effizienz und Umverteilung folgt selbstverständlich nicht, dass Umverteilung ökonomisch zu missbilligen wäre. Die oben dargestellte überkommene Sicht klammert Verteilungsfragen nur aus, will über sie also keine Aussage treffen. Diese agnostische Position bedeutet zugleich, dass die normative Ökonomik zwar die Effizienzkosten von Umverteilung beziffern kann, aber keine Stellung zu der richtigen Abwägung zwischen den beiden Zielen nimmt, ja dafür nicht einmal eine strukturierende Methode anbieten kann.
Ein Zielverfehlung droht allenfalls auf Seiten der angestrebten Verteilung, etwa weil es zu ungleichen Wohlstandszuwächsen kommt. Werden aus diesem Anlass die verteilungspolitischen Transfers angepasst, kann dies wiederum die effiziente Allokation verändern. Theoretisch kann es daher mehrerer Schritte bedürfen, bis sowohl Effizienz als auch gerechte Verteilung erreicht sind. 48 Neben diesem Substitutionseffekt können Einkommenseffekte auftreten, die in die umgekehrte Richtung wirken. Entscheidend ist, dass Verteilungsregeln nie nur Wohlstand transferieren, sondern darüber hinaus Verhaltensänderungen bewirken. 49 Für das Steuersystem der USA wird geschätzt, dass der Transfer eines US-Dollars vom höchsten zum niedrigsten Einkommensbezieher beim Belasteten eine Einbuße nicht von einem, sondern von 1,77 Dollar auslöst, Hendren, J. Publ. Econ. 187 (2020), 104198, 9. 47
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Diesem unbefriedigenden Zustand tritt eine wachsende Bewegung in der normativen (Rechts‑)Ökonomik entgegen. Indem sie interpersonale Nutzenvergleiche zulässt, versucht sie sich an einer umfassenden gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgröße als Zielsetzung anstelle von in Geld messbarem Reichtum. Es sind zahlreiche Möglichkeiten vorgeschlagen und untersucht worden, wie Präferenzbefriedigung in individuellen Nutzen zu übersetzen ist und diese in einer „gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion“ (social welfare function) zusammenzuführen sein sollen.50 Den unterschiedlichen Ansätzen ist gemein, dass die Aggregation von individuellem Wohlbefinden es ermöglicht, aus dem abnehmenden Grenznutzen von Geld51 eine Begründung für Umverteilung zu gewinnen: Bei weniger Wohlhabenden stiftet ein zusätzlicher Euro mehr Befriedigung als bei Wohlhabenden. Damit steht ein analytisches Instrument zur Verfügung, um die (abnehmenden) Wohlfahrtszuwächse stärkerer Umverteilung ihren (zunehmenden) Effizienzkosten gegenüberzustellen und auf dieser Grundlage das optimale Maß an Einkommens- und Vermögensangleichung zu bestimmen. 2. Kriterien gerechter Verteilung – nochmals zur Trennung von Effizienz und Verteilung Mit dem abnehmenden Grenznutzen von Geld erhebt die soziale Wohlfahrtsfunktion den Grad der Präferenzbefriedigung zum Maß der Verteilungsgleichheit. Die Maximierung der sozialen Wohlfahrt führt damit zu einer optimierenden Abwägung zwischen Effizienz einerseits und Umverteilung andererseits. Es kommt zu einem Kompromiss zwischen der marktartigen Gleichheit des Effizienzziels („ein Euro ist ein Euro“) und der Gleichheit in der Befriedigung von Bedürfnissen. Überraschenderweise kann das Gebäude der ökonomischen Effizienzanalyse von dieser Neuorientierung weitgehend unberührt bleiben, wenn – und soweit – sich Effizienz und Verteilung nicht nur analytisch, sondern auch praktisch trennen lassen. Eben darauf zielt die bereits erwähnte Forderung, eine gerechte Verteilung über das Steuer- und Sozialrecht anzustreben, alle anderen Rechtsgebiete und staatlichen Maßnahmen aber ausschließlich auf Effizienz auszurichten. Die Begründung dafür erscheint zumindest im Ausgangspunkt weiterhin überzeugend: Zentraler Gegenstand des Steuer- und Gut lesbare Einführung bei Adler, Measuring Social Welfare, 2019, S. 20 ff. Siehe auch Kaplow/Shavell, Fairness versus Welfare, 2002, S. 24 ff., 28 ff.; Kaplow, The Theory of Taxation and Public Economics, 2008, S. 41 ff. 51 Vgl. empirisch nur Kahneman/Deaton, Proc. Nat’l Acad. Sci. 107 (2010), 16489. 50
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Sozialrechts ist die Verteilung von Lasten und Zuwendungen aufgrund von individueller Leistungsfähigkeit und Bedürftigkeit. Kein anderes Rechtsgebiet erfasst Einkommen und Vermögen und damit den individuellen Grenznutzen von Geld tatbestandlich ähnlich umfassend.52 Regelungen außerhalb des Steuer- und Sozialrechts könnten Umverteilungsziele deshalb (weit) weniger zielgenau erreichen. Sie müssten grobe Annahmen treffen, ob zum Beispiel Aktionäre „typischerweise“ wohlhabender sind als Verbraucher (wobei Aktionäre durchweg auch Verbraucher, und Verbraucher nicht selten auch Aktionäre sind). Außerhalb des Steuer- und Sozialrechts kommt es deshalb zu einer doppelten Effizienzeinbuße: Erstens weil – wie festgestellt – ohnehin jede Umverteilung unvermeidbar den gesellschaftlichen Reichtum verringert, zweitens weil nicht Einkommen und Vermögen schlechthin, sondern bestimmte Aktivitäten verteuert oder verbilligt werden und dadurch die Allokation zusätzlich verzerrt wird (z. B. von Aktien in andere Anlageformen).53 Die vielleicht gewichtigste Kritik an dieser Trennungsthese könnte darin liegen, dass Verteilungsgerechtigkeit sich nicht allein an Bedürfnissen und damit dem Grenznutzen von Geld ausrichten sollte.54 So könnte eine gerechte Einkommensverteilung nicht nur auf eine möglichst gleiche Präferenzbefriedigung, sondern daneben auf subjektives Bemühen und in diesem Sinne ethisches „Verdienst“ zielen. In der Konsequenz sollten Transferleistungen auch davon abhängen, ob der Empfänger Anstrengungen erbringt, etwa sich bemüht, durch Arbeit einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl zu leisten. Da zumindest das Steuerrecht bloß subjektives Bemühen nicht berücksichtigt, könnte man entgegen der Trennungsthese etwa auch das Arbeitsrecht für eine gerechte Einkommensverteilung heranziehen. Um den skizzierten Einwand zu beantworten, muss man abschichten: Was in anderen Gerechtigkeitstheorien als „Verdienst“ bezeichnet wird, ist aus ökonomischer Warte zuvörderst eine Effizienzfrage. Bereits die effiziente Allokation verlangt, Anstrengungen durch Anreizsetzung zu „belohnen“, nämlich so, dass sie in effizientem Umfang erbracht werden. Die ökonomische Betrachtung verfällt dabei keinem blinden Glauben an die Effizienz von Marktergebnissen. So ist ungewollte Beschäftigungslosigkeit eindeutig 52 Allenfalls
Teilaspekte des Familien-, Arbeits-, Versicherungs- und Beamtenrechts könnten dem nahekommen. Indes lassen sie sich durchweg mit dem Gedanken wechselseitiger Versicherung und damit effizienter Risikoallokation erklären. 53 Das Argument der „doppelten Verzerrung“ geht zurück auf Kaplow/Shavell, J. Legal Stud. 23 (1994), 667. Zur Kritik bereits oben Fn. 16. 54 Ähnlich am Beispiel der Regulierung bestimmter Gesundheitsrisiken bei unterschiedlicher individueller Anfälligkeit Adler, Measuring Social Welfare, 2019, S. 225 ff.
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ineffizient, sofern nur die brach liegende Arbeitskraft irgendwie wertschöpfend eingesetzt werden könnte. Zur Effizienz gehört dabei auch der Konsumnutzen des Betroffenen aus der sozialen Einbindung in einen Betrieb oder subjektiver Arbeitszufriedenheit; auch solche immateriellen Vorteile fließen in das Effizienzkalkül ein, weil und insoweit Arbeitnehmer dafür zu finanziellen Opfern bereit wären oder nur im Austausch für andere Vorteile darauf verzichten würden.55 Zu berücksichtigen sind ferner Leistungen zum Beispiel für Gemeinschaftsgüter, für die mangels Ausschließungsrechten keine oder nur eine geringe Marktvergütung erzielbar ist. Die tatsächlichen Marktanreize für Arbeitsanstrengung dürften gemessen an der erreichbaren Wertschöpfung aus Effizienzsicht häufig zu gering sein. In der Folge interessiert Ökonomen dann vor allem die Frage, welche „zweitbeste“ Lösung unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Beschränkungen realisierbar und effizient ist. Konkurrierenden Gerechtigkeitsvorstellungen dürfte es nicht grundsätzlich besser ergehen. Auch sie müssen sich mit Zielkonflikten und einer widerspenstigen Wirklichkeit arrangieren, wenn sie individuelles „Verdienst“ belohnen wollen. Nichtsdestoweniger kann man auf der Ebene eines hypothetisch erwünschten Idealzustands fragen, ob eine Berücksichtigung von „Verdienst“ noch über eine effiziente Anreizsetzung hinaus geboten ist. Aus Effizienzsicht ist es nur in recht ausgefallenen Sachverhalten optimal, einer Person überhaupt keine Arbeitsanstrengung abzuverlangen. Denkbar wäre dies zum Beispiel bei Krankheiten oder Behinderungen, wenn die gesellschaftliche Produktivität und eine mögliche Arbeitszufriedenheit – bewertet in Geld – in Summe negativ wären, zum Beispiel weil eine Arbeitsleistung nur mit sehr aufwendigen Hilfestellungen möglich oder für den Betroffenen quälend wäre. Wollte man in einem solchen Fall Arbeitsanstrengung für den Betroffenen lohnend machen, müsste die Vergütung über dem gesamtwirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung liegen. Ein derartiges Arbeitsverhältnis würden beide Parteien sofort und in bestem Einvernehmen aufheben wollen. Es erscheint unvernünftig und geradezu pervers,56 unter solchen Umständen Arbeitsanstrengungen als ethisches „Verdienst“ fördern zu wol Empirischer Hinweis auf die nicht nur finanziellen Folgen von Arbeitsplatzverlusten bei Sullivan/von Wachter, Q. J. Econ. 124 (2009), 1265 (langfristig erhöhte Sterblichkeit unter entlassenen Arbeitnehmern). Bei der Ermittlung der Reservationspreise von Arbeitnehmern müssen idealerweise Informations- und Rationalitätsdefizite korrigierend berücksichtigt werden. 56 So die provokante Formulierung von Kaplow/Shavell, J. Legal Stud. 32 (2003), 331, 335 („pursuit of notions of fairness results in needless and, at root, perverse reduction in individuals’ well-being“). 55
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len. Diese beispielhafte Überlegung spricht dafür, dass bereits die Effizienzanalyse eine an „Verdienst“ orientierte Verteilungsgerechtigkeit weitgehend in sich aufnimmt.
V. Schluss Eingangs wurde der Reduktionismus der ökonomischen Theorie als teils Attraktion, teils aber auch Irritation vorgestellt. Der Rundgang durch verschiedene ökonomische Blickwinkel auf die Gleichheit könnte den Leser noch in einer weiteren Hinsicht unbefriedigt zurücklassen: Juristen und Philosophen erwarten von der normativen Ökonomik häufig eindeutige Werturteile und Schlussfolgerungen. Dies ist insofern unfair, als Rechtswissenschaft und Sozialphilosophie ihrerseits für kaum ein Rechts- und Gerechtigkeitsproblem einhellige Ergebnisse, sondern fast immer nur breit gefächerte und komplexe „Streitstände“ vorzuweisen haben. Hinzu kommt aber vielleicht noch eine disziplinäre Besonderheit: Die normative (Rechts‑) Ökonomik beruht auf den theoretischen Begriffen und Modellen der positivrealwissenschaftlichen Ökonomik und hält sich stets bereit, darauf bezogene empirischen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Die Effizienzanalyse ist so gesehen weniger ein normatives „System“ als ein laufendes Forschungsprogramm. Die Abhängigkeit von Annahmen und kritisierbaren, stets nur vorläufigen empirischen Befunden erlaubt zwar häufig keine gesicherten, endgültigen Schlussfolgerungen. Die dauernde Offenheit für Wirkungszusammenhänge und deren veränderliche Einschätzung muss für eine Gerechtigkeitstheorie und Außenperspektive auf das geltende Recht kein Nachteil sein. Das geltende Recht selbst bedarf hingegen größerer Stabilität und darf sich normativ nicht von ständig wechselnden Erkenntnissen abhängig machen. Dies spricht – wie bei anderen Gerechtigkeitstheorien – gegen eine unmittelbare Übersetzung der Effizienzanalyse in Rechtsdogmatik.
