Selbstzeugnisse der Afroamerikaner: Black Liberation Movement und Autobiographie [Reprint 2021 ed.] 9783112481561, 9783112481554


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German Pages 198 [200] Year 1985

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Selbstzeugnisse der Afroamerikaner: Black Liberation Movement und Autobiographie [Reprint 2021 ed.]
 9783112481561, 9783112481554

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Friederike Hajek

Selbstzeugnisse der Afroamerikaner

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Friederike Hajek

Selbstzeugnisse der Afroamerikaner Black Liberation Movement und Autobiographie

Akademie -Verlag • Berlin

1984

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1984 Lizenznummer: 202 • 100/176/84 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6218 Lektor: Alfred Gessler L S V : 8051 Bestellnummer: 754 3264(2150/84) 00800

Inhalt

Vorwort Einleitung:

1 Zur Geschichte der Afroamerikaner

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Afrikanische Herkunft und Sklaverei

9

Befreiung und erneute Diskriminierung

15

Die Rote Dekade

21

Bürgerrechtsbewegung

und liberales Engagement

in der Lite-

ratur

25

Die Bürgerrechtsbewegung

25

Zu einigen künstlerischen Ausdrucksformen der Bürgerrechtsbewegung

30

Anne Moody: Coming of Age in Mississippi

38

Claude Brown: Manchild

in the Promised Land

. . . .

James Baldwin: Essayistik und Romanbeispiele Die Bewegungen des Black Nationalism

49 59

und ihre autobiogra-

phische Literatur

81

Bewegungen des afroamerikanischen Nationalismus . . . .

81

Zur Literaturkonzeption des afroamerikanischen Nationalismus The Autobiography

89 of Malcolm X

99

Bobby Seale: Seize the Time

119

H. Rap Brown: Die Nigger Die!

126

Eldridge Cleaver: Soul on Ice

130 5

Kommunistische Partei und afroamerikanische Autoren

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143

Die Kommunistische Partei der USA und der Befreiungskampf der Afroamerikaner Literarische Beispiele William Edward Burghardt Du Bois: Mein Weg, meine Welt

143 150 164

Anmerkungen

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Personenregister

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Vorwort

Das Schicksal der Afroamerikaner hat in unserem Land beständig Interesse wachgerufen. Immer wieder erregte das antiimperialistische Widerstandspotential dieser amerikanischen Volksgruppe Aufmerksamkeit. Ihr Streben nach vollen Bürgerrechten war in den sechziger Jahren vielen ein Vorbild für den Kampf gegen staatsmonopolistische Strukturen überhaupt. Die Verbundenheit mit den farbigen Bürgern der Vereinigten Staaten bewegte daher breite Schichten in der D D R ; ja, bereits Schulkinder brachten ihr Engagement zum Ausdruck. In einer schwierigen Phase ihrer Auseinandersetzung mit der Staatsmaschinerie der USA hat zum Beispiel Angela Davis tiefgreifende Unterstützung von unserer Bevölkerung erhalten, und ihr Besuch in unserer Republik nach der durch Proteste erzwungenen Freilassung gestaltete sich zu einem Fest der Solidarität. Für einige Afroamerikaner wurde die DDR sogar zu einer zweiten Heimstatt. Das prominenteste Beispiel hierfür dürfte der Sänger Paul Robeson sein. Das Interesse am Schicksal der Afroamerikaner äußert sich stets neu in der Aneignung ihrer Kultur. Insbesondere die Musik, seien es die Spirituals, seien es Jazz oder Soul, wird in ihrer Mischung von Freiheitssehnsucht und Aufbegehren, von Klage und Lebenszuversicht zum Symbol für das Ringen um ein „anderes" Amerika, um eine Neue Welt, die ihren Anspruch auf Gleichheit und Brüderlichkeit einlöst. Das antiimperialistische Engagement und die Suche nach einer wirklich neuen Welt: Die Verbindung dieser beiden Komponenten könnte entscheidend dazu beigetragen haben, uns das Schicksal der Afroamerikaner interessant zu machen. Der vorliegende Band nun möchte einem solchen Interesse Rechnung tragen. Dies kann am besten durch eine spezielle Orientierung geschehen, die zugleich das größere kulturelle Umfeld nicht außer acht läßt. So soll denn ein Zeitraum im Mittelpunkt stehen, da die jahrhundertealte afroamerikanische Befreiungsbewegung ihre Kulmi7

nation erfährt. Es sind das die anderthalb Jahrzehnte, die sich um die sechziger Jahre gruppieren. Hier gilt es, die verschiedenen Arten und ideologischen Konzepte der Black Liberation Movement zu differenzieren. Je ein Hauptteil des Buches wird sich deshalb mit einem der drei Hauptströme des Befreiungskampfes beschäftigen. Erstens sei das im wesentlichen liberale Engagement in der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King vorgestellt. Zweitens sind die teils widersprüchlichen Bestrebungen der Afroamerikaner, die man unter dem Stichwort „schwarzer Nationalismus" fassen könnte, zu betrachten. Und drittens wird das proletarisch-klassenbewußte Engagement, das sich mit der Kommunistischen Partei verknüpft, zu präsentieren sein. Deutlich sei jene kulturelle Äußerungsform ins Zentrum gerückt, in der sich das Befreiungsstreben am prägnantesten und einleuchtendsten artikuliert. Dies geschieht in den Autobiographien, die im engen Zusammenhang mit den drei genannten Richtungen der Black Liberation Movement entstanden sind. Es ist eben ein Merkmal dieser Bewegungen, daß sie eine Literatur hervorgebracht haben, die ihre Eigenart aus der strikt funktionalen Einbettung in den akuten Lebensprozeß der Afroamerikaner bezieht, vielleicht sogar diesem Lebensprozeß als eines seiner Merkmale erwachsen ist. Freilich, um das entsprechend würdigen zu können, macht es sich erforderlich, ein weitergestecktes Terrain der afroamerikanischen Literatur - als Hintergrund gleichsam - mit in die Erörterung einzuschließen. Welche Entwicklungen gibt es im Roman, in der Dramatik, in der Lyrik der Afroamerikaner? Die teils traditionsgebundenen, teils allerdings umwälzenden Kunstkonzepte müssen zumindest angedeutet sein, auf daß mit dem soziologischen Kontext der Autobiographien auch der literarische verständlich wird. Und endlich schien es für das Verständnis der Kulminationsphase unabdingbar, in einer historischen Einleitung einen stichwortartigen Abriß der Vorgeschichte der Afroamerikaner zu vermitteln. Die vorliegende Arbeit ist in ihrem Entstehen besonders durch die Professoren Heinz Wüstenhagen und Leonhard Goldstein an der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht" in Potsdam gefördert worden. Für ständige Anregungen, Ermutigungen und Diskussionen fühle ich mich dankbar meinen Kollegen Robert Weimann, Günther Klotz und Utz Riese verpflichtet.

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Einleitung: Zur Geschichte der Afroamerikaner Afrikanische Herkunft und Sklaverei

Die meisten Vorfahren der Afroamerikaner entstammen Gebieten an der Westküste Afrikas, insbesondere zwischen dem Senegal im Norden und dem Kongo im Süden. Zur Zeit des Eindringens der europäischen Eroberer gab es hier bereits feudale Staaten mit sozialen Klassen und einer entwickelten Stufe der Arbeitsteilung: Trennung von Ackerbau und Handwerk, Warenwirtschaft. So hatte Timbuktu (am Niger in der heutigen Republik Mali) Ende des 16. Jahrhunderts 25 000 Einwohner. Horst Ihde bemerkt dazu, daß es als Zentrum des Handels und der Kultur in diesem Teil Afrikas nicht weniger berühmt war als Mailand oder Nürnberg im mittelalterlichen Europa. 1 Überhaupt hatten viele Völker Afrikas zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert Kulturen entwickelt, die an Reichtum und Mannigfaltigkeit denen europäischer Länder durchaus vergleichbar waren. Gerade in dem Gebiet, aus dem Amerika hauptsächlich seine Sklaven bezog, an der Guinea-Küste, hatten sich sehr früh schon reich bevölkerte und stark befestigte, zum Teil aus Tonziegeln errichtete Städte entwickelt. Ein hervorragendes Beispiel ist das 1897 von britischen Kolonialsöldnern total zerstörte Benin. Erhalten gebliebene Bronzeskulpturen und Elfenbeinarbeiten zeugen von außerordentlicher Kunstfertigkeit und einer hochentwickelten Technik. Noch wertvoller sind die Bronzegüsse und Terrakotten, die in Ife (Südnigeria) bereits im 13. Jahrhundert hergestellt wurden. Die Völker dieser Region verarbeiteten neben Kupfer und Bronze seit dem 15. Jahrhundert auch Eisen. Berühmt waren sie ebenfalls durch ihre Goldschmiede-, Web- und Töpferkunst. Jahrhundertelanger Sklavenhandel - seit dem 15. Jahrhundert waren dem afrikanischen Kontinent 65-75 Millionen oder noch mehr Menschen entführt worden, von denen nur 4 0 - 6 0 Prozent die Strapazen zuerst des Marsches aus dem Innern des Landes zur Küste und dann der monatelangen Überfahrt überstanden - und die nachfolgende Kolonialherrschaft fügten den bereits existierenden afrikanischen Zivi-

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lisationen Schäden zu, die sie in ihrer historischen Entwicklung weit zurückwarfen. Es gehört zur inneren Logik des Sklavensystems, daß das Wissen über die zum Teil hochstehenden Kulturen in den Herkunftsländern der amerikanischen Neger bis vor wenigen Jahren völlig im dunkeln gehalten wurde. Die aus ihrer Heimat gewaltsam entführten Menschen sahen sich nicht allein buchstäblich nackt, sondern auch geistig wehrlos mit einer völlig fremden und feindlichen Umgebung konfrontiert, in die sie auf brutalste Weise eingepaßt wurden. Ankunft und Kauf der ersten zwanzig „Negars" in der damaligen britischen Kolonie Virginia und damit im englischsprachigen Gebiet der heutigen USA überhaupt wurden 1619 von dem Pflanzer John Rolfe vermerkt. Zunächst wuchs der Anteil der Neger an der Bevölkerungszahl in den Tabak anbauenden Gebieten Virginia und Maryland längsam. 1669 waren es in Virginia 300, also 2 Prozent der damaligen Bevölkerung. Ihre soziale Stellung entsprach zu Beginn annähernd der von weißen Kontraktsklaven (indentured servants), von Leuten also, die eine bestimmte Anzahl von Jahren (etwa sieben) als Unfreie arbeiten mußten, um eine Schuld, meist die Kosten für die Überfahrt, abzutragen. Freilich bestand zwischen beiden von vornherein ein grundlegender Unterschied zum Nachteil der Neger, der sich in der Hautfarbe manifestierte. Die weißen Kontraktsklaven, zu denen auch kriminelle Deportierte zählten, wurden zwar ebenfalls unterdrückt und häufig mißhandelt und unmäßig ausgebeutet und nur in geringem Maße durch Gesetze geschützt - welch letzteres bei den Negern von vornherein gar nicht der Fall war. Aber sie hatten mit ihren „Masters" ein gemeinsames Herkunftsland, eine gemeinsame Sprache, Geschichte und Kultur - und konnten unter eventuell verbesserten Umständen ihnen sozial gleich werden. Für die Neger gab es nichts dergleichen. Sie waren nicht nur geographisch weit von ihrer Heimat entfernt, sie waren absolut Fremde in der Fremde. Weder ihre soziale Herkunft, noch ihre Sprache, noch ihre Kenntnisse vermochten ihnen einen Anhalt in der neuen Welt zu verleihen. Nichts verband sie mit den weißen „Masters", und diese konnten oder wollten in ihnen nur Ausbeutungsobjekte, keine - wie tief auch immer sozial gesunkene - christlichen Brüder sehen. Es gab auch keine politische oder juristische Macht, welche die Interessen der Neger hätte vertreten können. Selbst untereinander konnten sie sich, da sie häufig verschiedenen Völkern angehörten, kaum verständigen. So wurden bald und immer häufiger Unterschiede in der Behandlung und in der Länge des Sklavendienstes zwischen „Eng10

lishe" und „Negroes" gemacht, und schon ab 1640 war der „hereditary lifetime Service", die Sklaverei also, allgemein übliche und ab 1660 sogar legalisierte Praxis. Bereits in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts kamen die ersten Gesetzbücher über die Sklaverei heraus. Als moralische Rechtfertigung für die Negersklaverei galt allgemein die Kulturlosigkeit und Primitivität der Neger. Ein wichtiges psychisch-emotionales Moment für die diskriminierende Behandlung war unter anderem auch die angebliche „Häßlichkeit" der Neger. Der ökonomische Hintergrund dessen allerdings war, daß die in Entstehung begriffenen riesigen Tabak- und später Baumwollplan tagen zu der Zeit nicht ohne Zwangsarbeit betrieben werden konnten. Die zeitlich begrenzte Ausbeutung weißer Zuwanderer reichte nicht aus. Indianer erwiesen sich als ungeeignet, da sie einerseits vielfach keine Übung in der Feldarbeit hatten und sich andererseits durch Krankheiten rasch dezimierten, überdies konnten sie leicht fliehen. Aus Afrika importierte Neger dagegen zeigten sich geschickt in der Feldarbeit und in anderen ländlichen Gewerken und zudem ausdauernd und anpassungsfähig gegenüber den klimatischen Bedingungen. Das heißt, es war gerade nicht ihre Kulturlosigkeit, sondern ihre Herkunft aus Ländern mit einem relativ hohen Stand landwirtschaftlicher Produktion, die sie zu begehrten „field hands" machte. Die Lüge von der Geschichtslosigkeit der Afroamerikaner konnte sich freilich bis in die Gegenwart halten. Selbst Afroamerikaner mochten sich nicht auf Afrika zurückbeziehen. Das hat sich erst in den sechziger Jahren allgemein geändert. In erster Linie waren es aber dennoch Afroamerikaner selbst, die durch ihre Forschungen über Afrika die rassistische Lüge zu widerlegen suchten. So widmete sich der afroamerikanische Gelehrte und Freiheitskämpfer William Edward Burghardt Du Bois (1868-1963) dieser Aufgabe vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu seinem Tode. Das letzte große von ihm in Ghana begonnene Werk ist die Eticyclopaedia Africana. Einen wirklichen Aufschwung erfuhr die Afrika-Forschung erst in den sechziger Jahren, in größerem Maße erschienen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften über diesen Erdteil. Unter den Führern der afroamerikanischen Befreiungsbewegung der sechziger Jahre war es besonders Malcolm X, der die historische Wahrheit zu finden und zu propagieren suchte. Einen besonders populär gewordenen - und schon daher bedeutsamen - Beitrag leistete Alex Haley mit seinem auch in der D D R veröffentlichten Buch Roots (1976; Wurzeln). 11

Ebenso wie die Lüge über die Kulturlosigkeit Afrikas mußte die vom kindlich-glücklichen Sklaven überwunden werden. Die Sklaverei als paternalistische Institution - dieses Bild hat sich ebenfalls bis in unsere Tage erhalten. Der amerikanische Historiker Herbert Aptheker leistete Pionierarbeit, indem er in zahlreichen Werken nachwies, daß die Lebensbedingungen der Sklaven äußerst schlecht waren, da „Grausamkeit - d. h. tatsächliche physische Mißhandlung - ein wesentlicher Teil der Sklaverei" war und den Sklaven im allgemeinen nicht mehr - und in Krisenzeiten oft weniger - als lediglich animalischer Unterhalt zuteil wurde. 2 Wie wenig die Plantagenbesitzer selbst davon überzeugt waren, daß die Sklaven sich als glückliche Kinder fühlten, bezeugen die vielen Gesetze und Bestimmungen zur Verhinderung irgendwelcher Aktivitäten, die Freiheitsbestrebungen dienlich sein konnten. So war es bei Strafe verboten, einen Sklaven lesen und schreiben zu lehren. Sklaven durften nichts kaufen oder verkaufen ohne Zustimmung des „Masters". Sie durften sich nicht ohne Gegenwart eines Weißen versammeln, konnten keine gerichtlichen Aussagen machen, sofern Weiße betroffen waren. Letzteres galt im übrigen auch für freie Neger. Trotzdem kam es zu vielfältigen Formen des Widerstands. Viele Zehntausende gewannen auf dem unendlich mühevollen und gefährlichen Weg der Flucht ihre Freiheit. Möglich wurde dies hauptsächlich durch eine von Sklaven, freien Negern und weißen Gegnern der Sklaverei geschaffene Organisation, die „Underground Railroad". Die entflohene Sklavin Harriet Tubman allein führte auf diese Weise mehr als 300 ehemalige Leidensgenossen in den Norden. Die schärfste Weise des Freiheitsstrebens war die Rebellion. Herbert Aptheker vermochte nachzuweisen, daß es mindestens 250 registrierte Sklavenrevolten von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis 1860 gab, von denen die meisten in Krisenzeiten und insbesondere nach 1800 stattfanden. Die bekanntesten sind die von Denmark Vesey (1822) mit 6 600-9 000 Beteiligten, von Nat Turner (1831) und die des weißen Abolitionisten John Brown (1859, am Vorabend des Bürgerkrieges also). Individuelle, aber sehr verbreitete Formen des Protests waren nachlässige Arbeit, Beschädigung oder Zerstörung von Werkzeugen, Vortäuschen von Krankheit oder gar Selbstverstümmelung und verschiedentlich auch Selbstmord. Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, die Bewegung der Abolitionisten. Einen ersten bedeutenden Anstoß erhielt sie im Unabhängigkeits12

kämpf der Amerikaner, der nicht erst 1776 mit der Gründung der USA begann. Vielen und zum Teil einflußreichen Gründungsvätern wie Benjamin Franklin, John Adams und Thomas Paine war der Widerspruch zwischen ihrem eigenen Anspruch auf Freiheit und der fortgesetzten Sklaverei bewußt. Die rebellischen Aktivitäten der Neger und nicht zuletzt auch deren Beteiligung an den Unabhängigkeitskämpfen trugen entscheidend zur Entwicklung dieses Bewußtseins bei. Die Unabhängigkeitserklärung und insbesondere der Satz von der Gleichheit aller Menschen wurde zu einer ideologischen Plattform für die Abolitionisten. Organisierte Bestrebungen zur Überwindung der Sklaverei begannen bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und Afroamerikaner selbst waren stets in den vordersten Reihen. Die erste Phase ab 1773 war im wesentlichen eine Petitionskampagne; eine Reihe von Bittschriften, verfaßt von Sklaven und freien Negern, wurde an die regierenden Stellen verschiedener Kolonien und Provinzen mit der Forderung nach Aufhebung der Sklaverei gerichtet. Die bekannteste war David Walkers Appeal (Appell) von 1829. Die erste Negerorganisation, die Free African Society, wurde bereits 1787, übrigens unter Beteiligung von Paul Robesons Ururgroßvater, in Philadelphia gegründet. In anderen Städten bildeten sich ähnliche Gruppierungen, und bald begannen sie mit anderen abolitionistischen Organisationen, wie zum Beispiel den Quäkern, zu kooperieren. Die Blüte der Abolitionistenbewegung kam in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die erste abolitionistische Zeitung, Freedom's Journal, wurde 1827 herausgebracht. David Walker war einer ihrer Mitarbeiter. 1830 fand der erste nationale Konvent freier Neger in Philadelphia statt. Es wurde auch eine Free Produce Society gebildet, deren Hauptziel ein Boykott von Produkten war, die durch Sklavenarbeit entstanden. Darüber hinaus wurde auch schon - besonders nach Abschaffung der Sklaverei in verschiedenen Nordstaaten - der Kampf gegen die Rassendiskriminierung eingeleitet. Einen hervorragenden Anteil an der Wirksamkeit abolitionistischer Propaganda hatten die Lebensberichte ehemaliger Sklaven, die Slave narratives, die nicht nur aufklärend wirkten, sondern auch einen starken emotionalen Effekt hatten (wobei sie gleichzeitig auch ein gewisses Unterhaltungs- und Sensationsbedürfnis erfüllten). Die berühmteste Selbstdarstellung eines entlaufenen Sklaven, die später in zwei jeweils erweiterten Fassungen erschien, war die 1845 von Frederick Douglass geschriebene. Innerhalb von zwei Jahren wurden 11 000 Exemplare in den USA verkauft. In Großbritannien gab es neun Edi13

tionen, und man konnte sie sowohl in deutscher wie auch in französischer Sprache zur Kenntnis nehmen. Noch heute ist sie ein wertvolles, spannend zu lesendes zeitgeschichtliches Dokument. Frederick Douglass wurde 1847 Vorsitzender der New England Anti-Slavery-Society, und er war der erste Afroamerikaner, der selbständig eine Wochenzeitung - den North Star (1847-1860) - herausgab, die 1851 bereits 4 000 Abonnenten hatte. Es deutet sich hier bereits an, daß neben dem Beitrag, den die Negersklaven zu ihrer eigenen Befreiung und damit zum historischen Fortschritt in den USA geleistet haben, auch ihr Anteil an der Herausbildung der amerikanischen Nationalkultur von nicht geringer Bedeutung ist. Die von Afroamerikanern hervorgebrachte Kultur ist eine Kultur des Kampfes und des Widerstandes, der Lebensbejahung und des Lebensanspruchs gegenüber denkbar widrigen Umständen. Dafür seien hier nur einige Beispiele genannt. Von den Negersklaven, die hauptsächlich zur Feldarbeit bestimmt waren, konnten nur wenige ihre individuellen Fähigkeiten und Begabungen in entsprechend qualifizierter Arbeit realisieren. Dennoch ist die Tatsache bemerkenswert, daß 1865 unter den ca. 120 000 Handwerkern im Süden ca. 100 000 Neger waren. 3 Schmiedeeiserne Verzierungen an Türen und Gebäuden, z. B. in New Orleans, zeugen bis in die Gegenwart von ihrer Kunstfertigkeit. Man weiß auch, daß viele Sklavenhalter sich zusätzliche Einnahmen verschafften, indem sie ihre Neger-Handwerker zeitweilig „ausliehen". Pflege und Weitergabe ihrer heimatlichen Kultur und Folklore war den Sklaven äußerst erschwert, da sie als Angehörige sehr verschiedener Stämme sich in den meisten Fällen kaum untereinander verständigen konnten. Nicht einmal Ehe und Familie vermochten eine Grundlage für eine eigenständige Kultur herzugeben, da ihr Bestand völlig von der Willkür der Sklavenhalter abhing. So entstand eine Folklore, deren Besonderheit aus dem Rückgriff auf das afrikanische Erbe - dessen orale, tänzerische und mimetische Traditionen - einerseits und aus der Verarbeitung der neuen Lebens- und Umweltbedingungen andererseits resultierte. Charakteristische Zeugnisse dafür sind die Work Songs, Arbeitslieder, die meist auf dem afrikanischen Ritualschema des Rufens und Antwortens aufbauend, und dem Rhythmus der Arbeit folgend, sich in ihren Texten mit den Bedingungen des Sklavendaseins auseinandersetzten (sachlich deskriptiv oder humorvoll oder rebellisch), wobei die für alle gleichermaßen fremde englische Sprache als Mittel der Kommunikation angeeignet und genutzt wurde und somit als kulturstiftendes Element wirkte. 14

Mit der zunehmenden Christianisierung der Neger entstand - größtenteils in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — eine neue Art von Liedern, die Spirituals. Die in ihnen verarbeiteten Bibeltexte dienten nicht allein religiösen Zwecken. Vielmehr war ihr Sinn häufig doppeldeutig und nicht selten aufrührerisch gegen die Sklaverei gerichtet. Noch heute werden die Spirituals als Lieder der Hoffnung, als Erweckungslieder und als Volkslieder gesungen. Sie haben, wie weiter unten ausgeführt wird, einen starken inspiratorischen Impuls für die Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre gehabt. Die Sklavenlieder wurden schließlich zu einer wesentlichen Quelle des Blues, einer speziellen Schöpfung der proletarischen Neger um 1900. Hatte der etwas ältere Countryblues einer unbestimmten Sehnsucht, einem Verlangen, den Einengungen des Landlebens im Süden zu entfliehen, Ausdruck verliehen, so wurde der Cityblues zum Ausdrucksmittel für schmerzhaft empfundene Einsamkeit und Entfremdung sowie auch für den dennoch nie versiegenden Humor schwarzer Proletarier in der kapitalistischen Großstadt. In dem Maße wie der Blues damit Lebensgefühle ansprach, die ebenso von weißen Proletariern geteilt wurden, konnte der Blues ein nationales und schließlich internationales Publikum erreichen.

Befreiung und erneute Diskriminierung Am 1. Januar 1863, zwei Jahre nach Ausbruch des Bürgerkrieges, trat in den Südstaaten die am 22. September 1862 erklärte Emanzipation der Sklaven in Kraft. Sie ist nicht nur ein später, aber dennoch bedeutsamer Schritt zur Einlösung des mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 erhobenen bürgerlich-demokratischen Anspruchs der USA, sie ist mehr noch ein unumgängliches Zugeständnis an den Freiheitswillen der Neger in Anbetracht auch ihrer zunehmenden Rolle für den Sieg der Unionstruppen der Nordstaaten. Die dem Bürgerkrieg nachfolgende sogenannte Rekonstruktionsperiode (1865-1877) gilt als eine der progressivsten Phasen in der Geschichte der USA. Mit dem Abzug der nördlichen Besatzungstruppen 1877 fand sie freilich ihren endgültigen Abschluß, und der Weg war frei für die Herausbildung dessen, was der „neue Süden" genannt wird, ein System der Superexploitation und Diskriminierung der Afroamerikaner. Wie rasch demokratische Errungenschaften des vorangegangenen Jahrzehnts abgebaut wurden, mögen einige wenige Zahlen verdeut15

liehen. So wurde im Jahre 1869 der erste Afroamerikaner in den Congress gewählt, 1873 waren es schon fünf und 1875 sogar sechs. Aber in den nachfolgenden Wahlen bis 1899 gab es niemals mehr als einen Afroamerikaner in diesem Gremium. Zur Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung ihrer Herrschaftsinteressen bediente sich die Pflanzeraristokratie unter anderem verschiedener Terrororganisationen wie zum Beispiel des Ku-Klux-Klan (von griechisch kyklos = Kreis und englisch clan = Stamm, Sippe). Der war bereits 1865, also kurz nach Beendigung des Bürgerkriegs, in Pulaski, Tennessee, gegründet worden und ist bis heute, obwohl er 1871 einmal vom Congress verboten wurde, die gefürchtetste und einflußreichste rassistische Geheimorganisation in den USA. Tatsächlich wurde nach der Emanzipation nur ein kleiner Teil der ehemaligen Sklaven (etwa 25 Prozent) zu „freien" Lohnarbeitern. Die meisten blieben als Sharecroppers, als Teilpächter insofern von den Plantagenbesitzern persönlich abhängig, als sie darauf angewiesen waren, daß diese ihnen Land, Geräte, Saatgut und dergleichen zur Verfügung stellten. Dafür hatten sie Anspruch auf einen Teil der Ernte. Die entsprechenden Verträge waren in der Regel so, daß der ehemalige Sklave nach der „Abrechnung" ebenso verschuldet war wie im Jahr zuvor (oder noch tiefer). Black-Code-Gesetze (am berüchtigsten sind die von Mississippi) sorgten dafür, daß er sich nicht den „Verpflichtungen" entziehen konnte. 4 William Edward Burghardt Du Bois vergleicht daher zu Recht ihre soziale Lage mit der höriger Bauern in Europa zur Feudalzeit, wobei er feststellt, daß es sich nicht um ein System der freien Arbeit handelt, sondern einfach um eine Form von Schuldsklaverei (peonage) bzw. von Leibeigenschaft (serfdom). 5 Auch im öffentlichen Leben setzte sich die Diskriminierung, das sogenannte Jim-Crow-System immer mehr durch. Neger durften nicht mit Weißen zusammen in öffentlichen Einrichtungen verkehren, hatten getrennte Schulen, Kirchen und gesonderte Bereiche in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants, Theatern und dergleichen zu benutzen. Ehen zwischen Negern und Weißen waren verboten, und Farbige durften nicht Richter oder in irgendeiner Weise Gesetzeshüter sein. Begünstigt wurden diese Entwicklungen, zu denen auch einschneidende Behinderungen in der Ausübung des Wahlrechts gehörten, durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts aus dem Jahre 1883, die das Bürgerrechtsgesetz von 1875, welches den Negern gleiche Rechte wie den Weißen garantierte, als „verfassungswidrig" außer Kraft setzte. 16

Dennoch blieb eine der wichtigsten Errungenschaften der Afroamerikaner nach 1865 das - wie auch immer behinderte - Recht auf Bildung. So wurden zahlreiche, wenn auch oft sehr primitiv ausgestattete Schulen und einige Universitäten (zum Beispiel 1866 die FiskUniversität in Nashville, Tennessee) und höhere Schulen geschaffen. Booker T. Washington, ein ehemaliger Sklave, übernahm 1881 die Leitung der Tuskegee-Schule (in Tuskegee, Alabama), die eine der berühmtesten Bildungseinrichtungen für Neger wurde. Mit Booker T. Washington (1856-1915) war der Emanzipationsbewegung ein neuer, einflußreicher Führer erwachsen. In seiner Autobiographie Up frotn Slavery (1901; Aus der Sklaverei empor I) schildert er seinen langen und mühevollen Weg zum Erfolg. Im Gegensatz aber zu dem älteren Frederick Douglass und zu dem jüngeren Du Bois vertrat er ein versöhnlerisches Konzept der Selbstbescheidung und Anpassung für Afroamerikaner. Dementsprechend dominierte an seinem Tuskegee-Institut die Ausbildung handwerklicher Fertigkeiten im Sinne einer Berufsausbildung. Dagegen machte der 1868 in Great Barrington, Massachusetts, geborene William Edward Burghardt Du Bois den Kampf um die volle intellektuelle und kulturelle Gleichberechtigung der Neger zu seinem Lebensinhalt. Die öffentlich geführte Kontroverse zwischen ihm und B. T. Washington steht gleichsam für den Widerspruch zweier Führungskonzepte, der bis zum heutigen Tage aktuell geblieben ist. Dabei hat allerdings inzwischen das kleinbürgerliche Programm B. T. Washingtons sowie insgesamt eine Haltung, wie sie auch in Harriett Beecher Stowes berühmten Roman Uncle Torn's Cabin (1852; Onkel Toms Hütte) vorgeführt wird, eine weitgehende Ablehnung erfahren, während sich die Befreiungskämpfer der sechziger Jahre verstärkt auf revolutionäre Vorbilder wie Denmark Vesey, Nat Turner, Frederick Douglass und nicht zuletzt auch den erst 1963' verstorbenen Du Bois orientierten. Im übrigen markieren die Romane und Erzählungen von Charles W. Chesnutt (1858-1932) und Sutton E . Griggs (1872-1930) sowie die Lyrik und Prosa von Paul Lawrence Dunbar (1872-1906) den Eintritt afroamerikanischer Autoren in den weißen Literaturmarkt um 1900. 6