Gleichheitsdimensionen im Privatrecht Übersetzungen zwischen Recht, Gesellschaft und Technik Dan Wielsch I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Gesellschaft und Recht – von Strukturen zu Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Relationale Reformulierung des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Gleiche Responsivität gegenüber sozialer Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2. Verlängerung in die syntaktische Welt: Recht auf Rechtfertigung von digitaler Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Gleichheitsrechte und die Änderung sozialer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Gleichheitssatz als reflexives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Soziale Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Digitale Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Gleichheitsrechte als Partizipationsrechte an digitaler Regulierung . . . . . . 142 a) Rechte auf Rechtfertigung privater Zugangsregulierung von Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Rechte auf Rechtfertigung syntaktischer Normativität . . . . . . . . . . . . . . . 147 V. Die Funktion des Gleichheitsrechts für die Rechtsverfassung von privater Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
I. Einführung Der Gehalt des Gleichheitssatzes unter Privaten muss erst noch befriedigend bestimmt werden. Wie die Idee der Gerechtigkeit selbst ist er aus der Dichotomie von iustitia distributiva und iustitia commutativa zu lösen, in der sich die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft spiegelt. Abgesehen von der Unangemessenheit einer kategorialen Zweiteilung von Gerechtigkeitssphären, die quer zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in multiple Teilsysteme liegt und deswegen an den Problemlagen vorbeigreift, wird das Gleichheitsprinzip in beiden Sphären auf ein Instrument der Zuteilung von Gütern zu Personen reduziert. Sowohl der
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Gedanke einer gleichen Distribution von Rechten (im Verhältnis der Bürger zueinander) wie der Gedanke einer Gleichverteilung der faktischen Voraussetzungen für die Nutzung jener Rechte (als Anspruch der Bürger gegenüber dem Staat) verfehlen den freiheitsverbürgenden Sinn von Rechten und den von Gleichheitsrechten im Besonderen.1 In beiden Fällen liegt ein Rechtsverständnis zugrunde, das Rechte an Güter assimiliert – aus Sicht eines prozeduralistischen Rechtsparadigmas neigt jenes Verständnis dazu, „die rechtliche Konstituierung von Freiheit als ‚Distribution‘ misszuverstehen und an das Modell der Gleichverteilung von erworbenen oder zugeteilten Gütern anzugleichen.“2 Diese Vergegenständlichung impliziert einen Positivismus von Rechten, Rechtssubjekten und Verteilungsregeln, die sämtlich als vorbestehend behandelt werden. Entsprechend dieser Ausrichtung auf einen Bestand des Habens und Könnens („Vermögen“) werden Rechte im Verhältnis zwischen Privaten fast zwangsläufig als Herrschaftsrechte und im Verhältnis zum Staat als Abwehrrechte konzipiert. Wie aber, wenn die Person nicht als präexistent unterstellt werden kann? Wenn Handlungs- und Kommunikationsoptionen nicht bereit liegen, sondern erst erzeugt werden müssen?3 Dann müsste das Recht – auch das Gleichheitsrecht – eingestellt werden auf die Möglichkeit einer gegenseitigen Konstituierung von Rechten, Subjekten und sozialer Praxis. Recht wäre auf das Werden des Positiven auszurichten. Es würde um die Teilhabe an der Erzeugung der Regeln für soziale Institutionen gehen, in denen soziale Personen und kulturelle Werke allererst hergestellt werden. Ihrer Idee nach würden Rechte – wenn sie auf die Gestaltung von sozialen Institutionen bezogen werden und nicht auf die Abgrenzung von räumlich-gegenständlich gedachten Freiheiten – zu Partizipationsrechten.4 Im Folgenden soll das Potential des Gleichheitsrechts für die Verfassung von nicht-staatlicher Regelbildung untersucht werden. Insbesondere die Di1 Regelmäßig wird dabei die Gleichverteilung von Rechten von einem formalen Rechts-
paradigma betont, die Chancengleichheit zur Nutzung von Rechten dagegen von einem materialen Rechtsparadigma. 2 Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 505. 3 Ähnliche Fragen wirft eine Kritik am traditionellen, „personal-possessiven“ Grundrechtsverständnis auf, vgl. I. Augsberg, „Wer glauben will, muss zahlen“? Erwerb und Aufgabe der Kirchenmitgliedschaft im Spannungsfeld von Kirchenrecht und Religionsverfassungsrecht, AöR 138 (2013), 493 (527 f.). 4 Zur Rekonstruktion von privaten Rechten als Teilhaberechte an der Gestaltung sozialer Institutionen vgl. Wielsch, Medienregulierung durch Persönlichkeits- und Datenschutzrechte, JZ 2020, 105 (113 ff.).
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gitalisierung von Kommunikation schafft Bedingungen, in denen der Schutz von (grund-)rechtlich gewährleisteten Freiheiten nicht im Staat aufgeht, sondern dezentral durch eine auf private Rechte gestützte Gestaltung sozialer Institutionen zu bewirken ist. Unter diesen Bedingungen avancieren Gleichheitsrechte zu politischen Partizipationsrechten ersten Ranges.
II. Gesellschaft und Recht – von Strukturen zu Funktionen Die Tradition hat der Gleichheitsfrage seit der Antike ein divisionales Muster gegeben – auch und gerade mit Hilfe des Rechts. Bis in das 19. Jahrhundert wird Gesellschaft als ein Ganzes interpretiert, das aus Teilen besteht. Als Grundbegriff des Gesellschaftlichen dient der Begriff der koinonía (communitas, societas), der die gattungsmäßige Gleichheit der Naturausstattung des Menschen im Unterschied zu Tieren als wesentlich voraussetzt. „Als Gleiche, und auf Grund ihrer Gleichheit, haben die Menschen gemeinsame Angelegenheiten. Gleichheit begründet die Gemeinsamkeit.“5 Dieses Argumentationsmuster auf dem Gebiet sozialer Beziehungen entspricht einem ontologischen Weltbegriff, der die Welt als Ganzheit des Seienden zu begreifen sucht, indem er die Wahrheit des Seins von einer evidenten Ausgangsposition (Elemente, Atome) auf anderes übertragen und es dadurch begründen zu können meint.6 Die in der Wirklichkeit zu beobachtende Ungleichheit dieser Teile wird von philosophischen Gerechtigkeitskonzepten nicht etwa negativ bewertet, sondern dadurch entschärft und geradezu harmonistisch überhöht, dass den Teilen ihr Platz in der Gesamtordnung zugewiesen ist. Die ethische Pflicht zur proportionalen Gleichbehandlung trifft keine Aussage über die Verteilungskriterien.7 Diese standen auch außer Zweifel, weil das divisionale Schema eine von „Natur“ gegebene Ordnung implizit mitdenkt. Die Natur bestimmt danach nicht nur die Teile in Gestalt der individuellen Menschen, sondern auch die weiteren Einteilungen des Ganzen, aus denen sich Aufgaben und Positionen in der Gesellschaft ergeben.8 Gerechtigkeit war daran zu messen, dass sie dies beachte („suum cuique“). Luhmann, Die Weltgesellschaft, ARSP 57 (1971), 1 (2). Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968, 174 und ders., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in Soziologische Aufklärung 1, 1970, 113 (115 mit Fn. 5). 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik V 6 (1131a 28 – 1131b 8), übers. v. O. Gigon, 2. Aufl. 2007. 8 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 914. 5
6 Luhmann,
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Die Unterscheidung eines Ganzen und seiner Teile lenkt den Blick ganz auf die Innenverhältnisse des Ganzen.9 Die Aufmerksamkeit ist auf die interne Ordnung gerichtet, auf die „Struktur“ der Ordnung, deren Rationalität durch Substanzbegriffe verbürgt wird. Die Außenverhältnisse, die „Umwelt“, bleiben bzw. bleibt demgegenüber relativ unartikuliert. Alles wird vom Standort aus, von innen her gesehen und nicht in der Weise eines Beobachters, der jede Grenze als Zwei-Seiten-Form sieht.10 Dadurch fehlt jede Möglichkeit, bestimmte Unterscheidungen zu problematisieren und nach dem Sinn der auf ihrer Grundlage gebildeten Strukturen zu fragen. Dass sich das divisionale Schema dabei als äußerst langlebig erweist und die Vorstellung eines einheitlichen Weltganzen erst im 20. Jahrhundert aufgegeben wird, liegt an seiner hohen Elastizität. Unter wechselnden historischen Bedingungen kann der Fixpunkt der Argumentation (das „Wesen“) entweder im Ganzen (Pantheismus) oder im Teil (Atomistik), im Zweck (und seiner Kontrolle in der antiken Ethik) oder in den Mitteln (und ihrer Kontrolle in der modernen Ethik), oben (Ständegesellschaft) oder unten (bürgerliche und sozialistische Revolutionen) ansetzen und die je andere Seite als abhängig variieren.11 In sozialtheoretischer Sicht eröffnen sich erst dann grundlegend neue Perspektiven, wenn die Gesellschaftsanalyse vom Schema Ganzes/Teil auf das Schema System/Umwelt umgestellt wird. An die Stelle der Fixierung auf Strukturen tritt der Gedanke, dass Systeme nicht einfach in sich differenzierte Ganzheiten aus gegebenen Teilen sind, sondern Systeme in einer Umwelt, in der sie sich durch die Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz erhalten, ihre Strukturen und Identitäten also nur durch Konstituierung einer Differenz von Innen und Außen gewinnen.12 Das Innen kann nur dann erklärt werden, wenn sich das Außen mitthematisieren lässt. Setzt man sinntheoretisch an und begreift mit Luhmann die Komplexität von „Welt“ als Bezugsproblem und entsprechend Komplexitätsreduktion als die allgemeinste Funktion, die durch die Bildung systemischer (Erwartungs-) 9 Luhmann
(Fn. 8), 913. Luhmann (Fn. 8), 914. 11 Luhmann, Gesellschaft, in Soziologische Aufklärung 1, 1970, 137 (139). 12 Luhmann (Fn. 6), 175. Systemdifferenzierung heißt also gerade nicht, dass das Ganze in Teile zerlegt wird, sondern ist nichts anderes als rekursive Systembildung, bei der sich Systembildung im System selbst wiederholt durch immer neue Unterscheidungen von Systemen und Umwelten im System. Jedes Teilsystem rekonstruiert das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt. – Die Vorteile, die sich aus dieser Umstellung auf das Schema System/Umwelt für den Strukturreichtum von Gesellschaftstheorie ergeben, sind erheblich. Vgl. Luhmann (Fn. 8), 598, 600, 812. 10
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Strukturen erfüllt wird, ist eine funktionale Betrachtungsweise von Systemstrukturen möglich, ohne dabei deren Erhaltung als Bezugspunkt voraussetzen zu müssen.13 Vielmehr wird die mit dem divisionalen Schema verbundene Orientierung an Strukturen umgekehrt und der Funktionsbegriff dem Strukturbegriff vorgeordnet. Denn insofern unterschiedliche Strukturen bei der Reduktion von Komplexität funktional äquivalent sind, kann ein System sich ebenso gut durch die Erhaltung wie auch durch die Änderung seiner Strukturen reproduzieren.14 Jetzt können bestimmte Strukturen der Weltauslegung – etwa die seit Aristoteles etablierte Interpretation des Verhältnisses der Teile zum Ganzen durch hierarchische Repräsentation – als Problem behandelt werden. Auch liegt es näher, die innere Spaltung der Gesellschaft, die Ungleichheit unter den Individuen, als ein sekundäres Phänomen zu begreifen, das von der primären Differenzierung der Auseinandersetzung von emergenten Sozialsystemen mit ihren Umwelten produziert wird.15 Anders als in der auf den Beobachtungsmodus beschränkten Sozialtheorie gewinnt freilich die Ausrichtung der Gesellschaftsanalyse auf System/Umwelt-Relationen für das Recht eine normative Bedeutung. Denn hier macht sie die Voraussetzungen sichtbar, unter denen die Freiheiten des Einzelnen als Rechte gedacht werden können. Die Wahrnehmung subjektiver Rechte darf die Integrität jener Institutionen und sozialen Systeme nicht beeinträchtigen, in denen die Bedingungen für autonomes Handeln gebildet werden. So ist im Vertragsrecht nicht nur der „Wille“ der Parteien zu ermitteln. Vielmehr hat sich ein Vertragsprogramm auch als Steuerung der Interaktion zwischen den Parteien zu bewähren und muss kompatibel sein mit den Umweltanforderungen aus anderen Dimensionen der sozialen Sinnbildung. Die soziologische Jurisprudenz unterscheidet als soziale Referenzen insoweit zwischen Interaktionssystemen, Organisationssystemen und Gesellschaftssystemen.16 Das von den Parteien vereinbarte Programm kann in Widerspruch stehen zur Interaktionsmoral als der Verrechtlichung von informellen Erwartungen aufgrund des konkreten Verhaltens der Parteien, aber auch zu den institutionellen Anforderungen von Marktverkehr und Organisationsverfassung, schließlich auch zu den Eigennormativitäten von gesellschaftlichen Funktionssystemen wie „persönliche Gewissensanforderungen, strik Luhmann (Fn. 6), 114. Grundlagen der soziologischen Theorie, Band 2, 3. Aufl. 2009, 272. 15 Teubner, Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 45 (2006), 161 (168). 16 Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 143, im Anschluss an die Differenzierung bei Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in Soziologische Aufklärung 1, 1975, 9 (10). 13
14 Schneider,
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te religiöse Gebote, politische Steuerungsvorgaben oder wirtschaftslenkende Maßnahmen“. Die nicht-konsensuellen Elemente des § 242 BGB sind danach nichts anderes als die innervertragliche Umsetzung solcher Umweltanforderungen.17 Diese Erweiterung des Blickfeldes um die sozialen Dimensionen von subjektiven Rechten ist kein Selbstzweck. Aus freiheitlichem Handeln der Einzelnen entstehen soziale Institutionen. Weil diese ihrerseits über die tatsächlichen Bedingungen für autonomes Handeln entscheiden, ist die Wirkung der Ausübung von Rechten auf jene Ordnungen ein normatives, das Recht beschäftigendes Problem. Darin liegt zugleich die politische Dimension von privaten Rechten: sie ermöglichen das Operieren sozialer Institutionen, deren Wirkungen eine Vielzahl von (unbeteiligten) Personen treffen.18 Der Gehalt von Rechten lässt sich daher nur in Verbindung mit ihrer Funktion für soziale Institutionen bestimmen. Diese Zusammenhänge werden jedoch ignoriert, wenn erklärt wird, „dass die individuelle Willkür die zentrale Determinante des Privatrechts ist“.19 Die sich hierin spiegelnde Abstinenz des Rechts gegenüber sozialen Institutionen reicht bis in das Verfassungsrecht, das der liberale Konstitutionalismus bewusst nicht auf gesellschaftliche Teilordnungen erstrecken wollte („Verfassung der Zivilgesellschaft durch ihre staatliche Nicht-Verfassung“).20 Rechtlich geschützt sind danach nur Individuen und ihre Güter. Nach diesem Modell werden die Voraussetzungen für die Wahrnehmung subjektiver Rechte schlicht unterstellt. Gesellschaftliche Ordnung soll sich von selbst einstellen als Folge von bürgerlichen Freiheiten. Für die liberale bürgerliche Rechtswelt ist Ordnung nicht Voraussetzung von gleichen Freiheiten, sondern ihre Folge.21 Die Sozialeffekte der Rechte werden im Recht nicht thematisiert. 17 Wielsch, Iustitia mediatrix: Zur Methode einer soziologischen Jurisprudenz, in Festschrift für Teubner, 2009, 395 (401). 18 Zur genaueren Entwickelung dieses Gedankens vgl. Wielsch, in Fischer-Lescano/ Franzki/Horst (Hrsg.), Gegenrechte – Recht jenseits des Subjekts, 2018, 141 (154 ff.). 19 Für eine verbreitete Meinung stellvertretend Grigoleit, Anforderungen des Privatrechts an die Rechtstheorie, in Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 52 (77). 20 Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, 33. 21 Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, 165, illustriert an Goethe, Egmont, Erster Aufzug, in dem auf die „bürgerliche Gesundheit“ angestoßen wird in der Reihenfolge „Sicherheit und Ruhe!“ und „Ordnung und Freiheit!“. Dort auch der Gegenentwurf: „Heute empfinden wir Bürgerliches Recht umgekehrt: ‚Ordnung‘ ist nicht Folge von bürgerlichen Freiheiten, sondern ihre Voraussetzung. So denkt die politische bürgerliche Rechtswelt.“ (Hervorh. i. Orig.) Zu Wiethölters Programm, die Voraussetzungen von Freiheit durch
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III. Relationale Reformulierung des Gleichheitssatzes Das hat auch Folgen für das Verständnis des Gleichheitssatzes. Er scheint danach prinzipiell keine Anwendung auf das Operieren von sozialen Institutionen finden zu können. Eine auf das Individuum fokussierte Rechtslehre reduziert das in den bürgerlichen Revolutionen erkämpfte allgemeine Gleichheitsrecht auf ein an den Staat gerichtetes Verbot, Personen in vergleichbaren Situationen ohne sachlichen Grund rechtlich unterschiedlich zu behandeln. Nicht gefragt wird hingegen danach, inwieweit das Recht soziale Rationalitäten unterschiedlich behandelt und damit eine Unterschiedlichkeit jener Situationen herbeiführt, in denen sich die Personen später wiederfinden, ohne dass sie dagegen vor einem Gericht Klage erheben könnten – jedenfalls soweit dieses einem formalen Rechtsverständnis folgt. Ausgeblendet bleiben die gesellschaftlichen Funktionen von Rechtsformen. Wenn sich diese Funktionen durchsetzen, fließen sie als partikulare Inhalte in die Form ein. Dann aber führt die Berufung auf die gleichbleibend-zeitlose Funktion der Rechtsformen für die Verbürgung von Freiheit und Gleichheit in Wahrheit zur Privilegierung jener besonderen Rechtsinhalte zu Lasten anderer, neuer gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten.22 Kritisches Rechtsdenken muss diese Parteilichkeit von konkreten Rechtsformen, ihre fehlende „allseitige“ Ausbaubarkeit sichtbar machen: inwiefern Struktur strukturell ausschließt, inwiefern Rechtsformen soziale Aktivitäten diskriminieren (vgl. infra 1.). Durch den sozialen Reduktionismus seiner Methode entgeht dem Recht aber auch die Wirkung, die technologische, nicht im Medium Sinn operierende Systeme auf Kommunikation und gesellschaftliche Strukturbildung haben. Das Problem liegt hier nicht in der ungleichen Erfassung von sozialer Normativität durch die Rechtsform, sondern ist eine Stufe vorgelagert, weil zunächst technologische Funktionalität in soziale Normativität übersetzt werden muss. Und zwar mit Hilfe der Rechtsform. Also nicht soziale Kritik der Rechtsform, sondern Rechtsform als Voraussetzung für Kritik technologisch regulierter Sozialität. Damit die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung beurteilt werden kann, muss eine normativ relevante Behandlung durch technologische Prozesse überhaupt sichtbar gemacht werden. Gleichheitsrechte müssen ihre eigene Anwendung gewährleisten können (vgl. infra 2.). Recht einholbar zu machen, vgl. Sheplyakova, Recht Schrägstrich Freiheit und umgekehrt, KJ 2019, 558 (566). 22 Vgl. Wiethölter, Zur politischen Funktion des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, KJ 1970, 121 (139).
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1. Gleiche Responsivität gegenüber sozialer Normativität Die Verantwortung, bei der Auslegung und Gestaltung der eigenen Rechtsfiguren die Interdependenzverhältnisse zwischen Autonomien in einer funktional differenzierten sozialen Welt zu beachten, empfängt das Recht aus dem Gerechtigkeitsgebot der Unparteilichkeit praktischer Urteile, das freilich von der üblichen Fixierung auf Interaktionen zwischen Personen zu befreien ist. Nach der herkömmlichen, auf der Basis der Subjektphilosophie vorgenommenen Deutung des ius suum cuique verdient eine Handlung nur dann das Prädikat gerecht, wenn sie die Rechte aller Personen berücksichtigt, die von ihr betroffen sind.23 Angesichts der konstitutiven Bedeutung von sozialen Systemen als Bedingungen für ein autonomes Handeln von Individuen ist dieser Gerechtigkeitsbegriff zu öffnen und um die Perspektive sozialer Normativitäten zu ergänzen.24 Gerade auch vom Privatrecht wird methodisch also eine Anreicherung der Perspektive verlangt, wonach es die von den beteiligten Freiheitsrechten abgestützten sozialen Autonomien umfassend zu rekonstruieren hat, und zwar unter Einbeziehung sämtlicher Handlungsrationalitäten, die im Rahmen des sozialen Konflikts aufeinandertreffen. Es hat den Konflikt mit Rücksicht gleichermaßen auf alle Quellen normativer Bedeutung zu entscheiden. Anders als der Normativität einer sozialen Praxis ist dem Recht eine Reflexivität seiner Formen abverlangt, mit denen es eben jene soziale Normativität im Recht zur Darstellung bringt. Diese Reflexivität der eigenen Darstellungsformen unterscheidet das Recht von anderen sozialen Systemen. Das Recht kann diese ihrerseits normative Forderung an seine eigene Normativität auch nicht externalisieren.25 Es wird getrieben von der Gerechtigkeit. Eine nach dieser Methode verfahrende Rechtswissenschaft kann als „relational“ bezeichnet werden, weil sie den Zusammenhang der konkret in Anspruch genommenen subjektiven Rechte mit den betroffenen sozialen Autonomien klären und in einem zweiten Schritt deren wechselseitige Kon23 Vlastos, Justice and Equality, in Theories of Rights, hg. von J. Waldron, 1984, 60: „[A]n
action is just if, and only if, it is prescribed exclusively by regard for the rights of all whom it affects substantially.“ 24 Wielsch, Grundrechte als Rechtfertigungsgebote, AcP 213 (2013), 718 (750); ders., Relationales Urheberrecht, ZGE 2013, 274 (298). 25 Das Recht befindet sich in einer Sonderrolle, weil es nicht wie andere Systeme mit Hilfe des Rechts den Schritt von der bloßen Konstituierung seiner medialen Autonomie zu deren Konstitutionalisierung gehen kann. Wenn mit Teubner (Fn. 20), 161, von „gesellschaftlichen Verfassungen“ erst dann gesprochen werden kann, wenn die teilsystemische Reflexivität eines Sozialsystems vom Recht (genauer: von der Reflexivität des Rechts) abgestützt wird, dann fehlt dem Recht selbst offensichtlich diese Möglichkeit.
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stituierung von Umweltbedingungen in Rechnung stellen muss. Eine erste relationale Reformulierung des Gerechtigkeitsgrundsatzes der Gleichbehandlung (R1) ergibt folglich: Im Ausgangspunkt hat das Recht alle von einer Rechtsausübung betroffenen sozialen Institutionen und Systeme intern darzustellen und sich ihnen gegenüber gleich responsiv zu zeigen. Werden parteiliche Strukturen erkannt, sind die Rechtsformen so umzubauen, dass sie betroffene soziale Normativitäten angemessen zur Darstellung bringen. Diese multilaterale Rekonstruktion des einfachen Rechts wird von den Grundrechten de lege lata verbindlich gemacht.26 Denn allen Grundrechten kommt grundsätzlich der gleiche Rang zu,27 so dass die Gewährleistungsbedingungen konkurrierender Freiheiten ebenfalls in den Blick genommen werden müssen. Anders als bei der Rechtsanwendung einfachen Rechts kann das Rechtssystem der sozialen Multilateralität von Rechten infolge ihrer Einbindung in einen Grundrechtskatalog nicht ausweichen. Ein Grundrecht steht nie allein.28 Private Rechtspositionen und deren einfachrechtliche Dogmatik, in denen sich die Eigennormativitäten funktional spezifizierter Sozialbereiche ausdrücken, werden so in den gesamtgesellschaftlichen Kontext zurückgebunden. Die Grundrechte können selbst einer relationalen Lesart unterworfen werden. Luhmann hat die Beschränkung der Grundrechte auf den Schutz der Person konsequent umgedreht, indem er sie als gesellschaftliche Institution betrachtet. Danach schützen Grundrechte primär die Differenzierung der Gesellschaft (in unterschiedliche soziale Systeme mit entsprechend unterschiedlichen Rationalitätsanforderungen) und zwar vor deren Entdifferenzierung durch exzessive politische Steuerung.29 Demgegenüber erfolgt in der traditionellen Lesart der Schutz von Gesellschaft über die Gesetzesvorbehalte.30 Die institutionalistische Lesart stellt das traditionelle Grundrechtskonzept daher gleichsam vom Kopf auf die Füße: die Schutzbereiche der Grundrechte werden nicht mehr als vorgegebene Sphären individueller Freiheit begriffen, sondern als fragile Voraussetzungen für individuelle Frei-
Wielsch (Fn. 24), 718 (751/753). jüngst die ausdrücklichen Feststellungen des BVerfG, Beschl. v. 6. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, NJW 2020, 314, Rn. 141 zur Übereinstimmung in diesem Grundsatz mit der Rechtsprechung von EuGH und EGMR. 28 Wielsch (Fn. 18), 157. 29 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, 23, 71 f., 96. 30 Die Gesetzesvorbehalte haben nach dieser alternativen Lesart etwa die Funktion, Selbstblockaden der geschützten Systeme zu verhindern (vgl. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, 60). 26
27 Dazu
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heit – die damit automatisch ihren Status als Vorausgesetztes verliert und als zu Erzeugendes erscheint. Erst mit Hilfe dieses Perspektivwechsels lässt sich überhaupt die konkrete Gestalt der Einzelgrundrechte plausibel machen. Denn in ihnen spiegeln sich die unterschiedlichen Anforderungen an die Generalisierung von Kommunikation in den verschiedenen sozialen Sinnsphären. Es wäre verfehlt, sie als Ausfluss der Menschenwürde in Art. 1 GG zu sehen und allesamt lediglich von den Interessen der individuellen Persönlichkeit her zu interpretieren. „Eine unbefangene Analyse der menschlichen Persönlichkeit, ihrer Struktur, ihrer Probleme und Bedürfnisse, ihres Erlebnis- und Erlebensverarbeitungspotentials würde niemals zu dem Grundrechtskatalog mit seinen Aufteilungen und Akzentsetzungen führen.“31 Die Grundrechtsordnung „hört nicht auf die natura humana, sondern entspricht der Problemkonstellation, die sich aus der sozialen Differenzierung ergibt.“32 Das bedeutet nicht, eine individualistische Lesart der Grundrechte aufzugeben. Es heißt lediglich, dass die Grundrechte nicht allein Ausformungen des Selbstdarstellungsschutzes, sondern gleichrangig Schutzeinrichtungen der politisch unabhängigen Erwartungsbildung sind.33 Abstrahiert man von der Referenz auf das politische System und misst den Grundrechten auch eine horizontale Wirkung zwischen privaten Akteuren zu, so könnte man die Schutzrichtung allseitig ausbauen und ergänzend formulieren: Grundrechte schützen Differenzierungsprozesse in sozialen Systemen vor einer „unverhältnismäßigen“ Expansion der Motivationskraft anderer Teilrationalitäten für das Handeln.34 2. Verlängerung in die syntaktische Welt: Recht auf Rechtfertigung von digitaler Regulierung Besondere Bedeutung für soziale Differenzierung kommt dem Grundrecht aus Art. 5 GG zu, da durch Kommunikationsfreiheiten grundlegend über die Möglichkeiten der strukturellen Kopplung zwischen Einzelbewusstsein und Kommunikation entschieden wird – und damit über Irritierbarkeit Luhmann (Fn. 29), 80. (Fn. 29), 97. „Die Grundrechtsformulierungen heften sich an bestimmte Gefahrpunkte, in denen das politische System dazu tendiert, über seine spezifische Funktion der Herstellung verbindlicher Entscheidungen hinauszugreifen, soziale Prozesse in sich hineinzuziehen und sie unter politischen Gesichtspunkten (also: Untersystemgesichtspunkten) zu integrieren.“ 33 Luhmann (Fn. 29), 98. 34 Zur Horizontalwirkung speziell von Art. 3 I GG näher unter IV.2.a. 31