Von der Jahrhundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts begann eine massenhafte Umsiedlerbewegung der Afroamerikaner aus dem ländlichen Süden nach dem Urbanen Norden, die sehr folgenreich war. Immer schon übte 2

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der „freie" Norden eine gewisse Anziehungskraft auf die im Süden lebenden Afroamerikaner aus. Während aber die Abwanderungsrate zwischen 1870 und 1879 ca. 47 000 betrug, stieg die Zahl zwischen 1900 und 1909 auf 216 000 und in den zwanziger Jahren sogar auf 769 000. Hauptursache für diesen sozialen Umschichtungsprozeß war die ökonomische und soziale Misere der zumeist aussichtslos verschuldeten schwarzen Farmer und Landarbeiter einerseits, aber andererseits auch die Attraktion, die von den scheinbaren und teils tatsächlichen sozialen Möglichkeiten ausging, die sich aus der im Aufschwung begriffenen Schwerindustrie besonders nach Ausbruch des ersten Weltkrieges ergaben. Der Zuzug farbiger Familien, die ihrerseits wiederum Verwandte und Freunde nach sich zogen, in bestimmte, meist ärmliche Wohngegenden der großen Städte bewirkte in der Regel einen Exodus weißer Bewohner, so daß es innerhalb weniger Jahrzehnte zur Herausbildung von schwarzen Gettos in den meisten großen Städten des Landes kam. Mit der Umsiedlung vom rückständig ländlichen Süden in die Industriestädte des Nordens verband sich eine radikale Veränderung aller Lebensumstände, und das war für viele außerordentlich schwierig zu meistern. Hinzu kam die unvermeidbare Desillusionierung angesichts der Superexploitation und der nach wie vor offenen oder versteckten Diskriminierung, der sie sich ausgesetzt sahen. Dennoch eröffnete die proletarisch-urbane Lebensform den Zugewanderten historisch neue Perspektiven. Zum ersten Mal erfuhren sie, die im Süden gewöhnlich ländlich verstreut gelebt hatten, sich als Teil einer großen Masse arbeitender Menschen, die, alle auf engem Raum zusammengepfercht lebend und unter der gleichen sozialen Misere leidend, doch auch die Organisationspotenz dieser großen Masse zu spüren begannen. Ein neues, aktiveres, stolzeres Bewußtsein ihrer selbst bildete sich heraus. Mit der Bezeichnung New negro für diesen Typ des städtischen Afroamerikaners trugen selbst rassistisch oder zumindest paternalistisch eingestellte Historiker dieser Veränderung Rechnung. Verteidiger des Rassismus im Süden sahen sich der Gefahr gegenüber, daß eine solche Art des Selbstbewußtseins auch auf die einheimischen „Nigger" übergreifen und die Subordinationsverhältnisse gefährden könnte. Verstärkte Aktivitäten des Ku-Klux-Klan sollten dem Einhalt gebieten. Opfer dieses neuerlich auflebenden Terrors wurden insbesondere auch heimkehrende Teilnehmer des ersten Weltkrieges, die sich nicht schnell genug wieder in das alte Schema, das 18

übrigens auch in der Armee niemals völlig aufgehoben war, einfügen wollten. Trotzdem ließ sich der neue rebellische Geist — er muß durchaus auch im welthistorischen Kontext der Oktoberrevolution in Rußland gesehen werden - nicht ganz unterdrücken, und es kam allein im Jahre 1919 im ganzen Lande zu weit mehr als zwanzig bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen weißen Rassisten und Afroamerikanern, bei denen nicht nur Schwarze, sondern auch Weiße getötet wurden. Als eine der ersten großen Urbanen Massenaktionen und als Ausdruck eines beginnenden solidarischen Bewußtseins darf der Schweigemarsch von 10 000 Afroamerikanern gelten, der 1917 in New York aus Protest gegen die Ermordung von 100 Negern in einem Rassenkonflikt in East St. Louis, Illinois, stattfand. Mit der Herausbildung dicht bevölkerter Wohngebiete in den Großstädten und des Bewußtseins der Afroamerikaner von sich selbst als einer distinktiven sozialen Gruppe mit gemeinsamen sozialen Interessen waren erstmals in der Geschichte des Landes Voraussetzungen zu ihrer politischen Organisation gegeben. Charakteristisch für die amerikanischen Verhältnisse ist der Umstand, daß sich das Organisationsstreben nicht auf die proletarische Klassenzugehörigkeit der Afroamerikaner gründete; unter anderem deshalb nicht, weil der Zugang zu den Gewerkschaften ihnen weitgehend versperrt war. Bereits 1905 war von Du Bois die Niagara-Bewegung gegen Diskriminierung und Rassentrennung (entgegen dem Konzept von Booker T. Washington) gegründet worden. Sie war ein Vorläufer der 1909 ins Leben gerufenen National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), der Nationalen Vereinigung zur Förderung der Farbigen. Diese vom Ku-Klux-Klan wütend verfolgte Organisation erwarb sich große Verdienste vor allem bei der Verteidigung bürgerlicher Grundrechte der Afroamerikaner gegenüber der Justiz, aber sie blieb eine mehr intellektuelle Einrichtung ohne eigentliche Massenbasis. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die von der Organisation herausgegebene Zeitschrift The Crisis sich unter der Leitung von Du Bois (zwischen 1910 und 1934) zu einem höchst bedeutsamen Artikulationsorgan der Befreiungsbewegung und nicht zuletzt zu einem Forum für junge farbige Autoren und also zu einem wichtigen Instrument zur Förderung der Negerliteratur entwickelte. Der aus Jamaika gebürtige Marcus Garvey (1887-1940) war als erster in der Lage, die proletarischen Massen in den schwarzen Gettos direkt anzusprechen und für seine Ziele zu begeistern. Unter der Losung „Zurück nach AfrikaI" brachte er zwischen 1917 und 1925, dem 2*

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Jahr seiner Verhaftung und Ausweisung aus den USA, von Harlem aus eine Bewegung in Gang, die nach unterschiedlichen Angaben der Historiker zwischen 10 000 und sechs Millionen Anhänger umfaßte. Die Unzufriedenheit und Frustration der Afroamerikaner über den Umstand, daß sie nach fünfzig Jahren sogenannter Freiheit von der Sklaverei echte Freiheit weder im Süden noch im Norden hatten finden können, war der Anknüpfungspunkt für Garveys These, daß die Neger in den USA als nationale Minderheit niemals Aussicht hätten, wirkliche Gleichberechtigung zu erringen. Statt dessen sollten sie nach Afrika, dem Land ihrer Väter, zurückkehren, dort den Kolonialismus besiegen und eine weltweite Gemeinschaft freier farbiger Völker errichten helfen. Obwohl Garvey einem letztlich kleinbürgerlichen Gesellschaftskonzept folgte und sich antikommunistisch und später sogar als Prophet des Faschismus gebärdete, hatten die wenigen Jahre seines Wirkens in den USA einen außerordentlichen Fortschritt in der Entwicklung des Selbst- und Gemeinschaftsgefühls der Afroamerikaner sowie ihrer Verbundenheit mit dem Ursprungsland und schließlich in der Popularisierung ihres kulturellen und historischen Erbes produziert. Somit ist Marcus Garvey trotz aller notwendigen Abstriche ein legitimer Vater des New negro und untrennbar verknüpft mit dem Aufschwung des kulturellen Lebens in den zwanziger Jahren in Harlem, mit dem also, was allgemein als Harlem-Renaissance bezeichnet wird. Nach dem ersten Weltkrieg nahm der Vergnügungs- und Unterhaltungsbetrieb in den großen Städten einen stürmischen Aufschwung. Ein stimulierender Faktor war dabei eine neuartige Musik, der Jazz. Die Jahre zwischen 1917 und 1929 werden daher häufig auch als Jazz age bezeichnet. Musikalische Ausgangsform des Jazz ist der Blues, der wiederum auf weltliche und geistliche Volkslieder der Neger zurückgeht. Berühmt wurden beispielsweise der Blues-Komponist William C. Handy (1873-1958), die Blues Sängerinnen Ma Rainey (1886-1939) und Bessie Smith (1894-1937) sowie zahlreiche Bands. Bedenkt man, daß der Jazz von den USA aus sich in vielfältigen Formen und Wandlungen (auch kommerzialisiert) über die ganze Welt verbreitete, so kann man mit Recht sagen, daß die Schaffung dieser Musikform ein spezifischer Beitrag der Afroamerikaner zur Weltkultur ist. Die Popularität des Blues und des Jazz förderten allgemein ein verstärktes Interesse für künstlerische Aktivitäten der Afroamerikaner. Insbesondere Harlem wurde zu einem Ort der Attraktion und der 20

Inspiration für farbige Künstler und Intellektuelle in den zwanziger Jahren. Zahlreiche Maler, Bildhauer, Schriftsteller und Dichter, Schauspieler und Sänger ließen sich in Harlem nieder, und es kam zu einer ersten Blüte der professionellen Kunst der Afroamerikaner. E r wähnt seien so hervorragende Vertreter wie die Tänzerin Josefine Baker (1906-1975), der Sänger und Schauspieler Paul Robeson (1898 bis 1976), der Schriftsteller James Weldon Johnson (1871-1938), die Dichter Claude McKay (1890-1948), Countee Cullen (1903-1946) und schließlich: Langston Hughes (1902-1967). Es war Langston Hughes, der 1926 ein ästhetisches Programm verkündete, wie es dem Bewußtsein der neuen städtischen Negergeneration entsprach: „Wir, die jüngeren Negerkünstler, die jetzt wirksam sind, wollen unser persönliches dunkelhäutiges Ich ohne Furcht und Scham zum Ausdruck bringen. Wir freuen uns, wenn das den Weißen gefällt. Gefällt es ihnen nicht, macht es auch nichts. Wir wissen, daß wir schön sind. Und auch häßlich . . . Wir bauen unsere Tempel für das Morgen, so stark wir es vermögen, und wir stehen auf dem Gipfel des Berges, innerlich frei." 7 Mit seinem Schaffen markiert er sowohl den künstlerischen Höhepunkt der Harlem-Renaissance wie auch den Übergang zur sozial engagierten Protestliteratur der dreißiger Jahre, die als Red decade, als rotes Jahrzehnt, in die amerikanische Geschichte eingegangen sind.

Die Rote Dekade Mit dem Börsenkrach am 24. Oktober 1929 in New York brach eine Überproduktionskrise aus, die rasch die gesamte kapitalistische Welt erfaßte. In den USA zerstörte sie gründlich die Illusion von der Krisenfestigkeit und beständigen Prosperität des Systems. Millionen arbeitender Menschen verloren ihre Ersparnisse, ihren Arbeitsplatz, verschuldeten, mußten ihre Wohnstätten räumen, durchlitten Hunger und Obdachlosigkeit, Krankheit und Demütigung. Am schlimmsten waren auch diesmal die Afroamerikaner betroffen. Bei ihnen lag die Zahl derjenigen, die auf öffentliche Wohlfahrt angewiesen waren, drei- bis viermal so hoch wie bei Weißen: 25 bis 40 Prozent und darüber. Selbst 1940, als die Depression ihren Tiefpunkt längst überschritten hatte, schwankte die Zahl der Arbeitslosen noch zwischen 16 und 40 Prozent, war also immer noch doppelt so hoch wie bei Weißen. Der Spruch „Zuletzt geheuert - zuerst gefeuert" war bittere 21

Wahrheit für sie. Selbst die New-Deäl-Politik des 1932 nicht zuletzt auch mit Hilfe der schwarzen Wählerstimmen ins Amt gekommenen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (der mit ihr erstmals staatsmonopolistische Lenkungsmechanismen erprobte und das System vor einer Revolution zu bewahren suchte) änderte die Situation der Afroamerikaner nicht grundlegend; wie überhaupt die gesamte Wirtschaftslage erst mit dem Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg (am 8. Dezember 1941) sich entscheidend zu verbessern begann. Hatten sich bereits nach dem ersten Weltkrieg rebellische oder gar revolutionäre Tendenzen unter den Afroamerikanern bemerkbar gemacht, die bis zur offenen Befürwortung sowjetischer Lehren reichten (was schon zu entsprechenden Gegenmaßnahmen seitens der Regierung und insbesondere des Generalstaatsanwaltes Palmer geführt hatte), so nahm nun die Politisierung der gesamten amerikanischen Arbeiterklasse und besonders der schwarzen Proletarier einen rapiden Aufschwung. Die 1919 gegründete KP der USA war die einzige Partei im Lande, die sich von Anfang an für die sozialen Probleme der Afroamerikaner einsetzte und das in ihnen angelegte revolutionäre Potential zu entfalten suchte. Diese in den zwanziger Jahren zunächst noch wenig fruchtbaren Bemühungen waren eine wichtige Grundlage für einige sichtbare Erfolge in dem nachfolgenden Jahrzehnt. Betrachtete die Partei die Afroamerikaner fälschlich als eine eigenständige (und unterdrückte) Nation, so richtete sie ihr entscheidendes Augenmerk doch auf die Überwindung der Rassenspaltung innerhalb der amerikanischen Arbeiterklasse. So war schon 1925 der American Negro Labor Congress (ANLC) gegründet worden, der sowohl weiße als auch schwarze Arbeiter umfaßte und ebenso eine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Afroamerikaner anstrebte. In der Zeit der Krise und der nachfolgenden Depression bemühte sich die Partei besonders um die Organisierung der Arbeitslosen (Bildung von Arbeitslosenräten) und von Protestbewegungen (wie zum Beispiel der Hungermärsche von 1931 und 1932). Ebenfalls große Verdienste erwarb sich die Partei bei der Organisierung der Landarbeiter und Teilpächter im Süden, die dadurch erstmalig als eine politische und soziale Macht in Erscheinung treten konnten. Wirkliche Popularität gewann die Partei durch ihren auch mit Hilfe internationaler Solidarität geführten Kampf um das Leben einer Gruppe von neun Negerjungen, der Scottsboro boys. Ihnen wurde in einer falschen Anklage die Vergewaltigung zweier weißer Frauen in Scottsboro, Alabama, zur Last gelegt, und sie wurden zum Tode verurteilt. Zwar dau22

erte es fast zwanzig Jahre (bis 1950), ehe auch der letzte der „Jungen" freigekämpft werden konnte, aber ihr Leben blieb erhalten. Fast ebensoviel Aufsehen erregte der Fall des afroamerikanischen Kommunisten Angelo Herndon, der als Anführer einer Demonstration schwarzer und weißer Arbeitsloser 1932 verhaftet und zu zwanzig Jahren Haft verurteilt worden war. Fünf Jahre dauerte die Kampagne um seinen Freispruch. Die Kommunistische Partei nominierte 1932 den Arbeiterführer William Z. Foster zum Präsidentschaftskandidaten und benannte mit James W. Ford erstmalig in der Landesgeschichte einen Afroamerikaner für das Amt des Vizepräsidenten. Für die gewerkschaftliche Organisation der Afroamerikaner wurden die Industriegewerkschaften des 1938 gegründeten Dachverbands Congress of Industrial Organization« (CIO) bedeutungsvoll, da sie - nicht zuletzt dank des unermüdlichen Wirkens der Partei - keine Rassendiskriminierung praktizierten. Nach all dem ist es sicher kein Zufall, daß unter den 75 000 Mitgliedern, die die Partei 1938 zählte, 14 Prozent Afroamerikaner waren; das sind 4 Prozent mehr, als ihrem Anteil an der damaligen Bevölkerung der USA entsprach. Die Wirtschaftskrise hatte auch Künstler und Intellektuelle - unabhängig von der Hautfarbe - in eine katastrophale Lage gestürzt. Viele von ihnen begannen, genauer über das kapitalistische Wirtschaftssystem und Möglichkeiten grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen nachzudenken. Mit der Zeitschrift New Masses war bereits 1926 ein öffentliches Forum für solches Nachdenken und für daraus erwachsende literarische Aktivitäten entstanden. Unter der Leitung von Michael Gold förderte dieses Organ eine in Entstehung begriffene proletarische Literatur und setzte sich zugleich für die Interessen der Afroamerikaner ein. Von besonderer Bedeutung, vor allem für jüngere Autoren, wurden die gleichfalls von der KP organisierten John Reed Clubs. Deren Aufgabe war es, Schriftsteller und Künstler für die Revolution zu gewinnen, Autoren proletarischer Literatur aus der Isolation zu befreien und eine Verbindung zwischen Schreibenden, Beschriebenen und Lesern herzustellen.8 Waren bereits für viele Kulturschaffende der zwanziger Jahre Künstlertum und Marxismus keine einander ausschließenden Gegensätze gewesen, so kam in den dreißiger Jahren häufig ein aktives, wenn auch keineswegs widerspruchsfrei mit der Kommunistischen Partei verknüpftes Engagement hinzu. Das gilt für so bekannte Autoren wie Langston 23

Hughes, Claude McKay, Richard Wright, Ralph Ellison (in seiner Frühzeit), Arna Bontemps, ehester Hirnes und viele andere. Paul Robeson, der zu dieser Zeit in Großbritannien lebte, und' Du Bois näherten sich ebenfalls der Partei. Die Tatsache, daß die League of Professional Writers, der auch Countee Cullen und Langston Hughes angehörten, 1932 die Präsidentschaftskandidatur der Kommunisten Foster und Ford unterstützte, ist Ausdruck ihrer kompromißlosen Ablehnung des bestehenden Systems und des Wunsches nach revolutionärer Erneuerung. Abschließend müssen wir freilich festhalten, daß diese in manchen Ansätzen so vielversprechende Verbindung afroamerikanischer Bewegung mit der Kommunistischen Partei zum Ende der dreißiger Jahre ihren Höhepunkt überschritten hatte. Daran war zu einem großen Teil zunächst die Aufsplitterung der linken Kräfte selber schuld. Insbesondere auch die Taktik der KP in bezug auf den zweiten Weltkrieg, die sich innerhalb kurzer Zeit - aus zwar international begreifbaren Gründen - radikal änderte, verunsicherte viele ihrer Anhänger unter den Afroamerikanern. Am schwersten dürfte dabei der Umstand wiegen, daß im Zeichen des antifaschistischen Bündnisses die Verfechtung afroamerikanischer Belange an eine zweite Stelle gerückt wurde. Das konnten die Betroffenen umso schwerer verstehen, als sie in ihrem Armeedienst selbst, der ihnen unter der propagandistischen Formel eines Kampfes für Demokratie angetragen war, zu einem neuen Selbstbewußtsein fanden. Diese zwiespältige Konstellation äußerte sich nach dem Krieg in folgendem Sachverhalt. Einerseits schwören unter den Schlägen des kalten Krieges und des McCarthyismus viele afroamerikanische (wie auch weiße) Intellektuelle ihren kommunistischen Neigungen öffentlich ab. Zum anderen sind die Afroamerikaner nun aber immer weniger bereit, sich weiterhin in der hergebrachten Form diskriminieren zu lassen. So kommt es denn seit Mitte der fünfziger Jahre erstens zu der groß angelegten, aber liberal motivierten Bürgerrechtsbewegung, die auf Integration zielt, zweitens zu der schwarz-nationalistischen Strömung, die auf Separierung drängt; drittens allerdings behält die Kommunistische Partei trotz aller schier unermeßlichen Schwierigkeiten einen gewissen Einfluß. Mit der Benennung dieser drei Tendenzen haben wir uns dem Hauptgegenstand dieses Bandes genähert.

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Bürgerrechtsbewegung und liberales Engagement in der Literatur

Wenden wir uns jetzt der Bürgerrechtsbewegung im einzelnen zu. Nach einem kurzen Abriß ihrer Geschichte werden wir uns auf. die literarischen Zeugnisse konzentrieren, die in einem meistens engen Funktionszusammenhang mit ihr entstanden sind. Anne Moodys Autobiographie gibt uns einen Eindruck von der Urbanisierung (und teils auch Proletarisierung) der Afroamerikaner im Süden der USA selbst, und in dem Kontext vom Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung. Claude Brown wiederum ist nicht nur als Erbe der Süd-Nord-Tendenz schon in einem New Yorker Slum aufgewachsen, er stellt auch Fragen, die das Rassenproblem bereits im Rahmen liberaler Erwägungen und Illusionen gesellschaftspolitisch zu entschärfen drohen. Zugleich verweist er auf eine Literatur, die besonders in den siebziger Jahren aus dem Gettoleben selbst erwächst und dieses zum Gegenstand hat. Das gilt für sein Buch The Children of Ham (1976; Die Nachkommen Hams), das die Lebensgeschichte von zwölf Jugendlichen in „Interviews" erfaßt, und ebenso für Schriftstellerinnen/ Autoren wie Louise Meriwether, Sandra Young, Toni Morrison u. a. James Baldwin hingegen, dieser weltbekannte Autor, hat in seiner Essayistik autobiographische Betroffenheit mit einem sozialen Engagement in einer solchen Weise zu verknüpfen gewußt, daß die progressive Wirkung seiner prinzipiell liberalen Haltung letztlich nicht zu verwischen war. Die Bürgerrechtsbewegung Wenn wir hier von der Bürgerrechtsbewegung sprechen, so meinen wir jene breite Strömung unter den Afroamerikanern, die Mitte der fünfziger Jahre weltweite Aufmerksamkeit erregte. Selbstverständlich ist der Gedanke, die von der Verfassung garantierte Gleichheit vor dem Gesetz auch in die Praxis umzusetzen, keineswegs neu. Man darf 25

sagen, daß praktisch seit der Zeit, da die Ergebnisse der Rekonstruktionsperiode vernichtet wurden, ein beständiger Kampf um die Anerkennung der Bürgerrechte geführt wurde. Doch dies geschah kaum in der Form von Massenbewegungen. Die bis dahin einzige größere Massenbewegung unseres Jahrhunderts war der Garveyismus, und der war ja eher auf die Auswanderung, damit auf die Separierung der Afroamerikaner und insofern höchstens indirekt auf ihre Gleichstellung in den USA selbst orientiert. E s entstanden zwar allmählich schwarze Organisationen zur Verbesserung ihrer Lage, doch sie gingen im wesentlichen legalistisch vor. Als Beispiel bietet sich insbesondere die NAACP an, die 1909 gegründet wurde. Ihr Hauptziel war es, durch einen juristisch versierten Beistand vor Gericht das den Afroamerikanern gesetzlich Mögliche zu erzwingen. Dieses Vorgehen konnte sich aber immer nur auf die geringe Zahl der Studierten, insbesondere der Rechtsanwälte als aktiven Personen stützen, die Betroffenen selbst blieben weitgehend passiv. Ist mit dieser groben Charakterisierung auch keineswegs das historische Verdienst solcher Organisationen wie der NAACP geschmälert, so wird aber erst vor dem Hintergrund der ihnen auferlegten Grenzen die Bedeutung der neuerlichen Phase der Bürgerrechtsbewegung klar. Erstmals nämlich entstand auf der Rechtsgrundlage zunächst rein juristischer Entscheidungen eine Massenbewegung. Diese nun war so stark - und so tiefgreifend organisiert - , daß sie auch imstande war, der (bürgerlichen) Legalität zu einer wenigstens partiellen Praxis zu verhelfen. Denn der Staat selbst (das betrifft vor allem, aber nicht nur die südlichen Bundesstaaten) war dazu weder gewillt noch in der Lage. Um konkret zu werden: Auslösendes Moment der hier zu behandelnden Vorgänge war der Beschluß des obersten Bundesgerichts von 1954, die Segregation an den Schulen aufzuheben. Damit wurde ein weiter Prozeß eingeleitet, die Rassentrennung in den Südstaaten für ungesetzlich zu erklären. Schulen und Universitäten, Busse und Parkbänke, Restaurants und öffentliche Toiletten gab es auf Grund der sogenannten Jim-Crow-Gesetze für Weiße und Schwarze separat. Diese Diskriminierung galt seither als verfassungswidrig. Den Verfassungsspruch zumindest teilweise zur Verfassungswirklichkeit werden zu lassen, bedurfte es eines hohen Grades von persönlichem Einsatz und organisatorischer Kraft unter den Afroamerikanern. Es ist dieser glücklichen Fügung von Spontaneität und Organisation zu danken, daß eine über weite Strecken erfolgreiche Massenbewegung entstehen konnte.

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Ihr spontaner Ausgangspunkt ist ein alltäglich anmutendes Ereignis. Hören wir uns an, wie Martin Luther King dieses beschreibt: „Am 1. Dezember 1955 stieg eine gutaussehende Negerin, die Näherin Mrs. Rosa Parks, im Hauptgeschäftsviertel von Montgomery in den . . . Bus. Sie befand sich auf dem Heimweg von der Montgomery Fair, einem großen Warenhaus, in dem sie tagsüber arbeitete. Müde vom stundenlangen Umherlaufen und Umherstehen, setzte sie sich auf den ersten Sitz hinter den für die Weißen reservierten Plätzen. Kaum hatte sie sich hingesetzt, befahl ihr der Busführer, mit noch drei Negern weiter nach hinten zu gehen, um weißen Fahrgästen Platz zu machen, die gerade einstiegen. Inzwischen waren alle Plätze im Bus besetzt. Das bedeutete, daß Mrs. Parks, wenn sie den Befehl des Fahrers befolgte, stehen mußte, während ein weißer, männlicher Fahrgast sitzen konnte. Die anderen drei Neger kamen sofort der Aufforderung des Fahrers nach. Aber Mrs. Parks blieb ruhig sitzen. Die Folge davon war, daß sie verhaftet wurde." 9 Dieses war nicht das erste Mal geschehen, doch dieses Mal wurde die zufällige Einzelaktion zu einem Fanal des Widerstands. Das war möglich, weil bestimmte Formen der Organisation vorausgegangen waren. Diese konzentrierten sich zunächst auf den Bereich der afroamerikanischen Kirchen. Es ist überhaupt ein Kennzeichen der Black Liberation Movement, daß sie weniger ihr Organisationszentrum in den Betrieben hatte - wie man es erwarten könnte, wenn man berücksichtigt, daß im Laufe des 20. Jahrhunderts der größte Teil der afroamerikanischen Bevölkerung zum Proletariat gestoßen ist. Vielmehr wurden die Wohngebiete zum Mittelpunkt des politischen Zusammenschlusses. Es entspricht diesem Tatbestand, daß in der Mehrzahl der Fälle auch nicht die - sowieso recht schwachen - Arbeiterparteien die Befreiungsbewegung im großen Stil anführen konnten. Wohl aber hat seit je die afroamerikanische Kirchengemeinde ein wesentliches Zentrum der staatsbürgerlichen Opposition gebildet. Auf besonders vorteilhafte Weise und mit historischer Konsequenz war das nun auch hier der Fall. Es hatte sich nämlich ergeben, daß seit Januar 1954 in eben jenem Montgomery, Alabama, ein junger Baptistenpfarrer namens Martin Luther King tätig war. Von vornherein ging es ihm darum, Fragen religiöser Erbauung zu überschreiten und vor allem der Lösung sozialer Probleme dienstbar zu machen; unter anderem gründete er bald nach seiner Ankunft ein „politisches Aktionskomitee". Als Mrs. Rosa Parks verhaftet war, wurde die Bedeutung Martin Luther Kings so27

fort sichtbar. Am 2. Dezember 1955 fand in seiner Kirche eine Versammlung statt, auf der beschlossen wurde, am Montag, dem 5. D e zember, den Busverkehr zu boykottieren. Dieser Boykott wurde von mehr als 90 Prozent der schwarzen Einwohner befolgt. E r dauerte rund ein Jahr, bis er erfolgreich beendet werden konnte. Von besonderer Bedeutung an diesem Vorgang ist eine seiner Folgen, nämlich die Tatsache, daß eine überregionale Führungsorganisation ins Leben gerufen wurde. Ende 1956 konstituierte sich in Atlanta, Georgia, die Southern Christian Leadership Conference, der christliche Führungsrat des Südens. Dieser stand unter dem Vorsitz von Martin Luther King. Sein Ziel war die Sammlung aller Kräfte der schwarzen Bevölkerung. Insbesondere ging es um die Koordination der unterschiedlichen Aktionskomitees. Das betraf unter anderem die bereits mehrfach erwähnte NAACP oder den seit 1924 bestehenden Congress of Raciat Equality (CORE). Darüber hinaus gelang es Martin Luther King, Einfluß unter den liberalen Weißen vor allem des Nordens zu gewinnen. Insofern ist es verständlich, daß mit Aufflammen der Studentenbewegung 1960 ein Student Nonviolent CoordinatingCommittee entstehen und der Organisation Martin Luther Kings zur Seite treten konnte. Die Taktik dieses Studentenkomitees bestand darin, daß häufig gemischte, aus Schwarzen und Weißen gebildete Gruppen im Süden in Theatern, an Badestränden, in weißen Kirchen die Segregation durch ihre Anwesenheit aufhoben. Bei diesen Sit-ins, Walk-ins, Swimins etc., setzten sie sich beständig der Gewalt der Rassisten aus. Das ideologische Programm der inzwischen weitverzweigten Bürgerrechtsbewegung wird am deutlichsten in der Rede, die Martin Luther King 1963 beim „Marsch auf Washington" hielt. Aus allen Teilen des Landes waren Hunderttausende, Schwarze und Weiße, zusammengekommen, um gegen das Weiterbestehen der Diskriminierung zu protestieren. Zwei Aspekte dürfen wir hauptsächlich für den E r folg dieser und anderer Bürgerrechtsaktionen verantwortlich machen. Es sind dies erstens das strikte Prinzip der Gewaltlosigkeit und zweitens der ebenso vernunftorientierte wie emotionsheischende Rückbezug auf den „amerikanischen Traum", d. h. auf die liberale Tradition der individuellen Selbstverwirklichung unter dem Ideal absoluter Chancengleichheit. Dieser Ansatz, der keineswegs unproblematisch ist (darüber sogleich mehr), war aber doch geeignet, das Bündnis breiter Schichten bis hinein in die sogenannte Middle class zu ermöglichen. Das ist ein Verdienst, das Martin Luther King internationale Anerkennung und 1964 den Friedensnobelpreis eintrug. Dieses Verdienst 28

ist gegen linksradikale Attacken zu verteidigen; die tatsächliche Aktionseinheit der Massen ist ein Erfahrungsreservoir, das jede Sicht der Dinge, die den zweifellos vorhandenen bürgerlich-liberalen Opportunismus in den Vordergrund stellt, als sektiererisch und perspektivlos erscheinen läßt. Dennoch sei auf die Zwiespältigkeit des von Martin Luther King vorgetragenen Konzepts am Beispiel zweier Zitate verwiesen, die für sich sprechen mögen. Zum Prinzip der Gewaltlosigkeit etwa heißt es in einer seiner Reden: „Wir werden eurer physischen Gewalt mit Seelenstärke begegnen. Wir können nicht guten Gewissens eure ungerechten Gesetze befolgen. Werft uns ins Gefängnis, und wir werden euch dennoch lieben. Schickt eure Kapuzenträger in unsere Wohngebiete . . . und schlagt uns und laßt uns halbtot liegen, und wir werden euch dennoch lieben. Aber seid sicher, daß wir euch mit unserer Fähigkeit, Leiden zu ertragen, zu Boden zwingen werden." 10 Und in seiner Rede beim „Marsch auf Washington" sagte er die berühmten Worte: „Trotz aller Schwierigkeiten und Enttäuschungen habe ich noch immer einen Träum. Es ist ein Traum, tief verwurzelt im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, daß diese Nation sich eines Tages erheben und nach dem wahren Sinn ihres Credos leben wird." 11 Handelt es sich aber nicht in dem einen wie in dem andern Fall um die liberale Illusion von der prinzipiellen Funktionstüchtigkeit bürgerlicher Demokratie? Wie dem auch sei, der Schwerpunkt der Konzeption von Martin Luther King liegt auf der historisch richtigen Linie der Integration der afroamerikanischen Bevölkerung in die amerikanische Gesellschaft. Den Höhepunkt erreichte die Bewegung, als 1964 das Bürgerrechtsgesetz verabschiedet wurde. Damit endlich war wenigstens in formaler Hinsicht der zweihundertjährige Anspruch auf bürgerliche Gleichheit erfüllt. Freilich zeigte sich, daß der formale Akt nur geringe praktische Vorteile mit sich brachte. Denn an den Arbeits- und Lebensbedingungen der Masse der Afroamerikaner änderte sich nichts, wenn nun auch gelegentlich Schwarze in den Staatsdienst, einschließlich den höheren Staatsdienst, aufgenommen wurden. Was nützte es den unterbezahlten afroamerikanischen Arbeitern, wenn sie zwar das Recht, ein teures Restaurant aufzusuchen, keineswegs aber das Geld dafür hatten? Dieses hier ein wenig lax skizzierte soziale Problem gab der Bürgerrechtsbewegung einen neuen Impuls, brachte sie zugleich aber in die Krise. Zunächst zeichnete sich das Aufkommen von Bürgerrechtskämpfen auch im Norden ab. Überdies gab sich ein erster Ansatz zu erkennen, mit der Hinwendung zu sozialen Fragen auch