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und Variationsfähigkeit von sozialen Systemen. Kommunikationsfreiheit, so kann mit der bekannten Formulierung aus dem Lüth-Urteil gesagt werden, ist als „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom (Cardozo)“ anzusehen, und zwar über den dort betonten funktionalen Zusammenhang mit dem demokratischen Staat hinaus.35 Art. 5 GG sichert die Freiheit der Wahl von Themen, Partnern und Medien von Kommunikation – sei es entlang von bereits spezifizierten Rationalitäten in Funktionssystemen, sei es jenseits dessen bei der „freien“ Bildung sozialer Systeme in Interaktionen unter Anwesenden oder in Organisationen. Kommunikationsfreiheiten gewährleisten, dass die Bildung komplementärer Verhaltenserwartungen in weitem Umfang gesellschaftlichen Prozessen überlassen ist, ohne politisch behindert oder gelenkt zu werden. So können „zwanglos und in bunter, widerspruchsreicher Fülle Normen, Rollen und Institutionen gebildet und ausprobiert werden“.36 Funktional-spezifische Differenzierung ist nur möglich, wenn eine gewisse „Freizügigkeit“ der Erwartungsbildung und Kommunikation institutionalisiert ist, wenn der Einzelne über seine Selbstdarstellung und über Erwartungen verfügen kann. Differenzierung benötigt eine erhöhte Disponibilität der Kommunikation, eine Entbindung aus allzu engen Ausdrucksbahnen.37 Genau das wird durch die Digitalisierung von Kommunikation wieder problematisch. Waren Äußerungsformen, Teilnehmer und Themen früher durch die Einbindung in Nähe-/Abhängigkeitsverhältnisse und soziale Gruppen eng geführt, so ist es nunmehr der Code digitaler Intermediäre, der das Kommunikationswesen kanalisiert. Gefahren für die Offenheit von Kommunikation für Differenzierung drohen genau von der Seite, die sie technologisch revolutioniert hat. Intermediäre diskriminieren den Zugang zu Öffentlichkeit nach eigenen Regeln, die einer Kombination aus technologischer und wirtschaftlicher Rationalität folgen und die sie infolge ihrer Kontrolle über die logische Architektur von medialen Funktionen auch selbständig durchsetzen können. Die Normativität der digitalen Welt ist gegenüber den im und für das Analoge geltenden Regeln verselbständigt. Damit ist der Einfluss digitaler Medien auf Kommunikation jedoch noch nicht in seiner ganzen Radikalität erfasst. Denn die von digitalen Intermediären vorgegebenen Daten- und Kommunikationsregeln scheinen zunächst nur die einzelnen Äußerungen an bestimmte Formen zu binden und so die strukturelle Kopplung von sozialer Kommunikation an Einzelbewusstsein BVerfGE 7, 198 (208). (Fn. 29), 102. 37 Luhmann (Fn. 29), 21–23. 35
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steuern zu können. Kommunikation ist durch die Digitalisierung indessen noch grundlegender betroffen. Durch Daten und ihre Übermittlung in digitalen Netzwerken entsteht eine neuartige strukturelle Kopplung von sozialer Kommunikation mit autonomen Digitalsystemen. Damit ist erstmals eine Evolution des Gesellschaftssystems denkbar, die sich von menschlichem Bewusstsein in Teilen ablöst. In einem geschichtlichen Moment, in dem die Steigerung von Komplexität in der Gesellschaft durch die Kopplung an menschliches Bewusstsein sich zu erschöpfen scheint, weil die Funktionssysteme globalisiert sind und sich eine Weltgesellschaft herausgebildet hat, deren Entwicklung sich aus der Maximierung von Inklusion in die sozialen Systeme speist, schafft sich Gesellschaft eine neue Umwelt, um die weitere Entwicklung zu stimulieren.38 Jetzt übernehmen Algorithmen die Komplexitätssteigerung und heben sie in eine neue Dimension. Gesellschaft ist infolgedessen nunmehr nach zwei Seiten orthogonal gekoppelt, gleichzeitig an Bewusstsein und an Digitalsysteme, und damit gleichsam „bipolar verschleift“.39 Die datengetriebene Kommunikation installiert eine eigene Selektivität, die auf einer von Sinnbildung unabhängigen Syntax datenverarbeitender Prozesse beruht.40 Diese operative Unabhängigkeit bedeutet nun aber gerade nicht, dass das nicht-symbolische, nicht-sinnverarbeitende Prozessieren von Daten keine Wirkung auf Gesellschaft hätte. Im Gegenteil haben datengetriebene Anwendungen einen sozialgenerativen Effekt, insbesondere weil sie die Personenkonstrukte der Sozialsysteme beeinflussen. In einer funktional differenzierten Gesellschaft wird das Individuum typisiert. Es zerlegt sich in mehrere Selbste, um der Mehrheit sozialer Umwelten und der Unterschiedlichkeit der Anforderungen gerecht werden zu können.41 In den verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft differenzieren sich unterschiedliche Rollen oder Personenbegriffe heraus. Es handelt sich um standardisierte Erwartungscollagen, die je nach sozialem Kontext ein unterschiedliches Verhalten als passend und angemessen vorgeben. Homo 38 Für Luhmann (Fn. 8), 305 hängt das mit der Markierung von Formen zusammen, die ein reicheres Unterscheiden und Bezeichnen ermöglichen und nicht an die Codes der Funktionssysteme gebunden sind. 39 Amstutz, Dateneigentum. Funktion und Form, AcP 218 (2018), 439 (514). 40 Amstutz (Fn. 39), 451, 486 betont zu Recht eine „Doppelcodierung von Daten“, die zwei Syntaktiken involviert: die digitale Syntax, die Daten als Medium befähigen, die Funktionen der Verarbeitung, Speicherung und Übermittlung zu erfüllen, und die Semiotik, in welcher die Information, die in den Daten enthalten ist, codiert ist. 41 Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, 1993, 149 (223).
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oeconomicus, homo politicus, homo scientificus treten auseinander und vor allem nebeneinander. „Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert.“42 Durch Digitalisierung werden diese sozialen Personenkonstrukte jedoch ent-semantisiert. Digitalsysteme operieren im Unterschied zu Bewusstseinsund Kommunikationssystemen nicht im Medium Sinn. Auf der Basis von massenweise gesammelten (verhaltensbezogenen) Daten ermittelten Algorithmen Korrelationen zwischen Personen und Ereignissen, die der Anfertigung von Prognosen über ein zukünftiges Verhalten von Personen dienen. Dabei kommt es freilich weniger auf die Richtigkeit der Voraussagen an als auf die Vorwegnahme von Handlungsmöglichkeiten, an denen sich das weitere Operieren von sozialen Systemen orientieren kann. Autonome digitale Systeme unterlaufen die Verstehensfunktion.43 Weil die präformierten Handlungsmöglichkeiten technisch durchgesetzt werden, validiert sich die algorithmisch konstruierte digitale Welt selbst. Auf diese Weise fangen die Personenbilder der sozialen Systeme an, sich auf der Grundlage von algorithmischer Rationalität zu bilden. „Who we are […] is also a declaration by our data as interpreted by algorithms. We are ourselves, plus layers upon layers of […] algorithmic identities“.44 Damit ist der Weg frei für eine „algorithmische Gouvernmentalität“, in der die Steuerung von Verhalten nicht nach sozialen Normen erfolgt, die ein bestimmtes Erwarten zum Ausdruck bringen und bestenfalls zuvor in deliberativen Prozessen gebildet worden wären, sondern durch technologische Architekturen, die alle Handlungsmöglichkeiten vorwegnehmen und aus induktiven Rechenprozessen gewonnen sind.45 Dieses Kontrolldispositiv liegt in den Händen von privaten Betreibern algorithmischer Systeme, sofern die Kontrolle nicht schon an die Dynamik eines selbstlernenden Algorithmus abgegeben ist, und gerade nicht in denen des Luhmann (Fn. 41), ebd. (Fn. 39), 515. Eine Zurechnung von Handlungen auf einzelne Personen ist für den Fortgang von Kommunikation nicht mehr möglich (Verhaltensdaten werden zu Clustern aggregiert) und auch nicht mehr nötig (da es nicht mehr um ein Interpretieren und Verstehen von Handlungen geht, sondern um die Vorwegnahme von Handlungsmöglichkeiten und ihrer technischen Durchsetzung). 44 Cheney-Lippold, We Are Data, 2017, 5. 45 Rouvroy, Governing Without Norms: Algorithmic Governmentality, in Psychoanalytical Notebooks 32 (2018), 99 beschreibt die Eigenart dieser Steuerungsform folgendermaßen: „the ‚profiles/scores/matches‘ through which individuals are classed, assessed, recomposed or sanctioned, and through which the merits, needs, opportunities or dangers contained in life forms are assessed, are based on the numerical signals arising from trajectories, relations and interactions of individuals rather than on norms resulting from prior deliberative processes.“ 42
43 Amstutz
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Staates. Das neue Kontrolldispositiv hat einen primär zivilgesellschaftlichen Charakter.46 Als zweite relationale Reformulierung des Gleichheitssatzes (R2) ergibt sich folglich: Der Gleichheitssatz ist von der analogen (semantischen) Welt in die digitale (syntaktische) Welt zu verlängern, da letztere das Strukturbildungspotential der Gesellschaft beeinflusst und damit wiederum die Voraussetzungen individueller Freiheit. Dazu hat das Recht zunächst (R2a) die eigene Normativität digitaler Selektionen darzustellen und so das Strukturbildungspotential von autonomen Digitalsystemen zu ermitteln. Damit der Gleichheitssatz im Kontext digitaler Regulierung wirksam werden kann, muss zum einen die maschinelle Normativität – das digitale Regelungsschema – positiviert werden, da nur so mögliche Ungleichbehandlungen sichtbar werden. In einem nachfolgenden Schritt (R2b) muss das Recht die maschinelle Normativität veränderbar stellen. Normativität muss de-code-iert werden, die Ebene der Rechtsetzung gleichsam hinzugefügt werden. Beides ist wiederum nur möglich, wenn der Gleichheitssatz auch private Akteure bindet. Die zweite relationale Reformulierung zielt also auf die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Gleichheitssatzes. Sie sind für die digitale Umwelt der Gesellschaft erst zu erzeugen.
IV. Gleichheitsrechte und die Änderung sozialer Praxis 1. Gleichheitssatz als reflexives Recht a) Soziale Normativität „Sei empfindlich für Änderungen sozialer Praxis!“ – das wäre nach der ersten relationalen Reformulierung des Gerechtigkeitsgebots der Gleichbehandlung die Aufforderung an das Recht, mit der die übliche Fixierung auf die Autonomie von Personen gelöst und um die Perspektive sozialer Normativitäten ergänzt wird. Genauer sollte Recht erstens über Formen und Methoden verfügen, die sich für die Initiierung einer solchen Änderung eignen, und zweitens über Formen und Methoden, die eine bereits eingetretene Änderung rezipieren können. Unter den Bedingungen positiven Rechts lässt sich das Gebot von (R1) durch die Grundrechte operationalisieren, die als Verfahrensauflagen für die – staatliche wie private – Rechtserzeugung fungieren.47 Über die Gel46 Amstutz
(Fn. 39), 517. Wielsch (Fn. 24), 753.
47
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tung des Rechts entscheidet nicht ein an irgendwelchen Werten orientierter Inhalt, sondern der Modus seiner Erzeugung, die Berücksichtigung bestimmter normativer Perspektiven. Diese werden zunächst in den Freiheitsrechten formuliert, deren jeweilige Schutzbereiche, wie oben gezeigt, auch impersonal gelesen werden können und dann für die normative Integrität einzelner gesellschaftlicher Funktionsbereiche stehen, die in wechselnden Kontexten stets neu zur Geltung zu bringen ist. Vor allem aber zwingt der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) das Recht kontinuierlich zu einer Auseinandersetzung mit geänderten Bedingungen für die Wahrnehmung von Rechten. Mit unbeugsamer Konsequenz fordert er die Überprüfung von Rechtsregeln angesichts sich verändernder Umwelten. Der Gleichheitssatz lässt das Recht sich also selbst fragen, ob eine neue Sozialpraxis (das ist der entscheidende Schritt: die Person/ihre Handlung wird als Ausdruck einer Sozialpraxis gelesen!) wirklich rechtlich einer alten gleich zu behandeln ist; und – falls nicht – fordert er weiter die Aufstellung einer neuen Regel, die der neuen gesellschaftlichen Praxis angemessen ist. Der Gleichheitssatz ist der Stachel im Fleisch des positiven Rechts: bereits er allein macht eine reine Selbstbeobachtung des Rechts rechtlich unzulässig. Er ist insofern eine einzigartige Rechtsinnovationsmaschine. Diese Innovationsmaschine muss freilich in Gang gesetzt werden können. Ein besonders wirksames Mittel hierzu ist das „Prinzip personaler Gleichheit“, nach dem im Ausgangspunkt auch im Verhältnis unter Privaten jede Ungleichbehandlung rechtfertigungsbedürftig sein soll.48 Es lässt sich den gemeinsamen Strukturprinzipien von Gleichbehandlungspflichten entnehmen, die sich im geltenden Privatrecht finden lassen.49 Indem auch der Privatrechtsverkehr unter eine Präsumtion der Gleichbehandlung gesetzt wird, ergibt sich ein hochempfindliches Instrument im Recht zur Registrierung von Ungleichbehandlungen in seiner Umwelt, die in einem zweiten Schritt auf ihre Rechtfertigungsmöglichkeit hin untersucht werden müssen. Dadurch wird eine Argumentationslastregel bei Ungleichbehandlungen aufgestellt, deren Funktion es ist, „die Kontexte des konkreten gesellschaftlichen Konflikts so zu strukturieren, dass die jeweiligen Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Gleichbehandlungs- und Freiheitsinteressen des ungleich Behandelten sichtbar werden und dadurch von ihm thematisiert werden können.“50 48 Grünberger, Grundstrukturen (allgemeine Strukturmerkmale) von Gleichheitssätzen,
in Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, 5 (7). 49 Eingehende Analyse bei Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, 315 ff. 50 Grünberger (Fn. 49), 1049.
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Gleichbehandlungsgebote können folglich als politische Thematisierungsrechte gelesen werden. Durch ihre Formulierung als Prinzip personaler Gleichheit werden sie über das Gebiet staatlicher Entscheidungen hinausgetragen. Denn mit ihrer Hilfe kann der Einzelne im Recht auch danach fragen, warum er auf unterschiedliche Weise von sozialen Institutionen betroffen wird. Sie erscheinen daher insbesondere dort als notwendige Ergänzung von Freiheitsrechten, wo sich die Regulierung jener sozialen Institutionen dem Staat entzieht oder gezielt von seinem Zugriff freigehalten wird wie auf dem Gebiet der Medienverfassung. b) Digitale Normativität Die Anbieter von digitalen Diensten können vertragliche Ansprüche oder sonstige Bedingungen der Nutzung ihrer Dienste durch Technik unmittelbar durchsetzen. Im Unterschied zum Regelfall in der analogen Welt ist für die Durchsetzung von (behaupteten) Rechten nicht Voraussetzung, dass eine vorherige rechtliche Bewertung durch Gerichte stattfände. Bei Smart Contracts, bei Uploadfiltern, bei vielen smart devices, insbesondere aber auch auf sozialen Plattformen kommt es zu einer Begrenzung des „Verhaltenkönnens“.51 Jede Form von Alternativverhalten – rechtswidriges, aber auch rechtmäßiges – wird unmöglich gemacht. Setzung, Anwendung und Vollstreckung von Normen werden fusioniert. Auf diese Weise kann sich die dominierende Rationalität des Dienstes – im Falle von sozialen Netzwerken die Rekonstruktion sozialer Interaktion zum Zwecke ihrer ökonomischen Verwertung – gleichsam ungebremst entfalten. Es kommt zu einem Ausfall von im gesamtgesellschaftlichen Interesse bestehenden Korrekturmöglichkeiten, die sich in der analogen Welt spätestens auf der Stufe der Durchsetzung von Rechtsakten ergeben und eine fehlende Berücksichtigung anderer Perspektiven ausgleichen können.
Sofern es um den Inhalt von Nutzungsbedingungen oder von code-regulierter Datenverarbeitung geht, ist durch gerichtliche Kontrollen eine zusätzliche Reflexionsstufe in die gesellschaftlichen Regelbildungsprozesse der Peripherie des Rechtssystems eingebaut, vorausgesetzt es gelingt im Wege einer Inhalts- und Lauterkeitskontrolle die spezifischen Gefahren zu erfassen, die von autonomen digitalen Kommunikationsstrukturen ausgehen. Der Sache nach handelt es sich dann um verfassungsrechtliche Kontrollen nichtlegislativen Rechts.52 Zu beachten ist dabei, dass der Maßstab einer solchen Becker, Von der Freiheit, rechtswidrig handeln zu können, ZUM 2019, 636 (647). Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), 1 (22): „Man soll sich von den antiquierten privatrechtlichen Kontrollformeln der „guten Sitten“, „Treu und Glauben“, die die ordentlichen Gerichte benutzen, nicht darüber täuschen lassen, daß hier materiell über ordre public, 51
52 Vgl.
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gesellschafts-verfassungsrechtlichen Kontrolle nicht einfach mit den Garantien identisch ist, die in Staatsverfassungen dafür sorgen, dass der politische Prozess nicht andere Autonomien beschädigt, sondern ein für die Medienverfassung der digitalisierten Kommunikation eigens zu entwickelnder.53 Materielle Maßstäbe können jedoch die Anwendung und Durchsetzung von Rechten nicht hinreichend determinieren, wie aus der Welt des staatlichen Rechts bekannt ist. In Rechnung zu stellen sind bei Äußerungen von Nutzern in sozialen Netzwerken etwa die Kontextabhängigkeit der Mitteilung, bei Maßnahmen zum Schutz von Urheberrechten die Möglichkeit von verschiedenen Varianten der technologischen Durchsetzung, die Freiheitsrechte des Diensteanbieters, insbesondere seine unternehmerische Freiheit, und flankierend zu alledem auch die Informationszugangsinteressen von dritten Nutzern des Mediums. Um Korrekturmöglichkeiten der zwangsläufig in den Händen privater Akteure verbleibenden Spielräume zu gewährleisten, ist für digitale Intermediäre vereinzelt die Etablierung von Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren gesetzlich festgeschrieben worden. So sieht Art. 17 Abs. 9 DSM-RL vor, dass Plattformbetreiber, die technische Maßnahmen zum Schutz vor Urheberrechtsverletzungen treffen müssen, auch zur Einrichtung von Verfahren zur Überprüfung ihrer Maßnahmen verpflichtet sind. Ausdrücklich wird dabei verlangt, dass Entscheidungen über die Sperrung oder Entfernung von nutzergenerierten Inhalten „einer von Menschen durchgeführten Überprüfung zu unterziehen“ sind. Zudem sollen außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren „die unparteiische Beilegung von Streitigkeiten ermöglichen“. Für Social Media-Plattformen ist eine vergleichbare Verpflichtung in § 3 Abs. 1 NetzDG enthalten, welche die Einrichtung von wirksamen und transparenten Verfahren für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte verlangt. Auf internationaler Ebene fordern die „Manila Principles on Intermediary Liability“ (2015) und die „Santa Clara Principles on Transparency and Accountability in Content Moderation“ (2018) von den Intermediären die Einrichtung entsprechender Beschwerdeverfahren zugunsten von Nutzern. also über die Übereinstimmung von „privaten“ Normierungen mit Verfassungsmaßstäben, insbesondere den Grundrechten, entschieden wird. Dies wird mit der Drittwirkung von Grundrechten in gesellschaftlichen Bereichen begründet. Jedoch zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die privaten Normen nicht an der politischen Verfassung, sondern an ihrer Eigenverfassung gemessen werden. Immer geht es zugleich um juridische Entfesselung und um Zügelung systemspezifischer Rationalität.“ 53 Wielsch, Die Ordnungen der Netzwerke. AGB – Code – Community Standards, in Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht. Die Zukunft des NetzDG und seine Folgen für die Netzwerkkommunikation, Baden-Baden 2018, 61 (74 ff.).
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Facebook selbst beabsichtigt über unternehmensinterne Revisionsverfahren hinauszugehen und hat mit dem „Oversight Board“ ein Gremium zur Überprüfung von Löschungsentscheidungen eingerichtet, dessen Entscheidungen unabhängig, transparent und für das Unternehmen bindend sein sollen.54 Insbesondere die Entscheidungen dieses Gremiums, aber auch die netzwerkeigenen Verfahren wären auf die Gleichbehandlung von Fällen verpflichtet, wollten sie elementaren Anforderungen von Verfahrensgerechtigkeit genügen. Es träte eine Selbstbindung an frühere Entscheidungen ein.55 Das Gleichheitsschema hat gerade den Sinn, ein systeminternes Problementscheiden zu ermöglichen. Die Pflicht, jede Ungleichbehandlung zu begründen, zwingt dazu, Abstand zu nehmen und eine besondere Art von Entscheidungsautonomie zu suchen. Das unmittelbare Entscheiden muss so diszipliniert werden, dass es konsequent bleiben kann („Konsequentsein distanziert“).56 Sobald also die Fusionierung von Norm und technischer Durchsetzung unterbrochen und durch die Zwischenschaltung von Verfahren auseinandergezogen wird, hat der Gleichheitssatz einen Ansatzpunkt. Ähnlich wie im Falle der Gewaltenteilung zwingt bereits der Umstand der Kontrolle netzwerkeigener Verfahren zur Bildung von Maßstäben und dadurch zu einer Steigerung des Reflexionsniveaus.57 Der Gleichheitssatz erweist sich so als elementarer Bestandteil der Eigenverfassung autonomer digitaler Medien. 2. Gleichheitsrechte als Partizipationsrechte an digitaler Regulierung a) Rechte auf Rechtfertigung privater Zugangsregulierung von Öffentlichkeit Das Gleichheitsgebot gewinnt in dem Maße Relevanz für Rechtsbeziehungen zwischen privaten Akteuren, wie diese über die Bedingungen des Zugangs zum öffentlichen Raum bestimmen und damit über die Voraussetzungen der Wahrnehmung von grundrechtlichen Freiheiten, allen voran der 54 https://www.oversightboard.com/governance/.
Zum Anstoß der Schaffung vgl. Zuckerberg, A Blueprint for Content Governance and Enforcement, Facebook (Nov 15, 2018), https://tinyurl.com/y2ry5cj3. Gesprochen wurde auch von einem „Supreme Court of Facebook“. Dazu Kadri/Klonick, Facebook v. Sullivan: Building Constitutional Law for Online Speech, Southern California Law Review 93 (2019), 37 (95 ff.). 55 Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, DÖV 1992, 461 (469); Panyadeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, 175. 56 Luhmann (Fn. 29), 174 und 176. 57 Zu dieser indirekten Wirkung spezifischer Kontrolle einer funktionalen Aufteilung von staatlicher Macht vgl. Grzeszick, in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 82. EL Januar 2018, Art. 20, Rn. 38.
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Kommunikationsfreiheiten aus Art. 5 GG. Und in dem Maße, in dem solche Intermediäre für die Vermittlung effektiven Rechtsschutzes im digitalen Medium herangezogen werden. Beide Aspekte hängen miteinander zusammen. Die Bedingungen von Öffentlichkeit werden zunehmend von privaten Akteuren bestimmt. Indem sie die Infrastruktur für Kommunikation betreiben (digital wie analog58), indem sie den öffentlichen Zugang zu geschützten Werken genauso wie zu personenbezogenen Informationen erzeugen, und indem sie öffentliche Kommunikation strukturieren (soziale Netzwerke). Dadurch haben sie normativ (durch Entscheidungen auf der Grundlage von Nutzungsbedingungen), jedenfalls aber faktisch aufgrund ihrer technologischen Kontrolle die Möglichkeit, den Zugang zum Medium selektiv zu steuern und einzelne Nutzer und Inhalte von der Öffentlichkeit auszuschließen. Die Gründe für eine Zugangsverweigerung werden häufig darin liegen, dass die Aktivität des Ausgeschlossenen die Rechte Dritter verletzt oder gefährdet. Die Diensteanbieter werden dann zum Schutz der Rechte Dritter tätig. Unter digitalen Bedingungen geht die selbstverständliche Verknüpfung des Anspruchs mit seiner staatlichen Durchsetzung verloren. Effektiver Rechtsschutz für Immaterialgüter- und Persönlichkeitsrechte wird im Kontext digitaler Netzwerke oftmals nur mit Hilfe von Intermediären zu bewirken sein. Der Satz des BVerfG, dass die Gewährleistung von privaten Rechten (in casu privatautonome Vertragsrechte) die justizielle Realisierung gleichsam mitdenkt,59 wird porös. Nach dem europäischen Haftungsmodell für Intermediäre obliegt diesen eine mehrseitige Verantwortung zur Vermittlung effektiven Rechtsschutzes gegen rechtswidrige Mitteilungshandlungen von Dritten. Entsprechende Maßnahmen von Plattformbetreibern betreffen jedoch im Unterschied zum negatorischen Anspruch gegen den unmittelbaren Verletzer nicht allein ein bilaterales Rechtsverhältnis, sondern müssen einem mehrpoligen Verhältnis von Rechtsgutsträger, unmittelbarem Verletzer, Intermediär und dritten Nutzern Rechnung tragen. Zur Verantwortung des Intermediärs bei Durchführung entsprechender Maßnahmen gehört es daher nach der Rechtspre58 Vgl. BVerfG NJW 2015, 2485: „Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen, Wege und Plätze zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren, Ladenpassagen oder durch private Investoren geschaffene und betriebene Plätze als Orte des Verweilens, der Begegnung, des Flanierens, des Konsums und der Freizeitgestaltung ergänzt wird, ... Der beabsichtigte Ort der Versammlung steht zwar im Eigentum einer Privaten, ist zugleich aber für den Publikumsverkehr offen und schafft nach den Feststellungen des LG einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht.“ 59 BVerfGE 89, 214 (231 f.).