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mehr proletarische Kampfmethoden zu gebrauchen. Das erwies sich 1968 in Memphis, Tennessee, wo Martin Luther King einen Streik von Arbeitern der städtischen Müllabfuhr unterstützte. Bei eben diesem Anlaß wurde er am 4. April 1968 ermordet. Die Krise der Bürgerrechtsbewegung, die den Übergang zu direkt sozial-politischen Zielen und entsprechenden Kampfformen trotz allem nur schwerlich finden konnte, wurde offensichtlich in den Hot summers zahlreicher Großstädte. Diese seit Mitte der sechziger Jahre häufig auftretenden Gettorebellionen materialisierten sich als eine zornige Absage an das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Freilich setzten sie an dessen Stelle ein allein spontanes Aufbegehren, dem jeder Erfolg, den nur die Organisiertheit garantiert, fehlen mußte. Zertrümmerte Schaufenster erzeugten keine Risse im System. Vielmehr bewirkten sie einen Zerfall der relativen Einheitsfront mit den liberalen Weißen. Dies wiederum ließ viele Afroamerikaner an der Bündnisfähigkeit der Weißen überhaupt zweifeln. So bildeten sich erneut schwarz-nationalistische Zirkel heraus. Doch das sei hier nur angedeutet (im nächsten Hauptkapitel wird es Gegenstand der Erörterung sein), um abschließend noch einmal die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung hervorzuheben. Wie Henry Winston, der afroamerikanische Vorsitzende der Kommunistischen Partei der USA, positiv herausstellt, weigerte sich King, „die Phraseologie der Gewalt an die Stelle des machtvollen Massenkampfes zu setzen" 12 . Die Integration der progressiven Kräfte schien ihm langfristig mehr Erfolg zu versprechen als die bloße Polarisierung kleiner Gruppen, die sich - wie die Praxis inzwischen längst bestätigt hat - nur allzu leicht von der Staatsmaschinerie zerschlagen oder an die politische Peripherie drängen lassen.

Zu einigen künstlerischen Ausdrucksformen der Bürgerrechtsbewegung Persönliches Engagement in der Bürgerrechtsbewegung und der Wunsch, die gewonnenen individuellen und allgemeinen Erfahrungen mitzuteilen sowie die rassistischen Gewaltakte öffentlich anzuprangern, wurden zum Stimulus für vielfältige künstlerische Aktivitäten. Nimmt die Autobiographie dabei auch eine Schlüsselstellung ein, so entfaltete sie ihre Blüte jedoch nicht unabhängig und isoliert vom literarischen Gesamtprozeß. Im Gegenteil, sie ist in diesen eingebunden und hat ihre besondere Funktion darin. Den Zusammenhang wenigstens in Umrissen zu charakterisieren, sei im folgenden versucht.

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Ein hervorstechendes Kommunikations- und Ausdrucksmittel der Bürgerrechtskämpfer war das gemeinsame Singen von Freiheitsliedern. Es stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl, trug zur Artikulation der Ziele und Motive der Bewegung bei, festigte das Vertrauen in die eigne Kraft und erhöhte das Selbstgefühl ihrer Teilnehmer. Einige dieser Lieder waren neu, viele aber waren Spirituals, die noch aus der Zeit des Widerstands gegen die Sklaverei stammten und verschiedentlich durch neue, zeitgemäße Texte aktualisiert wurden. Größte Popularität erreichten zum Beispiel We Shall Overcome und The Battie Hymn of the Republic (Das Lied von John Brown) wie auch das Spiritual Freedom, Freedom. Werke dieser Art trugen zur Entwicklung und Festigung eines kämpferischen Geschichtsbewußtseins sowie zu einer intensivierten Verarbeitung der eigenen kulturellen, besonders der oralen Traditionen der Afroamerikaner bei. Bezeichnenderweise sangen die Bürgerrechtskämpfer nicht den schwermütig-traurigen Blues, sondern vorwiegend Spirituals, Lieder der Zuversicht. Die ursprünglich religiösen Lieder erfuhren dabei eine entscheidende Funktionsveränderung, indem die in ihnen ausgedrückte Hoffnung in einen neuen, ganz diesseitigen emanzipatorischen Kontext gerückt ward. Anne Moody sagt das in ihrer Autobiographie sehr treffend: „Wenn ich die alten Neger singen hörte, wußte ich, daß es der Gedanke an den Himmel war, der ihnen die Kraft gab auszuhalten. Für sie bedeutete der Himmel ein Ende ihrer Leiden. Aber der Gesang der jungen Menschen gab mir ein ganz anderes Gefühl. Sie begriffen, daß die Macht, die Dinge zu ändern, in ihnen selbst lag. Mehr als bei Gott oder sonst einer Macht."13 Daß die moralische Kraft der Bürgerrechtskämpfer und ihrer Lieder auch auf die Prosa stimulierend gewirkt hat, beweist James Baldwin in seiner Erzählung Going to Meet the Man (1965; Dem weißen Mann entgegentreten)14*. Das Singen eingekerkerter Bürgerrechtskämpfer, das nicht zum Schweigen gebracht werden kann, wird dort vielfach zum Symbol der Stärke der Kämpfenden und der Schwäche der Unterdrücker. Einen kaum zu überschätzenden Einfluß hatte die Bürgerrechtsbewegung auch auf Drama und Theater. Progressive Literaturtraditionen vor allem der zwanziger und dreißiger Jahre (seien sie durch Langston Hughes oder Richard Wright repräsentiert) wurden aufgenommen und weiterentwickelt. Die neuen Impulse wurden insbesondere für das Off- und Off-Off-Broadway-15* sowie das Agitprop* Mit einem Stern gekennzeichnete Ziffern verweisen auf Sachanmerkungen.

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Theater wirksam. Freilich stehen viele der letztgenannten Bemühungen bereits im Kontext der Black-Power-Bewegung, auf die wir noch genauer eingehen werden. Einen ersten entscheidenden Durchbruch erzielte die früh verstorbene Bühnenautorin Lorraine Hansberry mit ihrem preisgekrönten Stück A Raisin in the Sun (1959; Eine Rosine in der Sonne)}6* Nach seiner triumphalen Aufführung auf dem Broadway erlebte es eine Vielzahl von Inszenierungen. Es wurde als Fernsehspiel bearbeitet, verfilmt und in viele Sprachen übersetzt. Einen annähernd vergleichbaren Erfolg hatte zuvor nur Langston Hughes mit seinem Stück Mulatto (1935) erreicht. Die Autorin spricht in ihrem Werk, dessen Szenerie fast ausschließlich von Schwarzen, d. h. von einer schwarzen Arbeiterfamilie beherrscht wird, ein aktuelles Problem des Rassismus an, nämlich die Schwierigkeiten dieser Familie, in ein Wohngebiet für Weiße überzusiedeln. Als sie am Schluß des Stückes ihr Vorhabein zu realisieren beginnt, geschieht dies erstaunlicherweise unter dem begeisterten Beifall des schwarzen u n d des weißen Publikums. Es ist gewiß wahr, daß der allergrößte Teil der weißen Zuschauer, der sich mit den Figuren des Stückes identifiziert und ihrer Entscheidung applaudiert, in einem entsprechenden p r a k t i s c h e n Fall keineswegs so leicht in der Lage wäre, die rassistischen Vorurteile zu überwinden. Aus diesem Grunde warfen Kritiker der Autorin mangelnden Realitätssinn, die Gefahr des Illusionismus vor, da sie dem Stück ein Happy-End gegeben habe, das in krassem Widerspruch zur Wirklichkeit steht.17 Ein solcher Vorwurf könnte berechtigt sein, wenn man das Stück nur unter dem Gesichtspunkt enggefaßter Widerspiegelung betrachtet. In seiner Wirkungspotenz aber ist dieser Schluß außerordentlich produktiv: Das Geschehen bricht zwar auf der Bühne ab, es leitet jedoch unmittelbar ins Leben über, wird gewissermaßen von den Zuschauern in ihrer täglichen Lebenspraxis weiter und zu Ende gestaltet; denn die hier (im Theater) ausziehende afroamerikanische Familie bewegt sich in der Realität direkt auf sie, die (weißen) Zuschauer zu. Die angezielte Katharsis verhindert nicht, daß Spiel und Wirklichkeit letztlich doch unmittelbar aufeinanderstoßen. Hier ergeben sich überraschende Analogien zum Agitprop- bzw. Guerillatheater, von dem Dieter Herms sagt: „In der spontanen Kommunikation, die Barrieren abgebaut hat, in der Solidarität des Vorgangs, kann Klassenbewußtsein entwickelt werden, werden Hilfen gegeben beim Begreifen und Strukturieren der eigenen Lebensverhält32

nisse, von einem parteilichen Standpunkt aus, den der Rezipient oft bereits hat, aber infolge verdinglichten Bewußtseins in der täglichen Praxis noch nicht adäquat oder konsequent vertritt."18 Während sich jedoch das Guerillatheater ganz auf eigene Kommunikationswege verlassen wollte, wurde von der Hansberry mit unerhörter Massenwirksamkeit ein wenn auch nicht klassenbewußtes, so doch gesellschaftskritisches Bewußtsein i n n e r h a l b der etablierten Institution (Broadway) vermittelt, das bedeutet, die Institution selbst wurde für den Augenblick umfunktioniert. Dem entspricht auch die Tatsache, daß die Handlung des Stücks eigentlich trivial ist. Die appellative und sogar suggestive Wirkung des sich ganz „traditionell" gebenden Dramas beruht gerade nicht auf einer prononcierten Schwarz-Weiß-Konfrontation, sondern darauf, daß die Verfasserin das spezifische Rassenproblem in seiner zunächst allgemeinmenschlichen Perspektive vorführt, als ein Problem von (zufällig schwarzen) Menschen, die ihren Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein zu verwirklichen suchen. Daher auch die überraschende Einsicht vieler Zuschauer, das Stück sei gar kein ausgesprochenes Negro-play, es sei vielmehr ein „Stück über Leute"19. Die soziale Gleichheit schwarzer und weißer Menschen, die im politischen Tageskampf, vor allem der Bürgerrechtler, als Postulat erscheint, erhält in dieser Kunst ihre Vergegenwärtigung, wird augenscheinliche Tatsache, wird gleichzeitig aber auch in einem Spannungsfeld allgemeinerer gesellschaftlicher Widersprüche sichtbar, in dem auf der einen Seite die „Nehmenden" und auf der anderen die „Ausgenommenen" stehen. Die Autorin stellt ihr Werk ausdrücklich in eine kämpferische literarische Tradition, wenn sie im Titel aus einem bekannten, bereits 1951 verfaßten Gedicht von Langston Hughes zitiert: What Happens to a Dream Deferred? (Was wird aus einem unerfüllten Traum?). Dieses antizipiert eine ganze Skala politischer Bewegungen - von der Bürgerrechtsbewegung bis zu den Black Panthers - und eine nicht geringere Breite literarischer Manifestationen. Deren Extreme sind auf der einen Seite mit Hansberrys Stück und auf der anderen mit LeRoi Jones' The Slava (1964; Der Sklave) oder Jimmy Garetts We Own the Night (1968; Uns gehört die Nacht) markiert. Der thematische Bezug zum „amerikanischen Traum" und der in der Verfassung garantierte „Anspruch auf Glück" fungieren als dramatisch bewegende Motive: Als zentrale Symbole für den jeweiligen Glücksanspruch stehen freilich „Sonne" o d e r „Geld". Damit ist sofort der immer wieder 3

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aufgearbeitete Widerspruch zwischen dem „American Dream" und seiner Verkehrung zum „nightmare" signalisiert, zum „Alptraum" der „Entwertung der Menschenwelt" durch die zunehmende „Verwertung der Sachenwelt"20 (um einen älteren Marxschen Ausdruck zu gebrauchen). Man kann hier - und das mag als Rechtfertigung gelten für die relative Ausführlichkeit, mit der an dieser Stelle über das Stück gesprochen wurde - vom Beginn einer neuen Traditionslinie in der afroamerikanischen Literatur reden, die zugleich eine Bereicherung des realistischen Kunstschaffens in den USA ist. Die schwarze Arbeiterfamilie namens Younger ist zwar eindeutig „eine Negerfamilie, besonders und definitiv in kultureller Hinsicht"21, zugleich aber sind die Probleme, mit denen sie zu ringen hat, und die Art und Weise, wie jeder einzelne Angehörige sie zu bewältigen sucht, typisch und ohne jede Vordergründigkeit historisch aussagekräftig für die Verhältnisse in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft insgesamt. Anders als Lorraine Hansberry verarbeitet Ossie Davis den Geist der Bürgerrechtsbewegung in seiner Komödie Purlie Victorious (1961; Vorbei sind die Tage) .22 Erstere hatte den Schauplatz ihrer Handlung in der nördlichen Großstadt Chicago angesiedelt. Damit hatte sie den Kampf der Bürgerrechtler im Süden auf die Verhältnisse im Norden appliziert und verdeutlicht, daß das Problem der Segregation und Diskriminierung nicht auf jenen Landesteil beschränkt ist. Dies ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, die sich Mitte der sechziger Jahre allgemein durchsetzte und in der Bezeichnung „oberer Süden" für den Norden der USA ihren populären Ausdruck fand. Ossie Davis nun bleibt mit seinem Handlungsort in einem ländlichen Gebiet des „unteren" Südens und gestaltet die direkte Konfrontation zwischen unterdrückten Afroamerikanern und einem fanatischen Südstaatler, einem ehemaligen Obersten der Konföderierten, der den Schwarzen das Recht auf den Besitz ihrer Kirche „Big Bethel" streitig machen will. Doch: „Vorbei sind die Tage" seiner unumschränkten Herrschaft. In diesem symbolträchtigen Stück gelingt es dem an Langston Hughes geschulten prominenten Schauspieler und Theatermann Ossie Davis, die burleske Form des Volkstheaters, die zum kommerzialisierten Broadway-Klischee des Vaudeville oder zur Minstrelshow mit ihrem „Bühnenneger" herabgesunken war, aus der Stagnation zu befreien und für das afroamerikanische Protestdrama umzufunktionieren. Gleichzeitig führt er den Emanzipationsgedanken bereits näher 34

an das Black-Power-Konzept heran, indem er die Suche nach Integration umkehrt: Nicht Schwarze bemühen sich um Zutritt zu einer weißen Kirche, sondern die schwarze Kirche nimmt weiße Menschen (die ganze Menschheit) in ihre völlig unorthodoxe Gemeinschaft auf. Das ist ebenfalls eine Demonstration neuen Selbstbewußtseins und neuer, demokratisch orientierter Souveränität, die durch die Verwendung von Mitteln des Komischen noch unterstrichen wird. Ähnliche Mittel wie Ossie Davis benutzt auch Douglas Turner Ward in den Stücken Day of Absence und Happy Ending (1966).23 In Day of Absence zum Beispiel entwickelt sich das dramatische Geschehen aus dem Umstand, daß eines Tages plötzlich sämtliche „Nigras" verschwunden sind. Das gesamte niedere Dienstleistungswesen bricht zusammen, und das öffentliche und private Leben verfällt dem Chaos. Am Schluß sind die,, Nigras" wieder da, und alles „ist genauso wie immer..." Freilich nicht mehr unbefragt. Mit phantastisch-verfremdenden Mitteln sind hier „Selbstverständlichkeiten" des amerikanischen Alltags durchleuchtet und damit Denkklischees aufgebrochen worden, so daß am Schluß dieses Stückes mit seiner durchweg in patriotischem Rot-Weiß-Blau gehaltenen Szenerie auch in den Köpfen der Zuschauer keineswegs alles „genauso wie immer" geblieben sein dürfte. Einen direkteren mimetischen Reflex von Problemen der Bürgerrechtsbewegung erreicht James Baldwin in Blues for Mister Charlie,2i Das Stück entstand 1964, also zu einem Zeitpunkt, da sie und insbesondere das Prinzip der Gewaltlosigkeit angesichts des brutalen rassistischen Terrors auf zunehmende Kritik durch militante Führer stieß. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe bringt der Autor seine mehr liberale Antwort zum Ausdruck. Er will versuchen, die Oberfläche eines rassistisch manipulierten Denkens aufzubrechen, das zu Verbrechen führt, die „so groß und so unaussprechlich sind, daß es buchstäblich in den Irrsinn führen würde, sie als solche anzuerkennen". Darum, so meint Baldwin, verschließt der Mensch „aus Selbstschutz die Augen, wiederholt zwangsläufig seine Verbrechen und gerät immer tiefer in eine Verfinsterung des Geistes, die jeder Beschreibung spottet". Er hält es aber für „menschliche" Pflicht, „den Versuch zu machen, diesen Unglücklichen zu verstehen" und - wenn schon kaum Hoffnung besteht, „ihn frei zu machen" - doch wenigstens „auf die Befreiung seiner Kinder" hinzuarbeiten. Das Stück ist zum Teil als öffentliche Gerichtsverhandlung arrangiert, in der es um einen rassistischen Mord geht. Baldwin konsti3»

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tuiert die Individuen zu Massen, die sich in der Verhandlung als Whitetown und Blacktown chorisch formiert konfrontieren. Dieses Gegenübertreten schwarzer und weißer M a s s e n ist ein neues Element in der afroamerikanischen Dramatik, das der Gegenöffentlichkeit, wie sie innerhalb der Bürgerrechtsbewegung entstanden ist, Rechnung trägt. Die Perspektive dieser Konfrontation ist durch den Verlauf der Verhandlung vorgegeben: Das Verbrechen wird nicht aufgedeckt, der „Verfinsterung des Geistes" wird nicht Einhalt geboten, und Plagetown (Seuchenstadt) kann noch nicht von der Seuche des Rassismus gereinigt werden. Baldwin vollzieht hier als Autor die Funktion des Hauptzeugen, der es gewissermaßen auf sich genommen hat, die Wahrheit über den Humanitätsverlust, den dieser Fall anzeigt, an den Tag zu bringen: Ein Schwarzer will eher sterben als ein „Nigger" sein. Ein Weißer tötet ihn, weil er einen „Nigger" braucht. Solange die amerikanische Gesellschaft eines „Niggers" bedarf, kann sie nicht gesunden. Damit verweist Baldwin darauf, daß in den USA die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen von gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt werden, die dringend einer Veränderung von Grund auf bedürfen. Auf dem Gebiet der Prosa ist der unmittelbare Einfluß der Bürgerrechtsbewegung weniger in Erzählungen und Romanen nachweisbar. Vielmehr bringen die Kommunikationsbemühungen aus dem Umkreis der Black Liberation Movement eine Tendenz zur Überschreitung der Genregrenzen hervor. Sie gibt sich in der Verarbeitung und Vermittlung unmittelbarer persönlicher Erfahrung kund, in der Äußerung des authentischen, nichtfiktiven Ichs und damit in der Neigung zu Autobiographie und Essayistik. Das eben ist die Hauptthese dieses Bandes. Das Ich des Autors tritt nicht hinter die Fiktion zurück, es stellt sich und seine Beziehung zur Wirklichkeit, sein Engagement durchaus heraus. Im übrigen ist das eine Tendenz, die sich auch in anderen Genres, z. B. in der Lyrik zeigt (denken wir an Nikki Giovanni, Don L. Lee u. a.). Zu den Autobiographien, die direkt aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgehen, zählen neben der Selbstdarstellung von Dick Gregory mit dem herausfordernden Titel nigger (1965) vor allem Anne Moodys Coming of Age in Mississippi (1968; Erwachen in Mississippi) und Coretta Scott Kings My Life with Martin Luther King, ]r. (1970; Mein Leben mit Martin Luther King). Gemeinsam ist diesen Autoren das unbedingte persönliche Engagement in der Massenbewegung gegen den Rassismus und dabei auch ein Vertrauen in die potentielle 36

Funktionsfähigkeit bürgerlicher Demokratie; ja, diese liberale Grundhaltung wird zur Basis ihrer Gesellschaftskritik. Die Autobiographien zeigen, daß der Kampf um Anerkennung und Praktizierung gleicher Rechte als USA-Bürger außerordentlich schwierig und für den einzelnen buchstäblich lebensgefährlich ist. Dabei fällt es immer wieder schwer, sich vorzustellen, daß die dargestellten mörderischen Brutalitäten der Rassisten nicht einer fernen Vergangenheit angehören, sondern unter nur wenig veränderten Bedingungen unmittelbare amerikanische Gegenwart sind. Angesichts der kaum denkbaren Härte dieses Kampfes stellt Heinrich Boll in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Anne Moodys Autobiographie die Frage: „Wenn es schon soviel Opfer kostet, ein demokratisches Minimum, das Wahlrecht zu propagieren, und mit so geringem Erfolg - was mag es erst kosten, das verfassungsmäßig garantierte Maximum, die volle Gleichberechtigung, nicht nur zu propagieren, sondernauchdurchzusetzen?"25 Das zentrale Problem dieser Selbstdarsteller ist nicht - wie es einem neuzeitlichen literarischen Liberalismus entspräche - das von isolierten Individuen, die nach menschlichem Kontakt suchen, es ist das der unterdrückten und diskriminierten Gruppe, als deren Interessenvertreter sie sich äußern. Ihre Persönlichkeiten sind unmittelbar mit diesem Engagement verbunden und in ihrer Bewußtseinsentwicklung von ihm geprägt. Ihre „Selbstverwirklichung" realisiert sich im kollektiven Kampf um gemeinsame Ziele und nicht im individuellen Erfolgsstreben (wie zum Beispiel bei Claude Brown). Dadurch vermochte ihre individuelle Lebensgeschichte ein Teil des Emanzipationskampfes der Afroamerikaner zu werden. Sie ist aber auch eine Chronik, die mehr wiedergibt als bloße Fakten und Daten. Beim Leser gehen ästhetisches Erleben und Erweiterung des Geschichtsbewußtseins Hand in Hand. Diese Autobiographien sind so nicht nur Ausdruck menschlichen Emanzipationsstrebens, sie sind desgleichen ein wirkungsvolles I n s t r u m e n t f ü r dieses Streben. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der künstlerischen Aneignung aktuell, den Robert Weimann in bezug auf die Renaissance-Prosa einführte. Auch hier wird ein „doppeltes Verhältnis zur Geschichte" hergestellt, indem die Autobiographien in authentisch ich-bezogener Weise „die Geschichte als gestalteten Gegenstand und als konstituierendes Moment der Literatur in das Werk" hineinnehmen und zum anderen „die Werke selbst in die Geschichte" hinausstellen.26 Dick Gregory zum Beispiel beschreibt in seiner Autobiographie nigger, wie er, in einer vaterlosen Familie im Slum von St. Louis auf37

wachsend, Armut, Entbehrung und Erniedrigung erleiden muß; wie er sein Talent für Komik entdeckt und sich unter Entbehrungen zum Unterhaltungskünstler heranbildet und sich schließlich zum selbständigen Unternehmer in dieser Branche entwickelt. E r wird zum Mitkämpfer und Freund Martin Luther Kings in der Bürgerrechtsbewegung: „Zum ersten Mal war ich involviert. Eine Schlacht war da im Gange, ein Krieg war da im Entstehen, und es schien nicht genug, lediglich Schecks auszuschreiben und Reden zu halten."27 Am Schluß legt er eine Art Gelöbnis ab; das er, wie schon die Widmung am Anfang, symbolisch an seine Mutter richtet: „Du bist nicht für nichts gestorben, Momma . . . jetzt sind wir bereit, ein System zu ändern, in dem ein weißer Mann einen schwarzen mit einem einzigen Wort zerstören kann. Nigger. Wenn wir damit zu Ende sind, Momma, wird es keine Nigger mehr geben."28 Die Autobiographie Coretta Scott Kings ist zugleich eine Biographie Martin Luther Kings. Der Leser erfährt, wie die Autorin ihre eigene Karriere als Sängerin aufgab, um das Leben und den Kampf Martin Luther Kings zu teilen und dabei tiefste menschliche Erfüllung fand ( so besagt es die Widmung). Das Werk ist ein eindrucksvolles Zeugnis glücklicher Partnerschaft und der wechselseitigen menschlichen Bereicherung im gemeinsamen Mühen um eine große historische Sache. Darüber hinaus vermittelt es eine lebendige Chronik des Bürgerrechtskampfes, und es zeigt die Entwicklung der Ideen Martin Luther Kings von seiner Jugend im streng baptistischen Elternhaus bis hin zum Engagement in der Arbeiterbewegung, die er als letztlich entscheidende Kraft im Kampf gegen den Rassismus erkennt. Der von Anne Moody dargestellte Entwicklungsweg ist symbolisch für eine ganze Generation junger Afroamerikaner, die ihre Kindheit noch auf Plantagen des Südens unter Bedingungen verbrachten, die der Sklaverei ähnelten, dann als junge Leute in die Städte gingen und dort den Kampf um ihre Menschenrechte aufnahmen.29*