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chung des EuGH, die Grundrechte der Betroffenen einschließlich der Informationsfreiheit von Internetnutzern zu berücksichtigen und für die effektive Wahrnehmbarkeit dieser Rechte zu sorgen.60 Vor diesem Hintergrund wurde inzwischen die erwähnte Vorschrift des Art. 17 Abs. 9 DSM-RL geschaffen. Ähnlich sind seit dem „Google Spain“-Urteil Suchmaschinen verpflichtet, für eine effektive Wahrnehmbarkeit von Persönlichkeitsrechten zu sorgen. Weil dies die Löschung von veröffentlichten Suchergebnissen mit sich bringen kann, sind die Informationszugangsinteressen der Internetnutzer bei der Entscheidung über eine Löschung miteinzubeziehen61 – und auch die des Äußernden bzw. der veröffentlichenden Stelle selbst.62 Suchmaschinenbetreiber sind damit aufgefordert, die von den Entscheidungen über ihre Funktionalität betroffenen Grundrechtspositionen abzuwägen. Um dieser Verantwortlichkeit gerecht zu werden, rief Google nicht nur ein aus externen Fachleuten zusammengesetztes „Advisory Council on the Right to be Forgotten“ ins Leben, das Kriterien und Richtlinien für die vorzunehmenden Abwägungsentscheidungen formulieren sollte, sondern richtete auch ein Verfahren zur Meldung und Überprüfung von Löschungsbegehren ein. Der Schutz von Urheber- und Persönlichkeitsrechten im Internet verlangt von digitalen Intermediären unter bestimmten Bedingungen also die Einrichtung von (Selbstregulierungs‑)Verfahren zum Schutz von Dritten. Danach würde das staatliche Recht unter Bedingungen gesteigerter Unsicherheit seine eigene Gewährleistungsverantwortung gerade dadurch wahrnehmen, dass es die Grundrechte Dritter für den privaten Machtträger normativ verbindlich werden lässt.63 Die Verantwortung des Staates für den Schutz von Rechten im Allgemeinen und Grundrechten im Besonderen folgte stets der bei ihm konzentrierten Macht zur Rechtsdurchsetzung. In dem Umfang, in dem sich diese Durchsetzungsmacht auf private Akteure verlagert, verändert sich sowohl deren Verantwortung wie auch diejenige Grundlegend EuGH, Urt. v. 27. 03. 2014, C-314/12, MMR 2014, 397, Rn. 55 f. „UPC Telekabel“. 61 Vgl. EuGH, Urt. v. 13. 05. 2014 – C-131/12, MMR 2014, 455 Rn. 81 „Google Spain“ (wo freilich im Allgemeinen ein Überwiegen der Grundrechte der betroffenen Person angenommen wird). Der BGH spricht in Fällen der Einschaltung von Internetintermediären in die Kommunikation von einer „Gesamtabwägung“ zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen einerseits und den Interessen der Nutzer und Intermediäre selbst andererseits, vgl. BGH, Urt. v. 23. 6. 2009 – VI ZR 196/08, NJW 2009, 2888, Rn. 43. 62 Zur Analyse des Urteils EuGH „Google Spain“ vgl. Paal, Online-Suchmaschinen – Persönlichkeitsrechts- und Datenschutz, ZEuP 2016, 591 (610). 63 Vgl. auch Wielsch, Die Haftung des Mediums, in Lomfeld (Hrsg.), Die Fälle der Gesellschaft. Eine neue Praxis soziologischer Jurisprudenz, 2017, 125 (142). 60
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des Staates. Dabei zeichnet sich ab, dass das Augenmerk in Zukunft schwerpunktmäßig auf einem Modus der Grundrechtswirkung liegen wird, der im deutschen Recht als „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ bekannt ist. Die geschilderte Rechtsprechung zu den Verkehrspflichten der Intermediäre betraf stets Klagen, die die Inhaber von absoluten Rechten gegen Intermediäre erhoben hatten. Was aber gilt für Konstellationen, in denen sich Nutzer gegen die in diesem Zuge von Intermediären getroffenen Maßnahmen wehren wollen? Ausgangspunkt wird regelmäßig das vertragliche Verhältnis zwischen dem (vermeintlichen) Verletzer und dem Intermediär sein. Weitergehende verfahrensrechtliche Anforderungen an die auf die Vertragsleistung einwirkende – und über die zivilrechtlichen Generalklauseln prinzipiell kontrollierbare – Zugangsregulierung können sich ergeben, sofern die Intermediäre an das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind. Neue Maßstäbe setzt hier das „Stadionverbot“-Urteil des BVerfG. Danach sollen private Vertragsbeziehungen zwar im Allgemeinen nicht den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterliegen, wohl aber die aufgrund einseitiger Entscheidungsmacht getroffene Verweigerung des Zugangs einer bestimmten Person zu einer öffentlichen Veranstaltung, wenn dieser Ausschluss in erheblichem Umfang über die Teilnahme des Betroffenen am gesellschaftlichen Leben bestimme.64 In casu erhielt die Zugangsentscheidung soziale Wucht, weil sie auf Grundlage der Stadionverbots-Richtlinien des Deutschen Fußball-Bundes ein deutschlandweites Stadionverbot zur Folge hatte, sie also – das wird leicht übersehen – Teil der Zugangsregulierung eines ganzen gesellschaftlichen Sektors war. In solchen Fällen sei die Entscheidungsmacht an das Vorliegen eines sachlichen Grundes für den Ausschluss gebunden, woraus sich verfahrensrechtliche Anforderungen ergäben: „Insbesondere müssen die Stadionbetreiber die ihnen zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternehmen. Dazu gehört jedenfalls grundsätzlich die vorherige Anhörung des Betroffenen. Auch ist die Entscheidung auf Verlangen zu begründen, um den Betroffenen die Durchsetzung ihrer Rechte zu ermöglichen.“65 Als sachlicher Grund für eine Zugangsverweigerung kam eine vom Zugangspetenten (ein gewaltbereiter Fußballfan) ausgehende Gefahr für die Rechte Dritter in Betracht. Wie die digitalen Intermediäre hat auch der Stadionbetreiber die Verantwortung für eine durch ihn ermöglichte Öffentlichkeit. Die Anerkennung einer solchen Verantwortung bedeutet nicht, dass Private Staatsaufgaben wahrnähmen und es sich um die „Privatisierung staat64 BVerfG,
Beschl. v. 11. 4. 2018 – 1 BvR 3080/09, NJW 2018, 1667, Rn. 41. BVerfG (Fn. 64), Rn. 46.
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licher Machtausübung“ handele.66 Es geht – zumal auf dem Gebiet medialer Aktivitäten – nicht um eine Kooptation zur Verfolgung staatlicher Zwecke, sondern um die Eigenverfassung gesellschaftlicher Bereiche. Entsprechend treffen jeden Veranstalter eines Großereignisses Verkehrspflichten, die an die typischen Gefahren einer solchen Veranstaltung anknüpfen. Im Falle von digitalen Intermediären kann für die Begründung einer Verkehrspflicht an ihre Funktion der Vermittlung dezentralen Zugangs zu Rechtsgütern Dritter angeknüpft werden („Funktionshaftung“).67 Private Regulierung wird – soweit sie nicht sowieso geschieht wie in den „Gemeinschaftsstandards“ von Facebook – erforderlich, um entsprechende Verkehrspflichten zu erfüllen. Wenn nun eine zugangsbeschränkende Maßnahme und inzident mit ihr das gesamte private Regime der Zugangsregulierung an Art. 3 Abs. 1 GG gemessen wird, kommt es in der Tat zur Bindung eines Privaten an das Recht auf ein faires Verfahren.68 Es handelt sich dabei der Sache nach um eine „Publifizierung privater Machtausübung“. Eine solche verfassungsunmittelbare Bindung der Zugangsregulierung an den Gleichheitssatz wird teilweise für problematisch gehalten, weil ein in der Folge zu bejahendes Zugangsrecht auch in den Fällen eingreifen könne, in denen ein Ausschluss nach AGG oder Wettbewerbsrecht zulässig sei.69 Das verkennt indessen, dass es dem BVerfG gerade auf die von Art. 3 GG geforderten verfahrensrechtlichen Sicherungen ankommt, die im Wettbewerbsrecht und im AGG keine Rolle spielen, wo es um Verstöße gegen materielle Prinzipien des Wettbewerbs geht beziehungsweise um Diskriminierung anhand verpönter Merkmale. Auch hier gilt gerade umgekehrt, dass einfaches Gesetzesrecht, das Zugangssperren zur Öffentlichkeit ohne Vorkehrungen für ein faires Verfahren zuließe, seinerseits im Lichte von Art. 3 GG problematisiert werden müsste. Das Gleichheitsgebot fungiert folglich als eine Art „Konstitutionalisierungs-Anker“ in Bezug auf private Zugangsregime, indem es sie zu verfahrensförmigen Absicherungen der von der Zugangsentscheidung betroffenen Rechtspositionen anhält, sofern die Einrichtung solcher Verfahren nicht bereits gesetzlich vorgesehen ist. Das Gleichheitsgebot induziert gleichsam eine Konstitutionalisierung der Zugangsregime „von Innen“. Weil es in Art. 3 GG nicht nur als Norm, sondern als subjektives Recht gewährleistet ist, kann So aber Hellgardt, Wer hat Angst vor der unmittelbaren Drittwirkung?, JZ 2019, 901 (909). 67 Wielsch, Funktion und Verantwortung. Zur Haftung im Netzwerk, Rechtswissenschaft 2019, 84 (107 f.). 68 Richtig gesehen bei Hellgardt (Fn. 66), 908 mit Hinweis auf BVerfGE 103, 397 (405). 69 Hellgardt (Fn. 66), ebd., der beklagt, dass dem Privatrechtsgesetzgeber insoweit die Hände gebunden wären. 66
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es unter bestimmten Bedingungen vom Zugangspetenten mobilisiert werden und gibt ihm ein Recht auf Rechtfertigung von privater Zugangsregulierung. Das Gleichheitsgebot lässt die Betroffenen an der Ausgestaltung von privaten Zugangsregeln partizipieren. b) Rechte auf Rechtfertigung syntaktischer Normativität (1) Normativität von Netzwerk-Protokollen Gleichbehandlungsgebote können nicht nur die Regulierung digitaler Kommunikation durch Intermediäre für grundlegende Anforderungen an ein faires Verfahren „öffnen“, wie sie aus dem staatlichen Verfassungsrecht zur Disziplinierung von politischer Macht bekannt sind. Vielmehr können Gleichbehandlungsgebote auch unmittelbar die Konstruktion syntaktischer Strukturen binden. In ihrer Funktion, die Autonomie des digitalen Mediums zu konstituieren und gleichzeitig im Verhältnis zu anderen Autonomien zu begrenzen, operieren entsprechende Vorschriften unabhängig von ihrer dogmatischen Verortung als Teil eines Medienverfassungsrechts – ähnlich wie die Konstituierung der politischen Selbsteinwirkungsfähigkeit der Gesellschaft in der Staatsverfassung zugleich mit einem Schutz von gesellschaftlichen Autonomien vor ihr verbunden wird. Ein gesetzliches Gleichbehandlungsgebot auf Ebene der Protokolle und Standards der Datenübertragung im Internet findet sich in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 VO (EU) 2015/2120 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet (EU-Netzneutralitätsverordnung, EU-NNVO). Im Grundsatz müssen danach „Anbieter von Internetzugangsdiensten den gesamten Verkehr bei der Erbringung von Internetzugangsdiensten gleich[behandeln], ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten“. Hierin drückt sich die „Neutralität des Netzwerks“ aus, wie sie in der Frühphase der Internetentwicklung durch konsequente Umsetzung des „end-to-end“-Prinzips bei der Konstruktion von NetzwerkProtokollen gewährleistet war.70 Dadurch wurde die Entscheidungskompetenz über die Nutzung des Internet dezentralisiert und das neue Medium als Gemeinschaftsgut konstituiert.71 Die Nutzer müssen sich nur nach den Spezifikationen des IP-Protokolls richten und nicht nach dem Willen und
70 Van
Schewick, Internet Architecture and Innovation, 2010, 90 ff. Wielsch, Zugangsregeln, 2008, 243.
71
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den technischen Vorgaben eines Netzbetreibers.72 Eine solche Trennung von Eigentum (auf der physikalischen Schicht der Netzinfrastruktur) und Kontrolle (über die Handlungsmöglichkeiten auf der logischen Schicht) gewährleistet die Entwicklungsoffenheit des Mediums und eine enorme Varietät von netzwerkbasierten Anwendungen. Diese technisch implementierte Zugangsregel des Mediums gerät mit der Entwicklung von neuen Netzwerk-Technologien unter Druck, die es den Betreibern von TK-Endkundennetzen erlauben, die an irgendeiner Stelle des weltweiten Netzverbunds bereitgestellten Daten nach dem Eintritt in das von ihnen betriebene Teilnetz anhand von herkunfts- oder inhaltsbezogenen Merkmalen gezielt unterschiedlich zu behandeln.73 Art. 3 EU-NNVO normiert demgegenüber die Neutralität des Netzwerks.74 Die Verpflichtung auf Gleichbehandlung beim Datentransport ist dabei durch vertragliche Abreden im bilateralen Verhältnis zwischen einem Internetzugangsanbieter und seinen Endkunden nicht abdingbar, weshalb etwa die behördliche Untersagung eines Mobilfunk-Tarifs mit Bandbreitenlimitierung speziell für Videostreaming von Gerichten bestätigt worden ist.75 Bei dem Gebot zur Gleichbehandlung des Datenverkehrs handele sich um ein objektives Gebot, das ein Funktionsprinzip des Internets zugunsten sämtlicher Endnutzer schütze, so dass seine Abdingbarkeit (im Verhältnis zu den Endkunden eines bestimmten Diensteanbieters) faktisch einem Vertrag zu Lasten Dritter gleichkäme.76 Zwar könnten Nutzer zur Ausübung ihrer Zugangsrechte aus Art. 3 Abs. 1 gemäß der Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 EUNNVO Vereinbarungen über die technischen Bedingungen des Zugangs (wie Datenvolumen oder Geschwindigkeit) schließen, diese Vereinbarungen müssten jedoch „anwendungsneutral“ sein und dürften nicht nach verschie72 Zur
Steigerung der Unabhängigkeit von Entwicklern und der Ermöglichung autonomer Innovation unter einem weit gefassten End-to-end-Prinzip vgl. van Schewick (Fn. 70), 204 ff. 73 Zu entsprechenden Entwicklungen vgl. Klement, Netzneutralität: der Europäische Verwaltungsverbund als Legislative, EuR 2017, 532 (534). 74 Genauer geht es Art. 3 Abs. 1 EU-NNVO um zugangsbezogene Netzneutralität und Art. 3 Abs. 3 EU-NNVO um übermittlungsbezogene Netzneutralität. 75 OVG Münster, Beschl. v. 12. 07. 2019 – 13 B 1743/18, MMR 2019, 762, zuvor schon VG Köln, 2019, 197. Im Hauptsacheverfahren hat das VG Köln, Beschl. v. 20. 01. 2020 – 9 K 4632/18 dem EuGH nunmehr insbesondere die Frage vorgelegt, ob Vereinbarungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EU-NNVO zwischen Anbietern von Internetzugangsdiensten und Endnutzern namentlich über Merkmale von Internetzugangsdiensten wie Preis, Datenvolumina oder Geschwindigkeit den Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 EU-NNVO und dem dort geregelten Gleichbehandlungsgrundsatz genügen müssen. 76 OVG Münster (Fn. 75), Rn. 18.