Anne Moody: Coming of Age in Mississippi Anne Moodys Selbstdarstellung liest sich wie ein spannender Roman. Der Titel Coming of Age in Mississippi ist nicht nur Hinweis auf das „Aufwachsen" eines Menschen und auf die Besonderheit, daß dies in Mississippi geschieht, einem Staat, der wegen des dort herrschenden Rassenterrors berüchtigt ist, es ist auch und vor allem das gemeint, 38

was der deutsche Titel aussagt: Erwachen in Mississippi. Es ist das Erwachen zum kämpferischen Selbstbewußtsein und das Hineinwachsen in die Bewegung der Afroamerikaner für ihre Befreiung. Dabei versteht die Autorin, sowohl das historisch Bedeutsame im individuellen Erleben als auch umgekehrt die historischen Ereignisse so individuell darzustellen, daß der Leser in die Lage versetzt wird, den historischen und den individuellen Entwicklungsprozeß gleichermaßen rational und emotional nachzuvollziehen. Dies ist vor allem der „verblüffenden Verbindung von Wirklichkeitssinn und Sensibilität"30 zuzuschreiben, der Art und Weise, wie der dokumentarische Stil gehandhabt wird, vermittels dessen Beziehungen zu den Fakten und Ereignissen und zwischen diesen hergestellt werden. Mitunter versteht sie es, mit wenigen scheinbar rein deskriptiven Sätzen einen überaus komplexen Beziehungsreichtum herzustellen, zum Beispiel gleich am Anfang der Selhstdarstellung: „An diesem Abend saßen wir wie immer auf der Veranda und warteten darauf, daß Mama und Papa den Berg heraufkämen. In Mr. Carters großem weißem Haus gingen die elektrischen Lichter an, während von den Negerhütten unten immer weniger zu sehen war. Wenn es erst ganz dunkel war, strahlten die Lichter in Mr. Carters Haus noch heller, es sah aus wie ein großes, erleuchtetes Schloß. Es sah dann aus, als gebe es auf der ganzen Pflanzung nur dieses eine Haus." (15) Der Gegensatz von Licht und Dunkel ist zugleich der Gegensatz von Macht und Nichtsein, von Macht und Ohnmacht; Licht, Schönheit und Macht sind mit der Welt der Weißen verbunden, Dunkel und Ohnmacht mit der der Schwarzen. Mehr noch: Je leuchtender die weiße Welt, um so dunkler und bedeutungsloser die schwarze; ja, diese scheint ihr Leuchten erst dadurch zu erhalten, daß jene immer schwärzer, immer unbedeutender, nichtiger wird. Die Autobiographie ist in vier Teile gegliedert, welche den Entwicklungsbericht besonders betonen: Kindheit, Oberschule, College, Die Bewegung. Die ersten Jahre ihrer Kindheit verlebt die 1940 geborene Autorin auf einer Plantage. Die Arbeits- und Lebensbedingungen sind immer noch denen ähnlich, die Booker T. Washington in seiner Autobiographie Up From Slavery beschreibt, lediglich mit dem Unterschied, daß Anne Moodys Eltern keine Sklaven mehr sind. Während ihre Eltern von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang auf der Plantage arbeiten, sind die vierjährige Anne und das Baby der Despotie eines Achtjährigen überlassen, der in ihnen nur die hassenswerte Ursache dafür sieht, daß er auf seine Streifzüge in die Wälder verzich39

ten muß. Nach der Geburt des dritten Kindes verläßt der Vater die Familie, und die Mutter ist gezwungen, den notdürftigen Lebensunterhalt als Serviererin und als Köchin zu verdienen. Mit acht Jahren muß Anne Moody selbst arbeiten. Die Mutter geht zwar eine neue Verbindung mit einem Landarbeiter ein, der dävon träumt, ein großer Farmer zu werden, und bringt weitere Kinder zur Welt; mitunter a"ber, wenn Stiefvater Raymond arbeitslos ist, bleibt das, was Anne verdient, zusammen mit den Erträgen eines kleinen Hausgartens und eines Streifen Landes das einzige Einkommen der Familie. Es ist eine frühe und fast unvermeidliche Erfahrung schwarzer Kinder, daß sich das Leben der Afroamerikaner wesentlich von dem der Weißen unterscheidet: „Ich stellte plötzlich fest, daß sie nicht nur deshalb besser waren, weil sie weiß waren, auch alles, was sie besaßen und alles, was mit ihnen zusammenhing, war besser als das, was mir erreichbar war . . . Es ist noch ein Geheimnis dabei, außer daß sie weiß sind, dachte ich. Und mit allen Kräften meines Geistes versuchte ich, hinter dieses Geheimnis zu kommen." (44) Niemand findet sich bereit, sie über dieses Geheimnis aufzuklären, das offensichtlich nicht nur in der Hautfarbe oder irgendeiner anderen körperlichen Besonderheit lag. Die Autorin beschreibt, wie sich ihrer kindlichen Beobachtung schließlich doch eine Lösung erschließt: Sie lernte verstehen, „warum alle weißen Frauen farbige Frauen hatten, die für sie arbeiteten. Weil die weißen Frauen faul waren . . . Nachdem ich gegessen hatte, was Miss Ola kochte, verstand ich, warum Mama dort kochen mußte: weil die weißen Frauen nicht kochen konnten." (47) Diese Feststellungen geben ihr zwar keine Erklärung dafür, warum die weißen Menschen ihrer Umgebung reich und die schwarzen arm sind, aber sie geben ihr genügend Selbstbewußtsein, sich als Persönlichkeit gegenüber ihren weißen Arbeitgebern zu behaupten, auch wenn diese, wie Mrs. Burke, dem Ku Klux Klan angehören und mit allen Mitteln versuchen, sie einzuschüchtern. Unübersehbares Zeichen ihres Widerstands ist zum Beispiel ihre Weigerung, das Haus der Mrs. Burke durch die Hintertür zu betreten, wie für Schwarze in Mississippi üblich. Ein solches selbstbewußtes Auftreten war zumindest bis zur Mitte der sechziger Jahre absolut untypisch für ein schwarzes Kind. Es ist durchaus denkbar, daß hier, wie an anderen Stellen des Werkes, Dichtung und Wahrheit zusammenfließen und eine wünschenswerte Haltung nachträglich in die Ereignisse hineinprojiziert wurde, um vielleicht auf mögliche Formen des Protestes, selbst unter stark repressi40

ven Bedingungen, hinzuweisen. Besondere Beachtung verdient dabei die Tatsache, daß das Widerstand tragende Selbstbewußtsein sich auf produktive Tätigkeit, auf Arbeit gründet. Dies ist ein durchgehender Zug des Buches. Die Verknüpfung von Emanzipation und Arbeit ist ein Moment, das historisch bereits bei der Befreiung der Sklaven eine wesentliche Rolle spielte. Dementsprechend wurde es auch in den Selbstdarstellungen ehemaliger Sklaven besonders betont, wie etwa bei Frederick Douglass, Booker T . Washington, Noah Davis, Josiah Henson, Samuel Ringgold Ward 3 1 u. a. Es wird uns auch in der Autobiographie des neunzigjährigen Du Bois wiederbegegnen. Dieses teils in puritanischen Traditionen begründete positive Verhältnis zur produktiven Arbeit in Verbindung mit dem Emanzipationsstreben ist unter den ideologischen Einflüssen der sechziger und darüber hinaus der siebziger Jahre durchaus nicht für alle schwarzen Autobiographen selbstverständlich, wie bei Eldridge Cleaver, H. Rap Brown u. a. zu sehen sein wird. Der Umstand, daß die Autorin von früher Jugend an zum Unterhalt der Familie beiträgt, macht sie nach und nach auch geistig von ihrer Mutter und damit von der alten Negergeneration, deren Denken noch durch das Leben auf der Plantage geformt ist, unabhängig. Mit der Taufe der Tochter in einer ländlichen Baptistengemeinde gelingt es der Mutter, die noch als Vertreter der gutmütigen und unterwürfigen Schwarzen vom Typ des Onkel Tom angesehen werden muß, ein letztes Mal, mit Hilfe der Gemeinde der Gläubigen, die Tochter zu einer Handlung zu bewegen, die nicht deren eigenem Wollen und Erkennen entspricht. Die Zeremonie erfordert das Tragen von weißen Kleidern und das Untertauchen in einem offenen Gewässer. Die weißen Kleider symbolisieren nicht nur die Reinheit von Sünden, sondern auch die Reinheit der weißen Frau, ein rassistisches Konzept, das bewußt hochgespielt wurde, um als Mittel der Unterdrückung der Schwarzen und als Vorwand für zahlreiche Lynchmorde an Schwarzen zu dienen. Das Taufritual findet in einem Teich statt, der über und über mit Kuhfladen bedeckt ist. Die weißen Kleider der Kandidaten sind danach dunkelbraun, Schlamm bedeckt ihre Augen, Haare und Ohren. Die Taufe macht die schwarzen Teilnehmer nicht weiß, sie macht sie „shitty", d. h., sie symbolisiert praktisch ihre Entwürdigung und Entpersönlichung. Zum Zeitpunkt der Taufe steht Anne Moody jedoch noch nicht in prinzipiellem Widerspruch zur Kirche. Ihr Atheismus kommt erst später zum Durchbruch - nach dem rassistischen Mord an den vier 41

Mädchen in einer Sonntagsschule von Birmingham. Hier ist es zunächst mehr der Protest gegen die ländliche Rückständigkeit der Kirche ihrer Mutter, während die Kirche ihres Stiefvaters demgegenüber städtisch fortgeschritten ist. Anne Moodys Widerspruch gegen die mit jener Gemeinde assoziierte ländliche Lebensweise ist Aufbegehren gegen Abhängigkeit, Schicksalsergebenheit, lokale Beschränktheit. Denn die Autorin hat durch ihre Arbeit Kontakt mit Menschen bekommen, deren Existenz nicht von Naturmächten oder überhaupt von irgendwelchen Mächten abhing, sondern, wie es schien, von ihnen selbst bestimmt wurde. Menschen, die weit umhergereist waren, wie die weiße Mrs. Claiborne, werden ihr zum Vorbild. Darüber hinaus ergibt sich aus dem empirischen Erleben der sozialen Praxis in ihrem Heimatort ein weiterer und entscheidender Anstoß für ihr Emanzipationsstreben: Der vierzehnjährige Negerjunge Emmett Till wird Opfer eines Lynchmordes. Nach weiteren derartigen Vorkommnissen wie dem Mord an einer neunköpfigen schwarzen Familie, die in ihrem eigenen Hause verbrannt wird, und dem Mord an einem Mitglied der NAACP beginnt die Autorin, nicht nur weiße, sondern auch schwarze Menschen und sogar sich selbst zu hassen für ihre Unfähigkeit, etwas dagegen zu tun. Sie erfährt zum ersten Mal etwas über die NAACP. In ihrem Heimatort ist es lebensgefährlich, dieser Organisation anzugehören. Die Lehrerin, die ihr davon erzählt und dadurch zu einer Art geistigen Mutter wird, verliert ihre Arbeit. Anne Moodys Selbsthaß bezieht sich nicht, wie zum Beispiel bei James Baldwin, auf kulturhistorische Aspekte des Schwarzseins, sondern er beruht auf konkreter Unzufriedenheit mit noch nicht entwikkeltem Widerstand gegen die Unterdrückung und Terrorisierung schwarzer Menschen, d. h., er basiert auf einer gesellschaftskritischen Grundhaltung. Das einzige, was ihr zunächst zu tun möglich scheint, ist, sich aus der Enge, die sie zu ersticken droht, zu entfernen. So sucht sie sich während der Sommerferien Arbeit in größeren Städten: Baton Rouge und New Orleans. In New Orleans erhält sie ihre erste Lektion im Klassenkampf, als sie in einer Hühnerfabrik arbeitet. Damit ist eine neue Stufe ihrer Entwicklung markiert: der Übergang zur proletarisch-städtischen Lebensweise. Die Tätigkeit ist außerordentlich schwer und schmutzig: „Wir standen zu fünfen an dieser Stelle. Ich griff nach oben und riß die glühend heißen Eingeweide mit den bloßen Händen heraus, so schnell ich konnte. Aber ich. war nicht schnell genug. Je schneller s'ich die Hähnchen bewegten, desto übler wurde mir. Mein Gesicht, die

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Arme und Kleider waren mit Blut und Hühnerscheiße bespritzt." (185) Doch verdient sie hier an einem Tag bedeutend mehr als in ihrem Dorf in einer Woche. So kann sie sich, um nicht in die ländliche Abhängigkeit zurück zu müssen, auch nicht daran stören, daß der Betrieb bestreikt wird. Sie und die anderen Streikbrecher lassen sich als „Schweine 1 Streikbrecher! Idioten! Schwarzes Bauernpack!" (186) beschimpfen, und sie stellt mit Überraschung fest: „Ich hatte nie in meinem Leben eine so wütende Horde von Negern gesehen." (186) Sie hat zwar in diesem Kampf die typische Position von „Landniggern" eingenommen, die sich selbst noch nicht als solidarische Angehörige einer mächtigen Klasse erfahren haben; aber es bleibt eine nachhaltige Wirkung auf ihre Persönlichkeit zurück: Zum ersten Mal ist sie Negern begegnet, die sich zusammengeschlossen haben und sich gegen ihre Ausbeutung wehren. Die Macht, die die streikenden schwarzen Arbeiter offensichtlich verkörpern, beeindruckt sie zutiefst. Ihr eigenes Leben rückt in eine neue Perspektive. Anne Moody beschreibt, wie sie sich geistig immer mehr von den Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung im Dorf entfernt, da diese sich aus Furcht vor dem weißen Terror mit ihrer Unterdrückung abzufinden scheinen. Noch bevor sie die Oberschule abschließt, verläßt sie nach einem Zerwürfnis mit dem Stiefvater das Elternhaus. Ihre Isolation scheint sich dadurch zu verstärken. In Wirklichkeit ist dieser Bruch - auf längere Sicht - ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Isolation, da sie sich nicht den gegebenen Verhältnissen anpaßt, sondern im Gegenteil die gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Persönlichkeitsentfaltung ausschöpfen will. Wie schwer es aber für den einzelnen sein kann, diesen hohen Selbstanspruch zu realisieren, zeigt sich in den nachfolgenden zwei Jahren auf dem College in Natchez, wo sie vergeblich nach Gleichgesinnten sucht. Unter den Bedingungen der massenhaften Einfunktionierung der Individuen in die Bewegungsmechanismen der staatsmonopolistischen Gesellschaft ist die Isolation derjenigen, die sich einerseits nicht mit den gegebenen Umständen abfinden wollen, andererseits aber noch nicht Anschluß an eine revolutionäre Organisation gefunden haben, noch einschneidender als die der meisten übrigen Menschen, da ihr kritisches Bewußtsein sie daran hindert, sich „gehen zu lassen" oder sich Illusionen über sich und ihre Umwelt zu machen. Erst nach Aufnahme des Studiums am Tougaloo College in der Nähe von Jackson bietet sich ihr die lang gewünschte Gelegenheit zur Mitgliedschaft in der NAACP und bald darauf zum Anschluß an 43

SNCC 32 *. Dies bedeutet, daß sie nie wieder in ihr Heimatdorf gehen kann, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen. Darüber hinaus sind ihre Eltern und Geschwister Verfolgungen ausgesetzt, und sie selbst wird daher von der Familie verstoßen. Dennoch fühlt sie sich in glücklicher Veränderung begriffen: „Zum ersten Mal schöpfte ich Hoffnung, man könne tatsächlich etwas dagegen tun, daß Weiße Neger töteten, schlugen und ausbeuteten. Ich wußte, was immer geschehen würde, ich würde daran teilhaben." (281) Und: „ . . . als ich mich stärker in der Bewegung engagierte, ging eine Veränderung in mir vor . . . Ich hatte etwas außerhalb meiner selbst gefunden, das meinem Leben einen Sinn gab." (291) Im Gegensatz nun zur traditionellen bürgerlichen Autobiographie, die mit der Identitätsfindung des Selbstdarstellers, mit dem Finden „seiner Rolle im Leben" ihren Höhepunkt und eigentlich auch Abschluß erhält, wird hier keineswegs ein Schlußpunkt gesetzt. Vielmehr ergibt sich ein neuer Ansatz für die weitere Profilierung der Persönlichkeit, die jetzt aber innerhalb einer Gemeinschaft erfolgt. So ist der vierte Teil der Autobiographie (Die Bewegung) wesentlich der Beschreibung des Kampfes in der Bürgerrechtsbewegung gewidmet. Wiederholt geraten die Autorin und ihre Gefährten in Lebensgefahr, sie werden bedroht und mißhandelt. Erfolge stellen sich unter den verängstigten und eingeschüchterten Afroamerikanern des Mississippi-Deltas nur sehr langsam und spärlich ein. Dem Leser wird eine Vorstellung vermittelt von der Schwere des Kampfes und von den Opfern, die er noch fordern mag, bevor die Gleichheit zwischen schwarzen und weißen Menschen Wirklichkeit wird. Er kann die Erfahrungen des gewaltlosen Widerstands nachvollziehen und erkennen, daß die Autorin und ihre Freunde praktisch schutzlos einer rücksichtslosen brutalen Gewalt gegenüberstehen. Außerdem werden schwarze Menschen wie Abfall behandelt: In Müllautos werden die 150 Schülerinnen und Studentinnen, die gegen den Mord an dem Bürgerrechtskämpfer Medgar Evers demonstriert haben, zum improvisierten Gefängnis gebracht und dort aus Mülltonnen verpflegt. Die Autorin vergleicht die Bedingungen der Inhaftierung mit denen eines Konzentrationslagers in Hitler-Deutschland (311). Der ursprüngliche Gedanke, die „gewaltlose Aktion" als eine Taktik zu benutzen, „um der Welt zu zeigen, um wie in einem Drama darzustellen, wie schlimm die Dinge im Süden stehen" (354), wird mit soviel Gewalt und Terror auf Seiten der Rassisten beantwortet, daß er schließlich nicht länger als einzige Methode des Widerstands 44

akzeptiert werden kann. Der rassistische Mord an vier Mädchen in einer Sonntagsschule in Birmingham - nur zwei Wochen nach dem großen „Marsch auf Washington" im August 1963, an dem etwa 250 000 Bürgerrechtskämpfer aus allen Teilen des Landes teilgenommen hatten - macht die Krise evident. Anne Moody spricht aus, was viele Bürgerrechtskämpfer zu diesem Zeitpunkt der historischen Entwicklung denken, wenn sie sich - in Anspielung auf Martin Luther Kings berühmte Rede an die versammelten Massen in Washington - darüber beklagt, daß die Bewegung Träumer habe, aber keine Führer (340). Der Amerikanische Traum von Demokratie und Gerechtigkeit war offensichtlich nicht mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit zu realisieren. Mit der Absage an die Gewaltlosigkeit als einzig möglicher Form des Kampfes verbindet Anne Moody ihre persönliche Absage an Gott: „Ich werde mein eigner Gott sein und so leben, wie ich es für richtig halte. Ich werde nicht so leben, wie Mr. Charlie es mir sagt oder Mama oder sonst jemand. Ich werde so leben, wie ich will, in dieser Gesellschaft, die offenbar nicht für mich und meinesgleichen gemacht ist." (353) Die Absage an Gott erscheint nicht wesentlich neu trotz Anne Moodys aktiver Tätigkeit in der Kirche, denn die Autorin macht völlig klar, daß es ihr nicht darum geht, „das Wort" zu predigen, sondern vielmehr darum, selbst gegen den Widerstand einzelner Prediger die Massen dort zu erreichen, wo sie zu finden sind, in der Kirche, und sie von dort zur politischen Bewegung zu führen. Die Rolle der Kirche als organisierendem Zentrum und als wesentlichem Faktor der sozialen Macht der Bürgerrechtsbewegung kommt hier sehr deutlich zum Ausdruck. Eben deshalb ist die Autorin auch weiterhin in der Kirche anzutreffen. (370 f.) Der Leser erinnert sich an den sarkastischen Kommentar zu ihrer Taufe, und es ist durchaus denkbar, daß ein späterer Standpunkt in jenes frühere Ereignis mit hineinprojiziert wurde. Auch der Satz: „Von jetzt an bin ich mein eigener Gott" kündigt eigentlich nichts Neues an, wenn man bedenkt, daß die gesamte Autobiographie von Beginn an demonstriert, daß Anne Moody kaum jemals anders lebte, als es ihr selbst richtig und möglich schien, daß sie sich schon längst von allen Autoritäten, einschließlich Mama und Mr. Charlie, befreit hat. So gehen die ersten Teile der Autobiographie perspektivisch im letzten Teil auf, erhalten durch diesen erst ihre Aussagekraft und erweisen sich als Stufen eines Entwicklungsprozesses, der im Zeichen des sozialen Widerstands vor sich geht: Das vierjährige Mäd-

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chen widersetzt sich, indem es dem Vater eine erlittene Mißhandlung nicht verzeiht. Als sie kaum älter als 10 Jahre ist, läßt sie sich von weißen Rassisten nicht an die Hintertür verweisen, auch wenn diese dem mächtigen und gefürchteten Klan angehören. Sie widersteht den Versuchen ihrer Mutter, sie an die Beschränktheit ländlichen Lebens zu binden. Am Natchez College erweist sie sich als ein rebellisches Element und als anspruchsvoller Außenseiter. Ihre Teilnahme an der Bürgerrechtsbewegung macht die Autorin zu einem „repräsentativen Charakter" im Sinne Johannes R. Bechers, zu einer Persönlichkeit, die zu einem aktiven Teil der geschichtsgestaltenden Kräfte wird. Sie gehört zu einer Generation junger Intellektueller aus den untersten Schichten der amerikanischen Bevölkerung, die sich nur dadurch in Übereinstimmung mit der Gesellschaft bringen kann, daß sie diese zu verändern sucht. Man muß daher Klaus Ensslen entschieden widersprechen, wenn er meint, Anne Moodys Autobiographie zeige „keinerlei Kohärenz der vermittelten Erfahrung", woran „selbst die schließliche Teilnahme der jungen Autorin an der Bürgerrechtsarbeit" nichts ändere. 33 Viel eher könnte man der Autorin vorwerfen, sie habe, der inneren Kohärenz Genüge zu tun, ihrem Gegenstand, dem autobiographischen Ich, eine gewisse Gewalt angetan. Denn ihre Entwicklung mag dem Leser vielleicht ein wenig zu geradlinig erscheinen. Entspringt das Vorgehen wahrscheinlich auch dem berechtigten Wunsch, ein Leitbild für die unterdrückten Schwarzen zu schaffen, so ist darin aber auch eine künstlerische Schwäche der Autobiographie zu sehen: Die Heldin ist - im Gegensatz beispielsweise zu späteren Selbstdarstellerinnen wie Maya Angelou und Nikki Giovanni 34 - kaum jemals im Zweifel mit sich selbst. Jeder Situation tritt sie - wenn auch oft nicht ohne Furcht - mit einem klaren, selbstbewußten Standpunkt gegenüber, immer entschlossen, ohne innere Konflikte. Ausnahmen bilden lediglich ihr Unbehagen über ihre Rolle als Streikbrecher in der Hühnerfabrik und gelegentliche Depressionen. Doch selbst in einem Augenblick tiefer Entmutigung wie am Schluß der Autobiographie, als sie unter dem Eindruck einer schweren Niederlage der Bewegung steht, zögert sie keinen Augenblick, in den abfahrenden Bus zu steigen, der sie Zu einer COFO-Konferenz 3 5 * nach Washington bringen soll, damit sie dort über die Vorgänge in Mississippi berichte. So entsteht teilweise der Eindruck, als ob Anne Moody gewissermaßen schon als emanzipierte Afroamerikanerin geboren sei - mit bestimmten Qualitäten, die sich nicht eigentlich herausbilden, sondern

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sich im Laufe der anwachsenden gesellschaftlichen Praxis auf immer höherer Stufe bewähren und festigen. Was sich verändert, ist der Grad ihrer Bewußtheit und ihr Aktionsradius. Das heißt, es wird eigentlich nicht gezeigt, wie sich die Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt allmählich formt, sondern umgekehrt: wie die bereits vorgeformte Persönlichkeit, deren hervorstechendes Merkmal das Bewußtsein ihrer Gleichwertigkeit mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft ist, immer mehr Besitz von ihrer Umwelt ergreift und auf sie verändernd einzuwirken beginnt. Der Übergang von der Position der Nicht-Anerkennung der gegebenen Verhältnisse zu der der Umgestaltung markiert dabei den Ubergang von der Isoliertheit zur Gemeinschaft mit anderen Menschen, die mit ihr durch den Kampf für die Überwindung der Unterdrückung verbunden sind. Durch diese Zugehörigkeit wird sie zwar zu einer unliebsamen Fremden in der eigenen Familie, die ihren Kampf nicht verstehen kann, aber sie gibt ihr eine große „Familie" von Kampfgefährten. Bezeichnenderweise ist die Autorin jedoch nicht durch ihre Rolle im Bürgerrechtskampf international bekannt geworden. Das kam erst durch ihren autobiographischen Bericht über diesen Kampf, in dem sie, wie Stephen Butterfield sagt, die Rolle eines „Fußsoldaten" „ohne Glanz, ohne Publizität, ohne Bankkonto als Ausgleich für ihre Opfer" 36 - gespielt hat. Durch ihren Bericht erst ist sie aus der Anonymität des „Fußsoldaten" herausgetreten. Der Schluß der Autobiographie gibt Auskunft über die Funktionsabsicht der Autorin: „ . . . der Welt sagen, was hier mit uns geschah." (423) Im Mittelpunkt steht daher sehr zu Recht das soziale Geschehen und das Agieren und Reagieren der Autorin und der übrigen Menschen in diesen Vorgängen. Von daher (nicht etwa aus der Verinnerlichung) ergibt sich die Struktur des Werkes und seine Wirkungspotenz. Ihre Erzählperspektive ist die des proletarischen Fußsoldaten, der sie selbst ist: Die Identifikation mit dem (schwarzen) Proletariat, mit seinen Leiden und seinem Kampf erhellt das Ganze. Es sei nur an den Streik in der Hühnerfabrik erinnert. Große Bedeutung mißt sie dem Kampf um ökonomische Sicherheit zu. Angesichts der geringen Ergebnisse der Wähler-Registrierungskampagne im Madison County stellt sich zum Beispiel für sie die Frage nach den Ursachen des Mißerfolgs nicht nur als eine Frage der geistigen Manipulation und gewaltsamen Unterdrückung der Schwarzen. Es ist vor allem eine Frage ihrer ökonomischen Lage als Farmer: „Wenn es im Madison County 29 000 unabhängige Neger gäbe 47

statt 29 000 halbverhungerte Neger, dann würden sich die Dinge ändern, dessen war ich sicher." (368) Was für die Farmer gilt, trifft sinngemäß auch für die Arbeiter zu: Anne Moody erkennt, daß die Versorgung der Armen mit Kleidung nur eine augenblickliche Hilfe sein kann, die noch nicht einmal alle Bedürftigen zu erreichen vermag: „Es wäre besser, ihnen Arbeit zu beschaffen, damit sie die Kleider selber kaufen." (358) Hier deutet sich bereits der Beginn einer neuen Phase der Bürgerrechtsbewegung an, die auf die Demonstrations- und Agitationsphase folgt: der Kampf um Arbeitsplätze. 37 * Anne Moody erkennt dabei im Gegensatz beispielsweise zu Huey P. Newton und Bobby Seale - auf die wir im folgenden Kapitel eingehen - , daß die kostenlose Versorgung der Armen mit Dingen des täglichen Bedarfs nicht unmittelbar zu deren Politisierung und zur Stärkung ihres Emanzipationsstrebens beiträgt: „Als Lenora und ich am nächsten Morgen das Büro öffneten, kamen dauernd Leute vorbei, um zu sehen, ob noch Kleider da seien. Wenn wir sie aber fragten, ob sie als Wähler eingetragen seien, war die Antwort immer nein. Und keiner von ihnen hatte die Absicht, sich in der nächsten Zukunft in die Wählerliste eintragen zu lassen. Ich begann zu ahnen, daß wir eine andere Aktion als die Wählerregistrierung starten mußten, wenn wir in Canton bleiben wollten." (359) Die Beschaffung von gleichwertigen Arbeitsplätzen verbunden mit dem Kampf gegen Superexploitation ist in ideologischer wie in ökonomischer Hinsicht eine wichtige Voraussetzung für die Befreiung der Afroamerikaner (wie der Arbeiterklasse überhaupt). Diese Frage tritt umso mehr in den Vordergrund, als die Tendenz der Monopolbourgeoisie besonders unter den Bedingungen der Automation dahingeht, die Reservearmee des Proletariats keineswegs zu verkleinern. Es ist für das Herrschaftsinteresse des Kapitals sicherer und profitabler, diesem Heer der Machtlosen - weil von der Produktion Abgeschnittenen - und möglicherweise reaktionär zu Mißbrauchenden eine notdürftige parasitäre Existenz zu gewähren, statt ihre Arbeitskraft auszubeuten und sie damit nolens volens auf dem Wege gewerkschaftlicher Organisation an der Macht über die Produktion beteiligen zu müssen. Der Kampf um Arbeitsplätze und um höhere Löhne ist insofern nicht nur von unmittelbarer Bedeutung für die Erhöhung des Lebensstandards schwarzer Arbeiter, er ist auch und vor allem ein notwendiger Teil des Kampfes um die Realisierung ihrer sozialen Macht. In diesem Wissen verschmelzen individuelle Selbstfindung und kol-

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lektive Selbstverwirklichung zur Einheit, in der Persönliches und Gesellschaftliches als identisch empfunden werden, eine Identität, aus der Geschichtsoptimismus erwächst: „Ich konnte die Jungen als Männer und Frauen sehen, die ein normales Leben führten, die ein wirklicher Teil dieser Welt waren, eine Gruppe von Menschen, die einen Platz gefunden hatten - einen Platz, weil sie die Schlacht geschlagen und gewonnen hatten." (411) Trotz dieser Walt Whitman nachempfundenen Vision ist sich die Autorin wohl bewußt, daß die „Schlacht" noch längst nicht gewonnen ist, daß immer neue Mittel und Formen des Kampfes und immer zahlreichere Verbündete gefunden werden müssen.

Claude Brown: Mancbild in tbe Promised Land Anne Moodys Autobiographie ist - ebenso wie die anderer Bürgerrechtskämpfer - ein Instrument in diesem Kampf, ein Instrument der Aufklärung für die Angehörigen ihrer sozialen Gruppe sowie der Anklage des USA-Rassismus vor der Weltöffentlichkeit. Sie ist zugleich ein Appell zur Solidarität mit den um ihre Befreiung kämpfenden Afroamerikanern und ist so selbst Teil der Bürgerrechtsbewegung. Das nun läßt sich von Claude Browns Autobiographie Mancbild in tbe Promised Land (1965; Im gelobten Land) nicht ohne Einschränkungen sagen. Zweifellos sind ihr Entstehen und insbesondere ihre Wirkung nicht voraussetzungslos; vielmehr sind sie nur im Zusammenhang mit jenen sozialen Aufbrüchen zu begreifen, welche die Black Liberation Movement eingeleitet hat. Während aber bei Anne Moody der liberale Traum von Amerika in der konkreten politischen Aktivität eine gesellschaftskritische Funktion durchaus auszuüben vermochte (eine Funktion nämlich, die ihn selbst stets praktisch korrigierte), so finden wir bei Claude Brown statt dessen eine kritische Haltung zur amerikanischen Gesellschaft, die doch die Funktionstüchtigkeit der tradierten liberalen Grundwerte allzu wenig hinterfragt und sie in jedem Fall als Maßstab der Kritik gelten läßt. Er dürfte freilich damit - darüber dürfen wir uns nicht hinwegtäuschen, und deshalb sei er hier ausdrücklich einbezogen - einer verbreiteten Einstellung unter den Afroamerikanern Ausdruck geben. Es entspricht dieser Tendenz, daß Claude Brown in seiner Autobiographie beschreibt, wie er sich sozusagen „an seinen Schnürsenkeln" aus dem Slum von Harlem herausgezogen hat. Als sein Buch 1965 4

Hajek

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erschien, war der Autor erst 28 Jahre alt. Er ist also ein noch sehr junger Selbstdarsteller, der sein Leben nicht deshalb an die Öffentlichkeit bringt, weil er auf Grund besonderer Verdienste oder anders gearteter Popularität mit einem speziellen Interesse an seiner Persönlichkeit rechnen könnte. Er versteht sich eher als Exponent einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der ersten städtischen Generation der Afroamerikaner im Norden, für deren Probleme er Aufmerksamkeit und Anteilnahme erwecken will: „Ich möchte über die erste städtische Generation der Neger im Norden sprechen. Ich möchte sprechen über das Leben einer rechtlosen Generation, eines rechtlosen Volkes in einer außerordentlich komplizierten und verworrenen Gesellschaft. Dieses Buch ist eine Geschichte ihrer Hoffnung, ihrer Träume, ihrer Leiden, ihrer kleinen und nutzlosen Rebellionen und ihres endlosen Kampfes um einen eigenen Platz in Amerikas größter Metropole - und in Amerika selbst."38 Offensichtlich handelt es sich hier nicht um die Geschichte einer Partei, die wie bei Bobby Seale zum Inbegriff des eigenen Lebens und Erlebens geworden wäre. Doch ist auch hier die Erfahrung, die der Autor uns vermittelt, kollektiver Art, allerdings in umgekehrter Blickrichtung: Die Gruppenerfahrung wird aufgelöst in Einzelschicksale, die nicht durch eine Organisation miteinander verknüpft sind, wohl aber durch eine gemeinsame soziale Situation, die jeder auf seine Weise zu bewältigen sucht. Als zentrales Gleichnis dafür erscheint die Fabel von den zwei Fröschen, die in einen Milchkübel gefallen sind. Während der eine nach kurzem Kampf aufgibt und sich in das scheinbar Unvermeidliche fügend - stirbt, bietet der andere all seine Kräfte auf, um solange weiterzuschwimmen, wie er Leben in sich spürt. Als er den letzten, kaum noch zu bewältigenden Stoß getan hat, findet er sich plötzlich auf einem Klumpen Butter sitzend. (164) Dies ist die Grundsituation, in der sich Claude Brown und seine Freunde befinden: Sie alle sind im Slum von Harlem wie Frösche in einem Milchkübel, ohne die geringste Aussicht, da jemals herauszukommen. Der Autor insistiert aber auf dem „Weiterschwimmen" als einer Aufgabe, die jedem einzelnen auferlegt ist. Besonders erschwert wird dieses Streben schon in der Kindheit durch den Umstand, daß die Eltern den Jungen wenig helfen können; sie sind selbst viel zu sehr Opfer der kapitalistischen Großstadt, als daß sie Autorität und Leitbild sein könnten. Die meisten Väter und Mütter sind aus dem Süden gekommene Teilpächter (Sharecroppers), Leute also, die sich ihr Existenzrecht auf dem von ihnen bear50

beiteten Boden dadurch erwerben, daß sie einen Teil der Ernte an den Besitzer des Landes verpfänden. Sie lebten immer am Rande des völligen Ruins und waren meistens hoffnungslos verschuldet. Der Titel der Autobiographie bezieht sich auch auf die getäuschten Hoffnungen dieser Menschen, die während des ersten Weltkrieges und danach in die nördlichen Großstädte geströmt waren, um hier das bereits in den alten Spirituals besungene „Gelobte Land" zu finden, wo es kein Rassenproblem gebe und das Recht auf Freiheit gesichert sei. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, wie Claude Brown in seinem Vorwort bemerkt: „Ehe Mamas Rückenschmerzen vom Baumwollpflücken nachgelassen hatten, taten ihr die Knie vom Schrubben — weh. Trotzdem ging es ihr besser; sie war aus dem Feuer in die Bratpfanne gekommen." (8) Verantwortlich für die Misere in Harlem freilich ist nach seiner Darstellung nicht so sehr die rassistische Gesellschaft, die die Massen* der südstaatlichen Immigranten zwingt, „in einem schmutzigen, stinkenden, viel zu kleinen Bezirk einer großen Stadt" (8) zu vegetieren, sondern es sind offenbar die Zugewanderten selbst: „Es schien, als hätten Mama und Dad nie etwas von Lincoln oder der Sklavenbefreiung gehört. Sie hatten den Süden mit nach Harlem gebracht." (324-325) „Schnaps, Religion, Sex und Gewalttätigkeit - daraus hatte das Leben für sie bestanden." (331) Die alkoholreichen und mit explosiver Gewalttätigkeit geladenen Samstagabende in Harlem erscheinen ihm daher als „Unten-im-Süden-Abende" (353). Übrigens ist die Hilflosigkeit und Verlorenheit dieser Menschen in der kapitalistischen Großstadt sowie ihr geistiges Verhaftetsein mit der ländlich-beschränkten und noch stark patriarchalischen Lebensweise im Süden auch bei anderen afroamerikanischen Autoren dargestellt. So wird sie in Lloyd L. Browns Roman lron City (1951, Die eiserne Stadt) durch einen großen Familiennachttopf symbolisiert, der zu den Habseligkeiten einer exmittierten Familie gehört: der Nachttopf . . . ganz alleine auf der Bordsteinkante."39 Auch Ralph Ellison schildert in Invisible Man (1952; Unsichtbar) eine solche Szene, in der eine alte Bibel sowie Ribbones (wie Kastagnetten verwendete Knochen bei ländlichen Tänzen im Süden) und eine Emanzipationsurkunde als Symbole dienen. Die totale Veränderung der Beziehungen, mit der die aus dem ländlichen Süden in die Großstadt strömenden Afroamerikaner konfrontiert werden, indem sie von der Existenzweise faktisch persönlich Abhängiger zu der von „freien" städtischen Lohnarbeitern übergehen, faßt Richard Wright in der 4*

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Feststellung zusammen, es seien vielleicht noch nie in der Geschichte Massen von Menschen so völlig unvorbereitet in die Stadt aufgebrochen, Menschen, die „immer nur Beziehungen zu Menschen und nie Beziehungen zu Dingen gekannt" haben. 40 Claude Brown betont in seiner Darstellung vor allem diesen subjektiven Faktor: das Unvorbereitetsein der älteren Leute; den objektiven Tatbestand der Ausbeutungsverhältnisse läßt er hingegen fast völlig außer acht. Den „older folks" rechnet er schließlich auch jüngere zu, „die die Wälder noch nicht abgelegt haben . . . die sich noch nicht von der älteren Generation gelöst haben, die noch nicht angefangen haben, die ältere Generation kritisch zu betrachten. Sie haben die Gewohnheiten der älteren Generation übernommen, die Sitte, sich samstags abends zu betrinken, mit einem neuen Mädchen zu schlafen und richtig böse aufzutreten - mit einem Messer in der Tasche und bereit, es zu benutzen, bereit zu fluchen und zu krakeelen, bereit ins Krankenhaus zu kommen, auf die Polizeiwache oder in die Leichenhalle." (352 f.) So scheint sich bei dem Autor die soziale Frage weitgehend in eine Generationsfrage aufzulösen. E r selbst rechnet sich zu den „neuen Niggern" (38), die den antiquierten Lebensmustern der Alten nicht folgen konnten, aber demgemäß - und das ist das eigentliche Thema der Autobiographie - ihren Lebensweg und das Profil ihrer Persönlichkeit auf eigene Faust und nach eigenen, von ihnen selbst erst noch zu schaffenden Maßstäben im Dschungel der Großstadt finden mußten. Das Leben ist für sie deshalb zunächst das Leben auf der Straße, und ihre Vorbilder sind diejenigen, die sich in diesem Straßenleben zu behaupten wissen: Schläger, Rauschgifthändler, Prostituierte, Zuhälter, Diebe. „Meine Freunde waren alle verwegen wie ich, mutig wie ich, schmutzig wie ich, zerlumpt wie ich, verhext wie ich und besaßen eine große Vorliebe für Unfug wie ich. Wir waren stolz darauf, daß wir umsonst in Straßenbahnen, Autobussen und Taxis fuhren und wußten, wie man stiehlt und prügelt. Wir wußten, daß wir die einzigen Kinder in der Nachbarschaft waren, die meistens mehr als zehn Dollar in der Tasche hatten. Es gab andere Leute, die das auch wußten, und das war häufig ein Problem für uns. Irgend jemand versuchte immer, uns auszunehmen oder auszurauben. Meistens waren es die alten Huren aus der Nachbarschaft oder Ladenbesitzer oder Polizisten. Manchmal nahmen uns auch die älteren Jungen aus, betrogen uns oder stahlen uns das Geld. Wir fanden uns damit ab, weil das Leben so war. Jeder stahl von jedem." (27) 52

Diese zunächst in kindlicher Naivität fraglos akzeptierte Lebenswirklichkeit des großstädtischen Slums ermöglicht ein ebenso naives und ganzheitliches Identitätsgefühl, das seine besondere Stärke aus der wie auch immer beschaffenen Gemeinschaftlichkeit des Tuns und Leidens bezieht. Als der Autor mit dreizehn Jahren beim Stehlen von Bettüchern einen Bauchschuß erhält, ist er bereits ein versierter Einbrecher, der schon mehrmals vor Gericht gestanden hat. Seine weitere Entwicklung scheint klar zu sein: „Ich wußte, daß ich mir früher oder später ein Schießeisen beschaffen mußte und daß ich mir einen neuen Namen machen und meinen Platz unter den bösen Niggern der Gemeinschaft einnehmen mußte . . . Die Böser-Nigger-Sache machte mir verdammt zu schaffen. Ich erinnere mich, wie Johnny sagte, daß ein böser Nigger nur vor einem Angst habe: daß er zu lange lebt. Das bedeutete einfach, daß man ein böser Nigger sein mußte, wenn man in Harlem respektiert werden wollte; und wenn man ein böser Nigger sein wollte, mußte man bereit sein zu sterben. Ich war nicht bereit, irgendwas dergleichen zu tun. Aber ich mußte . . . Ich mußte mit den Jungs auskommen, die ich kannte, weil ich niemand sonst hatte und nirgends sonst hingehen konnte, außer rüber nach Brooklyn, und in Brooklyn war es nicht anders. Irgendwann mußte man in das Nuttengeschäft einsteigen, irgendwann mußte man anfangen, Drogen zu nehmen, und früher oder später mußte man jemand erschießen oder etwas ähnlich Idiotisches tun . . . ich wollte n i c h t . . . Aber ich konnte nirgends hin, und es schien, als stürze sich alles auf mich und quetsche mich zu Tode." (162-163) Der Teufelskreis des Slumlebens, innerhalb dessen dem „freien" Individuum keine Wahl bleibt, ist hier bei aller Kürze in großer Eindringlichkeit erfaßt. Mit dem Erkennen des vorgezeichneten fatalen Weges beginnt Claude Browns Suche nach einer, nach s e i n e r Alternative. ,„Lauf!' Wohin?" (9) In diesem aus nur zwei Wörtern bestehenden Dialog unmittelbar am Anfang der Selbstdarstellung ist das ganze Dilemma in äußerst knapper Form benannt. Claude Brown und seine Freunde sind beim Stehlen von Bettüchern erwischt worden. Sie müssen fliehen, ohne zu wissen wohin. Neben dem momentanen Kontext haben die Worte darüber hinaus einen weitreichenden Bezug zur Tradition der Sklavenerzählung; bekanntlich spielte dort das Motiv der Flucht eine zentrale Rolle. Im Unterschied aber zu Claude Brown und seinen Freunden glaubte der ehemalige Sklave genau zu wissen, wo er die Freiheit zu suchen hatte. Wohin jedoch, so fragt Claude Brown, soll man fliehen, wenn man schon im Gelobten Land ist? 53

Für den Autor und seine Gefährten führt der Weg zunächst keineswegs in irgendeine „Freiheit", sondern erst einmal in eine Anstalt für Schwererziehbare. Es ist die Wiltwick-Schule, der der Autor seine Selbstdarstellung widmet. Von dort aus gibt es zwei Möglichkeiten: entweder Rückkehr ins Straßenleben (und dies sozusagen in schlimmerer Form, nachdem die Schüler sich gegenseitig alle die Tricks beigebracht haben, die ihnen zuvor noch fremd waren) oder erhöhte Anstrengung, dieser Sackgasse endgültig zu entkommen. Der Autor gehört zu den wenigen, die die zweite Gelegenheit ergriffen haben. Seine fortdauernden und ständig durch „Rückfall" bedrohten Bestrebungen, dem immer wieder unausweichlich scheinenden Dilemma zu entrinnen, sind tatsächlich denen der Frösche in der Fabel vergleichbar. Das gilt - in negativer Hinsicht - übrigens auch für seine Freunde, von denen die meisten am Ende im Gefängnis sitzen oder durch Rauschgift, Gewalt oder Unfall umgekommen sind. Vier Jahre dauert es, bevor dem Autor endgültig der Rückzug aus dem Straßenleben gelingt. Mit seinen siebzehn Jahren kann er auf eine fast elfjährige Praxis darin zurückblicken. Freilich wird die Problematisierung und schließlich Aufgabe seiner ursprünglichen Identität als böser Nigger zunächst (da er Harlem verlassen hat und nach Greenwich Village gezogen ist) als quälender Verlust empfunden: „Ich hatte das Gefühl, als würde ich überall in Harlem verlieren. Ich verlor meine Beziehungen, und ich verlor den Halt, den mir meine Familie und meine Freunde gegeben hatten. Ich verlor einfach meinen Platz in Harlem." (269) Und: „Manchmal wollte ich nach Harlem zurückgehen, aber dort gab es nichts mehr für mich. Ich wollte kein Rauschgift nehmen; ich wollte nicht in die alten Lokale gehen. Ich wollte nicht mehr mit den alten Leuten zusammen sein, weil ich das Gefühl hatte, daß ich nicht mehr zu ihnen gehörte." (273) Erst nachdem er sich durch tägliches sechs- bis achtstündiges Üben im Klavierspiel soweit gebracht hat, daß er (mit neunzehn Jahren) Mitglied einer Band werden kann, ist die Krise überwunden: „Harlem gefiel mir wieder. Ich gehörte jetzt zu den jungen Jazzmusikern . . . Zum erstenmal seit Jahren hatte ich das Gefühl, als würde ich wirklich etwas tun, als würde ich etwas lernen. Ich spürte, daß ich jetzt überall hingehen und etwas tun konnte. Ich war bereit. Ich hatte wieder alles in Ordnung gebracht. Die Arbeit hatte ihren Platz. Schule und alles andere ordneten sich ein. Ich fühlte mich ganz. Ich war bereit, wieder mit Harlem zu leben." (278) Zweifellos ist dies ein anderer Claude Brown, als derjenige, der aus Harlem geflohen 54

ist, und seine Beziehung zu diesem Stadtteil ist ebenfalls eine andere. Aus der Position des hilflos Abhängigen ist er in die des Selbstbewußten gelangt, der nicht mehr darauf warten muß, daß und ob Harlem ihm etwas gibt, er ist nun in der Lage, zurückzukehren und Harlem seinerseits „etwas zu geben". Seine neue Identität erlaubt ihm, statt passiv und parasitär nunmehr produktiv und schöpferisch zu sein. So kann er die Distanz zur Lebensweise seiner alten Freunde aufrecht halten und doch mit ihnen innerlich verbunden bleiben. Verschiedentlich wurde dem Autor der Vorwurf gemacht, er komme über einen naturalistischen Abklatsch der Wirklichkeit nicht hinaus.41* Tatsächlich werden die Verhältnisse von ihm als schlechthin gegebene behandelt und weder auf ihre Entstehung noch auf ihre Veränderbarkeit hin untersucht. Er stellt die Frage nach der Identitätsfindung i n n e r h a l b der einmal bestehenden Umstände, ohne diese selbst zu problematisieren. Andererseits aber wird, wie aus dem Bisherigen schon ersichtlich, die Überwindbarkeit ihrer erdrückenden Gewalt keineswegs negiert. Als überwindende Kraft erscheint bei ihm - und damit steht er im Gegensatz zur naturalistischen Tradition das Individuum mit seiner Initiative, seinem Willen, seiner Intelligenz und seiner moralischen Widerstandsfähigkeit. Der einzelne kann den Verhältnissen nicht länger - wie in der Sklavenzeit - durch physische Flucht entkommen. Auch die psychische Flucht zur Droge zum Beispiel ist nur ein Weg ins Aus. Er muß sich seinem Dilemma stellen. Den Zeitpunkt und die ihm gemäße Art und Weise des Standhaltens muß - nach des Autors Ansicht - jeder selbst finden: „Jeder muß zu seiner Zeit aufhören, davonzulaufen." Er nennt das „aus den Wäldern heraus" sein und scheint darunter zu verstehen, daß der betreffende gelernt hat, sich irgendeine Seite des bestehenden Systems zunutze zu machen und so „seinen Platz" darin zu finden. Diese Haltung ist keinesfalls gesellschaftskritisch oder gar revolutionär, ja sie scheint ausgesprochen apologetisch. Dennoch enthält sie ein positives Moment. Sie signalisiert ein entschiedenes Abrücken von der mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten, der südlich rückständigen Mentalität der Elterngeneration. Die Jüngeren verhalten sich intuitiv den Weißen gegenüber als gleiche - eine Erscheinung, deren grundlegende Bedeutung sich bereits in den Kämpfen und Resultaten der Bürgerrechtsbewegung erwiesen hat und die natürlich umgekehrt auch eine Folge dieser Kämpfe ist. Das Gleichheitsempfinden, das ohnehin historisch an die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft geknüpft ist, äußert sich bei dem Autor recht konsequent in einem aus55

geprägt (staats) bürgerlichen Rechtsbewußtsein. Man darf das wohl mit der Tatsache in Zusammenhang bringen, daß die bürgerliche Gleichheit ihren politischen und juristischen Ausdruck im Wahlrecht und in der Gleichheit vor dem Gesetz findet. Im Gegensatz nun zu seiner an kriminellen Delikten reichen Kindheit entwickelt der Autor inzwischen ein derart positives Verhältnis zum bürgerlichen Recht, daß es als ein wesentliches Merkmal seiner Identität angesehen werden kann. Die Wahl und Aufnahme des Jurastudiums belegen das. Interessant ist in Hinblick auf den ebenso staatsbürgerlichen wie bürgerlichen Charakter seines Rechtsbewußtseins, daß ihm alle kriminellen Delikte seiner Kindheit unwichtig sind. Denn erst nach dem sechzehnten Lebensjahr hätte er mit Gefängnis bestraft werden können, und das eben hätte den Verlust seiner bürgerlichen Gleichheit bedeutet: Er würde zum Beispiel nicht wählen dürfen und eine Menge Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche haben (219). Was ihn daher bedrückt, als er erfährt, daß sein jüngerer Bruder Pimp wegen eines Raubüberfalls verhaftet wurde, ist der Gedanke: „Für den Rest seines Lebens hat er eine Vorstrafe." (445) „Vorbestrafter" zu sein erscheint aber als eigentliches Merkmal der Ungleichheit, nicht das Schwarzsein und nicht die Klassenzugehörigkeit. Claude Brown identifiziert sich zuerst und vor allem als Staatsbürger der amerikanischen Demokratie und erst in zweiter Linie als benachteiligter Afroamerikaner. Von einem solchen staatsbürgerlichen Bewußtsein geht auch sein Urteil über die Black Muslims aus: „Politisch konnten sie nicht wirksam werden, denn die meisten von ihnen waren im Gefängnis gewesen, und wer im Gefängnis gewesen war, hatte sein Stimmrecht verloren." (388) Ebenso meint er, es kümmere sich deshalb niemand so recht um die Belange Harlems, weil es dort nicht genügend Leute gebe, die wählen können. Seine Vorstellung, die Wahl der geeigneten Individuen für die Ämter könne zu einer Verbesserung der Verhältnisse führen, mag gerade dem Umstand geschuldet sein, daß er in seinem Bemühen um Integration, in seiner Suche nach „einem Platz" in der bestehenden Ordnung, diese ideologisch gewissermaßen von ihren liberalen Anfängen, von den Versprechungen der bürgerlichen Demokratie her zu erfassen sucht. Eine Haltung, die einerseits zwar illusionär ist, andererseits aber in bezug auf die wirkliche Lage auch herausfordernd sein kann. In jedem Fall hat des Autors Insistieren auf den Möglichkeiten und der moralischen Kraft des Individuums in einer längst nicht mehr realen Demokratie gestalterische Konsequenzen: Es hat den Anschein, 56

als ob et seine Grundüberzeugung nicht nur an der eigenen Person, sondern auch an der Entwicklung seiner Freunde und Altersgefährteri demonstrieren will. Dadurch entsteht ein Ensemble von Gestalten, das dem Werk in gewisser Hinsicht den Charakter eines Romans verleiht. Die einzelnen Personen repräsentieren Entwicklungsmöglichkeiten, die es für Claude Brown außerdem noch gegeben hätte. Allerdings tut sich hier ein Widerspruch auf zwischen der vom Autor postulierten Geschichtsmächtigkeit der Individuen und dem Format ihrer Persönlichkeiten. Fragt man nämlich, wie weit die Chance reicht, die er den Individuen gibt, so sieht man, daß deren „Selbstverwirklichung" sich ganz und gar innerhalb der engen Grenzen des Slums bewegt und in ihrer Perspektive weder gesichert noch in irgendeiner anderen Weise umfassend ist. Da ist zum Beispiel des Autors Freund Alley Bush, der ein Black Muslim ist und zeitweilig von der Presse für einen arabischen Prinzen gehalten wird; da ist Türk, der zu einer lokalen Größe als Boxer avanciert und Mildtätigkeit gegenüber Rauschgiftsüchtigen übt; oder Pimp, der im Gefängnis seinen Schulabschluß und dichterische Versuche macht; oder Danny Butch, der ein Familienvater und Kirchgänger geworden ist, nachdem er sich von der Rauschgiftsucht befreit hat. Im Falle von Reno schließlich, der den Status eines „Slumlords" erlangt, muß sich die „Selbstverwirklichung" - paradoxerweise - in asozialer Richtung vollziehen. Und da sind auch solche wie Toni, die im Straßenleben umkommen, bevor sie zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt sind. Von einer Universalität der Persönlichkeit, von einer allseitigen Entfaltung menschlicher Wesenskräfte kann keine Rede sein. Darin freilich äußert sich wiederum die Wirklichkeitsnähe des Werkes. Denn es zeigt, daß der Slum eine Welt ist, in der es titanischer Anstrengungen des einzelnen bedarf, um sich auch nur um ein geringes über das allgemeine Elend zu erheben, dem die meisten zum Opfer bleiben. Neben der ideologischen Illusion ist die primäre Erfahrung der inneren Verbundenheit mit den Menschen in Harlem eine andere Grundlage für Claude Browns Optimismus. Er hatte zwar „Angst vor dem, was Harlem aus den Menschen machen konnte", und er zog fort, um „der Angst zu entfliehen" (468). Aber er kehrt später immer wieder dorthin zurück, weil er eine „Kraft" dort fand, „die nirgendwo sonst zu bekommen war" (460). Er sieht sich also durchaus nicht als „spätbürgerliches isoliertes Individuum"; viel eher könnte er als Angehöriger einer Art Pioniergeneration gelten, der „ersten städtischen Generation von Negern im Norden", einer Generation also, die erst 57

„am Anfang" steht und noch eine große Perspektive vor sich hat unter gesellschaftlichen Bedingungen freilich, das wird dem Leser ziemlich deutlich, die diesen „Pionieren" praktisch keine Chance gewähren. Bald nach seinem Erscheinen wurde das Buch von der Presse als „der meist besprochene Bestseller des Jahres" und als „die vielleicht außergewöhnlichste Autobiographie der Generation" gefeiert, weil Claude Brown als erster schwarzer Autor „die ganze Sache mit dem Straßenleben in Harlem erzählt" hat. Diesem Lob schlössen sich auch namhafte Schriftsteller an wie James Baldwin, der das Buch „eine gewaltige Leistung" nannte, und Norman Mailer: „Von allem, was ich je gelesen habe, ist es das erste, das mir eine Vorstellung davon gab, was es für mich T a g f ü r T a g bedeutet hätte, in Harlem aufgewachsen zu sein."42 Demgegenüber gibt es freilich auch kritische Stimmen. So spricht John Henrik Clarke von einer „Scheinautobiographie", die offensichtlich für das große weiße Lesepublikum geschrieben sei, das sich durch alles Schmutzige im Leben schwarzer Leute angesprochen fühle. 43 Daß Claude Brown gewisse Zugeständnisse an das verlegerische Big business gemacht hat, ist unverkennbar; unter anderem zeigt sich das in der allzu verhaltenen Kritik am Rassismus, im völligen Ausklammern demokratischer Bewegungen aus dem Gesamtbild sowie in einer wenig problematisierenden und vielmehr harmonisierenden Sicht auf die Wirklichkeit. Davon abgesehen aber kommen die Menschen und ihr Leben in Harlem sehr plastisch zur Geltung. Dies wird hauptsächlich durch den Dialog erreicht, der die vorherrschende sprachliche Form des Werkes ist. Vornehmlich in Gesprächen offenbaren sich die Besonderheiten der Charaktere, ihr sozialer Hintergrund und der Gang ihrer Entwicklung. So tritt der Unterschied zwischen den Generationen beispielsweise auch in Mamas „Unten-im-Süden"-Sprache einerseits und im Slum Slang der Jungen andererseits hervor. Claude Brown ist einer der ersten afroamerikanischen Schriftsteller, die den Slum Slang oder, wie es heute passender hieße, das Black English44* als Literatursprache verwenden. Bei ihm ist es nicht nur Mittel der Charakterisierung. Er verwendet es auch in den erzählenden Passagen, und da wird es zum Ausdruck selbstbewußter Identifikation mit den schwarzen Leuten auf der Straße und mit deren Kultur. Derart gelingt dem Autor durch die vielfältige Verwendung des Dialogs, nicht nur die soziale Atmosphäre in Harlem lebendig werden zu lassen, sie er58

möglicht ihm auch, seine Lebensbeschreibung abwechslungsreich und aus unterschiedlicher Perspektive zu gestalten. Ebenso sind „Rückerinnerungen", die auch in anderen Sprachformen vorkommen, ein Gestaltungsmerkmal der Autobiographie. Sie erlauben, das Vergangene gegenwärtig zu halten und dem Gegenwärtigen den Anstrich des im Fluß der Zeit Befindlichen zu geben.

James Baldwin: Essayistik und Romanbeispiele Während Claude Brown noch im zielstrebigen Handeln des einzelnen die Möglichkeit der Afroamerikaner zur Selbstverwirklichung zu sehen scheint, wird einem Autor wie James Baldwin der Widerspruch zwischen staatsmonopolistischem Profitinteresse und menschlicher Erfüllung in einem solchen Grade bewußt, daß sich daraus für ihn unlösbare Lebensprobleme ergeben. Anders als bei Claude Brown ist es dabei die liberale Haltung selbst, die ihn in einen Gegensatz zum herrschenden System treibt und ihn zum beachteten Anhänger der Black Liberation Movement werden läßt. Wir haben die Auswirkung dessen auf die literarische Produktion Baldwins bereits einmal in einem anderen Zusammenhang kurz angedeutet. Jetzt wollen wir uns auf die Äußerungen stützen, die einen mehr autobiographischen Charakter tragen. Eine Autobiographie im strengen Sinne hat Baldwin bisher nicht verfaßt. Aber in zahlreichen Essays, die im übrigen nicht wenige Kritiker zu seiner Hauptleistung erklären, hat er autobiographisches Material verarbeitet. Daher werden wir sie in den Mittelpunkt unserer Darlegungen rücken und so die wesentlichen Züge seiner Sicht auf sich selbst und auf die Welt zu kristallisieren suchen. Es erschiene uns bei einem solchen Romancier wie Baldwin freilich unangemessen, wenn wir die entsprechenden Ergebnisse nicht in einem zweiten Abschnitt am Beispiel ausgewählter Romane auf ihre Relevanz hin prüfen würden. Wir nehmen dafür späte Werke, weil sich daran der fortgeschrittene Entwicklungsstand des Schriftstellers dokumentieren läßt.