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denen Datenkategorien differenzieren.77 Neben den Schutz der Endnutzer tritt das Gebot der Gleichbehandlung folglich als eigenständiger institutioneller Schutz, weil die Verordnung bezwecken will, „dass das ‚Ökosystem‘ des Internets weiterhin als Innovationsmotor funktionieren kann“.78 Indem die Syntax der Netzwerk-Protokolle an ein Gleichheitsgebot gebunden wird, bleibt die Freiheit zur Entwicklung höherstufiger Anwendungen und damit die Autonomie des Mediums erhalten. Im Interesse der Freiheit der Nutzergesamtheit verlangt das Gesetz die Implementation einer Gleichbehandlung von Daten auf der Ebene ihrer Übertragung. (2) Algorithmische Normativität Es scheint nahezuliegen, den Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote auch im Rahmen von algorithmischer Regulierung und Entscheidungsfindung auf der Basis von maschinellem Lernen zur Geltung zu bringen, um einen diskriminierenden Output der Systeme von vornherein zu verhindern. Dabei ist jedoch zweierlei zu beachten. Zum einen können Vorurteile in den Trainingsdaten von maschinell lernenden Systemen nicht umstandslos eliminiert werden mit dem Ziel, einen Algorithmus nur auf der Grundlage von diskriminierungsfreien und repräsentativen Trainingsdaten lernen zu lassen. Denn die diskriminierenden Attribute korrelieren häufig mit anderen, nicht verpönten Merkmalen, die dann als Platzhalter („Proxies“) fungieren.79 Ein Verbot der Verwendung von diskriminierenden Trainingsdaten würde also nicht zu einem objektiven, neutralen Algorithmus führen, sondern die von ihm ausgehende Diskriminierung nur weniger sichtbar machen. Zum anderen sind Vorurteile dem Lernen durch Maschinen inhärent, da sie eine Voraussetzung für induktive Schlüsse sind.80 Weiterführen könnte angesichts dessen ein Vergleich mit der Operationsweise von menschlichem Verstehen, wie es von der philosophischen Hermeneutik beschrieben wird. Vorurteile werden von ihr nicht als Störung, sondern als produktive Bedingung von Sinnverstehen angesehen. Auch wenn hiernach Vorurteile ebenfalls als konstitutiv gelten, wird doch gleichzeitig
OVG Münster (Fn. 75), Rn. 24. Erwägungsgrund 1 sowie Art. 1 EU-NNVO. 79 Hildebrandt, Privacy as Protection of the Incomputable Self: From Agnostic to Agonistic Machine Learning, Theoretical Inquiries in Law 20 (2019), 83 (102). 80 Mitchell, Machine Learning, 1997, 42 spricht von einem „inductive bias“ und bemerkt: „a learner that makes no a priori assumptions regarding the identity of the target concept has no rational basis for classifying any unseen instances“. 77
78 Vgl.
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deren Korrigierbarkeit vorausgesetzt.81 Bewusstsein ist als hermeneutisches Bewusstsein nur dann offen für den Geltungsanspruch der Überlieferung, wenn es eine Erfahrungsbereitschaft besitzt, in der Vorurteile versuchsweise auf das zu Verstehende angewendet werden und folglich im Modus der Korrigierbarkeit entworfen sind. Statt ein abschließendes Wissen zu erreichen, enthält „die Wahrheit der Erfahrung stets den Bezug auf neue Erfahrung“, „werden ständig falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttypisiert“.82 Diese Offenheit dafür, dass die eigenen Maßstäbe in Frage gestellt werden können, mag für geschichtliches Verstehen eine bloße Frage der Angemessenheit sein, sie wird für die „Erfahrungen“ maschinell lernender Systeme jedoch in dem Maße obligatorisch, wie deren Entscheidungen die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen berühren. Der Gedanke externer Korrekturmöglichkeiten von komplexen technologischen Systemen ist aus offenen Innovationsnetzwerken („peer production“) und der Einbindung von Nutzern in die Produktion neuer Technologien („prosumer“) bekannt und liegt letztlich dem Ziel der Entwicklung robuster technologischer Systeme selbst zugrunde. Er gewinnt jedoch normative Qualität, wenn autonome technologische Systeme regulatorische Funktionen übernehmen. Maschinelles Lernen kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn Prozesse zu kompliziert sind, um sie analytisch zu beschreiben, aber ein hinreichend großer Satz von Trainingsdaten vorliegt. Dann können Vorhersagen getroffen oder Entscheidungen generiert werden, ganz ohne dass dafür im Vorhinein festgelegte Regeln existieren.83 Um so größer ist die Erforderlichkeit der Mitbestimmung und Beeinflussungsmöglichkeit der Regeln im Verlauf ihrer Entwicklung. Die Konsequenz aus dem Umstand, dass Algorithmen von einer „ground truth“ ausgehen, ist dann nicht, maschinelles Lernen wie eine Gefahrenquelle zu behandeln und vorab intensiv zu regulieren, sondern das Design von datengetriebenen Algorithmen an Möglichkeiten der Mitbestimmung durch Betroffene zu binden. Unter verschiedenen Etiketten wird der gleiche normative Anspruch diskutiert: ob die Institutionalisierung von Dissens als Aus81 Der
Vorgang des Sinnverstehens ist nach Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, 251 f., gerade auf die beständige Revision der Vorentwürfe angewiesen. Entsprechend verlangt das hermeneutische Bewusstsein eine grundsätzliche Bereitschaft zur Offenheit und dafür, dass die eigenen Maßstäbe in Frage gestellt werden können (ebd., 344 f.). 82 Gadamer (Fn. 81), 335. 83 Fraunhofer-Institut IAIS, Vertrauenswürdiger Einsatz von Künstlicher Intelligenz, 2019, 10.
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druck der „Rule of Law“84 oder als Kernelement des Demokratieprinzips85 begriffen wird oder als Generalisierung und Respezifizierung von politischer Autonomie, die über staatliche Rechtsetzung hinaus auch für dezentrale Regelbildung entlang partikularer Rationalitäten wirksam zu machen ist.86 Es geht jeweils darum, dass die maschinellen Architekturen erprobt und in Zweifel gezogen, also einer Revision unterzogen werden können. Ein solches „agonistisches maschinelles Lernen“ würde auf der Möglichkeit basieren, dass diejenigen, die von einer Veränderung ihrer Umwelt durch eine datengetriebene Algorithmisierung betroffen sind, Einwände gegen die „ground truth“ und das anfängliche Design der Datenverarbeitung erheben können, in deren Licht der Verantwortliche dann alternative Designs zu erwägen hat.87 Auf diese Weise würden experimentelle und revisible Datenarchitekturen etabliert. Datenarchitekturen würden nicht als vorgegeben, sondern als zu erzeugend behandelt. Es würde eine „Positivierung“ von digitaler Normativität im Sinne ihrer Änderbarkeit möglich, anstatt sie im „natürlichen“ Zustande zu belassen. Anders formuliert: In dem Maße, wie Betroffene Einfluss auf das Design von Algorithmen nehmen könnten, käme es zu einem dezentralen normativen Lernen in digitalen Systemen. Die digitalen Architekturen würden in soziale Architekturen überführt. Mit Hilfe der Dezentralisierung des Demokratieprinzips lässt sich digitale Normativität positivieren. Zur Verwirklichung eines solchen normativen Lernens in automatisierten Datenverarbeitungsprozessen ist zunächst und vor allem das Datenschutzrecht berufen. Es legt der datenverarbeitenden Stelle zum einen spezielle Informationspflichten gegenüber dem Betroffenen auf. Nach Art. 13 Abs. 2 lit. f und Art. 14 Abs. 2 lit. g DSGVO muss der Verantwortliche über das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung, über die involvierte Logik und die Tragweite sowie die Auswirkungen der Verarbeitungen aussagekräftig unterrichten, ergänzt durch Auskunftsrechte (Art. 15 Abs. 1 lit. h DSGVO) und Widerspruchsrechte (Art. 21 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 DSGVO).88 Vor allem aber ist nach Art. 22 Abs. 3 DSGVO eine vollautomatisierte Entscheidung nur unter 84 Hildebrandt (Fn. 79), 107 mwN, spricht von einer Bindung an „the adversarial core of the Rule of Law“, begründet ihre Position dann aber vor allem unter Rückgriff auf Demokratietheorien, insbesondere auf das agonistische Modell von Mouffe. 85 Zum institutionalisierten Dissens als Kernelement des Demokratieprinzips (neben Konsensbildung) vgl. Teubner, Quod Omnes Tangit: Transnationale Verfassungen ohne Demokratie, Der Staat 57 (2018), 1 (7 f.). 86 Wielsch (Fn. 4), 114. 87 Hildebrandt (Fn. 79), 109. 88 Zum Regelungsgeflecht der DSGVO hinsichtlich automatisierter Verarbeitungen vgl. Martini, in Paal/Pauly, DS-GVO, 2. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 4.
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der zusätzlichen Voraussetzung zulässig, dass der Verantwortliche „angemessene Maßnahmen“ zum Schutz der Person trifft, wozu als Mindestgarantien „das Recht auf Erwirkung des Eingreifens einer Person seitens des Verantwortlichen, auf Darlegung des eigenen Standpunkts und auf Anfechtung der Entscheidung“ gehören.89 Diese Rechte können rekonstruiert werden als verfahrensrechtliche Anforderungen an digitale Regulierung durch Algorithmen, die Ausdruck eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren sind.90 Sie sollen sicherstellen, dass algorithmisches Entscheiden transparent und fair verläuft91 – und stellen deswegen die einseitig vorgegebene technologische Normativität unter einen Kontrollvorbehalt. Die Betroffenen sollen sich vor erheblichen Beeinträchtigungen durch den Algorithmus schützen können und insbesondere in der Lage sein, unzulässige Diskriminierungen sichtbar zu machen und gegebenenfalls mit anderen Rechtsinstrumenten anzugreifen.92 Die Mindestgarantien binden gerade auch den privaten Verantwortlichen an rechtsstaatliche Standards, wie sich am unionsrechtlich autonom auszulegenden „Anfechtungsrecht“ zeigt, das als Anspruch auf Überprüfung der Entscheidung zu verstehen ist und anders als im Verwaltungsrecht (§ 68 VwGO) im zivilrechtlichen Kontext bisher nicht existiert.93 Grund und Grenze dieser Bindung ist die Ermöglichung einer Überprüfung von automatisiert getroffenen Entscheidungen unter menschlicher Beteiligung. Die Überprüfung muss ergebnisoffen sein und hat unter Ein-
Überwiegend sieht die deutschsprachige Literatur in Art. 22 Abs. 1 DSGVO ein grundsätzliches Verbot automatisierter Einzelentscheidungen mit Ausnahmen in Absatz 2 und zusätzlichen Vorbehalten in Absatz 3, vgl. Scholz, in Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, 2019, Art. 22 Rn. 16 mwN. Zur alternativen Lesart als ein Widerspruchsrecht, das der aktiven Ausübung bedarf, vgl. Wachter/Mittelstadt/Floridi, Why a Right to Explanation of Automated Decision-Making Does Not Exist in the General Data Protection Regulation, International Data Privacy Law 7(2017), 76 (94 ff.). 90 Für die Gewährleistung von Grundrechtsschutz durch Verfahren in Form der Mindestgarantien des Art. 22 Abs. 3 DSGVO ausdrücklich Martini (Fn. 88), Rn. 39. 91 Buchner, in Kühling/Buchner, DS-GVO/BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 22 Rn. 34; Scholz (Fn. 89), Art. 22 Rn. 56. 92 Nach Erwägungsgrund 71 UAbs. 2 soll der Verantwortliche Maßnahmen treffen, „mit denen verhindert wird, dass es gegenüber natürlichen Personen aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft, politischer Meinung, Religion oder Weltanschauung, Gewerkschaftszugehörigkeit, genetischer Anlagen oder Gesundheitszustand sowie sexueller Orientierung zu diskriminierenden Wirkungen oder zu Maßnahmen kommt, die eine solche Wirkung haben“. 93 v. Lewinski, in BeckOK Datenschutzrecht, 32. Edition Stand: 01. 05. 2020, Art. 22 DSGVO Rn. 50, 52. 89
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beziehung des Standpunktes der betroffenen Person zu erfolgen.94 Dazu muss der Betroffene in die Lage versetzt werden, die Entscheidung zu hinterfragen und substantiierte Einwände vorbringen zu können. Insofern reichen die nach den Transparenzpflichten erforderlichen Informationen über die abstrakte Funktionalität des Algorithmus und über die wesentlichen Entscheidungskriterien aus.95 Eine genaue Erläuterung der vom Algorithmus vorgenommenen Bewertung von personenbezogenen Daten im Einzelfall, wie sie unter Berufung auf die Erweiterung des Katalogs der Mindestgarantien in den Erwägungsgründen der DSGVO um ein „right to explanation“ diskutiert wird (vgl. EG 71 UAbs. 1, a.E.),96 ist hierfür nicht erforderlich. Eine Zusammenschau der Rechte aus Art. 22 Abs. 3 DSGVO ergibt, dass das Recht die operative Autonomie des technischen Systems und die damit verbundene Opazität vielmehr anerkennt und stattdessen eine Übersetzung der Entscheidung in den Modus der Rechtfertigung erzwingt.97 Ungeachtet technisch-faktischer Hindernisse oder Einwänden wegen des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen gegen eine detaillierte Offenlegung der Entscheidungsabläufe der Maschine: die Erklärung des Zustandekommens der maschinellen Entscheidung ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Rechtfertigung.98 Die Überprüfbarkeit der durch lernende Maschinen erzeugten Normativität ist auch außerhalb des Anwendungsbereichs der DSGVO der leitende Gesichtspunkt. Art. 22 DSGVO enthält nur ein Verbot rein automatisierter Einzelentscheidungen, ohne die sensiblen und viel häufigeren Konstellationen inhaltlich zu erfassen, in denen Algorithmen eine menschliche Entscheidung vorbereiten oder menschliches Handeln maßgeblich orientieren.99 In technologiebestimmten Handlungsfeldern wie etwa der Medizin sind die deliktischen Sorgfaltspflichten vom Stand der Wissenschaft abhängig, der seinerseits durch das Entwicklungsniveau maschinell lernender Modelle bestimmt wird, wenn deren Diagnose- und Prognoseleistung dem menschlichen Experten überlegen ist. Gleichwohl determiniert die Leistungsfähig Scholz (Fn. 89), Art. 22 Rn. 59.