Baldwins Weltsicht Der 1924 als erstes von neun Kindern einer Harlemer Arbeiterfamilie geborene Autor ist nicht nur als führender Repräsentant der afroamerikanischen Gegenwartsliteratur anzusehen; er darf zugleich als 59

hervorragender Vertreter der humanistischen Nationalliteratur der USA gelten. Sein Werk hat auch bei den Lesern in der DDR Interesse und Anerkennung gefunden. Bei uns erschienen außer seinem ersten, weitgehend autobiographischen Roman Go Teil it ort tbe Mountain (1954; Gehe bin und verkünde es vom Berge) viele seiner Erzählungen, seine beiden Dramen, eine Reihe Essays sowie die Romane Giovannis Room (1956; Giovannis Zimmer), Another Country (1962; Eine andere Welt) und schließlich der 1974 veröffentlichte Roman If Beale Street Could Talk (Beale Street Blues). Baldwin befindet sich inzwischen unter den schärfsten Kritikern des „Profitsystems" und als solcher weder unter den Anhängern einer Version des schwarzen Nationalismus, unter den Linksradikalen oder den rechten Opportunisten, noch - was bei seiner Herkunft aus einem streng religiösen Elternhaus leicht möglich wäre - bei einer religiösen Sekte, sondern in bemerkenswertem Einklang mit antimonopolistischen und demokratischen Bestrebungen. Sein Eintreten für Angela Davis, die er eine Revolutionärin nennt im Kampf gegen eine Ordnung, „deren einziger Treibstoff die Habgier ist, die als einzigen Gott den Profit anbetet",45 ist nur e i n Beispiel dafür. Es muß noch hinzugefügt werden, daß Baldwins Haltung in dieser Sache keineswegs so selbstverständlich ist, wie es manchem von uns scheinen möchte. Das wird besonders deutlich, wenn man sich eine Äußerung des Linksradikalen Eldridge Cleaver vor Augen hält, der mittlerweile einen seltsamen Frieden mit dem Establishment gemacht hat. Dieser meinte, die US-Faschisten hätten zusammen mit der Kommunistischen Partei der USA ein abgekartetes Spiel getrieben und den Fall Angela Davis in einen Nebelschleier gewandet, um die wirklichen Dinge, um die es ginge, zu verbergen.46 Er spielt hier auf den Fall des ebenfalls unschuldig angeklagten Bobby Seale an. Aber dessen Freisprechung konnte gerade durch die im Kampf um Angela Davis und andere politische Gefangene entfalteten Massenaktivitäten schließlich doch erzwungen werden. Das aber nur nebenbei. In Baldwins Essays finden wir im wesentlichen drei Kategorien von Gedanken: erstens autobiographische Betrachtungen, zweitens Erörterungen über die historisch-kulturelle und gesellschaftliche Stellung der schwarzen USA-Bürger und drittens ästhetische Ansichten. Diese Themenkreise sind in außerordentlicher Komplexität und subtiler Differenziertheit aufs engste ineinander verwoben. So erhalten wir durch diese Essays zwar keine in sich geschlossene Autobiographie, wohl aber einen recht aufschlußreichen Einblick in den Entwicklungs60

weg des Schriftstellers James Arthur Baldwin47* und, wie Heinz Wüstenhagen mit kritischem Akzent darlegt, eine komplexe Zusammenschau der Entstehungsgründe seiner problemreichen politischen, sozialen und ästhetischen Auffassungen.48 Diese Selbstzeugnisse Baldwins sind umso interessanter, da sich die Aufmerksamkeit nicht auf den Entwicklungsweg eines Individuums namens James Baldwin allein konzentriert, sondern in dem Maße zugleich auf den Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Sie geben Auskunft über den komplizierten und widerspruchsvollen Charakter einer „Reise mit sich selbst" und dabei über die individuellen und gesellschaftlichen Faktoren, die ihren Kurs bis hin zu Beale Street und schließlich zu dem bisher letzten Roman Just above My Head (1979; Zum Greifen nah) bestimmt haben. Von tiefgreifender Bedeutung war für James Baldwin - wie für sehr viele seiner schwarzen Zeitgenossen - die Entdeckung, daß er keine Chance hatte, als Persönlichkeit anerkannt zu werden. Das einzige, was die amerikanische Gesellschaft je in ihm sehen würde, wäre ein „Nigger", der sich „entweder benimmt wie ein ,Nigger' oder nicht". Baldwin konnte sich ebenso wenig wie zahlreiche andere mit dieser Verneinung seiner Individualität abfinden. So hat im übrigen auch sein Bruch mit der Kirche (den er mit siebzehn Jahren vollzog, nachdem er bereits drei Jahre lang als Junger Prediger gewirkt hatte) einen entscheidenden Ausgangspunkt in seinem Protest gegen eine in den USA gängige Bibelinterpretation, nach der sein Status als einem Nachkommen Hams ein für allemal feststand: „ . . . ein Sklave zu sein. Dies hat überhaupt nichts mit irgend etwas zu tun, das ich persönlich war oder in mir hatte oder werden konnte; mein Schicksal war für immer besiegelt, vom Anbeginn der Zeit an." 49 Im Protest dagegen, auf der Suche nach seiner Identität war Baldwin - ähnlich wie vor ihm Du Bois, Langston Hughes, Richard Wright und wie seine Zeitgenossen Ralph Ellison, John Oliver Killens, Malcolm X, Alex Haley u. a. - gezwungen, sich mit seiner wahren Geschichte zu beschäftigen, herauszufinden, woher er kam. Das erste und immer noch entscheidende Ergebnis war die Einsicht, daß er sozusagen „ein Bastard des Westens" ist. Was heißt das? Durch seine afrikanische Herkunft fühlte er sich von einem Kulturerbe getrennt, das durch Shakespeare, Bach, Rembrandt repräsentiert wurde. Gleichzeitig aber hatte er, nachdem seine Vorfahren fast vierhundert Jahre in der Neuen Welt gelebt hatten, kein anderes, über das er hätte verfügen können: „Ich mußte mir diese weißen Jahrhunderte 61

aneignen, ich mußte aus ihnen meine Jahrhunderte machen."50 Das größte Hindernis für solches Bemühen waren ihm Furcht und Haß. Er fürchtete und haßte die Weißen, und er haßte und verachtete die Schwarzen - und damit sich selbst - „möglicherweise, weil sie keinen Rembrandt hervorgebracht hatten". Für ihn war dies ein „selbstzerstörerisches Fegefeuer", in dem er „niemals zu schreiben hoffen konnte"51. Die Befreiung vom Selbsthaß als Schwarzer und damit die Freisetzung seines schriftstellerischen Talents gelang ihm nicht, bevor er begonnen hatte, sich als Amerikaner, eben als „Bastard of the West", zu identifizieren. Möglich wurde ihm dies aber erst im Exil, in Frankreich, wohin er sich als Vierundzwanzigjähriger begeben hatte. Denn hier wurde er zum erstenmal in seinem Leben tatsächlich nicht als „Nigger", sondern als USA-Bürger angesehen, „so amerikanisch wie irgendein G l aus Texas". Baldwins Identifikation als Amerikaner ist - bei all ihrer Problematik - ein entscheidender Schritt in seiner Persönlichkeits- und Bewußtseinsentwicklung. Sie beruht bei ihm auf der Erkenntnis, aber auch der Anerkennung („acceptance") eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf Afrikaner zu Bürgern der USA wurden - wie sehr auch immer unterdrückt - und keines anderen Landes, wie etwa die Anhänger der „Nation of Islam" (Black Muslims) oder anderer nationalistischer Gruppierungen behaupten. Der bei Baldwin häufiger auftretende Begriff „acceptance" impliziert in dem Kontext ein durchaus aktives - keinesfalls ein „duldendes" Verhältnis zu diesem geschichtlichen Tatbestand. Die Anerkennung der Realität ist Voraussetzung für den Kampf um gesellschaftlichen Wandel: „ . . . um eine Situation zu verändern, muß man sie erst einmal so sehen, wie sie ist; im gegebenen Fall, den Fakt zu akzeptieren, was immer man hinterher daraus macht, daß der Neger durch diese Nation geformt wurde . . . und nicht zu irgendeiner anderen gehört . . . Jemandes Vergangenheit zu akzeptieren - jemandes Geschichte ist nicht das gleiche wie in ihr zu ertrinken, es heißt, sie zu gebrauchen lernen."52 Diese sehr bewußt vollzogene „acceptance" schließt bei Baldwin die Bejahung des zivilisatorischen Fortschritts ein und ist Ausdruck eines positiven Verhältnisses zu den materiell-technischen und menschlichen Potenzen, die die industrielle Großproduktion und der universelle Markt mit sich gebracht haben. Allein schon dieses positive Verhältnis zum gesellschaftlich produzierten Reichtum - und vor allem zu denen, die ihn schaffen - mag Baldwin im Gegensatz zu anderen 62

bürgerlichen Intellektuellen und Schriftstellern davor bewahrt haben, in der Zivilisation und in der modernen Technik als solchen die Ursache für die fortschreitende Deformierung und Zerstörung der Menschen und ihrer gegenseitigen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen. Für Baldwin handelt es sich darum, „dieses Monster, das wir geschaffen haben, unter unsere Kontrolle zu bringen." Er bleibt damit in bewußter Übereinstimmung mit der Entwicklung der produktiven Kräfte der Menschheit. Erst mit seiner Identifikation als (schwarzer) Bürger der USA also gewann Baldwin ein soziales und kulturelles Bezugsfeld, in dessen Rahmen er sowohl die Möglichkeit als auch die innere Verpflichtung gesellschaftlichen und künstlerischen Wirkens wahrnehmen konnte. Dieses soziale Bezugsfeld, die USA-Gesellschaft, wird von ihm aber als dringend veränderungsbedürftig erkannt. Hier nun kommt sofort die Dynamik der Baldwinschen „acceptance" zum Tragen. Sie ergibt sich aus der Doppelnatur und Widersprüchlichkeit des Konzepts. Es hat sich auseinanderzusetzen mit der keinesfalls zu akzeptierenden amerikanischen Wirklichkeit (Slums, Rassendiskriminierung und Rassenterror) und dennoch das akzeptierte Ideal des „American Dream" von „life, liberty, happiness" für a l l e Menschen zu bejahen. „Was ich also tun mußte, war, die beiden Dinge zusammenzubringen: die Möglichkeiten, die die Bücher suggerierten, und die Unmöglichkeiten des Lebens um mich herum." 53 Baldwin hat diesen Widerspruch nicht nur intellektuell erfaßt, sondern - und das spielt eine entscheidende Rolle in seiner gesamten Entwicklung - sehr hart erlebt; denn er ist durchaus nicht, wie Monika Plessner meint, „im Niemandsland zwischen Wirklichkeit und Legende" 54 aufgewachsen, sondern ganz und gar in der Realität eben des Harlemer Gettos. Freilich erscheint ihm - und das verbindet ihn geistig mit den Bürgerrechtskämpfern um Martin Luther King - der Widerspruch zunächst durchaus lösbar: durch Aufklärung, nichtgewaltsame Aktion, Liebe (es besteht ein enger Zusammenhang zwischen „American Dream" und „love" bei ihm; in mancher Hinsicht sind sie ihm sogar Synonyme). Integration bedeutet daher für ihn: „ . . . daß wir - durch Liebe - unsere (weißen) Brüder zwingen werden, sich selbst so zu sehen, wie sie sind, daß sie aufhören, vor der Realität zu fliehen und anfangen, sie zu ändern . . . und wir können Amerika zu dem machen, was es werden muß." 55 In dieser liberalen Haltung spricht sich noch der Optimismus des gewaltlosen Widerstands der Bürgerrechtsbewegung aus. Der Bewegung kommt in bündnispolitischer Hinsicht eine durchaus progressive 63

Bedeutung zu, waren sich dessen auch - von Mitgliedern der KP abgesehen - nur wenige Führer und Anhänger bewußt. Das Engagement der meisten, auch James Baldwins, beruhte vielmehr auf der liberalen Illusion - Baldwin nannte es „hope" (Hoffnung) - , daß der amerikanische Traum von Freiheit und Demokratie nur noch nicht für schwarze Menschen realisiert worden sei, so, als ob es hauptsächlich darum ginge, eine Art Schönheitsfehler aus einer ansonsten erstrebenswerten Gesellschaft zu entfernen. Seine „acceptance" muß sich somit auch auf das erstrecken, was er als notwendigen Preis für die Integration eines Afroamerikaners ansieht: „ . . . die Auslöschung seiner eigenen Persönlichkeit, die Entstellung und Verfälschung seiner eigenen Erfahrung, indem er sich jenen Kräften unterwirft, die die Person zur Anonymität reduzieren und die sich auf der ganzen, dunkler werdenden Welt offenbaren." 56 Die von Baldwin hier angesprochenen „Kräfte", die anonymen Tauschwert- und Organisationsverhältnisse in der modernen kapitalistischen Massengesellschaft, werden von ihm - darin ist er Claude Brown verwandt - hier noch nach den ideologischen Grundpositionen des liberal gedachten Kapitalismus der freien Konkurrenz bewertet. So kann er in eben dieser Anonymität noch die notwendige Voraussetzung für die „possibilities", die Möglichkeiten des Individuums sehen. Bei Baldwins Lesern, nicht zuletzt bei militanten Schwarzen, haben übrigens Äußerungen wie diese einigen Protest herausgefordert und, wie mir scheint, einiges Mißverständnis. Eldridge Cleaver, zum Beispiel, geht sogar so weit, Baldwins integrationistische Haltung als „rassischen Todeswunsch" zu interpretieren, indem er in einem Essay57* Baldwin des Hasses schwarzer Menschen, einschließlich seiner selbst, bezichtigt. Ein Mißverständnis liegt hier insofern vor, als Baldwin den individualitätsnegierenden Preis der „acceptance" in einem Komplementärkonzept zu kompensieren sucht. Der tödlichen Gefahr, die von Furcht und Haß, von der Vereinzelung, der Entfremdung, dem „profitmotif" ausgeht, versucht er zu begegnen: mit der Botschaft der Liebe. Um es gleich vorweg zu sagen: Wegen der mystischen Elemente seiner „love"-Konzeption wurde der Autor verschiedentlich scharf kritisiert.58* Wichtiger erscheinen uns freilich die humanistischen Aspekte dieser Idee. „Love" wird nämlich von Baldwin „nicht nur im persönlichen Sinne" verstanden, sondern im universalen Sinn „des Suchens und Wagens und Wachsens"59. Das bedeutet, er faßt „love" als ein aktives, auf progressive Veränderung orientiertes Verhältnis zur Umwelt auf. Damit steht er der kämpferischen Liebeskon64

zeption von Martin Luther King sehr nahe, der sich übrigens in dieser Frage, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, auf James Baldwin bezieht.60 Beide wollen ihre Liebesauffassung im Sinne von „agape" (nach dem griechischen Neuen Testament), nicht im Sinne von „eros" oder „philia" verstanden wissen. So heißt es bei King: „Es ist Liebe in Aktion . . . da sie sich um den Schutz und die Schaffung von Gemeinschaftlichkeit (community) müht". Und: „Wenn ich zur Liebe berufen bin, bin ich berufen, Gemeinschaftlichkeit wiederherzustellen, Ungerechtigkeit zu widerstehen und die Bedürfnisse meiner Brüder zu befriedigen."61* In dieser Auffassung liegt das historisch konstruktive Element der Liebeskonzeption, denn es wurde in der Bürgerrechtsbewegung in zielgerichtete Massenaktionen umgesetzt. Sein unentwegtes Festhalten daran gewährt Baldwin, wenn auch oft durch äußerste Verzweiflung bedroht und durch innere Zerissenheit erschüttert und manchmal auch durch einen gewissen Mystizismus verunklart, wohl den eigentlichen Lebensnerv seines Schaffens. Natürlich kann keine Konzeption der Liebe, und sei sie noch so umfassend angelegt, den Klassenkampf ersetzen. Freilich ist es andererseits wichtig zu verstehen, daß dort, wo die massenhafte Einsicht in die Klassenverhältni&se noch fehlt, eine solche Ideologie doch von Bedeutung für die gesellschaftliche Aktivierung der unterdrückten Massen zu sein vermag. Insbesondere im Fall der Bürgerrechtsbewegung ist zu beobachten, daß sie nahe an das heranrückt, was im Klassenkampf als Solidarität bezeichnet wird. Sowohl in Kings wie auch in Baldwins „love" ist der christliche Begriff der Nächstenliebe enthalten oder vielmehr der Ausgangspunkt. Der Wille zur Praktizierung dieser Liebe ist in der Anrede „sister" bzw. „brother" zwischen den Mitgliedern der Kirchengemeinde symbolisch ausgedrückt. Von hier aus breitete sich die Anrede auf die Bürgerrechtskämpfer, die Black Muslims, die Black Panthers und überhaupt auf die ganze schwarze Gemeinde aus. Auch Baldwin bedient sich ihrer: „sister Angela" nennt er Angela Davis. Dabei ist an die Stelle des christlichen Inhalts ein weltlich-sozialer getreten: das Gefühl der Gleichheit, der Zusammengehörigkeit, der kämpferischen Gemeinschaft, der Solidarität. Bereits an diesem Detail wird sichtbar, daß die Bürgerrechtsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre als historisch höchst bedeutsame und bisher größte Massenbewegung der Afroamerikaner ihre organisatorische und ideologische Basis in der schwarzen Kirchengemeinde vor allem des Südens hatte. 5

Hajek

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Inzwischen ist Baldwin, was die Möglichkeit det Realisierung des amerikanischen Traums in der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft angeht, weitgehend desillusioniert. Das wird bereits in A Rap ort Race (1971; Rassenkampf - Klassenkampf) in einem längeren Gespräch mit der amerikanischen Soziologin und Anthropologin Margaret Mead sehr deutlich. Hier, wie auch in späteren Äußerungen, identifiziert er sich immer noch als Amerikaner. Der Tenor freilich ist nicht mehr universale Hoffnung, sondern „responsibility" (Verantwortung) und Ratlosigkeit. Verantwortung für das, was sich in den Augen der Welt mit dem Begriff „USA" assoziieren muß: die ermordeten Kinder in der Kirche von Birmingham und in Vietnam, der Mord an Martin Luther King und an den Völkern in Südostasien, das anhaltende und wachsende Elend in den Slums der größten Städte und die nicht aufhörende Rassendiskriminierung. Ratlosigkeit, was zu tun sei. Baldwins spezifische „responsibility" erwächst ihm aus der Ambivalenz seiner Identität: Amerikaner zu sein und gleichzeitig Angehöriger einer unterdrückten Minderheit. Seine ursprüngliche Hoffnung war, daß letzteres in ersterem aufgehen möge, daß Amerika „das werden könnte, was es immer vorgegeben hatte werden zu wollen", doch: „als Martin ermordet wurde, endete diese Hoffnung für mich".62 Zu den Ereignissen, die einen grundlegenden Wandel in Baldwins Weltsicht produzierten, gehören tatsächlich die genozide Praxis der USA im Vietnamkrieg und der unbeugsame Widerstand des vietnamesischen Volkes: „Wir sitzen auf einem schrumpfenden Globus", sagt er, „der voll ist von Leuten, die die Wirklichkeit nicht so sehen wie die Amerikaner, und sie sind im Vorteil gegenüber den Amerikanern, wie Vietnam beweist, weil . . . das Leben, das dieser Way of Life so vielen Leuten in der Welt aufgezwungen hat, für die Leute . . . unerträglich geworden ist, und sie müssen es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln umstürzen." Daß dies für Baldwin eine nicht unproblematische Einsicht ist, kommt in den nachfolgenden Worten zum Ausdruck: „ U n d i c h m e i n e w i r k l i c h . d a ß s i e d a s m ü s s e n . . . ich will nicht, daß es geschieht, aber ich weiß nicht, was sonst geschehen kann angesichts der Situation, in der wir uns jetzt befinden." 63 „Das ist es, weshalb ich Angst habe", fügt er hinzu; denn es sei „sehr schwierig, Vorstellungen aufzugeben", nach denen man gewohnt war zu leben, dennoch müsse es sein, denn diese Vorstellungen „sind so unmenschlich wie die spanische Inquisition - oder das Dritte Reich."64 66

Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß zu den aufgegebenen „assumptions", von denen Baldwin hier spricht, auch und vor allem die Annahme gehört, daß die amerikanische Gesellschaft Freiheit und Demokratie für alle Menschen realisieren könne. Demgegenüber wird ihm schließlich klar, „daß viele weiße Leute, wenn nicht die meisten weißen Leute, von dem ausgeschlossen sind, was Lyndon Johnson die Große Gesellschaft genannt hätte". Baldwin betrachtet es als „Teil der Krise . . . , daß es lange Zeit braucht, bevor man das erkennen kann"65. Des Autors Erkenntnis, daß der weiße Bergarbeiter in Westvirginia ebenso aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist wie er selbst, bedurfte - notwendigerweise, möchte man sagen - einer langen und komplizierten ideologischen Entwicklung. Sie ermöglicht ihm nun, die Gesellschaft nicht mehr nur in ihrer Schwarz-WeißStruktur zu sehen, sondern ihren ausbeuterischen Charakter in nationaler wie in internationaler Hinsicht zu erfassen und gewisse Schlußfolgerungen für die Notwendigkeiten im Emanzipationskampf wie im Kampf um Demokratie zu ziehen. So äußert er sich gegenüber Margaret Mead: „Man hat bisher das Wort Kapitalismus vermieden, und man hat vermieden, über die Dinge auf dieser Ebene zu sprechen. Aber das Profitsystem besitzt eine entscheidende Schwäche, dies bringt die Bezeichnung zum Ausdruck. Und man kann sogar - in diesem Augenblick, während wir hier in diesem Zimmer sitzen - sagen, daß die westliche Ökonomie auf die eine oder andere Weise zum Untergang verurteilt ist. Zweifellos ist ein Teil der Krise der westlichen Ökonomie der Tatsache geschuldet, daß in gewisser Hinsicht jeder Pfennig, den ich verdiene, d. h. das System, das ihn für mich verdient . . . auf dem Rücken irgendeines schwarzen Bergarbeiters in Südafrika lastet, und er wird sehr bald aufstehen . . . Und wenn wir das nicht verstehen und lassen ihn aufstehen, wird alles ein einziges Schlachtfeld sein."68 Man kann hier nochmals die Zwiespältigkeit der Position Baldwins erkennen. Einerseits hat er das Wesen des „Profitsystems" ziemlich klar durchschaut und distanziert sich von ihm. Andererseits aber spricht er in der ersten Person Plural und identifiziert sich als verantwortungsbewußter B ü r g e r mit eben dieser Gesellschaft, von der er - schon wider besseres Wissen - hofft und wünscht, sie möge „leben durch das, woran sie vorgibt, zu glauben", denn sonst werde sie „aufhören zu existieren".67 Die letztere Perspektive aber - und darin zeigt sich sein Dilemma - würde für ihn das Ende überhaupt sein: „Wenn dieses Schiff untergeht, gehe ich mit zugrunde."68 Sechs Jahre später, 5»

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am Schluß eines Interviews kurz vor seiner Rückkehr in die USA wiederholt Baldwin diesen Standpunkt noch deutlicher: „Was in dem Land geschieht, ist für mich unannehmbar. Und wenn es in Flammen untergehen muß - dieses Land ist zu schlecht, ich werde mit ihm untergehen, aber ich akzeptiere es nicht."69 Die Zwiespältigkeit seiner Position kommt in der Verwendung der Personalpronomina zum Ausdruck: „we", wenn er als verantwortungsbewußter amerikanischer Bürger, als Rufer und Mahner, sozusagen als „Gewissen der Nation" oder wie er selbst sagt, als „witness" (Zeuge) oder als „Missionar bei den weißen Heiden in Amerika" spricht, „me" bzw. „I", wenn er sich als Anwalt oder einfach nur als Angehöriger der unterdrückten Afroamerikaner äußert. Als letzterer hat er nämlich buchstäblich No Name in the Street (so der Titel einer Essaysammlung), da „die Polizei in diesem Lande" - das ist seine Erfahrung - „keinerlei Unterschied macht zwischen einem Black Panther oder einem schwarzen Rechtsanwalt oder meinem Bruder oder mir".70 Die soziale Entwicklung der USA im letzten Jahrzehnt hat Baldwins Identität als Amerikaner (we) in verschärften Widerspruch zu seiner Identität als Afroamerikaner (I) gebracht. Sein Dilemma ist, daß er ebensowenig auf eine der beiden Identitäten verzichten kann wie er sie in Harmonie zu bringen vermag. Das letztere wäre nur in einer gründlich gewandelten amerikanischen Gesellschaft möglich. Über die genaue Form dieser Veränderung hat Baldwin noch keine klare Vorstellung: „I don't know y e t . . . That is the question I live with."71 In No Name in the Street (1972; Eine Straße imd kein Name) sieht er als einzig mögliche Perspektive „den Durchbruch zum Sozialismus" an, und zwar „zu einer Form des Sozialismus, die Bobby Seale vermutlich ,Yankee-Doodle-Sozialismus' nennen würde". Baldwin meint damit einen „bodenständigen Sozialismus, zugeschnitten auf die tatsächlichen Bedürfnisse des amerikanischen Volkes".72 Eine solche Äußerung provoziert die Frage nach Baldwins Verhältnis zum realen Sozialismus. Da muß zunächst einmal festgehalten werden, daß er über eine bemerkenswerte Resistenz gegenüber den verschiedenen Spielarten des Antikommunismus verfügt. Sein engagiertes Eintreten für die Kommunistin Angela Davis ist ein Beispiel dafür. Andererseits aber kann er nicht umhin, den bestehenden Sozialismus unter dem Gesichtspunkt seiner Anziehungskraft für das amerikanische Volk zu betrachten, und da wünschte er sich „die östliche Welt attraktiver". 73 Der Gedanke freilich, „daß ausgerechnet in Amerika" das entstehen könnte, was ihm als „echter 68

Sozialismus" vorschwebt, scheint ihm „schwer faßbar" und nicht weniger schwer machbar, wenngleich auch durchaus wünschenswert als Alternative zu den gegebenen Verhältnissen.74

Zu einigen Romanen Baldwins künstlerische Arbeit steht gleichfalls im Zeichen seiner Liebeskonzeption. Er überrascht den Leser in A Rap ort Race mit der Äußerung: „Ich denke, daß Liebe die einzige Weisheit ist."75 Natürlich kann dieser Satz nur metaphorisch verstanden werden, nämlich in Zusammenhang mit einem anderen: „Wir müssen - in jeder Generation, in jedem Augenblick - menschliches Leben möglich machen. Darin liegt die einzige Bedeutung des Denkvermögens."76 Zugleich aber ist „love" ein Synonym für „poetry".77 Unentbehrliche Voraussetzung für den Dichter sei daher seine „Verpflichtung gegenüber der menschlichen Rasse" und „den noch nicht geborenen Generationen".78 Alles dies zusammengenommen, können wir den Satz „Love is the only wisdom" als Bekenntnis zu humanistischem Wirken auffassen, das den versachlichten Abhängigkeitsverhältnissen - „prose on every single level from television to the white house"79 - auf der Ebene der Literatur zu widerstehen sucht. Wenn wir Baldwin recht verstehen, so meint er, daß es die Aufgabe der Dichter sei, den Menschen durch ihr künstlerisches Wirken Hoffnung zu geben und Vertrauen in ihre Fähigkeit, die „Bürde des Menschseins" zu bewältigen. Das zentrale Problem, das Baldwin in seinem gesamten Werk beschäftigt, ist, wie unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA „Liebe" und damit „Hoffnung" aufrechterhalten werden können. Stark unter dem Einfluß des Existentialismus stehend, sah er zunächst das Anliegen der Kunst darin, die individuelle „Schönheit, die Qual und die Kraft" des Menschen als seine Menschlichkeit darzustellen. Eine Einbeziehung des Sozialen lehnte er 1949 in einer Polemik gegen Richard Wrights Roman Native Son (1940; Sobn dieses Landes) - und gleichzeitig gegen Harriett Beecher Stowes Uncle Tom's Cabin - als „Kategorisierung" der menschlichen Individuen ab.80 Wenn auch der Autor hier „das Kind mit dem Bade ausschüttet", so deutet doch bereits die Titelgebung des Essays Everybody's Protest Novel (Jedermanns Protestroman) auf eine bemerkenswerte Zielrichtung. Es geht um eine Kritik an der manipulativen Vereinnahmung dieser und ähnlicher Werke durch die Massenmedien im Rahmen 69

staatsmonopolistischer Distributioas- und Kommunikationsverhältnisse, in denen „der ,Protest'-Roman, weit davon entfernt, Verwirrung zu stiften, ein akzeptierter und tröstlicher Aspekt der amerikanischen Szene ist . . . er ist sicher in der sozialen Arena untergebracht, wo er, in der Tat, nichts mit irgend jemandem zu tun hat, so daß uns schließlich sehr deutlich ein Gefühl von Tugendhaftigkeit durchströmt auf Grund der Tatsache, daß wir solch ein Buch überhaupt gelesen haben."^ Daß es neben der Kritik an den offiziösen Funktionsmechanismen der Literatur auch um eine Befreiung vom Vaterbild Richard Wrights ging, sei lediglich angemerkt. In den ersten Romanen bleibt - dieser Literaturbestimmung gemäß - die Gesellschaftlichkeit der Individuen ziemlich ausgeklammert. Ausdruck erfährt sie nur indirekt in den entfremdeten Beziehungen zwischen den Protagonisten, in deren qualvollen Frustration, inneren Zerrissenheit, Verzweiflung. Die von Baldwin postulierte „love" und „hope" können sich in all der Unfähigkeit der Helden, ihre Isolation zu überwinden, zu sich selbst und zu anderen Menschen zu finden, nur sehr schwach behaupten. Nichtsdestoweniger wird aber die Not dieser Individuen, ihr totales Unbefriedigtsein vom Leser als aufwühlendes Erlebnis empfunden. Die außerordentlich intensive Verinnerlichung und Subjektivierung der Umweltbeziehungen muß in einer Hinsicht als Merkmal oder Ergebnis eines typisch bürgerlichen Individualismus gewertet werden; in anderer Beziehung jedoch ist sie Ausdruck der Auseinandersetzung mit eben dieser Umwelt. Während es in den Romanen Go Teil It ort the Mountain und in Giovanni's Room nur einzelne Berührungspunkte zwischen dem Leben der Gesellschaft und dem der Individuen gibt, tritt in den Werken der engagierten und kampfreichen sechziger Jahre dieser Zusammenhang thematisch stärker in den Vordergrund, vor allem in Gestalt des Rassenkonflikts. (Insofern kann man von einer Wiederaufnahme des Erbes von Richard Wright - gestorben 1960 - sprechen.) Das gilt für die Romane Another Country und Teil Me How Long the Train's been Gone (1968; Sag mir, wie lange ist der Zug schon fort) sowie für das Stück Blues for Mister Charlie. Schwarze und Weiße werden in konfliktreiche Liebes- oder Haßbeziehung gebracht. Dabei wird die Identität des einen durch den anderen in Frage gestellt, negiert, problematisiert oder affirmiert. In If Beale Street Could Talk schließlich wird das bis dahin dominierende Prinzip der Verinnerlichung und Subjektivierung gesellschaftlicher Verhältnisse zugunsten einer direk70

ten Konfrontation von Individuum und Gesellschaft aufgegeben, wobei die Protagonisten nicht länger als Vereinzelte, sondern als Zusammengehörende, gemeinsam auf ein Ziel hin Agierende in Erscheinung treten: eine schwarze Familie im Kampf gegen ein System, das ihr Leben, ihre Liebe, ihre Zukunft bedroht. Dieser Akzent ist neu im Schaffen James Baldwins. Er tritt wieder und vielleicht noch intensiver in dem Roman Just Above My Head auf. Die poetischen Lebensprinzipien „Hoffnung" und „Liebe" werden in Beale Street als durchgängiges Moment sozialer Bindung affirmiert. Da sich mit diesem Werk zugleich ein neuer Gesichtspunkt in Baldwins Schaffen ankündigt, soll es hier eine etwas detailliertere Behandlung erfahren. Der Roman beginnt mit einer Verkündigung: Ein Kind soll geboren werden. Die Verkündigung erfolgt nicht „vom Berge" der Titel des ersten Romans von Baldwin wird hier erinnert - und nicht durch einen Engel Gottes wie in der Bibel, sondern durch die junge Mutter selbst: Clementine Rivers, genannt Tish. Sie ist zugleich die Ich-Erzählerin des Romans (auch das ist neu bei dem Autor: ein erzählendes Ich weiblichen Geschlechts). Wie in der biblischen Legende ist diese so ganz ins Irdische gewendete Botschaft ein Zeichen der Liebe und der Hoffnung, aber auch der Prüfung; denn sie kommt zu einer schwierigen Zeit: das junge schwarze Paar ist noch nicht verheiratet, und der angehende Vater sitzt, ein Opfer des Rassismus, unter falscher Anklage im Gefängnis. Es ist höchst fraglich, ob er da je wieder herauskommen und somit in der Lage sein wird, seinem Kind s e i n e n Namen zu geben. „Mary, Mary, welchen Namen willst du diesem Kindlein geben?", wird als Motto zitiert. Wieder das Bibelzitat und wieder das Problem der Namenlosigkeit und damit der Identitätslosigkeit, des nicht Erkannt- und des nicht Anerkanntseins vor allem des schwarzen Individuums - wie schon in den Titeln seiner Essaybände. Die Namensgebung spielt auch sonst im Roman eine betonte Rolle. Die Frage des Mottos drückt aber nicht nur Sorge um den werdenden Menschen aus; das „willst du" signalisiert ebenso eine Aufforderung und ein Credo, daß etwas getan werden kann und muß, um dem „Kind einen Namen" und damit „Legitimität" und vollen Bürgerrechts-^ Persönlichkeits-) Status zu geben. Die Botschaft bringt daher für jeden, der mit ihr konfrontiert wird, eine Prüfung seiner menschlichen Stärke und Liebesfähigkeit, vor allem auch für die Verkünderin selbst. Der Leser mag sich an eine Episode aus Go Teil 1t ort the Mountain mit ähnlichem Inhalt unter anderen Vorzeichen er71