94
95 Kumkar/Roth-Isigkeit, Erklärungspflichten bei automatisierten Datenverarbeitungen,
JZ 2020, 277 (285). 96 Initial vgl. Goodman/Flaxman, EU Regulations on algorithmic decision making and „a right to explanation“, https://arxiv.org/abs/1606.08813. Zur weiteren Diksussion vgl. Wachter/Mittelstadt/Floridi (Fn. 89), 76 mwN. 97 Kumkar/Roth-Isigkeit (Fn. 95), 284, 286. 98 Hildebrandt, Algorithmic regulation and the rule of law, Philosophical Transactions of the Royal Society vol. 376, no. 2128, 2018, 1 (3). 99 Martini (Fn. 88), Rn. 46; Scholz (Fn. 89), Art. 22 Rn. 11.
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keit von maschinellen Modellen nicht die Konkretisierung der rechtlichen Sorgfaltspflichten. Zusätzliche Berücksichtigung muss vielmehr die Erklärbarkeit des eingesetzten Algorithmus finden, weil aus medizinischer Sicht nur so eine kritische wissenschaftliche Diskussion der Gründe für eine Voraussage und damit die Identifizierung falsch negativer und falsch positiver Voraussagen möglich ist.100 Die Anforderungen an die Erklärbarkeit von Algorithmen werden jenseits des vollautomatisierten Entscheidens also nicht durch das Datenschutzrecht festgelegt, sondern ergeben sich aus ihrer regulierenden Funktion im jeweiligen Handlungskontext, die vom Vertrags- und Deliktsrecht bei der Konkretisierung von Sorgfaltsanforderungen zu berücksichtigen ist. Nicht nur im medizinischen Kontext ist bei der Bemessung von Erklärungspflichten zentral, ob sie eine begründete Infragestellung des maschinellen Modells zulassen. Erneut gilt: Soweit auf Grundlage digitaler Regulierung Entscheidungen getroffen werden und spezielle gesetzliche Verfahrensvorschriften fehlen, kann ein verfahrensrechtlicher Mindeststandard aus den deutschen und europäischen Grundrechten abgeleitet werden101 – und dann über die Interpretation von allgemeinem Vertrags- und Deliktsrecht implementiert werden. Das umgekehrte Problem einer Gleichbehandlung durch die Maschine in Fällen, in denen eine differenzierende, ungleiche Behandlung indiziert wäre, ergibt sich etwa, wenn digitale Plattformen für die Anwendung ihrer Richtlinien über die Veröffentlichung von nutzergenerierten Inhalten auf Algorithmen vertrauen. Die Gemeinschaftsstandards von Facebook berücksichtigen bei der Entscheidung über die Entfernung von Inhalten, ob Gegenstand der Information eine „Person des öffentlichen Lebens“ oder eine Privatperson ist. Um das zu ermitteln, greift Facebook wiederum auf „Google News“ zu. Abgesehen davon, dass der legitimatorische Effekt einer externen Referenz nicht entstehen kann, wenn und weil die mit „Google News“ ermittelte Öffentlichkeit einer Person gerade auch auf deren Prominenz bei Facebook zurückgehen kann und so eine Art Aufmerksamkeitsschleife entsteht, kann die automatisierte Auswertung von Meldungen durch den Algorithmus von Google nicht die Filterfunktion redaktioneller Medien für sich in Anspruch nehmen, die durch den Umstand ihrer Berichterstattung 100 Hacker et al., Explainable AI under contract and tort law: legal incentives and technical challenges, Artificial Intelligence and Law 2020. 101 Zu den prozeduralen Anforderungen, die der EGMR dem Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK entnimmt, vgl. van der Sloot, Decisional privacy 2.0: the procedural requirements implicit in Article 8 ECHR and its potential impact on profiling, International Data Privacy Law 7 (2017), 190 (201).
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ein öffentliches Interesse an der Person signalisieren.102 Ganz im Sinne des Caroline-Urteils des EGMR kann die Definition des öffentlichen Interesses nicht einer rein nachfrageorientierten Dynamik überlassen werden, die im Falle digitaler Medien durch unterschiedslos Informationen aggregierende Algorithmen erzeugt werden.103 In dieser Konstellation geht es nicht um eine Ungleichbehandlung durch eine vom Algorithmus erzeugte, aber verborgen bleibende Normativität, sondern gleichsam umgekehrt um eine undifferenzierte Gleichbehandlung von Informationen durch den Algorithmus, weil der semantische Kontext nicht oder ungenügend berücksichtigt wird. Die algorithmenbasierte Normativität muss dann um entsprechende semantische Kriterien ergänzt und die Entscheidung über den öffentlichen Status einer Person aufgrund einer (verstehenden) Interpretation von Informationen getroffen werden.104 Auch in dieser Konstellation muss also syntaktische Normativität von außen – durch Betroffene – in Frage gestellt und unter Rechtfertigungszwang gestellt werden können.
V. Die Funktion des Gleichheitsrechts für die Rechtsverfassung von privater Regulierung Durch die Fixierung des Gleichheitssatzes auf das politische System gerät sein Potenzial für die rechtliche Verfassung von gesellschaftlicher Institutionenbildung nicht in den Blick. Er geht aus von der Positivität des Gesetzes. Und er setzt die Gliederung staatlicher Macht voraus, seinerseits ein grundlegender Schritt der Konstitutionalisierung des Politischen, der ebenfalls bereits vollzogen ist. Diese Ausrichtung auf bestehende Strukturen greift bei nicht-politischer, horizontaler Regulierung und vor allem auch bei techno Kadri/Klonick (Fn. 54), 77. Urt. v. 24. 6. 2004 – 59320/00, JZ 2004, 1015 Rn. 63 ff. 104 EuGH, Urt. v. 3. 10. 2019 – C-18/18, MMR 2019, 798 Rn. 45 f. „Glawischnig-Piesczek“ zieht einer automatisierten Auswertung von Äußerungen mit persönlichkeitsverletzendem Inhalt enge Grenzen, da die Verpflichtung, den Zugang zu einer zuvor vom Gericht für rechtswidrig erklärten konkreten Äußerung zu sperren, sich nur dann auf sinngleiche Formulierungen erstrecke, wenn der Intermediär „auf automatisierte Techniken und Mittel zur Nachforschung zurückgreifen“ könne und keine „autonome Beurteilung“ vornehmen müsse, da er ansonsten zu einer im Sinne des Art. 15 Abs. 1 RL 2000/31 unzulässigen Pflicht zur allgemeinen Überwachung gezwungen wäre. Die automatisierte Filterung von Kommunikation ist danach vom Intermediär auf „leicht unterschiedlich formuliert[e]“ (EuGH, aaO. Rn. 41) Äußerungen zu beschränken, während größere Abweichungen, die zur Berücksichtigung des semantischen Kontextes zwingen, nicht von der Maschine beurteilt werden sollen. 102
103 EGMR,
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logischer Regulierung ins Leere. In diesen Varianten von private governance fällt dem Gleichheitsrecht die Aufgabe zu, Normativität überhaupt erst zu positivieren. Im Zuge seiner relationalen Reformulierung (infra III) ist es insbesondere auf semantische und syntaktische Normierung von Kommunikation durch digitale Medien einzustellen: auf Normierungen der Kopplung von Kommunikation an Bewusstsein und auf die Normierung der Kopplung von Kommunikation an autonome Digitalsysteme. Sofern für die erste, semantische Kopplungsdimension bereits gesetzliche Vorschriften bestehen, die Intermediäre zur Einrichtung von Verfahren zum Schutz der Rechte Dritter verpflichten, ist die Fusion von Norm und technischer Durchsetzung in der privaten Regulierung unterbrochen und deren Eigenverfassung angestoßen (infra IV.1.b). Damit liegen die Voraussetzungen für das Eingreifenkönnen des Gleichheitssatzes vor, denn die netzwerkeigenen Verfahren müssen elementaren Anforderungen von Verfahrensgerechtigkeit genügen. Das Gebot zur Gleichbehandlung gleich gelagerter Fälle zwingt zur Bildung von allgemeinen Maßstäben und steigert das Reflexionsniveau in Bezug auf Umweltbelange. Die Standards, nach denen Schutzmaßnahmen – insbesondere Sperrungs- und Ausschlussentscheidungen – getroffen werden, müssen sich jetzt in Verfahren rechtfertigen lassen und können öffentlich politisiert werden. In Fällen privater Zugangsregulierung, in denen (noch) keine gesetzliche Pflicht zur Bindung von grundrechtsbeschränkenden Schutzmaßnahmen an einen due process besteht, kann zugunsten der als Zugangspetenten auftretenden Nutzer ein verfahrensrechtlicher Mindeststandard aus Art. 3 GG abgeleitet werden (infra IV.2.a). Das Gleichheitsgrundrecht fungiert dann als subjektives Recht auf Rechtfertigung von privater Zugangsregulierung. In der zweiten, syntaktischen Kopplungsdimension können Gleichbehandlungsgebote bereits die Konstruktion von syntaktischer Normativität binden, wie sie durch die Netzwerk-Protokolle zur Datenübertragung geformt wird. Durch diese medienverfassungsrechtliche Grundentscheidung mit Wirkung für eine tiefere Schicht der modularisierten Architektur des Internets sollen gleiche Zugangs- und Nutzungschancen auf der höheren Anwendungsschicht gewährleistet werden (infra IV.2.b(1)). Hingegen erscheint es nicht angemessen, die Konstruktion von autonomen Algorithmen in derselben Weise von vornherein normativ engzuführen. Sofern Algorithmen aber regulatorische Funktionen übernehmen, verlangt der Modus des Grundrechtsschutzes durch Verfahren der betroffenen Freiheits- und Gleichheitsrechte die Möglichkeit der Überprüfung und Korrektur der algorithmischen Normativität. In diesem Zuge wird technologisch codierte digitale Normativität positiviert und sozial veränderbar gestellt. Auf diese
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Weise wirken die betroffenen Grundrechte, insbesondere auch Gleichheitsrechte, in ihrer prozeduralen Dimension als Rechte auf Rechtfertigung syntaktischer Normativität (infra IV.2.b(2)). Unter Bedingungen privater Regulierung vermitteln Gleichheitsrechte demnach Teilhabe an der Setzung der Regeln, nach denen Zugang (zu Gütern, Werken, Informationen, Daten) gewährt wird. Während Betroffene an staatlicher Normsetzung über subjektive Wahlrechte partizipieren können (vgl. Art. 38 GG), vermögen in privaten Verhältnissen Gleichheitsrechte als Partizipationsrechte zu fungieren. Eine solche Funktion von Gleichheitsrechten hat Bedeutung gerade auch für transnationale Sachverhalte, da Gleichheitsrechte ubiquitär anerkannt und – ähnlich wie die zur Schaffung von Regelungsregimen in Anspruch genommene Privatautonomie – Bestandteil jeder rechtsstaatlichen Ordnung sind. Zunehmend werden deutsche und europäische Gleichheitsgrundrechte für private Rechtsverhältnisse auch dann aktiviert, wenn gesetzliche Vorschriften fehlen.105 Um mit den neuen Kräften gesellschaftlicher Evolution Schritt zu halten, wird auch das politische Potenzial von Gleichheitsrechten weiterzuentwickeln sein.
105 Gerade bei den Diskriminierungsverboten in Art. 21 Abs. 1 GR-Charta hat auch der EuGH unmittelbare Grundrechtswirkungen im Privatrechtsverkehr jüngst bejaht, vgl. EuGH, C-414/16, Urt. v. 17. 4. 2018, NZA 2018, 569 Rn. 76 ff. „Egenberger“, bestätigt in EuGH, C-193/17, Urt. v. 22. 1. 2019, NZA 2019, 297 Rn. 76 „Cresco“. In vielen Mitgliedstaaten ist die Anerkennung unmittelbarer Wirkungen der Grundrechte unter Privaten weit fortgeschritten, vgl. Borowsky, in Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 1 GR-Ch Rn 43 unter Hinweis auf die Länderberichte in Burgorgue-Larsen (Hrsg.), La Charte des droits fondamentaux saisie par les juges en Europe, 2017.
Autorenverzeichnis Marietta Auer, Prof. Dr. iur., M. A., LL.M., S. J. D. (Harvard), Direktorin am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie, Frankfurt am Main und Professur für Privatrecht und Grundlagen des Rechts, JustusLiebig-Universität Gießen Andreas Engert, Prof. Dr. jur., LL.M. (Univ. Chicago), Professur für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Kapitalmarktrecht und Grundlagen des Rechts, Freie Universität Berlin Muriel Fabre-Magnan, Professeur de droit privé, Université Paris 1 (Panthéon Sorbonne) Stefan Grundmann, Prof. Dr. jur Dr. phil., LL.M. (Berkeley), Professur für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Privatund Wirtschaftsrecht, Humboldt-Universität zu Berlin Tilman Repgen, Prof. Dr. jur., Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Neuere Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Universität Hamburg Dan Wielsch, Prof. Dr. jur., LL.M. (Berkeley), Professur für Bürgerliches Recht und Rechtstheorie, Universität zu Köln