innnern: Elizabeth hatte ihrem Freund Richard (ein deutlicher Bezug auf den damals noch lebenden Richard Wright) nichts davon gesagt, daß sie ein Kind von ihm erwartete, weil sie ihn in seiner Verstörtheit nach eben überstandener Gefängnishaft nicht noch zusätzlich belasten wollte. Nachdem man ihn aber mit geöffneten Pulsadern gefunden hatte, wußte sie, daß sie ihm mit dieser Nachricht vielleicht ein neues Leben - in doppelter Hinsicht - hätte schenken können. Tish handelt anders: Der erste, dem S16 »CS verkündet", ist der künftige Vater, der junge Bildhauer und Gelegenheitsarbeiter Alonzo Hunt, genannt Fonny - Fonny alliteriert mit Freund, Vater, aber auch mit „defendant" (Angeklagter, Gefangener). Für diesen stellt sich mit der Nachricht eine unmittelbare lebendige Verbindung mit dem Leben außerhalb der „Tombs" her („Tombs" ist eine Bezeichnung für das Stadtgefängnis von New York, engl. Tomb = Grab). Sie hilft ihm, dem „Vorgebirge der Verzweiflung" zu entkommen. Er erhält eine Verpflichtung, ein Ziel, er „hat eine Verabredung, die er einhalten muß, und er wird zur Stelle sein - er schwört es . . . wenn das Baby kommt". 82 Damit aber Fonny seine Verabredung mit der Zeit oder mit dem Leben, was dasselbe ist, einhalten kann, genügt es längst nicht, daß nur er allein sich bemüht und standhaft bleibt. E r wäre hoffnungslos verloren, wenn nicht die tätige, aufopferungsvolle Liebe seiner Angehörigen ihm den Weg freikämpfte. Baldwin stellt einen ~ manchem vielleicht mystisch scheinenden - Zusammenhang her zwischen dem gefangenen Vater und dem im Mutterleib „gefangenen" Kind: Beide streben einander entgegen zur Freiheit, zum Licht, zum Leben; beider Leben hängt von der Hilfe, dem Kampf und der Liebe ihrer Angehörigen ab. Alle Gestalten des Romans, die durch die IchErzählerin nach und nach eingeführt werden, haben ihre Humanität an diesem Punkt zu beweisen. Tishs Mutter Sharon begibt sich auf eine beschwerliche Reise, um der Hauptbelastungszeugin ins Gewissen zu reden. Die beiden Väter, Joseph und Frank, sowie Tishs Schwester Ernestine übernehmen zusätzlich Arbeit, damit das nötige Geld für den Rechtsanwalt zusammenkommt. Ganz selbstverständlich greifen sie schließlich zum Diebstahl, da die Kaution für Fonny hoch ist, zu hoch jedenfalls, als daß man sie von dem, was man durch Arbeit verdienen kann, bezahlen könnte. Selbst Prostitution wird in Erwägung gezogen. Man würde der gegebenen Situation wohl kaum gerecht, wollte man Baldwin hier Anarchismus vorwerfen. Eher ist dies ein Ausdruck totaler Entfremdung der Lebensbedürfnisse dieser Menschen von den „Law-and-or72

der"-Strukturen des Systems. Tish sitzt im Bus und überlegt, ob sie den Menschen um sich herum sagen kann, was mit ihrem Geliebten geschehen ist. Sie kommt zu dem Schluß, daß sie „gar nichts sagen kann", weil sie keinerlei Aussicht hat, Verständnis, Anteilnahme oder gar Solidarität zu finden. Was also können die von solchem Leid betroffenen unter den gegebenen Verhältnissen und angesichts des Fehlens einer breiten demokratischen Bewegung tun? Baldwins Antwort korrespondiert mit der von Malcolm X, der sagte, daß die Unterdrückten „mit jedem notwendigen Mittel" für ihre Befreiung kämpfen müssen. Zu denen, die sich für Fonny einsetzen, gehört auch der weiße Rechtsanwalt Hayward. Er tut es nicht nur juristisch, was unter den herrschenden Bedingungen schon viel ist, sondern auch menschlich: £ r gewinnt Tish ein Lächeln ab, das er Fonny zum Geschenk machen will. Durch dieses Lächeln geschieht „etwas wirklich Menschliches" zwischen dem weißen Mann und dem schwarzen Mädchen. Die Möglichkeit, daß schwarze und weiße Menschen g e m e i n s a m die Rassenschranken überwinden können, ist hier sehr behutsam, aber doch intensiv und eindrucksvoll angedeutet. Das Eintreten der Menschen füreinander geschieht auf vielfältige Weise. Auch in einer Form, die man fast Solidarität nennen darf: Eine fällige Rechnung wird „verlegt"; der Speicher, der dem jungen Paar als künftige Wohnung dienen soll, wird an keinen anderen vergeben. Einzig für Fonnys frömmelnde Schwestern Adrienne und Sheila ist dieser „nie einen Dreck wert gewesen". Von ihnen ist daher auch keine Hilfe zu erwarten. Als Charaktere bleiben sie ziemlich blaß. Fast zur Karikatur gerät Fonnys Mutter, die immer nur „Mrs. Hunt" genannt wird. Sie ist eine bigotte und dabei nymphomane Betschwester. Ihre Unterstützung beschränkt sie auf Gebiete, die in dem Wunsch gipfeln, der Heilige Geist möge das Kind in Tishs Schoß „verdorren lassen". Baldwin drückt hier wohl weniger ein negatives Verhältnis zur Religiosität als vielmehr zu ihrer Entartung ins unmenschlich Bigotte aus. Der erbarmungslose Konkurrenzkampf, der die gegenseitigen Beziehungen der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend bestimmt und Mauern aus Haß und Furcht um jeden einzelnen wachsen läßt, macht vor der Kirchengemeinde nicht halt; er wird dort, wie die Predigerin Margaret in dem Stück Amen Corner am Schluß erkennt, als „Hetzjagd eines jeden für sich, in den Himmel zu kommen", fortgeführt. Trotz seiner scharfsichtigen Kritik an der Kirche als Institution und 73

an einer Frömmigkeit, die nicht die Gnade der Liebe kennt, ist Baldwins gesamtes künstlerisches Schaffen, wie Josef Jarab sehr richtig bemerkt, „nicht lediglich mit Bibelzitaten geschmückt, sondern die b i b l i s c h e I m a g i n a t i o n wird ebenfalls in metaphorischer und symbolischer Bedeutung zur Bezeichnung der weltlichen Realität und als Ausdruck für sie gebraucht"83. Jarab verweist in diesem Zusammenhang auf Begriffe, die je nach Kontext verschiedene Bedeutung annehmen können. So kann zum Beispiel „blackness" (Schwarzsein) sowohl für „Verdammung" wie auch für „geistige Erlösung" stehen.84 Man kann sogar sagen, daß die religiöse Imagination und Tradition bei Baldwin in solcher Weise persönlichkeitseigen geworden sind, daß sie nicht nur einen thematischen Einfluß auf sein Schaffen ausgeübt haben (wie in Go Teil It on the Mountain), sondern weitgehend auch strukturtragend wurden. Auch in Beale Street wird das Geschehen ständig mit Textstellen aus der Bibel und aus Spirituals assoziiert. So wird im Zusammenhang mit dem unschuldig inhaftierten Daniel (schon die Wahl dieses Namens ist signifikant) ein Spiritual erinnert: „Hat Gott nicht Daniel erlöset? Und warum nicht jedermann?" Für Daniel gilt das gleiche wie für Fonny, den eigentlichen Helden des Romans. Beide sitzen in der Löwengrube des Rassismus. Fonny hat Freunde, die für ihn kämpfen. Wer aber hilft Daniel? Der weltliche Bezug ist offensichtlich: Die Gefängnisse der USA sind übervoll von Farbigen wie Fonny und Daniel. Wer wird sie erlösen? Der hier zitierte Spiritual weist weit über hundert Jahre zurück in die Geschichte der Afroamerikaner, in die Zeit der Negersklaverei, in der er - wie zahlreiche andere als Ausdruck des Freiheitsstrebens der Sklaven entstand. Seine inspiratorische Kraft bezieht der Spiritual aus dem noch immer unerfüllten Freiheitsstreben und aus der weltlich kämpferischen Tradition, in der er steht und die er bewahrt. Abgesehen aber von diesen inhaltlichen Assoziationen ist auch der Aufbau des Romans durch Baldwins religiöse Imagination bestimmt. So trägt der erste, umfangreichere, von den zwei Teilen des Werkes die Überschrift „Mir ist angst um meine Seele" und darunter: „Herr, mir ist angst, Mir ist angst, Mir ist angst um meine Seele . . . " ; der zweite Teil ist überschrieben „Zion" und darunter: „ . . . Wenn aber meine Füße Zion streifen, Fürchte ich mich nimmermehr." Die Auslassungspunkte am Ende des ersten und am Anfang des zweiten Zitats aus dem alten Spiritual machen ihre inhaltliche Zusammengehörigkeit deutlich. Zugleich aber wird das traditionelle Ruf-und-Ant74

wort-Prinzip betont, das in der schwarzen Kirche noch von den afrikanischen Kultveranstaltungen her lebendig ist. Aus dem Kontext des Romans wiederum wird deutlich: „Angst um meine Seele" hat hier nichts zu tun mit Himmel oder Hölle im biblischen Sinne, es ist vielmehr die Sorge um das Bestehen einer menschlichen Prüfung, Sorge um den Verlust des inneren Halts, des eigenen Ich - und des geliebten anderen - im Falle des Versagens. „Zion" hingegen steht für die Sieghaftigkeit des inneren und des äußeren Kampfes und als Zeichen universaler Hoffnung. Geschichte und Kulturgeschichte der Afroamerikaner gehen so in ihrer Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung p e r s p e k t i v i s c h in die Romanhandlung ein. Deutlicher als in anderen Werken des Autors ist auch der Geschlechtsakt in einen archaisch-biblischen Bezug gebracht: als Akt des Erkennens. Fonny zeigt unmittelbar vor ihrer ersten Liebesvereinigung Tish sein „wirkliches Leben", seinen Arbeitsplatz und darauf unter anderem ein Stück Holz „etwa so groß wie der Oberschenkel eines Mannes. Der Torso einer Frau war darin eingefangen. ,Ich weiß noch nichts von ihr', sagte er". 85 So rückt der Liebesakt als Akt des Erkennens in engste Nähe zum schöpferischen Akt des Künstlers. Erstmals beim Autor wird er zum Akt der Bezeugung (tiefster Zuneigung) und der Zeugung (neuen Lebens), nicht, wie so oft zuvor, verzweiflungsvoller Frustration. Dem Liebesakt gegenüber steht der Akt der Nichtliebe des Ehepaares Hunt, in dem Mrs. Hunt ihre Lüsternheit als gottgefälliges Ertragen ihrer „Bürde" maskiert. Im Kontext von Beale Street erschließt sich dem Leser leichter als in früheren Werken die zentrale Bedeutung der Darstellung menschlicher Intimbeziehungen beim Autor: Abarbeitung von Erfahrungen in seinem kinderreichen aber liebearmen religiösen Elternhaus, sein tiefes Eindringen in die biblische Legende als legendäre Menschheitsgeschichte, seine Kritik an puritanischer Heuchelei und bigotter Frömmelei, seine Suche nach Überwindung der Entfremdung durch Liebe und sein Engagement für das Fortbestehen menschlichen Lebens und menschlicher Lebensmöglichkeit. Indem Baldwin hier den Liebesakt in Bezug setzt nicht nur zur biblischen Legende, sondern vor allem zum Akt der Arbeit, erscheint die Liebe als Ausdruck für die Realisierung natürlicher Gattungsverhältnisse. Erfüllte Partnerbeziehung zwischen zwei Menschen gilt als Voraussetzung für eine Zukunft schöpferischer Arbeit und Lebensfreude. Fonny verkündet am Schluß: „Und ich werde uns einen Tisch bauen, und viel Volk soll daran essen auf lange, lange Zeit." Das 75

Heilige Abendmahl und das fröhliche Mahl der Menschen aus dem Volk sind eins: Aneignung der Geschichte durch die tätigen Subjekte. Baldwin ist hier - so will es scheinen - auf seiner langen „Reise mit sich selbst" bei sich selbst, bei den arbeitenden Menschen seines Volkes, bei den verachteten und unterdrückten „Kindern des Großen Hauses", von denen er selbst herkommt, angelangt. Von daher erwächst ihm die Kraft zu einer humanistischen Vision für a l l e Menschen, ohne Unterschied der Hautfarbe. Dabei steht diese Vision nicht in einem zeitlos utopischen Raum. Baldwins Werk ist zutiefst vom Wissen um die geschichtliche Gewordenheit des je Gegenwärtigen durchdrungen. Die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart ist sowohl inhaltliches als auch formales Merkmal seines Kunstschaffens. Dies leitet sich von seiner Auffassung her, „daß einzig und allein die Vergangenheit der Gegenwart Sinn gibt und daß die Vergangenheit nur solange ihren Schrecken behält, wie wir uns weigern, sie ehrlich anzunehmen". 86 Daraus dann wächst ihm die Möglichkeit - und Verpflichtung, „nach vorn zu blicken, auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten". Die Vision einer solchen besseren Zukunft den Menschen zu geben, darin sieht Baldwin die spezielle und höchst verantwortungsvolle Aufgabe des Schriftstellers; denn „da wo es keine Vision gibt, gehen die Menschen zugrunde" 87 . In formaler Hinsicht vermag die für den Autor typische Rückblendetechnik, die er auch in Beule Street anwendet, zur Historisierung der Gegenwart und zur Aktualisierung der Vergangenheit gleichzeitig beizutragen; aus solcher Synthese erhellt die Hoffnung der Zukunft. So fließen auch in der Darstellung durch die Ich-Erzählerin die Zeiten ineinander; es heißt etwa: „ H e u t e habe ich Fonny besucht", am Anfang; und: „meine Zeit w a r gekommen", am Schluß. Die „Dauer" des fiktionalen Präteritums hat das letzte Wort. So wird auch Fonnys Gesicht zum Spiegel der gesamten Menschheitsgeschichte: alles, was je geschehen war, seit Anbeginn der Zeit war in seinem Gesicht". 88 Ungeachtet aller Anerkennung, die der Roman verdient, muß doch abschließend noch auf einen problematischen Aspekt des Werkes zumindest hingewiesen werden. Im Gegensatz nämlich zu früheren Romanen Baldwins, wo die Schärfe der gesellschaftlichen Widersprüche mit großer Intensität sich in den Individuen reproduziert und dort gewaltige innere Spannungen, ein wahres Zerrissensein zwischen den widerstreitenden und weder zu unterdrückenden noch zu bewältigenden Impulsen auslöst, erscheinen die Figuren in Beale Street auf ein 76

bestimmtes, in seiner jeweiligen Art konsequentes Verhalten reduziert. Mrs. Hunt ist gänzlich die nymphomane und bigotte Betschwester. In der Familie Tishs hingegen erscheinen die Beziehungen gar zu harmonisch von gegenseitiger Liebe und Achtung getragen, und sie bewähren sich allzu komplikationslos im Einstehen füreinander. Ähnlich idealisiert zeigen sich die Beziehungen auch in der schwarzen Familie des Arthur Montana, der wir in Baldwins jüngstem Roman Just Above My Head begegnen. In einer mit „Blues for Mr. Baldwin" etwas bösartig überschriebenen Kritik zu diesem Buch wirft Darryl Pinckney dem Autor - auch mit einem Seitenblick auf Beale Street - nicht ohne Berechtigung Sentimentalität, Flachheit und sogar Schulmeisterei89 vor. Zudem habe er - nicht ohne Verlust an Substanz - den subtilen Sprachgebrauch seiner Essays zugunsten eines bodenständigen Black English aufgegeben. Daß er damit sich selbst untreu geworden sei, ist freilich in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich hat sich bei Baldwin seit Ende der sechziger Jahre eine Hinwendung zur „Sache" der Afroamerikaner vollzogen. Er selbst bezeichnet sich als „Missionar bei den weißen Heiden in Amerika", aber eigentlich ist er mehr dais geworden, was er einst mit Mißtrauen betrachtete: ein „spokesman", ein Sprecher seines Volkes. Baldwin ist, so könnte man sagen, auf seiner langen „Reise mit sich selbst" schließlich bei sich selbst, bei den einfachen Menschen seines Volkes angelangt, von denen er herkommt. Die Hoffnung, der demokratische und humanistische Geist der Bürgerrechtsbewegung könne eine moralische Erneuerung der gesamten Nation initiieren, hat sich nicht erfüllt. Die Kluft zwischen schwarzen und weißen Amerikanern ist vorläufig unüberbrückbar. Baldwin hat seine Wahl getroffen: Er ist schwarzer Amerikaner, und eindringlich bekennt er sich dazu. Die menschliche Schönheit, die von ihm postulierte Hoffnung einer besseren Zukunft, zelebriert er bei den (arbeitenden) Leuten seines Volkes. Gravierendes Zentrum solcher „hope" ist nun die schwarze Familie, und zwar - ganz im Gegensatz etwa zu Gehe hin und verkünde es vom Berge — in stark idealisierter Form. Möglicherweise auch trifft das zu, was Darryl Pinckney sagt, nämlich, „daß er, des einsamen Kämpfens müde, nun eine breitere, mehr populäre Aufnahme wünscht, eine Heimkehr zum ,Volk",9°. Wie auch immer, dieses nicht mehr vom Zweifel erschütterte Aufgehoben-seinWollen in der Black Community, in der „Gemeinde" der Afroamerikaner, produziert eine Schreibweise, die eine gewisse Affinität zur Zerstreuungsliteratur91* (oder wie man dieses Phänomen der Massen77

kultur bezeichnen will) aufweist. Die Konflikte kommen nicht mehr in ihrer ganzen Schärfe und Komplexität zur Entäußerung, ja, sie sind erst gar nicht so angelegt, daß sie derlei Potenzen entfalten könnten. Das gilt insbesondere auch für Just Above My Head. Hier spielen die Charaktere ausnahmslos die Rolle von Liebenden, denen der Haß fremd zu sein scheint - und das ist anders als in früheren Werken. Eine Liebe ist das, die sich zunächst und eigentlich in der Partnerbeziehung realisiert, die diese aber in Richtung Familie, Freundeskreis, Black Community transzendiert. Das Leid, das sich die Figuren gelegentlich gegenseitig antun müssen - durch Trennung oder neue Partnerschaft zum Beispiel - hebt die Bindung nicht auf, es gibt ihr vielmehr eine neue Dimension, es bereichert und vertieft sie eher, als daß es sie entleerte. So erhält auch das Leiden der Menschen aneinander eine harmonisierende Funktion. Sicher ist in dem Zusammenhang die Tatsache von Bedeutung, daß der Autor James Arthur Baldwin die beiden Hauptpartner „Jimmy" und „Arthur" genannt hat. Sein liebend verstehendes Verhältnis zu diesen und anderen Figuren, seine einfühlende Identifikation mit ihnen sind ein gut Teil Selbstoffenbarung, in der Traum und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung, Illusion und Erkenntnis in nahezu pathetischer Eindringlichkeit verschmelzen. In solcher gelegentlich sentimental anmutenden Schreibweise scheint Baldwin eine Möglichkeit zu sehen, sich einem größeren schwarzen Leserkreis verständlich zu machen und ihm im antirassistischen Uberlebenskampf mit seinen spezifischen Fähigkeiten als Schriftsteller moralisch zur Seite zu stehen. Damit ist er wohl an einen Punkt gekommen, wo er im Interesse einer Sache, eben des Befreiungs- und Überlebenskampfes seines Volkes, gewisse Zugeständnisse an derzeitige ideologische Dispositionen seines Publikums zu machen bereit ist. Die Liebeskonzeption erfährt dabei insofern eine signifikante Einschränkung, als sie fast nur noch Afroamerikaner zum Gegenstand hat, also weiße Menschen kaum noch berücksichtigt, sie gewissermaßen einfach als „irrelevant" beiseite läßt. Zwar wäre es falsch, bei Baldwin von einer nationalistisch verengten Sicht zu sprechen. Seinen weißen Landsleuten Vernunft und Liebe zu predigen, hat er aber als nutzlos aufgegeben. Unterdrücker und Unterdrückte sieht er offensichtlich nicht länger primär „durch dieselbe Kultur miteinander verbunden", sondern er hat den Antagonismus zwischen ihnen erkannt. Dabei hat sich, wie das weiter unten folgende Zitat zeigt, auch in seinen Essays der rhetorische Gestus gewandelt: In den frühen Texten 78

war es vor allem die Suche nach dem Ich, nach seinem Standort in der heutigen Welt (Notes of a Native Son [1955; Aufzeichnungen eines Eingeborenen] und Nobody Knows My Name, [1961; Niemand kennt meinen Namen]); später kommt der bereits darin angelegte Ton eines Volkspredigers in den Vordergrund. Wohl wird in den zwei Essays von The Ftre Next Time (1963; Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung) ebenfalls noch das persönliche Moment, der individuelle Selbstausdruck betont, indem beide Texte als Briefe deklariert sind: der erste als Brief an meinen Neffen zum hundertsten Jahrestag der Emanzipation, der zweite als Brief aus einer Landschaft meines Geistes. Zugleich aber impliziert die Titelgebung „Brief" auch schon einen Adressaten, einen, an den eine Botschaft gerichtet ist. Ganz offenkundig wird aber der predigtartige Ton, wie Josef Jarab zu Recht bemerkt, in dem vierteiligen Essay Nothing Personal (1964; Nichts Persönliches. Mit Photographien von Richard Avedon); sogar das in der Kirche übliche „Amen" taucht wiederholt auf. Allerdings war der Prediger bereits in Nobody Knows My Name herauszuhören, der freilich Züge eines politisch-sozialen Agitators angenommen hat. Baldwin gewährt uns eine Art Rechenschaftslegung über seine Aktivitäten im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung - einschließlich seiner Begegnungen mit so unterschiedlichen Repräsentanten derselben wie Malcolm X, Martin Luther King, Dick Gregory, Huey, P. Newton, Eldridge Cleaver; und er sieht die Dinge aus der Position eines Moralisten: „Macht, die als solche nichts mit Moral zu tun hat, ist also abhängig von menschlicher Energie, von dem, was Menschen wollen und wünschen. Verwandelt sich die Macht in Tyrannei, so heißt das, daß die Grundsätze, auf die sie sich stützte und die sie rechtfertigten, wertlos geworden sind. Wenn es soweit ist, und jetzt ist es soweit, dann kann die Macht nur noch durch Totschläger und mittelmäßige Leute verteidigt werden und durch ein Meer von Blut. Die Verfechter des Status quo sind irritiert, sie sind bedrückt, sie wagen nicht mehr, ihren Kindern in die Augen zu sehen; die Ausgeschlossenen aber, nachdem sie alles ertragen haben, begreifen endlich, daß sie alles ertragen können. Wie die Zukunft aussehen soll, wissen sie noch nicht, sie wissen aber, daß die Zukunft ihnen gehört. Sie schließen das aus dem Versagen der moralischen Kraft ihrer Unterdrücker und machen sich beinahe instinktiv daran, eine neue Moral zu schaffen und die Grundsätze, auf denen eine neue Welt erbaut werden soll."92 Diese Sätze, die gleichermaßen Erkenntnis wie Bekenntnis zum 79

Ausdruck bringen, mögen besonders nach der Lektüre von Beale Street und Just Above My Head ebenso gut als ästhetisches Programm gelesen werden, das sich in diesen Romanen umzusetzen begonnen hat. Offensichtlich sieht Baldwin sich nicht nur als „Missionar bei den weißen Heiden in Amerika", sondern er will mit seinem Werk auch und vor allem das Entstehen einer Moral unter den Afroamerikanern unterstützen, welche die Unterdrückten zur Abschaffung der Unterdrückung inspiriert. Dies ist immerhin ein Höchstmaß an Einsicht, das von einer liberalen Position aus erwartet werden darf.

Die Bewegungen des Black Nationalism und ihre autobiographische Literatur

Eine radikalisierte Haltung, die sich bei James Baldwin trotz seiner liberalen Weltsicht in den siebziger Jahren zu erkennen gegeben hat, entwickelte sich bereits zwei Jahrzehnte zuvor, und sie sollte in den sechziger Jahren massenhafte und feste Formen annehmen. Dieser afroamerikanische Nationalismus stellte die Ergebnisse der Bürgerrechtsbewegung in Frage, eine bloße Integration in die herrschende bürgerliche Gesellschaft schien ebensowenig möglich wie überhaupt wünschenswert. An die Stelle dessen setzten verschiedene Konzepte und Organisationen die Rückbesinnung auf die eigene Kultur - und zwar in strikter Abgrenzung von der „weißen" Kultur des American Way of Life. Diesem Prozeß werden wir in einem Abschnitt gesondert nachgehen. Sodann wird uns interessieren, welche Auswirkungen eine solche radikalisierte Gesellschaftsauffassung auf die Literatur und vor allem den Literaturbegriff hat. In dem Kontext wiederum ist das Entstehen einer Reihe von Autobiographien zu sehen, wenn sie auch solche grundlegenden Umwandlungen der Institution Kunst, wie sie das beinahe schon „dadaistische" Konzept des Imamu Baraka anvisiert, nicht mitvollziehen. Vielmehr sind die Autobiographien von Malcolm X , Bobby Seale, H. Rap Brown und Eldridge Cleaver, die wir hier beispielshalber präsentieren werden, in durchaus traditioneller, zumindest aber in immer noch bewußt allgemeinverständlicher Form publikumsnah geschrieben. Sie versprechen sich gerade davon, zur Emanzipation der Afroamerikaner beizutragen.

Bewegungen des afroamerikanischen Nationalismus Im folgenden sollen nun zwei nationalistische Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre zur Sprache kommen: die religiös-nationalistische Bewegung der Black Muslims und der später einsetzende „revolutionäre" Nationalismus der Black Panther Party. 6

Hajek

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Die Bewegung der Black Muslims Ihr offizieller Name ist „The Lost Found Nation of Islam", kurz: „The Nation of Islam". Urheber der populär gewordenen Bezeichnung „Black Muslims" ist (nach seinen eigenen Worten) C. Eric Lincoln, dessen stark beachtetes Buch The Black Muslims in America93 sehr zur allgemeinen Verbreitung dieser Bezeichnung beitrug. Sie wird aber von vielen Anhängern der Bewegung abgelehnt. Sie betrachten sich ausdrücklich als Angehörige der Nation of Islam. Die Lehre der Black Muslims besagt, daß Allah der wahre Gott, Islam die wahre Religion und Muslim der wahre Name der Anhänger dieser Religion sei. Sie besagt auch, daß die „sogenannten amerikanischen Neger"94* direkt von den Muslims in Afrika abstammten und vierhundert Jahre lang die „verlorenen Schafe" der Nation of Islam gewesen seien. Begründer dieser Lehre in den USA war W. D. Fard am Beginn der dreißiger Jahre.95* Er erklärte, er sei der Mahdi96 und gekommen, um die amerikanischen Neger zu ihrer wahren Religion zurückzubringen. Er lehrte, es gebe keine Seligkeit im Himmel und keine Hölle unter der Erde. Himmel und Hölle seien Bedingungen, unter denen die Menschen unmittelbar auf dieser Welt lebten. Für Neger sei die Hölle Amerika, und der Himmel sei auf dem Kontinent ihres Ursprungs, wohin sie letztlich zurückkehren müßten. Ebenso seien auch der Teufel und Gott auf der Erde. Der Teufel sei die blauäugige weiße Rasse. Diese sei durch „Ausbleichung" aus der ursprünglichen schwarzen Rasse vor sechstausend Jahren entstanden, um für sechstausend Jahre die Hölle auf Erden zu schaffen. Die schwarzen Menschen seien hingegen Gottes Kinder und selbst Götter. Allah sei der höchste, der Gott der Götter. Führer der Black Muslims wurde Elijah Muhammad (ursprünglich Elijah Poole). Er war Schüler und engster Mitarbeiter W. D. Fards. Nach dessen mysteriösem Verschwinden 1934 wurde er sein „Messenger", konnte jedoch erst nach Jahren der Verfolgung und Inhaftierung ab 1946 wirksam werden. Er machte Chicago zum Zentrum der Bewegung, die sich von hier aus nach den großen Städten des Nordens wie New York, Philadelphia, Detroit ausbreitete. Ihren Höhepunkt erreichte sie etwa gleichzeitig mit der Bürgerrechtsbewegung Ende der fünfziger bis gegen Mitte der sechziger Jahre. Es ist gewiß kein Zufall, daß die Höhepunkte der beiden Bewegungen zeitlich zusammenfallen, ebenso wie es kein Zufall ist, daß die Black Muslims sich vornehmlich im Norden ausbreiteten, während 82

das Zentrum der Bürgerrechtsbewegung hauptsächlich im Süden des Landes lag. Die Black Muslims suchten und fanden ihre Anhänger vor allem in den Slums der Industriestädte, unter den Arbeitslosen, Rauschgiftsüchtigen, Prostituierten, Gefängnisinsassen, kurz: unter den Ausgestoßenen der amerikanischen Gesellschaft. Integration und Bürgerrechte vermochten diese ohnehin nicht zu erreichen. Die Botschaft der Muslims aber, daß sie „ausgewählte Kinder Gottes" seien, gab vielen von ihnen den Mut und das Selbstvertrauen, diesem Auserwähltsein entsprechend leben zu wollen. Die Muslims orientierten die geistige Aktivität eines jeden ihrer Anhänger darauf, „Wissen über seine Identität" zu erlangen. Darunter wird die Erkenntnis über „sein Ich, seine Nation, seine Religion, seinen Gott" verstanden, denn darin besteht „die wahre Bedeutung der Erlösung, während Unwissen darüber die Bedeutung der Hölle" habe.97* Dieses Bemühen um Identität äußert sich besonders sinnfällig in der Namensänderung, die Black Muslims bei ihrem Eintritt in die Bewegung häufig vornehmen. Der Betreffende legt seinen alten „Sklavennamen", d. h. den Namen, den ein weißer Sklavenhalter einstmals einem seiner Vorfahren gegeben hat, ab und ersetzt ihn durch einen selbstgewählten islamischen. Damit erst befreit er sich - nach Auffassung der Black Muslims von seiner Identität als Sklave und gewinnt die eines freien Menschen. So nennt sich zum Beispiel LeRoi Jones jetzt Imamu Amiri Baraka, womit er sich als Dichter (Imamu) und Kämpfer (Amiri) identifiziert, dem die Gnade der moslemischen Religion zuteil geworden ist (Baraka). Malcolm Little bezeichnete sich zunächst als Malcolm X. Mit dem X drückte er aus, daß er seine Identität, d. h. seine eigentliche Herkunft noch nicht bestimmen konnte. Dieses X wird relativ häufig gewählt. Paradoxerweise wird hier die Identifikation mit dem Schwarzsein und mit Afrika, d. h. mit der afrikanischen Vorgeschichte der Afroamerikaner, und die Distanzierung von dem geschichtslosen Nichts des Sklavendaseins durch ein Zeichen ausgedrückt, das, wie Charles E. Silberman bemerkt, das „recht eigentliche Symbol des Nicht-Seins"98 oder vielleicht genauer: des Nichtbestimmtseins ist. Es ist zu sehen, daß der Begriff der Identität hier ausschließlich kulturell-religiös gefaßt ist; auch der Begriff der Nation ist allein durch rassische bzw. Glaubenszugehörigkeit bestimmt: N a t i o n of Islam. Strikt abgelehnt wird die christliche Lehre, da sie behaupte, auf dunkelhäutigen Menschen, den Nachkommen Hams, laste ein Fluch. Dennoch gleicht die vorgeschriebene Lebensweise der Muslims, abgesehen von Äußerlichkeiten, sei es in der Ernährung (Schweine6«

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fleisch ist streng verboten), sei es im Ritual, sehr der der frühen (christlichen) Puritaner, vor allem in bezug auf Abstinenz gegenüber Tanzvergnügen, Alkohol, Rauschgift und Tabak sowie das Verbot von außerehelichen Geschlechtsbeziehungen, die Stellung des Mannes als „Versorger und Beschützer" der Familie und der Frau als „Hüterin des Hauses". Das Paradoxe und letztlich Frustrierende an dieser kleinbürgerlichen Lebenskonzeption ist, daß eine große Masse schwarzer Menschen in Verhältnissen lebt, die es ihnen unmöglich machen, diesem Ideal entsprechend zu leben. Dabei kommt hinzu, daß die Bewegung selbst keinen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Situation leistete. Dennoch ist der Anteil der Muslims an der Bewußtseinsbildung und Selbstverwirklichung vieler Afroamerikaner bedeutend, indem sie Selbsthaß und Minderwertigkeitsgefühle überwinden halfen und dafür das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde und Schönheit stärkten: „Black is beautiful" wurde zum weit verbreiteten Slogan. So hoch auch der Beitrag der Nation of Islam zur Identitätsfindung der Afroamerikaner eingeschätzt werden darf, ihre entscheidende Schwäche besteht doch darin, daß sie ihren Kampf gegen den Rassismus niemals politisch-sozial verstand und daher keine Bewegung zur Verbesserung der Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung führen konnte oder wollte." Im Gegenteil: Sie hielt ihre Anhänger ausdrücklich von jeder politischen Betätigung fern, sogar - da sie ja angeblich einer anderen „Nation" angehörten - von der Ausübung des Wahlrechts. Nur in der völligen Trennung von der amerikanischen Gesellschaft vermögen die Black Muslims eine Voraussetzung ihrer Emanzipation von der „weißen" Gesellschaft zu sehen. Hierin erweisen sie sich als Erben des Garveyismus der zwanziger Jahre, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht wie Garvey zur Auswanderung nach Afrika (Liberia) aufrufen, sondern - paradoxerweise - blind gegenüber dem Charakter der Macht und den Klasseninteressen der amerikanischen Großbourgeoisie ausgerechnet vom „Teufel", dem „devil white man", ein separates Territorium innerhalb der USA zur Errichtung eines eigenen (bürgerlichen) Staates fordern. Tatsächlich bilden die Black Muslims heute eine wohlhabende Sekte, die über Fabriken, Flugzeuge, Publikationsorgane und nicht unbeträchtliches Kapital verfügt. Bezeichnenderweise verdanken sie einen Teil dieser Mittel gewissen „Spenden" aus rechtsradikalen, also extrem rassistischen Kreisen der amerikanischen Oberschicht. In vergleichbarem Maße wie die letztlich systemerhaltende, weil Massenunzufriedenheit kanalisierende Funktion der Nation of Is84

lam 1 0 0 * von einflußreichen Geldgebern erkannt und „honoriert" wurde, stieg auch die um 1963/64 spürbar werdende Enttäuschung der Anhängermassen. Die Desillusionierung war unvermeidlich, nicht weil gewisse, den Satzungen der Muslims widersprechende Praktiken des „Messengers" bekannt wurden, sondern weil sich die Bewegung der Black Muslims als unfähig erwiesen hatte, dem sozialen Elend Einhalt zu gebieten. Diese Unfähigkeit war es denn, die Malcolm X , der zwischen 1956 und 1964 einer der populärsten Führer der Nation of Islam gewesen war und ihr viele Tausende neuer Anhänger zugeführt hatte, dazu bewog, sich von der Organisation zu trennen und den Versuch zu unternehmen, eine neue, den sozialen Belangen der Afroamerikaner besser dienende Massenbewegung aufzubauen. Indem er seine Überzeugungen und Strategien ständig an den sozialen Interessen der am meisten benachteiligten schwarzen Massen überprüfte und sie rigoros änderte, wenn er zu neuen, historisch weiterführenden Einsichten gelangte, wurde er eine der dynamischsten Persönlichkeiten des afroamerikanischen Befreiungskampfes. Doch davon wird später noch im Zusammenhang mit seiner Autobiographie zu sprechen sein. Gegen Mitte der sechziger Jahre - besonders nach Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze - wurde sichtbar, wie wenig sich durch diese mit großen Opfern errungenen Erfolge an der sozialen Lage selbst geändert hatte. Weder die rhetorische Militanz und der Separatismus der Black Muslims noch die gewaltlosen Massenaktionen und die Integrationsbestrebungen der Bürgerrechtsbewegung hatten eine entscheidende Wandlung bewirken können. Im Gegenteil, gerade die Herstellung der de-jure-Gleichheit machte erst das Ausmaß und die tiefer reichende Problematik der weiterhin bestehenden und sich im Zeichen des Sozialabbaus, welcher sich im Zuge der Eskalation des Vietnamkrieges vollzog - sogar verschlimmernden de-facto-Ungleichheit offenkundig. Zudem hatten sowohl Aktionen der Bürgerrechtsbewegung als auch die Agitation der Black Muslims das Bewußtsein der Afroamerikaner von der Ungerechtigkeit ihrer Lage verschärft. Enttäuschung und Frustration über die praktische Ergebnislosigkeit jahrelanger disziplinierter Massenaktionen, angestauter Haß und Empörung über die repressive Gewalt der südlichen Rassisten wie des Polizeiapparates, beide Komponenten lieferten den emotionalen Zündstoff für die Gettorebellionen, die überall im Lande, in großen Städten während der „hot summers" der Jahre zwischen 1964 und 1968 aufflammten. 101 Sie gingen häufig mit dem Ruf nach „Black

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Power" einher, der erstmals 1966 während einer Bürgerrechtsdemonstration in Mississippi ertönte. Dieser von Stokely Carmichael in Umlauf gesetzte Ruf wurde zum populären Slogan, hinter dem sich unterschiedlichste Vorstellungen verbargen. In jedem Fall aber bedeutete er die Forderung schwarzer USA-Bürger nach sozialer Repräsentanz und nach Mitsprache auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, d. h. nach nicht nur abstrakt gleichen Rechten, sondern auch nach praktisch gleicher sozialer Stellung. Wenden wir uns nun einer Organisation zu, die im Zusammenhang mit den von der Polizei äußerst brutal niedergeschlagenen Massenerhebungen ins Leben trat und eine spezifische Manifestation des Black-Power-Konzepts darstellt.

Die Black Panther Party Black Panther Party for Seif Defense ist der ursprüngliche Name der im Oktober 1966 von dem dreißigjährigen Zimmermannssohn Bobby Seale und dessen Freund und Kommilitonen Huey P. Newton im Gettoviertel von Oakland, Kalifornien, gegründeten Partei. Diese von zwei so jungen Leuten geschaffene Organisation vermochte innerhalb weniger Monate Tausende von Anhängern in den schwarzen Gettos an sich zu ziehen sowie eine Reihe von organisatorischen Zentren, besonders in Oakland, San Francisco, Los Angeles, Berkeley und Richmond, aber auch in New York, Chicago und anderswo zu schaffen.102 Ihr ursprüngliches Anliegen war es, den spontan rebellierenden Massen eine Organisation zu geben, die ihnen Schutz gegen den Polizeiterror gewähren und darüber hinaus „eine bessere, eine revolutionäre Ideologie" vermitteln sollte. Es war vor allem die Idee und noch mehr die von den Panthers unter Berufung auf die Verfassung geübte Praxis der bewaffneten Selbstverteidigung, die im ganzen Lande Aufsehen erregten. Waffentragen, eine Selbstverständlichkeit für weiße Amerikaner, galt als unerhörte Provokation bei schwarzen und wurde als direkte Bedrohung empfunden. Der Versuch der Panthers, das Gesetz für die bewaffnete Verteidigung der (schwarzen) Leute, der „people", und gegen seinen rassistischen Mißbrauch seitens der Polizei in Anspruch zu nehmen und notfalls Gewalt mit Gewalt zu beantworten, markiert ein entschiedenes Abrücken von der Strategie der Gewaltlosigkeit. Erstmalig auch wird von den Panthers das Konzept einer relativ lose zusammengehaltenen Bewegung durch das einer straff organisier86

ten Partei ersetzt. Dies geschieht unter ausdrücklicher Berufung auf Lenins Theorie von der Partei neuen Typus, die sie freilich recht modifiziert anwenden. So sollten die Befolgung bestimmter „party rules"i03* u n c j e i n paramilitärisches Strukturprinzip104* die Einhaltung einer festen Disziplin gewährleisten. Die Ziele der Partei sind in einem politischen Programm, der „Zehn-Punkte-Plattform", formuliert,105 und sie verfügt über ein eigenes Organ Tbe Black Panther, das wöchentlich erscheint.106* Das Zehn-Punkte-Programm verlangt neben Vollbeschäftigung vor allem „Land, Brot, Wohnungen, Bildung, Kleidung, Gerechtigkeit, Frieden", wie es im Punkt Zehn zusammenfassend heißt. Diese etwas willkürlich anmutende Aufzählung zeigt, wie die Black Panthers an den ;,basic needs", den grundlegenden Bedürfnissen der Menschen anknüpfen und diese zu artikulieren suchen, ohne daß sie versucht hätten, diese Grundbedürfnisse im Rahmen einer systematischen Strategie produktiv zu machen. In dem Bestreben, eine revolutionäre Theorie zu entwickeln, die den spezifischen Erfordernissen des afroamerikanischen Befreiungskampfes gerecht wird, gingen die Black Panthers zunächst von Thesen des Klassenkampfes aus, wie sie Marx und Engels formuliert hatten, übernahmen aber nur solche Sätze, die ihnen auf ihre Situation zu passen schienen, und verknüpften sie mit nichtmarxistischen Theorien, besonders von Mao tse Tung, Che Guevara und Frantz Fanon und entwickelten daraus linksextremistische Theorien zur Lösung der Rassenfrage in den USA. Unter Berufung auf Malcolm X nannten sie sich „revolutionäre" Nationalisten, die sich mit allen um ihre nationale Befreiung vom USA-Imperialismus kämpfenden Völkern (insbesondere Vietnam) solidarisch erklärten. Als „revolutionäre" Nationalisten sehen sie im USA-Imperialismus den Hauptfeind der farbigen Völker und die entscheidende Ursache für die Unterdrückung der farbigen USA-Bürger und darüber hinaus des gesamten amerikanischen Volkes. Soweit, so richtig. Freilich wollen sie nicht in der Macht der Arbeiterklasse, die sich vor allem im sozialistischen Lager manifestiert, die revolutionäre Hauptkraft erkennen, sondern im Widerstand der farbigen Völker gegen den USA-Imperialismus. Sich selbst, den Afroamerikanern, schreiben sie dabei eine Schlüsselposition zu, da sie sich „in the belly of the monster", in der Höhle des Löwen gleichsam befinden, wie H. Rap Brown sagt.107 Der Grundwiderspruch in der Ideologie der „revolutionären" Nationalisten besteht darin, daß ihr militanter Antiimperialismus mit latentem oder offenem Antikommunismus bzw. Antisowjetismus einhergeht. 87

Hinsichtlich der weiteren Strategie des afroamerikanischen Befreiungskampfes rückten die Black Panthers zunehmend von Klassenkampfpositionen ab und entwickelten das Konzept vom „domestic colonialism", vom Spezialfall des Kolonialismus; der bestünde darin, daß die schwarzen USA-Bürger ein kolonial unterdrücktes Volk innerhalb eines imperialistischen, vom Rassismus durchdrungenen weißen Mutterlandes seien: institutional racism has another name: colonialism."100* Dieser besonders von Eldridge Cleaver vorangetriebene Ansatz führte in der Konsequenz zu einer Überbetonung der Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Revolution (die überdies getrennt in „the Black colony" und in „the white mother country" zu erfolgen habe) und schließlich zur Propagierung von Guerillen in den Städten. Nachdem diese Politik zur Isolierung von den Volksmassen geführt und dem Machtapparat Vorwand zur brutalsten Repression geliefert hatte - bis Ende 1969 waren achtundzwanzig Black-Panther-Führer durch die Polizei ermordet und andere (auch Newton und Seale) ins Gefängnis geworfen worden - begannen Seale, Newton u. a. Anfang 1971 unter dem Slogan „survival program" (Überlebensstrategie) einen rechtsopportunistischen Weg einzuschlagen, während Cleaver vom Exil in Algerien aus - den linksradikalen Kurs beibehielt. Daraus resultierte die Spaltung der Partei und der endgültige Verlust ihrer Massenbasis. Cleaver wurde später zum offenen Apologeten. Zusammenfassend kann man sagen: Der Versuch der „revolutionären" Nationalisten in der Black Panther Party, den spontan rebellierenden Massen in den schwarzen Gettos eine politisch-ideologische Orientierung und eine Organisation für ihren Kampf gegen Polizeiterror und Unterdrückung zu geben und sie für den Kampf gegen den USA-Imperialismus zu mobilisieren, hat, besonders in der ersten Phase, zweifellos einen Beitrag zur Politisierung und weiteren Bewußtseinsaktivierung der Afroamerikaner geleistet. In dem Maße aber, wie sie sich von der Arbeiterklasse zu distanzieren begannen und sich in die Rolle von „colonial subjects", von aufsässigen kolonialen Untertanen hineinsteigerten, verloren sie an Bedeutung für den antimonopolistischen Kampf und degenerierten zu einer nationalistisch orientierten antikommunistischen Splittergruppe innerhalb der sogenannten „Neuen Linken".

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Zur Literaturkonzeption des afroamerikanischen Nationalismus Die Hinwendung zu Black Power und zu neuen „revolutionär" nationalistischen Konzeptionen des afroamerikanischen Befreiungskampfes ab Mitte der sechziger Jahre brachte neue Tendenzen und sogar Umbrüche sowohl in der Kunstprogrammatik wie auch in der Literatur selbst hervor. Die totale Ablehnung der rassistischen und imperialistischen USA-Gesellschaft samt ihren kulturellen und administrativen Institutionen erweist sich dabei als ebenso produktiv, wie der damit einhergehende afroamerikanische Nationalismus problematisch erscheinen muß. Das wird etwa an Larry Neals Überlegungen zu einem Black-Arts-Konzept deutlich: „Die kulturellen Werte, die der westlichen Geschichte eigen sind, müssen entweder radikalisiert oder zerstört werden, und wir werden wahrscheinlich zu dem Schluß kommen, daß selbst Radikalisierung unmöglich ist."109 Weiter heißt es dazu: „Das Motiv hinter der Black Aesthetic ist die Zerstörung des weißen Dings, die Zerstörung weißer Ideen und weißer Art, die Welt zu betrachten. Die neue Ästhetik basiert hauptsächlich auf einer Ethik, die die Frage stellt: Wessen Weltansicht ist letztlich bedeutungsvoller, unsere oder die der weißen Unterdrücker? Was ist Wahrheit? Oder genauer, wessen Wahrheit wollen wir ausdrücken, die der Unterdrückten oder des Unterdrückers?"110 Die Aporie dieser Programmatik liegt darin, daß sie einerseits eine klare Orientierung auf soziale und ideologische Befreiung vom Rassismus aufweist, andererseits aber keine soziale, d. h. klassengemäße Bestimmung des „weißen Unterdrückers" vornimmt. Das hat insofern seine Richtigkeit, als die tatsächlich h e r r s c h e n d e „weiße Kultur" in den USA ohnehin die bürgerliche ist. Nicht zur Kenntnis genommen wird aber die Existenz einer antiimperialistisch-humanistischen sowie einer proletarisch-sozialistischen Kultur, die Tatsache mithin, daß es innerhalb der unterdrückenden weißen Kultur ebenfalls sozial und kulturell Unterdrückte gibt, die als potentielle Bündnispartner für den afroamerikanischen Befreiungskampf in Frage kommen könnten; ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Befreiung der Afroamerikaner ohne ein breites antimonopolistisches Bündnis mit allen, also auch mit den nichtschwarzen Unterdrückten und Ausgebeuteten der amerikanischen Gesellschaft nicht möglich ist. Die Literatur der Black Arts Movement versteht sich nicht länger als „Protest"-Literatur, anders ausgedrückt, sie will sich nicht mehr 89

protestierend an ein weißes Publikum wenden, sondern direkt und oft ausschließlich an ein schwarzes. So prekär diese Orientierung aucfi ist, so unverkennbar sind auch die Impulse, die von der Black Arts Movement auf die Entwicklung eines von Afroamerikanern getragenen Theaters ausgegangen sind: Imamu Baraka eröffnete 1964 zusammen mit Charles Patterson, William Patterson, Clarence Reed, Johnny Moore und anderen afroamerikanischen Künstlern die Black Arts Repertoire Theatre School in Harlem, die außer Theateraufführungen eine Anzahl von Gedichtlesungen und Konzerten für ein schwarzes Massenpublikum organisierte. Nach diesem Vorbild bildeten sich Black-Arts-Gruppen an der Westküste, in Detroit, Philadelphia, New Orleans, Jersey City und Washington, DC. Ebensolche Bewegungen entstanden an Universitätseinrichtungen wie: San Francisco State College, Fisk University, Columbia University und Oberlin College. Mit der Forderung nach einer aktionistischen Kunst wollen insbesondere solche Führer der Black Arts Movement wie Imamu Baraka, Larry Neal u. a. den Widerspruch zwischen Aneignung von Welt in der Literatur und den durch die offiziellen Institutionen vorgegebenen Funktionen überwinden, und zwar dadurch, daß sie die Literatur der Afroamerikaner von „europäisch-westlich" bestimmten Maßstäben, d. h. letztlich vom Erbe der Renaissance, befreien. Statt dessen suchen sie Elemente der afrikanischen Volkskultur für die Kreierung einer „postamerikanischen" Kunst zu nutzen. Dieser Kunstkonzeption entspricht ziemlich genau die ebenfalls von Baraka vertretene politische Forderung nach einem „afrikanischen Sozialismus", d. h. nach einer vorkapitalistischen kooperativen Wirtschaftsweise („Ujamaa"). Sie wurde unter anderem von Henry Winston zu Recht als utopisch und letztlich reaktionär kritisiert.111 Dennoch muß man der Black Arts Movement zugestehen, daß sie außerordentlich stimulierend vor allem auf Drama und Lyrik, aber auch auf die Autobiographie und sogar den Roman gewirkt hat. Das gilt auch unter der notwendigen Einschränkung, daß sich (wie Monika Plessner bemerkt) die Durchführung der Konzeption „als sehr viel schwieriger erweist, als ihre Proklamierer erwartet hatten".112 Besonders im Drama gehen die extremen Vertreter so weit, daß sie auf eine durch das „Kunstwerk" vermittelte Aneignung verzichten, den Unterschied zwischen Schauspieler und Publikum sowie zwischen den Vorgängen auf der Bühne und der Wirklichkeit aufheben, d. h., das Artefakt abschaffen wollen, wie etwa Baraka mit seiner Idee vom „totalen Theater" in The Slave Ship (1967; Das Sklavenschiff). Hier 90

werden das Bühnengeschehen und das Theater eins - ein Sklavenschiff, dessen schwarze Passagiere eine historische Reise von der Versklavung bis zur siegreichen Revolution und eine mythische Reise von der afrikanischen Zivilisation zur Sklaverei und schließlich zur spirituellen Auferstehung selbst erfahren, durchfühlen, durchleben. Sie kulminiert in der geistigen „Ent-Amerikanisierung" der schwarzen Zuschauer und in deren Rückkehr zu ihren „afrikanischen Ursprüngen" („roots"). Musik, Tanz und Sound- (Schiffsglocken, Rauschen •der See, Kettengerassel, Peitschenhiebe, Schreie, Stöhnen, Flüche) stellen eine entsprechende Atmosphäre des „Fühlens" her, bei der das Hören gegenüber dem Sehen dominiert. Am Schluß tanzen Schauspieler und afroamerikanische Zuschauer gemeinsam zur Feier der Befreiung, bei der die Köpfe des Geistlichen und des weißen Mannes unter die Menge geworfen werden. Kimberly W. Benston bezeichnet dieses als das gelungenste dramatische Werk, das aus der Black Arts Movement hervorgegangen ist, .gerade weil „es die musikalische Basis des afroamerikanischen Genius .wiederherstellt' und verwendet. Baraka bezieht die kommunale Erwiderung auf seine Vision ein, indem er sich auf kollektive Schöpfung und Partizipation am musikalischen Leben des Stückes stützt."113 Freilich ist der Aufwand für derartige Experimente enorm, in der Praxis gelangen nur wenige zum Erfolg, und die herrschenden Kommunikationsverhältnisse der staatsmonopolistischen Gesellschaft wèr•den nur sehr bedingt durchbrochen. Dennoch verdienen Versuche dieser Art, die auf Herstellung von Kollektivität der Erfahrung und Aktion zielen, trotz aller Vorbehalte, die gegenüber gewissen nationalistisch bestimmten inhaltlichen Aspekten bei Baraka, Ed Bullins u. a. zu machen sind, doch größte Aufmerksamkeit. Es handelt sich um Bemühungen, die traditionelle vierte Wand aufzuheben, Kunst •und Leben einander näher zu bringen, Passivität durch Aktivität zu ersetzen. Es ist ein Aktions- und ein Lehrtheater besonderer Art, und es verweist auf Möglichkeiten, die noch auszuschöpfen sind. Baraka hat mit diesem Stück den Übergang vom Drama zum Ritual vollzogen, der sich in The Slave (1964; Der Sklave) bereits andeutete. Auch in Dutchman (1964; Der Holländer) sind schon Ansätze in dieser Richtung sichtbar. Während hier jedoch wie auch in anderen Stücken Barakas trotz entschiedener Absage an jegliche „weiße westliche Kultur" der Traditionsbezug auf ebendiese Kultur (Hegel, Nietzsche, Genêt, Brecht, Blake u. a.) durchaus und nicht nur negativ nachweisbar ist (womit sich wiederum Black Art selbst auch 91

als Produkt der Welt-Kulturentwicklung und als Beitrag zu ihr offenbart), tritt dieser Bezug in Slave Sbip, A Black Mass (Eine schwarze Messe) u. a. entschieden zurück. Die sich als „post-apokalyptisch" verstehende Kommunalität eines Theaterereignisses wie Slave Sbip kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem militant nationalistischen Black-Arts-Konzept zunächst noch die Gefahr einer „Gettoisierung" der Kunst anhaftet, die gerade aus dem Insistieren auf dem afroamerikanischen Getrenntund Anderssein resultiert. Die emanzipatorische Absicht bedient sich damit eines Rahmens, der letztlich immer noch durch den weißen Rassismus vorgegeben und insofern eingeschränkt ist. Die Gefahr zeigt sich besonders deutlich in Stücken wie Jimmy Garetts We Own tbe Night (Uns gehört die Nacht) oder gar Ed Bullins lt Bees Dat Way (Es ist so), in dem die Idee der „Partizipation des Zuschauers so weit getrieben wird, daß die weißen Besucher psychischen und physischen Gewaltakten unterworfen werden; wobei hinzuzufügen wäre, daß es offensichtlich auch für diese Art „Kommunikation" ein (masochistisches) Bedürfnis geben muß. Militant nationalistische Tendenzen finden sich auch in Romanen wie Sons of Darkness, Sons of Light (1969; Söhne der Finsternis, Söhne des Lichts) von John A. Williams; The Spook who Sat by the Door (1969; Der Schatten, der an der Tür saß) von Sam Greenlee; sowie Hog Butcber (1965; Schweineschlächter) und Many Tbousand. Gone (1966; Viele Tausende gestorben) mit dem Untertitel An American Fable (Ein amerikanisches Märchen) von Ronald L. Fair. Besonders bei den letzten beiden Autoren kann man Versuche zur Realisierung einer Black Aesthetic beobachten, welche jedoch mehr im Bereich des Gestus liegen: eine kühle Haltung gegenüber dem unvermeidlichen Blutvergießen im Krieg der Rassen. Zeigen sich auch so bedeutende Romanautoren wie James Baldwin, William Melvin Kelley und Paule Marshall wenig beeinflußt durch die Black Aesthetic114 - wir haben darauf schon einmal hingewiesen, so heißt das nicht, die neuen Tendenzen der Befreiungsbewegung hätten keinerlei Widerhall in ihren Werken gefunden. Zum Beispiel steht am Ende von Baldwins Roman Teil Me How Long the Train's Been Gone (1968) der bemerkenswerte Satz: „ . . . aber wenn du nicht willst, daß ich immer wieder unter die Hufe der Pferde gerate, dann mußt du mir doch wohl zugeben, daß wir Waffen brauchen. Oder?" 115 Die ablehnende Haltung zur weißen Mittelstandskultur und ihren Werten, wie sie von Langston Hughes bereits in den zwanziger Jahren 92

proklamiert worden war, hatte sich in den fünfziger Jahren als Tendenz angebahnt - unter anderem in Chester Hirnes' The Tbird Generation (1954; Die dritte Generation) und trat nun verstärkt hervor. So zum Beispiel in William Melvin Kelleys Romanen A Drop of Patience (1954; Ein Tropfen Geduld) und Dem (1967), von denen der letztere, die Sitten und das Seelenleben der im Norden lebenden Weißen aus afroamerikanischer Sicht betrachtend, ein Sprichwort der Aschanti thematisiert: „Der Untergang einer Nation beginnt am häuslichen Herd." Er kann in gewisser Hinsicht als Pendant zu dem 1962 erschienenen Roman A Different Drummer (Ein anderer Trommler) aufgefaßt werden, der den Exodus der gesamten schwarzen Bevölkerung und dessen Wirkung auf das Denken und Handeln der Weißen eines Südstaates zum Gegenstand hat. Es ist sehr wohl denkbar, daß Ossie Davis die Inspiration für sein oben erwähntes Stück Day of Absence von diesem Roman empfangen hat. Die in diesen Werken zum Ausdruck kommende Haltung ändert sich in den siebziger Jahren dahingehend, daß - im Zeichen uneingeschränkter und weitgehend entproblematisierter Identifikation mit dem Schwarzsein - an die Stelle der Auseinandersetzung mit der weißen Mittelstandskultur eine betonte Hinwendung zur Kultur des schwarzen Gettos und ihrer Geschichte tritt. Das zeigt sich etwa an dem auch in der DDR erschienenen Roman Der Debütantinnenball (1971) von John Oliver Killens.116 Auf völlig andere und überaus vermittelte Weise findet sich ein Widerschein des Black-Arts-Konzepts im Schaffen von Ishmael Reed. Er nimmt von einer ausgesprochenen Funktionalisierung seines Werkes, wie es von den militanten Vertretern des Revolutionary-BlackArts-Programms gefordert wird, entschieden Abstand. Vielmehr betrachtet er die Festlegung schwarzer Autoren auf „Propaganda" als Ausdruck ihrer Diskriminierung durch das weiße literarische Establishment.117 Statt dessen betont er die Eigenständigkeit des Artefakts und die Identität und Gleichheit des schwarzen Künstlers als Künstler. Der Bezug zur Emanzipationsbewegung äußert sich also nicht thematisch, sondern er ist in den künstlerischen Akt hineingenommen. Zur Quelle seines Schaffens macht er einerseits - in Anlehnung an Black Arts - seine individuelle und ethische Besonderheit und andererseits im Gegensatz zu Black Arts und ebenso in Negation der europäisch orientierten Kulturtradition - solch ursprünglich amerikanische Ausdrucksformen wie den Cowboy-Roman, den Comic Strip, Jazz, das Vaudeville-Theater.118 In seinem zweiten Roman Yellow Back Radio 93

Brohe-Down (1969; Yellow Back Radio-Station zusammengebrochen) - det Titel hat bezeichnenderweise selbst die Form einer kurzgefaßten Rundfunk- oder Zeitungsmeldung - verbindet er alle diese Elemente zu einem postmodernistischen afroamerikanischen Cowboy-Mysterium, dessen Material wohl deutlich und kritisch genug auf bekannte Tatbestände der amerikanischen Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte Bezug nimmt, ohne diese aber selbst konkret in Erscheinung treten zu lassen. Vielmehr schafft er für seine Figuren (Loop Garoo Kid, Zozo Labrique u. a.) eine eigene imaginative Welt, deren Entstehung und Rezeption in einer Zeit ohne Fernsehen und Düsenflugzeuge nicht denkbar wäre.119 Eine literarische Form, die im Zusammenhang mit der Black Power-Bewegung höchste Aktivität und Popularität erreichte, ist die Lyrik. Selbstbewußt, stolz und militant verschreibt sie sich den „blackpeople" des Gettos und ihrer Sprache. Es ist eine Lyrik, „blackpoetry", wie der Dichter Don L. Lee sagt, die sich bemüht, die „Wirklichkeit der blackpeople zu erfassen und zu legitimieren . . . die negativen Einflüsse der Massenmedien zu negieren '